Die Verschmutzung der Literatur: Zur historischen Semantik der ästhetischen Moderne im ›langen 19. Jahrhundert‹ 9783839448120

A historical overview of a different kind, which makes the »pollution« of literary modernity understandable and, at the

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German Pages 460 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Der Sturz in den Schmutz
Teil A: Allgemeinkulturelle Bedeutung des Schmutzes im ‚langen 19. Jahrhundert‘
1 Reinlichkeitserziehung, ästhetische Bildung und die Bedeutung des Unreinen im pädagogischen Diskurs
2 Der urbane Schmutz und der moderne Hygienediskurs
3 Spuren des Schmutzes in ausgewählten populären Enzyklopädien
Teil B: Verunreinigungen im ästhetischen Diskurs des ‚langen 19. Jahrhunderts‘
4 Gefährdungen der Reinheit in der Ästhetik der Weimarer Klassik
5 Aufgeräumt, idealisiert und bereinigt: Die Verklärung der Wirklichkeit im programmatischen Realismus
6 Naturalistische Ästhetik und die Schmutzflecken der Wirklichkeit
Teil C: Kontroversen um Schmutz in der Literatur und literarischen Schund um 1900
7 „Durch Dreck zum Zweck“: Der vorausgeahnte Skandal um die Uraufführung von Vor Sonnenaufgang und die schmutzige Taufe der modernen Literatur
8 Der Kampf gegen den „Kolportageschund“ um 1900
9 Der unreine Reigen und „die geheime Sittenreinheit der Normalmenschen“
Resümee: Spritzendes Pfützenwasser und der „sittliche Indifferentismus“ der Moderne
Literaturverzeichnis
Anhang: Informationen und Tabellen zu den analysierten Populärenzyklopädien (Kap. 3.3.1)
Danksagung
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Die Verschmutzung der Literatur: Zur historischen Semantik der ästhetischen Moderne im ›langen 19. Jahrhundert‹
 9783839448120

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Lars Rosenbaum Die Verschmutzung der Literatur

Lettre

Lars Rosenbaum (Dr. phil.), geb. 1982, hat in Bielefeld Geschichte und Germanistik studiert und in Germanistik promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte der Literatur des »langen 19. Jahrhunderts« sowie Historische Semantik.

Lars Rosenbaum

Die Verschmutzung der Literatur Zur historischen Semantik der ästhetischen Moderne im ›langen 19. Jahrhundert‹

Dissertation zur Erlangung des Grades Doktor der Philosophie, angenommen von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld im Jahr 2017. Die Promotion wurde gefördert durch ein Stipendium des Rektorats der Universität Bielefeld.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4812-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4812-0 https://doi.org/10.14361/9783839448120 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Der Sturz in den Schmutz | 9

Theoretisches über den Schmutz | 12 Methodische Vorbemerkungen und Aufbau der Arbeit | 17

TEIL A: ALLGEMEINKULTURELLE BEDEUTUNG DES SCHMUTZES IM ‚LANGEN 19. JAHRHUNDERT‘ 1

Reinlichkeitserziehung, ästhetische Bildung und die Bedeutung des Unreinen im pädagogischen Diskurs | 25

1.1 Die Situation der Volksschulen im 19. Jahrhundert | 28 1.2 Gegen den „Geist der Unsauberkeit“: Reinlichkeitserziehung und die Vermittlung ästhetischer, hygienischer und moralischer Bildung | 30 1.3 Der Abscheu vor dem Schmutz als Kernaspekt ästhetischer Bildung | 43 1.4 Die Ziele der Reinlichkeitserziehung | 51 2 Der urbane Schmutz und der moderne Hygienediskurs | 53 2.1 Städtischer Schmutz, Bewältigungsprobleme und neuartige Umweltbelastungen | 54 2.2 Schmutz, soziales Elend und die allgemeine „Verschwörung der Blindheit“ | 58 2.3 Die Cholera und die Krise der alten Gesundheitslehre | 66 2.4 Moderne Hygiene und der Schmutz im Diskurs | 69 2.5 Assanierungen: Die Reinigung der Städte im Zeichen der Gesundheit | 77 2.6 Unreinliche Wohnverhältnisse städtischer Unterschichten, soziale Sanierungsbestrebungen und die „Verallgemeinerung hygienischer Kultur“ | 84 2.7 Die allmähliche semantische Manifestation des Schmutzes | 92 3

Spuren des Schmutzes in ausgewählten populären Enzyklopädien | 93

3.1 Geschichte, Programmatik und kulturelle Bedeutung der Konversationslexika im 19. Jahrhundert | 96 3.2 Das weitestgehende Fehlen von Artikeln über den Schmutz: Befunde der Lemmasuche | 111 3.3 Der verborgene Schmutz: Befunde der Volltextsuche | 116 3.4 Der Schmutz der Konversation | 163

TEIL B: VERUNREINIGUNGEN IM ÄSTHETISCHEN DISKURS DES ‚LANGEN 19. JAHRHUNDERTS‘ 4

Gefährdungen der Reinheit in der Ästhetik der Weimarer Klassik | 167

4.1 Winckelmanns Quellcode der klassischen Ästhetik und die zu bereinigenden Leiden und Affekte | 168 4.2 Moritz´ „ursprüngliche Reinheit“ schöner Kunst und ihre Verunreinigung durch Individualität und Eigennutz | 171 4.3 Schillers „Ideal ästhetischer Reinigkeit“ und die schönheitsgefährdenden, unreinen Wirkungen | 174 4.4 Goethes diätetische „Idee des Reinen“ und die Eindämmung unreiner Affekte | 185 4.5 Die Verortung des Unreinen in der idealistischen Ästhetik der Weimarer Klassik | 188 5

Aufgeräumt, idealisiert und bereinigt: Die Verklärung der Wirklichkeit im programmatischen Realismus | 191

5.1 Bestimmungen und Begrenzungen des Realismus | 195 5.2 Realistische Dichter und ihre geweihten Blicke in die bürgerliche Welt | 201 5.3 Die „poetische Verklärung“ der Wirklichkeit | 206 5.4 Sauber, sittlich, vorbildlich? Funktionen realistischer Literatur | 228 6

Naturalistische Ästhetik und die Schmutzflecken der Wirklichkeit | 233

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Kritik am „Augiasstall der Pseudoliteratur“ | 235 Das Wahrheitspostulat und der naturalistische Griff in den Schmutz | 242 Auseinandersetzungen mit Zola | 248 Schmutz als provokanter Markenkern und Streitobjekt | 260 Die Manifestation des Schmutzes im Naturalismus | 268

TEIL C: KONTROVERSEN UM SCHMUTZ IN DER LITERATUR UND LITERARISCHEN SCHUND UM 1900 7

„Durch Dreck zum Zweck“: Der vorausgeahnte Skandal um die Uraufführung von Vor Sonnenaufgang und die schmutzige Taufe der modernen Literatur | 273

7.1 Schmutzige Stoffe als literarischer Dünger: Hauptmanns Schreibintention | 275 7.2 Die erschlagenen Mistfliegen: Erste Leserreaktionen | 279 7.3 Nicht der reinlichste Weg: Vor Sonnenaufgang und die Verlebendigung des Theaters | 283 7.4 Der vorausgeahnte Skandal und seine Gründe | 287

7.5 Das mediale Echo | 293 7.6 Nach dem Schmutzskandal: Bereinigungen, Erfolge, Zerwürfnisse | 302 7.7 Die in Bewegung versetzte Grenze zwischen Kunst und Schmutz | 306 8

Der Kampf gegen den „Kolportageschund“ um 1900 | 307

8.1 Frühformen des modernen Kolportagevertriebs | 310 8.2 Entstehung, Strukturen und Vertriebsobjekte des Kolportage- und Reisebuchhandels | 317 8.3 Hintergrundinformationen zu den Lieferungsromanen und Anmerkungen zu ihrer Tabuisierung | 322 8.4 Angriffe gegen den modernen Kolportagevertrieb | 324 8.5 Der Kampf gegen die Lieferungsromane und dessen hygienische Aufladung um 1900 | 330 8.6 Gefährdete Reinheit: Einblicke in den 1897 erschienenen Lieferungsroman Dolores | 338 8.7 Die ‚Schundliteratur‘ und die unkundigen Experten | 347 9

Der unreine Reigen und „die geheime Sittenreinheit der Normalmenschen“ | 351

9.1 9.2 9.3 9.4

„Vollkommen undruckbar“? Die Frühgeschichte des Reigen vor 1903 | 352 Der veröffentlichte Reigen. Reiz und Reaktionen | 360 Der inszenierte Reigen vor Gericht (Berlin 1921) | 375 Der Schmutzvorwurf und die von ihrem Gegenstand entkoppelte Empörung | 402

Resümee: Spritzendes Pfützenwasser und der „sittliche Indifferentismus“ der Moderne | 403 Literaturverzeichnis | 413

Populärenzyklopädien und Fundstellen zu den Lemma- und Volltextsuchen (Kap. 3) | 413 Pädagogische, medizinische und allgemeinkulturelle Quellen | 418 Literarische Werke | 421 Quellen zur Ästhetik, zum Buchhandel und zur Literaturkritik | 422 Sekundärliteratur | 437 Anhang: Informationen und Tabellen zu den analysierten Populärenzyklopädien (Kap. 3.3.1) | 451 Danksagung | 458

Der Sturz in den Schmutz

Die Szene ist bekannt. Nach einem misslungenen zahnärztlichen Eingriff wankt Thomas Buddenbrook durch Lübeck nach Hause und bricht mitten auf der Straße ohnmächtig zusammen. Der stets akkurat gekleidete Senator stürzt ausgerechnet in den Schmutz. Der Pelz, den er über seinem Frack trägt, wird „mit Kot und Schneewasser bespritzt“, seine in „weißen Glacéhandschuhen“ steckenden Hände liegen „ausgestreckt in einer Pfütze“1. Faktisch besiegelt dies Ende von Thomas den im Untertitel der 1901 publizierten Buddenbrooks angekündigten Verfall einer Familie. Es symbolisiert aber auch das Scheitern eines auf Distinktion angelegten und durch ein enges Korsett habitueller, ästhetischer und moralischer Konventionen zusammengehaltenen Lebensentwurfes, dem er sich als Oberhaupt der Familie stets verpflichtet gefühlt hatte. Sein Sturz in den Schmutz nivelliert den bis dahin peinlichst gewahrten Unterschied zu den einfachen Bürgern, den kleinen Angestellten und Arbeitern. Er versinnbildlicht somit den sozialen Abstieg, dem die verbliebenen Mitglieder der Buddenbrooks nunmehr entgegensehen. Eine andere, weniger spektakuläre Szene, der Realität entnommen. Am 23. Dezember desselben Jahres, in dem die Buddenbrooks erschienen sind, schrieb eine Verehrerin des deutschen Kaisers einen Brief an ihr Idol und fügte ihm ein sonderbares, kleines Gedicht bei: Die Kunst stammt nicht vom Schmutze, Sie ist von Gott gesandt! Schütz´ ihre Reinheit, Kaiser, Führ´ sie mit treuer Hand. Führ´ sie aus dem Moraste ‒ Sonst treibt verrohter Sinn Und Freude an Entartung Zum Untergang sie hin.2

1

2

Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering; Eckhard Heftrich u.a., Bd. 1.1. [2. Aufl.] Frankfurt am Main 2002, S. 750. Im Folgenden als Mann: Buddenbrooks. Hill, Anna: Brief an Wilhelm II., 23.12.1901, zit. nach Lehnert, Uta: Der Kaiser und die Siegesallee. Réclame royale. Berlin 1998, S. 252.

10 | Die Verschmutzung der Literatur

Mit ihren Versen vertrat Anna Hill ein damals in Deutschland weit verbreitetes Verständnis von Kunst. Von Gott kommend, galt sie als Ausdruck von Zivilisation. Aus dem Grund sollte sie rein sein und schön, anstatt schmutzig und hässlich. Doch diese Reinheit sahen viele Kunst- und Literaturfreunde durch die vielfältigen Entwicklungen einer sich rasch etablierenden ästhetischen Moderne als äußerst gefährdet an. Deswegen wandte sich Hill mit ihrem Gedicht an Wilhelm II., der fünf Tage zuvor in einer in den Feuilletons kontrovers aufgenommenen Rede über Die wahre Kunst die „sogenannten modernen Richtungen und Strömungen“ 3 angegriffen hatte. Statt sich der „Pflege der Ideale“ zu widmen und den „sich abmühenden Klassen“ mit schönen Kunstwerken „die Hand“ zu reichen, würden die Modernen lieber „in den Rinnstein niedersteig[en]“ und damit vom ewigen „Gesetz der Schönheit und dem Gefühl für Ästhetik und Harmonie“4 abweichen, lautete der vom Kaiser geäußerte Vorwurf. Aufgabe der Kunst sei es jedoch, „erzieherisch auf das Volk einzuwirken“, um ihm „nach harter Mühe und Arbeit“ die Möglichkeit zu eröffnen, „sich an dem Schönen zu erheben“ und „sich an den Idealen wieder aufzurichten.“5 Eine moderne Kunst, die „das Elend“ des Aufmerksamkeitseffektes wegen „noch scheußlicher“ darstelle als „es schon ist“ und im Schmutz der Straße versinke, versündige sich dagegen „am deutschen Volke“6, so Wilhelm II. Hill hat den Kaiser beim Wort genommen und ihn in ihrem Gedicht als Schutzherrn des traditionellen Kunstverständnisses angerufen, das in einem hohen Maße durch Vorstellungen von Reinheit und durch ihre Opposition zum Schmutz geprägt war. Moderne Literatur mit ihren im Dreck der Straße endenden Verfallsgeschichten passte da nicht ins Bild. Zehn Jahre zuvor hatte der Naturalismus mit einer Hinwendung zu Schmutz, sozialem Elend und moralisch zweifelhaftem Verhalten mit herkömmlichen Rezeptionsgewohnheiten zu brechen begonnen (vgl. Kap. 6). Zu einem Skandal hatte 1889 die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang geführt. In den Augen der Gegner war das Lessingtheater durch die Aufführung des Sozialen Dramas vom Schmutz regelrecht überschwemmt worden (vgl. Kap. 7). Als 1893 zum ersten Mal ein Stück Hauptmanns (Die Weber) im renommierten Deutschen Theater aufgeführt wurde, kündigte Wilhelm II. aus Protest kurzerhand seine Loge. Seither ist zwar immer seltener vom Naturalismus die Rede gewesen, die jungen Autoren der sich rasch ausdifferenzierenden literarischen Moderne schienen aber nicht mehr von den bislang ausgegrenzten schmutzigen Stoffen ablassen zu wollen. Die Szene aus den Buddenbrooks zeigt das in eindringlicher Weise. Der Sturz in den Schmutz ist der Endpunkt eines längeren, naturalistisch anmutenden Erzählstranges, der den Senator zunächst über den Marktplatz führt, wo die Fleischer „mit blutigen Händen“7 ihrem Handwerk nachgehen, dicke Frauen auf unsauberen Unterlagen mit blutverschmierten Messern Fische ausnehmen und ein aus der Hand gleitender Butt

3 4 5 6 7

Wilhelm II.: Die wahre Kunst [Rede, 18.12.1901]. In: Penzler, Johannes (Hg.): Die Reden Kaiser Wilhelm II., Bd. 3. In den Jahren 1901 - Ende 1905. Leipzig o. J., S. 57-63, S. 61. Ebd., S. 61-62. Ebd., S. 61. Ebd. Mann: Buddenbrooks, S. 741.

Der Sturz in den Schmutz | 11

auf das „von Abfällen verunreinigte Pflaster“ 8 herunterglitscht. Sein Gang durch diese Szenerie führt Thomas Buddenbrook schließlich zum Zahnarzt, wo eine schmerzhafte Zahnwurzeloperation misslingt. Geschwächt macht er sich daraufhin auf den Nachhauseweg und fällt in den schmutzigen Schneematsch. Mit der von Anna Hill und Wilhelm II. eingeforderten, mit Reinheit assoziierten schönen und erhebenden Kunst hatte diese Szenerie nichts mehr zu tun. Es waren jedoch nicht nur die innovativ-avantgardistischen Entwicklungen, die um 1900 von denjenigen, die sich für eine saubere Kunst engagierten, kritisch beäugt wurden. Auch diverse populäre Kunstformen irritierten die gängigen Vorstellungen guten Geschmacks und wurden von den zumeist bürgerlichen Geschmacksträgern für ‚Schund und Schmutz‘ gehalten. Gegen den Erfolg der massenhaft von Kolporteuren vertriebenen, inhaltlich auf Spannung setzenden Lieferungsromane, die vor allem in den unteren Schichten gelesen wurden, hat sich im ‚Schundkampf‘ (vgl. Kap. 8) eine gesellschaftlich breit aufgestellte Gegenbewegung formiert. Man war besorgt, dass die ästhetisch ungeschulten Leser durch den Romankonsum verrohen und sich fortan nicht mehr als brave, arbeitsame und untertänige Staatsbürger aufführen würden. Also rief man zu Boykotten auf, forderte Verbote und versuchte den vermeintlichen ‚Schmutz und Schund‘ durch reine, ästhetisch und moralisch einwandfreie Literatur zu ersetzen. Nach der Rede des Kaisers durften auch die ‚Schundkämpfer‘ ihren Einsatz von höchster Stelle gewürdigt sehen. Die Beispiele zeigen, dass die Schmutzsemantik in literarischen Diskursen um 1900 eine prominente Rolle spielte. Ihre Konjunktur verweist auf einen semantischen Wandel, der die ästhetische Moderne erfasst hat. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diesen Wandel hinsichtlich seiner Bedingungen zu erforschen. Was hat den Schmutz zu einem derart symbolträchtigen, oft verwendeten Ingrediens moderner Literatur werden lassen? Und wieso sind die diversen Auseinandersetzungen um populäre und avantgardistische Literaturen nun vielfach zu Kämpfen gegen den Schmutz und für eine saubere Kultur stilisiert worden? Da ein semantischer Wandel untersucht wird, ist eine diachrone Betrachtungsweise vonnöten, die die Bedeutung und Funktion von Schmutz im „langen 19. Jahrhundert“9 in den Blick nimmt. Ein Ansatz, der bloß ästhetik- und literaturspezifische Entwicklungen beachtete, griffe deshalb zu kurz, weil Kunst und Literatur keine autarken Phänomene, sondern Hauptumschlagplätze kultureller Semantik waren. Es handelte sich um prestigeträchtige Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft, in denen die Definitionskämpfe um Sauberkeit und Schmutz am heftigsten geführt wurden. Neben ästhetischen spielten in ihnen auch moralische Vorstellungen, soziale Entwicklungen und wissenschaftliche Erkenntnisse eine Rolle. Einflüsse aus Kultur und Gesellschaft dürfen deshalb nicht unterschlagen werden, wenn man die historische Semantik der ästhetischen Moderne untersuchen möchte. Aus dem Grund wird in der vorliegenden Arbeit ein interdisziplinärer Ansatz verfolgt. Neben literarästhetischen werden auch allgemeinkulturelle, wissenschaftliche und soziale Entwicklungen betrachtet, die einerseits das Heraufziehen der schmutzaffinen, „nicht mehr schönen

8 9

Ebd., S. 742. Kocka, Jürgen: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart 2001.

12 | Die Verschmutzung der Literatur

Künste“10 und andererseits die Ablehnung populärer Kunstformen als ‚Schund und Schmutz‘ bestärkt haben. Auf diese gleichsam diachrone und interdisziplinäre Weise lassen sich die Bedingungen des semantischen Wandels erkennen. Bevor der spezifische, dem Gegenstand der Untersuchung angepasste Methodenmix näher erläutert wird, muss zunächst geklärt werden, wie sich der Schmutz theoretisch definieren lässt.

THEORETISCHES ÜBER DEN SCHMUTZ Zunächst also zu einer vordergründig banalen Frage: Wie lässt sich Schmutz konzeptionell erfassen? Mit ihm verbindet man gemeinhin allerlei unangenehme Dinge, Scheußlichkeiten, mit denen man in seinem Alltag lieber nicht in Berührung kommen möchte, weshalb man sich um Sauberkeit bemüht: Sauber ist schön und gut. Sauber ist hell brav lieb. Sauber ist oben und hier. Schmutzig ist häßlich und anderswo. Sauber ist doch das Wahre, schmutzig ist unten und übel, schmutzig hat keinen Zweck. Sauber hat recht. Schmutzig ist demgegenüber, sauber ist da denn doch, schmutzig ist wie soll man sagen, schmutzig ist irgendwie unklar, schmutzig ist alles in allem, sauber ist wenigstens noch, aber schmutzig das ist also wirklich.11

Christian Enzensberger hat hier in pointierter Weise Assoziationen aneinandergereiht, die Sauberkeit und Schmutz hervorrufen können. Das Saubere ist „das Wahre“, ist „schön und gut“12, wird also mit ästhetischen und moralischen Kategorien in Verbindung gebracht und positiv empfunden. Der Schmutz gilt hingegen als „häßlich“, als „unten und übel“13 und evoziert eine affektive Ablehnung. Empfindet man etwas als schmutzig, liegt ein Verstoß gegen ästhetische und/oder moralische Kategorisierungen vor, der Irritationen hervorruft. Der Schmutz ist einem nicht geheuer, man stört sich daran und ekelt sich vor einer Berührung. Man wünscht ihn sich fort, will ihn abwischen oder auf irgendeine andere Weise entfernen. Hinzu tritt das Wissen um die soziale Ablehnung, die Angst, den guten Ruf zu verlieren. Also achtet man auf Sauberkeit, wäscht sich und pflegt seine Kleidung, putzt und dekoriert seine Wohnung. Man hält sein Umfeld möglichst in Ordnung und vermeidet den Schmutz so gut und gründlich es geht. Demnach ist Schmutz „etwas, das fehl am Platz ist“ 14, wie die Sozialanthropologin Mary Douglas betont. Sie hat sich in ihrem Buch Reinheit und Gefährdung aus dem Jahr 1966 ausführlich mit Reinheitsritualen indigener Völker auseinandergesetzt und Strukturen offengelegt, die durchaus auch für westliche Gesellschaften gelten. 10 Jauß, Hans R. (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München 1968. 11 Enzensberger, Christian: Größerer Versuch über den Schmutz. München 1968, S. 9. Im Folgenden als Enzensberger (1968). 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Frankfurt am Main 1988, S. 52. Im Folgenden als Douglas (1988).

Der Sturz in den Schmutz | 13

Auch für „uns ist Schmutz wesentlich Unordnung“ 15, so Douglas. Die Strategien im Umgang mit schmutzigen Dingen sind demnach zuallererst als positive Handlungen zur Organisation von Umwelt zu deuten: Wenn wir gegen den Schmutz ankämpfen, tapezieren, dekorieren und aufräumen, treibt uns nicht die Sorge, wir könnten andernfalls krank werden, sondern wir verleihen unserer Umgebung dadurch, daß wie sie unseren Vorstellungen angleichen, eine neue, positive Ordnung. Hinter unserem Bemühen, Schmutz zu meiden, steht weder Furcht noch Unvernunft: es ist eine kreative Handlung, der Versuch, eine Verbindung zwischen Form und Funktion herzustellen, unsere Erfahrung zu vereinheitlichen.16

Wenn man gegen den Schmutz vorgeht, dann stets deshalb, weil er den ganz persönlichen Ansichten von Ordnung widerspricht: „Schmutz verstößt gegen Ordnung“17 lautet darum die simple, von Douglas geprägte Formel: Wenn das Unsaubere etwas ist, was fehl am Platz ist, so müssen wir es von der Ordnung her untersuchen. Unsauberes oder Schmutz ist das, was nicht dazugehören darf, wenn ein Muster bestand haben soll. Sobald wir dies erkannt haben, haben wir den ersten Schritt in Richtung auf ein Verständnis von Verunreinigung getan.18

Der Schmutz benötigt ein Bezugssystem, einen „Komplex geordneter Beziehungen“19 mit inneren Strukturen und einer äußeren Begrenzung. „Wo es Schmutz gibt, gibt es auch ein System“20, nur dass der Schmutz nicht mit der Ordnung dieses Systems kompatibel ist. Es handelt sich demnach um eine sich am falschen Ort befindliche, für wertlos erachtete Materie, die ihre Entfernung herausfordert. Insofern ist Schmutz ein „Nebenprodukt eines systematischen Ordnens und Klassifizieren von Sachen und zwar deshalb, weil Ordnen das Verwerfen ungeeigneter Elemente einschließt.“21 Daraus ergibt sich, dass Dinge nicht aufgrund ihnen innenwohnender Eigenschaften schmutzig sind. Als Abfallprodukt von Ordnungsprozessen gibt es Schmutz nicht an sich.22 Nur das Urteil derjenigen, die an der Ordnung partizipieren, generiert ihn.

15 16 17 18 19 20 21 22

Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 12. Ebd., S. 59. Ebd., S. 52. Ebd., S. 52-53. Ebd., S. 53. „[W]ir alle neigen dazu, zu denken, daß Objekte als Folge ihrer intrinsischen physikalischen Eigenschaften so sind, wie sie sind. Der Glaube, daß Natur das ist, was da ist, wenn man Bestandsaufnahme macht, ist beruhigend, aber falsch. Der Glaube, daß sie jeden Nachmittag neu gemacht wird, ist alarmierend, aber richtig. Wir müssen erkennen, daß die Eigenschaften, die die Objekte haben, ihr von der Gesellschaft selbst verliehen werden und daß die Natur (im Gegensatz zu unserer Vorstellung von Natur) nur die duldende und negative Rolle spielt, jene Eigenschaften zurückzuweisen, die zufällig physikalisch unmöglich

14 | Die Verschmutzung der Literatur

Sein Vorhandensein beruht auf subjektiven Einschätzungen und „existiert nur vom Standpunkt des Betrachters aus.“23 Dessen Schmutzempfinden basiert jedoch auf keinem gänzlich unabhängigen Sensorium, sondern ist durch die gesellschaftlichen Ordnungsmuster geprägt, in die das Individuum eingebunden ist. Schmutz ist gesellschaftlich definiert. Was als Verstoß gegen die Ordnung angesehen wird, ist von intersubjektiven, sozial überformten Denkmustern abhängig. Es ist die Kultur einer Gesellschaft, die deren öffentlichen und standardisierten Werte und Normen widerspiegelt und die Erfahrungen ihrer einzelnen Mitglieder untereinander vermittelt. Sie stellt die Grundkategorien bereit, die das individuelle und soziale Handeln bestimmen, „ein positives Muster“, in welches die „Vorstellungen und Werte säuberlich eingeordnet werden.“24 Dies Kategorisierungsmuster wird vermittels Erziehung und Sozialisation weitergegeben und in der sozialen Interaktion bestätigt. Bei Vorstellungen von Sauberkeit und Schmutz handelt es sich somit um inkorporierte Regeln, die das Handeln, Denken und Fühlen des Menschen in der Gesellschaft beeinflussen. Die verinnerlichten Normen und Werte konditionieren den sozialen Menschen in seinem Habitus, insofern man diesen mit Pierre Bourdieu als „das Körper gewordene Soziale“25 versteht. Im Zuge der Ordnungs- und Reinlichkeitserziehung werden Norm- und Wertstrukturen mit Hilfe von Scham- und Peinlichkeitsvorstellungen in das Individuum eingeprägt.26 Der Medizinsoziologe Horst Baier spricht von einem „Diktat der Sauberkeit“27, dem jeder unterworfen sei. Reinlichkeitsgebote „haben die soziale Funktion des Ausschlusses und die seelische Funktion des Einschlusses in ein eigenes gefühlsbewehrtes und gedankenläufiges ‚Ich‘.“28 Das Individuum ist angehalten den Schmutz zu bewältigen, da dieser als Verstoß der gesellschaftlichen Ordnung ange-

23 24 25 26

27 28

sind“, so Thompson, Michael: Über die Schaffung und Vernichtung von Werten. Stuttgart 1981, S. 23-24. Im Folgenden als Thompson (1981). Douglas (1988), S. 12. Ebd., S. 57. Bourdieu, Pierre u. Wacquant, Loïc J.D.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main 2006, S. 161. Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Zivilisation. [2. Aufl.] Bern 1969. Im Folgenden als Elias (1969). ‒ Scham definiert er ebd., S. 397 als „eine spezifische Erregung, eine Art von Angst, die sich automatisch und gewohnheitsmäßig bei bestimmten Anlässen in dem Einzelnen reproduziert. Es ist, oberflächlich betrachtet, eine Angst vor der sozialen Degradierung, oder, allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer“. Das Schamgefühl sei allerdings „nicht nur ein Konflikt des Individuums mit der herrschenden, gesellschaftlichen Meinung, sondern ein Konflikt, in den sein Verhalten das Individuum mit dem Teil seines Selbst gebracht hat, der diese gesellschaftliche Meinung repräsentiert“ (ebd., S. 398), womit Elias das Über-Ich meint. Als auf Mitmenschen projiziertes Gegenstück zur Scham definiert er Peinlichkeitsgefühle als „Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht“ (ebd., S. 404). Baier, Horst: Schmutz. Über Abfälle in der Zivilisation Europas. Konstanz 1991, S. 16. Ebd.

Der Sturz in den Schmutz | 15

sehen wird. Im Zuge der Gefühls- und Gedankennormierung entsteht ein sozialer Druck, der zur Konformität in Sachen Sauberkeit führt. Sauberkeit wird als den Regeln der Gesellschaft gemäßer, stets anzustrebender Normalzustand anerkannt und muss durch beständige Akte des Aufräumens, Schmutzentfernens oder kollektiven Ignorierens bestätigt werden. Alles Schmutzige gilt nämlich als störende Anomalie und stellt eine Bedrohung der eingespielten kulturellen Verhaltensmuster und sozialen Verhältnisse dar.29 Freilich ist Schmutz nichts Festgelegtes, sondern „etwas Relatives“ 30, das von der sich wandelnden Ordnung einer Gesellschaft abhängt. Die Grenze zwischen Sauberkeit und Schmutz kann sich innerhalb einer Kultur mit der Zeit verschieben. Zudem können Kulturen ganz unterschiedliche Auffassungen von Schmutz besitzen. Unreinheitsvorstellungen sind historisch und kulturell variabel, verweisen aber stets auf die Machtstrukturen einer Gesellschaft.31 Diskurse des Schmutzes sind Diskurse, in denen Gesellschaften die Grenzen ihrer Norm- und Wertvorstellungen verhandeln. Insofern handelt es sich um Definitionskämpfe, in denen man sich über die Legitimität dieser Vorstellungen und ihre Deutungshoheit auseinandersetzt. Etwas oder jemanden als schmutzig anzugreifen, bedeutet dabei stets, ihn zu diskreditieren, ihm einen Platz innerhalb der Ordnung der Gesellschaft abzuerkennen. Die verinnerlichte Furcht vor dem Unreinen wird berührt, der Schmutz instrumentalisiert. Soweit er gegen eine Person gerichtet ist, zielt der Schmutzvorwurf auf deren Identität, zielt immer auch auf Gefühls-, Denk- und Verhaltensweisen, die radikal in Frage gestellt werden: „Mit dem Gedanken der Besudelung betreten wir das Reich des Schreckens“32, so Paul Ricoeur, der damit für Christian Enzensberger „die ganze Rolle des Schmutzes in der Gesellschaft“33 ausformuliert habe. Diskurse des Schmutzes werden zu Machtdiskursen umgedeutet. „Jeder Träger von Schmutz sei mächtig, und jeder Inhaber von Macht verwende den Schmutz zu seiner Herrschaft. Wer den Andern beschmutzen könne, ob nun selbst rein oder nicht, sei der Boß34“, formuliert es Enzensberger zugespitzt. In Gesellschaften mit strikteren Ordnungssystemen ist die verinnerlichte Furcht vor dem Schmutz höher, so dass der Vorwurf, etwas sei schmutzig, in ihnen außerordentlich machtvoll ist. Solche Systeme tendieren dazu, ihn besonders häufig zu instrumentalisieren. Der Schmutz wird aufgerufen, um Normverstöße zu markieren, denn insbesondere dann, wenn die „moralische Empörung keine praktischen Sankti29 Vgl. Arndt, Martin: [Art.] Reinheit, Reinigung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 8. R-Sc. Basel 1992, Sp. 531-553, Sp. 532. 30 Douglas (1988), S. 53. 31 „Nur wenn man innerhalb strenger kultureller und zeitlicher Grenzen bleibt, kann man den dem gesunden Menschenverstand entspringenden Glauben aufrechterhalten, Abfall werde durch innere physikalische Eigenschaften bestimmt. Überschreitet man diese Grenzen, so erkennt man, daß die Abgrenzung zwischen Abfall und nicht-Abfall sich entsprechend dem sozialen Druck verändert“, so Thompson (1988), S. 27. 32 Ricoeur, Paul: Phänomenologie der Schuld, Bd. II. Symbolik des Bösen. Freiburg u.a. 1971, S. 33. 33 Enzensberger (1968), S. 48. 34 Ebd., S. 48-49.

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onen zur Hand hat, kann der Glaube an eine Verunreinigung Menschen davor zurückhalten, eine Übertretung zu begehen.“35 Paradoxerweise treibt die Betonung der Sauberkeit somit den Schmutz hervor. Rigide Sauberkeits- und Ordnungsvorstellungen können empfindliche, besonders einschneidende Auswirkungen auf das Individuum besitzen. Immer häufiger sieht es sich dem Schmutz und der ausgesprochenen oder impliziten Forderung ausgesetzt, diesen zu bereinigen, auszusondern, zu umgehen etc. Ängste, Scham und Peinlichkeit breiten sich in den Gefühls- und Gedankenwelten der Menschen aus und drohen überhandzunehmen. Wenn Ordnungsvorstellungen als bedrohlich, einengend oder übertrieben empfunden werden, kann das Verdrängte bewusst hervorgekehrt werden, um damit die gängigen Klassifikationen in Frage zu stellen. Das kann ein riskantes Unterfangen sein. Die Akzentuierung des Schmutzigen gleicht einem „fühlbaren Anrühren der Ordnung“36, was schließlich zu dem führen kann, was Enzensberger als „die große Schmutzumkehr“37 bezeichnet. Der Schmutz wird aufgerührt, hervorgehoben und umgedeutet. Während dieses Prozesses werden die Kategorien von Sauberkeit und Schmutz vermischt und subvertiert: Nunc erudimini. Sauber ist nicht schön noch gut, sauber ist klug kalt weiß. Schmutzig ist niedrig und nah, sauber ist oben und überall. Schmutzig ist wenigstens noch, aber sauber ist nichts, sauber ist schmutzig, zornig und krank, sauber ist mächtig, sauber geht nie mehr weg: so seid belehrt.38

Bei solch bewusst eingeleiteten Grenzüberschreitungen werden Kräfte entfesselt, welche „die anerkannte Ordnung zu zerstören drohen“39. Soweit diese Entwicklungen nicht gewaltsam unterbunden werden, geraten durch sie die konventionellen Normen und Werte in Bewegung. In einem kontroversen sozialen Aushandlungsprozess können sie korrigiert oder bestätigt, die Grenzen der Ordnung können verschoben oder wiederhergestellt werden. Für den Schmutz bedeutet das, dass er sein Schmutzigsein verlieren oder in seiner Unreinheit bestätigt werden kann. Abseits solch spektakulärer Prozesse, die den Schmutz provokant zum Vorschein bringen, tendiert er gewöhnlich dazu, nicht sichtbar zu sein. Schließlich bezeichnet er Dinge, denen beim Putzen oder Ordnung schaffen absichtlich Identität entzogen wird. Der Sozialanthropologe Michael Thompson schreibt: „Wir machen Dinge wichtig, indem wir andere Dinge unwichtig machen.“40 Sie werden weggeworfen, getilgt, kaschiert oder einfach kollektiv übersehen. Viele Worte verliert derjenige, der um Sauberkeit bemüht ist, ebenfalls nicht über den Dreck. Insofern ist in vielen Diskursen die Schmutzsemantik äußerst rar. Doch selbst dann, wenn der Schmutz in einem Diskurs nicht benannt wird, bedeutet das keineswegs, dass er nicht in ihm anwesend ist. Soweit von Reinheit die Rede ist, ist auch das Unreine latent vorhanden.

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Ebd., S. 175. Ebd., S. 33. Ebd., S. 99. Ebd., S. 126-127. Douglas (1988), S. 210. Thompson (1988), S. 137.

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METHODISCHE VORBEMERKUNGEN UND AUFBAU DER ARBEIT Dass sich der Schmutz begrifflich häufig nicht manifestiert, macht es schwierig, ihn mit üblichen historisch-semantischen Methoden zu erfassen. Für die in dieser Arbeit untersuchten kulturellen Diskurse des ‚langen 19. Jahrhunderts‘, die über den zentralen Begriff der Reinheit organisiert waren, gilt das, wie sich zeigen wird, in besonderem Maße. Auf semantischer Ebene wurde das Unreine in ihnen oft konsequent aus dem Blickfeld geräumt. Beispielsweise ist der Schmutz in einschlägigen Konversationslexika im Untersuchungszeitraum nicht zu einem eigenständigen Lemma erhoben worden (vgl. Kap.3). Daher musste die Methodik angepasst werden. Bei der Untersuchung der Konversationslexika ließ sich das Analyseintrumentarium verfeinern, indem die Orientierung an den Lemmata durch digitalisierte Volltextsuchen ergänzt wurde. In anderen Kapiteln der Arbeit musste anders vorgegangen werden. Dabei wurde auf ein von Reinhart Koselleck entwickeltes, begriffsgeschichtliches Verfahren zurückgegriffen, mit welchem der Schmutz über seine semantische Oppositionsfunktion erfasst werden konnte. Reinheit und Unreinheit sind „asymmetrische Gegenbegriffe“41, die gleichsam aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig negieren (rein ‹≠› unrein). Reinheit lässt sich insofern auch nicht ohne einen Verweis auf die Abwesenheit von etwas Unreinem definieren und umgekehrt. Das gilt auch, wenn von Prozessen die Rede ist: Der Verweis auf Säuberungen impliziert, das Unsauberes entfernt wird; der Hinweis auf Verunreinigungen thematisiert die Zerstörung der Reinheit. Sauberkeit/Schmutz bilden ein Begriffsdual, dessen Pole „darauf angelegt sind, eine wechselseitige Anerkennung auszuschließen.“42 Auch wenn sich der Schmutz semantisch nicht manifestiert, so ist er, soweit von Sauberkeit die Rede ist, latent trotzdem vorhanden. Konzeptionell angelegt, lässt sich folglich auch auf ihn schließen. Das Dual manifest/latent leitet sich von Niklas Luhmann ab und wird in dieser Arbeit als analytisches Instrument genutzt, um die Semantik des Schmutzes und ihres Wandels zu erfassen. Latenz bezieht sich demnach nicht nur auf das kommunikative Außerachtlassen bestimmter Themen der Kommunikation (Kommunikationslatenz), sondern „besagt, daß menschliches Handeln sich Teilaspekte seiner sozialen Wirklichkeit verdecken müsse, um Orientierbarkeit und Motivierbarkeit nicht zu verlieren.“43 Die kommunikative Manifestation von Reinheit unter semantischer Verdeckung des Schmutzes ermöglicht beispielsweise eine widerspruchsfreie Orientierung an kulturellen Reinlichkeitsgeboten. In den Fällen, in denen ein Pol semantisch unmarkiert respektive latent bleibt (rein ‹≠› [unrein]), tritt in der Regel ein weiteres Phänomen hinzu. Die semantische Lücke wird durch andere Begriffe geschlossen, die mit dem Gegenbegriff assoziiert

41 Koselleck, Reinhart: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, S. 211-259. Im Folgenden als Koselleck (1979). 42 Ebd., S. 213. 43 Luhmann, Niklas: Soziale Aufklärung. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Wiesbaden 2005, S. 87. ‒ Vgl. Ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, S. 456-465.

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werden. „Die Struktur der Gegenbegriffe hängt nicht allein von den Worten ab, mit denen die Begriffspaare gebildet werden. Die Worte sind austauschbar, während sich eine asymmetrische Argumentationsstruktur durchhalten kann.“44 Formiert sich ein Diskurs um den Begriff der Sauberkeit und blendet den Schmutz als Gegenbegriff aus, so wird dieser zumeist durch andere Begriffe ersetzt. Das Konzept der Sauberkeit lässt sich nur durch Diskrimination und Ausgrenzung von etwas anderem definieren, das dann die Bedeutung ‚unsauber‘ erhält (etwa: rein ‹≠› hässlich[unrein]). In verschiedenen der nachfolgenden Untersuchungsschritte wird sich zeigen, dass in den über den Begriff der ‚Reinheit‘ organisierten Diskursen des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ statt ‚Unreinheit‘ häufig andere Gegenbegriffe wie etwa ‚Hässlichkeit‘, ‚Unsittlichkeit‘ oder ‚Gemeinheit‘ verwendet wurden. Gefährdungen von Reinheit oder Verstöße gegen das Reinheitsgebot markierend, sind diese Begriffe damit zumindest konzeptionell als Unreinheiten diskriminiert worden und haben sich in ihrer Bedeutung zum Teil bis zur Synonymität (rein ‹≠› hässlich[unrein] = unsittlich[unrein] = gemein[unrein]) angenähert. Zu fragen ist, wann und wieso sich der Schmutz semantisch manifestiert, wenn er seine diskriminierende Funktion auch latent erfüllen kann. Was geschieht in dem Fall mit den Begriffen, die mit ihm assoziiert werden? Selbstverständlich darf die Synonymität der Gegenbegriffe nicht per se angenommen werden. Indizien müssen hinzutreten, aus denen die konzeptionelle Dimension von Verunreinigung nachvollzogen werden kann. Zu diesem Zweck müssen die Kontexte interpretiert werden. In ihnen dürfen etwaige Differenzen zwischen ästhetischen, hygienischen, moralischen oder sonstigen Konzepten von Verunreinigung nicht aus dem Blick geraten. Ziel ist es, die je unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen und Bewertungen von Unreinheit in verschiedenen diskursiven Kontexten (und zu verschiedenen Zeiten) möglichst klar zu erfassen. Mit der Analyse asymmetrischer Begriffsstrukturen ist damit die Methode spezifiziert, die es erlaubt, Abfälle, Unrat, Schmutz und Schund trotz semantischer Abwesenheit zu erfassen. Das begriffsgeschichtliche Verfahren wird in den folgenden Kapiteln je nach Bedarf mit diskursanalytischen, sozial-, wissens- und real-, ästhetikund literaturgeschichtlichen Methoden kombiniert, womit es sich in eine Historische Semantik einfügt, die nicht nur den semantischen Wandel erfasst, sondern auch außersprachliche Bezüge, d.h. kulturelle, wissenschaftliche und realgeschichtliche sowie literarästhetische Einflüsse auf diesen Wandel zur Kenntnis nimmt. Durch dieses interdisziplinäre, begriffs- und kontextbezogene Vorgehen soll sichtbar werden, „in welcher Weise gesellschaftliches Wissen in die Konstitution und den Wandel von Wort- und Textbedeutungen eingreift“, um so „Prozesse der Bedeutungskonstitution, der Bedeutungskonstanz oder -tradierung und des Bedeutungswandels erklären [zu] können.“45 Dieses, mit Dietrich Busse als „historisch semantische Epistemologie“ 46 zu bezeichnende Verfahren, hat insofern zwei Haupterkenntnisinteressen. Es geht einerseits um eine „Tiefensemantik“ des Schmutzes, die mehr als nur an den alltäglich-

44 Koselleck (1979), S. 216. 45 Busse, Dietrich: Begriffsgeschichte oder Diskursgeschichte? Zu historischen Grundlagen und Methodenfragen einer historisch-semantischen Epistemologie. In: Dutt, Carsten (Hg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Heidelberg 2003, S. 17-38, S. 26. 46 Ebd.

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banalen, „offen zu Tage liegenden“47 Bedeutungselementen desselben interessiert ist. Stattdessen soll „gerade auch das zugrundeliegende, versteckte, normalerweise übersehene, weil als selbstverständlich unterstellte“48 und darum großteils unreflektiert bleibende Verständnis von Schmutz expliziert werden. Andererseits sollen die „Möglichkeitsbedingungen“, d.h. die Bedingungen für das Erscheinen der Schmutzsemantik in den untersuchten Kontexten herausgefunden werden.49 Mittels der über den Horizont von Begriff und Konzept in die Kontexte hinausreichenden historisch-semantischen Analyse wird untersucht, weshalb gewisse Phänomene (Ideen, Objekte, Personen bzw. Gruppen, Literaturen) mit Unreinheit assoziiert und damit als Verstöße gegen die kulturelle Normen- und Werteordnung der bürgerlichen Gesellschaft angesehen wurden. Es können die sozialen Kräfte sichtbar gemacht werden, die auf den Schmutz eingewirkt haben, um ihn und die mit ihm assoziierten Phänomene aus der kulturellen Ordnung herauszuhalten. Dabei werden die semantische Funktion des Schmutzes und die Interessen in den Blick geraten, die sich an solche Interventionen banden. Und es wird darum gehen, epistemische und funktionale Aspekte beachtend, etwaigen Wandel im Verständnis von oder im Umgang mit Schmutz kenntlich zu machen. Dem auf der semantischen Oberfläche verhaftet bleibenden Blick entziehen sich diese Aspekte normalerweise, da sie in den über Reinheit organisierten Standarddiskursen häufig ‚unter den Teppich gekehrt‘ werden. Diesem diskursiven Sog kann sich, aufgrund der materialbedingten Fixierung auf Reinheit, über welche der Schmutz erschlossen werden muss, auch diese Studie nicht komplett entziehen. Durch den Rückgriff auf das Konzept ‚asymmetrischer Gegenbegriffe‘ lassen sich die tiefensemantischen Strukturen von Schmutz gleichwohl sichtbar machen. Aufgrund ihres interdisziplinären Ansatzes gliedert sich die Studie in drei große Themenblöcke. Dadurch wird der Ubiquität des Phänomens ‚Schmutz‘ Rechnung getragen. Als Untersuchungszeitraum wurde das ‚lange 19. Jahrhundert‘ gewählt. Dieses war von einer gesellschaftlichen Modernisierung geprägt, die auch die historische Semantik in Bewegung versetzt hat: Industrialisierung und Urbanisierung, damit einhergehende soziale Verwerfungen, die kulturelle Verbürgerlichung der Gesellschaft sowie Fortschritte in Wissenschaft und Technik sind als Entwicklungen zu nennen. In Teil A wird analysiert, in welcher Weise diese modernen Entwicklungen die Bedeutung von und den Umgang mit Schmutz in allgemeinkultureller Hinsicht verändert haben. Dabei soll auch geklärt werden, in welchen Kontexten Schmutz semantisch latent blieb und unter welchen Umständen er sich manifestiert hat. Die Teile B und C beleuchten die Ausdifferenzierung der ästhetischen Moderne, die in einem „Doppelverhältnis“ zur gesellschaftlichen Moderne stand, „denn Literatur ist einerseits Teil der Modernisierung, als auch eine Instanz, die gesellschaftliche Modernisierung analysiert und kommentiert.“ 50 Auf der einen Seite also u.a. die

47 48 49 50

Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 24. Huber, Martin: „Was bleibet aber…“? Ein Zwischenruf zur Debatte literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34 (2009), H. 2, S. 210-216, S. 213.

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„Demokratisierung des Lesens“51 sowie technische Entwicklungen (Rotationspressen oder moderne Distributionsformen), auf der anderen Seite durchaus zwiespältige, nicht selten kulturkritische Reflexionen auf die gesellschaftliche Moderne, die oft ein Gespür für die Ambivalenzen und Verluste, die mit dem Fortschritt einhergingen, besaßen. Die Prominenz der Schmutzsemantik im literarischen Diskurs um 1900 verweist auf eine intrikate Beziehung zwischen gesellschaftlicher und ästhetischer Moderne wie auch zwischen traditionellen und modernen Kunstvorstellungen. Wo sie auftauchte, verdeckte sie die in diesem Spannungsfeld in Bewegung versetzten ästhetischen Normen und Bewertungsmaßstäbe, um die in den Definitionskämpfen um Kunst und Schmutz heftig gerungen wurde. Insofern liefert die Studie einen Beitrag zu einer differenzierten Betrachtungsweise der ästhetischen Moderne52, die neben den Haupttendenzen insbesondere die auf sie einwirkenden Verdrängungs- und Tabuisierungsmechanismen beachtet. Um die literaturtheoretischen Reflexionen zu veranschaulichen, vor deren Hintergrund sich Entwicklungen in der Literatur abspielten, untersucht Teil B den Bedeutungswandel von Schmutz im ästhetischen Diskurs. Es wird sich zeigen, ob und inwiefern dieser Wandel mit den im ersten Teil der Arbeit untersuchten Entwicklungen korrelierte. In Teil C werden literarische Kontroversen unter die Lupe genommen, in denen sich der Schmutz um 1900 klar manifestiert hat. Es werden literaturspezifische und außerliterarische Gründe diagnostiziert, weshalb die Objekte der Kritik als Ordnungsverstöße bewertet wurden. Darüber hinaus werden die auf die Grenze zwischen Kunst und Schmutz einwirkenden Kräfte untersucht. Außerdem lässt sich herausarbeiten, inwiefern die Manifestation des Drecks in den Kontroversen mit 51 Langenbucher, Wolfgang R.: Die Demokratisierung des Lesens in der zweiten Leserevolution. In: Göpfert, Herbert G. (Hg.): Lesen und Leben. Frankfurt am Main 1975, S. 12-35. Im Folgenden als Langenbucher (1975). 52 Die Frage nach einer adäquaten literaturwissenschaftlichen Bewertung der Moderne stand 2007-2009 in einer im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur ausgetragenen Kontroverse im Zentrum. Zusammenfassend dazu vgl. Erhart, Walter: Editorial ‒ Stichworte zu einer literaturwissenschaftlichen Moderne-Debatte. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34 (2009), H. 2, S. 176-194. ‒ Ausgangspunkt der Kontroverse war der Aufsatz von Lohmeier, Anke-Marie: Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32 (2007), H. 1, S. 1-15. In dem Aufsatz hat Lohmeier dem literaturwissenschaftlichen Mainstream eine „Bindung an die Wahrnehmungsperspektive der Kunst“ (S. 3) vorgeworfen, die ihn parteiisch im Sinne der ästhetischen Moderne habe urteilen lassen: „Das heißt, das spannungsreiche Verhältnis der ästhetischen zur gesellschaftlichen Moderne bleibt präziser Rekonstruktion verschlossen, solange der Blick auf diese durch jene gesteuert wird, solange für die Beschreibung und das Verständnis gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse die Sprechregelungen der ästhetischen Moderne gelten“ (S. 4). Wurden die Vorwürfe an das Fach von den anderen Debattenteilnehmern klar zurückgewiesen, so wurde die Notwendigkeit einer unvoreingenommenen literaturwissenschaftlichen Betrachtung des Verhältnisses zwischen gesellschaftlicher und ästhetischer Moderne grundsätzlich bejaht. Desweiteren wurde eine differenziertere Beobachtung der Pluralität der ästhetischen Moderne von den Diskutanten als wichtig erachtet.

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den zuvor beobachteten ästhetischen oder allgemeinkulturellen Entwicklungen zusammenhing. Teil A, in dem die allgemeinkulturelle Bedeutung von Schmutz erschlossen werden soll, befasst sich in Kapitel 1 zunächst mit der von den Pädagogen des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ konzipierten Reinlichkeitserziehung. Ziel ist es, das der bürgerlichen Kultur zugrundeliegende Verständnis von Schmutz, wie es den Kindern in den Schulen vermittelt wurde, sichtbar zu machen und zu überprüfen, inwiefern es mit ästhetischen, moralischen und gesundheitlichen Normen und Wertvorstellungen verschränkt war. In Kapitel 2 wird der materielle Schmutz als ein realweltliches und soziales Phänomen urbanen Lebens betrachtet. Es wird untersucht, wie neuentwickelte hygienetechnische Verfahren und neue medizinisch-bakteriologische Erkenntnisse Wahrnehmung und Bewältigung von Abfällen, Abwässern und Dreck im städtischen Raum verändert haben. Wie hat sich aufgrund der modernen Hygiene das Verhältnis zu materiellem und sozial definiertem Schmutz verändert? Kapitel 3 fragt nach dem Stellenwert des Schmutzes in der Konversationskultur des 19. Jahrhunderts und nimmt dazu populäre Enzyklopädien in den Blick, in denen das Wissen unterschiedlichster Diskurse aufgespeichert und in das Normen- und Wertegefüge der bürgerlichen Gesellschaft eingepasst wurde. Es wird untersucht, welche Phänomene aus welchen Gründen als Verstöße gegen die bürgerliche Ordnung mit Unreinheit assoziiert wurden. Dabei soll auch ein etwaiger semantischer Wandel beobachtet werden, der zeigt, in welchen Kontexten Schmutz an Bedeutung gewonnen oder verloren hat. Teil B analysiert die Bedeutung des Unreinen im ästhetischen Diskurs des ‚langen 19. Jahrhunderts‘. In Kapitel 4 werden kunsttheoretische Überlegungen der Weimarer Klassik in den Blick genommen, um zu untersuchen, welche Aspekte als Verstöße gegen die „Ideale ästhetischer Reinigkeit“ 53 angesehen wurden. Kapitel 5 befasst sich mit der von den programmatischen Realisten der 1850er- und 1860er-Jahre konzipierten Ästhetik der Verklärung, die auf Techniken des Ordnens, Idealisierens und Reinigens und damit auf Bewältigung und Eliminierung unreiner Ingredienzien basierte. In beiden Kapiteln wird es darum gehen, den Schmutz aus der Latenz zu lösen und zu beobachten, welche anderen Begriffe zumindest konzeptionell als Gefährdungen von Reinheit angesehen wurden oder auch explizit unrein diskriminiert wurden. Unter welchen Bedingungen sich die Naturalisten in den 1880er-Jahren gerade den bis dahin als unrein indizierten Phänomenen zuwandten und damit den Schmutz zum manifesten Bestandteil von Kunst und Literatur machten, wird in Kapitel 6 analysiert. Teil C beleuchtet drei literarische Kontroversen. Dabei wird nachgewiesen, wie die in ihnen vonstattengegangenen Manifestationen von Schmutz nicht nur mit literarischen, sondern auch mit den zuvor in den Blick genommenen allgemeinkulturellen und ästhetischen Entwicklungen zusammenhingen. Zunächst wird in Kapitel 7 untersucht, wieso der Berliner Theaterskandal um die vom Verein ‚Freie Bühne‘ initiierte Uraufführung von Vor Sonnenaufgang aus dem Jahr 1889 sich gerade am Dreck ‚entzündet‘ hat. Anschließend untersucht Kapitel 8 die Dimensionen der Kritik der 53 Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20. Philosophische Schriften, 1. Teil. Hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 309-412, hier S. 380. Im Folgenden als Schiller: Ästhetische Erziehung.

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als ‚Schund und Schmutz‘ diffamierten Kolportage. Da sich die Angriffe gegen den modernen Kolportagebuchhandel, gegen die durch ihn vertriebene Literatur und gegen ihre Leser richteten, werden für die Analyse alle drei Aspekte berücksichtigt. Bislang fehlen in der Forschung literaturwissenschaftliche Zugänge zu jener populären Literaturgattung. Daher wird zum ersten Mal ein als ‚Schundliteratur‘ abgewerteter Lieferungsroman untersucht, um ihn mit der auf die Literaturgattung bezogenen Kritik in Beziehung zu setzen. Kapitel 9 verfolgt die Skandalgeschichte von Arthur Schnitzlers Reigen bis ins Jahr 1921. Seit der Erstveröffentlichung haben seine Gegner dieses Drama benutzt, um sich öffentlichkeitswirksam als Kämpfer für Sauberkeit und gegen die vermeintliche Unsittlichkeit zu profilieren. Ziel der Analyse ist es, die Grenze zwischen Kunst und Schmutz sichtbar zu machen und zu diagnostizieren, wie und wieso sie sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verändert hat. Die Auswahl der Untersuchungsschritte ermöglicht es, ein mehrdimensionales Bild vom Wandel des Schmutzes im ‚langen 19. Jahrhundert‘ zu zeichnen, so dass ein literaturgeschichtliches Phänomen in seinen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten betrachtet werden kann. Die Befunde der in den neun Kapiteln angestellten Untersuchungen werden schließlich in einem Resümee gebündelt und reflektiert. In ihm soll die eingangs gestellte Frage nach den Bedingungen für die semantische Manifestation des Schmutzes in literarischen Diskursen um 1900 beantwortet werden, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang immer nur zur Kenntnis genommen, jedoch nie fundiert behandelt wurde. Der vorliegende Ansatz erlaubt es, bislang übersehene Kräfte, Entwicklungen und Korrelationen sichtbar zu machen, die die Grenze zwischen Kunst und Schmutz in Bewegung versetzt haben. Auf diese Weise macht die Studie die ‚Verschmutzung‘ der literarischen Moderne verständlich.

Teil A: Allgemeinkulturelle Bedeutung des Schmutzes im ‚langen 19. Jahrhundert‘

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Reinlichkeitserziehung, ästhetische Bildung und die Bedeutung des Unreinen im pädagogischen Diskurs

In allen Schulen, vor allem aber in den Volksschulen, war die Vermittlung von Sauberkeitsnormen im 19. Jahrhundert ein elementares Lernziel. Eine Erziehung zur Reinlichkeit galt als Ausgangspunkt ästhetischer, moralischer und hygienischer Bildung. Davon zeugen die pädagogischen Lexika jener Zeit, in denen die Lemmata ‚Reinlichkeit‘ bzw. ‚Unreinlichkeit‘ niemals ausgelassen wurden.1 Stets ist in den oft ausführlich gehaltenen Artikeln auf die Notwendigkeit einer Reinlichkeitserziehung hingewiesen und auf Methoden eingegangen worden, mit denen sie umgesetzt werden sollte. Mit diesen Informationen lassen sich Grundzüge einer Geschichte der Reinlichkeitserziehung im ‚langen 19. Jahrhundert‘ erfassen, die im 2. Abschnitt dieses Kapitels skizziert wird. Dabei muss die Bedeutung des Unreinen herausgestellt werden, ohne welche die Dimensionen jener Reinlichkeitserziehung nicht hinlänglich 1

Für die Untersuchung der Geschichte der Reinlichkeitserziehung wurden die folgenden Artikel aus pädagogischen Fachlexika eingesehen, die in späteren Fußnoten nach dem Schema Autor: [Art.] Titel. In: Lexikonsigle (Jahr), Band, Seitenzahl zitiert werden: Anon.: [Art.] Unreinlichkeit. In: Encyklopädisch-pädagogisches Lexikon oder vollständiges, alphabetisch geordnetes Hand- und Hilfsbuch der Pädagogik und Didaktik, hg. von J. G. C. Wörle. Heilbronn 1835, S. 752. ‒ Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: Universal-Lexicon der Erziehungs- und Unterrichtslehre für ältere und jüngere christliche Volksschullehrer, Bd. 2, hg. von Matthias C. Münch. Augsburg 1842, S. 435-436. ‒ Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: Pädagogische Real-Encyklopädie oder Encyklopädisches Wörterbuch des Erziehungs- und Unterrichtswesens und seiner Geschichte, Bd. 2, hg. von Karl G. Hergang. Grimma 1847, S. 492-493. ‒ Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: Encyklopädie der Pädagogik vom gegenwärtigen Standpunkte der Wissenschaft, Bd. 2. Leipzig 1860, S. 342-343. ‒ Strebel, B.: [Art.] Reinlichkeit. In: Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 7, hg. von K. A. Schmid. Gotha 1869, S. 1-7. ‒ Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: Handwörterbuch für den Deutschen Volksschullehrer, Bd. 2, hg. von E. Petzold. [2. Aufl.] Leipzig 1878, S. 559-560. ‒ Gärtner, A.: [Art.] Reinlichkeit der Kinder, der Kleider, der Schule. In: Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 7, hg. von W. Rein. [2. Aufl.] Langensalza 1908, S. 385-390. ‒ Fischer, F. J.: [Art.] Reinlichkeit. In: Lexikon der Pädagogik, Bd. 4, hg. von Ernst M. Roloff. Freiburg im Breisgau 1915, Sp. 289-292. ‒ Grimm, Ludwig: [Art.] Reinlichkeit. In: Handwörterbuch des Volksschulwesens. Berlin 1920, S. 345-346.

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erfasst werden könnten; was als ihr Anderes ausgegrenzt wurde, bliebe ansonsten unerkannt. An die Reinlichkeitserziehung anknüpfend, befasst sich der 3. Abschnitt mit der Bedeutung, die dem Schmutz in der ästhetischen Bildung des 19. Jahrhunderts zukam. Anhand von Lexikonartikeln über Ästhetik 2 kann veranschaulicht werden, wie mit der Erziehung zur Reinlichkeit die ästhetischen Vorstellungen aller Menschen, insbesondere aber des einfachen Volkes, normiert werden sollten. Bemerkenswerterweise sind die Dimensionen der Reinlichkeitserziehung und ihre kulturelle Bedeutung für das ‚lange 19. Jahrhundert‘ in der Geschichte der Pädagogik bislang nur partiell untersucht worden. Was es gibt sind Studien zur Schulhygiene, in denen die Reinlichkeitserziehung auf ihre gesundheitlichen Aspekte hin untersucht worden ist.3 Die den Zeitgenossen nicht minder wichtigen ästhetischen und moralischen Aspekte sind in ihnen allerdings eher beiläufig erwähnt worden. Die im vorliegenden Kapitel zusammengestellten Ergebnisse sind deshalb als Prolegomena zu betrachten, die einer weiteren Erschließung des Forschungsgegenstandes vorausgeschickt werden. Unter stichprobenartiger Heranziehung weiterer pädagogischer Quellen macht die Analyse der Lexikonartikel grundlegende Aspekte und Entwicklungslinien der Reinlichkeitserziehung im 19. Jahrhundert sichtbar. An Stellen, wo sie die Zusammenhänge deutlicher veranschaulichen können, werden außerdem Bei2

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Folgende Artikel, die in späteren Fußnoten nach dem Schema Autor: [Art.] Titel. In: Lexikonsigle (Jahr), Band, Seitenzahl zitiert werden, sind für diese Analyse eingesehen worden: Anon.: [Art.] Aesthetisches Gefühl (Bildung). In: Encyklopädisch-pädagogisches Lexikon oder vollständiges, alphabetisch geordnetes Hand- und Hilfsbuch der Pädagogik und Didaktik, hg. von J. G. C. Wörle. Heilbronn 1835, S. 10. ‒ D.: [Art.] Aesthetische Gefühle. In: Pädagogische Real-Encyklopädie oder Encyklopädisches Wörterbuch des Erziehungsund Unterrichtswesens und seiner Geschichte, Bd. 1, hg. von Karl G. Hergang. Grimma 1843, S. 41-43. ‒ D.: [Art.] Aesthetische Bildung. In: Pädagogische Real-Encyklopädie oder Encyklopädisches Wörterbuch des Erziehungs- und Unterrichtswesens und seiner Geschichte, Bd. 1, hg. von Karl G. Hergang. Grimma 1843, S. 44-46. ‒ Deinhardt: [Art.] Ästh. Bildung. In: Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 1, hg. von K. A. Schmid. Gotha 1859, S. 263-272. ‒ Palmer: [Art.] Aesthetische Bildung in der Volksschule. In: Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 1, hg. von K. A. Schmid. Gotha 1859, S. 272-275. ‒ Anon.: [Art.] Aesthetisches Gefühl. In: Encyklopädie der Pädagogik vom gegenwärtigen Standpunkte der Wissenschaft, Bd. 1. Leipzig 1860, S. 3-4. ‒ Anon.: [Art.] Ästhetische Bildung. In: Handwörterbuch für den Deutschen Volksschullehrer, Bd. 1, hg. von E. Petzold. [2. Aufl.] Leipzig 1877, S. 38-39. ‒ Sander, Ferdinand: [Art.] Ästhetische Bildung. In: Ders.: Lexikon der Pädagogik. Handbuch der Volksschullehrer. Leipzig 1883, S. 20-21. ‒ Lindner, Gustav A.: Ästhetische Bildung. In: Ders.: Encyklopädisches Handbuch der Erziehungskunde mit besonderer Berücksichtigung des Volksschulwesens. [2. u. 3. Aufl.] Wien u. Leipzig 1884, S. 64-68. ‒ Lange, K.: [Art.] Ästhetische Bildung. In: Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 1, hg. von W. Rein. [2. Aufl.] Langensalza 1903, S. 290-296. ‒ Speyer, M.: [Art.] Ästhetische Bildung. In: Lexikon der Pädagogik, Bd. 1, hg. von Ernst M. Roloff. Freiburg im Breisgau 1913, Sp. 248-257. Vgl. etwa Bennack, Jürgen: Gesundheit und Schule. Zur Geschichte der Hygiene im Preussischen Volksschulwesen. Köln 1990. ‒ Umehara, Hideharu: Gesunde Schule und gesunde Kinder. Schulhygiene in Düsseldorf 1880-1933. Essen 2013.

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spiele aus der zeitgenössischen Literatur beigefügt. Für die in der vorliegenden Arbeit angestrebte kulturgeschichtliche Erforschung des Schmutzes ist diese Vorgehensweise hinreichend. Eine historisch-systematische Erschließung der Reinlichkeitserziehung müsste den pädagogischen Diskurs über Sauberkeit und Schmutz allerdings auch mit Blick in Fachzeitschriften, Konferenzprotokolle, Lehr- und Schulbücher rekonstruieren und ihn mit der Schulrealität in Beziehung setzen. Überdies ist auch der spezifische Zusammenhang von Reinlichkeitserziehung und ästhetischer Bildung bislang noch kaum erforscht worden, so dass mit dem vorliegenden Kapitel eine weitere, die Geschichte der Ästhetik betreffende Forschungslücke geschlossen werden kann. Die in den Schulen des 19. Jahrhunderts vermittelte Reinlichkeitserziehung zielte darauf, die im Zuge der Aufklärung zunächst im gebildeten Bürgertum ausgebreiteten Sauberkeitsnormen und -standards auf alle Bevölkerungsschichten auszudehnen. Im 18. Jahrhundert hatten Aufklärer erfolgreich versucht, den Bürgern mit Tugenden wie Sauberkeit, Ordnung, Fleiß, Sittlichkeit, Schönheit und Gesundheit ein leistungsfähiges „Raster der Orientierung im sozialen Raum“ 4 an die Hand zu geben, das den „bürgerlichen Wertehimmel“5 fortan normativ strukturieren sollte und auch noch im 19. Jahrhundert aktiv blieb. Der „reinliche Bürger“ 6 hatte sich, soweit er sich nicht sozial diskreditieren wollte, in seinem Verhalten an diesem Tugendkanon zu orientieren. Der Schmutz diente nunmehr als symbolträchtiges soziales Ausschlusskriterium, „mit dessen Hilfe sich die Gesellschaft auf Kosten des zum Schmutz erklärten definier[t]“7 hat. Penibel eingehaltene Sauberkeit ist zu einem exklusiven Ausweis von Bürgerlichkeit geworden, das der Distinktion diente.8 Unterbürgerliche Lebenswelten sind aus dieser Perspektive heraus fortan mit Unreinlichkeit assoziiert worden. Gleichzeitig hat es aber bereits um 1800 teils humanistisch, teils ökonomisch motivierte Bestrebungen gegeben, das einfache Volk zu mehr Reinlichkeit anzuhalten, die aber um 1800 noch häufig an die Grenzen der Machbarkeit gestoßen waren.9 Die schulische Reinlichkeitserziehung stellte eine Fortführung und Intensivierung dieser Volksaufklärung mit pädagogischen Mitteln dar. Die allmähliche Durchsetzung der Schulpflicht im 19. Jahrhundert ermöglichte es, das Ziel einer Zivilisierung der Unterschichten auf dem Wege einer schulischen Vermittlung von Sauberkeitsvorstellungen neu zu forcieren. Gesetzliche Bestimmungen zur allgemeinen, für Mädchen und Jungen geltenden Schulpflicht10 hatte es 4

Frey, Manuel: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760-1860. Göttingen 1997, S. 327. Im Folgenden als Frey (1997). 5 Hettling, Manfred u. Hoffmann, Stefan-Ludwig (Hgg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000. 6 Frey (1997), Titel. 7 Enzensberger (1968), S. 59. 8 Vgl. Frey (1997), S. 15. 9 Vgl. Kuchenbuch, Ludolf: ‚Säuisches Wirtschaften‘ auf dem Land als Problem der Volksaufklärung. In: Jahrbuch für Volkskunde 10 (1987), S. 27-42. 10 Über preußische Schulpflichtsproklamationen im 18. und frühen 19. Jahrhundert informieren. Leschinsky, Achim u. Roeder, Peter M.: Schule im historischen Prozeß. Zum Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Entwicklung. Stuttgart 1976, S. 43-60. Im Folgenden als Leschinsky/Roeder (1976). ‒ Allgemeine Informationen

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in den meisten deutschen Territorien zwar bereits vor dem 19. Jahrhundert gegeben. Allerdings war die tatsächliche Schulbesuchsquote zu Beginn des 19. Jahrhunderts vielerorts noch sehr niedrig. „Schulrecht und Schulwirklichkeit klafften weit auseinander.“11 Dazu werden im 1. Abschnitt nun einige grundlegende Informationen über die Situation der deutschen Volksschulen im 19. Jahrhundert zusammengestellt, mit denen sich die Bedeutung der Reinlichkeitserziehung besser nachvollziehen lässt.

1.1 DIE SITUATION DER VOLKSSCHULEN IM 19. JAHRHUNDERT Einerseits mangelte es an institutionellen Voraussetzungen, die staatlichen Vorgaben umzusetzen12: Vor allem auf dem Land war es für viele Gemeinden schwierig, die Kosten zur Finanzierung elementaren Schulunterrichts zu tragen. Gemeinden, denen die Ausgaben für den Bau von Schulgebäuden, die Anschaffung von Schulinventar, die Bereitstellung einer Lehrerwohnung und die Bezahlung der Lehrer zu hoch waren, mussten etwa wandernde Lehrkräfte für Kost und Logis engagieren, um den ihnen auferlegten Pflichten zur Organisation elementaren Schulunterrichts nachzukommen. In einigen Städten füllten auch private Schulunternehmungen oder Fabrikschulen die Lücken aus. Andererseits schickten viele Eltern ihre Kinder gar nicht erst in die Schule, da sie mit für den Unterhalt ihrer Familien sorgen mussten 13: Das traf auf große Teile der Landbevölkerung sowie auf unterbürgerliche Schichten in den Städten (Kleinhandwerker, Fabrik- und Heimarbeiter etc.) zu. Überdies konnten viele Familien nicht auf das zu entrichtende Schulgeld verzichten. So kam es, dass in Preußen 1816 im Durchschnitt nur etwa 60% der schulpflichtigen Kinder in einer öffentlichen Schule registriert waren. Obrigkeitliche Eingriffe waren es, die den Volksschulen daraufhin allmählich mehr Kinder zuführten14: Behördliche Schulvisitationen kontrollierten die örtlichen Unterrichtsverhältnisse; darüber hinaus wurde mit Sanktionen versucht, die Schulpflicht durchzusetzen. Aufgrund dieser Maßnahmen stieg die Schulbesuchsquote im Verlauf des Jahrhunderts stetig an (1846: 82%; 1871: 92%15).

11 12

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zur Schulpflicht und zu den Hemmnissen ihrer Durchsetzung in den deutschen Staaten liefert Friederich, Gerd: Das niedere Schulwesen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3 (1800-1870). Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches, hg. v. Karl-Ernst Jeismann u. Peter Lundgreen. München 1987, S. 123153, v.a. S. 125-131. Im Folgenden als Friederich (1987). Ebd., S. 126. Vgl. den Abschnitt „Schulfinanzierung“ bei Herrlitz, Hans-Georg; Hopf, Wulf; Titze, Hartmut: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. [2. Aufl.] Weinheim u.a. 1998, S. 54-55. Vgl. ebd., S. 53-54. Vgl. Friederich (1987), S. 125-126. Die Zahlen nennen Leschinsky/Roeder (1976), S. 137-144. Zu bedenken ist, dass die Schulbesuchsquoten zwischen den einzelnen Regionen sehr stark differierten. Ferner besa-

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Die Bedingungen in den Schulen blieben auch aufgrund der nun stetig ansteigenden Schülerzahlen schlecht. Zwar standen den Volks- und Armenschullehrern etwa ab den 1830er-Jahren überall eigene Schullokalitäten zur Verfügung16; allerdings waren das in armen Gemeinden oft keine Neubauten, sondern Notbehelfe, in denen fragwürdige sanitäre Zustände vorherrschten. Die in Wilhelm Raabes Roman Der Hungerpastor (1863/64) geschilderte Armenschule mag der Schulwirklichkeit mancher Kommunen bei aller Überspitzung recht nahe gekommen sein: In einem dunkeln Sackgäßchen, in einem einstöckigen Gebäude, das einst als Spritzenhaus diente, hatte die Kommune die Schule für ihre Armen eingerichtet, nachdem sie sich so lange als möglich geweigert hatte, überhaupt ein Lokal zu so überflüssigem Zweck herzugeben. Es war ein feuchtes Loch; fast zu jeder Jahreszeit lief das Wasser von den Wänden; Schwämme und Pilze wuchsen in den Ecken und unter dem Pult des Lehrers. Klebrignaß waren die Tische und Bänke, die während der Ferien stets mit einem leichten Schimmelanflug überzogen wurden. Von den Fenstern wollen wir lieber nicht reden; es war kein Wunder, wenn sich auch in ihrer Nähe die interessantesten Schwammformationen bildeten. Ein Wunder war es auch nicht, wenn sich in den Händen und Füßen des Lehrers die allerschönsten Gichtknoten und in seiner Lunge die prachtvollsten Tuberkeln bildeten. Es war kein Wunder, wenn zeitweise die halbe Schule am Fieber krank lag. Hätte die Kommune auf jedes Kindergrab, welches durch ihre Schuld auf dem Kirchhof geschaufelt wurde, ein Marmordenkmal setzen müssen, so würde sie sehr bald für ein anderes Schullokal gesorgt haben.17

Die Unterrichtswirklichkeit war in den Volksschulen von hohen Schülerzahlen, einer strengen Schulzucht und formalisiertem Unterricht geprägt 18: Die Jungen und Mädchen wurden in der Regel getrennt voneinander einklassig unterrichtet. Unterteilungen in zwei oder drei nach Geschlecht und Alter getrennte Klassenstufen haben sich vielerorts erst ganz allmählich durchsetzen können. Im Schnitt nahmen in den chronisch überfüllten Klassenräumen 80 bis 120 Kinder am Volksschulunterricht teil, was bedeutete, das für einen Schüler weniger als 1 Quadratmeter zur Verfügung stand. Angesichts dieser beengten Verhältnisse wurde üblicherweise streng auf die Einhaltung der Schulordnung geachtet, die auch mit Hilfe von Disziplinarmaßnahmen durchgesetzt wurde.19 Elementare Erziehungsziele wurden von den in der

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gen die statistisch erhobenen Werte nicht, ob die Schüler auch regelmäßig zur Schule gingen oder dem Unterricht (etwa zu Erntezwecken) in gewissen Jahreszeiten fernblieben. Vgl. Friederich (1987), S. 141. Raabe, Wilhelm: Der Hungerpastor. In: Ders.: Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, Bd. 6. Hg. von Karl Hoppe. [2. Aufl.] Göttingen 1966, S. 30-31. Im Folgenden als Raabe (1966). Vgl. Friederich (1987), v.a. S. 139-142. Über den selbst armen und gesundheitlich schwer angegriffenen Karl Silberlöffel, den Armenschullehrer in Raabes Hungerpastor, heißt es, dass er die Schulzucht nicht mehr durchsetzen konnte, vgl. Raabe (1966), S. 32: „Ein anderer an seiner Stelle hätte sich in dem feuchten kalten Raume munter und warm geprügelt; aber selbst dazu war er nicht mehr imstande.“ Aufgrund mangelnden Durchsetzungsvermögens war Silberlöffel auch beständigen Schülerstreichen ausgesetzt und starb nach einem solchen schließlich in Folge eines Blutsturzes; vgl. ebd., S. 38.

30 | Die Verschmutzung der Literatur

Regel in Ausbildungsseminaren geschulten Lehrern mit formalisierten Unterrichtstechniken erreicht. Neuer Lehrstoff wurde durch Frontalunterricht vermittelt, Wiederholungsformen ermöglichten die Rekapitulation älteren Stoffes, in Stillarbeit zu leistende schriftliche Übungen dienten der Sicherung des Erlernten und ermöglichten es dem Lehrer, sich anderen Schülergruppen zuzuwenden. Den schwierigen Bedingungen angepasst, mussten auch die Lernziele auf die Vermittlung elementarer Kenntnisse reduziert bleiben. Neben grundlegenden Rechen-, Schreib und Lesekompetenzen wurden den Kindern vor allem religiöse und heimatkundliche Inhalte gelehrt. Desweiteren sollten aber auch moralische, gesundheitliche und ästhetische Grundwerte vermittelt werden, die die Charakterfestigkeit der Volksschüler bestärken sollten. In dem Zusammenhang ist der Reinlichkeitserziehung von den am pädagogischen Diskurs teilnehmenden Akteuren eine zentrale Bedeutung zugesprochen worden. Das blieb auch so, als sich die Schulverhältnisse um 1900 allmählich besserten.

1.2 GEGEN DEN „GEIST DER UNSAUBERKEIT“: REINLICHKEITSERZIEHUNG UND DIE VERMITTLUNG ÄSTHETISCHER, HYGIENISCHER UND MORALISCHER BILDUNG Im Lexikon der Pädagogik ist noch 1915 betont worden, dass Erziehung zur Reinlichkeit „den Forderungen der Ästhetik, der Hygiene u. der Moral entspringt.“ 20 Man zielte mit ihr nicht nur auf Äußerlichkeiten, sondern auch auf innere Dispositionen. Wie das äußere Erscheinungsbild eines Menschen und seiner Umgebung aus hygienischen und ästhetischen Gründen nicht verunreinigt werden sollte, so sollte man analog dazu auch aus moralischen Gründen keine unsauberen Verhaltensweisen an den Tag legen. Entsprechende Aussagen über erstens die ästhetische, zweitens die hygienische und drittens die moralische Bedeutung der Reinlichkeitserziehung finden sich in allen anderen eingesehenen Lexikonartikeln: • Ästhetische Bedeutung der Reinlichkeitserziehung

Da Sauberkeit eng „mit dem Bilde der Ordnung und Schönheit“ 21 korrespondiere, galt sie als erste Stufe der ästhetischen Bildung. Wer den Dreck auf seinem Körper und den Fleck auf seiner Kleidung zu verabscheuen gelernt habe, würde auch zwischen Schönem und Hässlichem intuitiv richtig unterscheiden können; er würde das Hässliche für schlecht befinden und von sich weisen. • Hygienische Bedeutung der Reinlichkeitserziehung

Dass eine unreinliche Lebensweise Krankheiten hervorrufen könne, ist bereits vor der bakteriologischen Wende vermutet worden. Mit der Erkenntnis, dass schmutzige

20 Fischer: [Art.] Reinlichkeit. In: LP (1915), Bd. 4, Sp. 290. 21 Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 2.

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Stoffe tatsächlich „Gifte und Infektionserreger übertragen“ 22 würden, lieferten die Bakteriologen ab den 1870er-Jahren eine naturwissenschaftliche Bestätigung jener Vermutung nach. Da sie „auf die leibliche Gesundheit“ einen förderlichen „Einfluß“23 ausüben könne, hatte Reinlichkeitserziehung aber auch vorher schon als Anfangsstufe der hygienischen Bildung gegolten. • Moralische Bedeutung der Reinlichkeitserziehung

Schließlich versprachen sich die Pädagogen auch in moralischer Hinsicht positive Effekte von ihr. Es herrschte die Auffassung, dass eine „innige Wechselbeziehung zwischen der äußern R[einlichkeit] und der der Seele“ 24 existiere. Überzeugt davon, dass ein „Mensch, der äußerlich im Schmutze lebt, sich auch leicht innerlich besudelt“, meinte man umgekehrt in einem zur Sauberkeit erzogenen Menschen mit nur geringem Aufwand einen „Ekel an dem moralisch Unreinen“25 auslösen zu können. „Wer den Schmutz in seiner Umgebung nicht leidet, wird auch die Unsauberkeit der Seele […] meiden od. entfernen“26, so hoffte man. Als moralisch unrein galten Unsittlichkeit, irreligiöses Verhalten und Faulheit; auch „Unwahrheit, Unrecht, Neid, Zorn usw.“27 wurden mit Schmutz assoziiert. Reinlichkeitserziehung sollte solchen Verhaltensweisen vorbeugen und ist damit auch als die erste Stufe der moralischen Bildung betrachtet worden. Im bereits erwähnten Lexikon der Pädagogik ist das auf einer Korrespondenz von Innen und Außen basierende Programm der Reinlichkeitserziehung mit einem „Mahnwort an die Jugend“ veranschaulicht worden. Dabei handelt es sich um die Version eines Gedichts von Friedrich Rückert, das dieser als achtunddreißigstes Stück eines im Stile des persischen Dichters und Sufi-Mystikers Dschalaladdin Rumi verfassten Ghaselen-Zyklus erstmals im Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1821 veröffentlicht hatte. Zur Veranschaulichung werden beide Versionen nebeneinander gestellt: Mahnwort an die Jugend

XXXVIII.

Reingehalten Herz und Hand, Reingehalten das Gewand, Rein das Kleid von Erdenputz, Rein die Hand von Erdenschmutz, Sohn, die äußre Reinlichkeit, Ist der innern Unterpfand.28

Rein gehalten dein Gewand, Rein gehalten Mund und Hand. Rein das Kleid von Erdenputz, Rein von Erdenschmutz die Hand. Rein von Erdentrutz das Herz, Und von Gier der Lippe Rand.

22 Gärtner: [Art.] Reinlichkeit der Kinder, der Kleider, der Schule. In: EHbP (1908), Bd. 7, S. 385. 23 Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 2. 24 Fischer: [Art.] Reinlichkeit. In: LP (1915), Bd. 4, Sp. 292. 25 Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 492-493. 26 Fischer: [Art.] Reinlichkeit. In: LP (1915), Bd. 4, Sp. 292. 27 Ebd. 28 Ebd. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz.

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Außen sey die Schwelle rein, Innen rein des Hauses Wand; Daß einsprechen könn´ im Haus Reiner Gast aus Himmelsland. Reiner Schmaus und reiner Kelch, Rein von Rauch des Herdes Brand. Sohn, die äußre Reinigkeit Ist der Innern Unterpfand. Reingehalten Hand und Mund, Reingehalten dein Gewand.29

Obwohl Rückerts Rumi-Imitation30 aufgrund ihrer Fixierung auf das Reine an sich bereits als ein „Musterbeispiel der Ästhetik des Banalen“31 gelten kann, ist sie interessanterweise noch einmal entkernt und zu einem bloßen Sinnspruch verknappt worden. Zweifelsohne waren dafür didaktische Gründe verantwortlich. Die Kürzung diente der Eingängigkeit und besseren Memorierbarkeit des Gedichts im Unterricht, so dass sich das Programm der Reinlichkeitserziehung mit der Prägnanz einer Werbebotschaft vermitteln ließ. Darauf, dass die gekürzte Version spätestens ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts tatsächlich im Unterricht behandelt wurde, deuten diverse Erwähnungen in pädagogischer Fachliteratur hin32; einen für Unterrichtszwecke von Lehrern zu nutzenden Interpretationsschlüssel hat August Lomberg geliefert: Der Spruch mahnt zur Reinlichkeit in äußern Dingen. Die Reinlichkeit soll sich sowohl in der Kleidung (am Gewand) wie auch am ganzen Körper (an Mund und Hand) zeigen. Das Kleid soll noch eine zweite Eigenschaft besitzen; es soll auch frei von Putz und Flitter, also schlicht und einfach sein. Hat die Reinlichkeit schon an und für sich einen hohen Wert, so hat sie auch 29 Rückert, Friedrich: Mewlana Dschelaleddin Rumi [Gedichte]. In: Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1821. Tübingen o.J., S. 211-248, S. 244-245. 30 Tatsächlich handelt es sich bei dem Gedicht um keine Übersetzung eines Rumi-Ghasels. Die in dem Gedichtzyklus zusammengestellten Ghaselen sind Rumi-Imitationen, bei denen Rückert Motivik und Stil des persischen Dichters nachzuahmen versuchte. Dabei hatte er sich auf Übersetzungen des Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall gestützt, die 1818 in dessen Geschichte der schönen Redekünste Persiens erschienen waren. Vgl. Schimmel, Annemarie: Einleitung. In: Dies. (Hg.): M. Dschelaladdin Rumi. Aus dem Diwan. Stuttgart 2000, S. 3-12, S. 11. ‒ Vocke, Sibylle: Rumi. In: Erdmann, Jürgen (Hg.): 200 Jahre Friedrich Rückert 1788-1866. Dichter und Gelehrter. Coburg 1988, S. 243-244. 31 So bewertet Frey (1997), S. 168 Rückerts Gedicht. 32 Auf die gekürzte Version von Rückerts Rumi-Imitation ist an folgenden Stellen hingewiesen worden: Anon.: Die Gesundheitspflege in der Volksschule. In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1866), H. 9, S. 556-564 , S. 563. ‒ Henning, G. A.: Die ästhetische Bildung in der Volksschule. [2.Aufl.] Leipzig o.J. [1874], S. 33. ‒ Zedlitz und Neukirch, Anna Frfr. von: Kindergedanken und Gedanken über Kinder. [4. Aufl.] Stuttgart 1912, S. 93.

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eine Bedeutung für die innere Entwickelung des Menschen. Sie ist nämlich der innern Reinlichkeit Unterpfand, d. h. sie legt den Grund zur Reinheit des Herzens. Wer den äußern Schmutz nicht leiden kann, der zeigt auch Abscheu vor der Sünde, und wer Kleid und Körper sauber hält, der hütet sich auch vor der Berührung mit dem Bösen und Lasterhaften. 33

Auch hier zeigt sich, dass Reinlichkeitserziehung ein ganzheitliches, auf die Reinheit von Körper und Seele ausgerichtetes Programm war. Schüler wurden im Unterricht zur Meidung materiellen und moralischen Schmutzes und stattdessen zu einem schlichten und reinlichen Lebenswandel angehalten. Der auffordernde Charakter von Lombergs Interpretation verweist auf die angestrebte Verhaltensnormierung. Sauberkeit galt den Pädagogen des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ als eine „Sache, mit welcher gewissermaßen alle Civilisation ihren Anfang nimmt“34; mit der Reinlichkeitserziehung wollten sie den Menschen die Voraussetzung geben, mit der sie ihre in körperlicher wie seelischer Beziehung dem Schmutz verhaftete Natur überwinden sollten. Insbesondere müssten sie zu charakterlicher „Selbstbeherrschung“ angehalten werden, schließlich galt Reinlichkeit als „ein Stück der Herrschaft, die der Geist über das seelische und leibliche Leben führt“, während Unreinlichkeit als „eine von den Schranken“ aufgefasst wurde, „welche die träge, bequeme und achtlose Natur der Königsmacht des Geistes und Willens setzt.“ 35 Für die angestrebte Zivilisierung der Menschen zu sauberen und selbstbeherrschten Individuen sollten sie Antipathien gegenüber allem Schmutzigen entwickeln. Insofern war Reinlichkeitserziehung darauf angelegt, die Grenze zwischen Reinlichkeit und Unreinlichkeit als „Scham- und Peinlichkeitsschwelle“36 in den Köpfen der Menschen zu installieren. Eine als unreinlich erscheinende Person sollte als „unangenehm, abstoßend und in mancher Hinsicht verdächtig“37 wahrgenommen, die äußerlich „reine Erscheinung eines Menschen“ dagegen als „Zeichen seiner Humanität“38 gewertet werden. Im reinlich gehaltenen Äußeren würde sich „etwas von dem Angesichte des inwendigen Menschen“ spiegeln, so dass man von ihr aus auch „mit Wahrscheinlichkeit auf eine reine Wirthschaft im innern Leben schließen“39 könne: „In einem unreinen, schmutzumhüllten Leib wird man keine feine Seele suchen. Die Reinheit und Feinheit des innern Menschen reinigt, beleuchtet und verklärt auch den äußeren, den Leib und seine Umgebung.“40 Der Schluss vom Äußeren auf das Innere diente damit auch der sozialen Kontrolle: „[Es] stößt der Mensch durch Schmutz und Eckelhaftigkeit Andere zurück

33 Lomberg, August: Präparationen zu deutschen Gedichten. Nach herbartischen Grundsätzen, H. 3. Rückert, Eichendorff, Chamisso, Heine, Lenau, Freiligrath und Geibel. Langensalza 1900, S. 33. 34 Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 493. 35 Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 1. 36 Elias (1969), S. 397. ‒ Zu den Begriffen ‚Scham‘ und ‚Peinlichkeit‘, wie sie Elias definiert siehe Fußnote 26 in der Einleitung. 37 Fischer: [Art.] Reinlichkeit. In: LP (1915), Bd. 4, Sp. 289. 38 Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 1. 39 Ebd. 40 Ebd.

34 | Die Verschmutzung der Literatur

und erweckt selbst in Beziehung auf sein Inneres eine ungünstige Meinung.“ 41 Wer schmutzig war, sollte als randständig wahrgenommen und ausgegrenzt werden. Demnach war Schmutz sozial konnotiert. Er galt als Zeichen von Unzivilisiertheit und wurde einerseits mit „rohen, auf tiefer Gesittungsstufe stehenden Völkern“42 fremder Kulturen sowie in der eigenen Kultur mit „lüderliche[m] Gesindel“43 und hart arbeitenden „Ständen und Personen“ assoziiert, zu denen „von der allgemeinen Bildung“44 noch kaum etwas vorgedrungen sei. Vor dem Hintergrund ist die Reinlichkeitserziehung vornehmlich ein Programm zur Zivilisierung unterbürgerlicher Schichten gewesen. Ihnen einen Sinn für Sauberkeit zu vermitteln würde sich positiv „auf die Gesundheit“45 und die „moralische Cultur“46 des Volkes auswirken; „und wer die rohen, fast thierischen Menschen nur erst bis zu diesem Sinne gebracht hat, der hat sie in der That schon auf die erste für sie geeignete Stufe ästhetischer Bildung gehoben.“47 An diese Zivilisierung der einfachen Bevölkerung durch Reinlichkeitserziehung knüpften sich „soziale Interessen“48. Mit ihr vermeinten die Pädagogen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einen wichtigen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme zu leisten, der keine Eingriffe in die Sozialstruktur der Gesellschaft erforderte. Denn während Unsittlichkeit und fehlende Allgemeinbildung als Ursachen eines unreinen Lebens identifiziert wurden, galt die soziale Position nicht als Faktor, der das Reinlichkeitsstreben der Menschen zwangsläufig beeinträchtigen müsse. Nicht zufällig wurde hervorgehoben, dass es auch in den „niedrigen und ärmeren Schichten“ Familien mit „christliche[m] Sinn“49 geben würde, in denen gewissenhaft auf einen sauberen und geordneten Lebenswandel geachtet werde. Für Menschen, denen „das Loos [zu]fiel, auf einer niederen Stufe zu stehen“, wurde Erziehung zur Reinlichkeit eng an eine Erziehung zur „höchsten Einfachheit der Sitten und der Umgebung“ 50 geknüpft. Aufgrund dieser Bindung an die Idee der Einfachheit zielte sie auf eine Akzeptanz prekärer Lebensverhältnisse. Der geweckte Reinlichkeitssinn sollte der 41 42 43 44 45 46 47 48

Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: ULEU (1842), Bd. 2, S. 435. Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 1. Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 493. Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 1. Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: ULEU (1842), Bd. 2, S. 436. Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: EP (1860), Bd. 2, S. 342. Ebd. Gärtner: [Art.] Reinlichkeit der Kinder, der Kleider, der Schule. In: EHbP (1908), Bd. 7, S. 385. 49 Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 2. – Die in der Enzyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens vertretene Art der Erziehung sollte „wahre, […] christliche Reinlichkeit“ garantieren, die „von der inwendigen Reinigung des Herzens und Gewissens“ (ebd.) ausgehen müsse. Entsprechend prägten Vorstellungen von Einfachheit, Reinlichkeit und Frömmigkeit das Topos idealisierter Armut, wie es im Lexikonartikel von 1869 beschrieben wurde (ebd.): „Die Stuben der frommen Armut sind gewöhnlich gekehrt, geordnet, die Kinder derselben gewaschen, gekämmt, ihre Kleider verhältnismäßig sauber und geben, auch wenn sie schadhaft geworden, Zeugnis, daß die Nadel nicht müßig gewesen.“ 50 Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 492.

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Unterschichtsbevölkerung schlichte und geordnete Verhältnisse gewährleisten und damit ihre gesellschaftliche Inklusion ermöglichen. Das sollte auch sozialen Konflikten entgegenwirken. Die Pädagogen hofften, dass die erlangte Sauberkeit „Zufriedenheit und Heiterkeit“51 steigern und die soziale Unzufriedenheit des ‚einfachen‘ Volkes verringern könne. Das Bedürfnis nach Sauberkeit sollte mittels verschiedener Erziehungsmethoden als „Product der Gewöhnung“ zu einer zweiten, einer „andern Natur“ 52 der Menschen gemacht werden. Idealerweise sollte Reinlichkeitserziehung deshalb schon im frühesten Kindesalter beginnen. Die Pädagogen waren sich darüber im Klaren, dass die Konditionierung der Gefühls- und Gedankenwelt am einfachsten und eindringlichsten in jener Lebensphase geschieht. Allerdings könne die kindliche und frühkindliche Reinlichkeitserziehung nur in solchen Familien gelingen, in denen bereits ein Verständnis für Sauberkeit vorherrschen würde. Frauen sprach man diesbezüglich eine Schlüsselrolle zu. In ihrer Funktion als „Mutter od. Amme“ 53 bestand ihre Zuständigkeit darin, fürsorglich auf die Reinlichkeit der Kinder achtzugeben. Ein Säugling sollte „fleißig [ge]badet“, jede „Beschmutzung“ sollte ihm unverzüglich abgewaschen, seine Windeln und Kleider müssten stets „von geschehener Verunreinigung [ge]säubert“54 werden. Je älter das Kind werde, sollte es „nach und nach auch selbst zu rechtzeitiger Reinigung“55 angehalten werden. Durch diese Maßnahmen würde es frühzeitig daran „gewöhnt, den Schmutz als etwas ungehöriges zu erkennen und zu meiden. Es lernt so sich vor Beschmutzung hüten oder dieselbe alsbald wieder entfernen, sich reinigen und rein halten. Es ist ihm alsdann selber nicht mehr wohl, wenn es etwas unsauberes an sich sieht.“56 Frühkindliche Erziehung zur Reinlichkeit zielte somit auf die Erzeugung einer intuitiven Aversion gegenüber dem Schmutzigen und unterschied sich damit wenigstens dem Zweck nach nicht vom heutigen pädagogischen Verständnis. Die Differenz zur heutigen Pädagogik besteht dagegen vor allem in der unhinterfragten Selbstverständlichkeit, mit der auch die Psyche des Kindes einer Reinlichkeitserziehung unterworfen werden sollte. Hinzu kommt das damals wesentlich unkritischere Verständnis von Befehl und Zwang als einem für ihre Durchsetzung legitim erachteten pädagogischen Mittel: Wenn durch die bisherige Übung Körper u. Geist des Kindes vor Unreinlichkeit geschützt worden sind, so werden in der Folge unsaubere Ansätze eher empfunden u. können bei genügender Willenskraft vom Kinde selbst abgestoßen werden. Fehlt diese, so tritt der Wille des Erziehers in der Form des Befehls od. Zwangs als unterstützende Kraft hinzu.57

Bemerkenswert ist, für wie wichtig die ästhetische Dimension der frühkindlichen Reinlichkeitserziehung erachtet wurde, wie sie in einem gepflegten Wohnumfeld ge51 52 53 54 55 56 57

Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: ULEU (1842), Bd. 2, S. 436. Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: HWbVl (1878), Bd. 2, S. 559. Fischer: [Art.] Reinlichkeit. In: LP (1915), Bd. 4, Sp. 290. Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 3. Ebd. Ebd. Fischer: [Art.] Reinlichkeit. In: LP (1915), Bd. 4, Sp. 290.

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weckt werden könne. Die „Reinlichkeit des elterlichen Hauses“ würde ein Kind „von seinen ersten Sehübungen an“ in einer Weise beeinflussen, dass es „einen Maßstab“ verinnerliche, „an dem es unwillkürlich alles andere bemißt“; fortan müsse ihm „das Schöne der reinen Gestalt und das Häßliche in jeder Verunreinigung zum Bewußtsein“58 kommen. Dies grundlegende, ästhetisch imprägnierte Verständnis von Sauberkeit würde sich ein Kind allerdings nur angewöhnen können, wenn es im Elternhaus bereits vorherrschen würde. „Kindern aus unreinlichen Häusern“ würde dagegen die Unreinlichkeit anhäng[en]. Es fehlt ihnen der hiefür gebildete Blick; sie sehen den Schmutz nicht als Schmutz, er hat für sie nichts ihre Augen beleidigendes. Es wird solchen Leuten, die in Schmutz und Unsauberkeit aufgewachsen sind, darin mehr und mehr wohl, heimlich und gemüthlich, wie der Sau im Schlamm, während sie sich in Orten und Umgebungen, wo der Geist der Reinlichkeit waltet, fast unbehaglich fühlen. Es bildet sich da mehr und mehr ein Geist der Unsauberkeit, der sich auch leicht mit andern verwandten Geistern, mit einer gergesenischen59 Abstumpfung gegen alles Edle und Schöne, mit geschlechtlicher Unreinigkeit, faulem, schandbarem Geschwätz u. dgl. vergesellschaftet.60

Deutlich offenbart das Zitat die Dichotomie innerhalb der damaligen Gesellschaft, wie sie sich in der habituellen Distanz zwischen Kern und Peripherie respektive Oben und Unten manifestierte. Auf der einen Seite standen die „reinlichen Bürger“61, auf der anderen Seite die mit Unsauberkeit assoziierten unterbürgerlichen Schichten. Der im Zitat erwähnte „Geist der Unsauberkeit“, der aus der bürgerlichen Perspektive am unteren Rand der Gesellschaft im unzivilisierten, bildungsfernen und trägen Volk vorherrschte, störte das ästhetische Empfinden der Bürger, galt als Bedrohung etablierter sittlicher Normen und wurde als eine Gefährdung der sozialen und ökonomischen Ordnung betrachtet. Die allmähliche Durchsetzung der Schulpflicht eröffnete den Pädagogen die Möglichkeit, dem „unsauberen Geist“ entgegenzuarbeiten und den Kindern des einfachen Volkes neben Basisfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen auch grundlegende Vorstellungen von Sauberkeit, Einfachheit und Ordnung zu vermitteln. Kinder, die in ihren Familien kein Verständnis für Reinlichkeit mitbekamen, sollten in den Volks- und Armenschulen an sie gewöhnt werden. Daran knüpfte man die Hoffnung, dass dadurch „allmählich auch in den Wohnungen der Landleute und Handwerker die Unreinlichkeit verschwinden“62 werde. In jenen Schulen wäre mithin „mehr aus dem Groben zu arbeiten“63, als in den höheren Lehranstalten. Bekäme die Schule

58 Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 3. 59 Die Bedeutung der Vokabel „gergesenisch“ ist unklar, möglicherweise wurde mit ihr auf Lukas 8, 26 angespielt, wo die Heilung des besessenen Geraseners geschildert wird. Der Begriff ließe sich mithin als „besessen“ oder „dämonisch“ übersetzen. 60 Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 3. 61 So der Titel von Frey (1997). 62 Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: ULEU (1842), Bd. 2, S. 436. 63 Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 3.

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blos reinlich gezogene Kinder, so würde ihre Aufgabe nur sein, das, was das Haus begonnen, fortzusetzen, beziehentlich zu verstärken. Nach der Erfahrung ist dies aber nicht so; denn sie bekommt auch solche, dazu z. B. in Armenschulen oft in nicht geringer Zahl, deren Gewöhnung an Unreinlichkeit sie entgegenzutreten hat.64

Die in den Lexika gemachten Vorschläge darüber, wie in den Schulen die Aufgabe der Reinlichkeitserziehung in die Praxis umzusetzen wäre, zielten erstens auf die Lehrer, zweitens auf die Schulräumlichkeiten und drittens auf die Schüler: • Reinlichkeit der Lehrer

Mehrfach ist in den untersuchten Lexikonartikeln die Vorbildfunktion der Lehrer hervorgehoben worden: „Wer die Unreinheit an den eigenen Kleidern, Büchern, Heften, im eigenen Haushalt nicht sieht“, so wurde betont, „der wird sie auch bald an den Kindern, an der Schuljugend nicht mehr gewaren [sic].“ 65 Bezeichnend ist, dass es in der Pädagogische[n] Real-Encyklopädie 1847 noch als notwendig erachtet wurde, die Lehrer explizit zur Reinlichkeit zu ermahnen. Im Verdacht, nicht immer wenigstens auf ein sauberes Erscheinungsbild achtzugeben, standen die in der Regel schlecht ausgebildeten und geringverdienenden Volksschullehrer, an die sich auch die folgende Ermahnung richtete: An dir und deinem Anzuge soll das Gefühl für das Reine in deinen Kindern sich bilden. Dein Anzug braucht deshalb nicht kostbar zu sein, aber doch muß von dem selben alles Unsaubere, Schmutzige, Ekel Erregende entfernt bleiben; daher hast du dich auch des viel Schmutz um dich her verbreitenden Schnupftabaks zu enthalten. Vom Kopf bis zum Fuße muß reinliches, sauberes Wesen an dir bemerkbar sein, damit dein Zögling geneigt werde, auch auf deine innere Reinlichkeit oder Reinheit zu schließen.66

Um 1900, als sich die Bedingungen der Lehrer allmählich besserten und sich die Volksschullehrerschaft selbstbewusst sozial und politisch zu organisieren begann, tauchten solche Ermahnungen bezeichnenderweise nicht mehr auf. • Reinlichkeit der Schulräume

Auf die Notwendigkeit, stets auch die Schulräumlichkeiten und das Interieur sauber zu halten, ist ebenfalls aufgrund der Vorbildfunktion hingewiesen worden: „Die Schüler müssen in ihrer Schule das Ideal von Sauberkeit um sich haben; es müssen ihnen die vielfach ungünstigen Eindrücke des Hauses durch die günstigen der Schule fortgenommen werden.“67 Vergleicht man die Lexikonartikel von 1847 und 1869 mit den nach 1900 erschienenen, dann zeigt sich, wie sehr sich das Verständnis von Hygiene in jenem Zeitraum verfeinert hat. 1847 konzentrierten sich die Ratschläge noch darauf, dass die Schulstube „wöchentlich einigemale ausgekehrt und daß Fußboden 64 Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: HWbVl (1878), Bd. 2, S. 559. 65 Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 7. 66 Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 492-493. Hervorhebungen im Original durch Sperrsatz. 67 Gärtner: [Art.] Reinlichkeit der Kinder, der Kleider, der Schule. In: EHbP (1908), Bd. 7, S. 387.

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und Fenster dann und wann gewaschen werden“ sollten, da ein gereinigtes Umfeld den Schülern „theils schon von selbst einen Antrieb“ zu mehr Sauberkeit geben würde, während sie in verdreckten Klassenzimmern „unbedenklich mit beschmutzten Füßen und Schuhen“68 umherlaufen würden. Der Hinweis darauf, vor dem Schulgebäude Scharreisen oder Fußmatten zu installieren, mit denen die Kinder „den Schnee oder Koth von den Schuhen oder Füßen abstreifen können, ehe sie in die Schulstube treten“69, vervollständigte 1847 bereits das vorgeschlagene Maßnahmenpaket. In der Encyklopädie des gesammten Unterrichts- und Erziehungswesens, in der verkündet wurde, dass „der Kampf mit Schmutz und Staub […] nach Kräften aufgenommen werden“70 müsse, wurde 1869 zusätzlich vorgeschlagen, Mülleimer aufzustellen, so „daß der Boden des Schulzimmers nicht mit Abfällen von Papier, von Aepfeln, Birnen, Nüssen etc. bedeckt werde.“71 Wie man gegen den Staub vorgehen könne, wurde noch nicht näher konkretisiert. Nach der bakteriologischen Wende der 1880er-Jahre reichten die auf den groben Schmutz bezogenen Maßnahmen nicht mehr aus. „Vom gesundheitlichen Standpunkte“ aus müsse „der Schulschmutz in der Hauptsache als Schulstaub“72 interessieren, dessen typischen Bestandteile im Encyklopädische[n] Handbuch der Pädagogik 1908 akribisch aufgezählt wurden: Er setzt sich zusammen aus anorganischen Teilchen, vor allem Quarzsplitterchen, kleinen Kalkteilchen, Tonteilchen, winzigen Eisenteilchen usw. Der organische Staub ist belebter oder unbelebter Natur; Trümmer von Holzfasern, (von den Dielen), Teilchen von Haut (Stiefelsohlen), Epidermis-(Oberhaut)schuppen und feine Härchen von Menschen, Tieren und Pflanzen, Teilchen von Pflanzenfasern, Tierteilen usw.; als belebte Wesen kommen hauptsächlich in Betracht vereinzelte encystierte Infusorien, dann Schimmel und Bakterien und darunter indifferente und krankheitserregende.73

Es war der faszinierte Blick des Wissenschaftlers durch das Mikroskop, der hier auf die kleinsten Teilchen geworfen wurde und eine verfeinerte Klassifikation mit sich brachte74: Als Schmutz galten jetzt auch die mit dem bloßen Auge kaum oder gar nicht mehr sichtbaren kleinsten Partikel. Selbst das „feinste Stäubchen“, dass gar „nicht mehr meßbar“75 war, ist nunmehr als potentiell gesundheitsgefährdend erkannt worden. Von den „Kleidern der Kinder und vom Boden aus“ 76 würden sie bereits 68 69 70 71 72 73 74

75 76

Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 493. Ebd. Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 3. Ebd., S. 4. Gärtner: [Art.] Reinlichkeit der Kinder, der Kleider, der Schule. In: EHbP (1908), Bd. 7, S. 387. Ebd. Eine Wahrnehmungs- und Kulturgeschichte kleinster Partikel liefert Amato, Joseph A.: Von Goldstaub und Wollmäusen. Die Entdeckung des Kleinsten und Unsichtbaren. Hamburg u.a. 2001. Gärtner: [Art.] Reinlichkeit der Kinder, der Kleider, der Schule. In: EHbP (1908), Bd. 7, S. 387. Ebd.

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durch die geringsten Bewegungen in die Luft gelangen. Dort würden sie sich „stundenlang selbst in ruhiger Zimmerluft schwebend erhalten“77 und könnten beim Einatmen in die Lungen der Kinder gelangen und dort Katarrhe verursachen. Desweiteren wären in der Schulluft häufig auch Krankheitskeime „von Diphterie (wahrscheinlich auch von Scharlach und Masern), von Influenza, Lungenentzündung, Tuberkulose und einigen anderen“ Krankheiten vorhanden, wohin sie ebenfalls vor allem durch den von Kindern in die Schule getragenen „Schmutz der Straße“ 78 gelangen würden. „Die Schule hat also allen Grund den Staub zu fürchten und die Schüler vor demselben zu behüten.“79 Die Lehrer sollten deshalb nicht nur für den groben Schmutz sondern auch für den feinen Staub aufmerksam sein und die „Schuldiener zu steter Reinigung“80 anhalten. Dabei reichte die Trockenreinigung der Schulstube 1908 nicht mehr aus, da dadurch bloß diejenigen Teilchen, „welche am ungefährlichsten sind, da sie wegen ihrer Schwere nur selten in die Luft gelangen“ 81, entfernt, die feinen Staubpartikel jedoch aufgewirbelt würden. Stattdessen sei „die feuchte Reinigung anzuwenden“82, mit der auch die kleinsten Stäubchen entfernt werden könnten. • Reinlichkeit der Schüler

Vor allen Dingen waren „die Schüler zur Reinlichkeit anzuhalten.“ 83 Dabei sollten sie vom Lehrer stets auch auf moralische und ästhetische Normen aufmerksam gemacht werden. Wie die unterrichtliche Verwendung von Rückerts Mahnwort an die Jugend zeigt, war das auch um 1900 noch der Fall. Im Vordergrund des pädagogischen Interesses stand nun allerdings die hygienische Unterweisung. So sollte ein Lehrer „auf die Kleinlebewesen hin[weisen], die in feuchtem Schmutz und Staub sich vorfinden“84 und seine Schüler in dem Zusammenhang dazu auffordern, sich vor dem Essen die Hände zu waschen, sich in der Freizeit nicht „an Schmutzstätten, Rinnsteinen, in schmutzigen Höfen u. dergl.“ 85 aufzuhalten und auch nicht mit auf der Straße gefundenen Sachen zu spielen. Bereits vor den bakteriologischen Erkenntnissen ist nicht nur auf das ästhetisch und moralisch „Eckelhafte“, sondern auch auf das „Schädliche der Unreinlichkeit“86 hingewiesen worden. Schon vor den 1880erJahren war man überzeugt, dass der Schmutz neben dem „Gefühl des Wohlseins“, dem „Aufstreben des Geistes“, der „Heiterkeit der Seele“87 und der „Schönheit des menschlichen Körpers“88 vor allem auch die Gesundheit beeinträchtigen würde. „Bei 77 78 79 80 81 82 83 84 85

Ebd. Ebd., S. 388. Ebd. Ebd., S. 389. Ebd., S. 390. Ebd. Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 493. Fischer: [Art.] Reinlichkeit. In: LP (1915), Bd. 4, Sp. 290. Gärtner: [Art.] Reinlichkeit der Kinder, der Kleider, der Schule. In: EHbP (1908), Bd. 7, S. 385. 86 Anon.: [Art.] Unreinlichkeit. In: EPL (1835), S. 752. 87 Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 493. 88 Anon.: [Art.] Unreinlichkeit. In: EPL (1835), S. 752.

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herrschender Unreinlichkeit des Körpers, wo und wie sie sich auch äußere, leidet die Gesundheit ohnfehlbar“89, weshalb die Kinder unbedingt auch über den Konnex von Sauberkeit und Gesundheit, Schmutz und Krankheit belehrt werden sollten. Die Lehrer waren dazu angehalten, ihre Schüler streng zu kontrollieren, ob sie „rein an Leib und rein an den Kleidern in die Schule“90 kämen. Dreckige Kinder sollten nach Hause geschickt oder es sollte ihnen die Möglichkeit gegeben werden, sich nachträglich zu bürsten oder zu waschen. „Hilft das nicht, so erfolgt öffentliches Tadeln.“91 Als eine weitere Möglichkeit zur Sanktionierung schmutziger Kinder wurde vorgeschlagen, sie von anderen Kindern zu separieren. 92 Dabei wurde betont, dass selbst „den ärmsten Kindern“ die Sorge um körperliche Reinlichkeit „zugemuthet werden“93 könne. Einzig mit Blick auf die Reinlichkeit der Kleidung ärmerer Kinder wurde vor der Jahrhundertmitte noch nicht ganz so streng verfahren. In einem Artikel aus dem Jahr 1842 ist zu lesen, dass Lehrer „in Absicht auf Reinlichkeit und Ordnung im Anzuge von jedem Kinde desto mehr“ fordern sollten, „in je bessern Umständen die Eltern sind.“94 Auch 1847 wurde erklärt, dass die Forderung nach sauberer Kleidung zwar wünschenswert, aber oft „nur in geringem Maße“ 95 durchsetzbar sei. Die größten Probleme diesbezüglich „bereitet die Armut“, hieß es auch noch zweiundzwanzig Jahre später: „Hier muß oft das Nächste Beste vorhalten und es fehlen nicht selten die Mittel, je und je auch der Wille und Geschick, die armen brüchigen Kleider auch nur ordentlich zusammenzuflicken. Dennoch stehe als Regel fest: Kleider unbefleckt, doch wohl geflickt.“96 1869 sollten ärmeren Schülern demnach keine Ausnahmen von der Regel, mit sauberer Kleidung in die Schule zu kommen, mehr gestattet werden. Vierzig Jahre darauf – im Jahr 1908 – sollte hygienische Sauberkeit in Härtefällen dann sogar mit Unterstützung der öffentlichen Verwaltung durchgesetzt werden: „Kinder, welche hartnäckig mit unreinem Körper und unreinen Kleidern in die Schule kommen, sollten, da sie für die übrigen eine Gefahr bedingen, zurückgewiesen oder der Behörde gemeldet werden, damit diese die Eltern beeinflussen.“97 Reinlichkeitserziehung, wie sie die Pädagogen insbesondere für die Volksschulen einforderten, zielte im Verlauf des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ auf eine Verhaltenskontrolle der Schüler, die in immer entschiedenerem Maße von den Schulbehörden durchgesetzt wurde. Auf eine Normierung des Verhaltens zielte auch der Unterricht selbst. So sollten die Zöglinge von den Lehrern kontrolliert werden, dass sie mit ihren Schulgeräten sorgsam umgingen:

89 90 91 92 93 94 95 96 97

Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 493. Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: HWbVl (1878), Bd. 2, S. 559. Anon.: [Art.] Unreinlichkeit. In: EPL (1835), S. 752. Vgl. ebd. Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: ULEU (1842), Bd. 2, S. 436. Ebd. Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 493. Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 3. Gärtner: [Art.] Reinlichkeit der Kinder, der Kleider, der Schule. In: EHbP (1908), Bd. 7, S. 387.

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Ein besonders wirksames Mittel, zur R[einlichkeit] zu erziehen, hat der Lehrer in der Hand, wenn er streng auf Reinhaltung der Schulbücher u. Hefte dringt. Keine Fettflecke, Tintenflecke, Fingerabdrücke, kein Umblättern mit im Speichel befeuchteten Fingern, keine Besudlung der freien Seiten, Blätter und Blattränder in Büchern, Heften usw. dürfen geduldet werden. Überall u. immer ist dagegen reinliche Darstellung der Arbeiten mit Tinte u. Blei zu verlangen, vor allem in den sog. Reinheften. Schmierhefte darf es überhaupt nicht geben. Aufsatz-, Schönschreib- u. Zeichenhefte müssen Muster von R[einlichkeit] sein.98

An diesen verschiedenen Anweisungen wird deutlich, wie sehr auch die ästhetische Dimension der Reinlichkeitserziehung auf Verhaltenskontrolle und die Einübung von Ordnung ausgerichtet war. Selbst das schöne Schriftbild, das die Schüler mit „kalligraphische[r] Sorgfalt“ üben sollten, galt als „Förderungsmittel der Reinlichkeit. Die gesudelte, die verkleckste Seite ohne Gnade abzuschreiben. Das lehrt aufmerken, macht vorsichtig.“99 Viele der wiedergegebenen Äußerungen weisen darauf hin, dass das Programm der Reinlichkeitserziehung über die Vermittlung ästhetischer, hygienischer und moralischer Grundkompetenzen hinausreichte. Darüber hinaus sollten die Schüler mit ihr „zu einer geordneten Lebensführung, zu einer guten Lebenshaltung“100 angeleitet werden. Kindern, denen in den Schulen Sauberkeit und Ordnung nahegebracht worden ist, seien, wie es ein 1920 erschienener Lexikonartikel bemerkt, „angenehmer, gesünder, ästhetisch feinfühliger“101 als andere Kinder. Zu „Sendlingen der Kultur“ erzogen, würden sie auch nach ihrer Schulzeit „an Arbeits- und Heimstätte nicht vermissen wollen, was sie in der Schule besaßen und bewirkten.“ 102 Erziehung zur Reinlichkeit wurde in diesem Sinne als eine „Erziehung zur Bedachtsamkeit und zur Programmgemäßheit der Lebenshaltung“103 angesehen, an die die Pädagogen soziale und ökonomische, nach der Reichsgründung 1871 vor allen Dingen auch ordnungspolitische Zwecke knüpften. Für das höhere Schulwesen spiegelt sich dieser Umstand in Thomas Manns Buddenbrooks wider.104 Unter der Ägide des Direktors Doktor Wulicke ist das Lübecker Realgymnasium kurz nach der Reichsgründung reformiert worden, so dass zu Hanno Buddenbrooks Schulzeit „ein neuer Geist in die alte Schule eingezogen“105 war:

98 Fischer: [Art.] Reinlichkeit. In: LP (1915), Bd. 4, Sp. 291. 99 Strebel: [Art.] Reinlichkeit. In: EEU (1869), Bd. 7, S. 5. 100 Gärtner: [Art.] Reinlichkeit der Kinder, der Kleider, der Schule. In: EHbP (1908), Bd. 7, S. 385. 101 Grimm: [Art.] Reinlichkeit. In: HwbVw (1920), S. 346. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Eine ausführlichere Interpretation der Schulepisode aus dem Schlusskapitel der Buddenbrooks liefert Mix, York-Gothart: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der frühen Moderne. Stuttgart u.a. 1995, S. 73-80. 105 Mann: Buddenbrooks, S. 796.

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Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Carrière zu höchster Würde gelangt, und der „kategorische Imperativ unseres Philosophen Kant“ war das Banner, das Direktor Wulicke in jeder Festrede bedrohlich entfaltete. […] Bald nach dem Einzug des neuen Direktors war auch unter den vortrefflichsten hygienischen und ästhetischen Gesichtspunkten mit dem Umbau und der Neueinrichtung der Anstalt begonnen und Alles aufs Glücklichste fertiggestellt worden. 106

Dass der hygienische Anspruch der Schule auch an die Schüler gestellt wurde, zeigt sich in dem Roman, als Hannos Klasse vom Pausenaufsicht führenden, als „ausgemergeltes Männchen“107 beschriebenen Professor Hückopp dazu aufgefordert wurde, ihren Klassenraum zu verlassen: „Die Lampen aus! Die Vorhänge auf! Die Fenster auf!“ sagte es, indem es seinem Stimmchen so viel Kommando-Kraft wie möglich gab und mit unbeholfen energischer Geste seinen Arm in der Luft bewegte, als drehe es eine Kurbel. „Und alles hinunter, hinaus in die frische Luft, potztausend nochmal dazu!“108

Trotz der Unbeholfenheit hat Hückopp seine hygienische Forderung mit militärischem Drill durchsetzen können. In diesem Schulklima gerieten ein introvertiert-sensibler Schüler wie Hanno und sein literaturversessener Freund Kai Graf Mölln in die Rolle von „outlaws und fremdartige[n] Sonderlinge[n]“, hinter deren Auftreten Lehrer „Unrat und Opposition […] vermuteten“109; jeder, der nicht in das eingeforderte Schema passte, machte sich eines unsauberen Charakters verdächtig. Der den Prämissen der Reinlichkeitserziehung gemäß immer auch auf das Innere eines Menschen verweisende Schmutz geriet zu einem wirkmächtigen Instrument symbolischer Herabsetzung. Deutlich wird das am Beispiel eines Streichs von Hannos Mitschülern am Kandidaten Modersohn, der die Gewohnheit besaß, sich „mit einer Handfläche auf die vorderste Pultplatte [abzustützen]. Aber man kannte diese seine Lieblingsstellung, und darum hatte man diese Stelle des Tisches mit Tinte beschmiert, so daß Herr Modersohn sich nun seine ganz kleine, ungeschickte Hand besudelte.“110 Da Direktor Wulicke dem verunsicherten Modersohn daraufhin einen unangekündigten, fatal endenden Unterrichtsbesuch abstattete, symbolisiert der Tintenfleck die Ohnmacht des Lehramtsanwärters, der es nicht schaffte, sich in die auf Autorität111 angelegte Leh-

106 107 108 109 110 111

Ebd. Ebd., S. 791. Ebd. Ebd, S. 793. Ebd., S. 812. Bezeichnenderweise ist Hanno, der sich als einziger Schüler nicht am Streich gegen Modersohn, den er als „brutal, häßlich und gewöhnlich“ empfand, beteiligt hatte, auch der einzige Schüler in der Klasse gewesen, den der Lehrer „beständig zur Ordnung zu rufen, ihm Strafarbeiten zu diktieren und ihn zu tyrannisieren“ traute (ebd.): „Er kannte den Schüler Buddenbrook nur deshalb, weil er sich durch stilles Verhalten von den Anderen unterschieden hatte, und diese Sanftmut nützte er dazu aus, ihn unaufhörlich die Autorität

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rerrolle zu begeben, so dass er vom auktorialen Erzähler schließlich als „fahl, gebrochen und abgetan“112 zurückgelassen wird. Ironischerweise ist aber auch die Kleidung des in seiner Schule so penibel auf Hygiene und Ästhetik achtgebenden Direktors seinerseits nicht ganz ordnungsgemäß gewesen. Die Manschetten seiner Ärmel werden im Roman als „stets sehr unsauber“113 beschrieben. Mit diesem Hinweis deutet die Erzählung auf humorvoll-subtile Weise Paradoxien einer ideologisch überformten Pädagogik an, der die Maximen hygienischer und ästhetischer Erziehung letztlich nur Instrumente waren, um das Verhalten der Schüler in „preußische Dienststrammheit“ und die Schule zu einem „Staat im Staate“114 umzuwandeln.

1.3 DER ABSCHEU VOR DEM SCHMUTZ ALS KERNASPEKT ÄSTHETISCHER BILDUNG Indem die Reinlichkeit als „Anfangspunct der ästhetischen Bildung“115 erachtet wurde, deutet sich an, dass die pädagogische Vermittlung ästhetischen Wissens eng an Vorstellungen von Sauberkeit und Schmutz gekoppelt war. Der Blick in Lexikonartikel zu den Schlagworten ‚Ästhetisches Gefühl‘ und ‚Ästhetische Bildung‘ bestätigt das. Die Fähigkeit, zwischen rein und unrein zu unterscheiden, wurde als eine genuin ästhetische angesehen. Sauberes galt als schön, Schmutziges als hässlich: „Wer an sich selbst einmal gewöhnt ist, Häßliches von Sauberem zu unterscheiden und jenes nicht zu dulden, der geräth schon weniger in Gefahr, daß ihm jener Unterschied überhaupt aus dem Bewußtsein schwinde.“116 Diesem, auf der binären Unterscheidung sauber/schön versus schmutzig/hässlich basierendem Verständnis ästhetischer Bildung lagen entsprechend auch die Prämissen der Reinlichkeitserziehung zugrunde. Der angewöhnte Ekel gegenüber allem Schmutzigen sollte sich äquivalent als eine affektive Abneigung gegenüber allem Hässlichen äußern. Geschmackserziehung, wie sie die Pädagogen des 19. Jahrhunderts vertraten, zielte mithin auf „Widerwillen und Verachtung gegen das Schlechte, Unordentliche und Häßliche“, während Schönheit mit einem „Gefühl für Ordnung, Harmonie“ 117 assoziiert werden sollte. Dem damaligen Verständnis nach könnte ästhetische Bildung die Menschen zum „regelmäßigeren Denken, reinerem Empfinden, gefälligeren Handeln“ anleiten, „sie für höhere Lebensgenüsse empfänglich und gegen niedere Freuden-Genüsse gleichgiltig“ machen und sie all jenes „verachten lehr[en], was mit Schicklichkeit

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fühlen zu lassen, die er den Lauten und Frechen gegenüber nicht geltend zu machen wagte.“ Ebd., S. 817. Ebd., S. 795. Ebd., S. 796. Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 493. Palmer: [Art.] Aesthetische Bildung in der Volksschule. In: EEU (1859), Bd. 1, S. 274. Anon.: [Art.] Aesthetisches Gefühl. In: EP (1860), Bd. 1, S. 3.

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und Anstand streitet.“118 Entsprechend hinge sie eng auch „mit der Bildung der Vernunft und des sittlichen Gefühls“119 zusammen. Der Konnex zwischen Ästhetik und Sittlichkeit wurde besonders in den um 1850 erschienenen Lexikonartikeln ausführlich auseinandergesetzt, um sich argumentativ gegen die konservativen Kritiker der ästhetischen Erziehung der Unterschichten zu wenden. Diese behaupteten, dass es die Kinder des einfachen Volkes für ihr späteres Leben nicht nötig hätten, ästhetisch ausgebildet zu werden; überdies schade eine solche Erziehung ihrer Sittlichkeit und Religiosität, wecke für ihre Verhältnisse unrealistische Bedürfnisse und mache sie mit ihrem Schicksal unzufrieden. 120 Dem hielten die Befürworter entgegen, dass die ästhetische Bildung, wie sie sie verstanden wissen wollten, nicht mit der sittlichen Bildung konkurrieren solle, sondern dass beide „einander eher befördern“121 müssten. Zugestanden wurde, dass „das Aesthetische“ nicht zwangsläufig „zugleich sittlich oder Tugend“ 122 wäre. Da „das Sittliche“ allerdings niemals „unschön oder häßlich sein“123 könne, sollte ästhetische Bildung auf die Vermittlung eines auf Sittlichkeit verpflichteten Schönen begrenzt bleiben. Unter dieser Bedingung würde sie keinen negativen Einfluss auf die sittlich-religiöse Entwicklung der Heranwachsenden ausüben124, im Gegenteil sogar „als ein wesentliches Mittel zur Begründung der sittlichen Bildung“125 dienen können. 118 Anon.: [Art.] Aesthetisches Gefühl (Bildung). In: EPL (1835), S. 10. 119 Ebd. 120 Vgl. Anon.: Kann man in Volksschulen, selbst auf Dörfern, dahin arbeiten, daß ästhetische Bildung zunehme? In: Allgemeine Zeitung für Deutschlands Volksschullehrer (1820), H. 9/10, S. 65-75 u. H. 11/12, S. 81-85. In dem Aufsatz wird das Für und Wider ästhetischer Volksschulbildung gegenübergestellt und erörtert. Die typischen Argumente der Gegner werden auf S. 68-71 sinngemäß wiedergegeben: „Es soll nun einmal, da die Erde auch ihre eckelhafte, schmutzige Seite hat, Menschen geben, die sich vor widrigen Geschäften und Gegenständen nicht scheuen“ (S. 68), weshalb es nicht notwendig wäre, ihren Schönheitssinn zu wecken. „Schädlich kann sogar unter dem Volke die Kultur des Geschmacks werden. […] Verpflanzt Ihr nun, setzen jene Gegner hinzu, jene ästhetische Bildung auch in die niedern Stände, welche doch bey den Verderbnissen unter den Menschen immer gewöhnlich der moralischen Fäulniß widerstanden und gerade noch der Welt kräftige Reformatoren gegeben haben: so verkehrt ihr Alles, macht den Bürger und Landmann weichlich und verzärtelt, macht sie abgeneigt für die doch einmal unvermeidlichen Lasten des Lebens, weckt neue Wünsche und Bedürfnisse, macht sie lüstern nach Genüssen, welche sie nicht haben können und weßwegen sie unzufriedene, unruhige Menschen werden.“ (Ebd., S. 70. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz..) 121 D.: [Art.] Aesthetische Bildung. In: PRE (1843), Bd. 1, S. 45. 122 Ebd., S. 44. 123 Ebd. 124 Wie sehr Sittlichkeit, Religion und ästhetische Erziehung in Beziehung gesetzt wurden, zeigt sich bei Palmer: [Art.] Ästh. Bildung. In: EEU (1859), Bd. 1 auf S. 269: Gehe man davon aus, dass „die Sittlichkeit in der Erkenntnis des göttlichen Willens, in der Liebe zu ihm und in der Fähigkeit und Fertigkeit besteht, denselben in den vorliegenden Lebensverhältnissen angemessen zu realisiren; so wird man in allen drei Beziehungen den Werth der ästhetischen Cultur für die sittliche Wirksamkeit leicht erkennen.“ 125 Ebd.

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Aufgrund der Verpflichtung auf das sittlich Schöne konnte „die dringende Nothwendigkeit einer ästhetischen Bildung für Alle“126 postuliert werden. Selbst den Unterschichten wenigstens ein Mindestmaß an ästhetischer Bildung zukommen zu lassen, galt vor dem Hintergrund als unproblematisch und durchaus erstrebenswert: Und wenn auch ein rußiger Cyklop von der Feueresse her uns nicht etwa eine Bravour-Arie singen wird, so müßen wir doch wünschen, nicht nur, daß er fähig sei, ein nationales Kunstwerk, wie den Messias, mitzugenießen, sondern auch daß er an Gesang der Gemeinde im Cultus theilnehmen könne; das aber ist schon ein Stück ästhetischer Bildung. […] Man muß geradezu sagen: wo bei einem Volke, d. h. auch bei den niedern Schichten desselben, alle ästhetische Bildung fehlt, da ist eine allgemeine Rohheit oder (mehr passive) Stumpfheit vorhanden; soll diese gehoben werden, so ist die Bildung auch nach jener Seite nicht zu vernachläßigen. 127

Auch in diesem Zitat spricht sich der Gedanke der Zivilisierung der Unterschichten aus, an den sich nicht nur humanistische Motive sondern auch ordnungspolitische und ökonomische, religiöse und nationale Interessen banden.128 Durch ästhetische Grundlagenerziehung sollten die Kinder der in ihrem Berufsalltag eng mit Ruß, Fetten und anderen Verschmutzungen in Kontakt stehenden Handwerker und Arbeiter zu zivilisierten Mitgliedern der Gesellschaft transformiert werden. Neben der Möglichkeit zur Partizipation am Gemeindegottesdienst sollte ihr Kunstgeschmack zumindest soweit ausgebildet werden, dass sie in der Lage wären, bedeutende Kunstwerke der Nationalkultur genießen zu können. Der Verweis auf Friedrich Gottlieb Klopstocks zwischen 1748 und 1773 veröffentlichtem Messias ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Lange Zeit war angenommen worden, dass das in Hexametern verfasste Heldengedicht bereits um 1800 keine Breitenwirkung mehr besessen habe. Tatsächlich war dem, wie die Klopstock-Forschung herausgefunden hat, nicht so. Nicht nur in religiösen Kreisen, auch in Lehrplänen und Lesebüchern129 behauptete sich der Messias wohl auch aufgrund seines Deklamationspotentials „bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.“130 Ein weiterer Grund dürfte der im Werk verfolgte ästhetische Grundsatz sein, den Klopstock in einer 1755 erschienenen Vorrede zu einer Messias-Auflage folgendermaßen auf den Punkt gebracht hatte: Die höhere Poesie ist ganz unfähig, uns durch blendende Vorstellungen zum Bösen zu verführen. Sobald sie das tun wollte, hört sie auf zu sein, was sie ist. Denn so sehr auch einige sich 126 Anon.: [Art.] Ästhetische Bildung. In: HwbVl (1877), Bd. 1, S. 38. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. 127 Palmer: [Art.] Aesthetische Bildung in der Volksschule. In: EEU (1859), Bd. 1, S. 273. 128 „Das Schöne steht nämlich einmal mit der Sittlichkeit und Religion, andererseits mit dem Nützlichen, dem Gewerbe etc. in der innigsten Beziehung“, wurde etwa im Anon.: [Art.] Ästhetische Bildung. In: HwbVl (1877), Bd. 1 auf S. 38. betont. 129 Vgl. Hirsch, Erhard: Klopstock und die Pädagogen des XVIII. und XIX. Jahrhunderts. In: Werner, Hans-Georg (Hg.): Friedrich Gottlieb Klopstock. Werk und Wirkung. Wissenschaftliche Konferenz der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Juli 1974. Berlin 1978, S. 125-142. 130 Kohl, Katrin: Friedrich Gottlieb Klopstock. Stuttgart u.a. 2000, S. 152.

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selbst klein machen wollen, so können sie sich doch niemals so weit herunterbringen, daß sie etwas anderm, als was wirklich edel und erhaben ist, diese große und allgemeine Bewegung aller Kräfte ihrer Seele erlaubten. Der letzte Endzweck der höhern Poesie, und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werts, ist die moralische Schönheit. Und auch diese allein verdient es, daß sie unsre ganze Seele in Bewegung setze.131

Mit der Verquickung von Moral und Schönheit entsprach der Messias exakt jenem Programm ästhetischer Bildung, das die Pädagogen des 19. Jahrhunderts entworfen hatten. Über die Frage, wie ästhetische Bildung am wirkungsvollsten vermittelt werden könne, herrschte in den eingesehenen Lexikonartikeln Konsens. Zwei Regeln wären vor allen Dingen zu beachten; „eine negative und eine positive: Vermeide Alles, was durch seine Geschmacklosigkeit und Gemeinheit die Seele herabstimmt, und bestrebe dich dagegen, Alles auf sie wirken zu lassen, was sie wahrhaft zu steigern vermag.“132 Möglichst bereits im frühesten Kindesalter sollte versucht werden, in einem Menschen mit dem durch die Reinlichkeitserziehung vermittelten Sinn für Sauberkeit auch den Sinn für Ästhetik zu wecken. Zunächst müsse damit begonnen werden, das Kind an die möglichste Reinlichkeit zu gewöhnen; man entferne Alles aus seiner Nähe, was dem Sinne für Ordnung, Genauigkeit, Ebenmaß, Natürlichkeit und Feinheit entgegensteht, bestehe dasselbe nun in sichtbaren Gegenständen, wie in Geräthschaften, Kleidung, Einrichtungen etc., oder in hörbaren, wie in Worten und Tönen. Schon lange, ehe das Kind moralische und unmoralische Verhältnisse aufzufassen vermag, empfindet es das Steigernde und Herabstimmende, was mit denselben verbunden ist, und so kann in unmoralischen Uebungen schon jetzt der Grund gelegt werden zu ästhetischer Mißbildung, die für alle Zukunft auch dem blos Schönen hinderlich in den Weg tritt.133

Durch diese vorbildlichen Eindrücke könne, wie es an anderer Stelle heißt, „das ästhetische Prinzip auch in die Willensbildung hineingetragen“ und „alle Triebe u. Kräfte in harmonischer Ausgleichung unter das königliche Gesetz eines guten Willens gebracht“134 werden. Im „Akt des ästhetischen Formens der Persönlichkeit“ 135 zielte ästhetische Bildung nicht nur auf die Vermittlung ästhetischen Wissens, sondern im Zeichen von Sauberkeit, Ordnung und Harmonie auch auf Affektkontrolle und ein ethisches Verhalten des Individuums. Dass die ästhetische Erziehung im Bereich der Familie von sozialen und ökonomischen Faktoren abhängig war, ist den Pädagogen des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ sehr wohl bewusst gewesen. Begünstigt waren diejenigen Heranwachsenden, die im „Schooße gebildeter Familien aufwachsen“ und sich deshalb „von Haus aus an schö-

131 Klopstock, Friedrich G.: Von der heiligen Poesie [1755]. In: Ders.: Ausgewählte Werke, hg. von Karl August Schleiden. München 1962, S. 997-1009, S. 1001. 132 D.: [Art.] Aesthetische Bildung. In: PRE (1843), Bd. 1, S. 45. 133 Ebd. 134 Speyer, M.: [Art.] Ästhetische Bildung. In: LP (1913), Bd. 1, Sp. 255. 135 Ebd., Sp. 252.

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ne Formen gewöhnen“136 könnten. Dagegen galt das „Häßliche des Kampfes ums Dasein: in den untern Schichten das Massen- u. Fabrikelend, in den obern die Jagd nach dem Gelde“ als Hindernis „alles innern harmonischen Seelenlebens“ und würde in den Menschen „Unrast und Friedlosigkeit“ 137 begründen. Überhaupt fehle Kindern, die „in schmutzigen Umgebungen, unter rohen und unedlen Einflüssen aller Art aufwachsen“138 würden, jeglicher ästhetische Bezugsrahmen, weshalb sie gar keine Gefühle für Schönes und Erhabenes ausbilden könnten. Aber auch Kinder aus bessergestellten Familien, in denen kein Sinn für Einfachheit und Sittlichkeit ausgeprägt wäre, würden – da sie „nur Aftergeschmack um sich erblicken“139 müssten – zwangsläufig falsche ästhetische Maßstäbe vermittelt bekommen. In sozialer Hinsicht zielte ästhetische Bildung im 19. Jahrhundert deshalb auf die Vermittlung eines mittleren, an Einfachheit, Sauberkeit und Sittlichkeit orientierten bürgerlichen Geschmacks. Dieser mittlere Geschmack stand sowohl zum rohen, vermeintlich unästhetischen Geschmack der Unterschichten als auch zum prätentiösen, dem Vorwurf nach nicht auf Sittlichkeit verpflichteten Geschmack der Oberschichten in Opposition. Mit Blick auf die Unterschichten wurde betont, dass man nicht reich sein müsse, um Kindern ästhetische Grundkompetenzen mitzugeben. Auch ein armes Elternhaus könne „rein sein, allen unwahren Schein vermeiden, eine liebevolle, ordnende Hand verraten.“140 Da die Realität dem aber oft nicht entsprach, war es wiederum die Volksschule, die als ein Instrument betrachtet wurde, mit welchem man den „Schönheitssinn“141 der Kinder des einfachen Volkes vermittels einer Erziehung zur Reinlichkeit ausbilden könne. Würde sie ein Lehrer vernachlässigen und bei den Schülern „unsauberes oder häßliches dulde[n]“142, bestünde die Gefahr, dass die Volksschüler sich an falsche ästhetische Maßstäbe gewöhnen könnten. Eindringlich wurde aber auch auf die Gefahr hingewiesen, den Kindern des einfachen Volkes „die höhere Geschmackscultur“ zugänglich zu machen. „Werke der schönen Kunst“143 sollten von ihnen ferngehalten werden: Das Streben nach eitlem Luxus kann man wohl dadurch wecken; den Geschmack aber wird man nimmer dadurch bilden, da alles Uebrige so wenig die Hand bietet. Was soll auch der Pflüger, der Tagelöhner, der Hirte, der kleine Handwerker mit diesem Geschmacke? Solche Cultur könnte nur dienen, ihm seinen Zustand zu verleiden. 144

Mit einer Reinlichkeitserziehung, die immer wieder auch auf sittliche und ästhetische Grundsätze hinweisen sollte, könne ein Volksschullehrer seinen Schülern hingegen genau das richtige Maß an ästhetischer Bildung zukommen lassen. Er habe

136 137 138 139 140 141 142 143 144

Palmer: [Art.] Aesthetische Bildung in der Volksschule. In: EEU (1859), Bd. 1, S. 270. Speyer, M.: [Art.] Ästhetische Bildung. In: LP (1913), Bd. 1, Sp. 255. D.: [Art.] Aesthetische Bildung. In: PRE (1843), Bd. 1, S. 45. Ebd. Speyer, M.: [Art.] Ästhetische Bildung. In: LP (1913), Bd. 1, Sp. 256. Anon.: [Art.] Ästhetische Bildung. In: HwbVl (1877), Bd. 1, S. 39. Palmer: [Art.] Aesthetische Bildung in der Volksschule. In: EEU (1859), Bd. 1, S. 274. Anon.: [Art.] Reinlichkeit. In: PRE (1847), Bd. 2, S. 492. Ebd.

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nur das Gefühl für das Einfache und natürliche Schöne zu wecken und zu bilden. Er dulde also Nichts Widerliches und Häßliches in Worten und Werken, sehe auf Anständigkeit und Reinlichkeit in der Kleidung, lehre die Schönheiten der Natur bemerken und fühlen; er zeige an Gebäuden, was sie schön macht, nicht überladene Zierrathen, nicht grelle Farben, sondern die Einfachheit der Bauart, das Ebenmaß und richtige Verhältniß seiner einzelnen Theile u.s.w. Besonders bildend wirkt die Tonkunst, und darum sollte in keiner Volksschule die Gewöhnung zu einem harmonischen Gesang fehlen, wodurch zugleich ein harmonischer Kirchengesang vorbereitet wird.145

Auch weil die Mittel, mit denen man bei den Schülern „Wohlgefallen und Verständnis für das Schöne“ begründen könne, sich „je nach der Art der Schule“ 146 stark unterscheiden würden, blieben die Vorschläge für ästhetische Erziehung an den Volksschulen auf das angegebene Minimum reduziert. Bewusst sollte ausschließlich ein an Einfachheit, Natürlichkeit und Reinlichkeit orientiertes Verständnis für Schönheit gelehrt werden. Damit lehnte man sich an das ästhetische Konzept Johann Joachim Winckelmanns an (vgl. Kap. 4.1), wonach sich die Schönheit griechischer „Meisterstücke“ der bildenden Kunst dem Betrachter als „edle Einfalt“ und „stille Größe“ 147 zu erkennen geben würden. Da den Lehrern zu Anschauungszwecken keine solchen Kunstwerke zur Verfügung stünden, sollten sie ihre Schüler während eines „gemeinsamen Spaziergange[s]“148 durch die Umgebung auf die „Schönheiten in der Natur“ sowie auf „die Ordnung, Zweckmäßigkeit und Einfachheit in den Werken derselben“ aufmerksam machen. Auf diese Weise ließe sich etwa „Achtung und Ehrfurcht vor ihrer stillen Größe“149 wecken. In der Volksschule war ästhetische Bildung darauf ausgerichtet, eine ehrfurchtsvolle Haltung gegenüber dem Schönen zu vermitteln. Ästhetische Bildung an höheren Lehranstalten war wesentlich stärker auf das Schöne und Erhabene, wie es sich in vollkommenen Kunstwerken „rein, bestimmt und klar darstellen“150 würde, fixiert. Insoweit sie die idealen Züge „objective[r] Schönheit“ trage, wurde die Lektüre schöner Literatur im Unterricht als zweckmäßig erachtet. Man hoffte, dass die Schüler durch solche Werke dazu in die Lage versetzt würden, zwischen „wahrer Kunst“ und so genannter „Afterkunst“151 zu unterscheiden: Die wahre Kunst stellt zwar auch das Unsittliche dar, aber eben als Unsittliches – also in seiner Nichtigkeit und Verwerflichkeit; aber die Afterkunst übertüncht das Böse, daß es einen gleißnerischen Schein erhält, der schwache Gemüther verführt. Die wahre Kunst ist durch und durch sittlich; denn sie hat es mit der Veranschaulichung der Ideen zu thun, die für den Menschen ei145 Anon.: [Art.] Aesthetisches Gefühl (Bildung). In: EPL (1835), S. 10. 146 Sander: [Art.] Ästhetische Bildung. In: LP/HbVl (1883), S. 20. 147 Winckelmann, Johann J.: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. In: Ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. Berlin 1968, S. 27-59, S. 43. Im Folgenden als Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung. 148 Palmer: [Art.] Aesthetische Bildung in der Volksschule. In: EEU (1859), Bd. 1, S. 274. 149 D.: [Art.] Aesthetische Bildung. In: PRE (1843), Bd. 1, S. 46. 150 Palmer: [Art.] Aesthetische Bildung in der Volksschule. In: EEU (1859), Bd. 1, S. 265. 151 Ebd., S. 269.

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nen ewigen Werth haben und ihm einen ewigen Werth geben, wenn er sie lebendig in sich aufnimmt und sich zum Träger derselben macht.152

Darüber hinaus sollten die Schüler lernen, Kunstwerke nicht als „Object[e] des bloßen Genusses“153 zu missbrauchen, sondern sie frei von Zwecken und Emotionen zu rezipieren, d.h. sie „rein, klar und vollständig in [ihrer] Seele wiederklingen und sich entwickeln zu lassen.“154 Auch in höheren Schulen wurde also eine bestimmte Haltung vermittelt, die die Schüler gegenüber dem Schönen respektive „Großen, Guten und Ewigen“155 der Kunst einnehmen sollten. Entsprechend gäbe sich die ästhetische Bildung wohl am klarsten durch das Verhältnis zu erkennen, in welches sich einer zu vollendeten Kunstwerken stellt. […] Wer nicht im Innersten berührt, bewegt und erhoben wird, wenn er eine Madonna von Rafael anschaut, oder eine Symphonie von Beethoven hört oder Göthes Iphigenie liest, der wird schwerlich auf ästhetische Bildung Anspruch machen können.156

Jener Logik nach galt es als Zeichen einer nur unvollkommenen Bildung, wenn ein Mensch einerseits „durch Werke von geringem Werthe befriedigt wird“ oder aber andererseits „Werke von höherem Werthe […] nicht in ihrer eigenthümlichen Höhe zu fühlen vermag.“157 Gerade deshalb wurde es als wichtig erachtet, auch die Zöglinge höherer Schulen sukzessive an die ästhetische Bildung heranzuführen. Bevor Kinder sich an das Schöne und Erhabene in der Kunst annähern dürften, sollten sie mittels der Reinlichkeitserziehung eine Abscheu vor ästhetisch minderwertigen Reizen erlernt haben: Daß so viele, namentlich junge Leute blos Geschmack finden an dem Uebertriebenen, Abenteuerlichen, Seltsamen, daß sie nur groß und erhaben nennen, was gewaltsam, stürmisch, wohl gar verwüstend und zerstörend sich äußert […], das verdanken sie gewiß größtentheils der übereilten, unnatürlichen Entwickelung, in die man sie in Bezug auf Gegenstände des Schönen und Erhabenen hinein zog und fortriß, während sie im Gegentheil vielleicht Menschen geworden wären, die vor allem Spitzfindigen, Gezwungenen und Unnatürlichen, so wie auf der andern Seite vor allem Platten, Kleinlichen und Gemeinen Widerwillen und Ekel empfänden […].158

Die bewahrpädagogische Tendenz, Kinder und Jugendliche möglichst frei von negativen Einflüssen in einer sauberen, schönen und moralisch einwandfreien Umgebung erziehen zu wollen, war im pädagogischen Diskurs des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ dominant.

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Ebd. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. Ebd., S. 268. Ebd., S. 266. Ebd., S. 265. Ebd., S. 266. D.: [Art.] Aesthetische Gefühle. In: PRE (1843), Bd. 1, S. 42. D.: [Art.] Aesthetische Bildung. In: PRE (1843), Bd. 1, S. 46.

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So überrascht es auch nicht, wenn man sich im Lexikon der Pädagogik 1913 dem allgemeinen „Hilferufe nach Dämmen gegen die Schmutzflut, die, den Namen der Kunst entweihend, über das ganze Volk sich dahinwälzt“159, anschloss. Mit der Rede von der ‚Schmutzflut‘ ist ein Bedrohungsszenario konstruiert worden, wonach die Gesundheit des Volkes durch die so genannte ‚Schund- und Schmutzliteratur‘ bedroht wäre: „Die Volksgesundheit, die physische u. die moralische, steht noch über jeder ästhetischen Forderung“, betonte der Verfasser des Artikels M. Speyer, „ganz abgesehen davon, daß nur das Gesunde wirklich schön ist.“160 Den Grundsätzen der Reinlichkeitserziehung entsprechend, schossen hier ästhetische, moralische und hygienische Aspekte ineinander. Schöne Kunst musste gesund sein und durfte nicht „mit dem Ethischen“161 konfligieren, ansonsten gehörte sie vom pädagogischen Standpunkt aus „nicht vor das große Publikum“162. Diese Vorstellungen finden sich nicht nur in den um populäre Literaturen gefochtenen ‚Schund- und Schmutzkämpfen’ um 1900 wieder, an denen sich auch zahlreiche Pädagogen beteiligt haben (vgl. Kap. 8.5). Sie sind aber auch in den Auseinandersetzungen um moderne literarische Entwicklungen aufgerufen worden, was am Beispiel der Skandale um Vor Sonnenaufgang und Reigen kenntlich gemacht wird (vgl. Kap 7.5.1 u. Kap. 9.3). Der Kampf gegen den Schmutz wurde im Lexikon der Pädagogik allerdings nicht allein mit Blick auf Kunst und Literatur befürwortet. Auch in der kulturellen Öffentlichkeit sollte er mit Blick auf die oft elenden Lebensverhältnisse der Unterschichten geführt werden: Da gilt es zunächst mit allem andern öffentlichen Ärgernis das Häßliche der Gasse zu verdrängen, wie u. wo es sich zeigen mag, in Bild u. Plakat, auf Jahrmärkten u. Messen, im Gassenhauer u. der liederlichen Musik, im Varieté u. Kinematographen u. nicht zuletzt in der Schundliteratur, die wie ein Schmutzstrom das Volk überflutet. Es gilt zu kämpfen gegen das Bauelend, die dumpfen Kellerwinkel u. die vollgepfropften Mietskasernen, die ein Hohn auf die Schönheit u. die Gesundheit sind, aber ebenso gegen die Mietspaläste mit ihrem aufdringlichen Prunk; zu kämpfen gegen den falschen Schein statt des schlichten Seins, in der Einzelwohnung wie im Straßenbild u. in der Bekleidung; auch hier führt die Linie letzten Endes wieder ins Ethische zurück.163

Man schaltete sich selbstbewusst in die öffentliche Debatte ein und bot Lösungen an. Vom pädagogischen Standpunkt aus wurde versucht, das auf Sauberkeit geeichte Konzept ästhetischer Bildung gegen moderne kulturelle Einflüsse und gesellschaftliche Veränderungen in Stellung zu bringen. Hierzu griffen die Pädagogen weiterhin auf ihre im 19. Jahrhundert entwickelten Rezepte zurück. Dabei wurde betont, dass der Kampf gegen das Hässliche und den Schmutz auch in positiver Hinsicht geführt werden sollte. Dort, „wo ein Häßliches entfernt worden ist, da muß ein Schönes an die Stelle gesetzt werden.“164 In seinem Alltag würde das Volk bloß „einem dunkeln, 159 160 161 162 163 164

Speyer, M.: [Art.] Ästhetische Bildung. In: LP (1913), Bd. 1, Sp. 254. Ebd., Sp. 254. Ebd., Sp. 253. Ebd. Ebd., Sp. 255. Ebd., Sp. 256.

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nur irregeleiteten Hunger nach Schönheit“ folgen, wenn es „nach dem Schauerroman greift, in den Tingeltangel geht, sein sauer erworbenes Geld für widerwärtige Ramschware ausgibt“; stattdessen müsse es nur wieder „für die einfache Schönheit der Natur“ interessiert und „zur Freude am schlichten edeln Schönen“165 motiviert werden. Gelänge das, würden die Menschen auch wieder Abscheu vor schlechten Einflüssen empfinden und ihnen aus dem Weg gehen. Die soziale Frage sollte auch mit ästhetischen Mitteln beantwortet werden.

1.4 DIE ZIELE DER REINLICHKEITSERZIEHUNG Reinlichkeitserziehung besaß im ‚langen 19. Jahrhundert‘ einen zentralen Stellenwert in der schulischen Sozialisation. Ihr Ziel war es, an das Unreine Gefühle von Scham und Peinlichkeit zu binden. Die Kinder wurden dazu angehalten, den Schmutz unbedingt von sich zu weisen, ihn weder an- noch aufzurühren, ihn weder am Leib zu tragen noch ihn zu thematisieren. Insofern hat die Erziehung zur Reinlichkeit in hohem Maße dazu beigetragen, dass der Schmutz in öffentlicher Kommunikation latent blieb. Im Erziehungsalltag musste dagegen ausdrücklich auf den Dreck verwiesen werden, weshalb er sich in den mit Unterrichtsbeispielen operierenden pädagogischen Fachlexika semantisch manifestieren konnte. Als Gegenbegriffe zur ‚Reinheit‘ sind neben dem ‚Schmutz‘ noch zahlreiche andere Gegenbegriffe diskriminiert worden, wobei die Mehrzahl von ihnen moralische Termini waren: ‚Unsittlichkeit‘, ‚Liederlichkeit‘, ‚Rohheit‘, ‚Bosheit‘, ‚Krankheit‘, ‚Irreligiosität‘, ‚Faulheit‘, ‚Hässlichkeit‘, ‚Unordnung‘, ‚Disharmonie‘ sind hierbei vor allen Dingen zu nennen. Die in den Schulen internalisierte Abscheu vor dem Schmutz zielte auch auf die Unterdrückung all dieser Verhaltens-, Gesundheits- und Geschmacksdispositionen. Als Kernelement der Sozialisation des Volkes sollte die Reinlichkeitserziehung der ästhetischen, moralischen und gesundheitlichen Konditionierung eines in die bürgerliche Gesellschaft problemlos integrierbaren reinlichen, ordnungsliebenden, treuen, fleißigen und genügsamen Individuums dienen. Die Abscheu vor dem Unreinen ist auch die Basiserfahrung gewesen, auf die die ästhetische Grundlagenerziehung aufbaute. In der Volksschule beschränkte sich diese auf eine erweiterte Reinlichkeitserziehung. Durch den Hinweis auf Sauberkeit, Ordnung, Natürlichkeit, Ruhe und Schlichtheit in der schulischen Umgebung und der schulnahen Natur sollte den Kindern ein Verständnis von sittlich imprägnierter Schönheit vermittelt werden. Vor gegenteiligen Einflüssen sollten sie bewahrt werden. Ziel dieser ästhetische Grundlagen vermittelnden Reinlichkeitserziehung war es, dass die Kinder Kunstwerke und andere kulturelle Einflüsse, die diesen Grundsätzen widersprachen, intuitiv als ‚schmutzig‘ erkennen und abweisen sollten. Um 1900 sahen viele Pädagogen dieses Erziehungsziel aufgrund der zahlreichen Neuerungen moderner Kunst und Kultur in Frage gestellt. Man befürchtete, dass die noch nicht gefestigten ästhetischen, moralischen und hygienischen Vorstellungen junger Menschen durcheinandergebracht werden könnten. Insofern haben sich bewahrpädagogische Prämissen der Reinlichkeitserziehung auch in den Kontroversen um Literatur und Schmutz niedergeschlagen (vgl. etwa Kap. 9.3.1). 165 Ebd.

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Der urbane Schmutz und der moderne Hygienediskurs

In diesem Kapitel werden real-, sozial und diskursgeschichtliche Methoden verwendet und miteinander verklammert. Der realgeschichtliche Ansatz befasst sich mit der Präsenz materieller Verunreinigungen im städtischen Raum. Daran schließen sich verschiedene Fragen an: Wie wurde der Schmutz von den Menschen wahrgenommen? Welche Probleme brachte er hervor? Und wie reagierte man auf ihn? Der sozialgeschichtliche Ansatz fragt nach der sozialen Verortung von Schmutz in den im 19. Jahrhundert schnell wachsenden Städten. Der diskursgeschichtliche Ansatz nähert sich dem Phänomen des Schmutzes vonseiten der modernen Hygiene an, die sich ab der Jahrhundertmitte als eigenständige Wissenschaft etabliert hat. Aus dieser Perspektive heraus wird gefragt, wie sich einerseits das hygienische Problembewusstsein und sich andererseits die Bewältigung des Schmutzes durch die Bereitstellung neuer Hygienetechniken verändert haben. Der Methodenmix lässt eine vielschichtige Entwicklung aufscheinen, im Zuge derer sich das Verständnis von Schmutz im Verlauf des 19. Jahrhunderts massiv verändert hat. Beispielsweise wird offengelegt, welche verborgenen sozialen und sittlichen Begründungsmuster die auf die Beseitigung des Unreinen abzielende moderne Hygiene auch um 1900 noch besessen hat. Neben historischen Quellen sind für die folgenden Ausführungen wissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte der Urbanisierung 1, der städtischen Unterschichten2, der Cholera3, der modernen Hygiene4, der Städtereinigung5 und des Wohnens6 herange-

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Vgl. u.a. Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland. Frankfurt am Main 1985. Im Folgenden als Reulecke (1985). Vgl. u.a. Frevert, Ute: Krankheit als politisches Problem 1770-1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung. Göttingen 1984. Im Folgenden als Frevert (1984). Vgl. Evans, Richard J.: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den CholeraJahren 1830-1910. Hamburg 1990. Im Folgenden als Evans (1990). ‒ Dettke, Barbara: Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien. Berlin u.a. 1995. Im Folgenden als Dettke (1995). ‒ Briese, Olaf: Angst in den Zeiten der Cholera, Bd. 1. Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums. Berlin 2003. Im Folgenden als Briese (2003). Vgl. u.a. Labisch, Alfons: Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. Frankfurt am Main u.a. 1992. Im Folgenden als Labisch (1992).

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zogen worden. Auf einige zeitgenössische, literarische Werke, an denen sich die skizzierte Entwicklung ablesen lässt, wird ebenfalls eingegangen.

2.1 STÄDTISCHER SCHMUTZ, BEWÄLTIGUNGSPROBLEME UND NEUARTIGE UMWELTBELASTUNGEN Über Schmutz und Gestank wurden in Städten wohl schon immer die Nasen gerümpft. Je mehr Menschen auf verhältnismäßig kleinem Raum lebten, desto komplizierter wurde es auch, Sauberkeit zu gewährleisten. Einerseits mussten die häuslichen und gewerblichen Abfälle, die menschlichen und tierischen Exkremente und der Schmutz der Straßen aus den Städten geschafft werden, andererseits musste auch die Versorgung mit frischem Wasser sichergestellt sein. Bereits in den Metropolen der Antike hatte es Kanalisationssysteme gegeben, mit denen die Exkremente aus den Städten geschwemmt wurden und Aquädukte, mit denen frisches Wasser zu den Bewohnern gelangte. Auch Gesetze sind überliefert, mit denen zu jener Zeit Fragen der Städtereinigung geregelt waren.7 In Mitteleuropa wurde die Bewältigung des städtischen Schmutzes ab dem ausgehenden Mittelalter zu einem strukturellen Problem, als sich immer mehr Bürger innerhalb der Stadtmauern drängten. „Gärten verschwanden aus dem mittelalterlichen Stadtbild, die Zahl der Stockwerke wurde erhöht und die Straßen wurden für die neuen Häuserhöhen zu eng“ 8; mangels Platz waren die Stadtbewohner oft nicht mehr dazu in der Lage, die Unreinigkeiten einfach auf dem eigenen Misthaufen zu beseitigen. Durch angesammelten Unrat nur schwer passierbar gewordene Straßen, verstopfte und überlaufende Rinnsteine, stinkende Abortgruben oder aus den Fenstern entleerte Nachttöpfe waren typische Streitfälle, die die städtischen Behörden immer wieder beschäftigten. Immer dann, wenn es Probleme bei der Bewältigung gab und der Schmutz als Störung im öffentlichen Raum empfunden wurde, stieg er schnell zum kontrovers diskutierten Thema auf, dem mit Verordnungen oder kleineren infrastrukturellen Maßnahmen begegnet werden musste.9

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Einen weitgefassten historischen Überblick bietet Hösel, Gottfried: Unser Abfall aller Zeiten. Eine Kulturgeschichte der Städtereinigung. München 1987. Im Folgenden als Hösel (1987). ‒ Zur Städtereinigung im 19. Jahrhundert vgl. u.a. Simson, John von: Kanalisation und Städtehygiene im 19. Jahrhundert. Düsseldorf 1983. Im Folgenden als Simson (1983). Hierzu ist hauptsächlich auf folgenden Sammelband zurückgegriffen worden: Reulecke, Jürgen (Hg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 3. 1800-1918. Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997. Im Folgenden als Reulecke (1997). Vgl. Hösel (1987), insbesondere S. 11-31. Ebd., S. 46. Zum Schmutz als Ärgernis alltäglichen Zusammenlebens vgl. ebd., passim. Zu Ansätzen einer systematischen Städtereinigung in der Frühen Neuzeit vgl. ebd., S. 67-110. ‒ Auf das 18. Jahrhundert bezieht sich Menge, Wolfgang: So lebten sie alle Tage. Bericht aus dem alten Preußen. Berlin 1984, S. 55-69. Auf S. 60-62 hat Menge eine Berliner Gassenordnung aus dem Jahr 1735 abgedruckt.

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Als potentiell gesundheitsgefährdend ist der Schmutz bis weit ins 19. Jahrhundert allerdings nur in den seltensten Fällen beurteilt worden, weshalb die Städtereinigungsverfahren keineswegs modernen hygienischen Ansprüchen genügen konnten. Festmachen lässt sich das insbesondere an der Qualität des Wassers. Die in ungepflasterten Straßen und undichten Abortgruben versickernden Fäkalstoffe drangen in nahegelegene Brunnen ein und verunreinigten das dort geschöpfte Trinkwasser. Angesichts dessen darf es nicht überraschen, wenn zu jener Zeit „immer wieder schwere, oft explosionsartige Massenerkrankungen auftraten“, die nach heutigen Kenntnisstand wohl sehr oft „vom Wasser ausgingen“10. Vor dem Hintergrund solcher Zustände ist es nicht verwunderlich, dass die Mortalitätsraten in den urbanen Zentren bis weit ins 19. Jahrhundert hinein durchschnittlich höher waren, als auf dem Land. Dieser Umstand bestimmte auch die öffentliche Wahrnehmung der Stadt, die „als Krankheitsfaktor“11 galt. Die Problematik verschärfte sich aufgrund des im Zuge der Frühindustrialisierung einsetzenden Urbanisierungsprozesses im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Bereits seit dem 18. Jahrhundert hatten die meisten Regionen stetig ansteigende Bevölkerungszahlen verzeichnet, die in vielen ländlichen Gebieten „bald an die Grenzen der Unterbringungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten“12 stießen. Der ansteigende Bevölkerungsdruck auf dem Land führte seit der Gewährleistung der Freizügigkeit in der Deutschen Bundesakte im Jahr 1815 schließlich zu einer verstärkten Wanderungsbewegung13 unterbäuerlicher Schichten: und zwar zunächst in diejenigen Städte, in denen Handel und Gewerbe genügend Auskommen versprachen. Neben den alten Haupt- und Verwaltungsstädten wie Berlin, München oder Dresden und einigen alten Wirtschaftszentren wie Breslau, Köln oder Leipzig, waren davon auch Städte wie Krefeld am Niederrhein, Barmen und Elberfeld im Wuppertal und Chemnitz in Sachsen „betroffen, in denen sich eine ausdifferenzierte traditionelle Gewerbestruktur industriell zu überformen begann.“14 In den erwähnten Städten war der Anstieg der Einwohnerzahlen bereits vor der Jahrhundertmitte hoch. Nach der Jahrhundertmitte verstärkte sich diese Entwicklung aufgrund der sich flächendeckend durchsetzenden Industrialisierung noch einmal und ergriff immer mehr Städte in immer mehr Regionen wie Hamburg, das Ruhrgebiet, Oberschlesien und die Saarregion. Auch die in besonders stark prosperierenden Gegenden gelegenen Städte waren nun mit einem deutlich beschleunigten Bevölkerungswachstum konfrontiert. Wäh10 11 12 13

Hösel (1987), S. 61. Labisch (1992), S. 113. Reulecke (1985), S. 21. Neben der erwähnten Wanderung in die Städte ist auch die Auswanderung zu nennen, die verstärkt ab den 1850er-Jahren einsetzte. Dazu Reulecke (1985), S. 42: „Zunächst waren die neuen Fabrikbetriebe noch keineswegs aufnahmefähig genug, um das gesamte im Rahmen der traditionellen Gewerbestruktur nicht mehr unterzubringende Arbeitskräftepotential zu absorbieren. In dieser Situation stellte die Auswanderung nach Übersee, vor allem in die USA, ein wichtiges Ventil dar, das den Überdruck ableitete. Zwischen 1850 und 1860 wanderten rund 1,1 Millionen Menschen aus Deutschland aus, 1854 allein 239.000.“ Trotzdem sei die Bevölkerung in Deutschland auch zwischen 1850 und 1870 um jährlich ca. 7,5‰ angewachsen. 14 Ebd., S. 22.

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rend 1815 ein Zehntel der Bevölkerung in Städten über 5.000 Einwohnern lebten, waren es 1870 23,7%; gab es um 1800 zwei deutsche Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern (Berlin und Hamburg), waren es siebzig Jahre später bereits neun. 15 Überall dort, wo die Bevölkerungszahlen rasch anstiegen, sind die kommunalen Behörden mit immensen infrastrukturellen Aufgaben konfrontiert gewesen, um „die biologische Existenz der Menschen in den Städten an die durch Arbeit und Handel vorgegebenen Bedingungen anzupassen.“16 Einerseits galt es, die Versorgung der Gesamtbevölkerung mit Nutz- und Trinkwasser sicherzustellen, andererseits musste auch die Entsorgung der immer größer werdenden Mengen an Abfallstoffen gewährleistet sein. Beides stellte die Städte vor große logistische Probleme. So war es häufig gar nicht mehr möglich, den ansteigenden Wasserbedarf durch Brunnen zu decken, während aus den Flüssen angesichts ihrer zunehmenden Verschmutzung oftmals nur noch Nutzwasser geschöpft werden konnte.17 Denn neben den städtischen Abwässern aus den offenen Rinnsteinen und geschlossenen Abzugskanälen, die außer Niederschlagswasser nicht selten auch häusliche Abfallstoffe mit sich führten, waren es neuerdings auch Industrieabwässer, die in die Flüsse abgeleitet wurden. Bei geringen Fließgeschwindigkeiten stellten sie in sommerlichen Trockenperioden „Seuchenherd[e] ersten Ranges dar, während“, wie es im Wuppertal der Fall war, „bei Hochwasser der Unrat bis in die Straßen und Keller der tiefer gelegenen Wohnviertel transportiert wurde.“18 Auch der Abtransport von auf Straßen und Plätzen, in privaten Haushaltungen, in Gewerbebetrieben und in öffentlichen Einrichtungen anfallender Abfallstoffe wurde angesichts der steigenden Mengen und der durch das Wachstum der Städte immer größer werdenden Distanzen zu den Feldern, auf denen menschliche und tierische Ausscheidungen traditionell als Dünger verwendet wurden, immer aufwändiger.19 Angesichts des Bevölkerungswachstums stellten sich die herkömmlichen Ver- und Entsorgungssysteme als zunehmend überfordert heraus. Noch bevor man den Schmutz als disponierenden Faktor von Krankheiten und Seuchen ansah, machte die neue Dimension der Schmutzproblematik effizientere Bewältigungsmethoden erforderlich. Hinzu kamen Belastungen der städtischen Umwelt durch die immer zahlreicher werdenden Fabriken. Die Dampfmaschinen waren laut und sonderten rußige Abgase ab. Durch den Bevölkerungszuwachs stiegen auch die Emissionen privater Feuerstätten an. Die Menschen, die in solchem Umfeld lebten, waren einer allgegenwärtigen Luftverunreinigung ausgesetzt, wie sie in dem Roman Die Leute aus dem Walde (1863) von Wilhelm Raabe geschildert wird. Als unangenehm und unmittelbar be15 Die Zahlen nennt Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, S. 112-113. 16 Labisch (1992), S. 113. 17 Vgl. Hardy, Anne I.: Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit. Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2005. Im Folgenden als Hardy (2005). „Da Geruch, Aussehen und Geschmack die einzigen Kriterien zur Beurteilung der Wasserqualität waren, ist davon auszugehen, dass stinkendes Flusswasser als Trinkwasser ausschied“, schreibt sie auf S. 92. Dass verschmutztes Flusswasser als Nutzwasser durchaus Verwendung fand, macht sie am Beispiel Danzigs auf S. 93 fest. 18 Reulecke (1985), S. 23. 19 Vgl. Simson (1983), S. 7.

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drohlich empfindet der jugendliche Waise Robert Wolf die Eindrücke der Großstadt, die er bei einem Blick aus einer Dachluke über sie gewinnt: Robert Wolf rieb die Augen und warf einen Blick auf die grauen Brandmauern vor seinem Fenster, auf die schmutzigen, regennassen oder beschneiten Dächer, die qualmenden Schornsteine und Kaminröhren, welche den Dunst vermehrten und sich in ihm, in der Ferne, schattenhaft verloren. Der Qualm der Steinkohlen, der verschiedenartigen Gase füllte die Brust des Knaben, wenn er das verquollene Fenster mit Mühe geöffnet hatte. Und unter dem grauen Schleier rauschte und knarrte, pochte und kreischte und rollte das große Leben der Stadt, so fremd, so beängstigend, so erdrückend, daß Robert unwillkürlich nach der Kehle griff, gleich einem Erstickenden.20

Mit der Luftverunreinigung und der Gewässerverschmutzung hat die Industrialisierung im 19. Jahrhundert neuartige Umweltbelastungen mit sich gebracht, deren gesundheitlichen Folgewirkungen auf Mensch und Tier vielerorts bereits erheblich waren. Mit dem Einsetzen der industriellen Revolution hat es auch Beschwerden aus der Bevölkerung gegeben, die von Behörden oder Gerichten mit den Interessen der Industriebetriebe abgewogen und oft zuungunsten der Kläger entschieden wurden. 21 In der deutschen Literatur ist das Thema erstmalig in dem ebenfalls von Wilhelm Raabe verfassten und 1884 erschienenem Roman Pfisters Mühle ausgestaltet worden. Die Ausflugsgaststätte gleichen Namens wird durch die übelriechenden Ausdünstungen „blaugrauen, schleimigen Flußwassers“22 ruiniert, in dem auch zahlreiche tote Fische vorbeitreiben. Als Quelle der Verunreinigung werden die Abwässer der Zuckerfabrik Krickerode ausgemacht. In einem „dunklen Strahl heißer, schmutziggelber Flüssigkeit“ ergießen sie sich zunächst in einen „künstlichen Sumpf“, wo sie einen „entsetzlichen, widerwärtig gefärbten, klebrig stagnierenden“23 Zustand annehmen. Über den Abfluss eines Nebenbaches verunreinigt diese Substanz das Wasser des an Pfisters Mühle vorbeifließenden Mühlenbaches. Mit einem die schlechte Gewässerqualität bescheinigenden wissenschaftlichen Gutachten zieht der Mühlenwirt schließlich vor Gericht, wo die Auseinandersetzung um das Recht auf sauberes Wasser bezeichnenderweise als „eine von den größern Fragen der Zeit“24 betrachtet und ausgefochten wird: „Deutschlands Ströme und Forellenbäche gegen Deutschlands Fäkal-

20 Raabe, Wilhelm: Die Leute aus dem Walde. In: Ders.: Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, Bd. 5. Hg. von Karl Hoppe. Göttingen 1971, S. 153. 21 Zur (lange Zeit übersehenen) Geschichte der Umweltzerstörung durch Industrialisierung im 19. Jahrhundert und ihrer gesundheitlichen, sozialen und juristischen Dimensionen vgl. Gilhaus, Ulrike: „Schmerzenskinder der Industrie“. Umweltverschmutzung, Umweltpolitik und sozialer Protest in Westfalen 1845-1914. [Diss.] Paderborn 1995. ‒ Büschenfeld, Jürgen: Flüsse und Kloaken. Umweltfragen im Zeitalter der Industrialisierung (1870-1918). Stuttgart 1997. 22 Raabe, Wilhelm: Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft. In: Ders.: Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, Bd. 16. Hg. von Karl Hoppe. Göttingen 1970, S. 95. 23 Ebd., S. 99. 24 Ebd., S. 116.

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und andere Stoffe. Germanias grüner Rhein, blaue Donau, blaugrüner Neckar, gelbe Weser gegen Germanias sonstige Ergießungen.“25

2.2 SCHMUTZ, SOZIALES ELEND UND DIE ALLGEMEINE „VERSCHWÖRUNG DER BLINDHEIT“ Begleitet wurde der Urbanisierungsprozess auch von sozialen Problemen. Während die Ober- und Mittelschichten in den meisten Städten zahlenmäßig in etwa unverändert blieben, führte die Zuwanderung aus ländlichen Regionen zu einem deutlichen Anstieg der Unterschichtsbevölkerung. In Berlin waren im Jahr 1848 mehr als die Hälfte der über 400.000 Einwohner Zugewanderte, von denen „fast 95 Prozent zu den ärmsten Bevölkerungsschichten“26 zählten. Insgesamt gehörten circa 85% der Berliner Bevölkerung den so genannten proletarischen Schichten an, wozu neben qualifizierten und unqualifizierten Arbeitern und Gesellen auch kleine Handwerker, Handlungsdiener, Dienstpersonal, sonstige Selbständige wie Hausierer oder Viktualienhändler sowie das Subproletariat (Bettler, Prostituierte, Literaten, Lumpensammler etc.) zählten.27 In anderen Städten klafften die Gegensätze zwar nicht ganz so extrem auseinander, die Urbanisierung führte jedoch überall zu einer sich auch räumlich manifestierenden sozialen Segregation. Familien aus der Oberschicht und der gutsituierten Mittelschicht siedelten sich allmählich abseits der Fabriken an den grünen Rändern der Städte in Häusern mit eigenem Garten und standesgemäßer Gartenlaube an.28 In der Nähe von Fabriken entstanden zeitgleich Arbeiterviertel mit hoher Bevölkerungsdichte. Die Lebensverhältnisse der dort wohnenden Proletarier, die vor der Zeit der Mietskasernen zumeist in beengten Hinterhaus-, Dachboden- oder Kellerwohnungen unterkamen, waren nicht selten von Unreinlichkeit, Armut und Krankheit geprägt. Die bürgerliche Wahrnehmung der engen und unsauberen, vom einfachen Volk bewohnten Stadtviertel war von einem Unbehagen bestimmt, wie es sich etwa in Gustav Freytags 1855 erschienenem Entwicklungsroman Soll und Haben ausdrückt. Die Eindrücke, die sich dem Protagonisten Anton Wohlfahrt bieten, als er das erste Mal in die nicht näher benannte Hauptstadt wandert, werden folgendermaßen geschildert: „Erst einzelne kleine Gebäude, dann zierliche Sommerwohnungen mitten in blühenden Gärten; dann rückten die Häuser dichter zusammen, die Straße schloß sich auf beiden Seiten und mit dem Staube und dem Wagengerassel legte sich bange

25 Ebd. 26 Hachtmann, Rüdiger: Berlin. In: Dipper, Christof; Speck, Ulrich (Hgg.): 1848. Revolution in Deutschland. Frankfurt am Main u.a. 1998, S. 82-98 u. S. 422-424, S. 82. 27 Vgl. ebd., S. 83-84. 28 Die 1853 gegründete Familienzeitschrift Die Gartenlaube war ursprünglich exakt auf dies Klientel ausgerichtet. Der große Erfolg der Zeitschrift verweist darauf, dass das eine heile Welt repräsentierende Gartenlaubenideal rasch auch für kleinbürgerliche Schichten attraktiv war. Näheres zur Gartenlaube vgl. Kap. 8.2.

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Sorge um die Brust unseres Helden.“29 In dem „Geflecht großer und kleiner Straßen“30 fühlt sich Anton unwohl. Geführt wird er von seinem hinter ihm her schreitenden und Richtungsanweisungen zurufenden „Reisegefährten“, dem ehemaligen Schulfreund Veitel Itzig, dem vom auktorialen Erzähler „eine merkwürdige Vorliebe für krumme Seitengassen und schmale Trottoirs“31 zugesprochen wird. Während Anton sich den dort wohnenden Menschen gegenüber distanziert verhält, wendet sich Itzig in einer „schmutzigen Nebenstraße“ winkend und „mit frecher Vertraulichkeit geputzten Mädchen zu, die an den Thüren standen, oder jungen Burschen mit krummer Nase und runden Augen, welche, die Hände in den Hosentaschen, auf der Straße lungerten.“32 Mit diesen anzüglichen Interaktionsversuchen mit dem Subproletariat wird der jüdische Begleiter und spätere Antagonist Antons vom Erzähler als eine moralisch zweifelhafte Person präsentiert. Der in dieser Szene enthaltene Antisemitismus tritt deutlich zutage. Der gemeinsame Gang durch die Stadt wird jedoch auch geschildert, um die sozialen Gegensätze zwischen oberen und unteren Schichten anzudeuten, die in einer prosperierenden deutschen Großstadt vorherrschten. In den Nebenstraßen befindet sich das von Armut geprägte, unreinliche Stadtviertel, in dem es für die Bewohner „nichts zu gewinnen“33 gibt. Die mit Granitsteinplatten gepflasterte, saubere und elegante Hauptstraße, in die Anton schließlich gelangt, symbolisiert dagegen die kaufmännisch-bürgerliche Welt, die er als Lehrjunge in einem dort ansässigen Kontor kennenlernen soll. Die Straße prägen „große Häuser mit Säulenportalen, elegante Kaufläden und ein Gewühl gut gekleideter Menschen“, die darauf hinzeigen, „daß hier der Wohlstand einen entschiedenen Sieg über die Armseligkeit“ 34 errungen hat. Der Schmutz der Nebenstraßen fungiert demnach als ein erzähltechnisches Kontrastmittel, mit dem in Freytags Roman Fortschrittlichkeit und ökonomischer Erfolg der an Fleiß, Ordnung und akkurater Sauberkeit orientierten bürgerlichen Welt akzentuiert hervortritt.35 Historische Quellen, die Einsichten in die Wohnverhältnisse in den städtischen Arbeiter- und Armenvierteln vermitteln könnten, sind bis über die Jahrhundertmitte hinaus äußerst rar. Eine seltene Ausnahme sind die zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Notizen Johann Hinrich Wicherns über Hamburgs wahres und geheimes Volksleben von 1832/33. Der spätere Begründer der Inneren Mission der Evangelischen Kirche war zu jener Zeit Lehrer der Sonntagsschule der Kirchengemeinde von St. Georg und machte Hausbesuche bei den Familien seiner Schüler: „In diesen 29 Freytag, Gustav: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 4 u. 5. [2. Aufl.] Leipzig 1896, hier Bd. 4, S. 39. Im Folgenden als Freytag (1896), Band, Seitenzahl. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Weitere Informationen zu urbanen Aspekten des Romans liefert der Aufsatz von Krobb, Florian: „das Gewühl der Häuser und Straßen“. „Soll und Haben“ als Großstadtroman. In: Ders. (Hg.): 150 Jahre „Soll und Haben“. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg 2005, S. 137-152.

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Wohnungen (Buden, Sälen) wohnen leicht an 1000 Menschen“, berichtete er in seinen Aufzeichnungen; „Arbeitsleute, Steinhauer, Nachtwächter, Schwefelhölzerfabrikanten, Holzpantoffelmacher, Bettler etc. sind die Amtstitel.“36 Wichern nahm in den Wohnungen St. Georgs eine von Unreinlichkeit dominierte Verwahrlosung, Gewalt gegenüber Frauen und Kindern, Hunger, Trunkenheit und Krankheiten (Lungenentzündung, Schwindsucht, Cholera etc.) sowie eine hohe Kindersterblichkeit wahr. Bei fast allen Visiten bot sich ihm ein Bild des Greuels und Abscheus. Die Mutter des Hühn, bei der die Hühn/Krüdener wohnen, lebt unehelich mit einem viel jüngern Kerl, der Lumpenhändler ist. Die ganze Bude, Stube und Kammer war voller Lumpen, daß man keinen Raum zu einem Fußtritt hatte. Die Fenster der Kammer sind damit verstopft. In dieser Kammer saß das unglückliche Weib, blaß und hager. Das [wenige Tage zuvor entbundene, L.R.] Kind lag in dem schmutzigen Bette, das ganz mit Lumpen beworfen war: es ist drei Wochen zu früh geboren und von der jämmerlichsten Gestalt, wird auch schwerlich am Leben bleiben.37

Über zwei andere Hausbesuche schrieb Wichern: Es war heute (4. Januar 1833) bitter kalt. Kein Feuer im Ofen. Zwei zerbrochene Stühle, für die vier Personen nur eine Kinderbettstelle mit Stroh. Als ich den fürchterlich aussehenden Wiese fragte: „Wo schläfst denn du?“, zeigte er in die leere Ecke: „Da!“ In einem schmutzigen Sack so groß wie ein Kopfkissen lag ein Haufe Stroh.38 Mehrere Weibspersonen waren in der Bude; zwei, die da wohnten, hatten Kinder an der offenen Brust. Leben alle in wilder Ehe. Der Kerl sah aus wie ein Bordellwirt – alles voller Schmutz und Kot. Gemeinheit sprach aus allen hervor. 39

Aus heutiger Sicht bemerkenswert ist, dass Wichern bei seiner Wahrnehmung prekärer Wohnverhältnisse keinen kausalen Zusammenhang zwischen Armut, Unreinlichkeit und Krankheit annahm. Statt das Elend der Unterschichtsfamilien in St. Georg auf soziale und sanitäre Verhältnisse zurückzuführen, begründete er es mit ihrer sittlichen Verwahrlosung, wie sie sich im „Schmutz und Kot“ des dritten Zitats metaphorisch verdichtete. Die Unsittlichkeit wiederum sah Wichern ursächlich in der Irreligiosität der Menschen begründet, schließlich war er der Meinung, dass nur religiös erzogene, moralisch gefestigte Personen einen „Sinn für Rechtlichkeit und Ordnungsliebe“40 entwickeln könnten, mit dem sie in der Lage wären, sich besser um ihren Lebensunterhalt und ihr Wohnumfeld kümmern zu können. 41 Aus der Motivation 36 Wichern, Johann H.: Hamburgs wahres und geheimes Volksleben (1832/1833). In: Meinhold, Peter (Hg.): Johann Hinrich Wichern. Sämtliche Werke, Bd. IV, Teil 1, Schriften zur Sozialpädagogik. Berlin 1958, S. 32-46, S. 35. 37 Ebd., S. 39. 38 Ebd., S. 37. 39 Ebd., S. 43. 40 Ders.: Die Armenanstalt in Hamburg (1832). In: Ebd., S. 17-18, S. 18. 41 Ausführlicher auf Wicherns Hausbesuche in St. Georg geht Gutmann, Hans-Martin: Der Schatten der Liebe. Johann Hinrich Wichern (1808-1881). In: Mager, Inge (Hg.): Das 19.

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heraus, diesbezüglich Abhilfe zu verschaffen, sind zu jener Zeit in vielen Städten kirchliche Wohltätigkeitsvereine wie die „Innere Mission“ sowie auch private Initiativen gegründet worden. Weil sie in die Unterschichtsquartiere gingen, jedoch statt der Not zu lindern bloß Sündenbetrachtungen und Betstunden abhalten würden, sind solche Wohltätigkeitsbestrebungen christlich motivierter, vornehmer Frauen in Bettine von Arnims 1843 erschienenem Dieses Buch gehört dem König unumwunden kritisiert worden.42 Kritik traf in dem Werk auch die Obrigkeit, die sich nur dann für die einfachen Leute einsetzen würde, wenn sie für Kriegsdienste nützlich wären. Danach betrachte der Staat sie wieder als „Hefe des Volkes“ und lasse sie erneut „im alten Schlamm versinken“43: solche Worte kamen einem Aufruf zu staatlich forcierter Sozialpolitik gleich.44 Dem so genannten „Königsbuch“ ist im Anhang ein Bericht des Schweizer Lehrers Heinrich Grunholzer über die Zustände im Berliner Vogtland angefügt worden.45 Auf moralische Wertungen verzichtend, waren Grunholzers Notizen wesentlich neutraler und differenzierter als Wicherns Aufzeichnungen. Wie dieser hat er die in beengten Wohnungen vorfindliche Unreinlichkeit, die Not der Menschen und deren Krankheiten zur Kenntnis genommen. Wenn er aber einerseits wahrnahm, dass Stuben „nicht aufgeräumt“ waren und Betten „schmutzig“ aussahen, so blendete er andererseits nicht aus, wenn für die Betten „ein Bund frisches Stroh“ bereitlag, auf einer Schreibtafel „die Worte ‚Trink und eß‘ fleißig kopiert waren“, in einem Goldrahmen „der letzte Wille von Friedrich Wilhelm III.“ 46 an der Wand hing oder wenn

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Jahrhundert. Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen, Bd. 4. Hamburg 2013, S. 297338 auf S. 323-327 ein. Darauf verweist Trautmann, René: Die Stadt in der deutschen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts (1830-1880). Winterthur 1957, S. 64. Im Folgenden als Trautmann (1957). Arnim, Bettine von: Dies Buch gehört dem König. In: Dies.: Werke und Briefe, Bd. 3. Politische Schriften. Hg. von Wolfgang Bunzel; Ulrike Landfester u.a. Frankfurt am Main 1995, S. 9-368, S. 205. Im Folgenden als Arnim: Königsbuch. Im Text Bettine von Arnims finden sich überdies Forderungen nach Strafrechtsänderungen und politisch-sozialen Reformen, vgl. Hauser, Susanne: Der Blick auf die Stadt. Semiotische Untersuchungen zur literarischen Wahrnehmung bis 1910. Berlin 1990, S. 101 u. passim. Im Folgenden als Hauser (1990). Informationen über das „Berliner Vogtland, das zwischen dem alten Hamburger Bahnhof und dem Rosenthaler Tor lag“, liefert Trautmann (1957) auf S. 62: Es „wurde 1752 von Friedrich dem Großen für die ‚ausländischen‘ Handwerksgesellen aus dem sächsischen Vogtland begründet. Im Jahre 1755 waren 60 einstöckige Wohnhäuser fertiggestellt; dazu kam 1770 noch die Siedlung mehrerer Gärtnerfamilien. Wegen der niedrigen Miete und der Mittellosigkeit der Bewohner entwickelte sich das Vogtland, vor allem seit der Verarmung in den Kriegsjahren 1806-1809 und der Bevölkerungszunahme um 1815, zum bedeutendsten Proletarierviertel Berlins. Neben den alten einstöckigen Kolonistenhäusern entstanden in den Jahren 1820-1824 unmittelbar am Hamburger Tor die ersten großen Familienhäuser. Hier hausten, zusammengepfercht in vierhundert kleine Stuben, die oft von mehreren Familien bewohnt wurden und als Arbeits-, Wohn und Schlafraum dienten, über 2500 Leinenweber, Seidenwirker, Fabrikarbeiter, Krüppel, Kranke, Bettler, Zuchthäusler in trostloser Armut und Not.“ Arnim: Königsbuch, S. 342.

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ein Vater seinen Sohn nicht nur züchtigte, sondern angesichts schlechter Armenschulverhältnisse mit einigem Erfolg im Lesen, Schreiben und Rechnen selbst unterrichtete.47 Er verwies außerdem auf die Willkür der Armendirektion, auf Schulden, die Menschen ins Gefängnis brachten und auf die existenzielle Problematik, die entstand, wenn einzelne Mitglieder aufgrund von Krankheiten nicht mehr für den Lebensunterhalt ihrer Familien sorgen konnten.48 Im Normalfall wurden solche elenden Wohn- und Lebensverhältnisse von den meisten besser situierten Bürgern gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Dazu trug die erwähnte soziale Segregation mit bei, aufgrund derer „beachtliche Teile des Bürgertums mit den sozioökonomischen Wandlungen über längere Zeit kaum oder nur sehr vermittelt konfrontiert wurden“49. In dem Zusammenhang bemerkenswert ist ein Text des mit Frühsozialisten wie Herwegh, Marx und Engels in Kontakt stehenden Arztes Otto Lüning, den er 1845 in der von ihm selbst herausgegebenen Monatsschrift Das Westphälische Dampfboot veröffentlicht hat. In jenem Bericht einer Reise in die prosperierenden Industriestädte Barmen und Elberfeld schilderte er die gegensätzlichen Eindrücke, die er dort gewonnen hatte: „Rauchende Schlote, brausende Maschinen, stattliche Etablissements, dürftige Arbeiterwohnungen, dazu ein kleines schmutziges Flüßchen und in größerer Ferne Hügel und Wald: da habt ihr das ‚gesegnete Wupperthal‘.“50 Lüning und seinem Reisebegleiter Moses Hess fielen vor allem die „merkwürdige[n] Kontraste in diesem einförmigen grauen Häuserklumpen“ auf, in denen sich die soziale Kluft zwischen Ober- und Unterschicht manifestierte: Das Arbeiter-Viertel, welches wir besehen wollten, sieht auf den ersten Anblick von der Vorderseite ziemlich manierlich aus. Nur wohnen leider in diesen besseren Wohnungen wenig oder gar keine Arbeiter. Aber zwischen den Häusern führen kleine, schmale Gassen, durch welche sich grade ein Mensch durchquetschen kann, in die Höfe und Hinterhäuser; da wohnen die Arbeiter des gesegneten Wupperthales und wie es da aussieht, darüber hat sogar die „Elberf. Ztg.“ einige furchtbare Beispiele mitgetheilt. Dem Fremden fallen aber diese Gäßchen nicht auf und die Bourgeoisie hütet sich, ihn darauf aufmerksam zu machen. Er nimmt den Eindruck eines freundlichen, lichten und reinlichen Arbeiter-Viertels mit.51

Lüning konstatierte, dass im Wuppertal eine „stillschweigende Übereinkunft“ vorgeherrscht habe, die Hinterhöfe nicht zu beachten, geschweige denn zu betreten, so dass „das Elend nicht allzu grell hervortrete und die Behaglichkeit störe.“ 52 Damit deckte er die bürgerliche „Verschwörung der Blindheit“53 auf, die schmutz- und armutsgeprägten Lebensverhältnisse der Arbeiter nicht sehen zu wollen. Noch zur Jahrhundertmitte wurde in den Städten die soziale Not weitestgehend ausgeblendet, die Frage 47 48 49 50

Vgl. ebd., S. 343. Vgl. ebd., passim. Reulecke (1985), S. 44. Lüning, Otto: Reisebilder I. In: Das Westphälische Dampfboot 1 (1845), S. 413-415, S. 413. 51 Ebd., S. 414. 52 Ebd. 53 Thompson (1981), S. 17.

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nach den Ursachen derselben nicht gestellt. Allenfalls stießen sich die Bürger an den im Straßenbild nicht zu übersehenden und in ihren Augen unsittlichen Verhaltensweise der städtischen Unterschichten, an den groben Manieren der Arbeiter, den dreckigen, oft lumpigen Kleidern, an Alkoholismus, Bettelei und Prostitution.54 Dass das, was kollektiv ausgeblendet wurde, gleichzeitig auch ein neugierig machendes Geheimnis war, belegt der Erfolg der Mystères de Paris von Eugène Sue, die kurz nach ihrem erstmaligen Erscheinen 1843 in Übersetzung in zwölf deutschen Zeitungen als Feuilletonroman herauskamen. Die Romanhandlung führt nicht nur in die Welt der Reichen, sondern auch in die Pariser Unterschichtsquartiere, deren Bewohner von Sue im Vorwort kurzerhand zu „Wilden“ erklärt wurden, die mit den „barbarischen Stämme[n]“ Nordamerikas vergleichbar wären; „[n]ur leben diese Barbaren, von denen wir sprechen, mitten unter uns“55. Sue hat seinen Lesern damit „eine Führung durch eine Wildnis, in die sich lesende Schichten nicht wagen durften“56, versprochen. Diese führt in einer stürmischen Nacht zunächst „in die Cité, die Altstadt mit ihrem Labyrinth finsterer enger, gewundener Gassen“, die, obwohl in der Nähe des Justizpalastes gelegen, „Verbrechern als Asyl und Treffpunkt“ 57 dienen: Das fahle, flackernde Licht der vom Sturm geschaukelten Laternen spiegelte sich im schwärzlichen Rinnsteinwasser, das mitten durch das kotige Pflaster floß. Die schmutziggrauen Häuser hatten nur wenige Fenster mit wurmzerfressenen Rahmen und zerschlagenen Scheiben. Schwarze, stinkende Eingänge führten zu noch dunkleren, schmutzigen, oft steil ansteigenden Treppen, die man nur mühsam mit Hilfe eines Seiles ersteigen konnte, das an eisernen Haken an den feuchten Mauern befestigt war.58

Der Schmutz funktioniert als Realitätsmarker. Den Lesern zeigt er an, dass die Wirklichkeit im Roman ungeschönt wiedergegeben wird. Desweiteren beglaubigt er die Zivilisationsferne des geschilderten Milieus, so dass er als Kennzeichen einer gleichsam „realistischen“ und „schaurig-pittoresken“59 Ästhetik dient. Dass Les Mystères de Paris mit der Darstellung von Schmutz und Verbrechen, wie Susanne Hauser meint, einen ängstlichen Voyeurismus bedienten, der die Distanz der Leser zu den Unterschichten eher vergrößerte, ist wohl nicht von der Hand zu weisen. 60 Allerdings darf nicht unterschlagen werden, dass im Roman nicht nur auf die in den schmutzstarrenden Quartieren asylsuchenden Verbrecher verwiesen wird. Es werden auch Geschichten armer Leute ‚reinen Herzens‘ „in halb melodramatischer, halb naturalistischer Drastik“61 vermittelt, wie Norbert Bachleitner betont: „Die Porträts solcher tugendhaften Armen fanden den größten Zuspruch bei den Lesern. Sie entsprachen so54 Vgl. Reulecke (1985), S. 24 sowie Labisch (1992), S. 113. 55 Sue, Eugène: Die Geheimnisse von Paris. Vollständige Ausgabe. Frankfurt am Main 1988, S. 9. Im Folgenden als Sue: Geheimnisse. 56 Hauser (1990), S. 100. 57 Sue: Geheimnisse, S. 11. 58 Ebd. 59 Bachleitner, Norbert: Fiktive Nachrichten. Die Anfänge des europäischen Feuilletonromans. Würzburg 2012, S. 23. Im Folgenden als Bachleitner (2012). 60 Vgl. Hauser (1990), S. 101. 61 Bachleitner (2012), S. 25.

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wohl dem Wunschbild, das sich die Reichen von den Armen zurechtzimmerten, wie auch dem Bild der Armen von sich selbst.“62 Auf diesem Bild der „gutwilligen Armen“63 basierend, besaßen die Mystères auch einen „moralisierenden und sozialreformerischen“64 Impetus, der zur gesellschaftlichen Integration prekär lebender Bevölkerungsteile ermahnte. Interessant ist, dass ein Rezensent in der Augsburger Allgemeine[n] Zeitung betonte, dass man es in Deutschland wohl „niemals wagen“ dürfte, ein Buch wie Sues Mystères zu schreiben: „weniger noch der Censur wegen als wegen des unerbittlichen Wahrscheinlichkeits- und Anstandssinnes unserer lieben Landsleute.“ 65 Das „Behagen am rohen Stoff“66 habe sich im deutschen Publikum nur entwickeln können, weil Sue prekäre Pariser Verhältnisse geschildert habe: Aber ein Engländer, aber ein Franzose darf die ganze Cloake seiner verfaulten Gesellschaftszustände, darf den stinkenden Augiasstall seiner Kerker und Gerichtshöfe, darf die widrig dunkle Mistpfütze seiner Prostitution in eure Lesecabinette leiten bis zur Ueberschwemmung: dabei haltet ihr die feinen Nasen nicht zu, das ist fremder Haut-gout, dabei schließt ihr die auf das Sittliche so wachsamen Polizeiaugen und sagt nicht: das ist unsittlich und unschön zugleich, sonder vielmehr: das ist human67.

Dass man nicht nur im Ausland, sondern auch in „engen, schmutzigen, fast luft- und lichtlosen Straßen“ deutscher Städte „Geheimnisse des täglichen socialen Lebens“ begegnen könne, hat Albert Fränkel seinen Lesern in einem anonym verfassten Aufsatz in den Grenzboten in Erinnerung gerufen: „Du schwärmst für Pariser Geheimnisse und weißt Nichts [sic] von denen, die sich in Deiner nächsten Umgebung, dicht bei Dir, in der Stadt, in der Du bist und lebst, befinden.“68 Fränkel forderte Schriftsteller in seinem Aufsatz dazu auf, das prekäre Leben der einfachen Leute, bei denen es sich nicht nur um „Diebe und Vagabunden“, sondern auch um „Bettler und arme Arbeiter“ handeln würde, zu beobachten und „kritisch, so wie es ist“69, darzustellen. Tatsächlich hat Sues Bestseller in Europa innerhalb kürzester Zeit eine an die Mystères de Paris angelehnte Geheimnisliteratur hervorgerufen. Als einer der ersten deutschsprachigen Lieferungsromane sind bereits 1844 Die Geheimnisse von Berlin erschienen, in denen die Pariser Unterschichtsquartiere durch das Berliner Vogtland ersetzt und mit sozial bessergestellten Berliner Stadtvierteln kontrastiert wurden:

62 63 64 65

66 67 68 69

Ebd. Ebd. Ebd., S. 26 Anon.: Ein deutsches Wort über französische „Geheimnisse“. In: Allgemeine Zeitung (1843), Nr. 307, 3. November, S. 2406-2408. In: Bachleitner, Norbert (Hg.): Quellen zur Rezeption des englischen und französischen Romans in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert. Tübingen 1990. S. 372-377, S. 377. Ebd., S. 376. Ebd., S. 375-376. Ebd., S. 380. Ebd.

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Berlin bestehet eigentlich aus zwei Städten, einer größern, der wirklichen Residenzstadt, und einer kleinern, dem Voigtlande. […] Während man in der Residenzstadt und den übrigen Vorstädten fast nur drei- und vierstöckige Gebäude und schön gepflasterte Straßen mit blendenden Gaslaternen erblickt, sieht man im Voigtlande nur schmutzige Oellampen, ungepflasterte Straßen, deren Koth ganze Armeen verschlingen könnte, und kleine einstöckige Häuser, welche ohne Kellerraum tief in die Erde hineingebauet sind, und in deren unförmliche Dachfenster jeder nur ziemlich ausgewachsene Mann bequem hineinzuschauen vermag.70

Diesem Einstieg folgt eine Beschreibung des sozialen Elends, die stellenweise an die Notizen Grunholzers erinnert. Während dieser allerdings eine verhältnismäßig differenziert beobachtende Sozialstudie verfasst hat, bei der neben dem Schmutz und dem Elend auch andere Aspekte des Lebens in Armut bezeichnet und soziale Bedingungen hinterfragt werden, sind die Geheimnisse von Berlin deutlich undifferenzierter gestaltet worden. Der Dreck dient in dem Roman dazu, die Unmoral und Zivilisationsferne der Armen zu veranschaulichen und die Ängste bürgerlicher Leser zu bedienen. Vor allen Dingen wird die Kriminalitätsneigung der in Schmutz und Elend hausenden Voigtländer hervorgehoben und beschrieben, wie „jeden Morgen ganze Horden räuberischen Gesindes durch das Hamburgerthor in die Stadt hinein[zieht] und […] sich wie die Pest, über alle Theile derselben [verbreitet].“71 Als ein häufiges Genre des Lieferungsromans, welcher im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte aufgrund eines sozialen Absinkprozesses einen zusehends schlechten Ruf erlangte (vgl. Kap. 8.3), verschwand die Geheimnisliteratur rasch wieder aus dem Fokus bürgerlicher Leser. Damit sind auch die Schmutz- und Elendsschilderungen abermals im ‚toten Winkel‘ des literarischen Diskurses verschwunden. Das hing auch mit den gängigen ästhetischen Normen zusammen, die die Möglichkeiten zur Darstellung gewisser Wirklichkeitsaspekte stark einschränkten. Der in den 1850erund 1860er-Jahren vorherrschende programmatische Realismus war an ein Verklärungsgebot gekoppelt, das die eingehendere Darstellung von Schmutz, sozialer Not und Krankheit weitestgehend verbot (vgl. Kap. 5.3.3). Hierin unterschied sich der deutsche vom in Deutschland durchaus breit rezipierten französischen und englischen Realismus. Man denke etwa an die literarische Gestaltung Londoner Elendsviertel in den Romanen von Charles Dickens. In dem bereits Ende der 1830er-Jahre verfassten Oliver Twist wird der Leser durch enge, „von Leuten der ärmsten Schicht“ bewohnte Viertel geführt, die wesentlich „schmutziger und ärmlicher“ 72 als die geschäftigen Stadtbezirke sind. Baufällige Häuser, mit Unrat verstopfte Rinnsteine und Ratten prägen das Bild. Das an der Themse gelegene „Rotherhithe“ wird in dieser Hinsicht am verwahrlosesten dargestellt: Um dorthin zu gelangen, muß man sich durch ein Labyrinth enger, dreckiger Straßen winden, überfüllt von den rohesten und ärmsten Uferbewohnern, die dort je nach Gelegenheit ihre Ge70 Anon.: Die Geheimnisse von Berlin. Aus den Papieren eines Berliner Kriminal-Beamten, 6 Bde. Berlin 1844, S. 19 [=http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn :de:bvb:12-bsb10108545-7 (Stand: 05.12.2016)]. 71 Ebd., S. 24. 72 Dickens, Charles: Twist, Oliver. Roman. Hg. von Uwe Böker. [10. Aufl.] München 1994, S. 49.

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schäfte betreiben. Die billigsten und unappetitlichsten Nahrungsmittel sind in den Läden angehäuft, die gröbsten und schlechtesten Kleidungsstücke hängen an den Türen oder Flattern an den Mauern und Fenstern der Trödler. Nur mühsam kann man sich durch unbeschäftigte Arbeiter der niedrigsten Klasse, durch Last- und Kohlenträger, freche Weiber, zerlumpte Kinder und den Auswurf und Abschaum des Flusses Bahn brechen, belästigt von ekelhaften Anblicken und Gerüchen aus den rechts und links abzweigenden engen Gäßchen und betäubt von dem Gepolter schwerer Wagen, die große Massen von Handelswaren aus den Lagerhäusern befördern, die sich an jeder Ecke erheben. Kommt man endlich in abgelegenere und weniger belebte Straßen, als man sie bisher durchschritten hat, so geht man zwischen wankenden Häuserfronten dahin, die sich über das Pflaster neigen, vorbei an verfallenen Gemäuern, die bei den Schritten des Wanderers zittern, an halb eingestürzten Schornsteinen, Fenstern, die durch rostige, von Zeit und Schmutz fast ganz zerfressene Eisenstäbe gesichert sind, und allen sonst denkbaren Zeichen von Elend und Verwahrlosung.73

So sehr verdichtete, Faszination und Abscheu inszenierende Darstellungen des Schmutzigen hat es in der deutschsprachigen Erzählliteratur bis zum Aufkommen des Naturalismus nicht gegeben.

2.3 DIE CHOLERA UND DIE KRISE DER ALTEN GESUNDHEITSLEHRE Das wiederholte Auftreten der Cholera ab den 1830er-Jahren hatte im Bezug auf den Schmutz wie auch mit Blick auf das soziale Elend zu einer veränderten Gefahrenwahrnehmung geführt. Bereits als die von Goethe als „asiatische Hyäne“ 74 bezeichnete Erkrankung 1831/32 zum ersten Mal in Mitteleuropa aufgetaucht war, hatte sie kollektive Ängste entfesselt. Auch bei späteren Seuchenzügen machte sie sich stets „mit der Gewalt einer Naturkatastrophe im Bewußtsein der Öffentlichkeit bemerkbar.“75 Furcht verbreitete vor allem der Krankheitsverlauf. Personen, die eben noch gesund waren, litten bereits nach wenigen Stunden an heftigem Brechdurchfall und schmerzhaften Muskelkrämpfen, die Haut der Erkrankten färbte sich blau, ihre Blicke wurden stumpf. Die Schnelligkeit des Krankheitsverlaufs ängstigte die Menschen ebenso, wie die heftigen Symptome der Cholera. „Es gab keine Möglichkeit, sich mit der erniedrigenden Gewalt abzufinden, mit der sie den Körper heimsuchte“ 76. Dass selbst die Ärzte hinsichtlich der Ursache und der Verbreitungsweise der Cholera im Unklaren waren, dürfte die kollektive Furcht vor ihr noch verstärkt haben. Sie war eine unheimliche, letztlich nicht erklärbare Bedrohung. Bekannt war nur, dass sich die ursprünglich auf dem indischen Subkontinent endemisch auftretende Seuche plötzlich epidemisch zu verbreiten begonnen hatte. In Zeitungen ist von ihrem raschen Näherkommen berichtet worden. August 1829 war sie erstmals am

73 Ebd., S. 496-497. 74 Goethe, Johann W.: Brief an Adele Schopenhauer, 19.09.1831. In: Ders.: Goethes Werke, IV. Abt., Bd. 49. Goethes Briefe Juli 1831 - März 1831. Weimar 1909, S. 87. 75 Evans (1990), S. 297. 76 Ebd., S. 299.

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Rande Europas in Orenburg (Ural) ausgebrochen, im September 1830 wütete sie in Moskau, Polen hatte sie im April 1831, die Hafenstadt Riga im Juli desselben Jahres erreicht. Die Behörden reagierten mit Sperrmaßnahmen an den Grenzen, um ihre Weiterverbreitung zu verhindern. Trotzdem brach die Seuche im August in Berlin, im Oktober in Hamburg aus.77 Da in der Mehrzahl Personen aus den Unterschichten an ihr erkrankten, wurde sie von den zumeist weniger betroffenen Anhängern der Mittel- und Oberschichten inklusive der aus bürgerlichen Milieus stammenden Ärzte als „Krankheit des Proletariats“78 identifiziert und mit Unreinlichkeit assoziiert. In einer der zahlreichen zeitgenössischen Schriften über die Cholera aus dem Jahr 1838 wurden neben Waschfrauen „Schiffer, Hospitaliten, Gefangene, Sträflinge, Lastträger, Taglöhner, Fuhrleute, Dienstboten“ als diejenigen Bevölkerungsgruppen benannt, von denen besonders viele Personen erkranken würden, „wiewohl ein so mächtiger epidemischer Einfluß natürlich keinen Stand ganz unberührt gelassen hat.“79 Jeder Cholerazug80 konfrontierte die Bürger somit stets von Neuem mit der Erkenntnis, dass „nicht nur die Unterschichten in ihren Quartieren seuchengefährdet waren, sondern auch sie selbst, auch wenn sie sich noch so sehr abschotteten.“ 81 Tatsächlich „[a]usschlaggebend für ein erhöhtes Infektionsrisiko waren aber nicht Armut und Schmutz im Allgemeinen, sondern meistens der Umgang mit infiziertem Wasser.“82 Zwar war beobachtet worden, dass sich die Krankheit häufig entlang von Flüssen ausbreitete, doch machte sie Sprünge, die man sich nicht erklären konnte und blieb auch selten ausschließlich auf Flussregionen beschränkt. Da Wasser als Element der Reinheit galt, wurde es als mögliches Verbreitungsmedium kategorisch ausgeschlossen. „Daran zu rütteln war Tabu, war ein ressentimentgeladenes Denkverbot“83. Aus dem Grund musste die Ätiologie der Krankheit bis zur Entdeckung des Choleravibrions 1884 ein ungelöstes Rätsel bleiben. Bis dahin standen sich zwei Theorien gegenüber84: Die Anhänger der „sozial konnotierte[n] Kontagionstheorie“85 waren der Auffassung, dass sie nur durch Kontakt mit einem spezifischen Krankheitsstoff, einem Kontagium, übertragen werden könne. Sie sahen in den gesellschaftlichen Verhältnissen und in der durch den Handel angewachsenen Mobilität die wesentlichen Verursachungs- und Übertragungsmomente und plädierten deshalb für Zwangs- und Isolationsmaßnahmen, um die weitere Ausbreitung der Seuche zu verhindern. Doch schon während der ersten Krankheitswelle 77 Vgl. ebd., S. 294-295. 78 Pettenkofer, Max von: Über den Werth der Gesundheit für eine Stadt. Zwei populäre Vorlesungen, gehalten am 26. und 29. März 1873 im Verein für Volksbildung in München. Braunschweig 1873, S. 38. Im Folgenden als Pettenkofer (1873). 79 H.: Die Cholera. In: Deutsche Viertel-Jahrsschrift 1 (1838), H. 1, S. 52-91, S. 78. 80 In Deutschland tauchte die Cholera in den Jahren 1831/32, 1849, 1852, 1854/55, 1859, 1866, 1873/74, 1892/93 und 1904/05 auf, vgl. Labisch (1992), S. 127. 81 Reulecke, Jürgen: Einleitung. In: Ders. u. Castell Rüdenhausen, Adelheid Gr. zu: Stadt und Gesellschaft. Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1991, S. 11-19, S. 12. 82 Hardy (2005), S. 84. 83 Briese (2003), S. 157. 84 Zum Vergleich von Kontagions- und Miasmentheorie vgl. ebd., v.a. S. 27-28. 85 Ebd., S. 20

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stellten sich jene Maßnahmen als weitestgehend nutzlos heraus, was die althergebrachte, gewissermaßen „naturhafte Miasmentheorie“86 zu bestätigen schien. Deren Anhänger waren der Meinung, dass die Krankheit über in der Luft befindliche Miasmen verbreitet werde, die etwa durch die Zersetzung organischer Substanzen, durch verunreinigte Böden, sumpfiges oder fauliges Wasser entstehen und in die Atmosphäre gelangen würden. Damit konnten die Antikontagionisten zwar die Nutzlosigkeit der so genannten Seuchenkordons erklären, blendeten allerdings die sozialen Krankheitsursachen aus und konnten deshalb nicht ausreichend begründen, wieso die Cholera nicht alle Teile der Bevölkerung gleichermaßen befiel. Beide Modelle besaßen Erklärungsdefizite und wurden bis zur bakteriologischen Wende immer wieder neu angepasst. Als gewissermaßen kleinster gemeinsamer Nenner kristallisierte sich bereits um 1840 die Auffassung heraus, dass die Cholera nur prädisponierte Personen befallen würde: „Das war eine Sichtweise, auf die sich Kontagionisten und Miasmatiker gleichermaßen einigen konnten, denn es war zweitrangig, ob die Prädisposition eine Bereitschaft zur Aufnahme eines Kontagiums bedeutete oder mangelnde Widerstandskraft gegen eine ‚epidemische Konstitution‘.“87 Mit der Prädispositionshypothese ließen sich die schichtenspezifisch unterschiedlichen Kranken- und Sterbeziffern erklären.88 Die besonders häufig in den ärmeren Stadtteilen anzutreffende Unreinlichkeit, die Unsittlichkeit und der Alkoholismus waren Verhaltensweisen, mit denen die unterbürgerlichen Schichten Krankheiten „geradezu heraus[zufordern]“89 schienen. In den Augen der Bürger waren die Unterschichten deshalb „eigentlich selbst für ihr Unglück verantwortlich“, so dass Ute Frevert treffend von einem „Selbstschuld-Paradigma“90 spricht. Umgekehrt bestärkte die Prädispositionshypothese all diejenigen, die ihr alltägliches Leben „nach dem bürgerlichen Wertesystem ausrichteten. Mäßigung, Sauberkeit und moralisches Verhalten konnten demnach vor Ansteckung schützen.“91 Da sich die Seuche den zeitgenössischen Beobachtungen entsprechend vornehmlich in den „dumpfen, überfüllten Wohnungen“92 der Unterschichtsquartiere verbreitete und überdurchschnittlich oft 86 Ebd. 87 Hardy (2005), S. 85. 88 Da der größte Teil der Bevölkerung den Unterschichten angehörte, wäre zu fragen, ob die von den Zeitgenossen angenommene unterschiedliche soziale Verteilung der Cholerafälle auch proportional gesehen der Wahrheit entsprach. In der Forschung wurde diese Frage mehrfach gestellt und führte zu differenzierten Antworten, tendenziell wurde sie eher bejaht. Vgl. Evans (1990), S. 505-510 sowie Dettke (1995), S. 252-261. Auf S. 252 resümiert sie: „An den statistischen Betrachtungen hinsichtlich des Standes oder Gewerbes der an der Cholera Erkrankten ist ein gewisser, wenn auch nicht stringenter Zusammenhang zwischen Armut und erhöhter Morbidität und Mortalität hervorgetreten.“ Gleichsam betont Dettke, dass Regionen mit geringem Anteil an armer Bevölkerung keinesfalls per se choleraresistent waren, wozu sie auf die „eng bebauten, dicht bevölkerten und sehr wasserreichen“ (S. 252-253) Berliner Stadtviertel Berlin und Cölln verweist, in denen eine relativ hohe Cholerasterblichkeit vorherrschte. 89 Frevert (1984), S. 135. 90 Ebd. 91 Hardy (2005), S. 85. 92 Cholera (1838), S. 78.

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schlecht ernährte Personen, Kranke und Alkoholiker befiel, wurde von den Medizinern entsprechend eine verantwortungsvolle, auf Reinlichkeit und Ruhe, auf dem Genuss frischer Luft und gut verdaulicher, alkoholarmer Nahrung sowie auf der Meidung sexueller Ausschweifungen basierende, diätetische Lebensweise als erfolgversprechendste Form der Choleraprophylaxe anempfohlen. 93 (Allgemeinkulturelle Bedeutung und der hohe Stellenwert der Diätetik werden in Kap. 3.3.1 untersucht.) Auch wenn (und gerade weil) von ihnen „eine permanente Ansteckungsgefahr“94 auszugehen schien, rückten im Interesse der eigenen Gesundheit allmählich die Lebens- und Gesundheitsverhältnisse der Unterschichten in den Blick. Aus der gewonnenen Überzeugung heraus, dass die „äußere Lage zur Erkrankung disponirt“, wurde von vielen Ärzten zunehmend eine bessere „Unterstützung der Armen“ angemahnt. In der bereits zitierten Schrift zur Cholera aus dem Jahr 1838 heißt es demgemäß: Suppenanstalten, in welchen der Unvermögende statt roher, kalter und ausschließlich vegetabilischer Nahrung kräftige, warme Fleischsuppe findet, Austheilung von warmen Kleidungsstücken und wollenen Decken, Beschäftigung der Arbeitslosen, Reinlichkeit der Straßen, das sind die wahren Sperranstalten, welche die Ausbreitung der Cholera hindern. 95

Neben dem Ausbau kommunaler und staatlicher Präventionsinstrumentarien stieg ab dem ersten Auftauchen der Cholera auch die private und karitative Bereitschaft zur Wohltätigkeit96 an. Die verstärkt auf Sauberkeit und Sittlichkeit abzielende Erziehung in den Volksschulen (vgl. Kap. 1) kann in dem Sinne ebenfalls als eine gesundheitsprophylaktische Maßnahme gedeutet werden. Die im Aufsatz von 1838 überdies eingeforderte Verbesserung der „vernachlässigte[n] Reinlichkeits-Anstalten“97 in den Städten beschränkte sich in der Praxis zumeist auf strengere Vorschriften zur Straßensäuberung oder Abfallbeseitigung. Der städtische Schmutz wurde als Quelle des Choleramiasmas verdächtigt, während die nach heutigen hygienischen Maßstäben vielerorts mangelhafte Trinkwasserversorgung noch nicht in Frage gestellt wurde.

2.4 MODERNE HYGIENE UND DER SCHMUTZ IM DISKURS Hygieia98, die griechische Göttin der Gesundheit, war die Namenspatronin eines eigenständigen Wissenschaftszweiges, der sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Kraftfeld einer modernen, auf naturwissenschaftlichen, technischen und statistischen Methoden aufbauenden Medizin etablierte. Im Gegensatz zur Medizin als Lehre der 93 94 95 96

Vgl. Hardy (2005), S. 89. Frevert (1984), S. 128. Cholera (1838), S. 85. „Die Motive, welche zur Zeit der Cholera die tätige Philantropie beflügelten, waren in der Tat oft alles andere als uneigennützig. Man scheute sich auch nicht, dies in aller Öffentlichkeit zuzugeben“, betont Dettke (1995), S. 258, wobei sie als Belege Zeitungsnotizen aus dem Jahr 1831 anführt. 97 Cholera (1838), S. 91. 98 Zum antiken Hygieia-Kult vgl. Sobel, Hildegard: Hygieia. Die Göttin der Gesundheit. Darmstadt 1990.

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Krankheiten, handelte es sich bei der „Hygieine“ um ein Fach, das es „mit Erhaltung und Förderung der Gesundheit des einzelnen Menschen wie, als sog. öffentliche Gesundheitslehre, einer ganzen Bevölkerung zu thun hat.“99 Diesem grundsätzlichen Verständnis nach, wie es bereits Friedrich Oesterlen 1851 im ersten systematischen Handbuch der Hygieine vertrat, müssen sich in dem Fach die Theorie („Wissenschaft“) von den „Bedingungen dieses Gesundseins und Gesundbleibens“ mit der Praxis („Kunst“), auf theoretischer Basis „Mittel und Wege“ 100 zur Erhaltung und Verbesserung individueller und öffentlicher Gesundheit aufzuzeigen, verbinden. Von Anfang an galt die Hygiene somit als eine praxisorientierte Wissenschaft, die gesundheitsförderliches Wissen und Analysemethoden bereitstellte und gesundheitstechnische Verfahren entwickelte. Nach Alfons Labisch können drei Phasen der modernen Hygiene voneinander unterschieden werden101: • Experimentelle Hygiene ab ca. 1850; • Bakteriologie ab ca. 1880; • Sozialhygiene ab ca. 1895.

Auch wenn die Entwicklung realiter „vielschichtig und verwoben“102 war, wird der idealtypischen Phasenunterteilung der besseren Veranschaulichung wegen gefolgt. Der Hygienediskurs gewann im Verlauf des 19. Jahrhunderts sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich eine normative, verhaltensregulierende und handlungsanleitende Qualität. Um 1900 verlangte die im Zeichen der Gesundheit stehende Diskurslogik Aufmerksamkeit für alle als unhygienisch erkannten Einflüsse, die es mit den zur Verfügung stehenden modernen Hygienetechniken zu bewältigen galt. 2.4.1 Experimentelle Hygiene Die um 1850 einsetzende Verwissenschaftlichung der Hygiene vermittels statistischer, physikochemischer und technischer Methoden lässt sich als eine Reaktion auf die Krise der alten Medizin deuten, deren Rezepte letztlich nicht dazu geführt hatten, die Cholera zu besiegen. Im Vorwort seiner 2. Auflage des Handbuch[s] der Hy-

99 Oesterlen, Fr[iedrich]: Handbuch der Hygieine, der privaten und öffentlichen. [2. Aufl.] Tübingen 1857, S. 1. Im Folgenden als Oesterlen (1857). 100 Ebd. 101 Die Unterteilung folgt Labisch (1992), S. 164. ‒ Ausführlicher geht er in folgenden Aufsätzen auf die drei Phasen ein: Ders.: Experimentelle Hygiene, Bakteriologie, soziale Hygiene. Konzeptionen, Interventionen, soziale Träger. Eine idealtypische Übersicht. In: Jürgen Reulecke u. Adelheid Gräfin zu Castell-Rüdinghausen (Hgg.): Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Stuttgart 1991, S. 37-47. ‒ Ders.: Sozialhygiene. Gesundheitswissenschaften und öffentliche Gesundheitssicherung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: „Sei sauber …!“ Eine Geschichte der Hygiene und öffentlichen Gesundheitsvorsorge in Europa. Köln 2004, S. 258-267. 102 Labisch (1992), S. 164.

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gieine von 1857 hat Oesterlen auf diese Entwicklung verwiesen, indem er beteuerte, dass seit der ersten Auflage des Werkes sechs Jahre zuvor die Hygieine etwas ganz anderes geworden [ist] als die alte, schlicht empirische Gesundheitslehre; indem sie Naturwissenschaften, Statistik, Technik u.s.f. auf Gesundheit und Leben anwenden lernte, ist sie eine Wissenschaft geworden und zwar der umfassendsten wie nützlichsten und interessantesten eine.103

Oesterlen selbst stand mit seinem Kompendium auf der Schwelle zwischen alter Gesundheitslehre und moderner Hygienewissenschaft. Als einer der Ersten forderte er die naturwissenschaftlich-experimentelle Begründung der Hygiene, wobei er dafür plädierte, den analytischen Blick auf alle möglichen mit der Gesundheit in Zusammenhang stehenden Dinge und Bedingungen zu erweitern. Selbstverständlich müsse er auch auf die menschlichen Abfallstoffe und den Umgang mit ihnen gerichtet werden. Wolle man die hygienischen Zustände des Einzelnen und der Allgemeinheit verbessern, dann dürfe es ein Forscher beispielsweise auch „nicht verschmäh[en], sich eifrigst mit Cloaken zu beschäftigen“104, schrieb Oesterlen pointiert. Allerdings hielt er an der Vorstellung eines wechselseitigen Zusammenhangs von körperlicher und geistig-sittlicher Gesundheit fest. Sowohl der menschliche Körper als auch „Geist und Charakter“ benötigten seiner Meinung nach „Reinlichkeit“ 105 und „hygieinische Pflege“106. Diätetik des Geistes, Psychologie, Sittenlehre und Erziehungskunst standen deshalb in einer engen Verbindung mit der Gesundheitslehre, wie Oesterlen sie einforderte. Damit stellte sein Werk „den Endpunkt einer Entwicklung dar.“107 Nach ihm wurden private und öffentliche Hygiene argumentativ von Moral entkoppelt und quasi materialistisch auf die körperliche Gesundheit der Menschen bezogen. Daraus lässt sich allerdings nicht schließen, dass dem Konnex von Moral und Gesundheit im hygienischen Diskurs in der Folge keinerlei Bedeutung mehr zukam. Alfons Labisch betont, dass er im Verborgenen weiterhin wirkmächtig blieb: Die Hygiene zu ‚vernaturwissenschaftlichen‘ führte dazu, daß ihr Begründungszusammenhang ‚verheimlicht‘ wurde. Es entstand ein ‚hidden curriculum‘ der Gesundheit, ein hinter Gesundheit verborgener Lehrplan, Individuum und Gesellschaft mittels des Gesundheitsbegriffs zu einem angemessenen Verhalten zu bewegen. 108

Einflussreichster Forscher auf dem Gebiet der experimentellen Hygiene war Max von Pettenkofer. Während der Choleraepidemie in München 1854 hatte er zu eruieren versucht, weshalb manche Stadtteile betroffen waren, während andere Gegenden nahezu komplett von der Seuche verschont blieben. Bei der Inspektion besonders stark heimgesuchter Wohnbezirke, ist ihm der schlechte Zustand vieler Abtrittsgru103 104 105 106

Oesterlen (1857), S. V. Ebd., S. 8. Ebd., S. 13. Dem Thema „Geistig-sittliches Leben und dessen hygieinische Pflege“ widmete Oesterlen ein ganzes Kapitel, siehe ebd., S. 670-685. 107 Labisch (1992), S. 120. 108 Ebd., S. 118.

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ben aufgefallen, deren Durchlässigkeit er bemängelte. Diese Beobachtung war die Basis für seine „Bodentheorie“: Die, mit den seiner Meinung nach nicht direkt ansteckenden Krankheitskeimen versehenen Exkremente der Cholerakranken würden in die Böden einsickern und sie verunreinigen. Durch spezifische örtliche und zeitliche Dispositionen hervorgerufen, würden dort Fäulnis- und Gärungsprozesse einsetzen, als deren Produkt schließlich das miasmatische Choleragift entströmen würde. 109 Pettenkofers ‚Bodentheorie‘ setzte sich innerhalb kürzester Zeit wohl einerseits deshalb durch, weil sie unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Theorieansätze von Kontagionisten und Miasmatikern miteinander verband, andererseits aber auch, weil er mit ihr, wie Michael Stolberg beton, „zugleich eine neue Theorie der Seuchenbekämpfung aufzeigte“110, die im Kern darin bestand, mittels Assanierungsmaßnahmen die Verunreinigung der Böden durch Fäkalstoffe zu verhindern. Im Gegensatz zu den traditionellen Sperr- und Absonderungsmaßnahmen gegen die Einschleppung und Verbreitung des Keims, aber auch im Gegensatz zu den meist nur ad hoc durchgeführten Säuberungsmaßnahmen, der Beseitigung von Unrat, des Verbots, in den Straßen zu urinieren etc. begründeten Pettenkofers Thesen langfristige, planmäßige Assanierungsbestrebungen vor allem in der städtischen Umwelt, die vielen Bürgern ohnehin zunehmend ein wichtiges Anliegen geworden waren.111

Pettenkofer selbst setzte sich öffentlichkeitswirksam für den Bau „einer guten Canalisation, von reichlicher Wasserversorgung und guten Abtrittsanlagen“112 ein. Über den Einfluss der ‚Bodentheorie‘ auf die Assanierungen der Städte hinaus, waren er und andere Wissenschaftler noch an einer Vielzahl weiterer Entwicklungen auf dem Gebiet der Hygiene (Kleidungshygiene, Wohnhygiene, Krankenhaushygiene, Lufthygiene etc.) beteiligt. Bereits die Forschungen in der präbakteriologischen Phase führten damit zu einer Verbesserung zahlreicher gesundheitstechnischer Verfahren. Darüber hinaus engagierte sich Pettenkofer für eine Popularisierung hygienischen Wissens. In einem Artikel in der weit verbreiteten Familienzeitschrift Die Gartenlaube aus dem Jahr 1878 sprach er sich dafür aus, die Erkenntnisse der modernen wissenschaftlichen Gesundheitslehre nicht nur an Spezialisten zu adressieren. Stattdessen gälte es, „gesunde Anschauungen über die hygienischen Fragen, die jetzt überall aufgeworfen werden, im Volke allgemein zu verbreiten,“ um auf diese Weise „in den weitesten Kreisen“113 ein Grundverständnis für hygienische Zusammenhänge zu wecken. In populären Aufsätzen verbreitete er sein Verständnis von privater Hygiene und warb für „Mäßigkeit, Sauberkeit, regelmäßiges Baden, eine ‚vernünftige

109 Vgl. Stolberg, Michael: Theorie und Praxis der Cholerabekämpfung im 19. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich. In: Eckart, Wolfgang U. u. Jütte, Robert (Hgg.): Das europäische Gesundheitssystem. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in historischer Perspektive. Stuttgart 1994, S. 53-106, S. 71-72. 110 Ebd., S. 73. 111 Ebd. 112 Pettenkofer (1873), S. 27. 113 Pettenkofer, Max von: Was ist und was will „Gesundheitslehre“? In: Die Gartenlaube (1878), S. 328-329, S. 329.

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Ernährung‘, warme Kleidung und vor allem frische Luft.“ 114 In einem 1873 im Münchener Volksbildungsverein gehaltenen Vortrag Über den Werth der Gesundheit für eine Stadt betonte er etwa auch die gesundheitsförderliche Bedeutung „eines geordneten Familienlebens“, wohingegen „[z]ügellose, unsittliche und unmoralische Menschen“ nicht nur ihre eigene, sondern auch die Gesundheit „ihrer Angehörigen und Nachkommen“115 beeinträchtigen würden. Das „hidden curriculum“ 116, von dem Labisch spricht, lag auch dem Hygieneverständnis Pettenkofers zugrunde. Der bekannteste Akteur auf dem Gebiet der experimentellen Hygiene sah „Sittlichkeit und Moral“ nicht nur als ein „ideales Gut“, sondern als ein „ebenso reales“ an, das auch die „öffentliche Gesundheit“117 positiv beeinflussen würde: „Reinlichkeit und Sittlichkeit in allen Beziehungen soll auch unser Wahlspruch sein“118, appellierte er an sein Publikum. Des Weiteren forderte er mehr „Wohlthätigkeit“, wobei er die Furcht vor sozialer Ansteckung als hinreichenden Beweggrund anführte: In jeder grösseren Gemeinde gibt es Viele, welche nicht die Mittel haben, um sich zu verschaffen, was sie zu einem gesunden Leben unumgänglich brauchen, und da müssen Diejenigen, welche mehr haben, als sie brauchen, etwas beisteuern, und zwar in ihrem eigenen Interesse. Wenn die Wohnungen der Armen in einer Stadt Typhus- und Choleranester werden, so ist das durchaus nicht gleichgiltig auch für die Gesundheit der Reichsten. 119

Das ‚hygienische Programm‘, für das Pettenkofer warb, war übrigens nicht politisch motiviert. Obwohl er die „gesetzliche[n] und sociale[n] Verhältnisse“ in ihrem „Einfluss auf die Gesundheit und Sterblichkeit einer Bevölkerung“ als Problem anerkannte, betonte er, dass allen Versuchen zur Minderung sozialer Not eine gründliche Reinlichkeitserziehung der Unterschichten vorangehen müsse: Die Aermeren erkranken gewiss nicht deshalb mehr, als die Reicheren, weil sie weniger Geld in der Tasche haben, sondern nur, insofern sie an Nothwendigem Mangel leiden. Mit der Armuth vergesellschaftet sich auch gern Unreinlichkeit, und Unreinlichkeit ist das gefährlichste Brutnest für alle Krankheiten. Es würde nicht genügen, den Armen das Nothwendigste zu geben, was Nahrung, Wohnung und Kleidung anlangt, wenn man sie nicht zugleich zu grösster Reinlichkeit veranlassen kann.120

Pettenkofers Verständnis nach war die Verallgemeinerung von Hygienestandards der sozialen Frage vorgelagert und von weitaus größerer Bedeutung.

114 115 116 117 118 119 120

Evans (1990), S. 311. Pettenkofer (1873), S. 38. Labisch (1992), S. 118. Pettenkofer (1873), S. 38. Ebd. Ebd., S. 39. Ebd., S. 38.

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2.4.2 Bakteriologie Nachdem Robert Koch 1882 den Tuberkuloseerreger aufgespürt hatte, etablierte sich die Bakteriologie schlagartig auf dem wissenschaftlichen Feld. Die Entdeckung des Choleravibrions hat dann zwei Jahre später ein großes öffentliches Aufsehen bewirkt, das auch medial inszeniert wurde.121 Olaf Briese führt den Grund für den „Bakterientaumel des Jahres 1884“122 auf die Tatsache zurück, dass es eben die Cholera gewesen ist, die von Koch entschlüsselt worden war: „Die Ängste der Vergangenheit waren nachholend bewältigt.“123 Eine wichtige Rolle spielte es dabei, dass der die Cholera auslösende Kommabazillus nun sichtbar geworden war, womit sie nicht länger eine unheimliche weil unsichtbare Bedrohung blieb. Die visualisierte Darstellung mikroskopisch vergrößerter Erreger schuf das Bild der unveränderlichen, klar abgegrenzten, einfach zu identifizierenden und siegreich zu bekämpfenden Entität „Bakterium“. Es etablierte sich relativ schnell und hielt sich zäh. So wurde unmittelbar nach Kochs ersten Fotos von Choleraerregern die Öffentlichkeit qua ‚Gartenlaube‘ mit diesen Bildern vertraut gemacht.124

Nunmehr herrschte vermeintliche Klarheit darüber, wie gegen Infektionskrankheiten vorzugehen wäre. Desinfektion125, also das Abtöten des Erregers, wurde als ein effektives Verfahren angesehen; auch Quarantänemaßnahmen wurden nach Kochs Entdeckungen seuchenprophylaktisch wieder als sinnvoll eingeschätzt.126 Da insbesondere die Exkremente der Cholerakranken als hochinfektiös erkannt worden waren, betrafen die wichtigsten Erkenntnisse jedoch den sorgsamen Umgang mit Abwässern. Vor allem setzte sich die Überzeugung durch, dass sie nicht mehr ungefiltert in die Flüsse geleitet werden durften, aus denen dann flussabwärts womöglich wiederum Trinkwasser gefördert werden mochte. Für die private Nutzung wurde das Abkochen des Wassers als sinnvoll betrachtet. Durch all dieses Wissen verloren Infektionskrankheiten wie die Cholera ihre Bedrohlichkeit. Fortan sah man sich in der Lage, ihnen „besser gerüstet entgegentreten [zu] können, als je in früheren Zeiten“ 127: so zumindest lautete eine Überzeugung, die 1884 in der äußerst populären Gartenlaube verbreitet wurde. 121 Zur Inszenierung bakteriologischen Wissens vgl. die Aufsätze von Gradmann, Christoph: „Auf Collegen, zum fröhlichen Krieg“. Popularisierte Bakteriologie im Wilhelminischen Zeitalter. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 13 (1994), S. 33-54. ‒ Ders.: Die kleinsten, aber gefährlichsten Feinde der Menschheit. Bakteriologie, Sprache und Politik im Deutschen Kaiserreich. In: Samida, Stefanie (Hg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2011, S. 61-82. 122 Briese (2003), S. 315. 123 Ebd. 124 Ebd., S. 346. Bei dem erwähnten Artikel handelt es sich um Valerius: Der Kommabacillus. In: Die Gartenlaube (1884), S. 598-599. 125 Einen historischen Abriss bietet der Aufsatz von Koppitz, Ulrich u. Woelk, Wolfgang: Die Desinfektionsmaschinerie. In: Paedagogica Historica 33 (1997), H. 3, S. 833-860. 126 Vgl. Evans (1990), S. 342-343. 127 Valerius: Die Cholera-Gefahr. In: Die Gartenlaube (1884), S. 500-502, S. 502.

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Fachlich lösten die Erkenntnisse Kochs und Louis Pasteurs einen Paradigmenwechsel aus, der zweifelsfrei als wissenschaftliche Revolution gewertet werden muss: „Das bakterielle Paradigma verdrängte die miasmatische Doktrin“ 128. Ein Zurück hinter das Wissen um die mikrobiellen Krankheitserreger konnte es fortan nicht mehr geben. Was aber veränderte sich mit Blick auf den Schmutz? Als unspezifische, diffuse Kategorie genügte er den analytisch-wissenschaftlichen Ansprüchen moderner Hygiene nur noch sehr bedingt. Als umgangssprachlicher Oberbegriff für Stoffe, die mit infektiösen Bakterien versetzt sein mochten, taugte er aber immernoch. Eine hygienische Lebensweise ließ sich weiterhin mit dem Verweis auf potentiell gesundheitsgefährdende Unreinheit propagieren. In einem Unreinlichkeit als Krankheitsursache betitelten Vortrag Max Rebers aus dem Jahr 1907 wurden diverse ‚unreine‘ Materien angeführt, die die Menschen in ihrem Alltag gesundheitlich beeinträchtigen konnten. Nun wurden auch kleinste Stoffe als problematisch erkannt, die bislang als harmlos oder irrelevant gegolten hatten. Staub wurde erwähnt, der „zirka aus unorganischen und aus organischen Stoffen“129 bestehen würde. Winzige „Staubteilchen“ bildeten einen „Schmutz“, der selbst in der „scheinbar klaren Luft eines Zimmers“130 herumwirbeln würde. Die neuen mikrobiologischen Erkenntnisse haben das Kategoriensystem des Schmutzes verfeinert. Nun unterschied man unterschiedlichste Staubarten (Kohlenstaub, Steinstaub, Straßenstaub, pflanzlicher Staub, Tabakrauch) voneinander. Man wusste nun nicht nur, dass sie Entzündungen der Atemwegsorgane hervorrufen konnten. Man sollte sie auch deshalb „fürchten“, weil sie oft „krankmachende Bakterien“131 mit sich führen konnten. Aus dem gleichen Grund gerieten auch andere kleinste Partikel wie Speicheltröpfchen, die beim Husten oder Sprechen in die Luft gerieten oder beim „Abküssen der kleinen Kinder“ 132 übertragen würden, in den Fokus. Auch die „unreinen Taschentücher“ galten nun als „Bazillenträger“133 und sollten gebraucht niemals an Kinder weitergereicht werden. Der hygienische Blick wurde schließlich auf alle Lebensmittel angewandt, deren Verunreinigungen unbedingt vermieden werden sollten.134 Die Bakteriologie, wie Koch sie verfolgte, ist jedoch auch mit gewissen Verlusten einhergegangen.135 Komplizierte Zusammenhänge, mit denen das Krankheitsgeschehen in der präbakteriologischen Phase zu erklären versucht wurden, sind nun radikal auf einen Auslöser hin reduziert worden. Da vorher ein Ensemble äußerer Ursachen und innerer Bedingungen als Krankheitsursachen angenommen wurde, hatten sich Krankheiten häufig einem zielgerichteten ärztlichen Handeln entzogen. Fortan konnten sie mit Blick auf den Erreger gezielt und mit beeindruckenden Erfolgen be128 Briese (2003), S. 316. 129 Reber, Max: Unreinlichkeit als Krankheitsursache. Vortrag, gehalten in Brunnen am 10. November 1907. In: Das Rote Kreuz. Schweizerische Monatsschrift für Samariterwesen, Krankenpflege und Volksgesundheitspflege 16 (1908), H. 8, S. 145-149 u. H. 9, S. 169172, S. 145. 130 Ebd. 131 Ebd., S. 146. 132 Ebd., S. 147. 133 Ebd. 134 Vgl. ebd., S. 169-172. 135 Vgl. Briese (2003), S. 318-330.

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kämpft werden. Damit entschwanden allerdings auch soziale Krankheitsdispositionen aus dem Blick der Mediziner und Hygieniker. Über Schmutz und soziale Not äußerte sich Robert Koch wiefolgt: Es folgt ferner daraus, dass die Infektionskrankheiten und insbesondere die Kriegsseuchen niemals allein durch Schmutz und Unrath, durch die Ausdünstungen dicht zusammengehäufter Menschen, durch Hunger, Armuth, Entbehrungen, überhaupt nicht durch die Summe der Faktoren, welche man gewöhnlich mit dem Ausdruck „sociales Elend“ zusammenfasst, auch nicht durch klimatische Einflüsse entstehen, sondern nur durch die Verschleppung ihrer specifischen Keime, deren Vermehrung und Ausbreitung allerdings durch die genannten Einflüsse begünstigt werden können. Täglich haben wir Gelegenheit uns von der Richtigkeit dieses Satzes zu überzeugen; wir sehen, wie ein grosser Theil der Menschen Jahr aus, Jahr ein, selbst das ganze Leben hindurch in Schmutz und Elend verbringt und dennoch von Seuchen verschont bleibt; sie erkranken nur dann, wenn sie mit den specifischen Infektionsstoffen in Berührung kommen.136

2.4.3 Sozialhygiene Die „gewollt reduktive Unterdetermination“137 Kochs setzte sich mittelfristig betrachtet nicht durch. Direkt auf dessen Zitat Bezug nehmend, wies der Epidemiologe und Sozialhygieniker Adolf Gottstein die darin getätigte Schlussfolgerung zurück. Zwar sah er die „Kontaktinfektion“ in einem 1897 veröffentlichten epidemiologischen Fachbuch als „selbstverständliche Bedingung für das Zustandekommen einer jeden bakteriellen Erkrankung“138 an, doch betonte er, dass sie keinesfalls „identisch mit der Entstehung von Krankheitszuständen“139 wäre. Immunitäten und Dispositionen träten hinzu, die dazu führten, dass die Krankheit bei manchen Personen ausbrechen, bei anderen eben nicht ausbrechen würde. Entsprechend wurden in der Phase der Sozialhygiene ab den 1890er-Jahre insbesondere soziale Dispositionen als mögliche krankheitsbedingende Momente reaktiviert. Die Sozialhygiene übernahm jedoch den wertneutralen, von „moralischen und politischen Nebenklängen“140 befreiten Gesundheitsbegriff, wie er sich seit der bakteriologischen Wende etabliert hatte. Wenn etwa an eine gesundheitsgerechte Lebensweise appelliert wurde, kam Gesundheit als ‚Wert an sich‘ nun ohne moralische Nebenargumentationen aus.141 Jene ‚Nebenklänge‘ sind aber durchaus nicht gänzlich aus dem hygienischen Diskurs verschwunden, sie bestimmten ihn allerdings nicht mehr mit. Sittlichkeit war an sich keine Bedingung mehr für Gesundheit, ein an hygienischer Sauberkeit orientiertes Verhalten konnte aber weiterhin als positive Basis 136 Koch, Robert: Die Bekämpfung der Infektionskrankheiten insbesondere der Kriegsseuchen. Rede, gehalten zur Feier des Stiftungsrates der militärärztlichen Bildungsanstalten am 2. August 1888. Berlin 1888, S. 17. 137 Briese (2003), S. 320. 138 Gottstein Adolf: Allgemeine Epidemiologie. Leipzig 1897, S. 305. Hervorhebung im Original. 139 Ebd., S. 304. 140 Labisch (1992), S. 144. 141 Vgl. ebd., S. 168.

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sittlichen Verhaltens propagiert werden. Dass die Sittlichkeit im ‚geheimen Lehrplan‘ der Hygiene weiterhin ihren Platz beanspruchen konnte, offenbaren die Vorträge über die Gesundheitslehre von Hans Buchner, in denen sich der Bakteriologe und Sozialhygieniker 1898 mit deutlich modernekritischem Gestus folgendermaßen äußerte: Ich möchte behaupten, daß es ein nicht genug zu beklagender Irrtum der modernen Menschheit ist, wenn sie wähnt, daß Leibliches und Sittliches ganz verschiedene Dinge seien, die nichts miteinander zu thun haben, und daß man körperliche Tüchtigkeit mit Erfolg anstreben könne, ohne sich zugleich um die sittliche Tüchtigkeit zu bekümmern, eine Verirrung, gegen die schon der berühmte Arzt Hufeland vor 100 Jahren in seiner ‚Makrobiotik‘ auf das entschiedenste angekämpft hat. Solange diese, bei den Alten selbstverständliche Überzeugung von der Einheitlichkeit und Untrennbarkeit des menschlichen Wesens nicht wieder kraftvoll auferwacht, solange kann die moderne Menschheit äußerliche Fortschritte machen, innerlich aber bleibt die Kultur krank.142

In welcher Weise in der sozialhygienischen Phase konkrete, auf die Gesundheit der Bevölkerung abzielende Maßnahmen ergriffen wurden, wird in Kapitel 2.6 aufgezeigt.

2.5 ASSANIERUNGEN: DIE REINIGUNG DER STÄDTE IM ZEICHEN DER GESUNDHEIT Die Assanierungen der Städte143 wurden in Deutschland mit Ausnahme Hamburgs ab den 1860er-Jahren mit dem Ziel in die Wege geleitet, sie, wie es die Wortbedeutung bereits verrät, gesünder zu machen. Städtereinigungsmaßnahmen standen zunächst klar im Zentrum der Sanierungsbestrebungen. Einerseits musste die Zufuhr sauberen und gesundheitlich unbedenklichen Wassers gewährleistet sein, andererseits galt es, Abfallstoffe ohne allzu großen Aufwand aus den Städten zu entfernen. Vier Faktoren haben die zügige Entwicklung der modernen Städtereinigung vor allen Dingen begünstigt144: • Sachzwang

Dass die vorhandenen Entsorgungsinfrastrukturen angesichts der angestiegenen Bevölkerungszahlen und der dadurch bedingten größeren Mengen an zu bewältigenden Schmutzstoffen überfordert waren, wurde weiter oben bereits erwähnt. Übel riechen-

142 Buchner, H[ans]: Acht Vorträge aus der Gesundheitslehre. Leipzig 1898, S. 2. Im Folgenden als Buchner (1898). Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. 143 Ein Überblick über das Feld bietet der Aufsatz von Sarasin, Philipp: Die moderne Stadt als hygienisches Projekt. Zum Konzept der „Assanierung“ der Städte im Europa des 19. Jahrhunderts. In: Lampugnani, Vittorio M.; Frey, Katia; Perotti, Eliana (Hgg.): Stadt & Text. Zur Ideengeschichte des Städtebaus im Spiegel theoretischer Schriften seit dem 18. Jahrhundert. Berlin 2011, S. 99-112. 144 Einige davon zählt auch Simson (1983) in seiner Einleitung auf, siehe S. 3-12.

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de und überfließende Rinnsteine und Abortgruben zeigten an, dass neue Systeme dringend notwendig waren. Sie stellten einen Sachzwang dar, dem sich die Kommunen, soweit sie nicht das öffentliche Zusammenleben aufs Spiel setzen wollten, stellen mussten.145 Gleiches gilt angesichts des gestiegenen Wasserbedarfs übrigens auch für die Frischwasserversorgung. Brunnensysteme waren überfordert, alte Leitungssysteme in oft schlechtem Zustand. • Hygienisches Problembewusstsein Durch die Erkenntnisse auf dem Gebiet der experimentellen Hygiene, insbesondere durch Pettenkofers ‚Bodentheorie‘, hat sich ein hygienisches Problembewusstsein etabliert. Die rasche Entfernung von Fäkalien und sonstigen Schmutzstoffen aus dem städtischen Raum wurde als notwendig erkannt, um Krankheiten und Epidemien wie die Cholera verhindern zu können. „[E]inst galt es nur Schmutz hinauszuschaffen, jetzt gilt es die Gesundheit der Bewohner zu heben“146, resümierte der zeitgenössische Städtereinigungsspezialist C. K. Aird dieses Umdenken treffend. Auch die Versorgung mit sauberem Wasser wurde bereits in der präbakteriologischen Phase befürwortet; Pettenkofers Worten nach war sie „ein Hauptmittel für die möglichste Reinlichkeit im Hause“147 und deshalb auch für die Gesundheit der Menschen förderlich. Spätestens die große Choleraepidemie von 1866 hat in gesundheitlicher Hinsicht bei den kommunalen Entscheidungsträgern schließlich die letzten Zweifel daran zerstreut, „daß durchgreifende städtehygienische Reformen notwendig waren.“ 148 • Verbesserte Städtereinigungstechniken

Vor dem Hintergrund der wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse sind neue Techniken der Städtereinigung entwickelt worden, die sowohl effizient als auch dezent waren und eine konkrete Verbesserung der hygienischen Situation versprachen. Für die damaligen Hygieniker, Ingenieure und Architekten bestand die Aufgabe im Kanalisationsfach nach Aird darin, aus dem städtischen Häusermeer mit möglichster Geschwindigkeit viele Tausende von Cubikmetern an Unrath und an schmutzigem Wasser [fortzu]schaffen, ohne die Bewohner irgendwie zu belästigen und ohne dass der Boden, auf dem wir wohnen, ohne dass das Wasser, das wir trinken, und ohne dass die Luft, die wir einathmen, in irgend einer Weise verunreinigt werde[.] 149

• Volkswirtschaftlicher Nutzen

Der mittel- und langfristige finanzielle Nutzen neuer Systeme musste höher eingeschätzt werden, als die Kosten ihrer Installation. Aufgrund unterschiedlicher lokaler 145 Vgl. Hauser, Susanne: „Reinlichkeit, Ordnung und Schönheit“. Zur Diskussion über Kanalisation im 19. Jahrhundert. In: Die alte Stadt 19 (1992), H. 4, S. 292-312, S. 304. Im Folgenden als Hauser (1992). 146 Aird, C.K.: Ein Streifzug durch das Gebiet moderner Städtereinigungsfragen. In: Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 8 (1889), S. 207-222, S. 272-278, S. 329-349, S. 393-428, S. 404. Im Folgenden als Aird (1889). 147 Pettenkofer (1873), S. 28. 148 Simson (1983), S. 9. 149 Aird (1889), S. 396-397.

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Verhältnisse konnte diese Kalkulation freilich von Kommune zu Kommune verschieden ausfallen. Von fachlicher Seite wurde versucht, die Bedenken zu zerstreuen. Pettenkofer, der oft als Gutachter in Fragen der Städtereinigung zurate gezogen wurde, hob den volkswirtschaftlichen Wert der Gesundheit hervor und argumentierte, dass sich der Bau von Kanalisationssystemen schon allein deshalb rechnen würde, weil mit gesunkener Krankenzahlen auch der wirtschaftliche Schaden (Ausfall an Arbeitskraft, Verdienstausfall, steuerliche Mindereinnahmen etc.) sinken würde. 150 Damit lieferte er ein kalkulierbares Argument für die Wirtschaftlichkeit moderner Stadtassanierungen. Das hygienische Problembewusstsein war bereits durch das englische ‚Sanitary Movement‘ bestärkt worden.151 Dabei hatte es sich um eine sozialreformerische Bewegung gehandelt, die sich in den 1830er- und 1840er-Jahren die Verbesserung der gesundheitlichen und moralischen Zustände in den englischen Industriestädten zum Ziel setzte. Der allgegenwärtige städtische Schmutz, die miserablen Lebensbedingungen der Arbeiter, die hohe Wohndichte, das mit Exkrementen versetzte Wasser und die schlechte Ernährung galten Edwin Chadwick, dem Kopf der englischen Sanitätsbewegung, als Hauptursachen der Cholera und anderer Krankheiten. Gleichzeitig führte er die krankheitsbedingenden Faktoren als Ursachen für unmoralisches Verhalten an. In seinem Sanitary Report von 1842 schrieb er etwa: „Die Fiebernester und die Stätten der physischen Verlotterung sind zugleich die Stätten der moralischen Verdorbenheit, der Unordnung und des Verbrechens.“152 Die rasche Beseitigung von Fäkalstoffen aus den Städten und die Versorgung mit Frischwasser waren Kernforderungen Chadwicks, an die er die Hoffnung knüpfte, dass die Menschen dadurch auch in ihrem Alltag zu einer sowohl körperlich als auch moralisch sauberen Lebensführung ermutigt würden. Von den reformerischen Ideen aus England führte eine direkte Linie nach Hamburg.153 Dort hatte der in fachlichem Kontakt mit Chadwick stehende Ingenieur William Lindley bereits 1843 ein Kanalisationssystem geplant, das dem Wunsch der nach dem großflächigen Innenstadtbrand (5.-8. Mai 1842) eingesetzten Rat- und Bürgerdeputation entsprechen sollte, die Hansestadt „mit den bestentwässerten englischen Städten gleichgestellt zu sehen.“154 Trotz technischer Bedenken und finanzieller Vorbehalte war das Projekt schließlich beschlossen und in den folgenden Jahrzehnten realisiert worden. 1853 wurde der erste Abschnitt freigegeben, 1860, als in den meisten anderen deutschen Städten erst begonnen wurde, das Für und Wider von Stadtassanierungsmaßnahmen zu diskutieren, waren schon fünfzig Kanalkilometer in Betrieb genommen, in den 1890er-Jahren war dann das gesamte Stadtgebiet ange150 Vgl. Pettenkofer (1873), passim. 151 Vgl. Hamlin, Christopher: Public Health and Social Justice in the age of Chadwick. Britain, 1800-1854. Cambridge 1998. 152 Chadwick, Edwin: Report on the Sanitary Condition of the Labouring Population of Great Britain. London 1842, zit. nach Lindner, Rolf: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt am Main 2004, S. 20. Im Folgenden als Lindner (2004). 153 Vgl. Hardy (2005), S. 98-107. 154 Zit. nach Simson (1983), S. 86.

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schlossen.155 Neben der Kanalisation wurde nach Lindleys Plänen außerdem ein zentrales Wasserversorgungsnetz inklusive neuer Wasserwerke eingerichtet, an das ebenfalls um 1890 nahezu alle Häuser Hamburgs angeschlossen waren. 156 Aus jenem Netz wurde ab 1855 auch eine öffentliche Bade- und Waschanstalt gespeist. Ganz im Stile Chadwicks hatte sich Lindley mit sozialreformerischem Elan für sie eingesetzt, indem er ein ganzes Bündel an Argumenten ausbreitete: Körperliche Unreinlichkeit erzeugt sehr bald Mangel an Selbstachtung, Rohheit und Laster. Die Erfahrung lehrt, daß wer schmutzig gekleidet ist, sich scheut, anständige Orte zu besuchen und deshalb um so mehr in den niedrigsten Wirtshäusern sich aufhält. Können einzelne Feierabendstunden zur Erfrischung im Bade verwandt werden, dann zieht es in den meisten Fällen auf [sic] so lange vom Wirtshause ab […]. Eine unreinliche Bevölkerung wird verhältnismäßig viel von Krankheit und Sterbefällen heimgesucht, und da die ärmeren bei jedem Unfalle dieser Art, wegen Deckung der Kosten, auf die Staatscasse angewiesen sind: so richtet sich diese Steuerlast zum großen Theile nach der Reinlichkeit der Bevölkerung. Eine unreinliche Bevölkerung verwildert und liefert um so mehr Vergehungen gegen die Staatsgesetze, trägt also dazu bei, um die Aufrechterhaltung und Erweiterung des kostspieligen Strafgefängnisses zu machen […]. Mangel an Reinlichkeit macht die Bevölkerung um so empfänglicher für verheerende Seuchen, wie Cholera, Blattern, Fieber usw., und fördert das Verweilen und Wiederkehren derartiger Krankheiten, die erfahrungsmäßig bei einem gewissen Grade der Ausbreitung auch die Wohnungen der Wohlhabenden ergreifen.157

Die Sauberkeit der ärmeren Bevölkerung Hamburgs wurde von Lindley nicht nur aus gesundheitlichen (Furcht vor Ansteckung), sondern auch aus moralisch-sittlichen (Kritik der Lasterhaftigkeit und des Alkoholismus) Motiven heraus befürwortet; hinzu trat ökonomisches (Hebung der Steuereinnahmen, Senkung der Gefängniskosten) und ordnungspolitisches (Verhinderung von Strafvergehen) Kalkül. Der Wunsch nach gewaschenen Proletariern verband sich für Lindley mit der Aussicht, „die öffentliche Ordnung und den sozialen Frieden“158 in der Stadt zu festigen. Nach den Ereignissen von 1848 war das ein gewichtiges Argument. Außerhalb Hamburgs wurden Assanierungsmaßnahmen in großem Stil wie bereits erwähnt erst ab den 1860er-Jahren in Angriff genommen. Dabei wurde kontrovers diskutiert, wie die in den Städten anfallenden Schmutzstoffe am besten bewältigt werden könnten. Dass das Oberflächenwasser in unterirdischen Kanälen abgeleitet werden müsse, war Konsens. Gestritten wurde dagegen über die Frage, wie die Fäkalien aus den Städten befördert werden sollten. ‚Abfuhr oder Abschwemmung?‘ lautete die damals so genannte ‚Kloakenfrage‘, die die Gemüter zahlreicher Wissenschaftler, Ärzte und Städteplaner erhitzte. Der Chemiker Justus von Liebig sprach sich aus ökonomischen Gründen für die Fäkalienabfuhr aus, indem er auf deren landwirtschaftliche Nutzung als Dünger hinwies. Von den meisten Medizinern wurde diese Methode aus hygienischen Gründen jedoch als äußerst bedenklich eingestuft, wes155 Vgl. Evans (1990), S. 182. 156 Vgl. ebd., S. 195. 157 Lindley, W.: Öffentliche Wasch- und Bade-Häuser. Hamburg 1851, zit. nach ebd. (1990), S. 164. 158 Ebd.

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halb sie die Ableitung durch die Kanalisation bevorzugten. Ein weiteres Argument gegen die Abfuhr der Schmutzstoffe war ihre „Unannehmlichkeit und Unbequemlichkeit“, weshalb sie „in feineren Stadttheilen ganz unmöglich“ 159 wäre, wie Aird 1889 beteuerte. Entschieden wurde die Gretchenfrage der Städtereinigung schließlich in den Badezimmern der Ober- und Mittelschichten, in denen immer häufiger Wasserklosetts nach englischem Vorbild installiert wurden, die an die Kanalisation angeschlossen werden mussten. Die sich auf die Ausscheidungsvorgänge ausgedehnte Scham- und Peinlichkeitsschwelle hat mithin den Ausbau städtischer Schwemmkanalisationsnetze beschleunigt.160 Die Abfuhr beschränkte sich fortan im Wesentlichen auf den Hausmüll und den anfallenden Straßenkehricht, die freilich nicht mehr als Dünger verwendet werden konnten. Der großflächige Ausbau der Frischwasserversorgung kann ebenfalls zum Großteil auf das gestiegene bürgerliche Bedürfnis nach hygienischer Sauberkeit in den eigenen vier Wänden und dem damit zusammenhängenden höheren Wasserbedarf der Privathaushalte zurückgeführt werden. Schon Pettenkofer hatte konstatiert, dass es der „Reinlichkeit im Hause“ abträglich wäre, „wenn man jeden Tropfen Wasser erst mühsam in die Wohnungen bis in die obersten Stockwerke schleppen muss.“161 Hinzu trat der ebenfalls angestiegene kommunale Wasserbedarf. Für Berlin hat der damalige Schriftführer der „Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege“ und Herausgeber des Handbuch[s] der Hygiene Theodor Weyl in einem Bericht aus dem Jahr 1893 rückblickend festgemacht, dass dort von hygienischen Maßnahmen […] noch bis zu Ende der 60er Jahre wenig zu spüren [war]. Regenwässer und Schmutzwässer der Haushaltungen, ja sogar die Abwässer der Gewerbebetriebe ergossen sich in offene Rinnsteine, um im langsamen Strome, ohne genügendes Gefälle, der Spree zuzufließen. Das undurchsichtig trübe, häufig fast schwarz gefärbte Spreewasser bot einen abschreckenden Anblick dar und hauchte, namentlich im Sommer, einen abscheulichen Geruch aus, der die Anwohner zur Verzweiflung brachte und die Spaziergänger vertrieb.162

Innerhalb weniger Jahrzehnte habe sich die geschilderte Situation laut Weyl allerdings wesentlich verbessert163: Nach ersten privatwirtschaftlichen Investitionen in neue Wasserleitungen in den 1850er-Jahren wurde die Bewässerung Berlins ab den 1870er-Jahren systematisch modernisiert. Neue Wasserwerke und Filteranlagen wurden gebaut und es ist damit begonnen worden, ein flächendeckendes Wasserleitungsnetz zu installieren. Ab den 1870er-Jahren wurden auch ein neues Schwemmkanalisationssystem sowie ein Netzwerk von Rieselfeldern eingerichtet, mit dem verhindert werden sollte, dass die abgeschwemmten Fäkalien und sonstigen Schmutzstoffe ungefiltert in die Spree gelangten.

159 160 161 162

Aird (1889), S. 210. Vgl. Hauser (1992), S. 304. Pettenkofer (1873), S. 28. Weyl, Theodor: Die Einwirkung hygienischer Werke auf die Gesundheit der Städte mit besonderer Rücksicht auf Berlin. Jena 1893, S. 2. Im Folgenden als Weyl (1893). Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. 163 Vgl. ebd., S. 2-7.

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Wie in Hamburg und Berlin wurden in nur wenigen Jahrzehnten in fast allen deutschen Städten große Assanierungsmaßnahmen geplant und umgesetzt. Der Durchbruch der Bakteriologie hat diesen Prozess noch einmal beschleunigt und verbesserte Städtereinigungstechniken auf den Weg gebracht: Nachdem nachgewiesen ist, daß eine Reihe von Infektionskrankheiten durch bestimmte Krankheitserreger hervorgerufen werden, und das diese, wie Cholera- und Typhusbacillen, in den menschlichen Exkrementen enthalten sein können, verlangt man, daß die Abwässer der Städte vor ihrer Einmündung in die Flüsse von pathogenen Keimen nach Möglichkeit befreit werden. Die Bakteriologie setzt uns also in den Stand, in einwandsfreier [sic] Weise festzustellen, ob sich eine bestimmte Methode der Städtereinigung bewährt hat oder nicht.164

In dem zehn Jahre nach der Entdeckung des Choleravibrions 1894 im Handbuch der Hygiene erschienenen Artikel, aus dem das Zitat stammt, wurde die Bakteriologie kurzerhand als „Hilfswissenschaft der Hygiene“165 bezeichnet. Damit ist wohl der ‚Hype‘ zu relativieren versucht worden, den sie nicht nur im interessierten Fachpublikum, sondern auch in der breiten Bevölkerung ausgelöst hatte. Fakt ist, dass sich der Städtereinigungstrend nicht erst durch die Erkenntnisse der Bakteriologen durchgesetzt und verstetigt hat. In seinem Streifzug durch das Gebiet der modernen Städtereinigungsfragen hat Aird im Jahr 1889 betont, dass die Hauptschlachten nun definitiv geschlagen worden [sind]. Freilich nicht gerade in den Arbeitsstuben der Gelehrten, sondern draussen in der Welt, im Versammlungssaal der weisen Stadtvertreter und endlich – nicht nur mit Federn, sondern mit Picken, Schaufeln, Maurerkellen – draussen auf der offenen Strasse und vor der Stadt auf freiem Feld. Danzig wurde in kurzer Frist kanalisirt, das war eine erste vielgerühmte That. Berlin, die Millionenstadt der Deutschen, folgte, ein neuer und zweifelsohne noch viel gewaltigerer Schlag. Breslau, Hamburg, Frankfurt gleichfalls166.

Die Kriegsmetaphorik, die der Verfasser hier benutzte, spiegelt das offensive Selbstbewusstsein der Stadthygieniker wider, die statt ‚grauer Theorie‘ praktische Erfolge bei der Schmutzbekämpfung vorweisen konnten. Gerade auf dem Gebiet der Städtereinigung habe die öffentliche Gesundheitspflege nach Aird gewaltige Siege, herrliche Erfolge zu verzeichnen; sie war wohl auch niemals auf ein Defensivgefecht beschränkt, aber heute ist sie entschieden in der günstigen Lage, die Offensive kräftig fortzuführen, und alle ihre Freunde und Jünger von Beruf scheinen bereit, den Satz zu unterschreiben: „Ihr Vaterland muss grösser sein!“167 164 Blasius, R.: Einleitung zur Städtereinigung. In: Weyl, Theodor (Hg.): Handbuch der Hygiene, Bd. 2, Abt. 1, Jena 1894, S. 1-42, S. 11. Im Folgenden als Blasius (1894). 165 Ebd. – Ähnlich hat Weyl, Theodor: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Handbuch der Hygiene, Bd. 1. Jena 1896, S. I-VII auf S. VII die Bakteriologie „nur als eine der zahlreichen Methoden“ bezeichnet, „deren die Hygiene bedarf“, weshalb er ihr in seinem Handbuch ausdrücklich keine eigenständige Abteilung gewährt hat. 166 Aird (1889), S. 207. 167 Ebd., S. 329.

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Tatsächlich waren Gestank und Schmutz aus dem öffentlichen Raum aller größeren Städte bereits um die Jahrhundertwende weitestgehend verbannt168, was eine Leistung war, die sechzig Jahre zuvor noch kaum denkbar gewesen wäre. Vor dem Hintergrund ist es kein Zufall, dass der Arzt und Hygieniker Rudolf Blasius Stadtassanierungen 1894 als „die vornehmste Aufgabe der öffentlichen Gesundheitspflege“ 169 bezeichnete. Mit Verweisen auf Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken konnten die Hygieniker außerdem plausibel machen, dass, wie Weyl es mit Blick auf die größte Stadt Deutschlands beteuerte, „die großen Aufwendungen, welche die Stadt Berlin für die Zwecke der öffentlichen Gesundheitspflege gemacht hat“, tatsächlich auch in gesundheitlicher Hinsicht „Früchte getragen haben.“ 170 Zwar führte er diesen Einfluss auch auf eine ganze Reihe anderer Maßnahmen der städtischen Gesundheitspflege (Krankenhaushygiene, Desinfektionsanstalten, Hygiene in Schlachtbetrieben und Markthallen, Einrichtung von Turn- und Badeanstalten, öffentlichen Parks und Spielplätzen, Einrichtung von Obdachlosenasylen) zurück, wie sie ebenfalls forciert worden waren. „In erster Linie“ sah er allerdings die „Errichtung der Wasserleitung“ und der „Kanalisation“171 für die Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes verantwortlich. Die erfolgreiche Befreiung der Städte von Abfallstoffen verschiedenster Art hatte freilich auch Auswirkungen auf die Vorstellungswelt der modernen Stadtbewohner. Die systematische Städtereinigung hat „die Etablierung einer neuen Stadtgrenze“ bewirkt, die den „kulturierten Bereich der Industriegesellschaft“ 172 von einem unkontrollierten, außerhalb ihrer Kultur befindlichen Bereich trennte. Fortan konnte die moderne, kanalentwässerte Stadt mit hygienischer Sauberkeit assoziiert werden, die nur noch durch den von außerhalb aus ländlichen Regionen stammenden Schmutz bedroht zu werden schien. Galten die Städte bis dahin als Krankheitsfaktoren, so hatte sich das Bedrohungsszenario innerhalb kürzester Zeit umgedreht. Dementsprechend kann man in einer anlässlich der ersten deutschen Städteausstellung in Dresden (1903) herausgegebenen Aufsatzsammlung lesen: Während die Städte ungeheure Opfer bringen, um ihre festen und flüssigen Abgänge in einwandfreier Weise unschädlich zu machen, damit sie nicht Wasser und Boden verseuchen, bilden die Dörfer mit ihrer Verschmutzung von Haus und Hof, ihrem durch Senkgruben verunreinigten Untergrund, dem unreinen Trinkwasser, und der oft unglaublichen Nachlässigkeit der Landbevölkerung allen Krankheitsstoffen gegenüber eine beständige Drohung für die Gesundheit der Städter.173

168 169 170 171 172 173

Vgl. Simson (1983), S. 9. Blasius (1894), S. 41. Weyl (1893), S. 65. Ebd. Hauser (1992), S. 294. Nowack: Die öffentliche Gesundheitspflege. In: Wuttke, Robert (Hg.): Die deutschen Städte. Geschildert nach den Ergebnissen der ersten deutschen Städteausstellung zu Dresden 1903. Leipzig 1904, S. 446-460, S. 458.

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Diese wären etwa durch die aus den Dörfern eingeführten, bakteriell verunreinigten Lebensmittel besonders gefährdet. Mit dieser Deutung dürften freilich nicht alle Zeitgenossen einverstanden gewesen sein. Schließlich hatte sich um 1900 die Aufmerksamkeit für das soziale Elend in den Städten geschärft. Sozialreportagen aus jener Zeit zeugen davon.174 Die Wohnverhältnisse der urbanen Unterschichtsbevölkerung sind von den Assanierungsbemühungen erst allmählich erfasst worden; der nächste Abschnitt wird sich hiermit befassen. Außerdem gab es kulturkonservative Kreise, die der Meinung waren, dass das moderne Stadtleben zu moralischer Verwahrlosung führen würde. Der Verweis auf Prostitution und hohe Verbrechensraten genügte ihnen, um dem großstädtischen Leben die Sittenreinheit kleinstädtischen und ländlichen Lebens entgegenzuhalten.175

2.6 UNREINLICHE WOHNVERHÄLTNISSE STÄDTISCHER UNTERSCHICHTEN, SOZIALE SANIERUNGSBESTREBUNGEN UND DIE „VERALLGEMEINERUNG HYGIENISCHER KULTUR“ Die ab den 1860er-Jahren forcierten Assanierungsmaßnahmen wurden im letzten Jahrhundertdrittel und verstärkt im Zuge der Sozialhygiene ab den 1890er-Jahren „durch das Ziel einer Sanierung der sozialen Umwelt ergänzt“ 176. Bestrebungen dazu hatte es freilich schon vorher gegeben. Tatsächlich gelangten die oft miserablen Lebens- und Wohnverhältnisse der städtischen Unterschichten bereits ab der Jahrhundertmitte häufiger in den Blick von Ärzten und Sozialreformern. Rudolf Virchow ist einer der Ersten gewesen, der einen Zusammenhang von gesellschaftlichen Verhältnissen und Krankheit anerkannt und während der 1848er-Revolution eine stärker sozial ausgerichtete Medizin gefordert hatte.177 Auch Friedrich Oesterlen hat in seinem Handbuch der Hygieine mit deutlich vernehmbarem sozialreformerischem Unterton die schlechten Lebensbedingungen der Unterschichten kritisiert, die er allerdings vor allem in moralischer Beziehung als problematisch erachtete: Nicht leicht kann das geistig-sittliche Leben im Elend der Armuth oder Despotie und Abhängigkeit, in abscheulichen Höhlen, mitten im Schmutz und schlechtem Beispiel von Kindheit auf gedeihen, bei Sklaven, Leibeigenen so wenig als z.B. beim heutigen Fabrik-Proletariat, überhaupt bei den armen und gedrückten Volksclassen. Um das Edelste im Menschen zur Blüthe zu bringen und in Kraft zu erhalten, braucht er vor Allem eine menschwürdige und freiere, unabhängige Existenz.178

174 Vgl. Bergmann, Klaus (Hg.): Schwarze Reportagen. Aus dem Leben der untersten Schichten vor 1914. Huren, Vagabunden, Lumpen. Reinbek bei Hamburg 1984. 175 Zur Großstadtkritik, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte vgl. Reulecke (1985), S. 139-146 und Lindner (2004), S. 19-26. 176 Labisch (1992), S. 147. 177 Vgl. Hardy (2005), S. 107-120. 178 Oesterlen (1857), S. 700-701.

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Waren die „sozialen Folgeprobleme der Verstädterung“ in den 1830er- und 1840erJahren noch vereinzelt aufgetreten, so erreichten sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „durch die Zusammenballung großer industrieller Arbeitermassen partiell eine neue Qualität“179 und führten in manchen Regionen zu einer regelrechten Verelendung, die nun nur noch schwerlich zu übersehen war. Bereits ansässige und zugewanderte Arbeiter, Kleinhandwerker, Gesellen, Tagelöhner, Dienstboten etc. wohnten in den Städten mit ihren Familien häufig in beengten Verhältnissen. Angesichts großen Wohnraummangels lebten viele Menschen auch in der zweiten Jahrhunderthälfte weiterhin in den bereits beschriebenen Hinterhofquartieren. Nach vorn mochten die Gebäude ein ordentliches Ansehen haben, nach hinten raus sind sie jedoch immer weiter ausgebaut und aufgestockt worden, so dass die Wohndichte in diesen Stadtvierteln oft sehr hoch war.180 In einem 1849 verfassten Bericht eines Berliner Armenarztes wurden die labyrinthisch anmutenden Hinterhofgänge als „finster, verhältnismäßig immer feucht, für Luft und Licht wenig zugänglich“ 181 beschrieben. Die Menschen, die dort wohnten, wären „durch Mangel geräumiger Höfe und gehöriger Latrinen unreinlich“; außerdem habe ihnen bloß „schlechtes, meist trübes, mooriges, etwas eisenhaltiges Trinkwasser“ 182 zur Verfügung gestanden. Nach der Jahrhundertmitte wohnten auch immer mehr Menschen in großen Mietshauswohnungen, den so genannten Mietskasernen 183, die in den Groß- und Industriestädten bald große Teile des Stadtbildes prägten. Im Ruhrgebiet etwa lebte die überwiegende Mehrheit der Arbeiterfamilien laut Jürgen Reulecke „unter erbärmlichen Bedingungen in durchweg als Spekulationsobjekte gebauten Mietshäusern, die kaum sanitäre Einrichtungen besaßen, völlig überbelegt waren und in denen so hohe Mieten verlangt wurden, daß viele Familien sie nur dank der Aufnahme von Schlafgängern und Untermietern bezahlen konnten.“184

179 Reulecke (1985), S.42. 180 Zur Wohnsituation in den so genannten „gewachsenen Häusern“ vgl. Saldern, Adelheid von: Im Haus, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen. In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 3. 1800-1918. Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, S. 145-332, insbesondere S. 192-193. Im Folgenden als Saldern (1997). 181 Schütz, W.: Bericht über die Cholera-Epidemie des Jahres 1848 in Berlin. In: Archiv für pathologische Anatonomie 2 (1849), S. 379-408, S. 383. 182 Ebd. 183 Vgl. Geist, Johann F. u. Kürvers, Klaus: Das Berliner Miethshaus 1862-1945. Eine dokumentarische Geschichte von „Meyer´s Hof“ in der Ackerstraße 132-133, der Entstehung der Berliner Mietshausquartiere und der Reichshauptstadt zwischen Gründung und Untergang. München 1984. ‒ Wischermann, Clemens: Mythen, Macht und Mängel. Der deutsche Urbanisierungsprozeß. In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 3. 1800-1918. Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, S. 333-502, S. 366-369 u. passim. Im Folgenden als Wischermann (1997). 184 Reulecke (1985), S. 46.

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Auch im Wuppertal185 lebten viele Menschen in solchen Mietshauskomplexen. Anhand historischer Berichte hat Michael Regenbrecht die extrem hohe Wohndichte bestimmen können: So schildert ein Bericht der Barmer Zeitung vom 23.2.1862, daß allein in Barmen 260 Häuser als völlig überfüllt angesehen werden konnten, da in diesen Häusern mit 3.287 Wohnräumen 2.224 Familien mit insgesamt 10.219 Personen wohnten. Dies bedeutete, daß auf eine Familie durchschnittlich nicht einmal 1½ Wohnräume kamen bei einer durchschnittlichen Familiengröße von 4,6 Personen.186

Für diese im Wuppertal vorherrschende „Wohnungsnoth“ legte Friedrich Fabri, der leitende Inspektor der Rheinischen Mission in Barmen, im Jahr 1862 „Beweise“ vor: In dem Anbau eines elenden, übervölkerten Hauses, der von außen einem schlechten Schweine- oder Ziegenstalle gleicht, fand ich vor Kurzem in einem Raume, der 12´ lang, 7´ breit und 6´ hoch ist, 10 Personen verschiedenen Alters und Geschlechtes zusammenwohnen, in einem Bett, d.h. einer Bettstelle mit Lumpen und auf dem ungedielten bloßen Boden liegend. In einem Raume, einem eigentlichen Taubenschlage unter den Dachziegeln, der 6´ lang, 7´ breit und 5´ hoch ist, 4 Personen. In einem Keller, 10´ lang, 8´ breit, 6´ hoch, 6 Personen. Und diese äußersten Fälle lassen sich bei genauerer Untersuchung leider in allen Arbeiterquartieren in nicht geringer Zahl nachweisen.187

Auch eine Menge „Schmutz und Ungeziefer“ habe er in vielen Arbeiterwohnungen Barmens und Elberfelds sehen müssen, die laut Fabri weder „sittlichen und vernünftigen“ noch „technischen und sanitätischen“188 Mindestanforderungen entsprochen hätten. „Erbärmliches Wohnen in vielfach feuchten oder baufälligen Häusern“ ist ein massenhaft auftretendes Phänomen gewesen, das insbesondere die „breiten, auf der sozialen Rangskala im unteren Bereich angesiedelten Arbeiterschichten“189 betraf, so Adelheid von Saldern. Bessergestellte Facharbeiter und kleine Angestellte konnten sich in der Regel geräumigeren, sanitär besser ausgestatteten Wohnraum leisten. In besonders schlechten Wohnverhältnissen lebten vor allem jene „Arbeiterfamilien, die mehr als zwei oder drei Kinder hatten, über keinen dauerhaften Arbeitsplatz verfüg185 Weitere Beispiele aus Barmen und Elberfeld liefert Köllmann, Wolfgang: Aus dem Alltag der Unterschichten in der Vor- und Frühindustrialisierungsphase. In: Reulecke, Jürgen u. Weber, Wolfhard (Hgg.): Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter. Wuppertal 1978, S. 11-37. 186 Regenbrecht, Michael: Lösungsversuche der Arbeiterwohnungsfrage im Wuppertal des 19. Jahrhunderts. Das Beispiel der gemeinnützigen Wohnungsbaubestrebungen im Wuppertal. In: Beeck, Karl-Hermann u. Becker, Rolf (Hgg.): Gründerzeit. Versuch einer Grenzbestimmung im Wuppertal. Köln 1984, S. 185-245, S. 195-196. 187 Fabri, Friedrich: Die Wohnungsnoth der Arbeiter in Fabrikstädten und deren Abhülfe. Mit besonderer Beziehung auf die Verhältnisse des Wupperthales. Elberfeld 1862, S. 2627. 188 Ebd., S. 27. 189 Saldern (1997), S. 206.

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ten oder ungelernte Arbeit verrichteten und deshalb schlecht bezahlt wurden. Es betraf schließlich all jene Familien, in denen ein Mitglied erkrankte.“190 Das Mobiliar war meist dürftig, trotzdem waren die Wohnungen angesichts kleiner Quadratmeterzahlen und der zum Leben notwendigen Gerätschaften beengt; Kindern standen oft keine eigenen Betten zur Verfügung; nicht immer waren Kochen, Wohnen und Schlafen räumlich voneinander getrennt, so dass Dunst und Gerüche festhingen und in schlecht belüfteten Räumen Schimmelbildung begünstigte; Klosetts mussten oft von mehreren Familien mitbenutzt werden.191 So schlecht die hygienischen Verhältnisse in solchen Wohnungen auch in der Regel waren, bedeutet das nicht zugleich, dass die Menschen, wie es einige zeitgenössische Berichte zu suggerieren scheinen, in ihnen allesamt stumpfsinnig in Unrat und Schmutz ‚versanken‘. Angesichts der durch die Wohnungsnot hervorgerufene Enge musste die tägliche Sorge um Sauberkeit und Ordnung jedoch zwangsläufig an enge Grenzen stoßen192, die den bürgerlichen Hygiene- und Komfortansprüchen freilich nicht genügen konnten. Der beständige Hinweis auf Dreck, Ungeziefer und Gestank in solchen Texten dürfte der (schockierten) Wahrnehmung der an eine andere Wohnund Körperkultur gewöhnten Bürger entsprochen haben. Freilich diente der Schmutz in den Berichten über proletarische Wohnmissstände auch dazu, moralische Defizite oder gesundheitliche Gefahren aufzuzeigen und „soziale Intervention und Hygiene“193 einzufordern. Ein bemerkenswertes Dokument, in welchem der ursächliche Zusammenhang von Schmutz, sozialer Not und Krankheit aufgezeigt und Besserungen angemahnt wurden, sind Aerztliche Briefe, die 1868 in der Deutschen Vierteljahrs-Schrift (bezeichnenderweise ohne Verfassernamen) veröffentlicht worden sind: Welches sind denn die Wegzeichen, denen die Krankheit [=Cholera, L.R.] nachzieht? Es ist der Mangel, die Ueberfüllung, der Schmutz. Das sind die apokalyptischen Reiter, welche die Geburt zertreten und das Wachsthum niedermähen. Das sind die Auswüchs am Baume der Civilisation, das sind die Töchter, welche ihre eigene Mutter zu erwürgen drohen, das ist die Brut, welche nicht nur ihr eigenes Nest verödet, sondern weiter zieht in die Region des Reichthums und Glanzes, um dort auch Intelligenz und Bildung zu ertödten. Mit dürren Worten: die wachsende Civilisation ruft mit Erfindung und Industrie, mit Reichthum und Wohlleben sociale Zustände hervor, durch welche ihr eigener Fortschritt bedroht wird. Die niederen Schichten der Gesellschaft, die arbeitende Klasse kommt durch die Schwierigkeit des Lebens in unmenschliche Lagen, sie entbehrt der genügenden Nahrung, sie ist zu190 Ebd. 191 Vgl. ebd., S. 206-211. 192 Eine „Wohnungsenquête der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker“ hat zwischen 1901 und 1920 die beengte Wohnwirklichkeit unterer Schichten in Berlin fotografisch dokumentiert, vgl. Asmus, Gesine (Hg.): Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901-1920. Reinbek bei Hamburg 1982. 193 Zimmermann, Clemens: Wohnen als sozialpolitische Herausforderung. Reformerisches Engagement und öffentliche Aufgaben. In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 3. 1800-1918. Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, S. 145-332, insbesondere S. 503-636, S. 514. Im Folgenden als Zimmermann (1997).

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sammengehäuft auf kleine dumpfe licht- und luftlose Räume, sie kennt keine Reinlichkeit, sie bleibt über ihrem eigenen Schmutze sitzen, der Kampf um das tägliche Leben läßt keine Bildung zu. Umringt von Schädlichkeiten erzeugt sie selbst neue: sie lebt in einem Herde des Siechthums und bietet jeder kommenden Seuche die Angriffspunkte dar. Krankheiten, die an Andern vorübergehen, hasten hier, die dort leicht sich abspielen, werden hier zu bösartigen Epidemien. Aber nicht nur ihre Kinder sterben dahin, ihre Generationen verkümmern, sondern von hier aus trägt das hier concentrierte Seuchengift Krankheit und Tod auch in die reiche Gesellschaft, unter die Aristokratie des Lebens. 194

Faszination, Furcht vor Ansteckung und Sozialkritik bedingen sich hier gegenseitig. Die zunächst anklingende biblische Metaphorik wurde im zweiten Absatz von vermeintlich „dürren Worten“ abgelöst, mit denen die soziale Not jedoch in ebenso drastischer Weise umschrieben wurde. Der Blick des Arztes wurde zu einem Blick eines Entdeckers in die faszinierende, weil unbekannte, dunkle und bedrohliche Welt am Rande der Gesellschaft stilisiert. Darin ähnelt der Bericht den Mystères de Paris. Die in „unmenschliche[n]“195, von Hunger, hoher Wohndichte, schlechter Luft, Schmutz und Krankheit geprägten Verhältnissen lebenden Arbeiter stellten gewissermaßen die Wilden innerhalb der eigenen Kultur dar, die allerdings nicht aus eigenem Verschulden dazu geworden seien. Nicht nur wären sie die Verlierer der industriellen Revolution, darüber hinaus würden sie auch den an Wohlstand, Bildung und Gesundheit zu messenden allgemeinen Fortschritt bedrohen: die „Schädlichkeiten“ aus den Unterschichtsvierteln drohten überzugreifen. Deshalb gälte es erstens „die Gesellschaft zu schützen vor dem Proletariate“ und zweitens „das Proletariat zu befreien von den ihm anhängenden Nöthen[.]“196 Der Anonymus betonte, dass es die Ärzte wären, „in deren Berufskreise die Lösung dieser großen Kulturfragen liegt“ 197. Die „im Dienste der Heilkunde“198 in die als „Werkstätten der Krankheiten“199 bezeichneten Arbeiterquartiere berufenen Armenärzte wären diejenigen, die die diversen, oft kleinen Krankheitsursachen erkennen und beseitigen könnten. Die Quelle dokumentiert das Bemühen, öffentliche Gesundheitspflege als einen wichtigen Baustein zur Lösung der sozialen Frage ins Spiel zu bringen, die aus hygienischer Vorsicht auch Interventionen in die Privatsphären proletarischer Haushalte nötig machen würde. Das die Verbesserung der Wohnbedingungen Menschen auch in sittlicher Hinsicht bessern würde, unterstrich Carl Reclam in seinem populären Buch Lebensregeln, in denen der für die Gartenlaube medizinische Artikel verfassende Arzt dem Untertitel nach Ernstes und Heiteres aus der Gesundheitspflege zusammenstellte: Statistische Erhebungen haben den Beweis geliefert. In einer größeren Stadt sind die Arbeiter sittlich um so höher stehend, je besser sie wohnen. Je größer die Zahl derjenigen Handarbeiter ist, welche gute und gesunde Wohnungen innehaben, um so geringer ist die Zahl derjenigen, 194 Anon.: Aerztliche Briefe. Deutsche Vierteljahrs-Schrift 31 (1868), H. 3, S. 238-266, S. 262-263. Hervorhebungen im Original durch Sperrsatz. 195 Ebd., S. 263. 196 Ebd. 197 Ebd. S. 264. 198 Ebd. 199 Ebd.

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gegen welche die Polizei einzuschreiten hat, und um so größer die Zahl der Arbeiter, welche sich durch gutes Betragen auszeichnen; – je zahlreicher aber die Arbeiterbevölkerung in sehr schlechten Wohnungen zu finden ist, um so zahlreicher sind auch diejenigen mit schlechtem Sittenverhalten und um so geringer die Summe der guten Arbeiter 200.

Ein in gesundem Umfeld lebender Arbeiter verhalte sich auch eher gesittet und gesetzestreu, lautete das ordnungspolitische Argument für eine bessere Hygiene: Der zu Reinlichkeit und Sauberkeit Gewöhnte zeigt auch reinere Neigungen in seiner Gefühlsund Gedanken-Richtung; – öffentliche Bäder und Waschanstalten sind ein Erziehungsmittel des Volkes. Reichliche Wasserzufuhr und reichlicher Wasserverbrauch mindert in einer Stadt gleichzeitig die Zahl der Krankheiten und die Zahl der moralischen Verirrungen.201

Auch Reclam vertrat die Meinung, dass Maßnahmen gegen unreinliche Verhältnisse und für mehr Sauberkeit am unteren Rand der Gesellschaft die drängende soziale Frage zu lösen helfen könnten. Seinen Lesern vermittelte er die Hoffnung, dass sich gewaschene Proletarier auch sittlich vernünftig benehmen und sich als gute Arbeitskräfte eignen würden. Im letzten Jahrhundertdrittel organisierten sich immer mehr Hygieniker, Armenärzte, Architekten und Sozialreformer in Vereinen, aus denen heraus Konzepte der Gesundheitsfürsorge entwickelt und die staatliche und kommunale Gesundheitspolitik beeinflusst wurden. Diese sozialen Sanierungsbestrebungen basierten auf der wissenschaftlich begründeten Überzeugung, dass das „Zusammendrängen von großen Menschenmengen“ unreinliche Lebensweisen hervorrufen und Übertragungen von Krankheiten und Seuchen erleichtern würde; auch weil sie das sittliche Leben der Menschen negativ beeinträchtigten, wären solche Zustände laut dem im ‚Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege‘ aktiven Hans Buchner „nicht das hygienische Ideal“202. Aus diesen Überzeugungen heraus wurden erstens bauhygienische Besserungen angestrebt, zweitens Wohnungsinspektionen forciert und drittens eine Popularisierung hygienischen Wissens in die Wege geleitet. • Bauhygienische Fortschritte

Die allgemeinen hygienischen Forderungen nach mehr Wohnraum, nach mehr Licht und Luft sowie nach besseren sanitären Standards flossen ab den 1870er-Jahren in kommunale und staatliche Bauverordnungen ein. Diese Entwicklung führte, weil alle Neubauten diese Standards einhalten mussten, zu einer sukzessiven Verbesserung der „Bau- und Wohnrealität“203 in Deutschland. Außerdem wurden alternative Wohnmodelle entwickelt, die sich jedoch mangels Renditemöglichkeiten zunächst oft nur sporadisch umsetzen ließen. Um die finanziellen Risiken abzufangen, gründeten sich Baugenossenschaften, durch die der urbane „Wohnungsbau vor 1914 eine beachtli-

200 Reclam, Carl: Lebensregeln. Ernstes und Heiteres aus der Gesundheitspflege. Berlin 1877, S. 106. Hervorhebungen im Original. 201 Ebd., S. 107. Hervorhebungen im Original. 202 Buchner, H[ans]: Acht Vorträge aus der Gesundheitslehre. Leipzig 1898, S. 78. 203 Zimmermann (1997), S. 534.

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che Qualität“204 erreichte. Für das Gros der Arbeiterfamilien blieb diese Form des Wohnens allerdings unerschwinglich.205 Gleiches gilt für die aus England importierte Gartenstadtbewegung, deren Ziel es war, Familien aus den Unterschichten in sauberen, gesunden und weniger beengten Wohngegenden an der naturnahen Peripherie der Städte Wohnraum zu bieten.206 Eine quasi paternalistische Form des Wohnens boten die ebenfalls nach hygienischen Maßstäben errichteten Werkskolonien, wie sie einige große Unternehmen erbauen ließen.207 Für all diese von der Wohnreformbewegung um 1900 konzipierten Modelle gilt, dass sie in der Regel nur die unteren Mittelschichten sowie besser gestellte Facharbeiter mit ihren Familien erreichten. • Wohnrauminspektionen Ab den 1880er-Jahren haben kommunale Polizeibehörden im Deutschen Reich Inspektionen durchgeführt, die „die offensichtlichen Baumängel (unzureichender Brandschutz, undichte Dächer und zu kleine Fenster, verschmutzte Toiletten und Höfe, fehlende Wasseranschlüsse)“ 208 aufdecken und beseitigen sollten. Auch gegen Überbelegung von Wohnraum und Schlafgänger209 wurde eingeschritten. Diese prophylaktischen „Eingriffe in die Privatsphäre“ wurden unter Verweis auf neueste bakteriologische Erkenntnisse „wissenschaftlich begründet“210 vorgenommen. Da sie sich über Eigentumsrechte und über das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung hinwegsetzte, war solch eine Art der invasiven, auf Kontrolle angelegten „Wohnungsfürsorge“ jedoch auch nach damaliger Rechtslage höchst problematisch: „In Extremfällen warf man Mieter und Schlafgänger aus ihren offiziell gesundheitswidrigen Wohnungen hinaus.“211 Faktisch wurden die Betroffenen dadurch in die Obdachlosigkeit gedrängt. Angesichts dessen waren die Wohnungsinspektionen für viele zeitgenössische Akteure des Hygienediskurses umstritten. • Popularisierung hygienischen Wissens

Die Schwierigkeiten, mit den angesprochenen Maßnahmen tatsächliche Verbesserungen der unhygienischen Wohnverhältnisse der Unterschichten zu erreichen, führten ab den 1890er-Jahren zu einer verstärkten Popularisierung des hygienischen Wissens. Die Intention der oft als ‚Volkshygiene‘ bezeichneten Variante der Sozialhygi-

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Ebd., S. 612. Vgl. ebd., S. 608. Vgl. ebd., S. 587-601. Vgl. ebd., S. 572-587. Zimmermann (1997), S. 625. Über das in den Städten um 1900 weitverbreitete Schlafgängerwesen schreibt Wischermann (1997) auf S. 494: „Das Schlafgängertum bildete die unterste Stufe des Wohnens oberhalb der Obdachlosigkeit. Der Schlafgänger mietete kein Zimmer, sondern nur eine Schlafgelegenheit, meist also ein Bett. […] Den Schlafraum mußte er teilen, im schlimmsten Fall auch das Bett mit anderen Schläfern oder (selten) auch Familienmitgliedern. Seine ganzen Lebensverhältnisse waren beherrscht vom Druck der Enge, der ständigen Beeinträchtigung durch andere, der Unmöglichkeit, sich allein zurückzuziehen.“ 210 Labisch (1992), S. 161. 211 Zimmermann (1997), S. 626.

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ene war es, „ein bakteriologisch orientiertes Programm der Gesundheitserziehung“212 bis in die untersten Bevölkerungsschichten hinein zu vermitteln. Dieses setzte darauf, individuelles Verhalten durch rationale Einsicht innerhalb eines als gegeben hingenommenen Lebensniveaus zu verändern. Damit wurde zwar das Gesundheitsideal des Bürgertums als verbindliche Norm gesetzt. Gleichzeitig aber wurde den Arbeitern ihr unangepaßtes Verhalten mehr oder weniger offen als selbstverschuldet vorgeworfen, ohne ihre Lebensumstände in Betracht zu ziehen oder diese gar ändern zu wollen. 213

Die Popularisierung hygienischen Wissens wurde auf unterschiedlichste Weise forciert214: Beispielsweise begann man Fürsorgestellen für Tuberkulosekranke, Trinker und Säuglinge einzurichten, in denen nicht nur medizinische Hilfeleistungen, sondern auch gesundheitliche Aufklärungen vorgenommen wurden; aus den zahlreichen Volksgesundheitsvereinen heraus wurden vermehrt Broschüren und Bücher publiziert, die zu günstigen Preisen zu erstehen waren; zu Hygienethemen wurden Vorträge und Ausstellungen organisiert, die oft auch explizit an Arbeiterfamilien gerichtet waren; für Arbeiterfrauen wurden von Vereinen Haushaltungskurse angeboten, in denen ihnen der hygienische Wert von Ordnung und Sauberkeit vermittelt werden sollte.215 Ein propagiertes Ziel der Sozialhygiene war eine von Alfred Grotjahn so genannte „Verallgemeinerung hygienischer Kultur“ 216. Mit den erwähnten sozialhygienischen Maßnahmen sollten ausnahmslos alle Schichten der Bevölkerung erreicht werden. Verallgemeinerung meinte aber auch etwas anderes. Ab der Jahrhundertwende ist eine immer stärkere Tendenz zu erkennen, hygienisches Denken auf alle Lebensbereiche zu applizieren. Karl August Lingner, ein auf dem Feld der Hygiene engagierter Unternehmer, der das Mundwasser ‚Odol‘ vertrieb, hat sich mit Blick auf die Verbreitung hygienischen Wissens besonders hervorgetan, indem er 1911 die Dresdener Hygieneausstellung federführend auf den Weg gebracht hat, die ein großer Publikumserfolg war. Bei dieser Veranstaltung schätzte Lingner die „Gesundheitspflege“ explizit „als einer der stärksten Grundpfeiler alles menschlichen Lebens und aller Kultur“217 ein. Bezeichnenderweise wurde auf der Hygieneausstellung auch dem Kampf gegen die ‚Schmutz- und Schundliteratur‘ (vgl. Kap. 8.5) eine kleine Abtei-

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Labisch (1992), S. 160. Ebd. Vgl. ebd. u. passim. Zur zentralen Bedeutung, die den Frauen von den Akteuren der Hygienebewegung für die Verbreitung von Hygienestandards im familiären Kreis beigemessen wurde, vgl. Widmer, Augustine: Die Hüterin der Gesundheit. Die Rolle der Frau in der Hygienebewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Dargestellt am Beispiel der deutschsprachigen Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Stadt Zürich. [Diss.] Zürich 1991. 216 Grotjahn, Alfred: Soziale Pathologie. Versuch einer Lehre von den sozialen Beziehungen der Krankheiten als Grundlage der sozialen Hygiene. [3. Aufl.] Berlin 1923, S. 446. 217 Lingner, K.A.: Vorwort. In: Offizieller Katalog der Internationalen Hygiene Ausstellung Dresden Mai bis Oktober 1911, Berlin o.J., S. 14.

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lung gewidmet.218 Im Zeichen der Hygiene sollten jetzt auch Kultur und Literatur bereinigt werden, um potentielle gesundheitliche, soziale und sittliche Gefährdungen zu mindern.

2.7 DIE ALLMÄHLICHE SEMANTISCHE MANIFESTATION DES SCHMUTZES Die im vorliegenden Kapitel herausgearbeitete Geschichte des urbanen Schmutzes hat deutlich gemacht, dass dieser lange Zeit kein Gegenstand kultureller Diskurse war. Vor allem der mit dem sozialen ‚Unten‘ assoziierte Dreck wurde mit Krankheit uns Unsittlichkeit und kollektiv ignoriert. Aus der bürgerlichen Perspektive heraus betrachtet, befand er sich in den Armuts- und Unterschichtsquartieren gewissermaßen am rechten Ort. Erst, als man sich der hygienischen und sozialen Folgen der Urbanisierung annahm, wandelten sich die Wahrnehmung von und der Umgang mit Schmutz. Man musste nun ein anderes Verhältnis zu ihm finden. Ausdruck dafür war der Erfolg der modernen Hygiene. Bakteriologische Erkenntnisse und hygienetechnische Verfahren haben einen gänzlich veränderten Umgang mit Verunreinigungen möglich gemacht, im Zuge dessen der stoffliche Schmutz als potentieller Hort von Krankheitserregern identifiziert wurde, während unsittliches Verhalten nun allenfalls noch als Begleiterscheinung wahrgenommen wurde. Man wusste nun um die potentielle Gesundheitsgefährdung durch unreinliche Lebensverhältnisse und hatte die Verfahren optimiert, mit denen man die Schmutzstoffe aus den Städten herausführen konnte. Paternalistisch motivierte, pädagogische (vgl. Kap. 1) und sozialhygienische Bestrebungen schlossen sich an, mit denen die Unterschichten in die ‚hygienische Kultur‘ eingegliedert werden sollten. Diese Entwicklung hat dazu beigetragen, dass sich die Schmutzsemantik am Ende des 19. Jahrhunderts unter wissenschaftlichfunktionalen Gesichtspunkten allmählich auch in kulturellen Diskursen manifestieren konnte.

218 Diese Abteilung nannte sich „Wider die Schmutz- und Schundliteratur“. Neben Plakaten und Flugblättern aus dem ‚Schundkampf‘ und Hinweisen auf guten Lesestoff wurden auch zerschlissene ‚Schundhefte‘ ausgestellt, die Dresdner Schulkindern konfisziert worden waren. Mit ihnen sollte die gefährliche Wirkung der ‚Schundlektüren‘ authentifiziert werden. Vgl. Knauthe, Fritz (Hg.): Sonder-Katalog für die Gruppe Jugendfürsorge der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Dresden 1911, S. 107-110.

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Spuren des Schmutzes in ausgewählten populären Enzyklopädien

Was galt aus welchen Gründen als unrein? In welchen diskursiven Zusammenhängen ist von Schmutz die Rede gewesen? Welche Vorstellungen banden sich an ihn? Wie ist er sozial und kulturell verortet gewesen? Welche Bedeutung kam dem Dreck im Verständnis von Realität zu? Und hat es im Verlauf des 19. Jahrhunderts semantische oder diskursive Veränderungen gegeben, die sich möglicherweise auch auf den literarischen Diskurs ausgewirkt haben? Diese, den Stellenwert des Schmutzes in der Kultur betreffenden Fragen werden mittels historisch-semantischer Analysen ausgewählter populärer Enzyklopädien beantwortet. In den großen Lexika haben sich laut Reinhart Koselleck „das Wissen und das Selbstverständnis einer Generation niedergeschlagen“1. Sie sind daher wertvolle Quellen begriffsgeschichtlicher Forschung, mit denen das Wissen einer Zeit aufgeschlüsselt und kontextualisiert werden kann. Die Textgattung der Populärenzyklopädien, die mit den in hohen Auflagenzahlen verbreiteten Konversationslexika im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum äußerst erfolgreich war, bietet sich aufgrund ihrer Interdiskursivität für eine Untersuchung der in verschiedenen diskursiven Kontexten bedeutsamen Schmutzsemantik an. In Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften findet sich eine kleine, vom Irrenanstaltsarzt Dr. Friedenthal angestellte Reflexion, in welcher er Clarisse die interdiskursive Funktion der Konversationslexika in einer ausdifferenzierten Wissensgesellschaft beschreibt: Die menschlichen Wissenschaften haben sich zu verschiedenen Zeiten und zu Zwecken entwickelt, die miteinander nichts zu tun haben. So haben wir von der gleichen Sache die verschiedensten Begriffe. Zusammengefaßt ist das höchstens im Konversationslexikon. Und ich wette, daß nicht nur ich und der Pfarrer, sondern auch Sie und beispielsweise Ihr Herr Bruder oder Ihr Gatte und ich von jedem Wort, das wir dort aufschlügen, jeder nur eine Ecke des Inhalts und natürlich jeder eine andere kennten. Besser hat die Welt das nicht zustande gebracht!2

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Koselleck, Reinhart: Einleitung. In: Ders.; Brunner, Otto; Conze, Werner (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1. Stuttgart 1971, S. XIII-XXVII, S. XXIV-XXV. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hamburg 1952, S. 1401. ‒ Das Beispiel führt Link-Heer zur Veranschaulichung von Interdiskursivität an, die nicht nur Enzyklopädien, sondern auch belletristische Literatur auszeichnet, vgl. Link-Heer, Ursula:

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In den zumeist vielbändigen Kompendien ist Wissen aus unterschiedlichen Spezialdiskursen in allgemeinverständlicher, „komprimierter, jedoch nicht zu knapper Form“3 aufbereitet und vermittelt worden. Welche Informationen sie über die verschiedenen Bedeutungs- und Verwendungsweisen der Schmutzsemantik im 19. Jahrhundert enthalten, wird im vorliegenden Kapitel untersucht. Der historisch-semantischen Analyse, deren Ergebnisse in den Abschnitten 3.2 und 3.3 präsentiert werden, sind sechs Populärenzyklopädien zugrundegelegt worden, die in einem Zeitraum von einhundert Jahren zwischen 1809 und 1909 erschienen sind: • • • • • •

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Conversations-Lexikon (=‚Ur-Brockhaus‘), 1809-18114; Damen Conversations Lexikon, 1834-18385; Bilder-Conversations-Lexikon, 1837-18416; Herders Conversations-Lexikon, 1. Aufl., 1854-18577; Pierer´s Universal-Lexikon, 4. Aufl., 1857-18658; Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., 1905-19099.

Über den Ort der Literatur im Haushalt der Wissenschaften. In: Zelle, Carsten (Hg.): Allgemeine Literaturwissenschaft. Konturen und Profile im Pluralismus. Opladen 1999, S. 1324, S. 15. Spree, Ulrike: Das Streben nach Wissen. Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert. Tübingen 2000, S. 110. Im Folgenden als Spree (2000). Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissenschaften und Künsten vorkommenden Gegenstände mit beständiger Rücksicht auf die Ereignisse der älteren und neueren Zeit, 8 Bde., Bd. 1-7 Amsterdam u. Bd. 8 Leipzig 1809-1811 [=Digitale Bibliothek 131, DVD-Rom-Ausgabe, Berlin 2015]. Im Folgenden mit der Sigle CL, Band- und Seitenzahl der originalen Buchausgabe. Damen Conversations Lexikon. Herausgegeben im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen von C. Herloßsohn, 10 Bde., Bd. 1-2 Leipzig u. Bd. 3-10 Adorf 1834-1838 [=Digitale Bibliothek 118, DVD-Rom-Ausgabe, Berlin 2005]. Im Folgenden mit der Sigle DCL, Band- und Seitenzahl der originalen Buchausgabe. Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk. Ein Handbuch zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung, 4 Bde., Leipzig 1837-1841 [=Digitale Bibliothek 146, DVD-Rom-Ausgabe, Berlin 2006]. Im Folgenden mit der Sigle DCL, Bandund Seitenzahl der originalen Buchausgabe. Herders Conversations-Lexikon. Kurze aber deutliche Erklärung von allem Wissenswerthen aus dem Gebiete der Religion, Philosophie, Geschichte, Geographie, Sprache, Literatur, Kunst, Natur- und Gewerbekunde, Handel, der Fremdwörter und ihrer Aussprache etc. etc., 5 Bde., Freiburg im Breisgau 1854-1857 [=Digitale Bibliothek 133, DVD-Rom-Ausgabe, Berlin 2005]. Im Folgenden mit der Sigle DCL, Band- und Seitenzahl der originalen Buchausgabe. Pierer´s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, 19 Bde., [4. Aufl.] Altenburg 1857-1865 [=Digitale Bibliothek 115, DVD-Rom-Ausgabe, Berlin 2005]. Im Folgenden mit der Sigle DCL, Band- und Seitenzahl der originalen Buchausgabe.

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Die genannten Werke werden herangezogen, weil sie alle in digitalisierter Form zugänglich sind. Benützte man die Originalkompendien, wäre es angesichts des immensen Textumfangs von zusammengenommen über 55.000 Buchseiten nur möglich, stichprobenartig nach einzelnen Lemmata zu suchen und die zugehörigen Artikel zur Kenntnis zu nehmen. Die digitale Aufbereitung der Lexika erlaubt dagegen schnellere, exaktere und somit wesentlich effizientere Analysen. Neben der üblichen Lemmasuche ist es mittels Volltextsuchen möglich, in allen Artikeln gezielt nach einzelnen Begriffen zu suchen, die Häufigkeit ihrer Nennung festzustellen und sichtbar zu machen, in welchen Kontexten die Schmutzsemantik in den Lexika verwendet worden ist. Um valide Ergebnisse zu erhalten, darf freilich nur auf solche enzyklopädischen Werke zurückgegriffen werden, die nach einheitlichen wissenschaftlichen Kriterien digital erschlossen worden sind. Diese Bedingung schränkt die Auswahl auf die erwähnten sechs in der Digitalen Bibliothek veröffentlichten Wissenskompendien ein. Weil sie auflagenstarke Werke der vier großen Lexikonverlage (Brockhaus, Meyer, Herder, Pierer) enthält und verschiedene Phasen des 19. Jahrhunderts abdeckt, handelt es sich um einen repräsentativen Querschnitt durch die Gattung deutschsprachiger populärer Enzyklopädien jener Zeit. Weitere Informationen zu den Lexika (Erscheinungsorte, Verlage, Erscheinungszeiträume, Bandanzahl, Artikelanzahl, Seitenumfänge) sind im Anhang des Buches aufgelistet. Abschnitt 3.1 führt nun in die Geschichte der Konversationslexika ein, die auf der Basis der Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie von Ulrike Spree und verschiedener anderer Sekundärliteratur10 umrissen wird. Ziel ist es, ihre kulturelle Be9

Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 20 Bde., [6. Aufl.] Leipzig u. Wien 1905-1909 [=Digitale Bibliothek 100, DVD-RomAusgabe, Berlin 2003]. Im Folgenden mit der Sigle DCL, Band- und Seitenzahl der originalen Buchausgabe. 10 Neben Spree (2000) wurde auf folgende Arbeiten zurückgegriffen: Brauer, Adalbert: Geschichte, Schicksal und Wert älterer und neuerer ‚Konversationslexika‘. In: Aus dem Antiquariat (1983), H. 1, S. A1-A11. Im Folgenden als Brauer (1983). ‒ Herren, Madeleine u. Michel, Paul: Unvorgreifliche Gedanken zu einer Theorie des Enzyklopädischen. Enzyklopädien als Indikatoren für Veränderungen bei der Organisation und der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen. In: Dies. u. Rüesch, Martin (Hgg.): Allgemeinwissen und Gesellschaft. Akten des internationalen Kongresses über Wissenstransfer und enzyklopädische Ordnungssysteme, vom 18. bis 21. September 2003 in Prangins. Aachen 2007, S. 9-74. Im Folgenden als Herren/Michel (2007). ‒ Hingst, Anja zum: Die Geschichte des Großen Brockhaus. Vom Conversationslexikon zur Enzyklopädie. Wiesbaden 1995. Im Folgenden als Hingst (1995). ‒ Jäger, Georg: Der Lexikonverlag. In: Ders. (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, Das Kaiserreich 1870-1918, Teil 1. Frankfurt am Main 2001, S. 541-574. Im Folgenden als Jäger (2001). ‒ Meyer, Georg: Das Konversations-Lexikon, eine Sonderform der Enzyklopädie. Ein Beitrag zur Geschichte der Bildungsverbreitung in Deutschland. [Diss.] Göttingen 1965. Im Folgenden als Meyer (1965). ‒ Sacher, Hermann: Die Lexika. In: Der Verlag Herder und das katholische Leben 1801/1951. Freiburg 1951, S. 87-99. Im Folgenden als Sacher (1951). ‒ Schäfer, Roland: Die Frühgeschichte des Großen Brockhaus. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 3 (1993), S. 69-84. Im Folgenden als Schäfer (1993). ‒ Seemann, Otmar: Konversationslexika und Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit des Brockhaus-Lexikons (1809-

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deutung für das 19. Jahrhundert festzumachen. Anhand von Vorworten und Artikeln wird ausführlich auch die Programmatik der sechs ausgewählten Lexika beleuchtet und betrachtet, nach welchen Kriterien die gegebenen Informationen für ‚konversationstauglich‘ befunden wurden. Um in 3.2 die Ergebnisse der Lemmasuche und in 3.3 die Ergebnisse der Volltextsuche angemessen bewerten zu können, müssen die Intentionen berücksichtigt werden, mit denen Wissen in den Populärenzyklopädien vermittelt worden ist. Dadurch soll eine allzu reduktionistische Sichtweise vermieden werden, vor der Ines Prodöhl warnt: Zu den „Möglichkeiten der Textsorte“, die nicht übersehen werden dürften, zähle, dass sie „die Macht haben“ könne, „Standards und Normen des Wissens zu beeinflussen“, manches Wissen „festzuschreiben und zu platzieren, anderes hingegen auszublenden und zu verschweigen“ 11, so Prodöhl. Letzteres trifft, wie sich zeigen wird, auch auf viele Aspekte zu, die als Schmutz an den Rand der diskursiven Ordnung verschoben wurden.

3.1 GESCHICHTE, PROGRAMMATIK UND KULTURELLE BEDEUTUNG DER KONVERSATIONSLEXIKA IM 19. JAHRHUNDERT Die Geschichte der großen Konversationslexika des 19. und 20. Jahrhunderts begann 1796. Genreprägend ist das ab jenem Jahr von Renatus Gotthelf Loebel redigierte und von Christian Wilhelm Franke herausgegebene Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten gewesen. Im 18. Jahrhundert hatte es bis dahin drei vorherrschende Typen allgemeiner Enzyklopädien gegeben 12: Universallexika13, in denen dem Anspruch nach das komplette Wissen der Zeit zusam1820). In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte, Jg. 18/19 (1993/94), S. 52-60. Im Folgenden als Seemann (1993/94). 11 Prodöhl, Ines: Die Politik des Wissens. Allgemeine deutsche Enzyklopädien zwischen 1928 und 1956. Berlin 2011, S. 6. Im Folgenden als Prodöhl (2011). 12 Ein Überblick über die Geschichte allgemeiner Enzyklopädien im 18. Jahrhundert, auf der auch die Typisierung basiert, vgl. Spree (2000), S. 24-32. Zur Geschichte großer Enzyklopädien finden sich eine Menge Informationen bei Zischka, Gert A.: Index lexicorum. Bibliographie der lexikalischen Nachschlagewerke. Wien 1959 auf S. XI-XLIV. ‒ Zur Geschichte des Begriffs ‚Enzyklopädie‘ vgl. Vogelsang, Klaus: Zum Begriff ‚Enzyklopädie‘. In: Stammen, Theo; Weber, Wolfgang E. J. (Hgg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Berlin 2004, S. 1523. 13 Johann Heinrich Zedlers zwischen 1731 und 1754 erschienenes Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste ist das umfangreichste deutschsprachige Universallexikon des 18. Jahrhunderts. In insgesamt 68 Bänden ist Wissen aus den verschiedensten Themengebieten zusammengefasst worden. Vgl. Schneider, Ulrich J.: Die Konstruktion des allgemeinen Wissens in Zedlers ‚Universal-Lexicon‘. In: Stammen, Theo u. Weber, Wolfgang E. J. (Hgg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Berlin 2004, S. 81-101 [=http://www.zedler-lexikon.de/index.html?c=startseite&l=de (geöffnet am 14.03.2016)].

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mengefasst werden sollte; Zeitungslexika14, in denen vor allem aktuell-politisches, geographisch-kulturelles und historisches Wissen präsentiert wurde, mit welchem sich Leser das Verständnis von Zeitungen erschließen sollten; sowie die Sonderform der Kuriositätenlexika, in denen interessante und merkwürdige Inhalte zur Unterhaltung dargeboten wurden. Loebel und Franke kombinierten für ihr Conversationslexikon Aspekte jeden Typs. Laut Spree machten sie „die Auswahl der Inhalte von den vermuteten Bedürfnissen des Publikums“15 abhängig. In unterhaltendem Ton sollten Kenntnisse aus allen Wissensbereichen vermittelt werden, auf Universalität stellten sie jedoch keinen Anspruch. In ihrem Lexikon sollten aber alle diejenigen „lehrreich[en] und wichtig[en]“ Informationen enthalten sein, die „einen Gegenstand der Conversation abgebe[n]“ würden und darum „jeder als gebildeter Mensch wissen“16 müsse. Mit ihrem Konzept hatten Loebel und Franke zwar einen neuen Lexikontyp kreiert, der auf dem Buchmarkt des 19. Jahrhunderts zu einem Erfolgsprodukt werden sollte, allerdings war ihrem Conversationslexikon kein verlegerischer Erfolg beschieden. Bis zum Tod Loebels im Jahr 1799 sind drei, bis 1808 in verschiedenen Verlagen noch zwei weitere Bände erschienen. In jenem Jahr hat Friedrich Arnold Brockhaus auf der Leipziger Michaelismesse für 1.800 Taler die Rechte an dem unvollendet gebliebenen Werk erworben. Inklusive des ausstehenden sechsten Bandes und zweier Ergänzungsbände brachte es Brockhaus in seinem „Kunst- und IndustrieComptoir“ zwischen 1809 und 1811 unter dem Titel Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissenschaften und Künsten vorkommenden Gegenstände mit beständiger Rücksicht auf die Ereignisse der älteren und neueren Zeit neu heraus. Dieses oftmals als ‚UrBrockhaus‘ bezeichnete Werk ist in einer Auflage von 2.000 Exemplaren vertrieben worden.17 Brockhaus hat auch die programmatische Vorrede des ersten Bandes wieder abgedruckt, in welcher der Herausgeber 1796 die inhaltliche und stilistische Ausrichtung am Konversationsbegriff reflektiert hatte. Darin heißt es, dass sich Franke und diejenigen „seiner Freunde, welche ihn bei diesem Werke unterstützt haben“18, am Konversationsverhalten „gebildeter Mensch[en]“19 orientiert hätten, welches sich in

14 Das bekannteste Zeitungslexikon des 18. Jahrhunderts ist ab 1704 unter dem Titel Reales Staats- und Zeitungslexikon von Johann Friedrich Gleditsch verlegt, oftmals aber dem Verfasser der Vorrede Johann Hübner zugeschrieben worden; bis heute wird es zumeist als ‚Hübner‘ bezeichnet. Ab der 1709 herausgebrachten 4. Auflage hieß es Reales Staats-, Zeitungs- und Conversations-Lexikon. Das Werk ist mehr als einhundert Jahre immer wieder neu aufgelegt und überarbeitet worden; zwischen 1824 und 1828 ist die 31. und letzte Auflage in drei Bänden erschienen. Vgl. Meyer (1965), S. 30-32. 15 Spree (2000), S. 32. 16 Vorrede. In: CL, Bd. 1, S. V-XIV, S. IX-X. ‒ Da die Vorrede mit „der Herausgeber“ unterzeichnet ist, ist die Autorschaft von Christian Wilhelm Franke anzunehmen. 17 Zur Vorgeschichte des ‚Ur-Brockhaus‘ vgl. Schäfer (1993), S. 70-75. ‒ Die Zahl von 2.000 Exemplaren nennt Hingst (1995), S. 105. 18 Vorrede. In: CL, Bd. 1, S. V-XIV, S. XIII. 19 Ebd., S. IX.

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den vergangenen „dreißig, vierzig Jahren“20 merklich verändert habe. Während früher ausschließlich politische Themen diskutiert worden wären, seien seither auch viele andere „Gegenstände aus den verschiedensten Wissenschaften in das gesellschaftliche Gespräch eingedrungen“, so dass sich das Feld der Konversation „gar sehr erweitert“21 habe. Aus jener Beobachtung heraus hatte Franke den Bedarf für „ein dem gegenwärtigen Umfange der Conversation angemessenes Wörterbuch“ abgeleitet, dessen Bestreben darin liegen sollte, den Lesern durch gegenwärtige Erklärung der in das gemeine Leben übergegangenen wissenschaftlichen Kenntnisse und Begriffe die Theilnahme an einer lehrreichen Unterhaltung und zu gleicher Zeit die Benutzung schätzbarer Schriften zu erleichtern.22

Die Ausrichtung an einem weitgefassten Konversationsbegriff lief demzufolge auf eine interdiskursive Auswahl des Stoffes hinaus. Unter „sorgfältiger Vermeidung der Einseitigkeit“ verfolgte man das Ziel, „so viel wie möglich über alle gemeinnützigen Zweige des menschlichen Wissens zu verbreiten“; allerdings sollte aus allen „verschiedenen Kenntnissen bloß das gemeininteressante heraus[gehoben werden], wovon vorzüglich im gemeinen Leben die Rede“23 wäre. Das Conversations-Lexikon sollte mithin kein Archiv allen wissbaren Wissens, sondern ein Nachschlagewerk für diejenigen Kenntnisse aus „der Geographie, Geschichte, Mythologie, Philosophie, Naturlehre, den schönen Künsten und andern Wissenschaften“24 sein, die man im „gemeinschaftlichen Conversations-Kreis […] schon aus Höflichkeit voraussetz[en]“ müsse und dessen Fehlen man „ohne Scham nie verrathen“ 25 dürfe. Mit diesen Worten hatte Franke auf ein gesellschaftliches Bedürfnis aufmerksam gemacht, dass durch den Kauf seines Conversations-Lexikons befriedigt werden könnte. Die Vermittlung von Konversationswissen pries er als Bereitstellung sozialer Kompetenz. 26 Mit dem Werk würde er Leserinnen27 und Lesern „eine Art von Schlüssel“ an die Hand geben, mit dem sie „sich den Eingang in gebildete Zirkel und in den Sinn guter

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Ebd., S. VI. Ebd. Ebd., S. VII. Ebd. Ebd., S. IX. Ebd., S. VI. Vgl. Spree (2000), S. 59-60, die das Conversations-Lexikon zu Recht in die Nähe zeitgenössischer Umgangslehren rückt. Mit der Enzyklopädie sollte den Lesern genügend Wissen an die Hand gegeben werden, um im geselligen Umgang wenigstens einen „Schein“ an „Geistesbildung“ zu evozieren, wie es in der Vorrede. In: CL, Bd. 1, S. V-XIV auf S. VI heißt. 27 Im Vorwort hatte Franke verkündet, dass mit der Enzyklopädie auch „das schöne Geschlecht“ erreicht werden sollte, „welchem, vermöge seiner gegenwärtigen Verhältnisse, ein solches Werk nicht weniger willkommen sein muß als dem männlichen“; aus dem Grund wollte man es zusätzlich unter dem Titel Frauenzimmer-Lexikon zur Erleichterung der Conversation und Lektüre (ebd., S. XIV) verlegen. Hinweise darauf, dass die Idee in die Tat umgesetzt worden wäre, gibt es allerdings keine.

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Schriftsteller“28 eröffnen könnten. Dabei betonte er auch, dass die Aneignung von Konversationswissen mit Hilfe seiner Enzyklopädie keineswegs mühsam wäre. Im gesamten Werk wäre kein belehrender, sondern ein unterhaltend-zwangloser Sprachduktus eingehalten worden, mit dem bei den Rezipienten der Reiz geweckt werden sollte, sich „Kenntnisse zu verschaffen.“29 Somit war das Conversations-Lexikon stilistisch und auch inhaltlich an die Konventionen der „Conversationssprache“ angepasst, die „in gewissen Gesellschaften, die sich der geselligen Unterhaltung wegen versammlen“, vorherrschten; man imitierte jenen „Ton“30, der in bildungsbürgerlichen Salons gepflegt wurde. Die 2.000 Exemplare des ‚Ur-Brockhaus‘ wurden rasch abgesetzt. Zwischen 1812 und 1819 ist das Werk mehrfach überarbeitet und als 2., 3. und 4. Auflage mit 1.500 bis 2.000 Exemplaren vertrieben worden, die ebenfalls schnell vergriffen waren. 1819 und 1820 kam unter dem veränderten Titel Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon) eine umgearbeitete und erweiterte 5. Auflage heraus, die nun etwa zweieinhalb Mal so viel Umfang besaß, wie der ‚UrBrockhaus‘ und 32.000 Mal gedruckt wurde. Kurz nachdem Friedrich Arnold Brockhaus 1823 starb und gerade die 6. Auflage (1822-1826) herausgegeben wurde, bilanzierte der in Leipzig ansässige Verlag, dass in den 27 Jahren, seitdem Loebel und Franke das Werk begonnen hatten, 60.000 Exemplare des Lexikons vertrieben worden waren. Die Übersetzungen ins Dänische, Schwedische, Holländische und Russische sowie die legalen und illegalen Nachdrucke hinzuzählend, schätzte man, dass insgesamt sogar rund 70.000 Exemplare im Umlauf waren.31 Für diesen Erfolg macht Roland Schäfer in einem Aufsatz über Die Frühgeschichte des Großen Brockhaus vor allem zwei Gründe verantwortlich. Einerseits hätten die brockhausschen Enzyklopädien das angestiegene Bildungsstreben des Bürgertums befriedigt, das sich dem Adel gegenüber, der weiterhin weitaus größeren politischen Einfluss besaß, zu emanzipieren versuchte.32 Das Conversations-Lexikon scheint mithin tatsächlich als der von Loebel und Franke angedachte anwendungsfreundliche Schlüssel für einen bildungsgewandten Umgang nutzbar gewesen zu sein. Andererseits verweist Schäfer auf die in den Lexikonartikeln vorherrschende liberale 33 Haltung, mit der „die politischen Interessen des bürgerlichen Lesepublikums“ 34 bedient wurden. Die in den Auflagen der 1810er- und 1820er-Jahre durchaus spürbare patriotisch-antinapoleonische Wendung habe nämlich keine perspektivische Verengung mit sich gebracht. Spree

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Ebd., S. VIII-IX. Ebd., S. IX. [Art.] Conversation. In: CL, Bd. 7, S. 241. Zahlen zu den Auflagenhöhen nennen Schäfer (1993), S. 80-82 und Hingst (1995), S. 114115 u. passim. 32 Vgl. Schäfer (1993), S. 80. 33 Prodöhl (2011) hebt die „liberalen Gesellschaftsvorstellungen“ (S. 34) von Friedrich Arnold Brockhaus hervor. Es habe sich um „keine parteipolitische“, sondern um „eine überpolitische aufgeklärte Gesinnung“ gehandelt, an die sich „ein ungebrochenes Vertrauen in die konfliktfreie Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft“ (S. 35) knüpfte. 34 Schäfer (1993), S. 80.

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betont, dass man im „Brockhaus weiterhin ausdrücklich einen genuin europäischen und keineswegs deutsch-nationalen Blickwinkel“35 verfolgte. Die Nachfrage nach den Brockhauskompendien hielt auch in den Folgejahrzehnten an. Von der 7. Auflage (1827-1828) sind insgesamt 27.000, von der 8. Auflage (1833-1837) 31.000 und von der 9. Auflage (1843-1848) mehr als 30.000 Exemplare gedruckt und verkauft worden.36 Die erwähnten hohen Auflagenziffern konnte der Verlag nur aufgrund des Einsatzes neuartiger Schnellpressen bewerkstelligen. 37 Zu jeder Version war außerdem ein in ebenfalls hohen Stückzahlen produziertes ergänzendes Werk erschienen, mit dem die Besitzer älterer Editionen den neuesten Kenntnisstand einholen und Informationen über die jüngsten zeithistorischen Ereignisse erfahren konnten. Neben den andauernden Neuauflagen des Hauptwerkes garantierte besagtes Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur38 die in den Vorworten stets betonte Aktualität39 der enzyklopädischen Unternehmungen des Verlags „F. A. Brockhaus“. Erstaunlich ist, dass die Absatzahlen der brockhausschen Konversationslexika auch aufgrund anderer, vom verlegerischen Erfolg motivierter Konkurrenzunternehmungen40 nicht einbrachen. Für die Zeit ab den 1830er-Jahren hat Spree zwei Trends im Bereich populärer Enzyklopädien festgemacht, mit denen die Verlage „eigene Nische[n] auf dem Markt“41 zu besetzen versuchten. Die großen Enzyklopädien sind immer universalistischer ausgerichtet worden. Daneben traten kleinere Konversationslexika, deren Inhalte zielgruppenorientiert „nach vermuteten klassenspezifischen oder gruppenspezifischen Interessen“42 ausgewählt wurden; die vielfältige Konversationslexikonlandschaft hat Anja zum Hingst in ihrer Geschichte des Großen Brockhaus mit folgender Aufzählung veranschaulicht: Da gab es z.B. ein Conversations-Lexikon für Jäger und Jagdfreunde, eines für Weintrinker und Weinhändler oder eines für Geist, Witz und Humor, ein Landwirthschaftliches, Musikalisches oder Studentikoses Conversations-Lexikon, eines für Damen und eines für Kinder, es gab Das Neue Conversations-Lexikon zur Kenntnis der berüchtigten jüdischen Gauner und Spitzbuben neuerer Zeit in Deutschland und schließlich ein Conversationslexikon der Liebe oder Wörterbuch der Liebe von A bis Z.43 35 Spree (2000), S. 60. 36 Diese Zahlen nennen Meyer (1965), S. 60, S. 70 u. S. 72 sowie Hingst (1995), S. 129-130. ‒ Dass die hohen Auflagenziffern auch mit der sinkenden Analphabetenrate korrespondierte, vermutet auch Prodöhl (2011), S. 33. 37 Vgl. Meyer (1965), S. 128. 38 Informationen zu diesem Nebenwerk der brockhausschen Enzyklopädie geben ebd., S. 70 und Hingst (1995), S. 129. 39 Vom „Geist der Zeit“, an dem man sich orientierte, ist bereits im Vorwort des ‚UrBrockhaus‘ die Rede gewesen; siehe Vorrede. In: CL, Bd. 1, S. V-XIV, S. X. 40 Auf „Nachfolger und Konkurrenten des Großen Brockhaus“ geht Hingst (1995), S. 34-51 ein. Informationen zu Konkurrenzunternehmungen der 1810er-Jahre finden sich bei Seemann (1993/94). 41 Spree (2000), S. 41. 42 Ebd., S. 46. 43 Hingst (1995), S. 35.

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Speziell an Frauen ist das von Carl Herloßsohn „im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen“44 herausgegebene Damen Conversations Lexikon adressiert gewesen, mit dem der ehemalige ‚Brockhaus‘-Mitarbeiter den „verschiedenen, dem weiblichen Geschlechte ausnahmsweise eigenen Ansprüche[n] und Bedürfnisse[n]“ 45 entgegenzukommen gedachte. Die Inhalte seien „im Geiste der Frauen“ 46 geprüft und veranschaulicht worden, beteuerte Herloßsohn in der Vorrede des zwischen 1834 und 1838 in 10 Bänden veröffentlichten Werks. Das für die Stoffauswahl zugrundegelegte „weibliche Interesse“47 bemaß sich an der gesellschaftlichen Position der Frauen, die, wie man im entsprechenden Artikel nachlesen kann, auf ihren natürlichen Eigenschaften basieren würde. Mit ihren charakterlichen Stärken der „Treue, Liebe, Milde, Herzensgüte, Begeisterung, Selbstaufopferung, grenzenlose[n] Hingebung“ würden sie an der Seite der Männer einen wichtigen „Einfluß […] auf das Fortschreiten des Menschengeschlechts, auf Sittlichkeit, auf das Schöne und Erhabene in Staat und Haus, in Poesie und Wissenschaft“48 ausüben. „Das Weib ergänzt den Mann“49 mit ihren Eigenschaften. Weniger rational, wäre eine Frau intuitiver, emphatischer und gefühlsbetonter als jener und ihm „in allen edlern Regungen des Geistes und Gemüthes“50 überlegen. In Geschmacks- und Schicklichkeitsfragen wäre ihr Urteil zumeist instinktiv richtiger: „Er bedenkt, bevor er fühlt, sie fühlt, bevor sie bedenkt.“51 Dagegen müsse man einem Mann neben der verstandesmäßigen auch „moralische und physische Überlegenheit“ zugestehen, weswegen er „für die Welt geschaffen“52 sei. Ihm obliege „die Ausführung großer wichtiger Entwürfe für die Menschheit“, während ihr „die Sorge für den stillen Familienkreis“ 53 zukommen müsse. Nur dort könne eine Frau mit ihren positiven Eigenschaften auf ihren Gatten, die Kinder und dadurch auf „die Kultur; also mittelbar auf die ganze Menschheit“ 54 wirken. Der „Brennpunkt weiblicher Bildung“ bestünde demnach in der Pflicht, Männer „von allen Schlacken der Kindheitseindrücke, dem Eigendünkel und besonders der Empfindelei, zu reinigen“55, was Aufgaben wären, für die eine Frau ein „gutes Herz, ein[en] gebildete[n] Geschmack und gesunde[n] Menschenverstand“56 besitzen sollte. Im Artikel über die „Bildung“ wird ausgeführt, dass sie deshalb kein tiefergehendes Wissen in Bereichen wie Politik, Wissenschaft oder Kunst benötigen würde:

44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56

Zitat aus dem Untertitel des DCL. Vorrede. In: DCL, Bd. 1, S. III-VI, S. III. Ebd. Ebd. [Art.] Frauen. In: DCL, Bd. 4, S. 230-240, hier S 231. Ebd. Ebd., S. 232. Ebd. Ebd. Ebd., S. 233. Ebd. [Art.] Bildung. In: DCL, Bd. 2, S. 69-70, S. 70. [Art.] Frauen. In: DCL, Bd. 4, S. 230-240, hier S 232.

102 | Die Verschmutzung der Literatur

Es kommt nicht darauf an, daß die Bildung der Gattin eine ausgedehnte sei, sondern vielmehr darauf, wie sie ihre Ausbildung der ihres Gatten anzupassen verstehe, damit sich jede Schärfe seines Geistes glätte am Polirsteine ihres Gemüthes; sonst ist ihre Erziehung nur eine Nebenstimme.57

Aus diesem paternalistischen Verständnis heraus hat Herloßsohn in der Vorrede auch die Auswahl der Inhalte seines Damen Conversations Lexikons hergeleitet: „je nachdem sie sich der weiblichen Sphäre mehr oder weniger nähern“, sei ihnen „ein minderer oder größerer Raum gestattet“58 worden. Dabei sind außerhalb des weiblichen Interessensbereichs liegende Themengebiete wie die Historie ausschließlich „Männern anvertraut [worden], die bei einer gediegenen Kenntniß des Stoffes auch einer romantischen Darstellung desselben fähig“59 gewesen seien. Die vermittelten Kenntnisse sollten für Frauen nützlich und wissenswert, aber auch an und für sich schön sein. Um den „Richterinnen des Geschmackes genüge“ zu leisten, sollten die Inhalte außerdem in einer ernsten, würde- und geschmackvollen „Form“60 aufbereitet werden. Keinesfalls durften Dinge „unschmackhaft, unschön“ oder „grell“ in Szene gesetzt werden; in einem angenehmen Konversationston vermittelt, sollte das präsentierte Wissen stattdessen „stets elegant, sittig, leidenschaftslos“ daherkommen und „mit Witz, Laune, Humor, Bonmots durchflochten“61 sein. Während das Damen Conversations Lexikon an den mutmaßlichen Wissensbedürfnissen bürgerlicher Frauen ausgerichtet war, brachte man im Verlag „F. A. Brockhaus“ mit dem Bilder-Conversations-Lexikon fast zeitgleich eine Enzyklopädie heraus, mit der man sich explizit „allen Classen des gesammten deutschen Volkes“ 62 zuwenden wollte. Bemüht darum, die Hemmschwelle zum Kauf des zwischen 1837 und 1841 erschienenen Lexikons niedrig zu halten, betonten die Herausgeber in Vorund Schlusswort, dass sie in den vier Bänden das „Strengwissenschaftliche“ 63 zugunsten eines allgemeinverständlicheren Ausdrucks vermieden hätten. Um ein möglichst „populaire[s] Werk“64 anbieten zu können, habe man sich einerseits die Mühe gemacht, Wissen unterhaltsam aufzubereiten. Andererseits habe man darauf geachtet, dass die vermittelten Kenntnisse für einen möglichst großen Adressatenkreis nützlich und wissenswert wären. Bei der Stoffauswahl seien deshalb nicht nur die lebensweltlichen Bedürfnisse der bildungsbürgerlichen, sondern aller Bevölkerungskreise berücksichtigt worden. Mit dem Lexikon sollte auch den unteren und weniger gebildeten Classen des deutschen Volkes ein Mittel geboten werden, über die im gewöhnlichen Leben vorkommenden Dinge, über Personen wie Sachen, besonders über praktische Gegenstände und

57 58 59 60 61 62 63 64

[Art.] Bildung. In: DCL, Bd. 2, S. 69-70, S. 69. Vorrede. In: DCL, Bd. 1, S. III-VI, S. V. Ebd., S. IV. Ebd., S. III. [Art.] Conversation. In: DCL, Bd. 2, S. 489-490, S. 489. Vorwort. In: BCL, Bd. 1, S. V-VI, S. V. Ebd. Ebd.

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dahin einschlagende Fragen über allgemein volksthümliche und namentlich deutsche Angelegenheiten und Verhältnisse, gemeinfaßliche Auskunft zu erhalten. 65

Während im ‚Ur-Brockhaus‘ die Exklusivität des Konversationswissens hervorgehoben worden war, dessen Fehlen in geselliger Runde schamhaft empfunden werden sollte, ist im Bilder-Conversations-Lexikon ein offeneres, sozial integratives und weniger restriktives Verständnis von Konversation vertreten worden. Im gleichnamigen Artikel wurde betont, dass der Begriff nicht nur eine „Unterhaltung in gebildeten Kreisen“66 bezeichne, sondern weiter zu fassen sei. Jeder könne mit etwas Mühe „eine Geist und Verstand angenehm anregende gesellige Unterhaltung“67 führen. Voraussetzung sei nur, dass man „Niemanden darin behindern“68 dürfe: selbst dann nicht, wenn man eine andere Meinung verträte. Sowohl von gebildeten als auch von weniger gebildeten Gesprächspartnern wurde gegenseitige Rücksichtnahme eingefordert. Die sich abzeichnende soziale Öffnung des Konversationsbegriffs ging demnach mit einer Betonung tradierter Konversationsideale einher: „Angeborener Takt, feine Sitte und der heitere Charakter“69 galten weiterhin als unabdingbare Gradmesser einer gelungenen Unterhaltung. Auch im Bilder-Conversations-Lexikon orientierte man sich somit an Regeln des guten Tons, was bedeutete, dass all das, „was der Gesellschaft oder auch nur einzelnen Anwesenden unangenehm sein könnte, […] gewissenhaft vermieden werden“70 musste. Konversation wurde als eine konfliktfreie Kommunikationsweise imaginiert, mit der sich auch Personen aus unterschiedlichen sozialen Milieus durch Verzicht auf kontroverse Themen verständigen können sollten. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden auch für eine katholische Leserschaft Konversationslexika verfasst. Bedeutendstes Nachschlagewerk dieser Art ist Herders Conversations-Lexikon gewesen, das zwischen 1854 und 1857 in fünf Bänden erschienen ist. Von dem Werk sind mindestens 10.000 Exemplare abgesetzt worden. Als Konkurrenzunternehmung zum liberalen ‚Brockhaus‘ ist die in der „Herder´schen Verlagsbuchhandlung“ in Freiburg im Breisgau herausgegebene und von Johannes Bumüller redigierte Enzyklopädie inhaltlich an die „Welt- und Lebensanschauung des katholischen Menschen“71 angepasst worden. Ein programmatisches Vorwort wurde dem Werk nicht beigegeben; dem langen Untertitel nach handelte es sich um eine „[k]urze aber deutliche Erklärung von allem Wissenswerthem aus dem Gebiete der Religion, Philosophie, Geschichte, Geographie, Sprache, Literatur, Kunst, Natur- und Gewerbekunde, Handel, der Fremdwörter und ihrer Aussprache etc. etc.“72 Neben dem Vorrang für religiöse Themen fällt der prägnante Stil auf, mit der die Inhalte präsentiert wurden. Der Aspekt der Unterhaltung spielte in Herders Conversations-Lexikon keine Rolle. Knapp fällt dementsprechend auch die im Arti65 66 67 68 69 70 71 72

Schlußwort. In: BCL, Bd. 4, S. IV. [Art.] Conversation. In: BCL, Bd. 1, S. 468-469, S. 468. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Hingst (1995), S. 51. Zitat aus dem Titel des HCL.

104 | Die Verschmutzung der Literatur

kel ‚Conversation‘ mitgegebene Erklärung aus, wonach ein Konversationslexika dazu da sei, „das im Leben Brauchbare in lexikalischer, zum Nachschlagen bequemer Form“73 aufzuspeichern. „[P]raktische Lebenshilfe“74 für Katholiken anbietend, reduzierte man Wissensvermittlung im ‚Herder‘ damit auf einen funktionalen Kern. Mit diesem Profil schaffte es der Verlag, seine Enzyklopädie neben dem ‚Brockhaus‘, dem ‚Meyer‘ und dem ‚Pierer‘ zu etablieren: zwischen 1875 und 1879 ist eine 2., ab 1903 eine 3. Auflage herausgebracht worden.75 Der Trend zu universell ausgerichteten Populärenzyklopädien hatte bereits 1822 mit einem als Encyklopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe betitelten Lexikon begonnen. Das Werk ist bewusst nicht als ein der Konversation dienendes Lexikon konzipiert und benannt worden. Mit einem aktuelles Zeitgeschehen aussparendem, reichhaltigerem Themenspektrum, mehr Stichworten und einer präziseren und sachlicheren Art der Darstellung als bis dahin üblich, sollte es ein gebildetes Publikum ansprechen und neben dem ‚Brockhaus‘ bestehen können. In den ersten Jahren blieb der Erfolg allerdings aus. Der erste Verleger hatte bereits nach dem Erscheinen der zweiten Abteilung des ersten Bandes Konkurs anmelden müssen. 1823 erwarb Johann Friedrich Pierer die Rechte und trat die Herausgeberschaft an seinen Sohn Heinrich August Pierer ab, der lange Zeit Mühe hatte, Abnehmer zu finden. Erst als der Preis gesenkt, der Titel in Universal-Lexikon oder vollständiges encyklopädisches Wörterbuch umgeändert wurde und sich abzeichnete, dass das ursprünglich auf vier Bände angesetzte, aber immer größer werdende Werk tatsächlich fertiggestellt werden würde, sind die meisten der 5.000 gedruckten Exemplare verkauft worden. 1836 ist der 26. und letzte Band der 1. Auflage erschienen. Ein verlegerischer Erfolg ist erst die zwischen 1840 und 1846 erschienene, 34 Bände umfassende 2. Auflage gewesen, die 1851 bis 1854 inhaltlich unverändert in 17 Bänden als 3. Auflage neu verlegt und mit Supplementbänden ergänzt wurde. Die neu bearbeitete 4. Auflage ist in den Jahren 1857 bis 1865 unter dem Titel Pierer's UniversalLexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe von Eugen Pierer, dem Sohn des inzwischen verstorbenen Heinrich August Pierer, herausgegeben worden. 76 Dem von der Verlagshandlung unterzeichneten Vorwort ist zu entnehmen, dass das Lexikon als wissenschaftlich fundiertes Nachschlagewerk das Bedürfnis nach Allgemeinbildung gleichsam bedienen und verstärken sollte: Wissenschaftlicher Ernst, uninteressirte Freude an den Resultaten der Forschung auf allen Gebieten des Wissens, und das daraus hervorgehende Streben, die allgemeine Bildung zu heben und zu fördern und Jedem Gelegenheit zu geben, sich über das Wissenswerthe aus den Wissenschaften, Künsten, Gewerben, aus der Literatur und Geschichte der Vergangenheit und Gegenwart zu belehren: das war die Basis, auf welcher das Universal-Lexikon entstanden ist, und das 73 [Art.] Conversation. In: HCL, Bd. 2, S. 206. 74 Jäger (2001), S. 556. 75 Die Informationen zu den Konversationslexika der „Herder´schen Verlagsbuchhandlung“ gehen zurück auf ebd., S. 556-557; Meyer (1965), S. 78-81, S. 85-86 u. S. 124-130; Hingst (1995), S. 50-51; Sacher (1951), S. 89-91. 76 Die Informationen zur Geschichte des ‚Pierer‘ gehen zurück auf Brauer (1983), S. A5-A7, Meyer (1965), S. 61-66, Hingst (1995), S. 36-38 sowie Jäger (2001), S. 554-555.

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ist sie jetzt noch, worauf dasselbe in seiner Erneuerung steht. Nicht der materielle Gewinn, der namentlich bei der ersten, unter den schlimmsten Auspicien begonnenen Auflage gleich Null war, sondern das Bewußtsein, etwas Zeitgemäßes und dem allgemeinen Bedürfniß Entsprechendes geliefert zu haben und dafür die reichste Anerkennung im In- und Auslande zu finden, war dem leider zu früh verstorbenen Begründer des Werkes der höchste und schönste Lohn seiner Arbeit.77

Informationen sollten nicht in einem unterhaltenden Konversationston, sondern sachlich vermittelt werden; „Genauigkeit und Zuverlässigkeit des Inhalts“ sollten „die wissenschaftliche Ehre und den guten Ruf“78 der 4. Auflage des ‚Pierer‘ garantieren. Mit „Gewissenhaftigkeit“ habe man ein enzyklopädisches Werk bereitstellen wollen „welches lieber etwas sein als scheinen will.“79 Weil sie vom unterhaltenden Konversationsstil des ‚Brockhaus‘ abgerückt sei, bewertete der Verleger Joseph Meyer die 1. Auflage des ‚Pierer‘ als „die bedeutendste Erscheinung auf dem Felde der allgemeinen Reallexikographie in Deutschland.“80 Allerdings habe das Werk wissenschaftliche Nachweise vermissen lassen und sei in technischer Hinsicht veraltet gewesen. Diese Mängel sollte Das große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände, das Meyer ab 1840 im „Bibliographischen Institut“ verlegte, nicht haben. Dennoch lehnte er seine Enzyklopädie konzeptuell eng an den ‚Pierer‘ an. Sie sollte, wie es im Vorwort heißt, nicht nur „Gegenstände der gebildeten Conversation“, sondern auch „Realien aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe“81 präsentieren. Das große Conversations-Lexikon Meyers sollte auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand sein und alle Kenntnisse enthalten, „die positiven und wesentlichen Werth haben und unsern socialen Bedürfnissen angemessen sind.“82 Nur mit einer solchen Ausrichtung ließe sich das Informationsbedürfnis der „Gelehrten vom Fach“ und der immer größer und in der Gesellschaft immer wichtiger werdenden Gruppe der „Praktiker“83 (Zivil- und Militärbeamte, Handels- und Fabrikherren, Ökonomen und Techniker), die in ihren Berufen in verschiedensten Wissensgebieten „die ausgebreitetsten Kenntnisse“84 benötigten, bedienen. Selbst der „Manne von allgemeiner Bildung“ bräuchte inzwischen ein solch inhaltsreiches Lexikon; schließlich müsse er zur „allgemeinen Conversation“ neben gewandten Umgangsformen auch ein tiefergehendes Verständnis des „wissenschaftliche[n], künstlerische[n], schöngeistige[n] und politische[n] Leben[s] der Gegenwart“ 85 besitzen. Den Gelehrten, den Praktikern und den allgemeingebildeten Laien sollte Meyers Conversations-Lexikon gleichermaßen als „tüchtiges Werkzeug zur intellectuellen

77 78 79 80 81 82 83 84 85

Vorwort. In: PUL4, Bd. 1, S. V-VI, S. V. Ebd., S. VI. Ebd. Vorwort. In: Das große Konversations-Lexikon für die gebildeten Stände, Abth. 1, Bd. 1. Hildburghausen 1840, S. V-XII, S. VII. Ebd., S. IX. Ebd., S. X. Ebd., S. IX. Ebd. Ebd., S. VIII.

106 | Die Verschmutzung der Literatur

Emanzipation“86 dienen. Damit knüpfte der Verleger liberale und fortschrittsoptimistische Ideen an sein Werk, das er „als eine Vorschule für den Real-Unterricht“ verstand, mit dem sich die Nutzer vom „Monopol des Wissens“87 einer gelehrten Elite befreien könnten. Die Freigabe „aller vorhandenen menschlichen Kenntnisse, welche positiven Werth haben“, würde vielen Menschen „ein besseres Loos“ verschaffen und mit dazu beitragen, dass „die öffentliche Wohlfahrt auf breitern, vernünftigern und dauernden Grundlagen befestigt“88 werden könne, hoffte Meyer. Allerdings ist die ursprünglich auf 21 Bände und einen Erscheinungszeitraum von vier Jahren angelegte Unternehmung des „Bibliographischen Instituts“ „organisatorisch“, wie Georg Jäger in einem buchhandelsgeschichtlichen Aufsatz über die großen Lexikonverlage betont, „gänzlich aus dem Ruder“ 89 gelaufen. Sie ist erst nach fünfzehn Jahren 1855 mit dem 52. Band fertiggestellt worden. Als Joseph Meyer 1856 starb übernahm dessen Sohn Herrmann Julius Meyer den Verlag, überarbeitete die väterliche Enzyklopädie mit der Maßgabe größerer politischer Neutralität, setzte inhaltlich auf Aktualität und Zweckmäßigkeit des dargebotenen Wissens, kürzte sie auf 15 Bände zusammen und gab sie zwischen 1857 und 1861 als Neues Konversations-Lexikon für alle Stände heraus.90 Die ersten vier Auflagen des ‚Pierer‘ und die im „Bibliographischen Institut“ erschienenen Konversationslexika stehen für eine Tendenz zur Versachlichung, Verwissenschaftlichung und Universalisierung populärer Enzyklopädien, von der auch die zu jener Zeit von der Firma „F. A. Brockhaus“ herausgegebenen Auflagen geprägt waren. Auch deren Kompendien sollten nicht mehr vornehmlich als Mittel zur Beförderung der Konversation dienen. Ab der Jahrhundertmitte sind alle größeren Konversationslexika zu wissenschaftlich immer belastbareren Auskunftsmitteln umgestaltet worden.91 Um eine dem aktuellen Forschungsstand genügende „objektive Informationsvermittlung“92 zu gewährleisten, arbeiteten in den Redaktionen der Verlage nunmehr zahlreiche Fachgelehrte mit. Gleichzeitig sind die Konversationslexika nicht mehr ausdrücklich an ein gebildetes Publikum adressiert worden: „Aus der Sicht der Lexikographen sind vielmehr alle Leser zu Laien geworden“ 93, so Spree. In den programmatischen Vorworten der nach 1850 erschienenen Werke betonten die Verlage, dass Gelehrte, so sie außerhalb ihres Fachgebiets operierten, selbstverständlich ebenfalls Laien wären, die ihre Wissenslücken wie alle anderen Nutzer mit Hilfe der wissenschaftlich fundierten Nachschlagewerke adäquat ausfüllen könnten. Nach 1860 sind die Verkaufszahlen populärer Enzyklopädien immer stärker angestiegen. Während die Bedeutung des ‚Pierer‘ ab der 5. Auflage abnahm, etablierte sich der ‚Herder‘ als mittelgroßes, für ein katholisches Lesepublikum verfasstes Konversationslexikon. Besonders großen verlegerischen Erfolg hatten die im „Bibliographischen Institut“ verlegten Werke: Von der 2. Auflage (Neues Konversations86 87 88 89 90 91 92 93

Ebd., S. XII. Ebd., S. VI. Ebd. Jäger (2001), S. 562. Vgl. Meyer (1965), S. 81-82 und Hingst (1995), S. 46. Vgl. Spree (2000), S. 69. Jäger (2001), S. 542. Spree (2000), S. 130-131.

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Lexikon für alle Stände, 1861-1873) sind 40.000, von der 3. Auflage (Meyers Konversations-Lexikon, 1874-1878) 160.000 und von der 4. Auflage (Meyers Konversationslexikon, 1885-1892) sogar 200.000 Exemplare erschienen.94 Mit diesen Auflagenhöhen überflügelte der ‚Meyer‘ die fünf zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg herausgegebenen brockhausschen Auflagen deutlich.95 Neben den großen Kompendien vertrieben die Verlage „F. A. Brockhaus“ und das „Bibliographische Institut“ mit Erfolg außerdem kleinere Versionen ihrer Konversationslexika. Das zu einem einbändigen Kompendium komprimierte Meyers Handlexikon des allgemeinen Wissens ist in der 4. Auflage (1888) mit 55.000 Exemplaren und in der 6. Auflage (1893) mit 70.000 Exemplaren verlegt worden.96 Die nahezu exponentielle Steigerung der Verkaufszahlen populärer Enzyklopädien führt Spree auf mehrere zusammenwirkende Faktoren zurück: „Besonders zu nennen sind die Verbilligung der Bücher, das rasante Bevölkerungswachstum, der Ausbau des Bibliothekswesens, der Anstieg der Reallöhne und die Verbesserung der Schulbildung.“97 Mit den genannten Faktoren hängt die soziale Öffnung des Konversationslexikonmarkts zusammen, die sich auch in den programmatischen Vorworten spiegelt. Sie waren nicht mehr nur an bestimmte Bevölkerungskreise, sondern an Nutzer aller gesellschaftlichen Schichten adressiert. War die Anschaffung eines Konversationslexikons in der ersten Jahrhunderthälfte noch ein kostspieliges Unterfangen, das sich Personen aus mittleren sozialen Schichten in der Regel nicht leisten konnten98, so ist der Kauf eines solchen Werkes am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur der Oberschicht vorbehalten gewesen. Neben den Wirtschaftsbürgern und vermögenden Bildungsbürgern gehörten zunehmend auch Beamte, Offiziere, Angestellte und selbständige Handwerker zu den Käufern der großen Lexika. Mit den kleineren Ausgaben öffnete sich der Markt schließlich auch für das Kleinbürgertum, kleinere Handwerker, Bauern, Volksschullehrer, Referendare, Studenten und allmählich auch für besser verdienende Arbeiter.99 Vertrieben worden sind die Konversationslexika in der zweiten Jahrhunderthälfte vornehmlich per modernem Kolportagehandel (vgl. Kap. 8.2). Für die 5. Auflage des ‚Meyer‘ ist bekannt, dass nur etwa 20 Prozent der 233.000 gedruckten Exemplare über den Sortimentsbuchhandel abgesetzt wurden.100 Der ambulante Handel hatte für die Lexikonverlage mehrere Vorteile. Vor allem ermöglichte er eine „geographische Ausdehnung“101 des Geschäfts in ländliche Regionen, in denen es keine Sortimentsbuchhandlungen gab. Desweiteren gestatteten Kolportage- und Reisebuchhandel eine direktere und wirksamere Art der Kundenbetreuung. „Sowohl Kolporteure als auch 94 Vgl. ebd., S. 144. 95 Hingst schreibt, dass die 3. Auflage des ‚Meyer‘ mehr als drei Mal so häufig gedruckt worden ist, wie die fast zeitgleich erschienene 12. Auflage des ‚Brockhaus‘: allerdings hat der Verlag „F. A. Brockhaus“ in der zweiten Jahrhunderthälfte keine Auflagenhöhen mehr bekannt gegeben. 96 Die Zahlen nennt Spree (2000) auf S. 145. 97 Ebd., S. 131-132; auf die genannten Faktoren geht sie auf S. 132-134 ein. 98 Vgl. ebd., S. 121. 99 Vgl. ebd., S. 146 sowie Jäger (2001), S. 552. 100 Vgl. Spree (2000), S. 135. 101 Ebd.

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Reisende suchten die Kunden am Wohnort oder am Arbeitsplatz auf und erschlossen durch die intensive, oft aggressive Kundenansprache den Absatzmarkt weit besser als Ladengeschäfte.“102 Ein weiterer Aspekt ist die größere soziale Ausdehnung der modernen Kolportage gewesen. Händler, die einen auf ihren Wohnort beschränkten so genannten ‚Fliegenden Buchhandel‘ betrieben, erreichten auch „ein weniger kaufkräftiges Publikum“103, das üblicherweise nicht zum Kundenstamm einer Sortimentsbuchhandlung gehörte; über diese Kolporteure setzten die Verlage sowohl die großen Konversationslexika, mehrheitlich jedoch die kleineren enzyklopädischen Werke ab. Daneben hatten die großen Lexikonverlage seit den 1830er-Jahren aber auch eigene Vertriebsnetze aufgebaut; dieser Reisebuchhandel operierte von verlagseigenen Stützpunkten aus. Buchhandlungsreisende zogen mit Broschüren und Musterbänden umher und sammelten auf das Gesamtwerk Abonnenten, die es schließlich zumeist in einzelnen Lieferungen von Boten ausgeliefert bekamen. Der Reisebuchhandel richtete sich eher an ein wohlhabendes Klientel und führte hauptsächlich die großen Lexika im Repertoire.104 Ohne beide Formen der modernen Kolportage wäre der massenhafte Vertrieb der Konversationslexika nicht möglich gewesen. Wie Spree betont, widerlegt dieser Umstand die auch heutzutage noch „gängige Vorstellung“, dass vermittels Kolportage „ausschließlich ‚Schund- und Schmutzliteratur‘ unter das Volk gebracht wurde.“105 Auch im Vorwort der 6., als Meyers Großes Konversations-Lexikon betitelten Auflage ist in einer positiven Weise auf den ambulanten Vertrieb des Werks angespielt worden. Die Verkaufssituation wurde zu einer poetisierten Form der Wissensvermittlung verklärt. Der personifizierte ‚Meyer‘ habe nunmehr „zum sechsten Male seinen Weg durch das deutsche Volk, von Haus zu Haus an[getreten], überall anklopfend, wo lebendiger Wissensdurst, wo der Drang nach höherer Erkenntnis die Geister erhebt und die Herzen erfüllt.“106 Mit Sendungsbewusstsein und selbstbewusstem Pathos betonte man, dass man mit dem Werk „das Beste gewollt und dem deutschen Volke nach bestem Wissen und Gewissen auch das Beste gegeben“ 107 habe. Einerseits sollte es der „Popularisierung der Wissenschaften“108 dienen: um auch die normalen Leser „zu weiterer Beschäftigung mit dem Gegenstande“ ihres jeweiligen Interesses zu animieren, wären die Inhalte „in allgemein verständlicher und anziehender Form dem Auffassungsvermögen des Laien[publikums]“109 angepasst worden. Ande-

102 Jäger (2001), S. 548. 103 Spree (2000), S. 137. 104 Auf die einzelnen Betriebsformen entfallende Verkaufszahlen nennt Jäger (2001), S. 548. Über den Reisebuchhandel sind zwischen 1885 und 1893 124.000 Exemplare des großen und 12.000 Exemplare des kleinen ‚Meyer‘ vertrieben worden. Fliegende Händler haben im selben Zeitraum 19.000 des großen und 26.000 des kleinen ‚Meyer‘ abgesetzt. 105 Spree (2000), S. 141. 106 Zur sechsten Auflage von Meyers-Konversationslexikon. In: MKL6, Bd. 1, S. V-VIII, S. VIII. 107 Ebd. 108 Ebd., S. V. 109 Ebd.

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rerseits habe man sich aber auch darum bemüht, das Lexikon „gegen die schärfsten Waffen der wissenschaftlichen Kritik“110 abzusichern. Man habe sich also die Aufgabe gestellt, der Vertrauensmann der Familien wie der Gelehrtenwelt zu sein. Es soll seinen Platz in der bürgerlichen Familie wie im Studierzimmer des Gelehrten behaupten, aber auch in den Lesesälen jeder Art zur Benutzung ausliegen und so die Macht und den Trost des Wissens den weitesten Kreisen zugänglich machen.111

Der den Konversationslexika seit jeher innewohnende Bildungsgedanke ist durch die Wortwahl beinahe ins Metaphysische gesteigert worden. Angesichts des eigentlich positivistischen Ansatzes ist das bemerkenswert. Das Werk des „Bibliographischen Instituts“ könne selbst den profanen Alltag einfacher Menschen verklären, schließlich würde es „tatsächlich in vielen Hotels und Wirtshäusern, dort in den Lesezimmern, hier an der Wand über den Stammtischen, seinen Ehrenplatz“ einnehmen und „als oberster Schiedsrichter in allen streitigen Dingen“112 fungieren. Das dem ‚Meyer‘ zugesprochene hohe Streitschlichtungspotential beruhte auf dem positivistischen Verständnis von Wissen und der Art und Weise, mit dem es präsentiert werden sollte. Die meyersche Enzyklopädie sollte sich mit dem wirklichen Wissen, mit den positiven, den unerschütterlichen sichern Werten unsers Wissens begnügen und nicht durch Scheinerfolge, auch wenn sie die Augen der Zeitgenossen blenden, verführen lassen; es soll das Flüchtige vom Dauernden zu unterscheiden wissen, auch im höchsten Wogendrang neuer Erscheinungen die Besonnenheit bewahren. Diese Sicherheit und diese Besonnenheit des Urteils müssen sich zur Objektivität erheben, wenn es sich um Dinge handelt, die sich der exakten Forschung entziehen, oder die doch in irgend einer Beziehung streitig sind.113

Indem Meyers Großes Konversations-Lexikon dem Selbstverständnis nach positives, unveränderliches und objektives Wissen vermittelte, sollte es die Lexikonnutzer mit „sichern Werten“ versorgen und auf diese Weise sogar die diskussionsfreudigen Stammtische in Ruhe versetzen können. Dazu habe man „die ungeheure Gesamtheit unsers Kulturbesitzes“ aufgespeichert, dabei ein „Gleichgewicht“ zwischen naturwissenschaftlich-technischen und geisteswissenschaftlichen Kenntnissen hergestellt und auch die wichtigen Aspekte des sozialen Lebens berücksichtigt, die innerhalb kürzester Zeit „von größter Bedeutung geworden sind“; damit würde das Werk „den Geist und die herrschende Strömung der Zeit, in der es entstanden ist, widerspiegeln.“ 114 In weltanschaulicher Hinsicht habe man Neutralität gewahrt und weder „konvervativ[e]“ noch „liberal[e]“115 Standpunkte eingenommen. Als „Vertrauensmann eines politisch vielfach gespaltenen Volkes“ habe man sich „jeder politischen Parteinah-

110 111 112 113 114 115

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. VI. Ebd.

110 | Die Verschmutzung der Literatur

me“ verweigert „und als obersten Gesichtspunkt nur das nationale Interesse“ 116 verfolgt. Das Nationale wurde als überparteilicher, vermeintlich unpolitischer Standpunkt entworfen, von dem aus objektive Perspektivierungen möglich wären. Die Objektivität des ‚Meyer‘, „auf den Rahmen der Nation begrenzt“ 117, ließ sich damit nicht auf internationale Zusammenhänge anwenden. Als ab 1905 die 6. Auflage des ‚Meyer‘ erschien, sind die großen Konversationslexika nicht nur lang schon etablierte, äußerst erfolgreiche Medien des deutschen Buchmarktes, sondern längst auch Symbole der deutschen Bildungskultur gewesen, deren Werte und Normen sie vermittelten. Sie transportierten „Orientierungswissen“118, mit dem die Nutzer über die vorherrschenden Norm- und Wertvorstellungen informiert wurden und waren deshalb mehr als bloße Wissensreservoirs. Die Konversationslexika dienten der kulturellen Vergewisserung der bürgerlichen Gesellschaft.119 Sie waren aber auch Statussymbole. Die halbledernen, mit wertvollen Buchrücken ausgestatteten Kompendien waren Repräsentationsmedien, die sich perfekt in das Interieur jeden gutbürgerlichen Arbeitszimmers oder Salons einfügen konnten.120 Der Besitz eines Konversationslexikons war ein Ausweis der Zugehörigkeit zur bürgerlichen, am Ideal der Bildung ausgerichteten Gesellschaft, ist insofern aber auch für aufstiegsorientierte und weniger wohlsituierte Personen reizvoll gewesen. Eine Kindheitserinnerung des 1905 geborenen Erwin Chargaff veranschaulicht diesen Umstand: Das Ideal des verarmten Bürgertums, in dem ich aufwuchs, war ‚der gebildete Mensch‘. Dieses Ideal verkörperte sich im Besitz eines sehr großen ‚Konversationslexikons‘, also des ‚Brockhaus‘ oder des ‚Meyer‘. Die Ratenzahlungen, die die Anschaffung dieses schönen, vielbändigen, angenehm riechenden Dings in Halbleder erforderte, benötigten einige Jahre. Man wurde ermahnt, sich die Hände zu waschen, bevor man es konsultierte; eine Prozedur, die, wenn zu nichts anderem, zum Rückgang der Infektionskrankheiten in den bürgerlichen Kreisen beitrug.121

Das ritualisierte Händewaschen verdeutlicht nicht nur die Wertschätzung, die dem Konversationslexikon entgegengebracht wurde. Es verweist außerdem darauf, dass die bildungsbürgerliche Kultur eng mit Sauberkeitsvorstellungen verquickt war. Wer einen Bildungsanspruch vertreten wollte, musste auch einen Reinigungsprozess absolvieren. Dass dies nicht nur für die Nutzer, sondern auch für die Inhalte der Konversationslexika galt, zeigt sich im nun folgenden Abschnitt, in dem das Fehlen von Artikeln über den Schmutz konstatiert werden muss. Wie kein Fleck auf das prestige116 117 118 119 120

Ebd. Prodöhl (2011), S. 61. Herren/Michel (2007), S. 49. Vgl. ebd., S. 47-51 sowie auf Prodöhl (2011), S. 37. Vgl. Jäger (2001), S. 541: „Zur Ausstattung des bildungs- und besitzbürgerlichen Haushalts gehörte das Konversationslexikon als ‚Hausschatz‘, wenn möglich in eigenem (vom Verlag geliefertem) historistischem Wandregal mit stilisiertem Himmelsglobus, kleinen Säulen und anderen Zierelementen.“ 121 Chargaff, Erwin: Lob des Laien. In: Ders.: Vermächtnis. Essays. Stuttgart 1992, S. 27-39, S. 34.

Spuren des Schmutzes in populären Enzyklopädien | 111

trächtige enzyklopädische Werk gelangen durfte, so scheint der Schmutz selbst kein angemessener Konversationsgegenstand gewesen zu sein.

3.2 DAS WEITESTGEHENDE FEHLEN VON ARTIKELN ÜBER DEN SCHMUTZ: BEFUNDE DER LEMMASUCHE Der Befund mag überraschen: In fünf der sechs untersuchten Populärenzyklopädien hat es keine Artikel über Lemmata, die dem Komplex der Schmutzsemantik (‚Schmutz‘, ‚Schund‘, ‚Unreinheit‘, ‚Dreck‘, Unrat‘, ‚Unflat‘ etc.) zuzuordnen sind, gegeben.122 Eine Ausnahme bildet die 4. Auflage von Pierer's Universal-Lexikon, in der in mehreren Artikeln verschiedene Bedeutungen aufscheinen. Im Artikel ‚Schmutz‘ ist auf die materielle Eigenschaft desselben hingewiesen worden: Schmutz, klebrige, feuchte Unreinigkeit. Daher Schmutzen, von Gegenständen sowohl die anhaftende Unreinigkeit fahren lassen, als auch von andern dieselbe annehmen. 123

Auch ‚Schund‘ findet sich als Lemma an. Neben konkreten Abfallstoffen (Gerbreste, Kloakendreck) bezieht sich eine der angebotenen Bedeutungsvarianten auf die Wertlosigkeit von Dingen: Schund, 1) was von dem Leichnam eines todten Thieres beim Abziehen des Felles abgefallen ist; 2) das von den Häuten abgeschabte Fleisch; 3) geringe, werthlose Sachen, bes. auch sehr schlechte Kaufmannswaaren, schlechte Bücher etc.; 4) der Unflath, welcher sich bes. in den Cloaken sammelt; daher Schundfeger, Schundkönige, Personen, welche die Cloaken reinigen.124

Das Lemma ‚Dreck‘ wurde im ‚Pierer‘ als ein Fachbegriff des Imkerns und der Kupferherstellung definiert:

122 Die Begriffe ‚Müll‘ und ‚Abfall‘ sind bei der Lemmasuche bewusst außen vor gelassen worden. Eine anhand von allgemeinen Enzyklopädien durchgeführte historischsemantische Untersuchung des Abfallbegriffs hat Ludolf Kuchenbuch vorgelegt, der darin feststellt, dass sich der ‚Abfall‘ erst um 1900 in seiner heutigen Bedeutung etabliert hat. Zwar wird mit ihm häufig Verschmutzung assoziiert; an die moderne Begrifflichkeit binden sich jedoch vor allem funktionale, insbesondere ökonomische und technische Fragen, die ihre Verwertung, Beseitigung oder Entsorgung betreffen. Siehe Kuchenbuch, Ludolf: Abfall. Eine Stichwortgeschichte. In: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Kultur und Alltag. Göttingen 1988, S. 155-170. 123 [Art.] Schmutz. In: PUL4, Bd. 15, S. 333. 124 [Art.] Schund. In: PUL4, Bd. 15, S. 474.

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Dreck, 1) Rückstand beim Auspressen der Wachsscheiben im Tuche od. Beutel; 2) der mit einem Haken durch einander gezogene, klein geschlagene Kupferrauch, mit Wasser untermengt.125

‚Unrein‘ ist als religiöser Terminus, als Fachbegriff verschiedener Handwerke (Hüttenwesen, Seewesen, Weberei) sowie als wissenschaftlicher Fachbegriff (Mathematik, Musik, Logik) thematisiert worden: Unrein, 1) in religiöser Beziehung, womit man nicht in Berührung kommen kann, ohne eine Schuld auf sich zu laden […]; 2) im Hüttenwesen der zweite Kasten bei einem Waschherde, in welchen aus dem ersten Kasten der noch nicht ganz reine Schlich fällt; 3) im Seewesen unreiner Grund, eine Stelle des Seegrundes, an welcher nicht geankert werden kann; 4) in der Weberei entsteht unreines Fach, wenn die zusammen gehobenen Kettenfäden in ungleich großen Winkeln gehoben werden, also nicht sämmtlich in einer Ebene liegen; 5) in der Mathematik a) ein Bruch, welcher mit ganzen Zahlen verbunden ist; b) jede geordnete Gleichung, wenn sie Glieder enthält, welche mit verschiedenen Potenzen der unbekannten Größe behaftet sind; ax3+bx=c, od. ax5+cx2+dx=e heißen unreine Gleichungen, axn±b=o ist dagegen eine reine Gleichung […]; 6) in der Musik […] ein Tonstück, wenn in demselben die Regeln des reinen Satzes nicht beobachtet sind; 7) (Zwitterschluß), ein Schluß, welcher auf der nur scheinbaren Identität des Mittelbegriffs beruht u. somit nicht richtig ist […]. 126

Artikel, in denen das Entfernen von Unreinheit thematisiert wurde, liefern ebenfalls Informationen über den Schmutz. Zum Stichwort ‚Reinigung‘ ist im ‚Pierer‘ ein umfangreicher historischer Abriss über ritualisierte und gewöhnliche Reinigungshandlungen antik-orientalischer Kulturen und deren religiösen, sittlichen und gesundheitlichen Bedeutungen zu finden. Neben Techniken der Wasser-, Feuer- und Luftreinigung sind in dem Artikel antike Formen der Körperreinigung, der Reinigung von Kleidern, Dingen und Orten, aber auch Praktiken zur Reinigung einer „sittlichen Schuld“127 angesprochen worden. Das ‚Waschen‘ ist im gleichlautenden Artikel als profane Form der Reinigung thematisiert worden, die die „Entfernung des Schmutzes von einem Gegenstand durch Anwendung von Flüssigkeiten, namentlich von Wasser“128, bezwecken würde; in dem Artikel sind diverse körper- und kleidungsbezogene Waschtechniken beschrieben worden. Unter den Stichworten ‚Reinigen‘, ‚Säubern‘ und ‚Läutern‘ sind neben Hinweisen auf mehrere handwerkliche Reinigungstechniken (Beizen von Metallen, Raffinieren von Öl, Reinigung des Getreides; säuberndes Ausschneiden dürren Holzes; diverse chemisch-technische Läuterungsverfahren) auch allgemeine Begriffsbedeutungen entfaltet worden: ‚reinigen‘ bedeute, etwas „von anklebendem od. untermischtem Unrath [zu] befreien“ 129; ‚säubern‘ bedeute entweder, etwas „von Schmutze u. Unreinigkeit [zu] befreien“ oder etwas, das 125 126 127 128 129

[Art.] Dreck. In: PUL4, Bd. 5, S. 300. [Art.] Unrein. In: PUL4, Bd. 18, S. 247. [Art.] Reinigung. In: PUL4, Bd. 14, S. 14-15, S. 14. [Art.] Waschen. In: PUL4, Bd. 18 S. 873. [Art.] Reinigen. In: PUL4, Bd. 14, S. 14.

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„nicht an einen Ort gehört, weg[zu]schaffen“130; ‚läutern‘ ist als „rein, durchsichtig machen“131 definiert worden. Fasst man alle die per Lemmasuche erlangten Informationen zusammen, ist Schmutz im ‚Pierer‘ als Materie am falschen Ort, als wertloses Ding, als Abfall, als feucht-klebrige Substanz, als Vermischung, als Irregularität und, in religiöser bzw. sittlicher Beziehung, als Schuld definiert worden. Desweiteren erschien er als Objekt handwerklich-technischer, intimer, alltäglicher, öffentlicher und religiöser Reinigungsprozeduren, mit denen die jeweiligen schmutzigen Eigenschaften getilgt werden sollten. Dass die Schmutzsemantik auf Lemmaebene nur im einzigen untersuchten Universallexikon auffindbar ist und in den Konversationslexika fehlt, ist bemerkenswert. Zwei Ausnahmen bestätigen die Regel. In Herders Conversations-Lexikon taucht das Lemma ‚Unrein‘ auf, an Ort und Stelle ist jedoch lediglich ein Verweis auf einen Artikel über ‚Religiöse Reinigungen‘ hinterlegt worden.132 Äquivalent dazu ist auch in der 6. Auflage von Meyers Großem Konversations-Lexikon unter dem Stichwort ‚Unreinheit‘ lediglich auf den „biblischen Sinn“ hingewiesen worden, wie er im Artikel ‚Reinigungen‘ beschrieben worden ist.133 In den Konversationslexika ist Unreinheit somit allenfalls als Objekt religiöser Reinigungspraktiken thematisiert worden. Stichproben in nicht-digitalisierten Gründerzeitauflagen vom Brockhaus´ Konversations-Lexikon festigen den Befund. Bis zur 13. Auflage (1882-1887) gibt es keine Artikel über den Schmutz. Erst in der 14. Auflage (1892-1898) findet sich zum Lemma ‚Unrein‘ ein Artikel an, in dem ausschließlich die religiösen Bedeutungen, die dem Begriff in heidnischen, mohammedanischen und jüdischen Gemeinschaften zukämen, beschrieben und von einer ausdrücklich modernen Bedeutung des Unreinen unterschieden worden sind: Der Zustand der Unreinheit kann sich übertragen, doch verliert er sich auch wieder und kann durch Reinigungen beseitigt werden. Der Grund der Unterscheidung zwischen rein und unrein ist ein religiöser. Rein ist alles, was mit dem Kult in Verbindung gebracht werden kann, unrein alles, was von ihm ferngehalten werden muß; kultunfähig ist in hohem Maße alles, was den Zustand der Unreinheit weiter überträgt. Diese Vorstellungen sind nicht mit den modernen Vorstellungen von reinlich und unreinlich zu verwechseln. 134

Konkrete Informationen über die angedeuteten „modernen Vorstellungen“ von Unreinheit sind den Lexikonnutzern allerdings vorenthalten worden. In den fünf untersuchten Konversationslexika gibt es auch nur wenige Artikel über das Entfernen von Verunreinigungen. Im ‚Meyer‘ ist das ‚Läutern‘ als eine „technische Operation“ definiert worden, die „soviel wie reinigen“ 135 bedeuten würde. Im ‚Herder‘ ist über die religiöse Bedeutung von Reinigungsriten informiert wor130 131 132 133 134

[Art.] Säubern. In: PUL4, Bd. 14, S. 951. [Art.] Läutern. In: PUL4, Bd. 10, S. 174. Vgl. [Art.] Unrein. In: HCL, Bd. 5, S. 562. Vgl. [Art.] Unreinheit. In: MKL6, Bd. 19, S. 931. [Art.] Unrein. In: Brockhaus´ Konversations-Lexikon, Bd. 16. [14. Aufl.] Leipzig 1898, S. 96. 135 [Art.] Läutern. In: MKL6, Bd. 12, S. 260.

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den, die in unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten auf je eigentümliche Weise als „Entsündigungen äußerlich verunreinigt gedachter Menschen u. Gegenstände“136 fungieren würden. Das ‚Waschen‘137 von Kleidung ist im ‚Meyer‘ ausnahmslos mit Blick auf ökonomisch-technische Verfahren thematisiert worden, wie sie in modernen Dampfwäschereien zur Anwendung kämen. Die Bedeutung des Waschens für den Alltag ist nicht reflektiert worden. Im Damen Conversations Lexikon sind eben jene Aspekte in den Vordergrund gerückt worden. Dabei sind auch die sozialen Aspekte beachtet worden, die den alltäglichen Umgang mit Schmutz in gutsituierten bürgerlichen Haushalten der ersten Jahrhunderthälfte mitbestimmt haben; das Waschen ist dort zu den typischen „Frauenarbeiten“ gezählt worden, die in der Regel von „der niederen, dienenden Klasse“138 ausgeübt werde: In unseren Tagen gehört es zum Unerhörten, wenn Frauen von einem gewissen Range sich der Wäscherei nur durch Inspiciren annehmen, und ohne pedantisch erscheinen zu wollen, sei es uns doch erlaubt, zu bemerken, daß auch hierin einer der Gründe zu suchen ist, welcher so viele junge Männer vom Ehestande zurückschreckt.139

Die Botschaft, die man den Leserinnen im Damen Conversations Lexikon mitgab, lautete, dass sie ihren gesellschaftlichen Rang riskierten, wenn sie keinerlei Ahnung vom Waschen und von der Haushaltung mitbrachten: „Was Wunder, wenn der junge, nicht sehr reiche Mann zu aller Erstaunen für seinen häuslichen Heerd oft wieder nur ein armes, häuslich erzogenes Mädchen wählt, die ihm das, was er erwirbt, durch kluge Thätigkeit und richtiges Anstellen erhält, während die Modedame“ nicht gegen „leichtsinniges Waschen“ von „Lohnwäscherinnen“ einschritte, so dass ihre „schönste Ausstattung“140 innerhalb nur weniger Jahre ruiniert wäre und sie schließlich keine vorzeigbare Garderobe mehr besitzen würde. Mit den Befunden rückt die Frage ins Zentrum, wieso die in hohen Auflagen verbreiteten Konversationslexika mit wenigen Ausnahmen kaum Informationen über den Schmutz preisgegeben haben. Wieso taucht die Schmutzsemantik auf Lemmaebene nicht auf? Der Verdacht liegt nahe, dass Kommunikation über ihn tabubehaftet war. So unangenehm und aufdringlich real der Schmutz als Teil der Alltagserfahrung auch sein mochte: der Konversationston141 erlaubte es nicht, sich über ihn auseinan-

136 137 138 139 140 141

[Art.] Reinigungen. In: HCL, Bd. 4, S. 697. Vgl. [Art.] Waschen. In: MKL6, Bd. 20, S. 395-397. [Art.] Waschen. In: DCL, Bd. 10, S. 390. Ebd. Ebd., S. 390-391. Der Konversationston basierte laut Schmölders, Claudia: Die Kunst des Gesprächs. München 1986, S. 58, um 1800 im Kern auf „gegenseitiger Rücksichtnahme und Befriedigung“, die in der Kommunikation unbedingt anzustreben war. In Konversationslehren ist versucht worden, eine „Idee von konversationeller Geselligkeit“ festzuschreiben, um dem Individuum harmonisierende und sozial affirmative Techniken an die Hand zu geben. ‒ Vgl. außerdem Neumaier, Herbert: Der Konversationston in der frühen Biedermeierzeit 1815-1830. [Diss. München 1972] Bergatreute 1974. ‒ Eine Studie über Salongeselligkeit, Salonkommunikation, Literaturrezeption in den Salons und aus ihnen hervorgegan-

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derzusetzen. Im Interdiskurs gepflegter Konversation blieben alle als unrein erachteten Aspekte von Realität weitestgehend unbestimmt. Der Schmutz stellte ein nichtdiskursivierbares ‚Anderes der Wirklichkeit‘ dar, das allenfalls als Objekt religiöser Reinigungspraktiken thematisiert werden durfte. Dass der Schmutz im einzigen untersuchten Universallexikon, nicht aber in den Konversationslexika auftauchte, stützt diese Hypothese. Freilich muss bedacht werden, dass sich die Macher der nach 1850 erschienenen Konversationslexika nicht mehr ausdrücklich an einem an der Salonkommunikation angelehnten, feinen Konversationston orientierten. Insofern lässt sich die Vermutung, dass die Regeln der geselligen Kommunikation eine Verständigung über den Schmutz verhindert haben, nur für den ‚Ur-Brockhaus‘, das Damen Conversations Lexikon und das Bilder-Conversations-Lexikon sicher behaupten. In ihnen sind die üblichen Gesetzmäßigkeiten guter Konversation aktiviert gewesen, zu denen auch Schicklichkeitsgrundsätze zählten, die die Wahl der Gesprächsstoffe einschränkten. Beispielsweise hat Adolph Freiherr von Knigge (1752-1796) in seinem Bestseller der Benimmliteratur Ueber den Umgang mit Menschen angeraten, dass man in geselligem Kreis keine „Anspielungen auf Dinge, die entweder Ekel erwecken oder keusche Wangen erröten machen“142, vorbringen solle. Kämen doch einmal „unangenehme Dinge“143 zur Sprache, müssten diese ignoriert werden. Wer seinen „Sinn für Reinigkeit und Tugend“ nicht aufs Spiel setzen wollte, sollte „unzüchtigen schmutzigen Gesprächen“ mit „unüberwindliche[m] Abscheu“144 begegnen. Die lexikalische Verstichwortung des Schmutzes hätte solchen Grundsätzen widersprochen. Sie hätte gegen das „Gebot der Schicklichkeit“ verstoßen, welches laut dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens von Friedrich Schleiermacher (1768-1834) „besagt: daß nichts angeregt werden soll, was nicht in die gemeinschaftliche Sphäre aller gehört.“145 In geselligen Diskursen stellte sich der Schmutz als ein aus Schicklichkeitsgründen zu vermeidender Gesprächsstoff dar. Es handelte sich um eine Materie, die in der Sphäre der Konversation fehl am Platz war. In welchem Maße das Schicklichkeitsgebot trotz der Abkehr von Konversationsidealen auch in den nach der Jahrhundertmitte erschienenen Konversationslexika aktiviert blieb, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Für alle Konversationslexika aber gilt, dass sie der Vergewisserung der bürgerlichen Gesellschaft dienen sollten. Sie repräsentierten und festigten die allmählich in die unteren Schichten einsickernden Ideale der bürgerlichen Bildungskultur, die an einen Imperativ der Sau-

142 143 144 145

gene Literaturproduktionen liefert Seibert, Peter: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart 1993. Knigge, Adolph Frhr. von: Über den Umgang mit Menschen. Eingeleitet von Max Rychner. [Nach der 3. Aufl. Hannover 1790] Birsfelden-Basel 1978, S. 54. Ebd., S. 61. Ebd., S. 130. Schleiermacher, Friedrich E. D.: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: Ders.: Werke, Bd. 2. Hg. von Otto Braun. [Neudr. d. 2. Aufl. Leipzig 1927] Aalen 1981, S. 1-31, S. 12. ‒ Auf diese Textstelle bezieht sich auch Landfester, Ulrike: Jenseits der Schicklichkeit. Bettine von Arnims Armenbuch-Projekt im zeitgenössischen Salongespräch. In: Schultz, Hartwig (Hg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Berlin 1997, S. 271-296, S. 274-275.

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berkeit gebunden waren. Dieser Imperativ prägte das Denken und Handeln der Menschen und hat bis in den Bereich der Kommunikation hinein Geltung besessen. Die Ordnung des Wissens, wie sie sich in den Stichworten der Konversationslexika von A bis Z mitteilte, sparte unreine Wirklichkeitsaspekte, die in der Ordnung der bürgerlichen Welt vordergründig nicht von Interesse waren, aus. Schmutz kam nicht zur Sprache. Noch in der 6. Auflage des ‚Meyer‘ ist die Verstichwortung der Schmutzsemantik aufgrund der positivistischen Ausrichtung und dem Anspruch, durch die Vermittlung eines positiven, objektiven und gesicherten Wissens mit zur Konsolidierung des bürgerlichen Wertehorizontes beizutragen, blockiert worden. Schließlich unterläuft das Unreine als Objekt intersubjektiv ausgehandelter negativer Wertzuschreibungen ebendiese Anforderung.

3.3 DER VERBORGENE SCHMUTZ: BEFUNDE DER VOLLTEXTSUCHE Das Fehlen von Artikeln über den Schmutz in den Konversationslexika darf keinesfalls als Hinweis auf dessen kulturelle Belanglosigkeit missinterpretiert werden. Die durch diskursive Mechanismen (Schicklichkeitsgebot, Imperativ der Sauberkeit, Positivismus) verhinderte Verstichwortung verstellt den Blick auf diejenigen Wirklichkeitsbereiche, die im 19. Jahrhundert tatsächlich mit Schmutz assoziiert worden sind. Erst eine Verfeinerung der Suchoptik lässt sie sichtbar werden. Mittels Volltextsuchen ist es möglich, typische Bedeutungs- und Verwendungszusammenhänge zu erschließen und etwaigen semantischen Wandel zu erfassen. Die Befunde der Volltextsuche werden zunächst quantitativ ausgewertet (3.3.1). Qualitative Analysen schließen sich an, in denen die kulturelle Bedeutung von Schmutz in unterschiedlichen diskursiven Kontexten veranschaulicht wird (3.3.2-3.3.5). 3.3.1 Quantitative Analyse der Volltextsuche Um unterschiedliche grammatische Formen eines Begriffs herauszufiltern, ist bei den Volltextsuchen mit folgenden Suchkürzeln operiert worden: • • • • • • •

*dreck*; *schmut*/*schmuz*; *schund*; *unfla*/*unflä*; *unrat*; *unrein*; *unsaub*.

Die im Anhang des Buches abgedruckten Tabellen 1 bis 3 schlüsseln die quantitativen Ergebnisse der auf die sechs ausgewählten populären Enzyklopädien angewendeten Volltextsuchen auf. Tabelle 1 illustriert, wie häufig die aus dem Komplex der Schmutzsemantik stammenden Begriffe in den Lexika verwendet wurden. Die Zahlen in den Klammern geben den unbereinigten Wert an, den die digitale Wortsuche

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ergeben hat. Der bereinigte Wert lässt Farbattribute (z.B. schmutzigweiß, schmutziggelb), Fachbegriffe (z.B. Schmutzflechte, Schmutztitel) sowie Personen mit dem Nachnamen Schmutzer außen vor. Aus den bereinigten Werten addieren sich die Summen, die besagen, wie häufig die Schmutzsemantik in den jeweiligen Lexika insgesamt verwendet worden ist. Diese in absoluten Zahlen ausgedrückten Summen sind in einem weiteren Rechenschritt mit dem Umfang der Lexika in Beziehung gesetzt worden, so dass die relative Häufigkeit des Auftauchens der Schmutzsemantik auf 1.000 digitalen Normseiten ersichtlich wird. Diese Werte lassen Vergleiche zwischen den untersuchten Enzyklopädien zu. Im Durchschnitt ist die Schmutzsemantik in allen sechs untersuchten Populärenzyklopädien auf 1.000 digitalen Normseiten 4,5 mal erwähnt worden. Besonders selten taucht sie in Herders Conversations-Lexikon (2,5), besonders häufig im Damen Conversations Lexikon (8,6) und im Bilder-Conversations-Lexikon (13,9) auf. Für diesen Befund sind programmatische Gründe anzuführen, die das inhaltliche Profil der Lexika bestimmt haben. Im ‚Herder‘ sind Informationen in der Regel in einer knapperen Form als in den anderen Enzyklopädien vermittelt worden; es steht zu vermuten, dass die angestrebte Reduzierung auf das Wesentliche Erörterungen über den als nebensächlich erachteten Dreck eingeschränkt haben. Überdies ist naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Themen, in denen Unreinigkeiten tendenziell häufiger angesprochen werden, in Herders Conversations-Lexikon verhältnismäßig wenig Raum gegeben worden. Aufgrund der im Damen Conversations Lexikon vermittelten Präferenz für eine diätetische, an innerlicher und äußerlicher Reinheit orientierten, möglichst gesundheitszuträglichen Lebensweise, ist das relativ häufige Auftauchen der Schmutzsemantik bemerkenswert; tatsächlich scheint die eingeforderte Aufmerksamkeit für gesundheitsgefährdende Einflüsse ein gesteigertes Interesse an möglichen Verunreinigungsfaktoren ausgelöst zu haben. Dementsprechend gibt es in dem an Frauen adressierten Lexikon auch mehrere ausführliche Artikel über Tätigkeiten wie die Körperpflege, das Waschen der Kleidung oder die Reinigung der Wohnung, die der weiblichen Sphäre zugeordnet wurden. Dass der Schmutz am Häufigsten im Bilder-Conversations-Lexikon benannt wurde, hängt damit zusammen, dass es an ‚Praktiker‘ adressiert war und demgemäß besonders viele und verhältnismäßig ausführliche handwerkliche, technische, naturwissenschaftliche und ökonomische Themen abgedruckt wurden. Im Bilder-Conversations-Lexikon wurde der Schmutz in diesen Themenfeldern besonders häufig angeführt. In welchen thematischen Zusammenhängen die Schmutzsemantik in den Lexika wie häufig zur Sprache kam, illustrieren die Tabellen 2 und 3, in denen absolute und relative Häufigkeit aufgeschlüsselt sind. Hierzu sind sieben Kategorien gebildet worden, um mit ihnen die Verwendungsvielfalt der Schmutzsemantik abzubilden: • • • • • • •

Naturwissenschaft, Technik, Gewerbe; Medizin (Krankheiten); Diätetik, Hygiene (Gesundheitsvorsorge); Städte, Nationen, Ethnien; Historische Persönlichkeiten, soziale Gruppen; Sprache, Ästhetik, Künste; Sonstiges (Recht, Moral, Religion, Mythologie etc.).

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In naturwissenschaftlichen, technischen, ökonomischen, medizinischen und hygienischen Kontexten ist hauptsächlich von materieller Verunreinigung die Rede gewesen. In den anderen Kontexten ist die Schmutzsemantik häufig in metaphorischer Weise verwendet worden, um eine substantielle Verschmutzung zu suggerieren. Personen sind etwa aufgrund unsittlich erachteter Verhaltensweisen, Sprachen aufgrund fremder Elemente, Kunstwerke aufgrund vermeintlich unsittlicher Inhalte als unrein bezeichnet worden. Aufgrund unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtungen der Lexika sind die Werte, die in Tabelle 3 genannt werden, nur eingeschränkt miteinander vergleichbar. 146 Trotzdem werden zwei gegenläufige konjunkturelle Entwicklungen sichtbar: Der materielle Schmutz ist im Untersuchungszeitraum tendenziell immer häufiger benannt worden; in metaphorischer Weise wurde er dagegen immer seltener verwendet. In physikochemischer, biologischer, technischer und ökonomischer Hinsicht ist eine leicht ansteigende Tendenz erkennbar; der außergewöhnlich hohe Wert im Bilder-Conversations-Lexikon ist auf die praxisnahe Profilierung, der sehr niedrige Wert in Herders Conversations-Lexikon auf die eher reduktionistische, technische und naturwissenschaftliche Informationen tendenziell vernachlässigende Ausrichtung zurückzuführen. Uneinheitlich stellt sich die Tendenz in medizinischer Hinsicht dar. In diätetisch-hygienischen Kontexten zeichnet sich am Ende des Jahrhunderts dagegen eine deutlichere konjunkturelle Entwicklung ab; bis nach der Jahrhundertmitte ist der Schmutz allenfalls sporadisch als Objekt individueller Gesundheitsmaßnahmen erwähnt, danach immer häufiger als zu bewältigendes Objekt öffentlicher Hygienemaßnahmen thematisiert worden. Dass der Schmutz sowohl im Damen Conversa tions Lexikon als auch im Bilder-Conversations-Lexikon relativ häufig in Artikeln über ausländische Städte und fremde Ethnien auftaucht, ist auf eine verhältnismäßig hohe Anzahl geographisch-volkskundlicher Artikel in den beiden Kompendien zurückzuführen. Insgesamt hat die Verwendung in dem Zusammenhang aber am Jahrhundertende abgenommen. Eine ebensolche Tendenz ist mit Blick auf historische Persönlichkeiten und soziale Gruppen zu beobachten, denen im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer seltener unreine Verhaltensweisen angelastet wurden. Die von den Lexikonmachern angestrebte ideologische Neutralität dürfte solche Wertungen mehr und mehr verhindert haben. Auch mit Blick auf Sprache, Kunst und Literatur ist die Schmutzsemantik am Ende des Untersuchungszeitraums vergleichsweise selten angeführt worden; ihre Hochkonjunktur, wie sie für den literarischen Diskurs um 1900 zu beobachten ist, hat sich im ‚Meyer‘ jedenfalls nicht niedergeschlagen. Auch diesbezüglich scheint der Neutralitätsanspruch dazu geführt zu haben, dass ästhetische Phänomene immer seltener von einem sittlichen Standpunkt aus als unrein bewertet wurden. Die relativ häufige Verwendung der Schmutzsemantik in literarisch-ästhe-

146 Um die Ergebnisse miteinander vergleichen zu können, müssten sie noch einmal mit den tatsächlichen thematischen Gewichtungen der einzelnen Lexika in Beziehung gesetzt werden. Diese Gewichtung ließe sich jedoch nur dadurch, dass jedes einzelne Lemma thematisch zugeordnet würde, quantifizieren. Bei insgesamt 431.082 Stichworten stünde ein solcher Aufwand allerdings in keinem Verhältnis zum wissenschaftlichen Ertrag. Hinsichtlich der thematischen Gewichtung der Lexika müssen sich die folgenden Aussagen deshalb auf subjektive Eindrücke und daraus resultierte Zuordnungen beschränken.

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tischem Kontext im ‚Herder‘ dürfte dagegen der dezidiert christlich-konservativen Weltanschauung geschuldet gewesen sein. In den folgenden vier Abschnitten wird durch qualitative Analysen der Stellenwert des Unreinen in verschiedenen diskursiven Zusammenhängen ermittelt: Zunächst wird dem Schmutz in der Fremde nachgespürt, wie er in geographischvölkerkundlichen Artikeln der Lexika zu finden ist (3.3.2). Daraufhin wird die Bedeutung des Schmutzes als Objekt gesundheitsprophylaktischer Maßnahmen nachgezeichnet, die nach der Etablierung der modernen Hygiene um 1900 ein anderer war, als noch sechzig Jahre zuvor, als eine an diätetischen Grundsätzen orientierte Gesundheitslehre vorgeherrscht hatte (3.3.3). In einem weiteren Abschnitt wird untersucht, welche Rolle in den Lexika unsauberen Verhaltensweisen zugewiesen wurde (3.3.4). Abschließend wird veranschaulicht, welche Dinge in Sprache und Literatur gegen ein vorherrschendes ästhetisches Reinheitsgebot verstießen und als unrein gebrandmarkt wurden (3.3.5). 3.3.2 Der Schmutz in der Fremde Bei einer umfangreichen Lektüre der Konversationslexika könnte man auf den Gedanken kommen, dass es im deutschsprachigen Kulturraum im 19. Jahrhundert ganz besonders reinlich zugegangen ist. In Artikeln über deutsche Regionen und Städte wurde in den sechs untersuchten Enzyklopädien nur wenige Male auf das Vorhandensein von Schmutz hingewiesen. So erfährt man von einigen „kleinen, schmutzigen Dörfern“147 im westfälischen Sauerland, von „enge[n], winklige[n] und unreinliche[n] Gassen“148 in Mainz und von Halle an der Saale, das „in Folge der allgemein eingeführten Heizung mit Braunkohlen schmuzig“149 gewesen ist. Unhygienische Zustände hat es laut Pierer´s Universal-Lexikon in Breslau gegeben. In der schlesischen Stadt gab es ein Problem mit einem im Mittelalter künstlich angelegten Flussarm, dessen kaum fließendes Wasser die „Verunreinigung u. Verpestung der nahegelegenen Stadttheile“150 bewirkt hat. Ein anderes Mal ist der Schmutz im ‚Pierer‘ bemüht worden, um seine erfolgreiche Bewältigung zu konstatieren. Im Artikel über das „äußerst reinlich gehalten[e]“ Leipzig ist von „Unrath, Regen- und Schneewasser“ die Rede gewesen, die durch ein unterirdisches „Kloakensystem“151 aus der Stadt geführt wurden. Damit sind alle fünf Erwähnungen der Schmutzsemantik mit einem Deutschlandbezug benannt. In Artikeln über ausländische Städte und Regionen taucht die Schmutzsemantik dagegen über dreihundert Mal und damit überraschend häufig auf. Ein solch massives Ungleichgewicht verweist auf eine in den Lexika vorherrschende „Verschwörung der Blindheit“152, den Schmutz in der eigenen Kultur nicht zu registrieren. Der in der Fremde thematisierte Dreck ist dagegen häufig als Beleg zivilisatorischer Rückständigkeit angeführt worden und diente in diesen Fällen als Ausweis der eigenen Über147 148 149 150 151 152

[Art.] Westfalen. In: PUL4, Bd. 19, S. 127. [Art.] Mainz. In: BCL, Bd. 3, S. 27. [Art.] Halle. In: BCL, Bd. 2, S. 315. [Art.] Breslau. In: PUL4, Bd. 3, S. 287. [Art.] Leipzig. In: PUL4, Bd. 10, S. 251. Thompson (1981), S. 16.

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legenheit.153 Dieser Umstand wird im Folgenden exemplarisch mit Blick auf die mit Unsauberkeit konnotierten polnischen Verhältnisse, mit Blick auf den in Italien registrierten Dreck, mit Blick auf die schmutzigen Gassen Konstantinopels sowie mit Blick auf die Bereiche außerhalb der europäischen Zivilisation, die man mit ewigem Schmutz assoziierte, veranschaulicht. Zunächst wird nun aber auf den Schmutz westeuropäischer Städte hingewiesen, der eine Begleiterscheinung industriellen Fortschritts darstellte und somit nicht auf zivilisatorische Rückständigkeit verwies. Westeuropäischer Schmutz und die Ambivalenzen des Fortschritts Die in den Enzyklopädien wirksame „Verschwörung der Blindheit“ hatte zur Folge, dass im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung sich verschärfende soziale und hygienische Probleme nur im Ausland zur Kenntnis genommen wurden. Während die unreinlichen Verhältnisse deutscher Arbeiterviertel in den eingesehenen Populärenzyklopädien mit keiner Silbe erwähnt wurden, ist durchaus vom „niedrigsten Pariser Proletariat“ die Rede gewesen, dass das „schmutzigste u. schlechteste […] zwölfte Arrondissement“154 bewohnt hat. Man erfährt von den „enge[n], schmutzige[n] Seitengäßchen“ gewisser Liverpooler Stadtbezirke, in denen „der Kleinhandel sich bewegt und das Elend wohnt“155, von Dublins „von der ärmsten Volksklasse bewohnt[en]“ Liberty, die „schlecht gebaut, eng u. schmutzig“ 156 gewesen ist sowie von dem in der Nähe Edinburghs gelegenen Hafenort Leith, der ebenfalls „eng u. schmutzig“ war und neben prosperierenden „Fabriken für Leder, Schuhe, Seife, Glasu. Eisenwaaren“ auch ärmere Wohnbezirke sowie eine „Arbeits- u. Armenschule“157 aufgewiesen hat. In den Lexika sind aber auch infrastrukturelle Entwicklungen registriert worden, die ein sauberes Stadtbild begünstigt haben. Im ‚Ur-Brockhaus‘ ist beispielsweise zu lesen, dass die neu gestalteten Straßenzüge von Madrid, die „ehedem […] sehr unsauber“ gewesen seien, neu gestaltet, nunmehr reinlich gehalten und „des Nachts herrlich erleuchtet“158 worden sind. Für Paris ist im ‚Pierer‘ der „Canalisationsplan“ des Oberingenieurs Belgrand hervorgehoben worden, mit dem die „Wasserversorgung“ und „das Abfließen des Unraths durch unterirdische Kanäle“ 159 verbessert werden sollten. Und im ‚Meyer‘ ist ausführlich das „mit einem Aufwand von 4,5 Mill. Pfd. Sterl.“ errichtete, viertausend Kilometer lange „System von Abzugskanälen“160 beschrieben worden, mit dem der „Unrat“ aus der Stadt geführt und bei Croßneß und Barking „in die Themse“ gepumpt wurde, „wo Flut und Ebbe ihn schließlich ins Meer schwemmen“161 sollten. 153 Wie in Kap. 3.1 festgestellt worden ist, wurde der Anspruch auf Objektivität noch in der 6. Auflage des ‚Meyer‘ auf den Umkreis des Nationalen beschränkt; der Blick ins Ausland wurde nicht an diesem Anspruch gemessen. 154 [Art.] Paris. In: PUL4, Bd. 12, S. 684. 155 [Art.] Liverpool. In: MKL6, Bd. 12, S. 626. 156 [Art.] Dublin. In: PUL4, Bd. 5, S. 369. 157 [Art.] Edinburg. In: PUL4, Bd. 5, S. 477. 158 [Art.] Madrit. In: CL, Bd. 3, S. 10. 159 [Art.] Paris. In: PUL4, Bd. 12, S. 685. 160 [Art.] London. In: MKL, Bd. 12, S. 695. 161 [Art.] Barking. In: MKL, Bd. 2, S. 384.

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Bei den Beispielen handelt es sich um eine Auswahl; weitere ließen sich anführen. Sie belegen, das über den ausländischen Schmutz offener kommuniziert wurde, als über den inländischen. Mit den unreinlichen Wohnverhältnissen von Arbeitern einerseits und dem durch moderne Hygienemaßnahmen beseitigten urbanen Schmutz andererseits sind in ausländischen Städten Ambivalenzen des Fortschritts registriert worden, die mit Blick nach Deutschland einer selektiven Wahrnehmung anheimfielen und weitestgehend ignoriert wurden. In eigentümlicher Weise tritt der Effekt im Artikel über Paris im Damen Conversations Lexikon zutage, das „eben so schön als häßlich, eben so schmutzig als prächtig, eben so voll von Glanz und Freude als von Armuth und Elend“162 gewesen sei und damit als Stadt der Widersprüche beschrieben worden ist. Die Welthauptstadt der Mode wäre noch immer auch jene „Kothstadt der Pariser“163, als die sie bereits zur Römerzeit gegolten habe. Die Vorstädte der französischen Metropole bildeten ein einziges Konglomerat „schmutziger, enger Gassen, mit niedrigen, baufälligen Häusern“, das einer „capitale du monde“164 höchst unwürdig wäre. Tatsächlich bot Paris mit seinen 900.000 Einwohnern moderne Großstadterfahrungen, wie sie in Deutschland in den 1830er-Jahren, als das Damen Conversations Lexikon erschien, noch lange nicht zu machen waren.165 „[D]as regste und lebendigste Treiben“ der Stadt würde auf einen Besucher aus „einer ruhigen, monotonen, kleinen deutschen Stadt fast verwirrend einwirk[en]“166 und sich, je näher man dem Zentrum käme, immer noch steigern: Der Tag verzehrt hier den Tag, Alles drängt und fluthet hier unaufhörlich vorwärts und vorüber, gleich einem ungeheueren Flusse, der sich immer in das Meer ergießt und immer wieder aus seinen Quellen erneut. Nirgends fühlt sich der Einzelne mehr verlassen und vereinzelt, als in dieser ungeheueren rastlosen Geschäftigkeit, welche ihre Thätigkeit nach allen Seiten hinrichtet und sich in allen Formen bewegt.167

Als Inbegriff einer dynamisierten Moderne wurde Paris im Damen Conversations Lexikon zu einer „Todfeindin des Bestehenden, Festen“ erklärt, deren dreckigen Fluten sich von dort aus „über die ganze civilisirte Erde zu verbreiten“ 168 drohten. Die Flutmetaphorik suggerierte eine aus der französischen Metropole kommende Bedrohung der bestehenden Ordnung durch die entindividualisierenden Kräfte einer latent mit Schmutz assoziierten urbanen Kultur.

162 163 164 165

[Art.] Paris (Geographie). In: DCL, Bd. 8, S. 97. Ebd., S. 99. Ebd., S. 101. Mit Masse, Mobilität, Entindividualisierung und auch mit Dreck assoziierte Großstadterfahrungen haben deutsche Literaten wie Heinrich Heine, Ludwig Börne, Franz Grillparzer und Friedrich Hebbel zu jener Zeit in den damals bedeutendsten Metropolen Paris und London gemacht. Vgl. Trautmann (1957), S. 47-57. 166 [Art.] Paris (Geographie). In: DCL, Bd. 8, S. 101. 167 Ebd., S. 108. 168 Ebd.

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„Polnische Wirthschaft“ In Artikeln über Polen ist der Schmutz mehrfach als Beleg einer zivilisatorischen Rückständigkeit angeführt worden, für die die „Schattenseiten des polnischen Wesens“169 verantwortlich gemacht wurden. Leidenschaftlichkeit, Faulheit, Nachlässigkeit, ein Hang zur Unordnung und eine hohe Schmutzaffinität galten als typische Wesenszüge der Polen, die die weitverbreitete Unsauberkeit im Land hervorrufen würden. Die ehemalige Hauptstadt Krakau wurde als eine im Verfall begriffene Stadt beschrieben, die zwar „eine Menge prachtvoller Paläste“ besäße, deren Straßen aber „unregelmäßig und schmutzig“170 wären. Auch Warschaus Gassen galten als „unglaublich schmutzig“; im Bilder-Conversations-Lexikon ist allerdings bemerkt worden, dass sich „das Aussehen der Stadt in der neuesten Zeit sehr vortheilhaft verändert“171 habe. Verschiedentlich ist in den Lexika betont worden, dass sich der durch das polnische Wesen begründete Mangel an Zivilisation und Aufklärung in allen Schichten bemerkbar machen würde. Bereits „unter gewöhnlichen Verhältnissen“ würde das einfache Volk zu „Trägheit, Unsauberkeit und Völlerei“ 172 neigen. Das eigentliche zivilisatorische Versagen wurde im ‚Pierer‘ allerdings den Oberschichten angelastet, die dem Volk keine aufklärerischen Impulse vermitteln, sondern sich selbst unkultiviert und nachlässig verhalten würden: „bis in die obersten Schichten der Bevölkerung hinauf sieht man nicht selten auffallenden Schmutz neben dem reichsten Prunke“173, liest man dort. Kaum ein Pole besäße „die rechte Neigung für praktisch solide Anstrengung u. Arbeit“174; stattdessen tendiere er „zum Leichtsinn, die rasche Entzündlichkeit des Gemüths macht den Polen zum Sklaven wilder Leidenschaften“175. In allen gesellschaftlichen Schichten mache sich damit „eine gewisse unsaubere Trägheit bemerkbar“176: Die Contraste von Überfluß u. Mangel, von Eleganz u. Nachlässigkeit, von Comfort u. Unbequemlichkeit, von Sitteneinfalt u. raffinirtem Genuß drücken dem häuslichen Leben des Polen den Stempel einer Art von materieller Romantik auf, wie sie sonst sich nirgends wiederfindet, u. in Deutschland haben diese Verhältnisse zu der sprüchwörtlichen Bezeichnung Polnische Wirthschaft geführt.177

Die ausführliche Darlegung der polnischen Verhältnisse ist in Pierer´s UniversalLexikon zur Illustration der Überlegenheit der deutschen Verhältnisse herangezogen worden und diente damit einer rassistisch imprägnierten, nationalen Identifikationsstiftung.

169 170 171 172 173 174 175 176 177

[Art.] Polen. In: PUL4, Bd. 13, S. 244. [Art.] Krakau. In: DCL, Bd. 6, S. 209. [Art.] Warschau. In: BCL, Bd. 4, S. 655. [Art.] Polen. In: BCL, Bd. 3, S. 516. [Art.] Polen. In: PUL4, Bd. 13, S. 244. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Zum gleichen Zweck hatte Gustav Freytag das Stereotyp der ‚Polnischen Wirtschaft‘178 wenige Jahre zuvor in seinem 1855 erschienenen Roman Soll und Haben verwendet. Nach einer Ausbildung in einem deutschen Kontor setzt sich die Hauptfigur Anton Wohlfahrt im Verlauf der Romanhandlung für die Bewirtschaftung eines deutschen Gutes in Polen ein. Ein Erzählerkommentar gibt vor, wie die im Ausland gemachten Erfahrungen zu bewerten seien: „erst in der Fremde erkennt man, was das Vaterland ist.“179 Dort lerne man die Werte „Ordnung, Sitte und Form“ schätzen, wie sie in der heimatlichen „Familie“, unter „Arbeitsgenossen“, im „Volksstamm“ und im „Staat“180 vorherrschen würden. Die durch Unsauberkeit, Unordnung und Verfall gekennzeichnete „polnische Wirthschaft“181 kontrastiert182 die von Sauberkeit, Ordnung und Fleiß geprägten deutschen Verhältnisse, die im Roman stets dort sichtbar werden, wo Deutsche wohnen und Einfluss haben. Als Anton mit seinem Begleiter Karl das Landgut inspiziert, erblicken sie von Polen geführte, verfallene, schlecht bewirtschaftete Höfe, deren Bewohner keinen Sinn für Reinlichkeit besitzen. Sie treffen auf eine „unsaubere Dame ohne Schuhe und Strümpfe“ und bemerken, dass die „Milchschüsseln die reinigende Macht des Wassers wohl selten erfahren hatten.“183 Von diesen Eindrücken hebt sich nur ein einzelnes Vorwerk bereits von Weitem positiv ab: „‚Es ist merkwürdig,‘ sagte Karl, aus der Ferne auf die Gebäude sehend, ‚dieses Dach hat keine Löcher; dort in der Ecke ist ein Viereck von neuem Stroh eingesetzt. Bei Gott, das Dach ist ausgebessert.‘“184 Bei näherer Begutachtung stellt sich heraus, dass der ertragreiche Hof, der „das Juwel des Gutes“ darstellt, von einer deutschen Familie bewirtschaftet wird, was die Protagonisten sogleich in patriotische Begeisterung versetzt: „‚Hier sind deutliche Spuren einer Düngerstätte. Dort läuft ein Hahn und die Hennen hinterdrein, alle Wetter, ein regulärer Hahn mit einem Sichelschwanz. Und hier steht ein Myrtenstock am Fenster. Hurrah! hier ist eine Hausfrau, hier ist Vaterland, hier sind Deutsche.‘“185 Die Frau, die aus dem Haus tritt und An178 Zur Geschichte des Polenbilds der Deutschen vgl. Orłowski, Hubert: „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden 1996, siehe darin vor allem das Kapitel „Weg, Schmutz, Öde. Dimensionen polnischer Wirtschaft“, S. 319-346. ‒ Vgl. auch Struck, Bernhard: Nicht West, nicht Ost. Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender zwischen 1750 und 1850. Göttingen 2006, darin vor allem S. 389-403. 179 Freytag (1896), Bd. 5, S. 20. 180 Ebd., S. 19. 181 Die Wendung taucht im Roman drei Mal auf, ebd., S. 17, S. 215 und S. 290. Die Behauptung, dass sie in dem Roman nirgends explizit zu finden sei, ist falsch; aufgestellt hat sie Hahn, Hans J.: Die „Polenwirtschaft“ in Gustav Freytags Roman Soll und Haben. In: Krobb, Florian (Hg.): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg 2005, S. 239-254, S. 239. 182 Vgl. Hubrich, Peter H.: Gustav Freytags „Deutsche Ideologie“ in Soll und Haben. Kronberg im Taunus 1974, im Folgenden als Hubrich (1974). Auf S. 124-145 geht er ausführlich auf den in Soll und Haben klar akzentuierten Kontrast zwischen deutscher Ordnung und unsauberer polnischer Wirtschaft ein. 183 Freytag (1896), Bd. 5, S. 21. 184 Ebd., S. 25. 185 Ebd.

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ton begrüßt, wird sogleich als „saubere Gestalt“186 beschrieben und bestätigt damit den klischeehaften Gegensatz zwischen deutscher Sauberkeit und Ordnung und der polnischen Neigung zu Unreinlichkeit und Faulheit. 187 Bevor sich Anton der Bewirtschaftung des Landguts annimmt und noch im Kontor Herrn Schröters angestellt war, hat er mit seinem Arbeitgeber bereits eine Reise nach Polen getätigt, um anlässlich einer dort stattfindenden Revolution Werte der Firma in Sicherheit zu bringen. Das angetroffene „wüste Treiben“ ist von „Haufen des niedrigsten Pöbels, Patrouillen des Heeres [und] Schaaren von flüchtigen Landbewohnern“188 initiiert und von Adligen befehligt worden; mittelständische Bürger fehlen in der von Chaos und Schmutz bestimmten Szenerie. Als Anton in dem in Unordnung geratenen, „verräuchert[en] und beschmutzt[en]“189 Zimmer der Kommandantur der aufständischen Truppen warten muss, liefern ihm die Eindrücke ein ästhetisches Argument gegen die Revolution. „Wenn Revolution so aussieht, sieht sie häßlich genug aus“190, äußert er gegenüber Schröter, der ihm mit einer moralisierenden191 Argumentation beipflichtet: „Sie verwüstet immer und schafft selten Neues. Ich fürchte, die ganze Stadt gleicht dieser Stube. Die gemalten Wappen an der Decke und die schmutzige Bank, auf der wir sitzen, wenn solche Gegensätze zusammenkommen, dann darf ein ehrlicher Mann sein Kreuz schlagen. Der Adel und der Pöbel sind jeder einzeln schlimm genug, wenn sie für sich Politik treiben; so oft sie sich aber miteinander vereinigen, zerstören sie sicher das Haus, in dem sie zusammenkommen.“192

Der von Adel und Volk getragenen Revolution werden keine Erfolgsaussichten zugesprochen. An anderer Stelle im Roman begründet das Schröter mit dem Fehlen eines polnischen Bürgertums, ohne welches keine vernünftige staatliche Ordnung herzustellen wäre: „Als wenn Edelleute und leibeigene Bauern einen Staat bilden könnten! Sie haben nicht mehr Berechtigung dazu, als dieses Volk Sperlinge auf den Bäumen. Das Schlimme ist nur, daß wir ihre unglücklichen Versuche auch mit unserem Gelde bezahlen müssen.“ „Sie haben keinen Bürgerstand,“ sagte Anton eifrig beistimmend.

186 Ebd. 187 Die Deutung stützt sich auf Interpretationen von Hubrich (1974), S. 128-129 sowie Büchler-Hauschild, Gabriele: Erzählte Arbeit. Gustav Freytag und die soziale Prosa des Vorund Nachmärz. Paderborn 1987, S. 90-91. Im Folgenden als Büchler-Hauschild (1987). 188 Freytag (1896), Bd. 4, S. 406. 189 Ebd., S. 402. 190 Ebd. 191 Büchler-Hauschild (1987), schreibt dazu auf S. 93: „Durch Moralisierung der Revolution zu einer bürgerlichen Untugend wird sie in einen völlig unpolitischen Bereich gerückt und quasi als Eigenschaft der unzivilisierten, ungebildeten und rohen Polen gedeutet.“ 192 Freytag (1896), Bd. 4, S. 402.

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„Das heißt, sie haben keine Cultur,“ fuhr der Kaufmann fort; „es ist merkwürdig, wie unfähig sie sind, den Stand, welcher Civilisation und Fortschritt darstellt und welcher einen Haufen zerstreuter Ackerbauer [sic] zu einem Staate erhebt, aus sich heraus zu schaffen.“ 193

Wie Christine Aichinger in ihrer Studie Gespaltene Moderne hervorhebt, in der sie die nationalen und bürgerlichen Identitätskonstruktionen des Romans untersucht, dient die in Soll und Haben chaotisch in Szene gesetzte „Revolution in Polen“194 „der Glorifizierung des Bürgertums als Garanten für Fortschritt und Harmonie.“ 195 Den an Sauberkeit, Fleiß, Ordnung und dem Gemeinwohl interessierten Bürgern wird eine sozialintegrative, die anderen Schichten positiv beeinflussende Funktion zugesprochen. Eine Gesellschaft ohne Bürgerstand wie die polnische schaffe es dagegen nicht, den „Pöbel“ zu zivilisieren und ihm Aufstiegsmöglichkeiten aufzuzeigen, lautet die implizite Botschaft des Romans. Begründet wird sie auch mit einer „verschärfte[n] Kritik am Adelsstand in Gestalt seiner polnischen Vertreter“ 196, die als décadents erscheinen: „gleichzeitig überfeinert und rückständig im bürgerlichen Sinne“ haben sie dem allgegenwärtigen „Schmutz und Verfall“197 nichts entgegenzusetzen. Der Kommandant, mit dem Schröter und sein Kommis unterhandeln, besitzt zwar feine Umgangsformen, einfache Leute jedoch beschimpft er. Sein Quartier wird als „sehr elegant, aber auch sehr unordentlich“198 beschrieben. Außerdem scheut er sich nicht, in „unsaubern Betten“ zu nächtigen, so dass er laut Erzählerkommentar „kein unpassendes Bild der Aristokratie seines Stammes“ 199 abgeben würde. Damit finden sich im Roman Freytags Zuschreibungen, die auch in den eingesehenen Konversationslexika gebraucht wurden. Die „Vorbildfunktion der deutschen Verhältnisse“200, die den Lesern Stolz auf die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland vermitteln sollte, wird in Soll und Haben ex negativo aus dem stereotypen Bild der mit Schmutz assoziierten ‚polnischen Wirtschaft‘ hergeleitet, das eindeutig rassistisch grundiert ist.201 Sozialgeschichtliche und politische Bedingungen für die schwache Position des Bürgertums und die darauf zurückgeführten polnischen Verhältnisse bleiben ausgeblendet. Positive Veränderungen, so sieht es der Kaufmann Schröter, würden durch das Slawentum der Polen blockiert: „Es gibt keine Race, welche so wenig das Zeug hat, vorwärts zu kommen und sich durch ihre Capitalien 193 Ebd., S. 382-383. 194 Die Wendung wird ebd., S. 371 vom Erzähler als „Schreckenswort“ bezeichnet. 195 Aichinger, Christine: Gespaltene Moderne. Gustav Freytags Soll und Haben. Nation, Geschlecht und Judenbild. Würzburg 2007, im Folgenden als Aichinger (2007), S. 140. 196 Ebd. 197 Ebd., S. 139. 198 Freytag (1896), Bd. 4, S. 403. 199 Ebd., S. 414. 200 Büchler-Hauschild (1987), S. 92. 201 Vgl. Aichinger (2007), S. 141-150. Auf S. 141-142 schreibt sie, dass das „Auftauchen des Terminus ‚Rasse‘“ in Freytags Roman „sicherlich nicht ohne weiteres als Indikator einer entwickelten genetischen Rassetheorie wie im späten 19. oder 20. Jahrhundert gewertet werden“ könne: „zumindest zeigt sich aber in dieser Formulierung eine Konzeption an, in der quasi-ethnische Gemeinsamkeiten gesellschaftlichen Entwicklungen vorgeordnet sind.“

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Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die slavische“ 202; ein Argument, das im Roman auch als „Rechtfertigung für die deutsche Ostkolonisation“ 203 herangezogen wurde. Italienischer Dreck Im Bildungsprozess des bürgerlichen Individuums ist die Italienreise eine symbolträchtige Etappe gewesen. Wer sie, aus Deutschland stammend, im 19. Jahrhundert unternahm, trat sie mit älteren Reiseberichten und von daher auch, wie Walter Erhart betont, mir einer gewichtigen „Hypothek“ 204 im Gepäck an. Während ein Reisender wie Goethe „seine Fahrt nach Italien zum exemplarischen Bildungserlebnis“205 stilisiert hatte, versuchten die Reisenden des 19. Jahrhunderts sich in diese Bildungstradition einzupassen und Erfahrungen zu sammeln, die sie ihrer „individuellen Bildungssubstanz“206 hinzuzufügen beabsichtigten. Einlösen ließ sich das „Versprechen traditioneller Idealreisen“ angesichts einer empfundenen „Desillusionierung durch die italienische Realität“207 allerdings in der Regel nicht. Eine solche „Diskrepanz zwischen Erwartung und desillusionierender Realität“208 spiegelt sich auch in den eingesehenen Populärenzyklopädien wider. In ausführlichen Artikeln über Rom und andere Städte konnten die zeitgenössischen Lexikonnutzer das Bildungserlebnis einer Italienreise inklusive typischer Enttäuschungen, wie sie die Besucher aus dem Norden vor Ort erlebten, nachvollziehen. Der vielfach geschilderte Dreck stellt sich in ihnen als Sinnbild dieser Enttäuschungen dar. Freilich ist zu beachten, dass die mit Schmutz assoziierte Enttäuschung im 19. Jahrhundert ein üblicher Topos der Reiseliteratur darstellte, der sicherlich auch einen Anschein von Authentizität vermitteln sollte. Die Unreinlichkeit unterstrich den Realitätsgehalt des Geschilderten. Selbst Goethe hatte in seinem zwischen 1813 und 1817 erschienenen Bericht über seine 1786 angetretene Italienische Reise gelegentlich die Unsauberkeit in einigen italienischen Städten erwähnt.209 Das von ihm aufgefundene ‚klassische‘ Italien wurde in seinem stilisierten Bericht allerdings nicht von solchen vereinzelten Eindrücken beeinträchtigt. Der Grund dafür liegt in einer idealästhetischen Abstraktionsleistung, mit der er die Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung und Realität vermeintlich überwunden hat. In dem zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Reisetagebuch hat er sich ausführlich zu jenem Punkt geäußert, in dem so manche Reisende fehlen, in dem ich auch sonst gefehlt habe.

202 Freytag (1896), Bd. 4, S. 382. 203 Aichinger (2007), S. 142. 204 Erhart, Walter: Traumbilder, Glücksritter, Bildungslegenden. Europäische Bildungsreisen im 19. Jahrhundert. In: Arcadia 26 (1991), S. 265-289, S. 284. 205 Ebd. 206 Ebd., S. 287. 207 Ebd., S. 288. 208 Ebd., S. 284. 209 Vgl. Osterloh, Malte: Versammelte Menschenkraft. Die Großstadterfahrung in Goethes Italiendichtung. Würzburg 2016, S. 164-167.

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Jeder denckt doch eigentlich für sein Geld auf der Reise zu genießen. Er erwartet alle die Gegenstände von denen er so vieles hat reden hören, nicht zu finden, wie der Himmel und die Umstände wollen, sondern so rein wie sie in seiner Imagination stehen und fast nichts findet er so, fast nichts kann er so genießen. Hier ist was zerstört, hier was angekleckt, hier stinckts, hier rauchts, hier ist Schmutz pp so in den Wirthshäusern, mit den Menschen pp. Der Genuß auf einer Reiße ist wenn man ihn rein haben will, ein abstrackter Genuß, ich muß die Unbequemlichkeiten, Widerwärtigkeiten, das was mit mir nicht stimmt, was ich nicht erwarte, alles muß ich bey Seite bringen, in dem Kunstwerck nur den Gedancken des Künstlers, die erste Ausführung, das Leben der ersten Zeit da das Werck entstand heraussuchen und es wieder rein in meine Seele bringen, abgeschieden von allem was die Zeit, der alles unterworfen ist und der Wechsel der Dinge darauf gewürckt haben. Dann hab ich einen reinen bleibenden Genuß und um dessentwillen bin ich gereißt, nicht um des Augenblicklichen Wohlseyns oder Spases willen.210

In nuce beinhaltet diese Ausführung Goethes Verständnis einer reinen Ästhetik, auf das in Kap. 4.4 der vorliegenden Arbeit eingegangen wird. Wenn in den nachklassischen Reiseberichten in immer stärkerem Maße der Schmutz in den Fokus rückte, verweist das auf das Scheitern respektive die bewusste Verweigerung einer solch idealisierenden Abstraktionsleistung. In den Konversationslexika sind mehrfach Roms „schlecht gepflasterte Gassen“ erwähnt worden, die mit „Schmutz und Unrath“ bedeckt waren; „Wind und Regen sind fast die einzigen Reinigungsmittel der Straßen“211 gewesen. Dass die „Unreinlichkeit in den Gassen“ nicht bloß unangenehme, sondern auch gesundheitsgefährdende „pestilenzialische Dünste“212 ausströmen würde, ist im Damen Conversations Lexikon beteuert worden. Für andere Städte Italiens wurden in den Enzyklopädien ähnliche Beobachtungen angestellt. Neben Florenz, dass „eine große Menge schlechter und schmuziger Häuser, in engen und finstern Straßen“213 besessen habe, galt Neapel214 als ganz besonders unreinlich. Dort würden „die Straßen nie gereinigt u. der Schmutz ist daher ungeheuer.“215

210 Goethe, Johann W.: Reisetagebuch an Frau von Stein, 25.09.1786. In: Sämtliche Werke, II. Abt., Bd. 3. Italien im Schatten der Revolution. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 3. September 1786 bis 12. Juni 1794. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt am Main 1991, S. 75-76. 211 [Art.] Das neue Rom. In: CL, Bd. 4, S. 321. 212 [Art.] Rom (die Stadt). In: DCL, Bd. 8, S. 444. 213 [Art.] Florenz. In: BCL, Bd. 2, S. 60. 214 Das negative Neapelbild europäischer Reisender mag mit der schieren Größe Neapels zusammenhängen, die von den Besuchern aus dem Norden als erschreckend empfunden wurde. Neapel hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts circa eine halbe Million Bewohner und besaß damit etwa dreimal so viele Einwohner wie Rom, vgl. Richter, Dieter: Das Bild der Neapolitaner in der Reiseliteratur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. In: Jäger, Hans-Wolf (Hg.): Europäische Reisen im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg 1992, S. 118-130, vor allem S. 119-122. ‒ Zu literarisch verarbeiteten Reiseerfahrungen nach Neapel um 1800 vgl. Baum, Constanze: Vorbild, Abbild, Zerrbild. Bewältigungsstrategien europäischer Neapelreisender um 1800. In: Imorde, Joseph; Wegerhoff,

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Die Zustände in den Straßen italienischer Städte wurden mit ihren zu Unsauberkeit neigenden Bewohnern in Beziehung gesetzt. An die Seite dieser, den Italienern kollektiv zugeschriebenen Schmutzaffinität ist ein ganzes Bündel anderer negativer Eigenschaften gestellt worden. Neben „Geiz und Unreinlichkeit“ wurde den Italienern etwa „sklavischer Sinn und Rachsucht“216 vorgeworfen. Die Neapolitaner galten als „Liebhaber der Musik, lebhaft, witzig, zornig, träge für Arbeit, feig, durch Bedrückungen arm, habsüchtig; die Kleidung, Wohnung u. Kost des Volkes ist schmutzig u. dürftig, doch wird der im Überfluß vorhandene Wein auch von den Armen für gewöhnlich genossen.“217 Als ein „feiges, träges, sinnliches, betrügerisches, faules Völkchen“ sind die Bewohner Roms beschrieben worden, das einen „Hang zu Müßiggang und zu Schauspielen“ sowie „ein feines Gefühl für Kunst“ besessen, aber auch „zu roher Unsittlichkeit“218 geneigt habe. Zu den „kleinen Unannehmlichkeit“, die ein Reisender in Rom ertragen müsste, gehörten außerdem „die mangelhafte Polizei, die schlechte Beleuchtung, die grenzenlose Bettelei“219; selbst „Mord u. Straßenraub“ sind als „gewöhnlich“220 bezeichnet worden. Dass auf den „weniger besuchten Gassen“ der Stadt „gearbeitet, gegessen u. getrunken“ wurde und dass die Römer öffentlich ihre „natürlichen Bedürfnisse“ erledigten, ist als ganz besonders störende „Unreinlichkeit“221 wahrgenommen worden. All diese, das Bildungserlebnis beeinträchtigenden Eindrücke wurden mit den aus der eigenen deutschen Kultur mitgebrachten moralisch-sittlichen Vorstellungen und Schicklichkeitsgrundsätzen bewertet. Besonders groß waren die Enttäuschungen angesichts der Sehenswürdigkeiten, an denen die Besucher aus dem Norden die Schönheit und Erhabenheit des kulturellen italienischen Erbes besichtigen wollten. Ihre Bestandsaufnahmen fielen häufig ernüchternd aus. Die antiken Stätten, Kirchen und Kunstwerke der Renaissance fanden sie nicht selten verwahrlost und mit einem dreckigen Belag überzogen vor, der ausführlich auch in den Konversationslexika beschrieben worden ist. Im „weltberühmten Palaste der Doria“ in Genua wuchs „auf dem Hofe Gras“ und auch im Innern bot sich einem Betrachter kein schöner Anblick: „Die Gemälde, Vergoldungen, Arabesken, voll Staub, Motten und Schmuz zeigen zugleich G.´s vormaligen Glanz und wie tief es herabgesunken ist.“222 Auch in Neapel waren „die schönsten Paläste“ stets „mit Unflath bedeckt, selbst die Kirchen werden nie gereinigt.“223 Dass der kunstbeflissene und in der Antike bewanderte Reisende im italienischen Dreck mit einigem Glück gleichwohl auch kunsthistorische Funde machen konnte, ist in Adalbert Stifters 1857 erschienenem Nachsommer beschrieben worden. In dem

215 216 217 218 219 220 221 222 223

Erik (Hgg.): Dreckige Laken. Die Kehrseiten der ‚Grand Tour‘. Berlin 2012, S. 30-47 u. S. 184-186. [Art.] Neapel. In: PUL4, Bd. 11, S. 732. [Art.] Italien. In: BCL, Bd. 2, S. 468. [Art.] Neapel. In: PUL4, Bd. 11, S. 730. [Art.] Das neue Rom. In: CL, Bd. 4, S. 321. [Art.] Rom (die Stadt). In: DCL, Bd. 8, S. 444. [Art.] Rom. In: PUL4, Bd. 14, S. 265. Ebd. [Art.] „Genua“. In: BCL, Bd. 2, S. 184-185. [Art.] Neapel. In: PUL4, Bd. 11, S. 735.

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Roman entdeckt der sich auf Bildungsreise in Italien befindende Risach „in einer Bretterbude bei Cumä“224 durch Zufall die von „vielen Schmutzflecken“ 225 bedeckte, marmorne Gestalt eines Mädchens, die er dem Besitzer für wenig Geld abkauft, über die Alpen in das von ihm bewohnte Rosenhaus transportieren und dort aufarbeiten lässt. Die instandgesetzte Statue bekommt schließlich einen prominenten Platz im Zentrum des Hauses zugewiesen und wird damit zum Sinnbild für das von Risach präferierte Konzept ästhetischer Reinheit.226 In den Lexika herrschte ein melancholisch anmutender Blick auf die vielen verfallenen kulturhistorischen Relikte vor. Im Bilder-Conversations-Lexikon wurde dieser auf die Überreste des Forum Romanum geworfen, das sich einstmals „durch Pracht und Umfang auszeichnete“ und von „einer großen Menge Statuen verziert“ gewesen war, unter denen sich „vornehmlich die vergoldeten Statuen der 12 obersten Götter“227 befunden hätten. Da man von dem „weltberühmten römischen Forum“ jedoch „nur noch Trümmer“ erblicke, trüge es inzwischen zurecht den Namen „Ochsenplatz (Campo vaccino).“ An vielen Stellen „ist der wüste, unebene und schmuzige Platz mit Bäumen bepflanzt, und an Wochentagen halten hier eine Menge mit Büffeln und Ochsen bespannter Wagen mit Stroh, Heu, Lebensmitteln und dergl. beladen.“228 Der schmutzige Ort, an dem sich einst Senat und Volk „bei allen wichtigen Verhandlungen zu versammeln pflegten“229, spiegelte die politische Macht des alten Roms in keiner Weise mehr wider und taugte allenfalls noch als Hintergrundpanorama bukolischer Dichtung und Malerei. 230 Die Zitate aus den Lexika belegen, dass die Enttäuschungen deutscher Reisender im 19. Jahrhundert enzyklopädischen Stellenwert besessen haben und zu den idealisierten Italienbildern in Kontrast gesetzt wurden. Das reale Italien scheiterte am bildungsbürgerlichen Sehnsuchtsland gleichen Namens. Die charakterlich als unsauber, faul, leidenschaftlich und unsittlich beschriebenen Italiener sind ihres kulturellen Erbes für unwürdig erachtet worden: „Der Zufluß von Fremden“ würde nicht ausreichen, um „einen gründlichen Wohlstand und eine edle Nacheiferung“ 231 antiker Verhältnisse in die Wege zu leiten, ist im ‚Ur-Brockhaus‘ behauptet worden. Mit den

224 Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Eine Erzählung. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Alfred Doppler u. Wolfgang Frühwald, Bd. 4.14.3. Stuttgart u.a. 1997-2000, hier Bd. 4.2, S. 76. 225 Ebd., S. 80. 226 Vgl. Rosenbaum, Lars: Allgegenwärtig und nirgends zu sehen? Die Bedeutung von Abfällen in Adalbert Stifters „Nachsommer“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 133 (2014), Sonderheft [=Assmann, David-Christopher; Eke, Norbert O.; Geulen, Eva (Hgg.): Entsorgungsprobleme: Müll in der Literatur], S. 197-218, S. 217. 227 [Art.] „Forum“. In: BCL, Bd. 2, S. 73. 228 Ebd. 229 Ebd. 230 Vgl. Wegerhoff, Erik: Kühe versus Cicero. Wanderungen über den Campo Vaccino. In: Ders. u. Imorde, Joseph (Hgg.): Dreckige Laken. Die Kehrseite der ‚Grand Tour‘. Berlin 2012, S. 81-100 u. S. 190-192. 231 [Art.] Das neue Rom. In: CL, Bd. 4, S. 321.

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zahlreichen Hinweisen auf den italienischen Dreck ist implizit stets die eigene kulturelle Überlegenheit behauptet worden.232 Die schmutzigen Gassen Konstantinopels Auch Konstantinopel ist in den Konversationslexika immer wieder mit der antiken „Wunderstadt“233 in Kontrast gesetzt worden, die sie einmal gewesen ist. Während eine Stadt wie Rom trotz allen Verfalls noch als Teil der europäischen Zivilisation angesehen wurde, galt die Metropole des Osmanischen Reiches als eine „Weltstadt“234 außerhalb der zivilisierten Welt. Der im Damen Conversations Lexikon erschienene Artikel über die Stadt ist ganz aus der subjektiven Sicht eines deutschen Reisenden geschrieben, der die fremdartigen Eindrücke des Alltags der muslimischen Stadt mit romantisierten Vorstellungen des christlichen Konstantinopels der Antike in Einklang zu bringen versuchte: Der Beschauer träumt sich zurück in die alte Zeit und Pracht der christlichen Herrlichkeit; da tönt plötzlich von einem Minaret in langgedehnten Lauten der Ruf des Muezzins zum Gebete, und von Allen hallt er wieder und die Gläubigen werfen sich in den Staub und berühren mit ihrer Stirne die Erde. Und es ist plötzlich eine andere Welt, ein Riesengrab von prächtigen Trümmern, ein fremdes Leben über den Spuren eingesargter Jahrhunderte! Schon beim ersten Anblick sieht man, daß hier eine halbwilde Horde aus Asien ihre schweigsame Herrschaft führt.235

Das Gebet der Muslime wird als zivilisatorisch rückständige Handlung eines „in den Staub“-Sinkens gedeutet, die betende Menge undifferenziert als eine unzivilisierte, „halbwilde Horde aus Asien“ beschrieben, die über die Stadt mit seiner christlichantiken Historie eine Fremdherrschaft ausüben würde. Eine solch geringschätzige Haltung auf das Konstantinopel der damaligen Gegenwart und seine mehrheitlich muslimische Bevölkerung bestimmte die in den Populärenzyklopädien dominante eurozentrische Sicht auf die Stadt. Allein von der See aus sprach man ihr einen Reiz zu, den sie ihrer geographischen Lage am Bosporus verdankte. Das Innere Konstantinopels mit seinen „zahllosen engen, krummen und schmutzigen, schlecht oder gar nicht gepflasterten Gassen“ stünde dagegen in einem „abschreckenden Gegensatz zu der herrlichen Lage“; die Stadt wiese kaum „öffentliche Plätze, unzählige elende Hütten neben wenigen Prachtgebäuden, ganze Strecken voller Trümmer und Brandstätten und andre öde Plätze“236 auf, ist in Meyers Großem Konversations-Lexikon berichtet worden. Soweit man „den Fuß an das Land setzt“ höre, wie man im ‚Pierer‘ lesen kann, „aller Zauber auf, da unglaubliches Gedränge in den engen u. schmutzigen Gassen, alt aussehende, winkelig gebaute Häuser, in Überzahl schmutzige Menschen, Geschrei von 232 Vgl. Imorde, Joseph: Zur Konstitution kultureller Überlegenheit. Das negative Italienurteil deutscher Reisender im 19. Jahrhundert. In: Ders.; Wegerhoff, Erik (Hgg.): Dreckige Laken. Die Kehrseite der ‚Grand Tour‘. Berlin 2012, S. 152-161 u. S. 201-205. 233 [Art.] Constantinopel. In: DCL, Bd. 2, S. 479. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 [Art.] Konstantinopel. In: MKL6, Bd. 11, S. 421.

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Lastträgern u. Verkäufern, widerige Gerüche u. dergl. mehr dem Fremden überall entgegentreten.“237 Der vom Hafen aus angetretene Streifzug ist im Damen Conversations Lexikon als eine von unangenehmen Eindrücken begleitete Grenzüberschreitung vom Okzident in den Orient und damit als eine aus der europäischen Zivilisation hinausführende Bewegung dargestellt worden: „Kaum tritt der Wanderer vom Quai in die schmuzigen Straßen, so erinnern schon die verschiedenen Gesichtsfarben, Kleider, Turbane, Mützen, daß er an der Grenze des Orientes ist.“238 Dass sich ein Europäer in Konstantinopel außerhalb der Zivilisation bewegen würde, ist mit der Feststellung untermauert worden, dass es weder eine „allgemeine Polizei“ noch eine „Gesundheitspolizei“239 geben würde. Ohne jene für Sicherheit, Sauberkeit und Gesundheit einstehenden Institutionen öffentlicher Ordnung stellte sich die Stadt aus zentraleuropäischer Perspektive als Wildnis dar: „Das Aas der gefallenen Thiere, der Schmutz aus den Häusern bleibt auf den Straßen liegen; dem Regen, den vielen herrenlosen Hunden und Raubvögeln bleibt es überlassen, eine Art Reinlichkeit zu erhalten. Daher erscheint jährlich das Tausende von Menschen mähende Ungeheuer, die Pest.“240 Auch im Bilder-Conversations-Lexikon ist die „ekelhafte Unreinlichkeit“241 in den Gassen Konstantinopels als Rückfall in einen vorzivilisatorischen Zustand beschrieben worden, wie er des Nachts vonstattengehen würde. Dann seien „alle Straßen und Plätze verödet, und es finden sich statt der Menschen große Heerden von Hunden und Raubvögeln ein, welche den auf die Straßen geworfenen Unrath verzehren.“242 In dieser apostrophierten Wildnis gab es nur wenige Orte, die in dem Gewirr dreckiger Straßenzüge als Inseln der Zivilisation beschrieben wurden. Neben dem Hafen waren das die Vorstädte „Pera u. Galata“, die sich, wie im ‚Pierer‘ zu lesen ist, „durch viele massive Gebäude u. Waarenlager mit europäischen Artikeln aller Art u. durch vorherrschend europäische Trachten ihrer Bewohner von den übrigen Theilen C-s auszeichnen“243 würden. Dass es in den beiden Stadtteilen „elegante Häuser und reinliche Straßen“244 geben würde, ist auch im Damen Conversations Lexikon betont worden. Erst 1905 wurde im ‚Meyer‘ beobachtet, dass in der übrigen Stadt „unter Leitung westeuropäischer Baumeister“ neuerdings Stadtsanierungen unternommen worden sind, aufgrund derer „mehr Licht und Luft in die Stadt“ 245 gelangten. Der infrastrukturelle Fortschritt wurde einzig auf den Einfluss europäischer Experten zurückgeführt. Konstantinopel ist jedoch nicht auf seinen Schmutz reduziert worden. In mehreren Artikeln gaben sich die Verfasser Mühe, eine möglichst auch exotische Schilderung des regen städtischen Lebens mit seinen Basaren und Harems zu entwerfen, die

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[Art.] Constantinopel. In: PUL4, Bd. 4, S. 385. [Art.] Constantinopel. In: DCL, Bd. 2, S. 480. Ebd., S. 481. Ebd. [Art.] Konstantinopel. In: BCL, Bd. 2, S. 643. Ebd. [Art.] Constantinopel. In: PUL4, Bd. 4, S. 390. [Art.] Constantinopel. In: DCL, Bd. 2, S. 480. [Art.] Konstantinopel. In: MKL6, Bd. 11, S. 421.

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der Orientimago der damaligen Zeit entsprach.246 Mit dieser Mischung aus bedrohlicher Wildnis und reizvoller Exotik bot sich die auf der Grenze zwischen Orient und Okzident befindliche Metropole als Kulisse für Abenteuergeschichten an. Entsprechend hat auch Karl May die ersten Kapitel seines zwischen 1885 und 1887 auf 2.610 Druckseiten in 109 Heften gelieferten Kolportageromans Deutsche Herzen, Deutsche Helden dorthin verlegt.247 Die Handlung setzt in Konstantinopel ein, das ähnlich wie in den Artikeln der Konversationslexika zunächst vom Hafen aus beschrieben wird. Die auf dem Deck einer einfahrenden Dampfjacht stehenden Personen werden des „zauberischen Panorama´s“ 248 der Stadt ansichtig, das der anscheinend ortskundige Kapitän folgendermaßen kommentiert: „‚Constantinopel muß von hier aus betrachtet werden. Von hier aus wirkt es großartig; im Innern aber ist es eng, schmutzig und winkelig. Der Türke nennt seine Hauptstadt ‚Wangenglanz des Weltantlitzes‘, und er hat Recht, nämlich von hier aus, wo wir uns befinden.‘“249 Die Ähnlichkeit zu den Berichten über Konstantinopel aus den populären Enzyklopädien ist wohl keineswegs zufällig. May, der seiner Figur diese Worte in den Mund legte, hat bekanntlich viele Informationen, die er in seine Texte hat einfließen lassen, aus dem ‚Pierer‘ und anderer enzyklopädischer Literatur gezogen. 250 Der spleenige Besitzer der Jacht Lord Eagle-nest lässt sich von den Worten seines Kapitäns übrigens nicht beeindrucken und begibt sich mit Regenschirm und dem Libretto von Mozarts Entführung aus dem Serail251 in den Händen, auf die Suche nach

246 Diskurse über die Türkei und den Orient inklusive ihrer historischen Dimensionen sind in den deutschen Literatur- und Kulturwissenschaften zuletzt verstärkt untersucht worden. Vgl. etwa Şölçün, Sargut: Entzauberte Nation. Literarische Entdeckung türkischer Mentalität. Duisburg 2008. ‒ Goer, Charis: Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. München u.a. 2008. ‒ Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin u.a. 2005. ‒ Siehe auch folgende Sammelbände: Attia, Iman (Hg.): Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Münster 2007. ‒ Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Bielefeld 2007. ‒ Eine Studie zur Geschichte des Haremsmotivs in der westeuropäischen Kunst bietet Förschler, Silke: Bilder des Harem. Medienwandel und kultureller Austausch. Berlin 2010. 247 Auf den Kolportageroman Mays bezieht sich Roussel, Martin: Deutsche Herzen, Deutsche Helden. Karl Mays Nation. In: Doll, Martin u. Kohns, Oliver (Hgg.): Figurationen des Politischen, Bd. 2. Die zwei Körper der Nation. Texte zur politischen Ästhetik 2. Paderborn 2016, S. 249-279. 248 May, Karl: Deutsche Herzen, Deutsche Helden, 6 Bde. In: Karl Mays Werke. Historischkritische Ausgabe für die Karl May Stiftung, II.20-II.25. Bargfeld 1996-1997. Im Folgenden als May, Bandnummer (1996 bzw. 1997). Hier Bd. 1, S. 13. 249 Ebd. , S. 15. 250 Vgl. Schweikert, Rudi: Das gewandelte Lexikon. Zu Karl Mays und Arno Schmidts produktivem Umgang mit Nachschlagewerken. Wiesenbach 2002. 251 Zur Bedeutung der Oper vgl. Spohn, Margret: Das musikalisch geprägte Türkenbild. In: Attia, Iman (Hg.): Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Münster 2007, S. 157-166. Mozarts Werk hat lange

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einem entsprechenden Abenteuer in die Stadt hinein. In deren winkligen Gassen die Orientierung verlierend, gerät er tatsächlich bald in ein kleinkriminelles Milieu, weshalb er seine vorgefasste Meinung, dass „die Civilisation hier noch nicht vorgeschritten“252 sei, bestätigt sieht. Mit Paul Normann, Hermann Wallert und Oskar Steinbach lernt der Lord im weiteren Verlauf der Handlung drei Deutsche kennen, mit denen er seine Entführungsidee in die Tat umsetzen kann. Aus dem Harem des böswilligen Ibrahim Pascha befreien die vier Protagonisten die deutschstämmige Tschita, die bezeichnenderweise als eine „von Unschuld und reiner, unbewußter Jungfräulichkeit“253 bestimmte Frau beschrieben wird und sich als die lange schon verschollene Schwester von Hermann entpuppt. Mays Konstantinopel erweist sich somit als ein stereotypes Gebilde, das sich aus materiellem Dreck, einer Menge Intrigen, Exotik und einer latenten Erotik speist, die als Bedrohung der sittlichen Reinheit deutscher Frauen erscheint. Vom Konstantinopel der Konversationslexika unterscheidet es sich damit kaum. Die unreinlichen Wilden In Europa und an seinen Grenzen galt der Schmutz als Kennzeichen kulturellen Verfalls. Wo er auftauchte trat ein archaischer Zustand zutage, der die Zivilisation bedrohte. In vielen Regionen außerhalb Europas schien der Schmutz dagegen allgegenwärtig zu sein. Seine Präsenz verwies auf die Unkultiviertheit zivilisationsferner, vermeintlich primitiver Völker. Vielfach sind in den populären Enzyklopädien unhygienische Wohn- und Lebensbedingungen, unreinliches Aussehen254, unsaubere Verhaltensweisen und rückständige Moralvorstellungen indigener Völker erwähnt worden. Der im ‚Ur-Brockhaus‘ erschienene Artikel über das im Norden Russlands umherziehende Nomadenvolk der Samojeden bietet ein anschauliches Beispiel dafür. Da sie „in den unreinlichsten Hütten“ leben würden, „die selten eine Oeffnung für den Rauchzug haben“, besäßen sie „ein äußerst schmuziges und ekelhaftes Ansehen“; gleichsam gehörten sie zu den „rohesten und unwissendsten“ Völkern, die „Götzenbilder“255 anbeten und nur ein primitives Verständnis von Gut und Böse besitzen würden. Das Aussehen der Menschen und ihrer Lebenswelt verwies auf ihre Kulturstufe. Während Sauberkeit als elementare Leistung von Zivilisation und Aufklärung galt, sollte die Erwähnung des Schmutzes die Unkultiviertheit der beschriebenen indigenen Völker beglaubigen. Das entsprach dem gängigen Deutungsmuster, das auch in der Ethnologie des 19. Jahrhunderts vorherrschte. In dem Spezialdiskurs dienten „die Kategorien ‚Reinheit‘

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Zeit das exotische Bild des Orients geprägt, das May mit seiner Erwähnung ironisch aufrief. May Bd. I (1996), S. 19. Ebd., S. 33. Grotesk mutet u.a. die Beschreibung des unreinlichen Aussehens der Feuerländer im Damen Conversations Lexikon an: „Die Race an sich ist nicht schön, die Farbe würde nicht entstellen, da sie ein röthliches Braun ist, allein die Unbilden der Witterung und ihre Unreinlichkeit machen sie widrig und abschreckend; auch sind ihre Gesichtszüge häßlich und sie selbst mager und ungestaltet.“ ([Art.] Feuerland. In: DCL, Bd.4, S. 115.) [Art.] Die Samojeden. In: CL, Bd. 5, S. 44.

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und ‚Unreinheit‘ als grundlegendes Strukturierungsmerkmal“ 256, mit dem zwischen primitiven und modernen Gesellschaften unterschieden wurde. Die ‚Primitivität‘ einer Gemeinschaft wurde in hohem Maße auch aus ihren hygienischen und moralischreligiösen Unreinheitsvorstellungen hergeleitet. Sigmund Freud, der u.a. mit den Schriften von James George Frazer und John Gregory Bourke vertraut war, hat die in ihnen vertretenen Erkenntnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts in psychoanalytische Thesen übersetzt. Freud stellte die indigenen Völker als „Kinder des evolutionären Prozesses“ den „erwachsenen Kulturmenschen“257 gegenüber. Jene seien nicht dazu in der Lage, ihre eigene Natur durch Einhegung der Bedürfnisse klar vom Tier abzugrenzen und empfänden dem Unreinen gegenüber weder Scham noch Ekel. Den Kindern ähnlich, würden primitive Völker das Unreine durch Tabuisierung erst allmählich zu verdrängen lernen.258 Mehrfach sind in den Lexika die Pflege- und Reinigungstechniken primitiver Völker als unzulänglich beschrieben worden. Mit ihren natürlichen Kosmetika schafften sie es bloß, „den ewigen Schmutz zu bedecken“, ist im Damen Conversations Lexikon zu lesen: Lappländerinnen würden sich mit „Thran“ einsalben, „Wilde färben sich Lippen und Zähne oder überziehen die Haut mit einer Farbe oder Salbe“259. Dass sie sich „mit Butter oder Thierfett“ einreiben würden und ihre Körper deshalb „mit einer schmuzigen Kruste bedeckt“260 wären, ist im Bilder-Conversations-Lexikon über die Hottentotten berichtet worden. Sie galten als „gutmüthig und gastfrei, aber träge und unreinlich“, so dass die „Culturstufe“ der Hottentotten als „niedrig“261 bewertet wurde. Ähnlich ist der äußerlich sichtbare Schmutz auch im ‚Herder‘ als Hinweis auf den „Charakter[] der Negerrace“ gedeutet worden, der dort als „unreinlich, sinnlich, aber muthig“262 beschrieben wurde. Im ‚Ur-Brockhaus‘ sind die „schmuzig rosenfarbenen oder schwärzlich bläulichen Lippen“ der „Neger“ beschrieben worden, die „dick, wulstig, aufgeworfen“ wären; die groteske Darstellung mündete in einer rassistischen Abwertung, bei der die Schwarzen als den Affen nahestehende Menschen mit kleineren Gehirnen beschrieben wurden: „Das Ohr, das mehr als das unsrige vom Kopfe abstehen soll, ist rundlicher und dem des Affen ähnlicher. […] Das Gehirn hat in Hinsicht der Farbe nichts Besonderes, aber es steht in Ansehung der Größe dem des Weißen in etwas nach.“263 Sauberkeit ‒ das haben die vorausgegangenen Analysen gezeigt ‒ symbolisierte den zivilisatorischen Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland. Dreck 256 Przyrembel, Alexandra: Verbote und Geheimnisse. Das Tabu und die Genese der europäischen Moderne. Frankfurt am Main 2011, S. 117. 257 Ebd., S. 121. 258 Die in diesem Absatz angestellten Überlegungen gehen auf ebd., S. 113-141 zurück. Mit Blick auf Freud bezieht sich Przyrembel vor allem auf dessen erstmals 1913 erschienene Schrift Freud, Siegmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 9. London 1940. 259 [Art.] Schönheits- und kosmetische Mittel. In: DCL, Bd. 9, S. 130. 260 [Art.] Hottentotten. In: BCL, Bd. 2, S. 417. 261 Ebd. 262 [Art.] Hottentotten. In: HCL, Bd. 3, S. 352. 263 [Art.] Racen der Menschen. In: CL, Bd. 4, S. 21.

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indizierte die vermeintliche zivilisatorische Rückständigkeit anderer Nationalgesellschaften oder Völker. Das asymmetrische Gegenbegriffspaar Sauberkeit/Schmutz wurde im politischen Diskurs des 19. Jahrhunderts auf das Dual Zivilisation/Wildnis appliziert. 3.3.3 Der Schmutz der Diätetik und Hygiene In diesem Abschnitt wird nach dem Schmutz als einem zu bewältigenden Objekt diätetischer und hygienischer Maßnahmen gefahndet, mit denen die Gesundheit eines Einzelnen oder einer Gruppe gebessert und Krankheiten verhindert werden sollten. Dadurch wird sichtbar, wie sich die in den Kapiteln 2.4 bis 2.6 geschilderte Etablierung der modernen Hygiene als angewandte Wissenschaft in den Konversationslexika niederschlug. Insofern stellt dieser Abschnitt eine Ergänzung des 2. Kapitels dar. Zunächst wird untersucht, welche Bedeutung dem Unreinen in der auf Gesundheit und Reinheit abzielenden Diätetik um 1850 zukam. Im vorbakteriologischen Zeitalter, als bezüglich der Ursachen und Ansteckungswege vieler Krankheiten noch Unklarheit herrschte, stellte die Diätetik die aussichtsreichste Möglichkeit einer individuellen Krankheits- und Seuchenprophylaxe dar. Daraufhin wird der Stellenwert der Diätetik unter Gendergesichtspunkten beleuchtet. Bürgerlichen Frauen ist der diätetische Lebenswandel als Mittel zur Perfektionierung körperlicher und geistiger Schönheit anempfohlen worden, deren ‚reine Erscheinung‘ als höchst gefährdet imaginiert wurde. Bei der sozialen Konstruktion des ‚schönen Geschlechts‘ griffen in den Lexika gesundheitliche, ästhetische und moralische Vorstellungen ineinander. Der darauffolgende Teil wirft die Frage auf, was sich nach der Etablierung einer auf naturwissenschaftlichen, statistischen und technischen Methoden basierenden modernen Hygiene und den paradigmatischen Erkenntnissen der Bakteriologie der 1870er- und 1880er-Jahre im Verständnis von Schmutz und Krankheit änderte. In den Zuständigkeitsbereich dieser modernen Hygiene fiel um 1900 nicht mehr nur die individuelle, sondern auch die öffentliche Gesundheitspflege, die die Beseitigung bakterieller Verunreinigungen aus dem öffentlichen Raum forcierte. Wie in den populären Enzyklopädien über diese Entwicklung informiert wurde, wird in einem weiteren Unterabschnitt gezeigt. Abschließend wird untersucht, in welcher Weise Aspekte der Städtereinigung thematisiert wurden. Dabei stellt sich die Frage, ob die forcierten öffentlichen Hygienemaßnahmen einen diskursiven Wandel ausgelöst haben, der sich etwa in einem veränderten Verständnis von oder in einer veränderten Kommunikation über Schmutz niedergeschlagen haben mag. Diätetik und die Gefährdungen körperlicher und geistiger Reinheit Der Begriff ‚Diätetik‘ geht auf den griechischen Ausdruck ‚diaita‘ zurück, der so viel wie Lebenskunst bedeutet.264 Laut Barbara Thums stand er in engem „Bezug zum antiken Konzept der Selbstsorge“; dem antiken Verständnis nach war die Diätetik damit 264 Vgl. Thums, Barbara: Moralische Selbstbearbeitung und Hermeneutik des Lebensstils. Zur Diätetik in Anthropologie und Literatur um 1800. In: Bergengruen, Maximilian; Borgards, Roland; Lehmann, Johannes F. (Hgg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Würzburg 2001, S. 97-111, S. 97. Im Folgenden als Thums (2001).

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weniger „ein therapeutisches Instrument der Medizin“, als vielmehr ein „prophylaktischer oder therapeutischer psychophysischer Ansatz“, der „ein ganzheitliches Konzept im Umgang mit Gesundheit und Krankheit“ 265 bereitstellte. Nachdem die Diätetik in der Frühen Neuzeit an Bedeutung verloren hatte, ist sie im Zuge der Aufklärung wiederentdeckt und seither in zahlreichen Schriften popularisiert worden.266 Diätetische Vorstellungen haben auch in Ästhetik und Literatur Spuren hinterlassen; Goethe hat sein Selbstverständnis als Künstler beispielsweise eng an solchen Auffassungen orientiert (vgl. Kap. 4.4).267 Mit Ausnahme des ‚Ur-Brockhaus‘ finden sich in allen eingesehenen populären Enzyklopädien ausführliche Artikel zur Diätetik, worunter man „denjenigen Theil der Heilkunde“ zählte, „der sich mit den Regeln, nach welchen man seine ganze Lebensweise im Zustande der Gesundheit einrichten soll, beschäftigt.“268 Unter einer Diät verstand man folglich die gesammte körperliche und geistige Lebensordnung, welche bei den verschiedenen Gesundheitsverhältnissen (nach Alter, Constitutionen, wechselnden äußeren Einflüssen, z.B. Jahreszeiten, Klimaten, gesellschaftlichen Verhältnissen, Stand, Beruf, Gewerbe, Zusammenleben mehrerer oder vieler Leute etc.) und in verschiedenen Krankheiten jeweils zuträglich und nöthig erachtet wird.269

Die Diätetik ist demnach nicht nur auf den Körper, sondern auch auf den Geist und damit auf den ganzen Menschen bezogen worden, als der er in anthropologischen Konzepten der Aufklärung begriffen wurde.270 Eine „der körperlichen und geistigen Gesundheit“271 zuträgliche diätetische Lebensweise galt als die wirksamste Methode, um „Krankheiten vorzubauen“272 und die Lebenserwartung zu erhöhen. Als zentrale Bestandteile einer solchen Lebensweise wurden „Reinlichkeit“ 273 sowie „Ordnung und Mäßigkeit in allen Dingen“274 vorgeschlagen. An diesen Tugenden orientiert, sollte eine Diät nicht nur auf den Körper wirkende Einflüsse wie „Luft, Wohnung, Wärme u. Kälte, Schlafen u. Wachen, Bewegung u. Ruhe, Essen u. Trinken, die Ausleerungen des Körpers, die Affecte u. Leidenschaften u. den Genuß des Geschlechts265 Ebd. 266 Zahlreiche Auflagen erlebten Hufeland, Christoph W.: Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Jena 1797. ‒ Feuchtersleben, Ernst Frh. von: Zur Diätetik der Seele. [30. Aufl.] Wien 1867. Von dieser Auflage ist in der Bibliothek der Universität Bielefeld ein mit dem Namenszug des Sozialreformers Alfred Bozi versehenes Exemplar einsehbar. 267 Zum Zusammenhang von Diätetik und Literatur vgl. Thums (2001), passim. ‒ Frühwald, Wolfgang: Die Entdeckung des Leibes. Über den Zusammenhang von Literatur und Diätetik in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 10 (1991), S. 13-23. 268 [Art.] Diät. In. BCL, Bd. 1, S. 563. 269 [Art.] Diät. In: HCL, Bd. 2, S. 369. 270 Vgl. Thums (2001), S. 97. 271 [Art.] Diät. In: HCL, Bd. 2, S. 369. 272 [Art.] Diät. In: PUL4, Bd. 5, S. 113. 273 [Art.] Diät. In: BCL, Bd. 1, S. 563. 274 [Art.] Diät. In: DCL, Bd. 3, S. 171.

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triebes“ regulieren, sondern auch „Regeln des geistigen und gemüthlichen Lebens“ 275 umfassen. Eine „umsichtige Regelung (auch des geistigen Lebens)“ ist als „absolute Bedingung“276 einer gesundheitszuträglichen Diät angesehen worden. Dabei sollte ein Diäthaltender sich selbst beobachten: „Der aufmerksame Mensch wird bald lernen, was ihm gut oder nicht zuträglich ist“277 und damit wissen, welche Einflüsse auf Körper und Geist er zu reduzieren habe. Dabei wurde keineswegs ein asketischer Lebensstil anempfohlen. Dem Hang zur Unreinlichkeit, Launenhaftigkeit und Maßlosigkeit sollte entsagt und durch „Mäßigkeit in allen Dingen und Genüssen“ 278 ersetzt werden. Es galt eine „Lebensweise“ zu meiden, die „auf die Gesundheit feindlich einwirken“279 würde. Aus einer „moralische[n] Schwäche“ heraus „dem Reize von Bequemlichkeiten u. Genüssen“ nachzugeben und eine allzu „verfeinerte Lebensweise“ zu führen, wurde allerdings als schwerwiegender „Diätfehler“280 angesehen. Ein allzu „luxuriöses Leben“ galt mit Blick auf die Gesundheit als „schädlich“281. Die gefährdete Reinheit des ‚schönen Geschlechts‘ Im Damen Conversations Lexikon ist die Diätetik den Leserinnen in verschiedenen Artikeln nicht nur aus gesundheitlichen, sondern auch aus ästhetischen Motiven heraus empfohlen worden. Mit einer an Sauberkeit, Ordnung und Mäßigkeit orientierten Diät wäre eine Frau nicht nur dazu in der Lage, den diversen „Leiden des Körpers und Verstimmungen des Gemüths zu begegnen.“ 282 Darüber hinaus beeinflusse eine gute Diät auch das Aussehen einer Frau positiv. „Schönheit“, so wurde im Stile der Ratgeberliteratur behauptet, hinge „bloß von der Gesundheit“ ab, die durch „Bewegung in freier Luft, durch Reinlichkeit, Bäder und kalte Waschungen“ zu bestärken wäre, während „Ueppigkeit des verfeinerten Lebens und Leidenschaftlichkeit“283 gesundheits- und schönheitsgefährdend wären. Wollte eine Frau „Gesundheit, Kraft, Schönheit und Liebreiz“ konservieren, sollte sie sich negativen „Einflüssen“ möglichst entziehen und ein an „Einfachheit“ und „Abhärtung“ orientiertes „naturgemäßes Leben“284 führen. Eine in dieser Weise eingehaltene diätetische Lebensweise würde sich nicht nur in „Bezug auf den zarten Körper der Frauen“ positiv auswirken; auch der „Geist“ würde gesund und in jener „Reinheit erhalten“ bleiben, die als die „Glorie des schönen Geschlechtes“285 galt. Indem es vermeintlich unsittliche Leidenschaften und Affekte waren, die die geistige Reinheit bedrohten, wurde auch die Moral als Motiv für eine diätetische Lebensordnung angeführt. Gesundheitliche, ästhetische und moralische Motive schossen ineinander. Die Diätetik diente der Nor275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285

Ebd., S. 112. [Art.] Diät. In: HCL, Bd. 2, S. 369. [Art.] Diät. In: DCL, Bd. 3, S. 172. [Art.] Diät. In: BCL, Bd. 1, S. 563. [Art.] Diät. In: HCL, Bd. 2, S. 369. [Art.] Diät, In: PUL4, Bd. 5, S. 112. [Art.] Diät. In: DCL, Bd. 3, S. 172. Ebd., S. 171. [Art.] Schönheits- der kosmetische Mittel. In: DCL, Bd. 9, S. 131. [Art.] Einflüsse. In: DCL, Bd. 3, S. 290. Ebd.

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mierung eines körperlich und geistig reinen, eines gesunden, schönen und moralisch einwandfreien weiblichen Individuums. Das Ideal eines reinen Geistes in einem gesunden, reinlichen und schönen Körper wurde Frauen im Damen Conversations Lexikon übrigens auch aus sozialen Gründen empfohlen. Ein gepflegtes Auftreten war die ‚Visitenkarte‘ einer bürgerlichen Frau. Aus dem Grund sollte sie für alle denkbaren reinheitsgefährdenden Einflüsse aufmerksam sein: „eine sorgsame, nicht zu ängstliche Beobachtung“ der eigenen Person galt als „die sicherste Führerin“286 im Leben einer Frau. Wenn sie sich dagegen nachlässig verhielt und ungepflegt daherkam, lief sie Gefahr, von der bürgerlichen Gesellschaft sanktioniert zu werden: Das Weib ist der Repräsentant der Ordnung, Sitte, und jeder bürgerlich-häuslichen Tugend. Aber wie könnten diese bestehen, wenn Unordnung und Nachlässigkeit im Anzuge auf unweibliche Richtungen schließen lassen? Reinlichkeit ist unzertrennlich von jenen Begriffen und die Sorgfalt dafür kann nie zu weit getrieben werden.287

Ein ungepflegter Körper oder ein Fleck auf der Kleidung galten als unweiblich. Sie verwiesen auf innere Dispositionen: auf eine Neigung zur Unordnung, Unsittlichkeit und Lasterhaftigkeit. Das im Damen Conversations Lexikon vertretene Frauenbild basierte demnach auf einer Identität von äußerlicher Reinlichkeit (Ästhetik) und innerer Reinheit (Sittlichkeit), die eine Fixierung auf reinheitsgefährdende Einflüsse mit sich brachte. Dieser Umstand ist auch der Grund für die relativ häufige Verwendung der Unreinheitssemantik in dem speziell an Frauen adressierten Lexikon. Um auf die Notwendigkeit zur Beseitigung „anhängende[r] Unreinigkeiten“288 hinzuweisen, tauchte sie mehrere Male in Artikeln über Kleidungs- und Körperpflege auf. Reize, die Leidenschaften und Ausschweifungen anregen würden, galten zwar als Gefährdungen der geistig-sittlichen Reinheit und Gesundheit einer Frau, sind im Damen Conversations Lexikon allerdings nicht explizit als unrein bezeichnet worden. Implizit sind solche Einflüsse zum Teil aber trotzdem mit Unreinheit in Verbindung gebracht worden. So ist betont worden, dass bei der weiblichen Lektüre eine „Vermeidung des Schädlichen“ und eine „Ausscheidung des Ueberflüssigen“ 289 unbedingt vonnöten sei, um sich nicht „im Nebellande der Empfindung“290 zu verirren. Die Gefahr des Lesens ist allerdings nicht nur mit der falschen Auswahl der Lektüre begründet worden: „Dem Reinen, heißt es, ist alles rein. Es ist auch so; aber man vertraue der reizbaren Einbildungskraft nicht und hüte sich vor der Gewalt der Gewohnheit.“291 Wer sich nicht von der eigenen Einbildungskraft und Gewohnheit emanzipierte, besaß somit eine implizit unreine Rezeptionshaltung und setzte die geistige Gesundheit aufs Spiel. Goethe hat diese ‚Gefahr‘ bereits 1796 in seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre anhand der Figur der Aurelie dargelegt, die eine starke Leidenschaft für das 286 287 288 289 290 291

Ebd., S. 291. [Art.] Kleidung (weiblich). In: DCL, Bd. 6, S. 148. [Art.] Dampfwäsche. In: DCL., Bd. 3, S. 73. [Art.] Lectüre. In: DCL, Bd. 6, S. 314. Ebd., S. 315. [Art.] Lectüre. In: DCL, Bd. 6, S. 314-315.

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Theater besitzt, an ihr leidet und schließlich stirbt. Gegensteuernde Maßnahmen bleiben unwirksam und verweisen auf die Unzulänglichkeit einer Diät 292, die nur auf den Körper beschränkt bleibt; erfolgreich hätte diese nur sein können, wenn sie sich auch auf den Geist ausgewirkt und eine „Erneuerung leidenschaftlicher Empfindungen“ 293 verhindert hätte. Diätetik sollte eine Harmonie von Körper und Geist gewährleisten. In den „Bekenntnisse[n] einer schönen Seele“, die das sechste Buch von Goethes Roman ausmachen, wird dagegen eine Frauenfigur geschildert, die das Prinzip einer auf „passiver Frömmigkeit“294 basierenden Seelendiätetik in nahezu asketischer Weise umsetzt. Während sie selbst sich in ihrer Gesinnung als frei von Einschränkungen und Reue imaginiert, bietet der Text zahlreiche Hinweise darauf, dass sie ihre Imago einer makellos ‚schönen Seele‘ nur mittels der Zurückweisung sozialer Erwartungen und einer extremen körperlichen Selbstverleugnug erzeugen und aufrechterhalten kann. Ihr Verzicht auf die Rolle als Ehefrau und Mutter geht mit einer sozialen Isolierung einher, die darin gipfelt, dass man ihr den Umgang mit Kindern verwehrt. 295 Indem sie andererseits die „vitalen Bedürfnisse ihres Körpers zugunsten der Seele systematisch abtötet“296, schadet sie ihrer Gesundheit, die durch mehrere Blutstürze erheblich angegriffen ist. Die Zurückweisung körperlicher Bedürfnisse geht darüber hinaus mit der Verdrängung der eigenen Sexualität einher. Die bezeichnenderweise namenlos bleibende Romanfigur berichtet in ihren Bekenntnissen von Wünschen und Begierden, die ihr Angst machen. Die irrationale Furcht „vor sich selbst und ihren Phantasien“297 ist, wie Inge Stephan herausgearbeitet hat, wesentlicher Impuls für ihre asketische Lebensweise. Wenn die Diätetik ein ideales Lebensmodell abbildete, so zeigen die Beispiele der Aurelie und der ‚schönen Seele‘ exemplarisch, dass Literaten um 1800 weniger an einer geglückten Ausgestaltung als am Scheitern desselben interessiert waren. Diejenigen Aspekte des Lebens, die mit Reinheit, Reinlichkeit und Gesundheit, Schönheit, Selbstkontrolle und Harmonie nicht in Einklang zu bringen waren, konnten als spannungsgeladene Handlungselemente literarischer Texte fruchtbar gemacht werden: „Die Literatur macht produktiv, was im diätetischen Diskurs an die extremen Pole des ‚Zu viel‘ und des ‚Zu wenig‘ ab[ge]drängt“298 wurde, schreibt Barbara Thums. In den Konversationslexika des 19. Jahrhunderts beschränkten sich die Lexikonmacher hingegen darauf, die gefährdete Reinheit des ‚schönen Geschlechts‘ mahnend zu konstatieren, statt diese Gefährdungen narrativ auszugestalten. 292 Diese Deutung folgt Thums (2001), S. 108. 293 Goethe, Johann W.: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Johann Wolfgang Goethe ‒ Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 9. Hg. von Wilhelm Voßkamp u. Herbert Jaumann. Frankfurt am Main 1992, S. 719. Im Folgenden als Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. 294 Thums (2001), S. 107. 295 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 792. 296 Stephan, Inge: Das Konzept der „Schönen Seele“. Zur geschlechtlichen Codierung einer philosophisch-religiösen Figuration im Gender-Diskurs um 1800 ‒ am Beispiel der „Bekenntnisse einer schönen Seele von Goethe“ (1795/96) und Unger (1806). In: Dies. (Hg.): Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln 2004, S. 189-204, S. 196. 297 Ebd., S. 197. 298 Thums (2001), S. 107.

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Vom Rätsel der Ansteckung zur Bakteriologie Ihre gesundheitsprophylaktische Bedeutung bezog die Diätetik aus einer ätiologischen Problematik, in der die Medizin feststeckte. Vor den bakteriologischen Erkenntnissen der 1870er- und 1880er-Jahre galten die Übertragungsweisen vieler Krankheiten als „räthselhaft“299. Man nahm an, dass sie entweder mittels eines fixen Kontagiums von Körper zu Körper oder mittels eines flüchtigen Miasmas durch die Luft übertragen würden. 300 Beiden (miteinander konkurrierenden) Theorien nach galt der Schmutz als Krankheiten hervorbringender Faktor. Das ‚Miasma‘ galt als ein sinnlich allenfalls über den Geruch wahrnehmbarer „Krankheitsstoff“, der durch „Verunreinigung“ hervorgerufen würde; er entstünde durch die Fäulniß organischer Stoffe, besonders bei Wärme u. Feuchtigkeit, auf sumpfigem Boden […], in Orten mit faulenden Leichnamen z.B. Kirchhöfen; ferner in Kloaken, eingeschlossenen, von vielen Menschen bewohnten Räumen, wie Schiffe, Kerker, Spitäler, Lager u. kann durch Winde in weite Entfernungen gebracht werden. 301

Neben dem Vermeiden solcher Orte galt eine reinliche Lebensweise als bestes Mittel, um miasmatische Krankheitsübertragungen zu vermeiden. Auch eine Infektion durch Kontagien ließe sich am ehesten durch diätetische Vorsorge verhindern: Schutz gegen A[nsteckung] kann nur Reinlichkeit des Körpers, Genuß frischer Luft, möglichste Furchtlosigkeit u. Vermeidung aller Störung in der bisher gewohnten Lebensweise, wenn sie sonst nicht gesundheitswidrig ist, gewähren. Die mit dem angeblichen Krankheitsstoffe geschwängerten Kleider, Betten, Zimmer etc. sind vor allem Weitergebrauch gründlich zu reinigen (desinficiren), dann aber gelten sie für unschädlich.302

Die Befreiung des Körpers und seiner räumlichen Umgebung von Unreinigkeiten wurde demnach als vielversprechende diätetische Maßnahmen angesehen, um Krankheiten und Seuchen zu vermeiden. Die Regulierung des geistigen Lebens sollte ergänzend hinzutreten. Auch zur Choleraprophylaxe303 wurde eine strenge diätetische Lebensweise empfohlen. Man musste „bekennen“, dass die zeitgenössische Medizin die Ursachen der in Europa seit den 1830er-Jahren mehrfach wiederkehrenden Epidemie nicht zu erklären im Stande war und deshalb auch keine Heilmittel bereitzustellen vermochte. Die einzig sichere Beobachtung, die man über die „räthselhaft[e]“304 Krankheit treffen konnte, war die, dass sie mehrheitlich „die niedrig gelegenen feuchten, schmutzigen u. durch Elend hervorstechenden Theile der Orte sich auswählen“ 305 würde. Daraus ist der Verdacht hergeleitet worden, dass unreinliche und ärmliche Lebensbedingungen die Verbreitung der Cholera befördern würden. Allerdings ließ sich nicht 299 300 301 302 303 304 305

[Art.] Ansteckung. In: PUL4, Bd. 1, S. 546. Vgl. [Art.] Ansteckung. In: HCL, Bd. 1, S. 202-203. [Art.] Miasma. In: HCL, Bd. 4, S. 179. [Art.] Ansteckung. In: PUL4, Bd. 1, S: 546. Zum hergeleiteten Zusammenhang von Schmutz und Cholera vgl. Kap. 2.3. [Art.] Cholera. In: PUL4, Bd. 4, S. 70. Ebd.

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leugnen, dass die Epidemie durchaus „in allen Klassen Opfer“306 forderte; die Ursachen der Krankheit ließen sich mithin nicht auf den sozialen Faktor der Armut reduzieren: „Nicht bloß der arme, in elender Hütte, unreiner Luft, bei unverdaulicher, schlechter und durch den Genuß des Branntweins vergifteter Nahrung lebende Mensch, auch der üppige Bewohner der Paläste, auf seidnem Pfühl ruhend, umgeben von allen Wonnen des Lebens, wird ihr zur Beute.“307 Neben prekären, zumeist unreinlichen Lebensverhältnissen galt auch ein von Müßigkeit und mangelnder Affektkontrolle bestimmter Lebensstil, dem Personen aus bessergestellten Kreisen leicht verfallen konnten, als typische Choleraursache. Menschen, die „tiefeingreifende Leidenschaften, übertriebene geistige Anstrengungen und Seelenleiden“308 durchmachten, hätten eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit, an ihr zu erkranken. Dem entgegengesetzt wurde ein strenges diätetisches Verhalten inklusive einer „gesteigerte[n] Reinlichkeit“309 des Körpers und des Geistes als das beste Mittel erachtet, um sich „gegen das Befallenwerden von der Krankheit zu schützen“310. Die Erfahrung habe bewiesen, dass erst das Abweichen vom diätetischen Lebenswandel den „Ausbruch der Ch[olera] in den allermeisten Fällen bewirkt“311 habe. Ab den 1870er-Jahren wurden die mikrobiellen Ursachen vieler Infektionskrankheiten entdeckt. Die Bakteriologen hatten mit modernsten optischen Geräten die bis dahin verborgene Welt der Kleinstorganismen sichtbar gemacht und erkannt, wie „ungemein verbreitet“ Bakterien sind. Selbst der „Staub ist kaum jemals frei von B[akterien], diese haften an allen Gegenständen, die der freien Luft ausgesetzt sind, sie wuchern in den Gewässern, besonders in unreinen, und im Boden, unsre Kleidung, die äußere Haut, die Mundhöhle, der Darm sind sehr reich an B[akterien].“312 Nicht alle Bakterien stellten sich als gefährlich, einige sogar als nützlich heraus. Die „pathogenen B[akterien]“ würden sich dem menschlichen Organismus gegenüber jedoch „höchst feindlich“ verhalten und „die ansteckenden Infektionskrankheiten“313 hervorrufen. Von dem von Robert Koch 1883 entdeckten Cholera auslösenden Kommabazillus wusste man beispielsweise, dass er auch außerhalb menschlicher Körper in feuchten Umgebungen gedieh. Die Exkremente von Cholerakranken enthielten Infektionserreger, die an schmutziger Wäsche und an Nahrungsmitteln haften konnten; „die bei weitem wichtigste Infektionsmöglichkeit aber ist die Verunreinigung des Trink- und Nutzwassers mit Bazillen.“314 Daraus ergab sich, dass sich die moderne Hygiene vor allem für die flächendeckende Bereitstellung sauberen Wassers und die Entfernung bakterieller Verunreinigungen einsetzen musste. Der Schmutz geriet in den Fokus: Verunreinigte Wässer, schmutzige Lebensmittel, dreckige Kleidung und selbst der Staub wurden als potentielle Nährmedien infektionserregender Bakterien erkannt. 306 307 308 309 310 311 312 313 314

[Art.] Cholera. In: DCL, Bd. 2, S. 381. Ebd, S. 380. Ebd. Ebd., S. 382. [Art.] Cholera. In: PUL4, Bd. 4, S. 73. Ebd. [Art.] Bakterien: In: MKL6, Bd. 2, S. 288. Ebd. [Art.] Cholera. In: MKL6, Bd. 4, S. 88.

142 | Die Verschmutzung der Literatur

Zuständigkeiten der modernen Hygiene Das Stichwort ‚Hygiene‘ taucht in den eingesehenen Lexika erst in den 1850er-Jahren auf, als Ärzte, Chemiker und andere Wissenschaftler eine zunächst experimentelle Gesundheitslehre zu etablieren begannen und sich bei der Namensgebung für das neue Fach auf die antike Göttin Hygieia 315 beriefen. In Herders Conversations-Lexikon ist die ‚Hygieine‘ noch mit nur einem Satz als „Gesundheitslehre“ definiert worden, welche „Regeln, die Gesundheit zu bewahren“316, aufstellen würde und deshalb mit Diätetik gleichzusetzen wäre. In Pierer´s Universal-Lexikon referieren die Stichworte ‚Hygieine‘317 und ‚Hygiastik‘318 jeweils auf den Artikel ‚Diät‘319. Indem man die moderne Hygiene in die Tradition der Diätetik stellte, verkannte man in den 1850er- und 1860er-Jahren noch den innovativen Anspruch der neuen Wissenschaftsdisziplin, mehr als bloß auf empirischen Beobachtungen basierende Verhaltensvorschläge zur Erhaltung der individuellen Gesundheit an die Hand geben zu wollen. 1905, als sich die moderne Hygiene fest als Wissenschaft etabliert hatte, ist in Meyers Großem Konversations-Lexikon klar herausgestellt worden, was sie von der älteren Gesundheitslehre unterschied. Man definierte sie nun als eine „Wissenschaft, welche die Bedingungen des Wohlbefindens und die dasselbe schädigenden Einflüsse sowie die Mittel zur Bekämpfung der letztern erforscht, also die Entstehung von Krankheiten verhüten lehrt.“320 Die moderne Hygiene ist damit als eine forschungsbasierte Wissenschaft beschrieben worden, die praktische Maßnahmen und Techniken zur Förderung der Gesundheit bereitstellte. Für die Abwehr von Infektionskrankheiten und Seuchen bot ihr die Bakteriologie mit ihrer „Erforschung der Lebensbedingungen Krankheitserregender [sic] Mikroorganismen die unerläßliche Grundlage“321. Dabei unterschied man die Teilbereiche der privaten und öffentlichen Gesundheitspflege. Erstere umfasste „die individuelle Prophylaxe und Therapie“; Letztere suchte auf die Gesetzgebung einzuwirken und dem Ausbruch von Krankheiten und Seuchen mit „öffentlichen Maßnahmen“322 vorzubeugen. Als „Lehre vom gesundheitsgemäßen Leben“ erstrecke sich die Hygiene „daher auf die Regelung aller Lebensverhältnisse nach wissenschaftlichen Grundlagen.“323 Die private Gesundheitspflege ist an die Stelle der älteren Diätetik getreten und für Fragen der Individualhygiene zuständig gewesen. Sie stellte wissenschaftlich geprüfte „Reinlichkeitsgrundsätze zur Erhaltung des saubern Zustandes der Wohnräume“ auf, erforschte „zweckmäßige Vorrichtung[en] zur Beseitigung der Abfälle jeder Art“, befasste sich mit Fragen der Kleiderpflege und gab Leitlinien zur „Reinhaltung und Pflege der Haut“324 sowie zur körperlichen Bewegung heraus. Mit Empfeh315 316 317 318 319 320 321 322 323 324

Artikel über die griechische Göttin der Heilkunst sind in allen sechs Lexika zu finden. [Art.] Hygieine. In: HCL, Bd. 3, S. 379. [Art.] Hygieine. In: PUL4, Bd. 8, S. 664. [Art.] Hygiastik. In: PUL4, Bd. 8, S. 664. [Art.] Diät. In: PUL4, Bd. 5, S. 112-113. [Art.] Gesundheitspflege (Hygiene). In: MKL6, Bd. 7, S. 752. [Art.] Medizin. In: MKL6, Bd. 13, S. 519. Ebd. Ebd. [Art.] Gesundheitspflege (Hygiene). In: MKL6, Bd. 7, S. 752.

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lungen zur mäßigen Einnahme von Nahrungs- und Genussmitteln, zur „Abwechselung zwischen geistiger Arbeit“ und der „Erholung des Geistes“ bis hin zur „Regelung des Geschlechtsverkehrs“325 zielte die private Gesundheitspflege in allen alltäglichen und intimen Lebensbereichen auf eine Verhaltensregulierung des sauberen und gesunden Individuums. Demgegenüber bezweckte die öffentliche Gesundheitspflege die „Erhaltung und Förderung der Gesundheit eines Volkes“ und wurde darum auch als „Volksgesundheitspflege“326 bezeichnet. Sie war aus der Beobachtung heraus entwickelt worden, dass es neben individuellen auch „zahlreiche Krankheitsursachen“ gab, „die hervorgehen aus dem Zusammenleben der Menschen, aus den jeweilig herrschenden gesellschaftlichen Einrichtungen und aus der besondern Stellung, die der Einzelne in der Gesellschaft einnimmt.“327 Diesen sozialen Krankheitsursachen stünde das Individuum „ohnmächtig gegenüber“, weshalb man den Staat in der Pflicht sah, sich für die öffentliche Gesundheit einzusetzen. Das ein solches Engagement vor allem von „nationalökonomische[r] Bedeutung“ war, ist im ‚Meyer‘ ausdrücklich betont worden: Mit der Kraft und Gesundheit steigt und sinkt die Erwerbsfähigkeit des Individuums. Der Kranke leistet nichts für die Gesamtheit, er wird häufig sogar zu einem störenden und lästigen Element für diese. Mit der Häufigkeit und Ausbreitung der Krankheiten geht eine hohe Sterblichkeit Hand in Hand. Zahlreiche Individuen verfallen dem Tode, bevor sie noch zur vollen Entwickelung ihrer Produktionskraft gelangt sind; ihre Auferziehung erfolgte auf Kosten des Gemeinwesens, für das sie gleichwohl wegen ihres frühen Todes nichts zu leisten vermögen. Der Staat erleidet also durch Krankheiten und Tod einen Verlust an Kräften, die zur Förderung des allgemeinen Wohlstandes mitzuwirken berufen gewesen wären.328

Indem sie einerseits „Mittel zur Erhaltung und Förderung der allgemeinen Gesundheit“ zur Verfügung stellte und andererseits „Sorge für die Beseitigung allgemeiner Gesundheitsgefährdungen“329 trug, wies man auf den volkswirtschaftlichen Nutzen und die ordnungspolitische Funktion der öffentlichen Gesundheitspflege hin. Um die Versorgung der Allgemeinheit mit sauberem Wasser sowie eine gesundheitsunbedenkliche Nahrungs- und Genussmittelversorgung der Bevölkerung sicherzustellen, war die öffentliche Gesundheitspflege für Brunnenanlagen, Wasserleitungen, Mineralwasseranstalten, Molkereien, Schlachthäuser und Abdeckereien zuständig. Zur Bewältigung potentiell gesundheitsgefährdender Unreinigkeiten im öffentlichen Raum gehörten der Bau, die Anlage und die Wartung von Kanalisationen zur „Beseitigung der Abwässer“330, der Betrieb der Müllabfuhr zur Abfallbeseitigung sowie die Installation von Filterungsanlagen zur Reduktion der Luft- und Gewässerverschmutzung in das Metier der modernen Hygiene. Mit Schulen, Badeanstalten, Gefängnissen, Krankenhäusern, Friedhöfen, Fabriken und zahlreichen anderen Gewerben inklusive der Prostitution sind um 1900 zahlreiche andere Bereiche des öf325 326 327 328 329 330

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 752-753. Ebd., S. 753. Ebd.

144 | Die Verschmutzung der Literatur

fentlichen Lebens von naturwissenschaftlichen Analyseverfahren und neuartigen Hygienetechniken erfasst worden. Viele Artikel zeugen im ‚Meyer‘ von dieser Entwicklung, in denen Aspekte des öffentlichen Lebens vom Standpunkt der modernen Hygiene aus beleuchtet wurden. Zentral ging es in ihnen oft auch darum, Quellen bakteriologischer Verunreinigungen zu verschließen und durch die auf diese Weise erzielte Sauberkeit die allgemeine Gesundheit zu befördern. In das Feld der öffentlichen Hygiene gehörte, wie man dem ‚Meyer‘ entnehmen kann, außerdem „die Beseitigung vieler Schädlichkeiten des Kulturlebens“331; was konkret darunter fiel, ist nicht ausgeführt worden. Allerdings simuliert die Aussage exakt jene um 1900 angestrebte Ausweitung der Hygienesemantik auf das Gebiet der Kultur, die in Kap. 2.6 der vorliegenden Arbeit beobachtet wurde. Roms antike Kloaken und die moderne Städtereinigung Lässt man Meyers Großes Konversations-Lexikon außen vor und betrachtet man die in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts untersuchten Populärenzyklopädien, tritt ein interessanter Befund zutage. Während die durch Industrialisierung und Urbanisierung verschärfte Schmutzproblematik deutscher Städte der Gegenwart in den Lexika nicht thematisiert wurde (vgl. Kap. 3.3.2), ist durchaus über Roms antike Kloaken berichtet worden. Die Beobachtung spiegelt sich in einem unter dem Pseudonym Otto Ehrlich veröffentlichten naturalistischen Gedicht des Jahres 1886 wider. Mit ihm deutet sich an, wie sehr die Naturalisten für solche Widersprüchlichkeiten im kulturellen Umgang mit Schmutz sensibilisiert waren: Kloakologie. Er ward Professor mit einem Stern: Er schrieb ein Buch über Roms Kloaken, Worüber ja unsre gelehrten Herrn Bis über die Ohren in Zweifeln staken. Hätte er deutsche Kloaken beschrieben, Professur und Stern wären ausgeblieben.332

Der deutsche Schmutz war nicht diskursivierbar, lautete der kulturkritische Vorwurf des Gedichts. Zwar findet sich im Bilder-Conversations-Lexikon eine allgemeine Definition, dass es sich bei einer Kloake um eine „unter der Erde, vorzüglich unter den Straßen einer Stadt angelegte, überwölbte Schleuse“ handelte, die dazu angelegt sei, „den Unrath aus den oft durch besondere Schleusen damit verbundenen Abtritten, den Straßenkoth u.s.w. aufzunehmen, und zugleich mittels des hineingeleiteten Regenwassers, der Abflüsse aus Brunnen und Wasserleitungen nach einem größern Flusse abzuführen.“333 Als Beispiel ist dann aber nicht auf Abwasserkanäle deutscher Städte, sondern auf die bemerkenswerten „Cloaken des alten Roms“ hingewiesen worden, 331 [Art.] Medizin. In: MKL6, Bd. 13, S. 519. 332 Ehrlich, Otto: Mene Tekel! Harmlose Reimereien eines Modernen. Zürich 1886, S. 27. Hervorhebung im Original. 333 [Art.] Cloake. In: BCL, Bd. 1, S. 440.

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die schon über 500 Jahr v. Chr. bestanden, aus großen Quadern erbaut waren und sich in der in dem Tiberfluß mündenden größten oder cloaca maxima vereinigten, von der noch jetzt ansehnliche Theile unter röm. Palästen und Kirchen sich hinziehen und zugängliche Überbleibsel von mehr als 15 F[uß] Tiefe und Breite vorhanden sind.334

Als Relikt der antiken Weltstadt gehörte die Cloaca Maxima mit zu denjenigen Stationen, die auch die deutschen Italienreisenden besichtigten. Diejenigen, die sich vor Ort keinen Einblick verschaffen konnten, erfuhren in den populären Enzyklopädien Wissenswertes über die der „Abführung des Unraths dienende[n] unterirdische[n] Kanäle (Cloacae).“335 Als besonders informativ stellt sich Pierer´s Universal-Lexikon heraus, in dem eine Menge an Informationen über die Cloaca Maxima mitgeliefert wurden: Zu ihrer Erhaltung diente unter den Kaisern eine Abgabe, Cloacarium, zu ihrer Reinigung wurden Sträflinge benutzt, u. früher hatten die Censoren, unter den Kaisern bes. Magistrate, Curatores cloacarum, die specielle Aufsicht über sie. Diese Cloaken nahmen auch die später aus einzelnen Häusern geführten (Cloacae privatae) auf, was die auf Häusern ruhende Servitut des Nachbars Cloaken unter seinem Grundstück zu leiden (Cloacae servitus) hervorbrachte. 336

Die detaillierte Aufschlüsselung finanzieller, sozialer, politischer und juristischer Aspekte des römischen Kloakensystems ist bemerkenswert. Sie steht in einem klaren Gegensatz zu den dürftigen Informationen, die ein Nutzer des ‚Pierer‘ über die Städtereinigungssysteme der Gegenwart erfahren konnte. Erst die 6. Auflage von Meyers Großem Konversations-Lexikon lieferte über Fragen der modernen Städtereinigung eine Vielzahl an Informationen. Nun gab es ausführliche Artikel über Schmutzstoffe, deren „rationeller Behandlung […] großes Interesse“337 entgegengebracht werden müsste. Die „gefahrlose Beseitigung“ städtischer Abfälle, die sich aus „Exkrementen, dem Straßenkehricht, dem Müll und den unreinen Wässern“ zusammensetzten, wurde als „eine dringende hygienische Forderung“338 bezeichnet. Nach den bakteriologischen Erkenntnissen der vergangenen Jahrzehnte galten sie nun als „Herd[e] für die Entwickelung von allerlei Ansteckungsstoffen“, die „die Luft, den Boden, das Flußwasser und [die] Brunnen [zu] verunreinigen“339 drohten. Dass der Schmutz die „Vermehrung Krankheiten erregender Bakterien“ begünstigen würde, so dass seine „schnelle Beseitigung oder Reinigung aus hygienischen Gründen dringend notwendig erscheint“ 340, ist in Artikeln über Abfälle, Müll, Exkremente, Aas und Abwässer jeweils betont worden, bevor in ihnen zum Teil über mehrere Seiten die technischen und ökonomischen Aspekte der Abfallbewältigung (Reinigung, Abfuhr, Entsorgung, Kanalisation etc.) thematisiert wurden. 334 335 336 337 338 339 340

Ebd. [Art.] Rom. In: PUL4, Bd. 14, S. 249. Ebd. [Art.] Abfälle. In: MKL6, Bd. 1, S. 36. Ebd., S. 36-37. Ebd., S. 36. [Art.] Abwässer. In: MKL6, Bd. 1, S. 64.

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Das plötzliche Auftauchen der Schmutzsemantik im ‚Meyer‘ fördert eine Paradoxie zutage. Erst als erkannt worden war, dass der materielle Schmutz aus hygienischen Gründen bewältigt werden musste und die moderne Hygiene Techniken bereitstellte, ihn systematisch aus der urbanen Lebenswelt zu entfernen, tauchte seine Semantik in den populären Enzyklopädien auf. Während er also aufgrund der Installation moderner Städtereinigungssysteme mit effizienten Müllabfuhren und technisch optimierten Kanalisationen zunehmend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand, wurde der zuvor verdrängte Schmutz um 1900 allmählich zu einem Gegenstand der Konversation, ‚sickerte‘ nun gewissermaßen in die Diskurse ein. 3.3.4 Von unsauberen Verhaltensweisen und unsauberem Wesen Häufig ist die Schmutzsemantik in den analysierten populären Enzyklopädien angeführt worden, um unsittliches Verhalten abwertend zu bezeichnen. Das traf vor allem auf anormal eingeschätzte Formen von Sexualität wie Promiskuität 341, außereheliche Sexualität342 oder Homosexualität343 zu. Bereits die Schilderung sexueller Handlungen galt als eine „unflätig[e]“344 Obszönität. Auch manche Verbrechen wurden mit Unreinheit assoziiert; Beutelschneiderei ist beispielsweise als ein „unsauberes Gewerbe“345 bezeichnet worden. Wer im Alltag zu „Nachlässigkeit, Unordentlichkeit, Unreinlichkeit, Müssiggang, Faulenzerei, Verschwendung, Unzucht, Völlerei“ neigte, machte sich einer unreinen Liederlichkeit schuldig und würde sich, wie es im ‚Pierer‘ heißt, „an kein Gesetz u. an keine Ordnung“346 binden. Denjenigen, den man als unrein klassifizierte, verortete man außerhalb der Regulative der bürgerlichen Gesellschaft. Einer Person, die sich nicht um die allgemeinen Sitten scherte, sondern egoistisch ihrem „selbstsüchtigen Willen“ nachgab, wurde ein moralisch sehr „unreine[s] I[ch]“347 nachgesagt. Das vermeintlich unsaubere Verhalten verwies auf innere Dispositionen. In diesem Sinne war Schmutz eine Metapher für Unsittlichkeit, die eine substantielle Verunreinigung des Charakters bzw. des Wesens einer Person suggerieren sollte. Wer sich etwa aufgrund „schmutzige[r] Reden und Handlungen“ hervortat, forderte eine „Empörung des sittlichen Gefühls“ heraus, die sich bei gesitteten

341 Ein Beispiel hierfür ist das „Privatleben“ Heinrich VIII., der seine Ehefrauen allzu schnell ‚austauschte‘, weshalb seine „Sitten“ als „unrein und verdorben“ bezeichnet wurden; siehe [Art.] Heinrich der achte. In: CL, Bd. 2, S. 187. 342 Bezüglich des mythologischen Ehebruchs zwischen Thyestes und der Frau seines Bruders Atreus ist von „unreiner Liebe“ die Rede gewesen; siehe [Art.] Atreus. In: HCL, Bd. 1, S. 315. 343 In der 6. Auflage des ‚Meyer‘ ist Homosexualität als eine „meist auf Grundlage einer angebornen perversen Empfindung“ basierende sexuelle Neigung definiert worden. Menschen, die sie auslebten, würden „unsauberen Lüsten frönen“, siehe [Art.] Homosexualität. In: MKL6, Bd. 9, S. 526. 344 [Art.] Obszön. In: MKL6, Bd. 14, S. 890. 345 [Art.] Vidocq. In: HCL, Bd. 5, S. 623. 346 [Art.] Liederlichkeit. In: PUL4, Bd. 10, S. 366. 347 [Art.] Ich. In: HCL, Bd. 3, S. 387.

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Mitmenschen unmittelbar in Form eines „[m]oralischen E[kels]“348 bemerkbar machen müsse. Die Benennung unsauberen Verhaltens kam damit stets auch einer moralischen Verurteilung gleich. Darauf, dass der in der Fremde registrierte Schmutz als Beleg für einen kollektiven moralischen Mangel eines Volkes benannt wurde, ist in 3.3.2 mehrfach hingewiesen worden. In ähnlicher Weise ist den „Zigeunern“ in Pierer´s Universal-Lexikon „Unordnung, Schmutz, zerlumptes Wesen“349 nachgesagt worden. Weitere Beispiele über einzelne Figuren und Gruppen der Weltgeschichte, denen unsaubere Verhaltensweisen oder ein unsauberes Wesen nachgesagt wurden, werden im übernächsten Teilabschnitt vorgestellt. Zunächst wird mit dem Kretinismus eine in den Konversationslexika als „Übel“350 bezeichnete körperliche und geistig-mentale Auffälligkeit thematisiert, für die sowohl materieller Schmutz als auch unsaubere Verhaltensweisen als mögliche Ursachen erwogen wurden. Auffallend ist, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer seltener auf unsauberes Verhalten hingewiesen wurde. Es steht zu vermuten, dass die Lexikonmacher zugunsten größerer Sachlichkeit und weltanschaulicher Neutralität auf solche pejorativen Aussagen verzichtet haben. Die unreinlichen Kretinen Im 19. Jahrhundert sind die Ursachen für das auf eine Schilddrüsenunterfunktion zurückzuführende Jodmangelsyndrom, das zu körperlichen Missbildungen und einer verzögerten geistigen Entwicklung führen kann, noch nicht bekannt gewesen.351 In den Konversationslexika ist der so genannte Kretinismus als eine körperlich und geistige Rückständigkeit der menschlichen Natur beschrieben worden; von den „gewöhnlichen Blödsinnigen“ würden sich die Kretinen aufgrund fast immer vorhandener körperlicher „Misbildungen“352 unterscheiden, heißt es im Bilder-ConversationsLexikon. Anzutreffen wären sie „in den Thälern des Walliserlandes in der Schweiz und einigen Districten von Savoyen“ 353 sowie späteren Aussagen zufolge auch in Talgegenden „Tyrols, der Pyrenäen, der Auvergne, in Schottland und in den pontinischen Sümpfen“354. Zu den typischen Merkmalen der „Kretinen oder Cretins“ gehörte nicht nur ein „unansehnlicher Körperbau“, sondern auch „eine gänzliche Geistesschwäche und Fühllosigkeit, begleitet von einer Trägheit, Gefräßigkeit, Wollust 348 [Art.] Ekel. In: HCL, Bd. 2, S. 529. 349 [Art.] Zigeuner. In: PUL4, Bd. 19, S. 619. 350 Der Begriff „Übel“ ist im [Art.] Die Kretinen. In: CL, Bd. 2, S. 331, im [Art.] Kretinen. In: BCL, Bd. 2, S. 664 sowie mehrfach im [Art.] Cretin. In: PUL4, Bd. 4, S. 523 u. 524 synonym zum Begriff der „Krankheit“ verwendet worden. 351 Zur heilpädagogischen Geschichte geistig-mentaler Behinderungen vgl. Gstach, Johannes: Kretinismus und Blödsinn. Zur fachlich-wissenschaftlichen Entdeckung und Konstruktion von Phänomenen der geistig-mentalen Auffälligkeit zwischen 1780 und 1900 und deren Bedeutung für Fragen der Erziehung und Behandlung. Bad Heilbrunn 2015 [=https://content-select.com/media/lgcy_viewer/55102368-0154-4378-94510f44b0dd2d03 (Stand: 05.04.2016)]. 352 [Art.] Kretinen. In: BCL, Bd. 2, S. 664. 353 [Art.] Die Kretinen. In: CL, Bd. 2, S. 330. 354 [Art.] Cretinen. In: DCL, Bd. 3, S 29.

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und Unreinlichkeit, die“, wie es im ‚Ur-Brockhaus‘ formuliert wurde, „ihres gleichen sucht.“355 Unreinlichkeit galt jedoch nicht nur als Symptom, sondern auch als mit „ungünstigen klimatischen u. socialen Verhältnisse[n]“356 zusammenhängende Ursache des Kretinismus. Man vermutete, dass das „Volksübel“ nicht nur von der in den Bergtälern „eingeschlossenen“, miasmatisch verunreinigten „feuchten und ungesunden Luft“, „der Unreinlichkeit der Straßen“ und „dem unreinen und mit vielen fremden Theilen geschwängerten Wasser“, sondern auch von der „großen Trägheit und Unreinlichkeit“357 der in den Tälern wohnenden Menschen herrühren würde. Die schlechte „Erziehung, das Aufwachsen in Schmuz, Trägheit, ungesunde Wohnungen, schlechte Nahrung, Völlerei, Trunksucht“ sowie die „mehr thierische als menschliche Lebensweise“, der in den zivilisationsfernen Gegenden lebenden Menschen galten als diejenigen Faktoren, die „zur Erzeugung des Kretinismus wesentlich beitragen“ 358 würden. Als erfolgversprechendste Möglichkeit, den Kretinismus zu vermindern, galten deshalb „medicinisch[e], diätetisch[e] u. pädagogisch[e]“ 359 Maßnahmen, mit denen der Gesundheitszustand und die Kultur der Talbewohner verbessert werden sollten. Tatsächlich ist in den Lexika beobachtet worden, dass „das Gesündermachen der Gegenden, die Fortschritte der Civilisation, die Beförderung der Industrie und eines allgemeinern Wohlstandes den Kretinismus“360 eingeschränkt hätten. Die unsauberen Charaktere der Weltgeschichte Bis kurz nach der Jahrhundertmitte sind verschiedene Personen und soziale Gruppen der älteren und jüngeren Weltgeschichte mit Schmutz und moralischer Zweifelhaftigkeit in Verbindung gebracht worden. Im liberalen ‚Ur-Brockhaus‘ wurde dieser Vorwurf manchen Mönchsorden gemacht, wobei die Franziskaner „die verworfensten und schmutzigsten, zugleich aber auch ausgebreitetsten und schädlichsten aller Mönche“361 gewesen wären. Die legendenhafte Erleuchtung des Ignatius von Loyola, dem Gründer der Jesuiten, ist ebenfalls mit profanem Schmutz konnotiert und auf diese Weise abgewertet worden: „Er wollte nach Jerusalem wallfahrten, hielt sich unterwegs (weil in Barcelona die Pest wüthete) in Manresa auf, wüthete hier wie ein Wahnsinniger gegen sich selbst, lebte in dem schmutzigsten Aufzuge in einer Höhle, und fiel in gefährliche Krankheiten.“362 Auch diverse Akteure der Französischen Revolution sind im ‚Ur-Brockhaus‘ mit Schmutz in Verbindung gebracht worden. So ist von „Creaturen der Jacobiner“ 363 die Rede gewesen, die häufig durch das Tragen „schmutzige[r] Kleidung“ 364 auffielen

355 356 357 358 359 360 361 362 363 364

[Art.] Die Kretinen. In: CL, Bd. 2, S. 331. [Art.] Cretin. In: PUL4, Bd. 4, S. 523. [Art.] Die Kretinen. In: CL, Bd. 2, S. 331. [Art.] Kretinen. In: BCL, Bd. 2, S. 664. [Art.] Cretin. In: PUL4, Bd. 4, S. 524. [Art.] Kretinen. In: BCL, Bd. 2, S. 664. [Art.] Das Mönchswesen. In: CL, Bd. 3, S. 154. [Art.] Ignatius von Loyola. In: CL, Bd. 7, S. 566. [Art.] Die Jacobiner. In: CL, Bd. 2, S. 255. Ebd., S. 256.

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und „Mord, Plünderung und gänzliche[n] Umsturz aller bürgerlichen Verfassung“ 365 angestrebt hätten. Ihr Anhänger „Johann Paul Marat“ wurde als „nichtswürdige[r] Mensch“ und „Ungeheuer“ bezeichnet, der die „Frevel und Grausamkeiten“ des Septembermassakers angewiesen und „als edle Rache eines beleidigten und tief gekränkten Volks“366 verteidigt habe. Sein Aussehen wurde grotesk überzeichnet. Dass Marat „ein kleines, übel gebautes Geschöpf mit graugelben Augen und einer krächzenden Stimme“ gewesen sei, der „in schmutzigen und zerrißnen Kleidern“ umhergegangen ist, beurteilte man aufgrund „der Niedrigkeit seines Charakters“ als „vollkommen angemessen“367. Mit François Chabot ist im ‚Ur-Brockhaus‘ noch ein weiterer Akteur der Französischen Revolution, der nicht wenig zur Ausbreitung der Jacobinerherrschaft“ beigetragen habe, als „höchst ekelhafter und schmutziger Mensch“ 368 beschrieben worden. Im Damen Conversations Lexikon wurde mit Théroigne de Méricourt eine weibliche Anhängerin der Französischen Revolution erwähnt, die zu denjenigen „Revolutionairen“ gehörte, „die für den Königsmord“ gestimmt und sich auch am „blutigen Tage des 10. August“369 1792 beteiligt habe. Nicht nur habe sie die Menschenmenge während des Sturms auf die Tuilerien „zum Morden“ angestachelt, sie sei ihr sogar „mit schrecklichem Beispiele vorang[egangen]“370, empörte sich der Verfasser des Artikels. Dass „ihre politische Ueberspanntheit immer mehr in wirkliche Tollheit ausartete“ und sie schließlich „zwanzig Jahre in gänzlicher Geistesverwirrung und in wahrhaft thierischem Zustande“ verbrachte, ist als eine Art historische Gerechtigkeit angeführt worden; in der Irrenanstalt „gefiel [sie] sich nur im Schmutz, und nahm die ekelhafteste Nahrung, die das Thier verachtet, zu sich. Dieses unglückliche, verworfene Geschöpf starb endlich im Jahr 1817.“371 Auch in Herders ConversationsLexikon ist mit dem bereits erwähnten Chabot ein Akteur der Französischen Revolution erwähnt worden, der sich ihr „aus unsaubern Gründen“372 angeschlossen habe. Gleiches gilt für Jean Paul Marat, dessen Ideen „so roh, gemein und schmutzig“ 373 wie sein Äußeres gewesen wären. Mit Julien Offray de La Mettrie ist im ‚Herder‘ außerdem ein materialistischer Philosoph, der die Französische Revolution durch seine Ideen vorbereitet haben soll, mit Schmutz in Verbindung gebracht worden. Seine Ansichten: Gott sei nichts, die menschliche Seele sei nichts, das Gehirn habe Muskeln zum Denken wie die Beine zum Gehen, mit dem Tode sei wie bei jedem Vieh alles aus u.s.f. verkündete L[a Mettrie] unerhört frech, wälzte sich denselben gemäß im Schmutz und kam frühzeitig darin um.374 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374

Ebd., S. 254. [Art.] Marat, Johann Paul. In: CL, Bd. 3, S. 62-63. Ebd., S. 63. [Art.] Chabot. In: CL, Bd. 1, S. 253. [Art.] Théroigne de Méricourt. In: DCL, Bd. 10, S. 112. Ebd., S. 112-113. Ebd., S. 113. [Art.] Chabot. In: HCL, Bd. 2, S. 55. [Art.] Marat. In: HCL, Bd. 4, S. 94. [Art.] La Mettrie. In: HCL, Bd. 3, S. 698.

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La Mettries Ideen galten als „Atheismus“375 und widersprachen der christlich-katholischen Grundhaltung des ‚Herder‘. Mit seinem, eine „faule Wirklichkeit“ entwerfenden Werk Systéme de la nature habe er „das letzte Wort des Materialismus“ verkündet, das in seiner Anmaßung gegenüber dem menschlichen Geist nicht mehr übertroffen werden könne: „alles Geistige ist Wahn, Sinnengenuß das höchste Ziel des Menschen, der Mensch ein Thier mit ausgezeichnet organisirtem Gehirn“ 376. Anstatt in christlicher Tradition den Geist über das Fleisch zu erheben und die Menschen „zu Großthaten“ anzuspornen, „die der Segen späterer Geschlechter“ hätten werden können, zählte man den ‚schmutzigen‘ La Mettrie zu denjenigen „Propheten der Herrschaft des Fleisches“377, die der Französischen Revolution ideell vorangeschritten sind. Die angeführten Beispiele belegen, dass Schmutz stets mit moralischem Versagen in Beziehung gesetzt wurde. In keinem der eingesehenen Lexika finden sich Beispiele dafür, dass moralisch positiv bewertete Charaktere in dreckiger Kleidung umhergelaufen wären oder in verwahrloster Umgebung gewohnt hätten. Wenn, dann sind solchen Personen „die reinsten Freuden des häuslichen Lebens“ 378 oder „reinste[r] Sinn für häusliche Glückseligkeit“379 nachgesagt worden. Schmutzig gewandete Charaktere wandelten dagegen niemals auf dem Boden bürgerlicher Tugenden. Ex negativo veranschaulicht das ein im ‚Ur-Brockhaus‘ zu findender Artikel über den antiken Philosophen Diogenes von Sinope, der als „einer der größten und zugleich am meisten verkannten Weisen Griechenlands“ rehabilitiert worden ist: Er lebte ganz der Natur gemäß, verachtete alle Thorheiten, die die bürgerliche Gesellschaft eingeführt hatte, entbehrte als wahrer Weiser alle Bedürfnisse des Luxus, griff Laster und Fehler überall mit der größten Unbefangenheit an, und entfernte sich, da er die strengste Mäßigkeit und Enthaltsamkeit unaufhörlich empfahl, nicht nur ganz von der Lebensart der üppigen und ausschweifenden Athenienser, sondern machte sich selbst die philosophischen Secten zu Feinden.380

Als Vertreter einer auf „Mäßigkeit und Enthaltsamkeit“ fußenden, quasi diätetischen Lebensweise ist der Kyniker im Conversations-Lexikon für die Kritik der zu sehr am Luxus orientierten „bürgerliche[n] Gesellschaft“ in Anspruch genommen worden. Die Instrumentalisierung des Diogenes hatte zur Folge, dass die ihm und den Kynikern381 üblicherweise nachgesagte Nähe zum Schmutz bestritten werden musste: 375 376 377 378 379 380 381

[Art.] Französische Philosophie. In: HCL, Bd. 2, S. 788. Ebd. Ebd. [Art.] Salomo Geßner. In: CL, Bd. 2, S. 98. [Art.] (Peter) Leopold der zweite. In: CL, Bd. 2, S. 387. [Art.] Diogenes. In: CL, Bd. 1, S. 350. Im ‚Pierer‘ ist zu lesen, dass die Kyniker in ihrem Betragen und ihrer Art sich zu kleiden „allen socialen Anstand“ haben vermissen lassen und sie deshalb als „unverschämt, schmutzig“ in die Geschichte eingegangen wären. Da sie die sokratische Tugend allzu einseitig aufgefasst und zu einer auf „Unabhängigkeit von äußeren Verhältnissen“ abzielenden Lebensweise weiterentwickelt hätten, ist der negativen historischen Wertung im ‚Pierer‘ nicht widersprochen worden. Siehe [Art.] Kyniker. In: PUL4, Bd. 9, S. 937.

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Man kann nicht läugnen, daß er seine Strenge zu weit und bis ins Sonderbare trieb: jedoch darf man darum den lächerlichen Erzählungen von seiner schmutzigen Kleidertracht, von seiner höchst unsittlichen Lebensweise, und von seiner beständigen Wohnung unter freiem Himmel, oder in einem Fasse keinen Glauben beimessen; denn sie widerlegen sich schon selbst dadurch, daß es sich gar nicht denken läßt, wie ein so unerträglicher und verworfener Mensch die Achtung ganz Griechenlands viele Jahrhunderte hindurch behaupten konnte.382

3.3.5 Der Schmutz in Sprache und Literatur An Sprache, Literatur und Ästhetik wurde in den eingesehenen Lexika häufig der Maßstab rein/unrein angelegt: Die deutsche Sprache galt als das Ergebnis von Sprachreinigungen; die deutsche Literaturgeschichte wurde als die Geschichte einer Läuterung erzählt, die mit Goethe und Schiller einen vorläufig höchsten Reinheitsgrad erreicht habe; rezeptionsästhetisch wurde reiner Kunstgenuss als Norm präferiert; den Reinheitsgehalt von Kunstwerken maß man an fehlenden Wirkungen. Dies alles wirft Fragen nach dem Stellenwert des Unreinen auf, die auf den folgenden Seiten beantwortet werden. Was als sprachliche Verunreinigung galt und welche Phänomene bei den Läuterungen der deutschen Literatur getilgt wurden, wird im ersten Teilabschnitt dargelegt. Zweitens wird der Reinheit ästhetischen Genusses die als defizitär betrachtete Kunstrezeption ungebildeter Personen entgegengestellt. Welche Kunstwerke aus welchen Gründen reinen Kunstgenuss gefährdeten, wird drittens gezeigt. Viertens wird beleuchtet, in welcher Hinsicht die Darstellung von Schmutz als ästhetischer Problemfall erachtet wurde. Abschließend wird aufgelistet, welche Werke der Weltliteratur in den populären Enzyklopädien ausdrücklich als unrein abqualifiziert wurden. Sprachreinigungen und die Läuterung der deutschen Nationalliteratur Meyers Großem Konversations-Lexikon nach handelt es sich bei einer Sprachreinigung383 um eine „Ausscheidung fremdartiger, im weitern Sinn auch fehlerhafter Beimischungen […] aus einer Sprache und deren Ersetzung durch einheimische und regelrecht gebildete Wörter und Wortverbindungen.“384 Soweit sie nicht übertrieben würde und auf „gründlicher Sachkenntnis, gesundem Urteil und geläutertem Geschmack“ basierte, wäre die Reinigung der Sprache ein „löblich[es]“385 Unterfangen. „Ihren triftigen Grund“ besäße sie, „wenn ohne Not, nur aus Nachlässigkeit oder Be382 [Art.] Diogenes. In: CL, Bd. 1, S. 350. 383 Die oftmals als Sprachpurismus bezeichneten Bemühungen um Reinigung der deutschen Sprache sind in mehreren Studien untersucht worden. Für die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert vgl. etwa die auch theologische, ästhetische, politische und soziale Aspekte mit einbeziehende Studie von Härle, Gerhard: Reinheit der Sprache, des Herzens und des Leibes. Zur Wirkunsgeschichte des rhetorischen Begriffs puritas in Deutschland. Tübingen 1996. Im Folgenden als Härle (1996). ‒ Zu Sprachreinigungsbemühungen im 19. Jahrhundert vgl. etwa Kirkness, Alan: Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789-1871, 2 Bde. Tübingen 1975. 384 [Art.] Sprachreinigung. In: MKL6, Bd. 18, S. 784. 385 Ebd.

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quemlichkeit oder aus Vorliebe für das Ausländische Fremdwörter eingeschmuggelt“386 würden. Fremdwörter, die durch deutschsprachige Wendungen ersetzt werden könnten, galten demnach als sprachliche Verunreinigungen. In Deutschland hätten ab dem 17. Jahrhundert diverse Sprachgesellschaften, Gelehrte und Dichter die „fremdartigen Elemente aus der Sprache zu verdrängen“387 versucht und sich insbesondere gegen die „Nachäffung“388 des Französischen gewandt.389 Bevor es durch „unsre Klassiker“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts „zu hoher Vollendung“ kommen konnte, ist das Deutsche dank solcher Sprachreinigungsbemühungen aus einer „tiefen Erniedrigung“ gehoben worden; im ‚Meyer‘ ist behauptet worden, dass sie die „große Blütezeit der deutschen Literatur“390 erst ermöglicht haben. Dass die sprachlichen Reinigungen auch das Feld der schönen Literatur erfasst haben, ist in den eingesehenen Populärenzyklopädien mehrere Male bemerkt worden. Beispielsweise habe es Anstrengungen gegeben, Bühnenwerke „von allen Auswüchsen ausländischer Wörter zu reinigen.“391 Die Läuterung der deutschen Nationalliteratur ist jedoch keinesfalls auf die Tilgung fremdsprachlicher Einflüsse reduziert worden. Johann Christoph Gottsched habe sich etwa nicht nur „um die Reinigung der deutschen Sprache sehr verdient“392 gemacht, sondern auch form- und inhaltsästhetische Säuberungen veranlasst. Besonders „anregend auf die deutsche Literatur“ habe es sich ausgewirkt, dass er „die glänzende Unnatur der damaligen Oper“ angegriffen und „die läppisch-schmutzigen Stücke u. 1737 den Hanswurst von der Bühne“393 vertrieben habe.394 Gotthold Ephraim Lessing habe sich dagegen um das Kunstverständnis des literarischen Publikums verdient gemacht: „Er läuterte den Geschmack und bildete das Urtheil der Deutschen durch seine unübertreffliche Kritik und lehrte sie dadurch […] die eigene geistige Kraft und die ihrer Sprache in ihrem ganzen Umfange kennen.“395 Johann Gottfried von Herder habe in der Rolle eines „Erklärers des klassischen Alterthums“ die „Läuterung unserer schönen Literatur“ 396 vorangetrie-

386 387 388 389

390 391 392 393 394

395 396

Ebd., S. 785. [Art.] Purismus. In: PUL4, Bd. 13, S. 701. [Art.] Sprachreinigung. In: MKL6, Bd. 18, S. 785. Gottfried Wilhelm Leibniz, Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz, Christian Thomasius, Christian Wolff, Johann Lorenz von Mosheim, Johann Jakob Bodmer, Friedrich von Hagedorn, Albrecht von Haller, Friedrich Gottlieb Klopstock, Carl Wilhelm Ramler und Joachim Heinrich Campe sind in den eingesehenen Populärenzyklopädien Verdienste um die Reinigung der deutschen Sprache bescheinigt worden. [Art.] Sprachreinigung. In: MKL6, Bd. 18, S. 785. [Art.] Das Schauspiel. In: CL, Bd. 5, S. 82. [Art.] Gottsched. In: HCL, Bd. 3, S. 116. Ebd. Die im 18. Jahrhundert verschiedentlich angestrebte Reinigung des Theaters untersucht Heßelmann, Peter: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750-1800). Frankfurt am Main 2002. [Art.] Deutsche Literatur und Wissenschaft. In: HCL, Bd. 2, S. 345. [Art.] Johann Gottfried von Herder. In: CL, Bd. 7, S. 444.

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ben. Indem er „Werke der Griechen zu Mustern“ erklärt habe, „läuterte er den Geschmack u. erhob durch richtige Anschauung die Kunst zur Allgemeinheit.“ 397 Herder galt als ein Autor, der in einem „Läuterungsprozeß“398 zum Klassiker geworden war. Aus „wilde[r] Gärung der Sturm- und Drangperiode“ habe er sich zu einem der „größten Naturen und vorzüglichsten Geister der deutschen Literatur“ ausentwickelt und dieser mit zu „reiner und bleibender Wirkung“ 399 verholfen. Die Metamorphose zum geläuterten Klassiker war ein Modell, das in den Lexika mit Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller auch auf „die hervorragendsten Repräsentanten des Sturmes und Dranges“ angewendet wurde, die sich „in die Hauptträger der deutschen klassischen Literatur“400 verwandelt hätten. Dabei ist der Läuterungsprozess als eine durch Bildungserlebnisse hervorgerufene Beruhigung ‚gärender‘ Affekte gedeutet worden. Goethes „ethische“ sowie „künstlerische Läuterung seines Genies“ basierte Meyers Großem Konversations-Lexikon nach auf einer „Versöhnung der ausgebreitetsten und vielseitigsten Bildung mit der ursprünglichsten Leidenschaft und Stärke“401 seines Wesens. Äquivalent dazu habe auch bei Schiller eine „Selbstläuterung“ stattgefunden, die als „Versöhnung zwischen den Anschauungen der Gärungsepoche und der strengen Ethik der Kantschen Philosophie“ 402 beschrieben wurde. „Geschichte u. Philosophie“ sind auch in Herders Conversations-Lexikon als „Läuterungsmittel seines poetischen Genius“403 gedeutet worden. Herloßsohns Damen Conversations Lexikon nach hätten sich Schillers „Briefwechsel und persönlicher Umgang mit Goethe bildend und läuternd auf seine Ansichten“ 404 ausgewirkt. Die deutsche Literatur wurde in den Konversationslexika als ein Feld beschrieben, das durch sprachliche Reinigungen sowie durch form- und inhaltsästhetische Läuterungen soweit optimiert worden ist, dass sie sich ab der Zeit der Weimarer Klassik schließlich als eigenständige Nationalliteratur ausbilden konnte. Diese von sich überlagernden Reinigungsprozessen geprägte Entwicklung ist in Herders Conversations-Lexikon als Akt der Emanzipation gedeutet worden, die dem „deutsche[n] Nationalbewußtsein zum Durchbruche“405 verholfen habe. Nationale Befindlichkeiten anrührend betonte man in dem konservativen Kompendium, „daß sich der Deutsche“ in kulturellen Dingen seitdem „keinem Ausländer mehr zu schämen“ 406 bräuchte.407

397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407

[Art.] Herder. In: PUL4, Bd. 8, S. 264. [Art.] Herder. In: MKL6, Bd. 9, S. 202. [Art.] Deutsche Literatur. In: MKL6, Bd. 4, S. 705. [Art.] Herder. In: MKL6, Bd. 9, S. 202. [Art.] Deutsche Literatur. In: MKL6, Bd. 4, S. 705. Ebd. [Art.] Schiller. In: HCL, Bd. 5, S. 81. [Art.] Schiller, Johann Christoph Friedrich von. In. DCL, Bd. 9, S. 91. [Art.] Deutsche Literatur und Wissenschaft. In: HCL, Bd. 2, S. 347. Ebd. Zur Bedeutung deutscher Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert vgl. Fohrmann, Jürgen: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989.

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Die Reinheit ästhetischen Genusses und die nicht-reine Kunstrezeption der Ungebildeten In den eingesehenen populären Enzyklopädien galt ästhetischer Geschmack als Ausweis von Bildung, den man als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft besitzen sollte. Ein gewisses Maß an ästhetischen Kenntnissen wurde „von jedem wahrhaft Gebildeten gefordert, da ohne Ausbildung des Geschmacks keine vollendete Bildung sich denken läßt.“408 Dass die Hemmschwelle nicht allzu hoch war und man kein „Studium gelehrter ästhetischer Werke“409 absolvieren musste, ist in dem auch an geringer gebildete Leser aller Schichten adressierten Bilder-Conversations-Lexikon ausdrücklich betont worden. Wer sich als kunstbeflissener Laie erweisen wollte, sollte sein ästhetisches Gefühl durch das Betrachten schöner Kunstwerke trainieren; „schon das aufmerksame Lesen und Anschauen reiner und anziehender Mustergebilde reicht hin, um dem gesunden Gefühle die nöthige Geschmacksrichtung zu geben.“410 Rein und anziehend hatten die Kunstwerke zu sein, an denen man seinen Geschmack ausbilden sollte. Um sicher zu gehen, dass es sich bei einem Kunstwerk tatsächlich um ein solches „Mustergebilde“ handelte, sollte man sich unbedingt auf das Urteil der „Kunstkenner“ verlassen, „welche durch Anschauung vieler Kunstgegenstände ihren Kunstgeschmack geläutert haben, d.h. ein reges Gefühl für das Schöne gewonnen haben.“411 Nur Kenner konnten die Qualität eines schönen Kunstwerks richtig beurteilen und dessen Grad an Reinheit bestimmen. Die Qualität eines Kunstwerks ergab sich aus dem angenehmen Eindruck, den es auf den geläuterten Geist des bereits gebildeten Betrachters ausüben würde: „Schön nennt man im allgemeinen Sinne Alles, was gefällt, genauer aber Dasjenige, was auf einen gebildeten Geist den angenehmen Eindruck hervorbringt, welcher aus der Anschauung des Geistigen entspringt.“412 Schöne Kunst von „durch und durch geistiger Bedeutsamkeit“413 wäre durch keinerlei sinnliche Reize getrübt: „Weit entfernt, die Sinnlichkeit zu reizen, muß das Schöne den Beschauer vielmehr über dieselbe erheben und ihn bei sich selbst, als Geist vom Geiste einführen, damit die reinsten aller Freuden gewährend.“414 In ästhetischer Hinsicht trat ‚Sinnlichkeit‘ in den Lexika häufig als Gegenbegriff zur ‚Reinheit‘ auf. Die Sinnlichkeit gefährdete die Reinheit ästhetischen Genusses. Diesen geistigen Genuss wertschätzen und reflektieren zu können galt als eine spezifische Kompetenz von Personen mit Bildung. Ungebildete Personen würden sich dagegen von den verschiedenartigsten Reizen überwältigen lassen, so dass sie die eigentlichen Zusammenhänge in einem Kunstwerk nicht begreifen könnten. Ein solches würde dem gebildeten Menschen allerdings einen hohen Genuß gewähren, indem er ein Reich des Geistes vor seinen Augen erblickt, in welchem sich dieser lebendig regt und klar bis in die feinsten, scheinbar zufälligsten Einzelheiten eindringt und in ihnen sich mächtig erweist, während 408 409 410 411 412 413 414

[Art.] Ästhetik. In: BCL, Bd. 1, S. 133. Ebd. Ebd. [Art.] Kunst. In: BCL, Bd. 2, S. 679. [Art.] Schön. In: BCL, Bd. 4, S. 102. Ebd. Ebd.

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der Ungebildete das Schauspiel nicht anders wie manche andere nur durch ihre schnell wechselnde Mannichfaltigkeit interessante Scene des wirklichen Menschenlebens, ohne tiefere Einsicht in den ihnen sich darstellenden Geist betrachten wird.415

Die auf sinnliche Eindrücke fixierte, von Reizen überwältigte und damit passive Art der Kunstrezeption ungebildeter Personen ist von einer aktiven, verstandesgeleiteten Art der Rezeption unterschieden worden, mit denen die Gebildeten die reinen Freuden der Kunst genießen würden. Nirgends ist übrigens von ausdrücklich unreinem Kunstgenuss die Rede gewesen. Die Gegenüberstellung suggeriert jedoch, dass den Ungebildeten ein nicht-reiner Kunstgenuss nachgesagt wurde. Indem er als ungeläutert galt, wurde er zumindest latent mit Unreinheit in Verbindung gebracht. Diese als defizitär erachtete Weise der Kunstrezeption stand sozialem Aufstieg entgegen. Wenn man in den sich über Bildung definierenden bürgerlichen Zirkeln Eingang finden wollte, sollte man einen reinen, von sinnlichen Reizen unbeeindruckten Kunstgenuss demonstrieren können. Gefährdungen reinen Kunstgenusses Reinen ästhetischen Genuss bedrohten jene Kunstwerke, die mit vielfältigen Reizen auf eine anregende und unterhaltsame Art der Kunstrezeption abzielten. In diese Kategorie fielen Romane, die „blos die zeitkürzende Unterhaltung der großen Menge im Auge“416 haben. Im ‚Pierer‘ wurde berichtet, dass ab den 1780er-Jahren eine „überhandnehmende Vielschreiberei“ eingesetzt hatte, die Stoffe „der Sturm- und Drangzeit“ zu „Ausgeburten einer rohen Phantasie“417 umgeformt habe: Neben den zahllosen empfindsamen u. rührenden, zum Theil auch frivolen u. schmutzigen Liebesgeschichten, platten Familienromanen etc. waren durch Schillers Räuber u. Goethes Götz von Berlichingen angeregt, zu Ende des Jahrhunderts Ritter-, Räuber- u. Klostergeschichten in unendlicher Menge vorhanden, desgleichen Robinsonaden u. Abenteurergeschichten, sowie Geistergeschichten aller Art, letztere meist durch Schillers Geisterseher hervorgerufen.418

Bezeichnenderweise sind die erwähnten Gattungen als „Bodensatz“ 419 der deutschen Literatur angeführt worden. Während sich Goethe und Schiller zu Klassikern geläutert hätten, stünden solche unterhaltenden Schriften als Abfallprodukte der Sturmund Drangperiode reinem Kunstgenuss entgegen. Die zeitgenössische Unterhaltungsliteratur stellte sich im Pierer‘ als das Ergebnis eines sich seit jener Zeit immer weiter fortsetzenden Absinkprozesses dar. Ihr verlegerischer Erfolg galt als Grund dafür, dass sie „in Stoffen u. Formen immer tiefer zum Alltäglichen, Niedrigen u. Rohen herabgezogen wurde u. somit im höchsten Grad verderblich auf den Geschmack, wie die ganze Sitte u. Denkweise des stets lesebegierigen Publicums einwirken mußte.“420 Für Personen, die noch keinen geläuterten Kunstgeschmack besaßen, galten 415 416 417 418 419 420

[Art.] Schauspiel. In: BCL, Bd. 4, S. 62. [Art.] Deutsche Literatur. In: PUL4, Bd. 4, S. 910. Ebd., S. 909. Ebd., S. 910. Ebd., S. 909. Ebd., S. 910.

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unterhaltende Romane als geschmacksverderbend und auch aus sittlichen Gründen als problematisch. Gleiches galt für Bühnenstücke, die „auf den Beifall des niedern Publicums berechnet“421 wären, wie es etwa im Tivoli- oder Sommertheater der Fall wäre. Solche unter freiem Himmel stattfindenden Theaterveranstaltungen widersprachen nicht nur wegen schlechter schauspielerischer Leistungen „den Hauptanforderungen der Kunst.“ In Pierer´s Universal-Lexikon empörte man sich außerdem über die „Haltung des Publicums“, das „nicht nur während der Zwischenacte, sondern auch bei offener Scene zu essen, Bier zu trinken u. Tabak zu rauchen pflegt“ 422, weshalb von einem Besuch eines Sommertheaters strikt abgeraten wurde. Keinesfalls eignete sich eine solche Bühne dazu, „den Geschmack zu läutern od. Kunstsinn zu wecken“ 423, wie es auf dem Theater normalerweise der Fall sein sollte. Kulinarische Genüsse, Kau- und Verdauungstätigkeiten waren mit geläutertem Geschmacksempfinden nicht vereinbar. Vor den Gefährdungen reinen Kunstgenusses sollten sich besonders Frauen in Acht nehmen. Im Damen Conversations Lexikon ist die Welt der Bücher als ein für sie besonders gefährliches Terrain beschrieben worden. Angesichts der postulierten Verpflichtung, „daß sich das Weib für den Mann bilde[n]“ sollte, ließ sich die „moralische Nothwendigkeit“424 des Lesens zwar nicht leugnen. Wie bereits erwähnt wurde, musste eine Frau aus diätetischen Gründen jedoch unbedingt darauf achten, auch das richtige zu lesen. In ihrer Lektüre hatte sie deshalb mehr auf Ausscheidung des Ueberflüssigen zu sehen, als auf Vermeidung des Schädlichen, das sie ohnedieß instinktmäßig von sich entfernen wird. Dem Reinen, heißt es, ist alles rein. Es ist auch so; aber man vertraue der reizbaren Einbildungskraft nicht und hüte sich vor der Gewalt der Gewohnheit.425

Zu den überflüssigen Lektüren sind Geschichten gezählt worden, die nichts mit der Lebenswirklichkeit bürgerlicher Frauen zu tun hatten und somit keine „Selbstkenntniß“426 befördern würden. Darüber hinaus sollten „edle Frauengemüther“ unbedingt „alles ausscheiden, was nur unterhält und nicht zugleich entweder dem Geist oder dem unverderbten Herzen Nahrung bietet“; täten sie das nicht, würden sie Gefahr laufen, sich „im Nebellande der Empfindung“427 zu verirren, wodurch sie Gesundheit und Reinheit von Körper und Geist gefährden würden. Als eine häufig durch Romanlektüren hervorgerufene Krankheit heranwachsender Frauen ist in Pierer´s Universal-Lexikon die Hysterie428 bezeichnet worden. Für junge Frauen und Männer galten alle Einflüsse, die den Sexualtrieb aufreizten und aus moralischen Gründen als schmutzig erachtet wurden, als in besonderem Ma421 422 423 424 425 426 427 428

[Art.] Sommertheater. In: PUL4, Bd. 16, S. 277. Ebd. Ebd. [Art.] Lectüre. In: DCL, Bd. 5, S. 314. Ebd., S. 314-315. Ebd., S. 315 Ebd. Vgl. [Art.] Hysterie. In: PUL4, Bd. 8, S. 692.

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ße gesundheitsgefährdend. Bei ungefestigten Charakteren führten sie zu einer „Ausartung des Geschlechtstriebes“, die sich durch „Selbstbefleckung“ 429 bemerkbar machen würde. Neben einer zu weichlichen Erziehung, Müßiggang und körperlichen Reizen sind im ‚Pierer‘ außerdem „schmutzige Reden, Bilder“ und „verführende Lectüre[n]“430 als negative Einflussfaktoren benannt worden. Indem solcherlei „Veranlassungen vermieden u. zweckmäßige Diät“ 431 gehalten würde, könnten junge Menschen am ehesten von der als gesundheitsschädlich erachteten Selbstbefriedigung abgehalten werden. Vor allem sollte man „mit dem Kranken über seinen Zustand offen rede[n]“, ihn dabei nicht als einen Verbrecher anklagen, sondern „über die Folgen des Lasters“ aufklären und das „Schamgefühl“ wecken, um dadurch positiv „auf den Willen“ des willensschwachen Onanisten „zu wirken“ 432. Jungen Menschen, die zur Krankheit der Selbstbefriedigung neigten, sollte klargemacht werden, „was zu thun, was zu vermeiden sei“; dazu gehörte es auch, sie durch „Empfehlung[en] guter Lectüre[n]“433 von vermeintlich unreinen Lektüren und Handlungen abzubringen.434 Die Darstellung des Schmutzes als ästhetischer Problemfall Die Darstellung des Schmutzes stellte sich in den um die Jahrhundertmitte erschienenen Enzyklopädien als ästhetischer Problemfall dar. Damit spiegeln sie die idealrealistischen Prämissen, die in Kap. 5 ausführlicher erläutert werden. Ein Dichter sollte es verstehen, Wirklichkeitsaspekten, die mit Schmutz assoziiert wurden, durch die Art ihrer Gestaltung einen Mehrwert abzugewinnen. Das traf vor allem auf die Darstellung des Alltags der Unterschichten zu. Wer einen Hufschmied „im Schmutze seiner Werkstatt“ schildern wollte, sollte ihn, wie es Walter Scott getan habe, als „Helden“ zeichnen und ihn doch „bei seinem Amboss“435 belassen. In seinem Sommernachtstraum habe es William Shakespeare verstanden, neben der Elfenwelt sowohl „die gemeinste [Welt, L.R.] des alltäglichen, nach allem Schmutz des Handwerks riechende“, als auch „die höher gestellte“ Welt der Gebildeten vor Augen zu führen, die sich im Verlauf der Handlung „so wunderlich amalgamiren“ würden, „daß die scheinbar höchste zur scheinbar niedrigsten wird, und umgekehrt.“436 Dabei habe es Shakespeare geschafft, die mit Schmutz assoziierte Welt der einfachen Leute und ihrer Arbeit realistisch darzustellen und nur mit wenigen formästhetischen Eingriffen zu poetisieren:

429 430 431 432 433 434

[Art.] Selbstbefleckung. In: PUL4, Bd. 15, S. 804. Ebd. Ebd. Ebd., S. 804-805. Ebd., S. 805. Der Zusammenhang von unmäßigen Lektüren und Selbstbefriedigung ist bereits in der Lesesuchtdebatte der Aufklärung problematisiert worden. Vgl. König, Dominik von: Lesesucht und Lesewut. In: Göpfert, Herbert G. (Hg.): Buch und Leser. Vorträge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens 13. und 14. Mai 1976. Hamburg 1977, S. 89-125, besonders S. 100-103. 435 [Art.] Scott, Walter. In: DCL, Bd. 9, S. 184. 436 [Art.] Shakspeare (William). In: BCL, Bd. 4, S. 177.

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Die Art und Weise des Ausdrucks selbst ist bei S[hakespeare] getreu dem Leben entnommen, da, wo er sich nicht auf den Schwingen des Genius in die höhern Gebiete des Geistes erhebt; sie ist gemein, wo sie gemeine Wirklichkeit darzustellen hat, und adelt diese nur durch die Fülle des Witzes, der Zuckungen des in der Welt von der Gemeinheit unterjochten Geistes.437

Immer habe Shakespeare diese Meisterschaft allerdings nicht durchgehalten. In sehr vielen seiner Werke würden eine „Derbheit des Ausdrucks“ und eine „Ungenirtheit des Witzes“ vorherrschen, wie sie „unsere verfeinerte, moralisch cultivirte Zeit“438 laut dem Verfasser des Artikels im Bilder-Conversations-Lexikon nicht mehr kennen würden. Insofern mussten Shakespeares Werke in besonderer Weise gerechtfertigt werden. Man betonte, ihn historisch lesen zu müssen und enthob seine Werke auf diese Weise dem eigentlich zwangsläufigen ästhetischen Negativurteil. Denn man dürfe „nicht vergessen“, heißt es weiter, „daß das Leben, welches sich hier in S.´s Werken nach seinen Äußerungen in gemeiner Wirklichkeit abspiegelt, einer vorübergegangenen Zeit angehört.“439 Durch diesen Trick einer historischen Lesart wurde dem ‚Klassiker‘ Shakespeare genüge getan, ohne dass dabei die eigenen ästhetischen Normen aufgegeben worden wären. Es wurde aber der Hinweis ergänzt, dass die Shakespeareschen Manieren von zeitgenössischen Schriftstellern keinesfalls kopiert werden sollten. Ihm bloß „ab[zu]lauschen ‚wie er räuspert und wie er spuckt‘“ 440, würde den ästhetischen Forderungen der Gegenwart zuwiderlaufen; eine ungeschönte, womöglich noch in einer derben Sprache nahegebrachte Darstellung gemeiner, schmutziger Wirklichkeit galt als verpönt. Diese Auffassung wurde auch im ‚Meyer‘ zu einer Zeit bekräftigt, als die Naturalismusdebatten des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts gerade erst verklungen waren. So wurde der von Émile Zola „bis zur äußersten Konsequenz gesteigerte Naturalismus“441 kritisiert, Zolas handwerkliches Können allerdings positiv bewertet. Dessen schriftstellerischen Qualitäten lägen „in der feinen Beobachtung des äußerlichen, wirklichen Lebens, in der die einzelnen Züge mit photographischer Treue wiedergebenden Detailmalerei, in der sichern Kenntnis aller Vorgänge und Werkzeuge, sobald irgend ein technischer Berufszweig geschildert wird.“442 Jedoch würde Zola in seinen Werken auch „besonders gern bei der Schilderung des Häßlichen und Widerwärtigen verweil[en]“; in La Terre habe er „derartig im Schmutze“443 gewühlt, dass sich sogar viele seiner Anhänger im Manifeste des Cinq von ihm abgewandt haben. In anderen Artikeln positionierte man sich ebenso eindeutig gegen den Naturalismus, der als eine übertriebene Form des Realismus bewertet wurde, die vollkommen ohne jede „idealistische Läuterung“444 auskommen würde. Idealismus und Realismus wurden hingegen als gleichberechtigte Kunststile nebeneinander gestellt. Im Artikel über den ‚Stil‘ heißt es: 437 438 439 440 441 442 443 444

Ebd., S. 176. Ebd., S. 177. Ebd., S. 176. Ebd. [Art.] Französische Literatur. In: MKL6, Bd. 7, S. 15. Ebd. Ebd. [Art.] Stil. In: MKL6, Bd. 19, S. 34.

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Will der Schaffende in dem künstlerischen Erzeugnis vor allem die idealen Werte des Schönen oder des Erhabenen zur Geltung bringen und liegt ihm die treue Wiedergabe der Wirklichkeit fern, so entsteht der idealistische S, der sich bei völliger Abweichung von der Wirklichkeit zum phantastischen S. steigert. Will er dagegen, unter völligem oder partiellem Verzicht auf das Schöne und Erhabene, vor allem die bezeichnenden Eigentümlichkeiten und Einzelheiten des wirklichen Lebens herausarbeiten, so entsteht der realistische oder charakteristische S., der sich bei völligem Verzicht auf idealistische Läuterung zum naturalistischen S. verflacht.445

Zu den ästhetisch problematischen, mit Schmutz assoziierten Wirklichkeitsaspekten gehörte insbesondere die Sexualität. Der in Meyers Großem Konversations-Lexikon erschienene Artikel über den belgischen Maler Félicien Rops offenbart, dass die (in dem Fall visualisierende) Darstellung erotischer Themen die Frage nach den Grenzen der Kunst provozierte. Rops Kunstwerke wurden folgendermaßen eingeschätzt: Während seine Gegner in ihm nur den Pornographen sehen, wollen seine Anhänger glauben machen, daß ihm die Gemeinheit nur ein Mittel zu höhern Zwecken gewesen sei. Die Wahrheit ist, daß er einer der erfindungsreichsten und gewandtesten Zeichner und einer der größten graphischen Techniker der modernen Kunst war, daß diese außerordentliche Begabung auch viele der unflätigsten Blätter künstlerisch interessant macht, während andre allerdings lediglich dem Sinnenkitzel dienen.446

Die Art und Weise der Gestaltung entschied darüber, ob ein vermeintlich unflätiges Werk, das ein erotisches Thema präsentierte, noch als Kunst rezipiert werden könne oder nicht. Die Verfasstheit eines Kunstobjektes sollte eine nicht-sinnliche Weise der Kunstrezeption möglich machen. Damit räumte der Artikelverfasser ein, dass Sexualität durch gestalterisches Raffinement in einem Kunstwerk durchaus zur Anschauung gebracht werden dürfe, ohne das es den Status als Kunst einbüßen müsse. Dass es trotzdem auch sexuell erregend wirken und deshalb als anstößig empfunden werden könne, wurde damit nicht geleugnet. Da er mit seinen auf der Grenze zwischen Kunst und Pornographie liegenden Kunstwerken beständig die Rezeptionsgewohnheiten herausforderte , wurde Rops als „einer der zynischsten aller modernen Künstler“447 beurteilt. Schmutzige Werke der Weltliteratur Explizit als schmutzig sind in den populären Enzyklopädien Werke bezeichnet worden, in denen Erotik und Sexualität offen thematisiert wurden. Im ‚Herder‘ galten Erotika, in denen die „sinnliche Liebe“ nicht anmutig sondern „in allen Formen und Graden“448 geschildert wurde, als „schmutzige, lüderliche Dichtung[en]“449; im ‚Meyer‘ ist der Terminus ‚Pornographie‘ als Synonym für „Schmutzliteratur“ verwendet und auf Texte bezogen worden, „die sich in Ausmalung schlüpfriger Dinge

445 446 447 448 449

Ebd., S. 34-35. [Art.] Rops. In: MKL6, Bd. 17, S. 135. Ebd. [Art.] Erotik. In: HCL, Bd. 2, S. 603. [Art.] Erotisch. In: HCL, Bd. 2, S. 603.

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bewegen“450 würden. Außer im Damen Conversations Lexikon sind unter der Prämisse des Obszönen respektive des Pornographischen in allen eingesehenen Lexika Werke der Weltliteratur ausdrücklich als unrein bewertet worden. Mit dem Schmutzverdikt versuchte man, ihnen Geltung zu entziehen. Von Schmutzliteratur ist also bereits vor den um 1900 stattgefundenen ‚Schmutz- und Schunddebatten‘ die Rede gewesen. In diese Kategorie fielen erstens diverse antike Dichtungen, zweitens Werke der Renaissance, drittens französische Werke des 18. und 19. Jahrhunderts, viertens Werke der deutschen Literaturgeschichte und fünftens sonstige Werke. Um den im 19. Jahrhundert in den Konversationslexika entworfenen, negativen Kanon ‚schmutziger Literatur‘ zu rekonstruieren, werden die abgewerteten Werke im Folgenden weitestgehend unkommentiert aufgezählt. • Antike Dichtungen Im Conversations-Lexikon sind „lächerliche ‒ und schmutzige Erdichtungen“451 erwähnt worden, die den Zeugungsmythos des Orion thematisiert hätten. Im BilderConversations-Lexikon galten die Lustspiele des Plautus als Werke, in denen man „manches possenhaft Gemeine, sehr Unsaubere und Zweideutige“452 finden würde. Im ‚Herder‘ ist der Epikureer Philodemos von Gadara als „schmutziger Dichter“ 453 bezeichnet worden. Als „so ziemlich das schmutzigste Product der Literatur“ 454 ist im selben Lexikon das Satyricon des Titus Petronius bezeichnet worden, das in eine Reihe mit den Metamorphosen des ebenso „schmutzigen“455 Apuleius gestellt wurde. • Werke der Renaissance Ebenfalls im ‚Herder‘ ist von den „schmutzig erotischen und boshaft satyrischen“ 456 Gedichten des Pietro Aretino die Rede gewesen, der auch als „der schmutzige Aretino“457 galt; in Pierer´s Universal-Lexikon ist er kurzerhand als „der schmutzigste aller italienischen Schriftsteller“458 bewertet worden. Dort ist auch auf die als „schmutzig u. lüstern“ erachteten „Novellen des ausschweifenden Mönchs Agnolo Firenzuola“ hingewiesen worden, die in Meyers Großem Konversations-Lexikon als „recht schmutzig“459 beschrieben wurden. Im ‚Meyer‘ ist außerdem auf die „burlesken Sonette“ des Burchiello verwiesen worden, „die in grobem, oft schmutzigem Humor“460 verfasst worden wären. Als eine „kulturhistorisch wertvolle, aber oft unflätige Satire in Prosa“461 galt Giovanni Boccaccios Corbaccio. Dessen Decamerone, „eines der hervorragendsten Werke der italienischen Literatur“, ist dagegen interes450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461

[Art.] Pornographie. In: MKL6, Bd. 16, S. 159. [Art.] Orion. In: CL, Bd. 8, S. 179. [Art.] Plautus. In: BCL, Bd. 3, S. 513. [Art.] Philodemus. In: HCL, Bd. 4, S. 529. [Art.] Petronius. In: HCL, Bd. 4, S. 508. [Art.] Römische Literatur. In: HCL, Bd. 4, S. 743. [Art.] Aretino. In: HCL, Bd. 1, S. 242. [Art.] Italienische Literatur. In: HCL, Bd. 3, S. 454. [Art.] Italienische Literatur. In: PUL4, Bd. 9, S. 125. [Art.] Firenzuóla, Agnolo. In: MKL6, Bd. 6, S. 596. [Art.] Italienische Literatur. In: MKL6, Bd. 10, S. 100. [Art.] Boccaccio. In: MKL6, Bd. 3, S. 105.

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santerweise nicht mit Schmutz in Verbindung gebracht worden; stattdessen wurde betont, dass die „Unsittlichkeiten des Buches“ nicht „um ihrer selbst willen dargestellt“ worden wären und der „Sittenlosigkeit der Zeit des Dichters zur Last“ 462 gelegt werden müssten. Besagte Unsittlichkeit habe sich, wie man im ‚Pierer‘ lesen kann, übrigens auch im „Schmutz u. rohen Späßen“463 zugeneigten italienischen Volkstheater geäußert. Mit Gargantua und Pantagruel von François Rabelais ist im ‚Herder‘ außerdem ein Roman der französischen Renaissance als ein „mitunter rohe[s] u. schmutzige[s]“464 Machwerk bezeichnet worden. • Französische Werke des 18. und 19. Jahrhunderts

Besonders viele französische Werke des 18. Jahrhunderts sind in den Lexika mit Schmutz in Verbindung gebracht worden. Dazu zählte man im ‚Herder‘ die Dichtungen von Évariste de Parny, die als „witzig aber schmutzig“ galten. Dort und im ‚UrBrockhaus‘ sind außerdem die „durch Schmutz berüchtigten Briefe[], Erzählungen, Fabeln“465 erwähnt worden, in denen sich ihr Verfasser Jean-Baptiste de Grécourt „seinen satirischen und schmutzigen Phantasien überließ.“466 Im Bilder-Conversations-Lexikon ist zu lesen, dass nicht nur „die frechen Witzspiele Grécourts“, sondern auch die „schmutzigen Romane“ des Claude-Prosper Jolyot de Crébillon im französischen Lesepublikum des 18. Jahrhunderts „jedes Gefühl für eine kräftige Sittlichkeit“ zerstört hätten. Im ‚Meyer‘ ist bezüglich der Les Bijoux indiscrets Denis Diderots von „einem unsaubern und faden Produkt“ 467 geredet worden. Mehr als „200 schmutzige und bizarre Romane“ hat Rétif de la Bretonne laut dem ‚Herder‘ verfasst, dessen „Andenken“ in Frankreich „unnöthigerweise wieder“ 468 aufgewärmt würde. Den „Kulminationspunkt“ habe das Genre der „Schmutzromane“ laut dem ‚Meyer‘ schließlich „in den über alle Maßen unsittlichen Arbeiten des Marquis de Sade“469 erreicht. Aus dem 19. Jahrhundert wurde neben dem bereits erwähnten La Terre Zolas das Werk von Charles Baudelaire mit Schmutz assoziiert. Zwar wurde betont, dass sie „gefeilte Form, Reichtum und Reinheit der Sprache“ sowie eine „sorgfältig durchgebildete Harmonie“ besitzen würden, doch kritisierte man neben ihrem „Mangel an Gedanken und echtem Gefühl“ insbesondere die „Schilderungen

462 Ebd. ‒ Im [Art.] Boccaccio. In: HCL, Bd. 1, S. 580 sind dem Decamerone „Mangel an Kraft und Gedrängtheit und die schlüpfrigen Schwänke und obscönen Schilderungen“ vorgeworfen worden. Mit Schmutz wurde das Werk auch im ‚Herder‘ nicht explizit in Verbindung gebracht. 463 [Art.] Italienische Literatur. In: PUL4, Bd. 9, S. 126. 464 [Art.] Rabelais. In: HCL, Bd. 4, S. 654. 465 [Art.] Grécourt. In: HCL, Bd. 3, S. 130. 466 [Art.] Johann Baptista Joseph Villart von Grecourt. In: CL, Bd. 2, S. 128. 467 [Art.] Diderot. In: MKL6, Bd. 4, S. 881. 468 [Art.] Rétif de la Bretonne. In: HCL, Bd. 4, S. 712. 469 [Art.] Französische Literatur. In: MKL6, Bd. 7, S. 12. ‒ Im [Art.] Sade. In: HCL, Bd. 5, S. 12 wird auf „die abscheulichen Romane“ Justine, Aline et Valcourt und Juliette verwiesen. ‒ Zur Sade-Rezeption in Deutschland vgl. Bohnengel, Julia: Sade in Deutschland. Eine Spurensuche im 18. und 19. Jahrhundert. [Diss. Mannheim 2001] St. Ingbert 2003.

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des Lasters und Schmutzes“, die den Lesern unwillkürlich „Widerwillen […] einflößen“470 würden. • Werke der deutschen Literaturgeschichte Auch in der deutschen Literaturgeschichte ist gewissen Genres eine Nähe zum Schmutz nachgesagt worden. Das traf auf den Schwank zu, der als eine im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit entstandene Gattung „launiger, oft unflätiger Erzählungen, meist mit lehrhafter Tendenz“471 definiert worden ist. Im ‚Herder‘ ist auf die zahlreichen „unsaubere[n] Schwänke“472 hingewiesen worden, die an die Person des Minnesängers Neidhart angelehnt waren. Desweiteren ist die seit dem 14. Jahrhundert feststellbare Tradition der Fastnachtsspiele mit Schmutz in Verbindung gebracht worden. Die „derben und possenhaften Szenen“, die „in den Städten von Gesellschaften junger Leute“ aufgeführt worden wären, seien oft zur „rohesten Komik“ und zum „ärgsten Schmutz“473 verkommen. Im ‚Meyer‘ ist zu lesen, dass das insbesondere auf die „von derber Komik“ geprägten Fastnachtsspiele Hans Rosenplüts zutraf, die „freilich auch argen Schmutz“474 transportiert hätten. Rosenplüts scherzhafte Dichtungen sind auch im ‚Pierer‘ als „roh und schmutzig“ 475 beurteilt worden. Im BilderConversations-Lexikon, in dem von „nach jetzigem Urtheil oft sehr schmuzigen Scherzen“476 die Rede war, ist dagegen auf den zeithistorischen Wandel von Geschmacksurteilen hingewiesen worden. Im ‚Herder‘ ist außerdem der Schmutz erwähnt worden, mit dem in der Reformationszeit Widersacher angegriffen wurden. Luther etwa „schleuderte unübertrefflich grobe und schmähsüchtige Streitschriften gegen theologische u. nichttheologische Gegner“, zu denen auch „unflätige Flugschriften gegen den Papst“ 477 gehörten. Dass auch „Luther und seine Freunde schonungslos gegeißelt“ wurden, ist in dem katholischen Konversationslexikon keineswegs ausgeblendet worden; dazu zählte man etwa die Schrift Monachopornomachia (Mönchshurenkrieg) des „boshaften und unfläthigen Satirikers“ Simon Lemnius, deren Titel dem „Schmutz des Inhaltes“ 478 entspräche. Nur im ‚Herder‘ sind auch einige Werke der jüngeren und jüngsten deutschen Literaturgeschichte als schmutzig beurteilt worden. Dort ist von „mitunter sehr schmutzige[n] versificirte[n] Schäfererzählungen“479 Johann Christoph Rosts und von „schmutzigen Darstellungen“480 in den Gedichten Johann Matthias Dreyers sowie auf die „sehr schmutzige[n] Dichtungen“481, die der Sturm- und Drangautor Johann Ja470 471 472 473 474 475 476 477 478 479 480 481

[Art.] Französische Literatur. In: MKL6, Bd. 7, S. 14. [Art.] Schwank. In: MKL6, Bd. 18, S. 110. [Art.] Neidhart von Neuenthal. In: HCL, Bd. 4, S. 311. [Art.] Deutsche Literatur. In: MKL6, Bd. 4, S. 697. [Art.] Rosenblüt. In: MKL6, Bd. 17, S. 149. [Art.] Rosenplüt. In: PUL4, Bd. 14, S. 368. [Art.] Rosenblüt. In: BCL, Bd. 3, S. 746. [Art.] Luther. In: HCL, Bd. 4, S. 49. [Art.] Lemnius. In: HCL, Bd. 3, S. 740. [Art.] Rost. In: HCL, Bd. 4, S. 772. [Art.] Dreyer. In: HCL, Bd. 2, S. 449. [Art.] Heinse. In: HCL, Bd. 3, S. 265.

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kob Wilhelm Heinse in den 1770er-Jahren verfasst habe, verwiesen worden. Heinrich Heine ist der einzige Autor des 19. Jahrhunderts, der im konservativen ‚Herder‘ mit pejorativer Absicht mit Schmutz in Verbindung gebracht wurde. Der damalige Gegenwartsautor wurde mit problematischen politischen Anschauungen, mit Unsittlichkeit und Derbheit in Verbindung gebracht. Heine wäre zwar „hoch begabt“ besäße aber kein „sittliches Ideal“482: H. ist entschieden das größte Dichtergenie, das seit Göthe aufgetreten, aber durch Mangel an Religion und Sittlichkeit zugleich der lebendigste Ausdruck aller Widersprüche, in denen sich unser Jahrh. bis vor kurzem bewegte u. vielfach noch bewegt. Neben der tiefsten dichterischen Anschauung der ideenarmste Saint-Simonismus u. eine wahrhaft satanische Freude an der Unlust u. am Häßlichen; neben einer zauberhaften Macht, alle Saiten des menschl. Herzens erklingen zu machen, der empörendste Hohn auf alles, was die Menschheit hoch und heilig hält und was nicht zu H.s Irreligion der Freude und des Genusses paßt; neben dem treffendsten geistvollsten Witze die gemeinsten Zoten; der geborne Dichter und der jüd. Faun verschmelzen sich in H. zu einem ebenso anziehenden als abstoßenden Ganzen, u. den zunehmenden Verfall seiner Dichternatur hat er, sonst ein Meister der Form, auch in der wachsenden Nachlässigkeit hinsichtlich der Form seiner Dichtungen offenbart.483

Diese zwar ambivalente, aber eindeutig diffamierende Einschätzung mündete in der Aussage, dass selbst in seinen „berüchtigten“ Neuen Gedichten „aus dem Schmutze heraus noch Perlen“484 glänzen würden. • Sonstige Werke

Im ‚Herder‘ sind außerdem die 1680 erschienenen „schmutzigen Poems“485 von John Wilmot Rochester und die „lasciven und schmutzig geschriebenen Novelle galanti“486 von Giambattista Casti aus dem Jahr 1793 erwähnt worden.

3.4 DER SCHMUTZ DER KONVERSATION Konversation über Schmutz galt als unschicklich und zu vermeiden. Dies spiegelt sich auch in den großen Konversationslexika des 19. Jahrhunderts wider. Während sich der Schmutz auf Lemmaebene der Lexika nicht manifestieren konnte, ergaben die Volltextrecherchen ein sehr viel differenzierteres Bild. Abseits der deutsch-bürgerlichen Sphäre konnte sich der Schmutz sehr wohl manifestieren. Der in der Frem482 [Art.] Deutsche Literatur und Wissenschaft. In: HCL Bd. 2, S. 348. ‒ Symptomatisch stünde Heine damit für die Literatur „des jungen Deutschland“, die damit in einem Atemzug mit abgewertet wurde. Spätestens seit der Julirevolution des Jahres 1830 wäre durch dessen Anhänger eine „Abnahme und theilweise Entartung der Poesie“ vonstattengegangen, die sich in einer „förmlichen Feindschaft gegen Religion, Staat und zuletzt gegen das sociale Leben der Gegenwart“ (ebd.) äußern würde. 483 [Art.] Heine. In: Bd. 3, S. 260. 484 [Art.] „Heine“. In: Bd. 3, S. 260. 485 [Art.] Rochester. In: HCL, Bd. 4, S. 739. 486 [Art.] Casti. In: HCL, Bd. 2, S. 26.

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de zur Kenntnis genommene Dreck diente dazu, die eigene Kultur gegenüber dem unreinen Ausland aufzuwerten oder auf Ambivalenzen des Fortschritts hinzuweisen, die man in der eigenen Kultur gemeinhin ignorierte. Gleichsam markierte der Schmutz die Zonen des kulturellen Verfalls und die Randbereiche der westlichen Zivilisation, wobei er sowohl romantisierend wie auch bedrohlich erscheinen konnte. Mit den Kloaken Roms galt auch der Schmutz der zeitlich fernen, antiken Vergangenheit als konversationstauglich, während zeitgenössische Abfuhr- und Abwassersysteme erst am Ende des 19. Jahrhunderts thematisiert wurden. Entsprechend hat sich ein im Zuge der modernen Hygiene von funktionalen Aspekten bestimmter semantischer Wandel niedergeschlagen. Zunehmend sickerte der Schmutz in naturwissenschaftlichen und technischen Kontexten in die Konversation ein. Es gab aber auch eine gegenläufige Tendenz. So ist das Unreine im Jahrhundertverlauf immer seltener herangezogen worden, um Figuren der Weltgeschichte moralisch zu diffamieren. In literarästhetischen Kontexten ist ebenfalls eine leichte semantische Degression zu verzeichnen. Die Hochkonjunktur der Schmutzsemantik im literarischen Diskurs um 1900 hat sich nicht in der 6. Auflage von Meyers Großem Konversations-Lexikon gespiegelt. Trotzdem sind über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg diverse literarische und ästhetische Unreinheiten benannt worden. Die Herausbildung einer deutschen Nationalliteratur galt als das Ergebnis eines Reinigungsprozesses, bei dem fremdsprachliche Elemente herausgeläutert und klassische Formen zur Geltung gebracht worden sind. Der ästhetische Genuss sollte von sinnlichen Neigungen bereinigt sein. Kunst und Literatur sollten ebenfalls keine Sinnlichkeit in Szene setzen. Unter dieser Vorgabe sind in den Konversationslexika zahlreiche Werke der Weltliteratur, kaum jedoch deutsche Gegenwartsliteratur als schmutzig bewertet worden. Der Hinweis auf unreine Werke hätte die Vorstellung einer geläuterten deutschen Nationalliteratur beeinträchtigt. Dass in Herders ConversationsLexikon Heine als schmutzig gebrandmarkt wurde, war möglich, weil er als gebürtiger Jude und vermeintlicher ‚Saint-Simonist‘ nicht der christlich geprägten deutschen Kultur zugerechnet wurde.

Teil B: Verunreinigungen im ästhetischen Diskurs des ‚langen 19. Jahrhunderts‘

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Gefährdungen der Reinheit in der Ästhetik der Weimarer Klassik

Die Kunsttheorie der Weimarer Klassik war von einem „Ideal ästhetischer Reinigkeit“1 geprägt. Zum Verständnis dieses Ideals reicht es allerdings nicht aus, bloß aufzuzeigen, in welcher Weise schöne Kunst auf Reinheit verpflichtet wurde. Es muss auch auf diejenigen Aspekte geachtet werden, die aus den Bezirken der Kunst ausgeschlossen wurden. Reinheitsgebote unterliegen der binären Logik „asymmetrischer Gegenbegriffe“2, wie sie Reinhart Koselleck theoretisch beschrieben hat. Reinheit und Unreinheit bilden ein Begriffsdual, dessen beiden Seiten gleichsam aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig ausschließen. Eine reine Ästhetik ist insofern immer auch eine bereinigte Ästhetik, die von unreinen Elementen frei sein muss. Eine auf ihrem Prinzip beruhende schöne Kunst muss deshalb das Ergebnis eines auf schönheitsbeeinträchtigende Partikel bezogenen Reinigungsprozesses sein. Demzufolge muss Unreinheit zumindest konzeptionell als konstitutiver Bestandteil der reinen Ästhetik begriffen werden, ohne die sie nicht definiert werden könnte. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Unreine zwangsläufig auch auf semantischer Ebene vorkommt. Tatsächlich ist, obwohl die Reinheitssemantik häufig benutzt wurde, in den kunsttheoretischen Schriften der Klassiker nur in seltenen Fällen explizit von Unreinheit oder gar von Schmutz die Rede gewesen. Die reine Ästhetik der Weimarer Klassik verbarg das, was sie ausgeschlossen hat. Ihre negativen Aspekte lassen sich deshalb nur dann entbergen, wenn man die Stellen, in denen von Reinheit die Rede ist, untersucht und fragt, was die Klassiker als Gefährdungen der Reinheit erachteten, die vermieden oder getilgt werden sollten. Als negative Bedingung der reinen Ästhetik können diese ästhetisch zu bereinigenden Elemente nur interpretierend sichtbar gemacht werden. Dazu müssen diejenigen Begriffe fokussiert werden, die die semantische Funktion des latent bleibenden, nicht markierten Unreinen im asymmetrischen Begriffsdual rein ‹≠› [unrein] eingenommen haben. Wohlgemerkt ist von ihrer Funktion als Gegenbegriff die Rede, die sie als (idealerweise zu bereinigende Gefährdungen) der ästhetischen Reinheit erscheinen lassen. Dass der jeweilige Gegenbegriff tatsächlich als Unreinheit identifiziert wurde, ist damit nicht ausgesagt. Sicherheit kann diesbezüglich nur die konkrete Nennung geben.

1 2

Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 380. Vgl. Koselleck (1979), Titel.

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Die Analysen des vorliegenden Kapitels beziehen sich auf kunsttheoretische Texte von Johann Joachim Winckelmann als einem ‚Stichwortgeber‘3 der Weimarer Klassik sowie von Karl Philipp Moritz, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Kurz wird in den folgenden Abschnitten untersucht, wie das ästhetische Reinheitsideal von den Klassikern anthropologisch und geschichtsphilosophisch hergeleitet und gegen welche Arten konzeptioneller Unreinheit es abgeschirmt wurde. Ausführlicher werden sowohl kunstobjektbezogene inhalts- und wirkungsästhetische als auch subjektbezogene produktions- und rezeptionsästhetische Aspekte analysiert: Welche Stoffe galten als zu bereinigende Ingredienzien schöner Kunst? Welche Wirkweisen wurden als unrein erachtet? Wie sollte ein Künstler die Kontaminierung seiner Kunstwerke vermeiden? Welche Arten der Kunstrezeption gefährdeten die rein ästhetische Wahrnehmung? Dabei kann sich die Untersuchung mit Jürgen Brokoffs Geschichte der reinen Poesie4 und Cornelia Zumbuschs Immunität der Klassik5 u.a. auf zwei neuere wissenschaftliche Arbeiten stützen, in denen die Autoren den zentralen Stellenwert der Reinheit im ästhetischen Diskurs der Klassik herausgearbeitet haben. Brokoff hat in seiner (übrigens bis ins 20. Jahrhundert hinausreichenden) Studie poesiespezifische Reinigungen in den Blick genommen, während Zumbusch in ihrer Arbeit darauf abzielte, die Bedeutsamkeit immunologischen Denkens in der Ästhetik der Weimarer Klassik offenzulegen. Das vorliegende Kapitel schließt an diese Studien an, lenkt aber den Blick vom semantisch vorgegebenen Pfad der Reinheit ab und fragt nach Vorhandensein und Funktion des in den ästhetischen Schriften der Klassiker nicht verbalisierten Unreinen.

4.1 WINCKELMANNS QUELLCODE DER KLASSISCHEN ÄSTHETIK UND DIE ZU BEREINIGENDEN LEIDEN UND AFFEKTE Nach Johann Joachim Winckelmann entsprach Schönheit einem von fremden Beimengungen geläutertem, aus einer Quelle hervorsprudelndem Wasser. Je höher der Reinheitsgrad desselben, desto geschmackloser und gesünder wäre es: „Nach diesem Begriffe soll die Schönheit seyn, wie das vollkommenste Wasser, aus dem Schooße der Quelle geschöpfet, welches, je weniger Geschmack es hat, desto gesunder geach-

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4 5

Hiermit ist insbesondere die Herleitung von Vorstellungen ästhetischer Reinheit aus einer idealisierten griechischen Antike gemeint, die auch Moritz, Schiller und Goethe ihren ästhetischen Gedankengängen zugrundegelegt haben. Zur Winckelmannrezeption in der Zeit der Weimarer Klassik vgl. Uhlig, Ludwig: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Griechenland als Ideal. Winckelmann und seine Rezeption in Deutschland. Tübingen 1988, S. 7-19. Brokoff, Jürgen: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen 2010. Im Folgenden als Brokoff (2010). Zumbusch, Cornelia: Die Immunität der Klassik. Berlin 2011. Im Folgenden als Zumbusch (2011).

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tet wird, weil es von allen fremden Theilen geläutert ist.“6 Werke der Kunst sollten sich aus möglichst vollkommenem, von unreinen Elementen freiem Quellwasser speisen. Die „reinsten Quellen der Kunst“7 sind nach Winckelmann in der griechischen Antike entsprungen.8 Mit der dem antiken Schönheitsideal zugrundeliegenden Unterscheidung rein ‹≠› [unrein] hat er den Quellcode der klassischen Ästhetik geliefert, der auch den kunsttheoretischen Schriften von Moritz, Schiller und Goethe zugrunde lag. Da sich Schönheit an der Freiheit von gewissen Zusatzstoffen bemaß, ist die schöne Kunst von den Klassikern als Produkt inhalts-, produktions- und rezeptionsästhetischer Reinigungsprozesse aufgefasst worden. Ohne Verweis auf die aus ihr herauszufilternden, konzeptionell unreinen Elemente ließe sich die von den Klassikern angestrebte reine Ästhetik nicht bestimmen. Winckelmann hat seine Vorstellungen einer reinen Ästhetik anhand antiker Statuen erläutert, an denen er die Abwesenheit triebhaft-sinnlicher Spurenelemente hervorhob. Menschliche Gefühlsregungen und Affekte beeinträchtigten seiner Meinung nach den schönen Eindruck eines Kunstwerks. Als „eine vollkommene Regel der Kunst“ repräsentierendes Musterbeispiel galt ihm die Laokoon-Gruppe, die „eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck“ 9, zeigen würde: So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem Gesicht des Laocoons, und nicht in dem Gesicht allein, bey dem heftigsten Leiden. Der Schmertz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Cörpers entdecket, und den man gantz allein, ohne das Gesicht und andere Theile zu betrachten, an dem schmertzlich eingezogenen Unter-Leib beynahe selbst zu empfinden glaubet; dieser Schmertz, sage ich, äussert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte und in der gantzen Stellung. 10

Zumbusch hat darauf hingewiesen, dass der Laokoon für Winckelmann zwar die „stoische Unterdrückung des Affekts“11 veranschaulichte, damit aber noch nicht seinem absoluten Schönheitsideal entsprochen habe. Einen Menschen und keinen Gott abbildend, trug das Kunstwerk noch immer Spuren beruhigter Schmerzen in sich, die einen Betrachter an das menschliche Leiden erinnern und damit den reinen Eindruck von Schönheit letztlich doch mindern würden. Im Laokoon sähe der Betrachter laut Winckelmann „bey dem Schmerz den Unmuth, wie über ein unwürdiges Leiden in 6

Winckelmann, Johann J.: Geschichte der Kunst des Alterthums. In: Ders.: Schriften und Nachlaß, Bd. 4,1. Hg. von Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens u.a. Mainz 2002, S. 253. Im Folgenden als Winckelmann: Kunst des Alterthums. 7 Ders.: Gedancken über die Nachahmung, S. 29. 8 Zur herausragenden Bedeutung der griechischen Antike in Winckelmanns Ästhetik vgl. Szondi, Peter: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. In: Ders.: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 2. Frankfurt am Main 1974, S. 11-265, S. 21-46. 9 Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung, S. 43. 10 Ebd. 11 Zumbusch (2011), S. 93.

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dem Krausen der Nase, und das väterliche Mitleiden auf den Augapfeln, wie eine trübe Duft [sic] schwimmen.“12 Demgegenüber hat Winckelmann sein Schönheitsideal als ein „Reich unkörperlicher Ideen“ vorgestellt, in welchem keinerlei „Begierden der Sinne“13 mehr aufscheinen dürften. Selbst unscheinbarste, auf die menschliche Sinnlichkeit weisende Merkmale galten ihm als Trübungen dieses reinen Eindrucks. Sein Ideal einer leidenschaftslosen Schönheit sah Winckelmann am marmornen Torso von Belvedere verwirklicht, in welchem er den Gott gewordenen Herkules zu erblicken meinte, der vom Künstler Apollonios von Athen „von den Schlacken der Menschheit gereinigt worden“14 wäre. Keinerlei „Gedanken von Gewaltthätigkeit und ausgelassener Liebe“ wären in „der Ruhe und Stille des Körpers“ 15 haften geblieben. Nur die von Leidenschaften freie, sich durch „höchste Ruhe und Gleichgültigkeit“16 auszeichnende göttliche Natur konnte Winckelmanns Meinung nach als uneingeschränkt schön bezeichnet werden. Diesem Verständnis nach hat er das gänzliche Fehlen eines „wirkenden und leidenden Zustandes unserer Seele und unseres Körpers und der Leidenschaft sowohl als der Handlungen“17 zur Voraussetzung schöner Kunst und apathische Empfindungslosigkeit zum Schönheitsideal erhoben. Die menschlichen Sinnesempfindungen, Gemütsbewegungen, Ängste, Leidenschaften und Schmerzen galten ihm als Zutaten, die den Eindruck der Schönheit zwangsläufig verunreinigen würden. Reinheit war ihm auch ein produktionsästhetisches Ideal. Um ein schönes Kunstwerk herzustellen, sollte ein Künstler einerseits fähig dazu sein, zwischen dem Schönen und schönheitsbeeinträchtigenden Elementen zu unterscheiden, andererseits sollte er Techniken beherrschen, mit denen er „das Völlige der Natur von dem Ueberflüßigen […] scheide[n]“18, verunreinigende Aspekte also aus der Kunst heraushalten könne. Um dies zu gewährleisten, sollte er in seinem Schaffensprozess auch darauf achten, das Kunstwerk nicht mit seiner eigenen Unzulänglichkeit zu verunreinigen. Er müsse „von aller persönlichen Neigung“ abstrahieren können, „welche unsern Geist von dem wahren Schönen abzieht.“19 Den Künstlern seiner Zeit empfahl er deshalb ein intensives Studium der griechischen Antike. Unter dem „Einfluß eines sanften und reinen Himmels“20 seien die Körper der Griechen klimabedingt ausnahmslos gesund und schön gewesen, was sich auf die Vorzüglichkeit des guten Geschmacks und die Makellosigkeit der Kunst jener Zeit ausgewirkt habe. 21 Ein Künst12 Winckelmann, Johann J.: Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst. In: Ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. Berlin 1968, S. 149-156, S. 150. 13 Ders.: Kunst des Alterthums, S. 457. 14 Ders.: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. In: Ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. Berlin 1968, S. 169-173, S. 172. 15 Ebd. 16 Ders.: Kunst des Alterthums, S. 303. 17 Ebd., S. 301. 18 Ders.: Gedancken über die Nachahmung, S. 39. 19 Ders.: Kunst des Altertums, S. 257. 20 Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung, S. 30. 21 Vgl. Gisi, Lucas M.: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin 2007, S. 92-93.

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ler, der sich den griechischen Vorbildern zuwenden würde, könne die aus seiner Persönlichkeit und seiner Gegenwart hergeleiteten, unzulänglichen Vorstellungen von Schönheit korrigieren: „Die Begriffe des Gantzen, des Vollkommenen in der Natur des Alterthums werden die Begriffe des Getheilten in unserer Natur bey ihm läutern“22, war Winckelmann überzeugt. Wie der Künstler, so sollte auch der Betrachter seine Neigungen und Vorstellungen aus einem Kunstwerk heraushalten; auch in rezeptionsästhetischer Hinsicht hat Winckelmann demnach ein Reinheitsideal verfochten. Eine reine Wahrnehmung des Kunstschönen konnte seinem Verständnis nach nur ein von allen Begehrlichkeiten freies, verfeinertes und distanziertes Nachempfinden der Form eines Kunstwerks garantieren: Das wahre Gefühl des Schönen gleichet einem flüßigen Gipse, welcher über den Kopf des Apollo gegossen wird, und denselben in allen Theilen berühret und umgiebt. Der Vorwurf dieses Gefühls ist nicht, was Trieb, Freundschaft und Gefälligkeit anpreißen, sondern was der innere, feinere Sinn, welcher von allen Absichten geläutert seyn soll, um des Schönen willen selbst, empfindet.23

Um schöne Kunst rein zu genießen, sollte man ungerührt bleiben, sich nicht vom Urteil Anderer beeinflussen lassen und keine kunstfernen Absichten hegen. Man sollte sich von Kunstwerken gar nicht erst aufreizen, amüsieren oder berühren lassen wollen.24 Damit unterschied Winckelmann eine von ihm präferierte, rein ästhetische Kunstkennerschaft von einer empfindsamen, an Wirkungen interessierten Kunstrezeption, die das Kunstwerk verunreinigen würde.

4.2 MORITZ´ „URSPRÜNGLICHE REINHEIT“ SCHÖNER KUNST UND IHRE VERUNREINIGUNG DURCH INDIVIDUALITÄT UND EIGENNUTZ Der Quellcode der klassischen Ästhetik lag auch den ästhetischen Schriften von Karl Philipp Moritz zugrunde, der die „ursprüngliche Reinheit“25 des Schönen als Ideal von Kunst ausgegeben hat. Anders als Winckelmann hat er Leid und Schmerz jedoch 22 Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung, S. 38. 23 Ders.: Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte derselben. In: Ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. Berlin 1968, S. 211-233, S. 217. 24 „Zum reinen Kunstgenuß gelangt nur, wer sich dem Ideal der leidenschaftsfreien, apathischen Ruhe der Seele nähert“, fasst Zumbusch (2011), S. 92 Winckelmanns rezeptionsästhetischen Gedankengang zusammen. 25 Moritz, Karl P.: Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten. In: Ders.: Werke in zwei Bänden, Bd. 2. Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer u. Albert Meier. Frankfurt am Main 1997, S. 943-949, S. 946. Im Folgenden als Moritz: Begriff des in sich selbst Vollendeten.

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nicht als unreine Zutaten beurteilt, die es aus schöner Kunst herauszuhalten gälte. Ganz im Gegenteil sollten Kunstwerke Spiegel menschlicher Leidenserfahrungen sein.26 Moritz befand dagegen alles Gemeine als aus einem Kunstwerk zu tilgende Beeinträchtigung der Schönheit. Um ein schönes Kunstwerk zu verfertigen, müsse einem Künstler eine Absonderung des „Grossen und Edlen vom Gemeinen“ 27 gelingen. Dazu sollte er handwerklich dazu in der Lage sein, die Stoffe aus ihren naturgegebenen Zusammenhängen herauszubrechen und sie auf eine Weise neu zu arrangieren, dass sie der inneren Zweckmäßigkeit des Schönen gerecht werden könnten. Das Naturschöne sollte von allem Störenden in der Natur isoliert werden, dass Kunstwerke reinster Schönheit entstünden.28 Desweiteren sollte ein Künstler sich auch unbedingt selbst von allen individuellen Eigenheiten frei machen, dass diese nicht in den Kunstwerken haften blieben und sie verunreinigten. Er sollte einen von Eigennutz, Ehrgeiz, Unzufriedenheit und Neid bereinigten Bildungstrieb besitzen. Damit hat Moritz das „bildende Genie“ 29 des Künstlers als ein überindividuelles Muster höchster Menschheit konzipiert. Es sollte sich aller Züge seiner „eingeschränkten Ichheit“ entledigt haben und „in die Gattung“ 30 übergegangen sein. Individualität trat in seiner Ästhetik mithin als ein die Schönheit verunreinigender Makel auf. Seine eigenen, zutiefst menschlichen Eigenschaften sollte ein Künstler bei der Produktion schöner Kunstwerke heraushalten. Allein die großen und edlen Züge sollte er „aus seiner Ichheit heraus[reißen]“ 31 und in das Kunstwerk hineingegeben. Übrigens dürfte er sich während des Fertigens auch noch keine „Vorstellung vom Genuß“ machen, den es bei den Rezipienten auslösen sollte; in dem Fall nämlich wäre „der Bildungstrieb gewiß nicht rein“32, beschied Moritz.

26 Vgl. Zumbusch (2011), die auf S. 98-109 nachweist, dass „Moritz´ Ästhetik auf das lebendige Leiden als Movens des Schönen angewiesen“ (S. 105) blieb und Kunst für ihn deshalb ein immunologisches Produkt „dosierter Kontamination“ (S. 109) mit menschlichen Schmerz- und Leiderfahrungen darstellte. ‒ Vgl. auch Meier, Albert: Karl Philipp Moritz. Stuttgart 2000, S. 189: „Der entscheidende Wert des Kunstschönen besteht mithin darin, das menschliche Leiden durch ästhetische, d. h. verallgemeinernde Überhöhung zu verklären: Der Schmerz, der nicht unmittelbar erlitten, sondern in seiner künstlerischen Gestaltung dargestellt wird, erscheint als Schönheit, deren höchster Reiz gerade aus dieser Beimischung existentieller Not entsteht.“ 27 Moritz, Karl P.: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Ders.: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe. Hg. von Hans J. Schrimpf. Tübingen 1962, S. 63-93, S. 83. Im Folgenden als Moritz: Bildende Nachahmung des Schönen. 28 Vgl. Brokoff (2010), S. 198, Fußnote 21: „Dass das Schöne vom Nicht-Schönen geschieden werden muss, hat eine weitreichende Konsequenz. Der Herstellungsakt, aus dem das Schöne hervorgeht, kann nur negativ gedacht werden: als Absonderung des Schönen vom Nicht-Schönen“, was „ein Akt der Reinigung“ sei. 29 Moritz: Bildende Nachahmung des Schönen, S. 77. 30 Ebd., S. 88. 31 Ders.: Die metaphysische Schönheitslinie. In: Ders.: Werke in zwei Bänden, Bd. 2. Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer u. Albert Meier. Frankfurt am Main 1997, S. 950-957, S. 951. 32 Ders.: Bildende Nachahmung des Schönen, S. 80.

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Wie in einem Kunstwerk keine gemeinen Inhalte und Rückstände der Künstlerindividualität haften bleiben durften, so durfte es auch nicht vom Eigennutz des Kunstbetrachters verunreinigt werden.33 Damit war schöne Kunst für Moritz „Ergebnis einer doppelten Reinigung“34, mit der sie aus unreinen empirischen Zusammenhängen gewöhnlichen Lebens herausgelöst und autonom35 gestellt wurde. Der Kunstbetrachter sollte seiner Meinung nach seine persönlichen Interessen, Begierden und Befindlichkeiten aus Kunstwerken heraushalten. Man dürfe „gar keine Rücksicht auf sich selber nehmen, sondern sich selbst in der Betrachtung des Schönen vergessen und verlieren“36, betonte Moritz. Nur wenn man sich als Betrachter einem schönen Gegenstand mit einer „uneigennützigen Liebe“ widmen würde, könne man „das Schöne in dem Kunstwerke“ auch „rein und unvermischt“37 genießen. Kunst sollte als etwas „in sich selbst Vollendetes“38 begriffen werden, das zwar eine „innere Zweckmäßigkeit“ besitzen würde, aber keinem „äußeren Zweck“ 39 dienen dürfe. Ein Rezipient, der ein Kunstwerk bloß zur Befriedigung seines Genussstrebens nutzte, würde hingegen keinen rein ästhetischen Eindruck erlangen können: „Das Vergnügen an dem bloß Nützlichen ist gröber und gemeiner, das Vergnügen an dem Schönen feiner und seltener. Jenes haben wir, in gewissem Verstande, mit den Thieren gemein; dieses erhebt uns über sie.“40 Nur die von Moritz eingeforderte feinsinnige, selbstvergessene Kunstbetrachtung, die man sich als eine ästhetische Einstellung „reinen und uneigennützigen Vergnügens“41 antrainieren sollte, war seiner Meinung nach dazu fähig, den „reinsten Abdruck des höchsten Schönen im vollkommensten Kunstwerk“42 in ungetrübter Weise wahrnehmen zu können. Damit hat sich auch Moritz gegen wirkungsästhetische Modelle gewandt. Implizit richtete sich seine Kritik gegen die Leser der Modeliteratur seiner Zeit, die dem damaligen Vorwurf nach bloß sinnliche Wirkungen durch das Kunstwerk erfahren wollten.43 Nicht das Kunstwerk, sondern der empfindsame Leser 33 Vgl. Brokoff (2010), der auf S. 208 schreibt: „Die Reinigung des Bildungstriebs vom Eigennutz des hervorbringenden Individuums und die Reinigung des Genusses vom Eigennutz des empfindenden Individuums sind gleichbedeutend mit der Reinigung des Schönen selbst. Das Schöne wird gleichermaßen vom eigennützigen Bildungstrieb und vom eigennützigen Genuss des Individuums gereinigt.“ 34 Zumbusch (2011), S. 102. 35 Zur Autonomieästhetik von Moritz vgl. Scheible, Hartmut: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Bern 1984, S. 190-222 u. S. 518-520. 36 Moritz, Karl P.: Die Betrachtung schöner Kunstwerke erhebt den Geist und veredelt das Gefühl [Aus: Reisen eines Deutschen in Italien, Dritter Teil]. In: Ders.: Werke in zwei Bänden, Bd. 2. Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer u. Albert Meier. Frankfurt am Main 1997, S. 755. 37 Moritz: Begriff des in sich selbst Vollendeten, S. 946. 38 Ebd., S. 949. 39 Ebd., S. 948. 40 Ebd., S. 944. 41 Ebd., S. 945. 42 Moritz, Bildende Nachahmung des Schönen, S. 85. 43 Vgl. Schulte-Sasse, Jochen: Die Kritik der Trivialliteratur seit der Aufklärung. München 1971, S. 72. Im Folgenden als Schulte-Sasse (1971).

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stand bei einer solchen Rezeption im Vordergrund. Mit der eigensinnigen Erwartung, erregt oder gerührt zu werden, konnte er nur einen getrübten Eindruck vom Schönen erlangen.44 Ein gebildeter Leser, der sich solch verunreinigtem Kunstgenuss hingeben würde, versagte Moritz´ Meinung nach moralisch; dagegen wäre mit ungebildeten Lesern, denen es an ästhetischem Urteilsvermögen mangeln würde, Nachsicht zu üben.45

4.3 SCHILLERS „IDEAL ÄSTHETISCHER REINIGKEIT“ UND DIE SCHÖNHEITSGEFÄHRDENDEN, UNREINEN WIRKUNGEN Auch Friedrich Schiller hat die Reinheit ins Zentrum seiner ästhetischen Überlegungen gerückt und von „Quellen“ schöner Kunst gesprochen, die sich „bey aller politischen Verderbniß rein und lauter erhalten“ 46 hätten. Mit der von ihm erwähnten „absoluten Immunität von der Willkühr der Menschen“47 postulierte er eine Freiheit der Kunst, die von politischer Inanspruchnahme und Repression, aber auch von den zahlreichen sonstigen Unzulänglichkeiten und Zwängen alltäglichen Lebens unabhängig wäre. Damit hat er eine an „unsterblichen Mustern“48 orientierte ‚reine‘ Kunst von einer ‚unreinen‘ Gegenwart unterschieden. Wie bei Winckelmann entsprangen die Quellen der reinen Ästhetik in der griechischen Antike. 4.3.1 Die Reinigung der unreinen Gegenwart durch den dämonischen Künstler Schillers reinen Ästhetik lagen anthropologische und geschichtsphilosophische Gedanken zugrunde.49 Auch für ihn war das alte Griechenland eine ideale Sphäre50, in der sich die Triebkräfte der Menschen noch harmonisch zueinander verhalten hätten: „Damals bey jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigenthum; denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, mit einander feindselig abzutheilen, und ihre Markung zu bestimmen.“51 In diesem glücklichen Zustand hätten sich die Antagonismen wie Gefühl und Verstand

44 45 46 47 48 49

Vgl. ebd., S. 64. Vgl. ebd. Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 332. Ebd., S. 333. Ebd. Vgl. Cadete, Teresa: Schillers Ästhetik als Synchronisierung seiner anthropologischen und historischen Erkenntnisse. In: Weimarer Beiträge 37 (1991), H. 6, S. 839-852. 50 Zu Schillers differenziertem Verständnis Griechenlands als einer zwar idealen, doch unwiederbringlich vergangenen Sphäre vgl. Haupt, Johannes: Geschichtsperspektive und Griechenverständnis im ästhetischen Programm Schillers. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 407-430. 51 Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 321.

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sowie Stofftrieb und Formtrieb noch „in einer herrlichen Menschheit vereinigen“ 52 können, so dass die Menschen die Schönheit noch ungetrübt erfahren konnten. Dieser Zustand sei allerdings aufgrund der wissenschaftlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Differenzierung und der dadurch entstandenen Komplexität des Lebens verloren gegangen: Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte nothwendig machte, so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweyte ihre harmonischen Kräfte.53

Als unbedeutender Faktor größerer Systeme würde sich ein Mensch nun nicht mehr harmonisch vervollkommnen können: Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. 54

Ein Künstler stand damit vor dem Problem, dass er in der Gegenwart, in die er eingebunden war, keine reinen ästhetischen Vorstellungen erlangen konnte, wie er sie benötigte, um schöne, von der Realität unbeeinflusste Kunstwerke zu gestalten: Es läßt sich, wie ich denke, beweisen, daß unser Denken und Treiben, unser bürgerliches, politisches, religiöses, wissenschaftliches Leben und Wirken wie die Prosa der Poesie entgegengesetzt ist. Diese Uebermacht der Prosa in dem Ganzen unsres Zustandes ist, meines Bedünkens, so groß und so entschieden, daß der poetische Geist, anstatt darüber Meister zu werden, nothwendig davon angesteckt und also zu Grunde gerichtet werden müßte. Daher weiß ich für den poetischen Genius kein Heil, als daß er sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzieht und anstatt jener Coalition, die ihm gefährlich sein würde, auf die strengste Separation sein Bestreben richtet. Daher scheint es mir gerade ein Gewinn für ihn zu sein, daß er seine eigne Welt formiret und durch die Griechischen Mythen der Verwandte eines fernen, fremden und idealischen Zeitalters bleibt, da ihn die Wirklichkeit nur beschmutzen würde. 55

Von seinem ästhetischen Standpunkt aus galt Schiller die empirische Wirklichkeit explizit als schmutzig. Da ein Künstler aus ihr nur defizitäre und disharmonische Eindrücke gewinnen konnte, beeinträchtigte sie die Existenz einer möglichst reinen schönen Kunst.

52 53 54 55

Ebd. Ebd., S. 322-323. Ebd., S. 323. Ders.: Brief an Johann Gottfried Herder, 04.09.1795. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 28. Briefwechsel. Schillers Briefe 1.7.1795 - 31.10.1796. Hg. von Norbert Oellers. Weimar 1969. S. 97-99, S. 98.

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Aus dem Grund sollte der von Schiller konzipierte „poetische Genius“ von der Prosa der Gegenwart gänzlich unbeeindruckt bleiben und sich zu diesem Zweck aus dem gesellschaftlichen Leben herauslösen. In physischem Sinne müsse er ein „Sohn seiner Zeit“ bleiben, „aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist.“56 Stattdessen sollte er sich in geistiger Hinsicht von seiner Zeit emanzipieren und ihr fremd werden. Hinter dieser Autorkonzeption verbirgt sich eine gegen die Gegenwart gerichtete Radikalität: Eine wohlthätige Gottheit reisse den Säugling bey Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters, und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen. 57

Mit dem gewaltsamen Charakter Orests ausgestattet, der seine Mutter Klytaimnestra getötet hat, sollte der Kunstschaffende die mit Schmutz assoziierte Gegenwart säubern. Zumbusch schreibt dazu: „Wie die Gewaltphantasie des Künstlers als Muttermörder impliziert, soll die Kunst sich gegen das richten, was sie selbst hervorgebracht hat.“58 Das für diese gewaltsame Reinigung der Gegenwart notwendige Prinzip reiner Ästhetik sollte ein Künstler mit der im Zitat erwähnten idealischen „Milch eines bessern Alters“ in sich aufgenommen haben; laut Schiller würde es nunmehr zur „absoluten, unwandelbaren Einheit seines Wesens“ 59 gehören: „Hier aus dem reinen Aether seiner dämonischen Natur rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangesteckt von der Verderbniß der Geschlechter und Zeiten, welche tief unter ihr in trüben Strudeln sich wälzen.“60 Schiller selbst hoffte, dass er durch „langes Studieren und Streben“ in die Lage versetzt würde, ein gänzlich reines Kunstwerk gestalten zu können. Um eine idyllische „Scene im Olymp darzustellen“, sollte sein „Gemüth nur erst ganz frey und von allem Unrath der Wirklichkeit recht rein gewaschen“61 sein. Wie aber sollte der rein ästhetisch inspirierte Künstler die Gegenwart von Schmutz und Unrat reinigen können? Mittel dazu sollte ihm die Kunst sein, mit der er die Gedanken der Menschen „zum Notwendigen und Ewigen erheb[en]“ 62 könne. Soweit ein „Freund der Wahrheit und Schönheit“ seinem „edeln Trieb in seiner Brust, bey allem Widerstande des Jahrhunderts, Genüge“ leisten und der Welt, auf die er wirken wolle, „die Richtung zum Guten“ geben würde, würde „der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen“63, war Schiller überzeugt. Beinahe 56 57 58 59 60 61

Ders.: Ästhetische Erziehung, S. 333. Ebd. Zumbusch (2011), S. 135. Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 333. Ebd., S. 333-334. Ders.: Brief an Wilhelm von Humboldt, 29.11.1795. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 28. Briefwechsel. Schillers Briefe 1.7.1795 - 31.10.1796. Hg. von Norbert Oellers. Weimar 1969. S. 115-122, S. 120. 62 Ders.: Ästhetische Erziehung, S. 335. 63 Ebd.

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scheint es so, als habe er damit eine wirkungsästhetische Logik eingefügt, von der er sich in seinen ästhetischen Schriften stets klar abgegrenzt hat (vgl. Kap. 4.3.2); indem er aber nicht der schönen Kunst, sondern der Zeit die aktive Rolle zusprach, gestand er Ersterer bloß indirekte Wirkungen zu. Trotz aller Abneigung gegen die unreine Gegenwart ist Schillers Idealismus von einem der Aufklärung entlehnten, geschichtsphilosophischen Optimismus bestimmt gewesen, wonach die Menschen durch Kunst aufgeklärt werden könnten. Dem auf moralische Belehrung setzenden Konzept von Aufklärung, mit dem man bloß „auf bestimmte und beschleunigte Wirkungen dringt“64, stellte er seine Idee ästhetischer Erziehung als die nachhaltigere Alternative entgegen. 4.3.2 Die Tilgung unreiner Wirkstoffe und das Ideal einer „rein ästhetischen Wirkung“ Anders als bei Winckelmann war schöne Kunst für Schiller kein Produkt einer ausnahmslosen Eliminierung, sondern Ergebnis einer Immunisierung des Kunstwerks durch die Beifügung potentiell unreiner Stoffe.65 Er beschied, dass Schönheit „nicht in der Ausschließung gewisser Realitäten, sondern in der absoluten Einschließung aller“66 bestünde. Alle, auch die als unrein erachteten Wirklichkeitsaspekte, durften demnach zum Inhalt schöner Kunst gemacht werden. Dieser Gedanke basierte auf einer von Carsten Zelle so genannten „Ausgleichsästhetik“67, wonach sich der dargestellte Stoff mit der Form eines Kunstwerks „so rein und vollständig“ 68 verbinden sollte, dass sich beide Aspekte in einer „reinen ästhetischen Einheit“69 auflösen wür-

64 Ebd. 65 Dies hat Zumbusch (2011) in ihrer Studie zur Immunität der Klassik zeigen können: Schiller hat, wie auch Moritz und Goethe, Techniken „strategischen Einschlu[sses]“ (S. 18) unreiner Elemente in den Bereich der Kunst konzipiert. Durch solche Infusionen haben die Klassiker die Idee einer Reinheit der Kunst keineswegs aufgegeben. Den nicht mehr nur ausschließenden Umgang mit vermeintlich unreinen Stoffen habe die aus der Medizin stammende Denkfigur der „Immunität“ begünstigt. Der im 18. Jahrhundert noch neue und bei vielen Aufklärern umstrittene Gedanke, dass Immunität durch Impfungen erzeugt werden könne, habe zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel geführt: „Wie Mary Douglas gezeigt hat, reagieren Gemeinschaften auf Krisen der symbolischen Ordnung mit der forcierten Unterscheidung zwischen Reinheit und Unreinheit. Gegen eine als ansteckend imaginierte Unreinheit geht man in rituellen und kultischen Kontexten mit Waschungen und Reinigungsritualen vor oder errichtet Tabus und Berührungsverbote. Das Immunisierungsgebot moderner Gesellschaften hingegen besagt, daß sie ihren Schutz nicht durch den rigiden Ausschluß jeder Gefährdung, sondern nur durch deren strategischen Einschluß bewerkstelligen“ (S. 18). 66 Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 367. 67 Zelle, Carsten: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In: Luserke-Jaqui, Matthias (Hg.): Schiller-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2005, S. 409-445, S. 433. 68 Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 367. 69 Ebd., S. 368.

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den. Bei der „völlig reinen Vereinigung“70, die bei der Herstellung eines „wahrhaft schönen Kunstwerk[s]“ zustande kommen sollte, „soll der Inhalt nichts, die Form aber alles thun“71, so Schiller. Den Inhaltsstoffen sollten die Wirkungen entzogen werden. Wenn Schiller schrieb, dass es „das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters [wäre], daß er den Stoff durch die Form vertilgt“ 72, dann meinte er damit nicht, dass durch die formale Gestaltung des Kunstwerks die Inhalte eliminiert werden sollten. Die formale Gestaltung sollte allerdings die Wirkungen jener Inhalte neutralisieren. Mehrfach hat Schiller betont, dass auf diese Weise alle Stoffe unabhängig ihrer jeweiligen Wirkkraft darstellbar wären; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphirender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet.73

Um die ästhetisch verunreinigend wirkende Vitalität eines Stoffes aufzulösen, sollte ein Künstler die dazu notwendigen, ausgleichenden Kunstgriffe beherrschen. Die „Darstellung der bloßen Passion (sowohl der wollüstigen als der peinlichen)“ durfte nicht ohne eine auf sie bezogene „Darstellung der übersinnlichen Widerstehungskraft“74 geschehen; Leidenschaften sollten also durch die Gegenkraft der Vernunft ruhiggestellt werden. Selbst der „frivolste Gegenstand“ müsse in einer Weise „behandelt werden, daß wir aufgelegt bleiben, unmittelbar von demselben zu dem strengsten Ernste überzugehen. Der ernsteste Stoff muß so behandelt werden, daß wir die Fähigkeit behalten, ihn unmittelbar mit dem leichtesten Spiele zu vertauschen.“75 Zur Gestaltung geistferner, von Zwängen bestimmter, „gemeiner Wirklichkeit“ wäre eine „geistreiche und ästhetisch freie Behandlung“76 derselben vonnöten. Noch unterhalb des Gemeinen verortete Schiller das Niedrige, welches von jenem darinn unterschieden ist, daß es nicht bloß etwas negatives, nicht bloß Mangel des Geistreichen und Edeln, sondern etwas positives, nämlich Roheit des Gefühls, schlechte Sitten und verächtliche Gesinnungen anzeigt. Das Gemeine zeugt bloß von einem fehlenden Vorzug, der sich wünschen läßt, das Niedrige von dem Mangel einer Eigenschaft, die von jedem gefordert werden kann.77

70 71 72 73 74

Ebd., S. 367. Ebd., S. 382. Ebd. Ebd. Ders.: Ueber das Pathetische. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20. Philosophische Schriften, 1. Teil. Hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 196-221, S. 201. Im Folgenden als Schiller: Ueber das Pathetische. 75 Ders.: Ästhetische Erziehung, S. 382. 76 Ebd., S. 386, Fußnote. 77 Ders.: Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20. Philosophische Schriften, 1. Teil. Hg. von Benno von

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Auch angesichts des Niedrigen hielt er an den Prämissen seiner Ausgleichsästhetik fest. Sofern es in Komödien „Lachen erregen“78 oder in Tragödien „von einer höhern tragischen Wirkung gleichsam verschlungen“79 würde, könne es der Kunst in Ausnahmefällen erlaubt werden. Ein Künstler sollte allerdings achtgeben, dass das Dargestellte durch die unstatthafte Vermischung des ‚Niedrigen‘ mit dem auf „feinere Sitten“ abgestellten ‚Hohen‘ keinen „Unwillen oder Eckel“ 80 auslöst. Hierauf wird zurückzukommen sein (vgl. Kap. 4.3.4). Durch den gelungenen Ausgleich gegensätzlicher Kräfte ließen sich alle denkbaren Realitäten darstellen. Hierzu müsste es ein Künstler verstehen, die verwendeten Rohstoffe von gröbern, wenigstens fremdartigen Beimischungen, zu befreien, die in mehrern Gegenständen zerstreuten Strahlen von Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln, einzelne, das Ebenmaß störende Züge der Harmonie des Ganzen zu unterwerfen, das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben.81

Alle die Form des Kunstwerks störenden groben und disharmonischen sowie individuellen und lokalen Züge sollten bereinigt werden. Außerdem sollte ein Künstler stets auch seine eigenen Befindlichkeiten und Emotionen aus ihm heraushalten, da auch sie es verunreinigen würden. Nur wenn dem Künstler all diese auf die Neutralisierung von Wirkungen abstellenden Prozeduren gelängen, könne ein Betrachter des gestalteten Objekts „völlig frey und unverletzt bleiben“ und würde „aus dem Zauberkreise des Künstlers rein und vollkommen wie aus den Händen des Schöpfers gehn.“82 Da Schillers Verständnis nach außerästhetische Wirkungen schöne Kunst verunreinigen würden, gäbe es „keinen sicherern Probierstein der wahren ästhetischen Güte“ als „die Stimmung, in der uns ein ächtes Kunstwerk entlassen soll“; im Idealfall sollte es im Betrachter eine „hohe Gleichmüthigkeit und Freyheit des Geistes“ 83 hinterlassen: Finden wir uns nach einem Genuß dieser Art zu irgend einer besondern Empfindungsweise oder Handlungsweise vorzugsweise aufgelegt, zu einer andern hingegen ungeschickt und verdrossen, so dient dieß zu einem untrüglichen Beweise, daß wir keine rein ästhetische Wirkung erfahren haben; es sey nun, daß es an dem Gegenstand, oder an unserer Empfindungsweise oder (wie fast immer der Fall ist) an beyden zugleich gelegen habe. 84

78 79 80 81

82 83 84

Wiese. Weimar 1962, S. 241-247, S. 242. Im Folgenden als Schiller: Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen. Ebd., S. 243. Ebd., S. 244. Ebd., S. 243. Schiller, Friedrich: Über Bürgers Gedichte. In: Ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 22. Vermischte Schriften. Hg. von Herbert Meyer. Weimar 1958, S. 245-264, S. 253. Im Folgenden als Schiller: Bürgers Gedichte. Ders.: Ästhetische Erziehung, S. 382. Ebd., S. 380. Ebd.

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Kunstwerke, die mit der Intention gestaltet worden sind, die Betrachter zu erregen oder zu Handlungen zu motivieren, verstießen aufgrund ihrer Effekthaltigkeit gegen das Prinzip reiner Ästhetik und müssten das Attribut der Schönheit einbüßen. Angesichts dessen hat sich Schiller gegen eine Kunst ausgesprochen, die „zu vergnügen streben“85 würde. So könne es zwar eine sie zum Gegenstand nehmende, „schöne Kunst der Leidenschaft“, aber keine „leidenschaftliche Kunst“ geben, da diese „ein Widerspruch“ wäre, „denn der unausbleibliche Effekt des Schönen ist Freyheit von Leidenschaften.“86 Gleichsam dürfe schöne Kunst keine belehrenden oder moralisierenden Wirkungen aufweisen, die für Schiller ebenfalls nicht mit dem ästhetischen Reinheitsgebot kompatibel wären: „denn nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüth eine bestimmte Tendenz zu geben.“87 Von einem Kunstwerk sollte demnach bloß ein „ästhetischer Schein“ ausgehen, „der weder Realität vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht.“88 Der von der Wirklichkeit unabhängige, rein ästhetische Schein sollte die Autonomie schöner Kunst garantieren: Nur, soweit er aufrichtig ist, (sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich lossagt) und nur, soweit er selbständig ist, (allen Beystand der Realität entbehrt), ist der Schein ästhetisch. Sobald er falsch ist und Realität heuchelt, und sobald er unrein und der Realität zu seiner Wirkung bedürftig ist, ist er nichts als ein niedriges Werkzeug zu materiellen Zwecken, und kann nichts für die Freyheit des Geistes beweisen. 89

Jegliche Interdependenzen von schöner Kunst und empirischer Wirklichkeit verunreinigten Schillers Vorstellungen nach den „reinen Schein“90 eines Kunstwerks. 4.3.3 Die „uninteressierte Schätzung des reinen Scheins“ und die unreine Kunstrezeption Allerdings war Schiller der Meinung, dass sich die „Vortrefflichkeit eines Kunstwerks“ aufgrund rezeptionsästhetischer Barrieren „bloß in seiner größern Annäherung zu jenem Ideale ästhetischer Reinigkeit“ 91 herstellen ließe. Ein Betrachter könne niemals gänzlich „aus der Abhängigkeit der Kräfte“ des empirischen Lebens heraustreten, weshalb es undenkbar wäre, dass er jemals eine vollkommen „rein ästhetische Wirkung“92 erfahren könne. Trotzdem hielt er an der rezeptionsästhetischen Forderung nach einer möglichst reinen Kunstwahrnehmung fest. Ein Betrachter schöner Kunst müsse eine möglichst hohe „Gleichgültigkeit gegen Realität“ aufbringen und ein „Interesse am Schein“93 des Kunstwerks zeigen. Nur durch die alleinige Wahr85 86 87 88 89 90 91 92 93

Ebd., S. 333. Ebd., S. 382. Ebd. Ebd., S. 403. Ebd., S. 402. Ebd. Ebd., S. 380. Ebd. Ebd., S. 399.

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nehmung des ästhetischen Scheins könne es ihm gelingen, „die andringende Materie von sich zu halten.“94 Dem möglichst „reinen ästhetischen Gefühl“ eines Kunstbetrachters dürfe demnach „das Lebendige nur als Erscheinung, auch das Wirkliche nur als Idee gefallen“95. Damit forderte Schiller eine nicht-sinnliche Wahrnehmung sinnlicher Realität. Die Vitalität des Lebens galt ihm aufgrund seiner Aufdringlichkeit als ästhetische Unreinheit, von welcher der Rezipient eines Kunstwerks unbedingt absehen sollte. Stattdessen müsse er „in dem Lebendigen selbst nur den reinen Schein […] empfinden“; aus dem Grund wäre es „gar nicht nöthig, daß der Gegenstand, an dem wir den schönen Schein finden, ohne Realität sey, wenn nur unser Urtheil darüber auf diese Realität keine Rücksicht nimmt; denn soweit es diese Rücksicht nimmt, ist es kein ästhetisches.“96 Was Schiller vom Rezipienten forderte, war die „uninteressierte freie Schätzung des reinen Scheins“97, die kein Interesse an den diversen Wirkstoffen eines Kunstwerks besitzen sollte. Insofern sollte ein Rezipient von einem Zustand größtmöglicher innerer Ruhe bestimmt sein, der ihn über die eigenen Gefühle und Affekte erhaben machen würde. Vom Zuschauer eines Theaterstücks forderte Schiller somit einen vernunftgelenkten und gefassten, „edeln und männlichen Geschmack“, der sich nicht als ein überwältigter, „bis ins thierische gehender Ausdruck der Sinnlichkeit“98 zeigen dürfte. Er sollte „nicht selbst sondern bloß sympathetisch leiden“ 99, die dargestellten Leidenschaften also nicht an sich heranlassen. Damit wandte sich auch Schiller gegen empfindsamen Literatur- und Kunstkonsum100, den er als unmännlich erachtete. Gleichsam richtete er sich aber auch gegen die Erwartungshaltung, von Kunst politisch oder moralisch unterwiesen zu werden. Derjenige, der Kunstwerke „entweder bloß mit dem Verstand oder bloß mit den Sinnen“ an sich heranließe, würde sich bey dem glücklichsten Ganzen nur an die Theile und bey der schönsten Form nur an die Materie halten. Nur für das rohe Element empfänglich, muß er die ästhetische Organisation eines Werks erst zerstören, ehe er einen Genuß daran findet, und das Einzelne sorgfältig aufscharren, das der Meister mit unendlicher Kunst in der Harmonie des Ganzen verschwinden machte. Seine [sic] Interesse daran ist schlechterdings entweder moralisch oder physisch, nur gerade, was es seyn soll, ästhetisch ist es nicht.101

94 95 96 97 98 99

Ebd. Ebd., S. 402. Ebd. Ebd., S. 405. Ders.: Ueber das Pathetische, S. 200. Ders.: Vom Erhabenen. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20. Philosophische Schriften, 1. Teil. Hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 171-195, S. 192. 100 „Die subjekttheoretischen Konsequenzen von Schillers Ästhetik des Schönen sind denen der Empfindsamkeit diametral entgegengesetzt“, so Welsh, Caroline: Von der Ästhetik der Rührung zur Autonomieästhetik. Physiologie und Ästhetik bei Kant und Schiller. In: Guthmüller, Marie u. Klein, Wolfgang (Hgg.): Ästhetik von unten. Empirie und ästhetisches Wissen. Tübingen 2006, S. 113-139, S. 133. ‒ Vgl. außerdem Schulte-Sasse (1971), S. 87-91. 101 Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 383.

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Wer Kunstwerke betrachtete, um belehrt oder sinnlich gereizt zu werden, der verfiel Schillers Verständnis nach einer nicht-ästhetischen Rezeptionsweise und würde deshalb selbst von den gelungensten Kunstwerken verunreinigte Wirkungen empfangen. 4.3.4 Reinigung des getrübten Volksgeschmacks und Kritik unrein wirkender Literatur Je ausgebildeter der gute Geschmack eines Menschen wäre, desto reiner könne er Kunstwerke rezipieren. Der Geschmack des Volkes galt Schiller aufgrund des ungeübten ästhetischen Gefühls, der mangelhaften Verstandesbildung und der noch nicht verfeinerten sittlichen Triebe als getrübt und der Aufklärung bedürftig. Aus dem Grund hielt er es auch nicht für geraten, dass sich ein Dichter, der das einfache Volk erreichen wollte, bloß „der Fassungskraft des großen Haufens“ anpassen sollte, womit er zwangsläufig „auf den Beifall der gebildeten Klasse“ 102 verzichten würde. Ziel müsse es sein, „den ungeheuren Abstand, der zwischen beiden sich befindet, durch die Größe seiner Kunst aufzuheben“ und Kunstwerke zu schaffen, die dem anspruchsvollen „Geschmack des Kenners“ entsprechen würden, ohne dabei für den „großen Haufen ungenießbar“103 zu werden. Keinesfalls dürfe „von den höchsten Forderungen der Kunst etwas nachgelassen werden“ 104, was bedeutete, dass auch ein Volksdichter in seinen Werken „idealische Reinheit und Vollendung“ anstreben sollte, „die allein den guten Geschmack befriedigt.“ 105 Niemals dürfe sich ein „in die Mysterien des Schönen, Edlen und Wahren“ eingeweihter Poet, der „zu dem Volke bildend herniedersteigt“, dessen unausgebildetem Geschmack unterwerfen und damit seine eigene, „himmlische Abkunft verleugne[n]“106, so Schiller. Wenn sich ein talentierter Dichter dem Volk „gleich zu machen“ versuchte, würde er sich mit ihm vermischen und es könne ihm folglich nicht mehr gelingen, „es scherzend und spielend zu sich hinaufzuziehen“107. Die hier eingeforderte Wahrung sozialer Distinktion stand damit durchaus in der Tradition der Aufklärung.108 Der sich an das Volk wendende Künstler sollte mit seinen Werken die Herzen des Volks an ihrer weichsten und bildsamsten Seite fassen, durch das geübte Schönheitsgefühl den sittlichen Trieben eine Nachhülfe geben und das Leidenschaftsbedürfnis, das der Alltagspoet so geistlos und oft so schädlich befriedigt, für die Reinigung der Leidenschaft nutzen. Als der aufgeklärte, verfeinerte Wortführer der Volksgefühle würde er dem hervorströmenden, Sprache suchenden Affekt der Liebe, der Freude, der Andacht, der Traurigkeit, der Hoffnung u.a. m. einen reinern und geistreichern Text unterlegen; er würde, indem er ihnen den 102 103 104 105 106 107 108

Ders.: Bürgers Gedichte, S. 248. Ebd. Ebd., S. 250. Ebd., S. 257. Ebd., S. 250. Ebd. Vgl. Wolf, Norbert Chr.: „Der schmutzige Witz des Herrn Blumauer“. Schiller und die Marginalisierung populärer Komik aus dem josephinischen Wien. In: Schmidt-Dengler, Wendelin; Sonnleitner, Johann u.a. (Hgg.): Komik in der österreichischen Literatur. Berlin 1996, S. 56-87, S. 70. Im Folgenden als Wolf (1996).

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Ausdruck lieh, sich zum Herrn dieser Affekte machen und ihren rohen, gestaltlosen, oft tierischen Ausbruch noch auf den Lippen des Volks veredeln. 109

Zum Zweck der Aufklärung und Veredlung sollte es auch ein Volksdichter unterlassen, mit seinen Werken moralisch zu belehren oder die Sinne der Leser aufreizen zu wollen. Weil er in seinen Gedichten das Idealisieren vernachlässigt habe und bloß das „Leidenschaftsbedürfnis“ befriedigen wollte, griff Schiller Gottfried August Bürger an. Die Texte von ihm wären ein „Zusammenwurf von Bildern“, deren üppige[r] Farbenwechsel auf den ersten Anblick hinreißt und blendet, Leser besonders, die nur für das Sinnliche empfänglich sind und, den Kindern gleich, nur das Bunte bewundern. Aber wie wenig sagen Gemälde dieser Art dem verfeinerten Kunstsinn, den nie der Reichthum, sondern die weise Oekonomie, nie die Materie, nur die Schönheit der Form, nie die Ingredienzien, nur die Feinheit der Mischung befriedigt!110

Demnach hat Bürger Schillers Verständnis nach gegen das ausgleichende Prinzip reiner Ästhetik verstoßen und den Stoff nicht hinreichend „durch die Form vertilgt“111 (vgl. Kap. 4.3.2). Insbesondere habe es Bürger unterlassen, seine „Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern“, weshalb er den ästhetischen Eindruck seiner Gedichte mit den Spuren seiner eigenen Befindlichkeiten beeinträchtigt habe. Wenn er Leidenschaften darstellen wollte, dürfe ein Künstler, da er sie „uns schön versinnlichen“ solle, „niemals unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affekts“112 stehen, beschied Schiller. Bemerkenswert ist, dass er bei seinem Angriff gegen Bürger nicht auf die Semantik des Schmutzes zurückgegriffen hat, obwohl er ihm einen Verstoß gegen das Prinzip reiner Ästhetik vorhielt. Bei Aloys Blumauer war das anders. Den österreichischen Schriftsteller bezichtigte er nicht nur, mit satirischen Schriften gegen das Prinzip „ächten Geschmacks“113 verstoßen, sondern auch einen „schmutzigen Witz“ 114 salonfähig gemacht zu haben. Blumauer war mit einer travestierten Aeneis und derbsatirischen Gedichten wie der Ode an den Leibstuhl bekannt geworden. Der „skatologische Humor sowie die Frivolität“115 jener Texte mag Schiller dazu verleitet haben, Blumauer im Gegensatz zu Bürger explizit mit Schmutz in Verbindung zu bringen. Während Schiller Bürger vor allem kritisierte, weil dieser in seinen Augen das Idealisieren unterlassen hat, dürfte er Blumauer angegriffen haben, weil dieser aktiv gegen das Prinzip reiner Ästhetik verstoßen: nämlich die „Wahrheit und Schönheit“ der 109 110 111 112 113

Schiller: Bürgers Gedichte, S. 249. Ebd., S. 253. Ders.: Ästhetische Erziehung, S. 382. Ders.: Bürgers Gedichte, S. 256. Schiller, Friedrich: Ueber naive und sentimentalische Dichtung. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20. Philosophische Schriften, 1. Teil. Hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 413-503, S. 461. Im Folgenden als Schiller: Naive und sentimentalische Dichtung. 114 Ebd., Fußnote. 115 Wolf (1996), S. 82.

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Kunst willentlich „in die Tiefen gemeiner Menschheit hinab[ge]tauch[t]“116 habe. Wenn Blumauer in seiner Ode an den Leibstuhl feine Damen, Majestäten, weise Männer und Dichter auf die Toilette setzte und es „krachen“117 ließ, dürfte das für Schillers Geschmack eine unstatthafte Vermischung von ‚Niedrigem‘ und ‚Hohem' gewesen sein, durch die das ‚Hohe‘ allzu sehr herabqualifiziert würde: Niedrig behandelt man einen Gegenstand, wenn man entweder diejenige Seite an ihm, welche der gute Anstand verbergen heißt, bemerklich macht, oder wenn man ihm einen Ausdruck gibt, der auf niedrige Nebenvorstellungen leitet. In dem Leben des größten Mannes kommen niedrige Verrichtungen vor, aber nur ein niedriger Geschmack wird sie herausheben und ausmalen. 118

Wie erwähnt, wies Schiller darauf hin, dass die Darstellung des Niedrigen in Tragödien oder Komödien unter gewissen Ausnahmebedingungen doch möglich wäre (vgl. Kap. 4.3.2). Wichtig war es ihm, dass der „Sinn für Anstand und Schicklichkeit“119 nicht verletzt werde. Um den „Kontrast zwischen den Sitten der feinen Welt und des Pöbels“ abzubilden, dürften in Parodien in Ausnahmefällen durchaus „Gesinnungen, Redensarten und Verrichtungen des gemeinen Pöbels denselben vornehmen Personen untergeschoben werden, die der Dichter mit aller Würde und Anstand behandelt hat.“120 Personen hingegen, „von denen wir berechtigt sind, feinere Sitten zu fordern“121, dürften nicht mit dem Niedrigen in Verbindung gebracht werden, da dies Unwillen erzeugen würde. Die literarische Darstellung feiner Damen bei ‚niedrigen Verrichtungen‘ dürfte Schillers Verständnis nach wohl in diese Kategorie gefallen sein.122 Jedenfalls sah sich Schiller berechtigt, vom „schmutzigen Witz des Herrn Blumauer“ zu sprechen und seinem Kollegen vorzuwerfen, „weder Talent noch Laune […] gereiniget“123 zu haben.

116 Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 333. 117 Blumauer, Aloys: Ode an den Leibstuhl. In: Ders.: Gesammelte Werke. Einzig vollständige und rechtmäßige, mit den Gesetzen des deutschen Bundes conforme neueste Gesamtausgabe, Bd. 3. Stuttgart 1841, S. 167-169. Darin heißt es auf S. 167 u.a.: „Erhaben setzt, wie auf den Sitz der Götter, / Der Weise sich auf dich, / Sieht stolz herab, und läßt das Donnerwetter / Laut krachen unter sich.“ ‒ Zu Blumauer vgl. neben Wolf (1996): Eybl, Franz M.; Frimmel, Johannes; Kriegleder, Wynfried (Hgg.): Aloys Blumauer und seine Zeit. [=Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 21 (2006)]. Bochum 2007. ‒ Becker-Cantarino, Bärbel: Aloys Blumauer and the Literature of Austrian Enlightenment. Bern u.a. 1973. 118 Schiller: Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen, S. 242-243. 119 Ebd., S. 242. 120 Ebd., S. 243. 121 Ebd. 122 Auch die „mythologische Figur des Aeneas, ja der gesamte ‚hohe‘ Stoff des Vergilschen Epos eignet sich demnach keineswegs für eine Travestierung im ‚niedrigen‘, burlesken Stil“, wie sie Blumauer verfasst hat, deutet Wolf (1996), S. 84 Schillers Standpunkt. 123 Schiller: Naive und sentimentalische Dichtung, S. 461, Fußnote.

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4.4 GOETHES DIÄTETISCHE „IDEE DES REINEN“ UND DIE EINDÄMMUNG UNREINER AFFEKTE ‚Reinheit‘ war für Johann Wolfgang von Goethe seit seiner Ankunft in Weimar im Herbst 1775 zentraler Bestandteil seiner diätetischen Lebensauffassung, mit der er sein Leben geordneter und zweckmäßiger gestalten wollte. 124 Eine Tagebucheintragung vom 7. August 1779 gibt darüber Aufschluss: Zu Hause aufgeräumt, meine Papiere durchgesehen und alle alten Schaalen verbrannt. Andre Zeiten andre Sorgen. Stiller Rückblick aufs Leben, auf die Verworrenheit, Betriebsamkeit Wissbegierde der Jugend, wie sie überall herumschweift um etwas befriedigendes zu finden. Wie ich besonders in Geheimnissen, dunklen Imaginativen Verhältnissen eine Wollust gefunden habe. Wie ich alles Wissenschafftliche nur halb angegriffen und bald wieder habe fahren lassen, wie eine Art von demütiger Selbstgefälligkeit durch alles geht was ich damals schrieb. Wie kurzsinnig in Menschlichen und göttlichen Dingen ich mich umgedreht habe. Wie des Thuns, auch des Zweckmäsigen Denckens und Dichtens so wenig, wie in zeitverderbender Empfindung und Schatten Leidenschafft gar viel Tage verthan, wie wenig mir davon zu Nuz kommen und da die Hälfte nun des Lebens vorüber ist, wie nun kein Weeg zurückgelegt sondern vielmehr ich nur dastehe wie einer der sich aus dem Wasser rettet und den die Sonne anfängt wohlthätig abzutrocknen. Die Zeit dass ich im Treiben der Welt bin seit 75 Oktbr. getrau ich noch nicht zu übersehen. Gott helfe weiter. und gebe Lichter, dass wir uns nicht selbst so viel im Weege stehn. Lasse uns von Morgen zum Abend das gehörige thun und gebe uns klare Begriffe von den Folgen der Dinge. Dass man nicht sey wie Menschen die den ganzen Tag über Kopfweh klagen und gegen Kopfweh brauchen und alle Abend zu viel Wein zu sich nehmen. Möge die Idee des reinen die sich bis auf den Bissen erstreckt den ich in Mund nehme, immer lichter in mir werden.125

Mit Praktiken des Ordnens und Maßhaltens, der Ruhe und Entsagung beabsichtigte Goethe, seine eigene Unstetigkeit und Ziellosigkeit, seine ‚Vergnügungssucht‘ und leidenschaftlichen Affekte unter Kontrolle zu bringen. Die im Zitat erwähnte „Idee des [R]einen“ sollte die „dunklen“, vermeintlich unreinen Triebkräfte seines Lebens eindämmen helfen. In diesem Sinn bildete sie auch die Basis seines ästhetischen Verständnisses. So sollte ein Künstler, der die manieristische Darstellungsweise überwinden wollte, bestrebt sein, sich der Unruhe zu enthalten, die ihn in seinem Alltag anzugreifen drohte. Er müsse „still, in sich gekehrt und in einem mäßigen Genuß genügsam

124 Vgl. Zumbusch (2011), S. 230-270; sie bezieht sich u.a. auf Beck, Adolf: Der „Geist der Reinheit“ und die „Idee des Reinen. Deutsches und Frühgriechisches in Goethes Humanitätsideal. In: Ders.: Forschung und Deutung. Frankfurt am Main u.a. 1966, S. 69-118. ‒ Zur Diätetik im literarischen Werk Goethes vgl. Egger, Irmgard: Diätetik und Askese. Zur Dialektik der Aufklärung in Goethes Romanen. München 2001. 125 Goethe, Johann W. von: Tagebucheintrag, 07.08.1779. In: Ders.: Sämtliche Werke, II. Abt., Bd. 2. Das erste Weimarer Jahrzehnt. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 7. November 1775 bis 2. September 1786. Hg. von Hartmut Reinhardt. Frankfurt am Main 1997, S. 183-184.

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sein“126, um bei der einfachen Nachahmung der Natur seine Befindlichkeiten aus der Kunst, die er zu schaffen beabsichtigte, herauszuhalten. Wenn er „durch genaues und tiefes Studium“ einen eigenen Stil ausbilden und zum „höchste[n] Grad“ der künstlerischen Darstellung gelangen wollte, bei der es nicht wie bei der Manier den individuellen Eindruck abzubilden, sondern das „Wesen der Dinge“127 zu erfassen galt, dann sollte er diese konzentrierte und sorgfältige Arbeitsweise beibehalten. Nur so konnte er Goethes Verständnis nach die Natur, die er gestalten wollte, in Ordnung bringen, die „charakteristischen Formen“ 128 derselben nachahmen und Uncharakteristisches aus dem Kunstwerk entfernen: Je treuer, sorgfältiger, reiner sie [die Künstlerseele, L.R.] zu Werke gehet, je ruhiger sie das, was sie erblickt, empfindet, je gelassener sie es nachahmt, je mehr sie sich dabei zu denken gewöhnt, das heißt, je mehr sie das Ähnliche zu vergleichen, das Unähnliche voneinander abzusondern und einzelne Gegenstände unter allgemeine Begriffe zu ordnen lernet, desto würdiger wird sie sich machen, die Schwelle des Heiligtums [der Kunst, L.R.] selbst zu betreten.129

Der von Goethe als Ideal ausgegebene ‚reine Künstler‘ war von seiner Individualität, die ihm bloß die Wahrnehmung und den ordnenden Verstand beeinträchtigen würde, emanzipiert. Goethe selbst sprach sich den produktionsästhetischen Grundsatz zu, „mich soviel als möglich zu verläugnen und das Object so rein als nur zu thun wäre in mich aufzunehmen.“130 Desweiteren hat Goethe Kunst auf ein harmonisch ausbalanciertes „Maß der Schönheit“131 verpflichtet, was keineswegs bedeutete, dass Schmerzen, Leiden und Leidenschaften komplett aus ihr herausgehalten werden, sondern dass sie beruhigt zur Darstellung gelangen sollten. Eine solch anmutige Kunst, wie sie Goethe vorschwebte, sollte passives Erleiden und aktives Widerstreben in einer ausgeglichenen Art und Weise thematisieren, leidenschaftliche Reize sollten abgemildert werden. Seine inhaltsästhetischen Vorstellungen waren somit von keiner „Forderung nach normativer Reinheit“ geprägt, stattdessen bevorzugte er eine „Vermischung und Versöhnung der Gegensätze“132, die die unreinen Eindrücke der Kunstwerke verhindern sollten. In Tragödien, in denen Mitleid und Furcht die Zuschauer zwischenzeitlich „in Unruhe versetzen“133 würden, müssten sich die Leidenschaften schließlich aufklären, um nicht den ästhetischen Eindruck zu trüben: 126 Ders.: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil. In: Ders.: Berliner Ausgabe, Bd. 19. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur bildenden Kunst I. Hg. von Siegfried Seidel. Berlin u.a. 1973, S. 77-87, S. 78. 127 Ebd., S. 79-80. 128 Ebd., S. 80. 129 Ebd., S. 81-82. 130 Ders.: Tag- und Jahres-Hefte. In: Ders.: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 17. Tag- und Jahreshefte. Hg. von Irmtraut Schmid. Frankfurt am Main 1994, S. 9-349, S. 17. 131 Zumbusch (2011), S. 250. 132 Härle (1996), S. 250. 133 Goethe, Johann W. von: Nachlese zu Aristoteles´ „Poetik. In: Ders.: Berliner Ausgabe, Bd. 18. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur Literatur II. Hg. von Siegfried Seidel. Berlin u.a. 1972, S. 121-125, S. 124.

Gefährdungen der Reinheit in der Ästhetik der Weimarer Klassik | 187

Hat nun der Dichter an seiner Stelle seine Pflicht erfüllt, einen Knoten bedeutend geknüpft und würdig gelöst, so wird dann dasselbe in dem Geiste des Zuschauers vorgehen; die Verwicklung wird ihn verwirren, die Auflösung aufklären, er aber um nichts gebessert nach Hause gehen: er würde vielmehr, wenn er asketisch-aufmerksam genug wäre, sich über sich selbst verwundern, daß er ebenso leichtsinnig als hartnäckig, ebenso heftig als schwach, ebenso liebevoll als lieblos sich wieder in seiner Wohnung findet, wie er hinausgegangen. 134

Damit wandte sich Goethe wie Moritz und Schiller gegen wirkungsästhetische Modelle. Ähnlich wie Schiller befand auch er, dass man moralische Wirkungen nicht von der Kunst verlangen sollte. Seine „Abkehr von der Mitleidspoetik und Wirkungsästhetik“ hat Goethe u.a. in Form einer sprachlichen „Abmilderung, Besänftigung und Mäßigung“ 135 vollzogen, wie sie etwa anhand einer zunehmenden Bevorzugung der rhythmisierten Verssprache gegenüber dem Prosastil ablesbar ist. Dabei sollte eine sprachlich besänftigte Poesie ausdrücklich „auf die Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet“ bleiben, da seiner Meinung nach nur sie „das höhere poetisch sittliche“136 solch heikler Stoffe fühlbar machen könne. Die das alltägliche Leben versinnbildlichende Prosa galt ihm dagegen als allzu dürftig, um empirisch-pathologische Inhalte abzubilden: Alles poetische sollte rhythmisch behandelt werden! das ist meine Überzeugung, und daß man nach und nach eine poetische Prosa einführen konnte zeigt nur daß man den Unterschied zwischen Prosa und Poesie gänzlich aus den Augen verlor. Es ist nicht besser als wenn sich jemand in seinem Park einen trocknen See bestellte und der Gartenkünstler diese Aufgabe dadurch aufzulösen suchte daß er einen Sumpf anlegte. Diese Mittelgeschlechter sind nur für Liebhaber und Pfuscher, so wie die Sümpfe für Amphibien.

Mit dem ‚Sumpf‘ als Symbol des Unreinen verwies Goethe auf die in seinen Augen unstatthafte Vermischung von Prosa und Poesie.137

134 Ebd., S. 125. 135 Brokoff (2010), S. 133. Diesbezüglich bezieht er sich insbesondere auf die Umschreibung der Iphigenie auf Tauris, bei der sich Goethes klassische „Ästhetik der Reinheit“ vor allen Dingen darin offenbart habe, dass die „selbstbezüglich gewordene Poesie von der wirkungsbezogenen Mitleidspoetik“ (S. 134) befreit worden sei. 136 Goethe, Johann W. von: Brief an Friedrich Schiller, 25.11.1797. In: Ders.: Sämtliche Werke, II. Abt., Bd. 4. Mit Schiller. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 24. Juni 1794 bis zum 9. Mai 1805, Teil I. Vom 24. Juni 1794 bis zum 31. Dezember 1799. Hg. von Volker C. Dörr u. Norbert Oellers. Frankfurt am Main 1997, S. 454-455, S. 455. 137 Vgl. Kaufmann, Sebastian: „Schöpft des Dichters reine Hand…“ Studien zu Goethes poetologischer Lyrik. Heidelberg 2011, S. 475-485.

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4.5 DIE VERORTUNG DES UNREINEN IN DER IDEALISTISCHEN ÄSTHETIK DER WEIMARER KLASSIK Der Ästhetik der Weimarer Klassik lag als Quellcode die Unterscheidung rein ‹≠› zugrunde, der Schmutz blieb auf semantischer Ebene latent. Schöne Kunst wurde an ein aus der Antike hergeleitetes Reinheitsideal gebunden und gegen die unreine Gegenwart abgeschirmt. Produktions- und rezeptionsästhetische Verfahren dienten dazu, das Kunstwerk von individuellen und sozialen Dispositionen freizuhalten. Der Künstler sollte ein von der Gegenwart separierter, sich am antiken Ideal reiner Ästhetik orientierender „Mensch ohne Inhalt“138 sein. Um das Kunstwerk im Schaffensprozess weder mit alltäglichen Nöten, Zwängen und Zwecken, noch mit eigenen Befindlichkeiten zu verunreinigen, sollte er selbstbeherrscht und über seine Leidenschaften erhaben sein. Auch ein Kunstbetrachter konnte das Kunstwerk durch eigennützige Arten der Rezeption verunreinigen. Wer sich unterhalten lassen wollte, wer sich rühren oder begeistern lassen und darum Wirkungen empfangen wollte, gab sich dem klassischen Verständnis nach einem verunreinigten Kunstgenuss hin. Die werk- und wirkungsästhetischen Überlegungen von Moritz, Schiller und Goethe differierten von denen Winckelmanns. Für diesen war schöne Kunst nur durch die strikte Abwesenheit trübender Inhalte herzustellen, die er als menschliche Schlacken identifizierte. Alles, was an die unvollkommene Menschlichkeit, das Leid und den Schmerz erinnerte, sollte aus Kunstwerken ausgeschlossen bleiben. Moritz, Schiller und Goethe haben dagegen Techniken „dosierten Einschlusses“ 139 entwickelt, mit denen sich auch konzeptionell unreine Inhalte (Affekte, Leidenschaften, Aspekte gemeinen Lebens, niedere Verrichtungen etc.) darstellen ließen, ohne dass dadurch der ästhetische Eindruck verunreinigt würde. Die formale, auf Techniken der Beruhigung, Ausgleichung und Harmonisierung setzende Gestaltung des Kunstwerks sollte von den Inhaltsstoffen ausgehende, unreine Wirkungen verhindern. Die formale Gestaltung sollte den reinen Eindruck eines Kunstwerk garantieren. Auch Moritz, Schiller und Goethe hielten somit an einer an Reinheit orientierten Wirkungsästhetik fest. Der von ihnen eingeforderte dosierte Einschluss reinheitsgefährdender Elemente zielte im Sinne einer Impfung auf eine durchaus als Reinigung zu verstehende Bewältigung dieser Elemente in der Kunst selbst.140 In diesem Sinne ist auch die von Schiller eingeforderte Reinigung der Gegenwart zu verstehen (vgl. Kap. 4.3.1). Folgenreiche Konsequenz dieser Forderung war, dass eine ästhetisch reine Literatur von einer auf Wirkungen abzielenden nicht-reinen Literatur unterschieden wurde. Einerseits wurde die Kunst für autonom gegenüber politischen, religiösen, moralischen oder anderweitigen Zwecksetzungen und Abhängigkeiten erklärt, was eine Abkehr von einer dem Vorwurf nach allzu didaktisierenden Aufklärungsästhetik darstellte. Andererseits wurde aber auch die auf ein möglichst großes Publikum abzielende und darum bewusst auf empfindsame Wirkungen und Spannungen setzende Unterhaltungsliteratur als (zumindest latent) unreine Kunstform aus dem ästhetischen [unrein]

138 Agamben, Giorgio: Der Mensch ohne Inhalt. Aus dem Italienischen von Anton Schütz. Berlin 2012. Im Folgenden als Agamben (2012). 139 Zumbusch (2011), S. 18. 140 Vgl. ebd. Siehe dazu auch Fußnote 65 im vorliegenden Kapitel.

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Diskurs herausgedrängt. Die Klassiker rückten damit von der empfindsamen Wirkungsästhetik und der Modeliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts ab. Anhaltspunkt dafür, dass ihre Marginalisierung bewusst intendiert war, bietet die in 4.3.4 angesprochene Kritik am „schmutzigen Witz des Herrn Blumauer“, der Schiller nicht im Fließtext seiner Abhandlung, sondern in einer Fußnote Ausdruck verliehen hat. „Man soll zwar gewißen Lesern ihr dürftiges Vergnügen nicht verkümmern“ 141, schrieb Schiller dort: „Aber die Kunstrichter wenigstens sollten sich enthalten, mit einer gewissen Achtung von Produkten zu sprechen, deren Existenz dem guten Geschmack billig ein Geheimniß bleiben sollte.“142 Schiller hat die Schmutzsemantik somit nicht nur herangezogen, um Blumauer des Verstoßes gegen die vorherrschenden Geschmackskonventionen zu bezichtigen. Er hat sie außerdem benutzt, um darauf hinzuwirken, dass Texte im Stile Blumauers fortan als unwürdige Gegenstände ästhetischer Diskurse tabuisiert werden sollten. Kunsttheoretische und -kritische Auseinandersetzungen über literarischen Schmutz sollten, um keine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, Schillers Meinung nach unbedingt unterlassen werden. Die von den Klassikern forcierte und von Schiller am vehementesten eingeforderte Tabuisierung der Unterhaltung ist im ästhetischen Diskurs des gesamten 19. Jahrhunderts nicht revidiert worden (und wirkt bis heute nach). Fortan galt sie als unreine ‚Niederung‘ der Literatur, über die sich eine ernsthafte Auseinandersetzung nicht lohnen würde.143 Empfindungen, Leidenschaften, Spannungen und der Wunsch, mit solchen unterhaltenden Zutaten möglichst viele Leser zu binden, wurden als ästhetisch unwürdig diskreditiert. Das nächste Kapitel wird zeigen, dass bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein ästhetisches Reinheitsgebot aktiv blieb, das im Fall des programmatischen Idealrealismus jedoch aufgrund des gekappten Bezugs zur Antike anders begründet werden musste.

141 Schiller: Naive und sentimentalische Dichtung, S. 460, Fußnote. 142 Ebd., S. 461, Fußnote. 143 Vgl. Schulte-Sasse (1971), S. 130-131. ‒ Eine Ausnahme bildete übrigens Robert Eduard Prutz, vgl. Fußnote 338 in Kap. 5.

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Aufgeräumt, idealisiert und bereinigt: Die Verklärung der Wirklichkeit im programmatischen Realismus

Die Ästhetik der Klassik war, wie im vorigen 4. Kapitel gezeigt wurde, an die „reinsten Quellen der Kunst“1 angeschlossen. Das aus der Antike hergeleitete „Ideal ästhetischer Reinigkeit“2 lag einem Verständnis schöner, autonomer Kunst zugrunde, wonach sie von der mit Schmutz assoziierten prosaischen Gegenwart mitsamt ihren Zwängen, Nützlichkeitserwägungen und Willkürlichkeiten freigestellt war. Selbst, wenn unrein erachtete Wirklichkeitsaspekte in ein Kunstwerk hineingegeben würden, könne dessen Reinheit respektive dessen rein ästhetisches Erscheinen durch eine an „unsterblichen Mustern“3 orientierte Art der Stoffbehandlung, wie sie sich durch ein Studium der Antike aneignen ließe, gewahrt bleiben. Für die Realisten, die in diversen, zumeist kleineren Schriften in den 1850er- und 1860er-Jahren eine eigenständige kunsttheoretische Programmatik aufzustellen versuchten, war die Verbindung in die Antike jedoch gekappt und die Möglichkeit einer reinen Ästhetik zur Disposition gestellt. Sie konnten nämlich nicht mehr hinter die geschichtsphilosophischen Erwägungen Hegels zurückfallen, der die Kunst in seinen zwischen 1817 und 1829 gehaltenen Vorlesungen über die Ästhetik „ausdrücklich auf die Gegebenheiten des allgemeinen Prozesses der Geschichte“4 bezogen hatte. Anders als die Klassiker hat Hegel sein Kunstverständnis auf die Annahme einer „historische[n] Flexibilität der Kunstformen“5 aufgebaut, weshalb er das Formprinzip der Kunst von einer „unabänderlichen Strukturdefizienz“6 bestimmt sah. Reine, vollendet schöne Kunst geriet ihm darüber zu einem „historischen Sonderfall“ 7 der klas-

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5 6 7

Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung, S. 29. Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 380. Ebd., S. 333. Plumpe, Gerhard: Das Reale und die Kunst. Ästhetische Theorie im 19. Jahrhundert. In: Ders. u. McInnes, Edward (Hgg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890. München 1996, S. 242-307 u. S. 773-775, S. 254. Im Folgenden als Plumpe (1996a). Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch. Leben, Werk, Schule. [2. Aufl. Sonderausgabe] Stuttgart 2010, S. 445. Im Folgenden als Jaeschke (2010). Ebd., S. 446. Ebd.

192 | Die Verschmutzung der Literatur

sisch-griechischen Antike, in der die „Harmonie der griechischen Welt“ 8 von Künstlern noch unmittelbar aufgenommen und gestaltet werden konnte. Für die Zeitgenossen des gegenwärtigen Weltzustandes bestand zwischen Ideal und Wirklichkeit sowie zwischen Individualität und Allgemeinheit dagegen keine „ungetrübte Harmonie“ 9 mehr. Im poetischen Weltzustand der klassischen Antike, in dem der Heros mit seinem individuellen Handeln die Gesellschaft verändert hatte, habe dieser noch die substantielle Einheit von Ideal und Wirklichkeit verkörpern können.10 Das auf die Verfestigung gesellschaftlicher Institutionen und Normen sowie auf Arbeitsteilung gegründete moderne Leben habe hingegen das individuelle Handeln marginalisiert, das nun kaum einen Einfluss mehr auf die allgemeine Entwicklung des Staates besitzen würde.11 In der prosaischen Alltäglichkeit ließen sich Ideal und Wirklichkeit nun nicht mehr von einem einzelnen Individuum verkörpern. Mithin habe die differenzierte moderne Gesellschaft eine „Entsubstantialisierung des Subjekts“ 12 erzeugt. Während die antike Kunst noch individueller Ausdruck „der wahren Idee der Schönheit“13 sein konnte, war dies in der disharmonischen Gegenwart dem Verständnis Hegels nach nun nicht mehr möglich. Die komplexen sozialen Prozesse würden sich nicht genügend komprimieren und „in figurative, subjektiv stilisierte Handlungen übersetzen“14 lassen, so dass die Kunst nicht mehr den absoluten Geist der Moderne transportieren und erkennbar machen könne. In diesem Sinne bedeutete Hegels berühmtes Diktum vom ‚Ende der Kunst‘ 15, dass sie ihre Erkenntnisfähigkeit eingebüßt hat und sich stattdessen als „genuin ästhetisch codierte Kommunikation“ 16 etablieren musste. Neben dem Status der Kunst änderten sich seinem Verständnis nach auch die inhaltsästhetischen Voraussetzungen. Die haltlose, zerrissene Gegenwartsbanalität trieb mit dem Schönen, wie Hegel schrieb, immer auch „das Unschöne, Häßliche, Widrige“17 und damit auch den Schmutz hervor. Während die antike Klassik „den reinen Boden des echten Ideals nicht“18 überschritten habe, seien ästhetisch unreine Wirklichkeitsaspekte in der Moderne nicht mehr aus der Kunst herauszuhalten. Die programmatischen Realisten stellten sich gegen die Schlussfolgerungen Hegels und hielten an der Möglichkeit einer Kunst fest, der eine Synthese 19 von Ideal 8 9 10 11 12

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Ebd., 447. Hegel, Georg F. W.: Ästhetik. Hg. von Friedrich Bassenge. Berlin 1955, S. 426. Im Folgenden als Hegel, Ästhetik. Vgl. Plumpe (1996a), S. 257. Vgl. ebd., S. 258. Ebd., S. 259. Auf S. 260 fasst Plumpe diesen Gedanken folgendermaßen zusammen: „Es gibt kein Ideal mehr, in dem sich die Substanz des Realen individuelle Gestalt geben könnte.“ Hegel, Ästhetik, S. 118. Plumpe (1996a), S. 261. Vgl. Jaeschke (2010), S. 445-450. Plumpe (1996a), S. 262. Hegel, Ästhetik, S. 426. Ebd. Zur Syntheseleistung des Realismus vgl. Kinder, Hermann: Poesie als Synthese. Ausbreitung eines deutschen Realismus-Verständnisses in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1973. Im Folgenden als Kinder (1973).

Die Verklärung der Wirklichkeit im programmatischen Realismus | 193

und Wirklichkeit gelingen könne. Dabei argumentierten sie in der „Tradition des Substanzdenkens“20 Hegels, versuchten Hegel also mit Hegel beizukommen.21 Dieser nämlich hatte besonders in seiner Rechtsphilosophie die Bedeutung des allgemein Sittlichen hervorgehoben, das im willentlichen Handeln eines Individuums Substanz gewinnen könne. Der auf die „Arbeit der Bildung“ konzentrierte „subjektive Wille“ der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘22 besaß laut Hegel die Anlage, sich selbst in die „Objektivität“ zu transponieren, so dass er „allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein.“23 Vor dem Hintergrund eines solchen Gedankenganges konzipierten die programmatischen Realisten eine auf die Darstellung bürgerlicher Welten beschränkte Kunst, in der das geschilderte sittliche Streben eine versöhnende Brücke zwischen Ideal und prosaischer Wirklichkeit schlagen sollte. 24 Die im realistischen Kunstwerk aufscheinende Substantialität des Sittlichen sollte die durch den Gegenwartsbezug eigentlich in Frage gestellte ästhetische Reinheit schöner Kunst garantieren. Der sich unmittelbar nach 1848 formierende programmatische Realismus war Ausdruck für das „optimistische Lebensgefühl und die Fortschrittsgläubigkeit“ 25 im liberalen Bürgertum. Es sah sich als treibende Kraft für eine vernünftige Entwicklung der Geschichte an, die die Zerrissenheit des modernen Individuums und die Zwänge der sozialen Realität überwinden könne. Dabei profitierte das Bürgertum von einer wirtschaftsliberalen Politik. Nach der gescheiterten Revolution bot das ökonomische Feld „verlockende Wirkungsmöglichkeiten“, die ihm halfen, „sich mit politischer Einflußlosigkeit und Reaktion abzufinden.“26 Die Ereignisse von 1848/1849 führten außerdem zu einer Revision und einem teilweisen Bruch mit der bislang dominierenden idealistischen Denktradition.27 Die Kritik an der als wirklichkeitsfern und allzu metaphysisch-abstrakt erachteten Philosophie Hegels stand dabei im Mittelpunkt. 20 Bucher, Max: Voraussetzungen der realistischen Literaturkritik. In: Ders.; Hahl, Werner u.a. (Hgg.): Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Bd. 1. Stuttgart 1981, S. 32-47u. S. 266-268, S. 37. Im Folgenden als Bucher (1981). 21 Zur Hegelaufnahme einzelner Programmrealisten vgl. Oelmüller, Willi: Friedrich Theodor Vischer und das Problem der nachhegelschen Ästhetik. Stuttgart 1959. ‒ Talgeri, Pramod: Otto Ludwig und Hegels Philosophie. Die Widerspiegelung der „Ästhetik“ Hegels im „poetischen Realismus“ Otto Ludwigs. Tübingen 1972. ‒ Kinder (1973), S. 73-78 (Vischer) u. S. 162-166 (Schmidt). 22 Zu Hegels Vorstellungen einer bürgerlichen Gesellschaft vgl. Schneider, Lothar L.: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne. Tübingen 2005, S. 11-17. Im Folgenden als Schneider (2005). 23 Hegel, Georg W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Hg. von Hermann Klenner. Berlin 1981, § 187, S. 224-226, S. 225. 24 Vgl. Ort, Claus-Michael: Was ist Realismus? In: Begemann, Christian (Hg.): Realismus. Epoche, Autoren, Werke. Darmstadt 2007, S. 11-26, S. 16. 25 Bucher (1981), S. 35. 26 Ebd. 27 Vgl. ebd., S. 36-38.

194 | Die Verschmutzung der Literatur

Dagegen setzte sich eine stärker auf das Empirische bezugnehmende Geschichtsphilosophie durch, die zwischen naturwissenschaftlich-materialistischen und idealistischen Positionen zu vermitteln suchte.28 Von diesem Wandel ist auch die realistische Ästhetik erfasst worden, die von der Kunst eine Hinwendung zu den realen Dingen einforderte, aus denen ein idealer Kern herausgeschält werden sollte.29 Insofern blieb der Realismus mit zahlreichen Implikationen idealistischen Denkens versetzt.30 Die von den programmatischen Realisten präferierte Literatur musste eine Wirklichkeit abbilden, die bereits ideale Züge tragen sollte. Wirklichkeitsaspekte, die dies Kriterium nicht erfüllten, mussten ausgeblendet bleiben. Doch auch die darstellbare Wirklichkeit war nicht von sich aus kunstfähig; die ihr innewohnenden idealen Züge mussten herausgearbeitet werden. Da laut Friedrich Theodor Vischer alle Naturerscheinungen „im Gedränge des störenden Zufalls Trübungen jeder Art ausgesetzt“31 seien, sah er es als Aufgabe des Künstlers an, diese Verschmutzungen herauszufiltern. Er habe die realen Erscheinungen nicht zu kopieren, sondern sie „auf ihre Reinheit zurück[zu]führ[en] und so gereinigt in einem idealen vom Geistesleben erfüllten Scheinbilde [zu] wiederhol[en]“32. Realistische Literatur stellte sich mithin als das Ergebnis von Selektions- und Säuberungsverfahren dar, die unter dem Begriff der ‚Verklärung‘ subsummiert wurden.33 Die Unterscheidung rein ‹≠› [unrein] blieb also weiterhin aktiv. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, die ästhetischen ‚Unreinigkeiten‘ zu identifizieren, die in den Klärvorrichtungen realistischer Ästhetik ‚herausgefiltert‘ werden sollten. Auch in diesem Kapitel geht es also darum, durch den Fokus auf den auf semantischer Ebene weiterhin verdrängten Schmutz dem Sog des reinheitsfixierten Standarddiskurses zu entkommen und seine Funktionsweise aufzuzeigen. Dazu wird ausschließlich auf Programmschriften34 der 1850er- und 1860er-Jahre zurückgegrif28 Vgl. Schneider (2005), S. 20-48. 29 Vgl. Bucher (1981), S. 37. 30 Trotz gekappten Antikebezugs haben die programmatischen Realisten wesentliche Grundsätze der Weimarer Klassik übernommen, so etwa den auf Reinheit gegründeten absoluten Schönheitsbegriff. Zum Verhältnis von Klassik und Realismus vgl. Becker, Sabina: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter. Tübingen u.a. 2003, S. 59-64. Im Folgenden als Becker (2003). 31 Vischer, Friedrich Th.: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen, Bd. 3. Die Kunstlehre. [2. Aufl.] München 1922, § 513, S. 97-100, S. 97. 32 Ebd. 33 Es handle sich um einen Gedankengang, „der in allen wesentlichen Zügen der Ästhetik Hegels entlehnt ist, aber Hegels Historisierung des Schönen in der Bestimmung des ‚poetischen Weltzustands‘ übergeht, um noch die Gegenwart für die ‚Verklärung‘ retten zu können“, so Plumpe, Gerhard: Einleitung. In: Ders. u. McInnes, Edward (Hgg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890. München 1996, S. 17-83 u. S. 731-736, S. 52. Im Folgenden als Plumpe (1996b). 34 Soweit nicht anders vermerkt, sind die Texte folgenden Materialbänden zum Realismus entnommen worden: Bucher, Max; Hahl, Werner u.a. (Hgg.): Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Bd. 2. Manifeste und Dokumente. Stuttgart 1981. Im Folgenden als Realismus, Manifeste und Dokumente (1981) ‒ Plumpe, Gerhard (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Stuttgart

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fen, die dem poetischen Realismus in der Literatur eine theoretische Basis verliehen haben. Zunächst wird in 5.1 gezeigt, welche Bedeutung die Programmrealisten der angestrebten Synthese von Realismus und Idealismus beimaßen und wie sie sich damit gegen andere ästhetische Richtungen abgrenzten. In 5.2 wird untersucht, welche Fähigkeiten ein realistischer Dichter haben sollte, um eine verklärte, von konzeptionell unreinen Aspekten freie Realität schildern zu können. Eben diese zu verklärenden Wirklichkeitsaspekte werden im Abschnitt 5.3 ermitelt. Verklärung wurde als Kombination ordnender, idealisierender und läuternder Verfahren erachtet, mit denen der unreine ästhetische Eindruck eines Kunstwerks vermieden werden sollte. Insofern wird untersucht, (5.3.1) welche Ordnungsverstöße getilgt, (5.3.2) welche nichtidealisierenden Darstellungsweisen vermieden und (5.3.3) welche Stoffe der Wirklichkeit als nicht-idealisierbar galten und aus Kunstwerken ‚herausgeläutert‘ werden sollten. In 5.4 wird schließlich auf die Funktionen verwiesen, die dem von allen ästhetischen und moralischen Verunreinigungen befreiten literarischen Kunstwerk zugesprochen wurden.

5.1 BESTIMMUNGEN UND BEGRENZUNGEN DES REALISMUS Wenn Friedrich Theodor Vischer schrieb, dass die „Gewinnung des Poetischen“ am ehesten „inmitten der Prosa“35 gelingen könne, dann knüpfte er an Hegels Vorlesungen über die Antike an.36 Darauf Bezug nehmend argumentierte er, dass die von einer „prosaische[n] Einrichtung der Dinge“ geprägte Gegenwart eine „erfahrungsmäßig erkannte Wirklichkeit“ erzeugt und damit eine „schlechthin nicht mehr mythische“, eine „wunderlose Welt“37 hinterlassen habe. Die modernen Menschen hätten deshalb den Bezug zur Poesie verloren. Hegel habe „nun mit einfach richtiger Bestimmung“ erkannt, dass sie nur auf dem „Boden der Prosa ihr verlorenes Recht“ 38 zurückbekommen könne. Damit war nicht nur die Gattungspräferenz für den Roman, sondern auch die Hinwendung zur Prosa des täglichen Lebens gemeint. Die Gebilde einer phantastischen oder idealistisch überhöhten Literatur waren für seine Zeitgenossen jedenfalls nicht mehr glaubhaft, so Vischer. „Die Atmosphäre unseres Planeten ist für

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1985. Im Folgenden als Theorie des bürgerlichen Realismus (1985) ‒ Begemann, Christian (Hg.): Realismus. Das große Lesebuch. Frankfurt am Main 2011. Im Folgenden als Realismus (2011). Vischer, Friedrich Th.: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen Zum Gebrauch für Vorlesungen (1857). In: Realismus: Manifeste und Dokumente (1981), S. 216-220, S. 218. Im Folgenden als Vischer (1857). Zu Hegels Ästhetik vgl. Jaeschke (2010), S. 418-450 sowie Szondi, Peter: Hegels Lehre von der Dichtung. In: Ders.: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 2. Frankfurt am Main 1974, S. 267-511. Vischer (1857), S. 216. Ebd.

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uns keine Geisterwohnung mehr, der Horizont ist gereinigt.“39 Die Poesie müsse stattdessen in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart wiederentdeckt werden: „Unsere Kunst hat Alles verloren und dadurch Alles gewonnen; verloren die ganze Fata Morgana einer transcendenten Welt, gewonnen die ganze wirkliche Welt.“40 Literaten sollten in ihren Werken die „poetische Lebendigkeit“ des „rein Menschliche[n]“ darstellen, wie sie sich „bei wachsender Vertrocknung des öffentlichen“ 41 Lebens in die Bezirke des Privaten zurückgezogen habe. Die Handlungen müssten „im engeren Kreis“ der bürgerlichen Gesellschaft verortet sein: in „der Familie, dem Privatleben, der Individualität“42. Durch die „Rückführung auf ein vertieftes inneres Leben“43 ließe sich schildern, wie das Individuum „Liebe“ und „Humanität“ 44 erfährt. Die Konflikte, die sich aus dem Gegensatz „mit der Härte der äußern Welt“ 45 ergeben würden, könnten so aus einer sicheren Distanz in den Blick geraten. Aus der Perspektive des Privaten ließen sich außerdem die „Sitten, Gesellschaft, Culturformen einer ganzen Zeit“ veranschaulichen, in denen „das Allgemeine des menschlichen Lebens“46 zum Vorschein treten würde. Aus der geforderten Hinwendung zur allgemeinmenschlichen ‚Prosa des Lebens‘ leitete Vischer somit die Präferenz für die Gattung des „bürgerliche[n] Roman[s]“ 47 her. Dichter sollten „den gediegenen ethischen Gehalt unserer gebildeten Stände“ in einem nach „realistische[m] Styl“ gezeichneten „Seelengemälde“48 zur Veranschaulichung bringen. Im Gegensatz zu aristokratischen Romanen und Volksromanen, deren Wahrheitsgehalt er keineswegs geleugnet wissen wollte, bevorzugte er den bürgerlichen Roman, weil er „uns in die mittlere Schichte der Gesellschaft“ hineinführen würde, welche mit dem Schatze der tüchtigen Volksnatur die Güter der Humanität, mit der Wahrheit des Lebens den schönen Schein, das vertiefte und bereicherte Seelenleben der Bildung zusammenfaßt. Der Heerd der Familie ist der wahre Mittelpunkt des Weltbildes im Roman und er gewinnt seine Bedeutung erst, wo Gemüther sich um ihn vereinigen, welche die harte Wahrheit des Lebens mit zarteren Saiten einer erweiterten geistigen Welt wiedertönen. In diesen Kreisen erst wird wahrhaft erlebt und entfaltet sich das wahre, von den Extremen ferne Bild der Sitte. 49

Der realistische Roman, wie ihn Vischer bevorzugte, nahm eine Mittellage ein. Die bürgerlichen Normen und Werte (Tüchtigkeit, Humanität, Schönheit, Bildung, Gemüt, Normalität etc.) sollten den poetischen Gehalt der Erzählung garantieren und ei39 Ders.: Der Triumph der Religion in den Künsten, von Friedrich Overbeck (1841). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 2-5, S. 2. 40 Ebd. 41 Ders. (1857), S. 217. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 218. 44 Ebd., S. 217. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 220. 48 Ebd. 49 Ebd.

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nen abgesicherten Raum (Familie) erzeugen, um den herum sich die gesellschaftliche Realität mit all ihren Härten, Gefährdungen und Extremen abspielte. Aus der bürgerlich-distanzierten Perspektive heraus ließe sich, wie Vischer schrieb, durchaus ein sozial „reichere[s] Weltbild“ hervorbringen, das „hohe, mittlere und niedere Lebenskreise durcheinanderschling[en]“50 könne. Eine eigenständige Bedeutung konnten die sozialen Randbereiche diesem Verständnis nach nicht gewinnen. Indem Vischer die „Gewinnung des Poetischen inmitten der Prosa“ einforderte, sprach er sich für eine Verbindung idealistischer und realistischer Ästhetikprinzipien aus, wie sie auch die anderen programmatischen Realisten einforderten. Wenn Gustav Freytag schrieb, dass Autoren stets intendieren sollten, „das Colorit und die Verhältnisse der Zeit und Menschen genau zu idealisieren“51, dann hatte er dasselbe im Sinn. Einerseits sollten sie eine realitätsgetreue Wiedergabe von (auch: sozialer) Realität, andererseits eine idealisierte Darstellung derselben anstreben. Ulf Eisele spricht diesbezüglich von „der paradoxen Tendenz“ der realistischen Ästhetik, die darin bestand, „sowohl die Identität von Literatur und Realität anzustreben als auch gleichzeitig die Literatur von eben dieser Realität abzuheben.“52 Aus der Synthese der beiden sich widersprechenden realistischen und idealistischen Prinzipien folgte, dass nur auf solche Ausschnitte von Wirklichkeit Bezug genommen werden sollte, die an sich bereits ideale Züge vorwiesen. Diese galt es akzentuiert herauszuarbeiten und zu einem idealisierten Bild von Wirklichkeit zusammenzusetzen, wie es für die Menschen in ihrem Alltag niemals in Gänze erfahrbar wäre. Durch die selektive Kombination positiver und die Ausblendung mangelhafter, ästhetisch verunreinigend erachteter Wirklichkeitsausschnitte ist die Wirklichkeit realistischer Literatur in den Rang einer vorbildhaften, besseren Realität erhoben worden, die, wie Hermann Korte es treffend formuliert, letztlich „purem Wunschdenken“53 entsprach. Realistische Literatur sollte ihre Leser mit der defizitären, mit Schmutz versetzten Gegenwart versöhnen helfen. Durch die Synthese von Idealismus und Realismus ließen sich laut Melchior Meyr die Schwächen kompensieren, die sie je für sich besitzen würden: „Der einseitige Realismus ist in Gefahr, geist- und weihelos zu werden, der einseitige Idealismus naturlos, und das Zusammensein bietet einen Schutz für beide.“54 Die beide Prinzipien kombinierende „realistische Richtung“ befürwortete Meyr, weil nur sie „die eigentlichen Formen der Wirklichkeit für die Kunst erobern und sie ihr zur Verfügung stellen“55 könne. Die bloße „Abspiegelung“56 respektive Kopie realer Dinge sei an

50 Ders.: Gottfried Keller. Eine Studie (1874). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 366-368, S. 367. 51 Freytag, Gustav: Neue deutsche Romane (1853). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 72-73, S. 73. Im Folgenden als (1853a). 52 Eisele, Ulf: Realismus und Ideologie. Zur Kritik der literarischen Theorie nach 1848 am Beispiel des „Deutschen Museum“. Stuttgart 1976, S. 61. 53 Korte, Hermann: Ordnung und Tabu. Studien zum poetischen Realismus. Bonn 1989, S. 21. 54 Meyr, Melchior: Die deutsche Kunst in der münchener Ausstellung (1859). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 46-48, S. 48. Im Folgenden als Meyr (1859). 55 Ebd., S. 46. 56 Ebd.

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sich jedoch noch keine Kunst und dürfte allenfalls als „Handwerk“ 57 bezeichnet werden. Ein Realismus, der es anstreben würde, alle „kleinlichen Einzelheiten“ wiederzugeben, würde nur „den bloßen Schein von Leben und Reiz“ 58 vortäuschen, so Meyr. Deshalb müsse ein Idealismus hinzutreten, der „das innere Leben des Gegenstandes“ erkennen und vermittels „künstlerischer Verklärung“59 dessen poetischen Gehalt veranschaulichen würde. „Der Realismus in diesem Betracht ist Bedingung und Uebergangsstufe zu einer neuen und dem Begriff nach obersten Kunst: der Kunst, welche den höchsten Forderungen des Ideals nachkommt in freier Verwendung der erkannten Wirklichkeit.“60 Immer wieder wurde die Verschmelzung idealistischer und realistischer Prinzipien von den Programmrealisten gegen allzu einseitige Auslegungen derselben stark gemacht. Ein Dichter sollte laut Heinrich Emil Homberger gewissermaßen ästhetischer Equilibrist sein, der in seinen Werken „Idealismus und Realismus im Gleichgewicht halten“61 müsse. Dazu sollte er in der Lage sein, die oberflächliche Welt darzustellen und gleichzeitig deren „Wesen und Wahrheit“62 hervortreten zu lassen. Darum dürfe er weder luftig-phantastischer Idealist sein, der „statt die Natur abzubilden, seine eigenen Einbildungen schildert“, noch dürfe er plump-materialistischer Realist sein, der „statt ihres Wesens“ nur „die Erscheinungen“63 der Wirklichkeit wiedergibt. Laut Otto Ludwig drohte ein bloß selbstreflexiver Idealismus substanzlos zu werden, da er sich nicht mehr mit dem konkreten Leben auseinandersetzen würde. Dagegen würde es dem „naturalistischen Realismus“64 zwar nicht an einem zeitgemäßen Bezug zur Wirklichkeit mangeln, allerdings schaffe er es nicht, eine sinnhafte Ordnung in selbige hineinzuprojizieren. Zwischen dem Idealismus der „Monotonie“ und dem Naturalismus der „Verwirrung“ stünde „der künstlerische Realismus mitten inne“ und würde die Vorzüge beider Richtungen vereinigen: er kenne den „Reichthum“65 des wirklichen Lebens und könne in seinen Werken frei über ihn verfügen, so Ludwig. In den nach diesem Prinzip gestalteten Kunstwerken wären die Ideale der Zeit „in das handelnde Leben“66 eingesenkt und würden auf eine konkrete, nachvollziehbare Weise zur Darstellung gelangen.

57 Ders.: Emilie. Drei Gespräche über Wahrheit, Güte und Schönheit (1863). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 132-135, S. 134. Im Folgenden als Meyr (1863). 58 Meyr (1859), S. 46. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Homberger, Heinrich E.: Die Aporien des Realismus (1870). In: Theorie des bürgerlichen Realismus (1985), S. 153-155, S. 154. 62 Ebd., S. 155. 63 Ebd., S. 154. 64 Ludwig, Otto: Nachlaßschriften (1874). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 101-104, S. 102. Im Folgenden als Ludwig (1874). 65 Ebd., S. 103. 66 Ebd.

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Moriz Carrière, der ebenfalls eine Synthese von Idealismus und Realismus präferierte, die er als „Versöhnung“67 beider Richtungen ansah, erhob die Weimarer Klassik zum Vorbild. Ein eher idealistisch motivierter Künstler müsse „das im Geist geborne Ideal durch ein Bild der Welt zu offenbaren“68 versuchen, wie es Schiller getan habe. Ein zum Realismus hinneigender Künstler müsse dagegen wie Goethe von der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit ausgehen und an ihr das Ideal herausarbeiten und damit „die Blume des Dichterischen von einem Gegenstand rein und glücklich abbrechen“69. Bei unterschiedlichem Vorgehen hätten beide Künstlertypen die Gestaltung einer idealisierten und bereinigten Realität zum Ziel. Dagegen kritisierte Carrière Künstler, die die Verbindung zwischen Ideal und Realität respektive Geist und Sinnlichkeit gekappt hätten und in ihren Kunstwerken verunreinigte ästhetische Eindrücke der Dinge bereitstellen würden. Der auf einer „Verleugnung der idealbildenden Phantasie“ basierende, einseitige Realismus, sei nur noch eine „bloße Copie der äußern Realität“70, häufig sogar „Copie von Naturdingen mit süßlichem und frivolem Beigeschmack“71; da er „keine Veranschaulichung idealer Mächte“ leisten würde, bliebe er im „Gewöhnlichen“72 verhaftet und würde nicht einmal das „Knechtische und Gemeine“73 der sinnlichen, ästhetisch unreinen Wirklichkeit überwinden können. Aus dem Grund sprach Carrière jenem „falschen Realismus“ 74 jeglichen Kunstwert ab. Er war für ihn Symptom einer falschen Weltauffassung, das es zu bekämpfen galt: Es ist der Materialismus, der sich im Mammonsdienst wie in der Afterweisheit einer schlaffen, vernüchterten, aus dem Rausch in den Katzenjammer versunkenen Zeit kund gibt, es ist die Ermangelung des Ideals für das praktische Leben und Streben, was sich auch auf dem Kunstgebiet wiederholt. Gegen diesen äußerlichen, idealitätslosen Realismus muß streiten, wem es Ernst ist um die Zukunft des Vaterlandes!75

Die Abgrenzung zum materialistischen Realismus, der dem Vorwurf nach kein idealistisches, auf der Unterscheidung rein/unrein basierendes Werteschema mehr besaß, der die Thematisierung niederer, ästhetisch unreiner Inhalte verhindern würde, war für Carrière zentraler Beweggrund zur Ausgestaltung einer eigenen, idealrealistischen Ästhetikkonzeption.

67 Carrière, Moriz: Aesthetik. Die Idee des Schönen und ihre Verwirklichung durch Natur, Geist und Kunst, Bd. 1 (Die Schönheit. Die Welt. Die Phantasie). Leipzig 1859, S. 413. Im Folgenden als Carrière (1859). 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 414. 71 Ders.: Die Aufgabe der Kunst in der Gegenwart (1857). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 43-45, S. 45. Im Folgenden als Carrière (1857). 72 Ebd., S. 45. 73 Ders. (1859), S. 414. 74 Ebd., S. 425. 75 Ders. (1857), S. 45.

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Als sich der programmatische Realismus nach 1848 in den Grenzboten76 zu formieren begann, hatte man sich dort zunächst weniger gegen den einseitigen, materialistischen Realismus als vielmehr gegen den so genannten „subjectiven Idealismus“77 gewandt, mit dem man vollständig zu brechen gedachte. Julian Schmidt bezeichnete ihn als das übergeordnete „Princip der absterbenden Periode“78, das sowohl die „Restaurationspoesie“ als auch die von ihm als „Märzpoesie“79 titulierte oppositionelle Vormärzliteratur geprägt habe. Den so genannten Restaurationsliteraten sagte er neben einem „Mangel an künstlerischer Form, den sie durch ein spielendes Virtuosenthum“ kaschieren wollten, vor allem einen „Mangel an Inhalt“ nach, „den sie durch Überspannung“80 zu verdecken versucht hätten. Aus der glaubensskeptischen und prinzipienlosen Romantik hervorgegangen, hätten sie darüber hinaus den „Mangel einer festen Haltung“ übernommen und wären zu einer bloß „oberflächlichen Universalität einer halben Bildung“81 verleitet worden. Damit wäre die Restaurationsliteratur im „Dilettantismus stecken [ge]blieb[en]“82, so Schmidt. Seine Beurteilung der Vormärzliteratur fiel keineswegs positiver aus. Zurecht „gegen die Zerstreutheit des Zeitalters“83 eintretend, hätten sich die Märzpoeten auf die Kritik des restaurativen Dilettantismus beschränkt und es versäumt, selbständige positive Anschauungen zu entwickeln. Aus dem Grund sei ihre Richtung ebenfalls „ohne Inhalt“84 geblieben. Von „der ewigen Unruhe des Zweifelns, des Suchens, der Begierde und der Furcht bestimmt“, seien ihre Kunstwerke „ohne sittliches Princip“ 85 gewesen und hätten überdies zu einer unkünstlerischen Formlosigkeit tendiert. Umso politischer die Märzpoeten waren, desto entschiedener sei der „Ernst der Kunst“ von einer „Herrschaft der Phrase“86 abgelöst worden. Dementsprechend habe „die eigentliche Märzpoesie“ zu unreinen ästhetischen Ansichten tendiert; sie sei letztlich „noch viel haltloser, trüber, unsittlicher als selbst jene Kunst“ gewesen, gegen die sie sich „durch den Schwung einer neuen Begeisterung zu erheben glaubte.“ 87 Von beiden Varianten des vermeintlich inhalts- und prinzipienlosen subjektiven Idealismus forderte Schmidt eine konsequente Abkehr. Die Akteure des vergangenen Zeitalters „quälten sich mit Fragen und Problemen ab, die keine Berechtigung hatten, die, einem individuellen Gemüthszustand, einem individuellen Krankheitsmoment entnommen, durch den Schein der Allgemeinheit und Idealität in ein verkehrtes Licht 76 Zum Realismusprogramm in den Grenzboten inklusive verwandter Positionen vgl. Aust, Hugo: Realismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2006, S. 64-78. 77 Schmidt, Julian: Die Reaction in der deutschen Poesie (1851). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 83-87, S. 83. Im Folgenden als Schmidt (1851a). 78 Ebd. 79 Ders.: Die Märzpoeten (1850). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 78-83, S. 79. Im Folgenden als Schmidt (1850). 80 Ebd., S. 79. 81 Ebd., S. 79-80. 82 Ebd., S. 79. 83 Ebd. 84 Ebd., S. 80. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd., S. 80-81.

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gestellt wurden.“88 Seine Zeitgenossen, die eine „Wiedergeburt der deutschen Poesie“89 anstrebten, sollten durch ernsthafte Auseinandersetzungen mit dem realen Leben den Dilettantismus überwinden. Nur auf diese Weise ließen sich laut Schmidt die „Tendencen“90 in Ruhe versetzen, von denen die vorausgegangenen Jahrzehnte auch auf literarischem Gebiet geprägt gewesen wären.

5.2 REALISTISCHE DICHTER UND IHRE GEWEIHTEN BLICKE IN DIE BÜRGERLICHE WELT Angesichts der eingeforderten Abkehr vom „subjectiven Idealismus“, riet Schmidt seinen schriftstellernden Zeitgenossen, „energisch mit allen Illusionen“, „erträumte[n] Vorstellungen“ und „unreifem Räsonnement“91 zu brechen, wie sie Romantiker, Dilettanten und Märzpoeten gehegt hätten. Da sie sich angesichts der verschiedenen Tendenzen der vorangegangenen Epoche als „wankend gezeigt“ hätte, sollten sich realistische Dichter nicht länger „an die sogenannte Idee anlehnen“, wie Schmidt betonte: „ihr eigenes Herz soll der Stamm sein, um welchen die Ideen sich ranken.“92 Ihre „bestimmten, concreten Vorstellungen“ sollten sie durch reelle Erfahrungen auf eine „solide sittliche Basis“93 stellen, so dass sie sich als gefestigt erweisen könnten. Der programmatische Realismus Schmidts vollzog damit keine prinzipielle Abkehr vom Idealismus, stattdessen sollte er einen engen „Bezug auf das eigentliche Leben“94 bekommen. Ein Dichter sollte nur an solchen Ideen festhalten, die sich in der Realität bewährt und als sittlich erwiesen haben: „Diese Ausbreitung und Vertiefung der sittlichen Ideen in das Detail des wirklichen Lebens ist die nothwendige, die einzige Grundlage einer echten und großen Poesie.“95 Statt „nach den seltsamsten Empfindungen und Bildern zu jagen“ und sie in kaum verständlicher, form- und maßloser Weise literarisch zu verarbeiten, sollten es realistische Dichter in ihren Werken verstehen, möglichst „allgemeine, jedem Menschen, dem Griechen wie dem Goten, zugängliche und verständliche Ideen“ in einer „angemessene[n] harmonische[n] Form“96 zu vermitteln. Neben der Anbindung an allgemeine sittliche Prinzipien, sollte sich ein Realist damit auch an ästhetischen Konventionen orientieren und statt Formexperimente zu wagen „die Allgemeinheit der schönen Form“ 97 einzuhalten bestrebt sein: „Etwas Conventionelles muß in jeder Kunst liegen.“ 98

88 89 90 91 92 93 94 95 96 97

Ders. (1851a), S. 84. Ders. (1850), S. 80. Ders. (1851a), S. 84. Ders. (1850), S. 82. Ebd. Ebd. Ders. (1851a), S. 87. Ders. (1850), S. 82. Ders. (1851a), S. 85. Ders.: Einige Uebelstände in unsrem Theaterwesen (1852). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 88-89. S. 89. Im Folgenden als Schmidt (1852). 98 Ebd.

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Anstatt sich komplett aus der prosaischen Wirklichkeit zu entfernen und sich dem Studium der griechischen Antike zu widmen, wie es Schiller gefordert hatte, sollte sich ein realistischer Dichter bewusst mit der Gegenwart konfrontieren. Während Vischer einen Rückzug in den Kreis der bürgerlichen Familie vorschlug, von wo aus die Konflikte der Gesellschaft aus sicherer Distanz beobachtet werden sollten, schwebten anderen Programmrealisten intensivere Arten der Auseinandersetzung vor. Freytag forderte, dass sich Schriftsteller unbedingt die „Mühe“ machen sollten, das gesellschaftliche „Leben selbst kennen zu lernen“, um daraus die „interessantesten Anregungen“99 für das eigene Schreiben zu gewinnen. Da es jedoch in Deutschland „kein Salonleben“ gäbe und die Menschen auch „nicht in einer großen Stadt zusammenzubringen“ wären, sollten sie sich „um die Arbeit der Deutschen kümmern.“100 Für realistische Romanautoren würde das Leben von „Landwirthen, Kaufleuten, Fabrikanten usw.“ reichlichen Stoff bieten, da es „die Grundlage für so unzählig viele höchst interessante und auffallende Beziehungen der Menschen zu einander“ wäre und auch „die erschütterndsten Leidenschaften und die allermerkwürdigsten Verwickelungen“101 mit sich brächte. Soweit ein solches Arbeitsleben „mit Ernst und Ausdauer verfolgt“ würde, wäre es auch keinesfalls „der Poesie und Schönheit bar“102, so dass es sich Freytags Meinung nach für eine literarische Verarbeitung geradezu aufdränge. Dagegen kritisierte er die Mehrzahl seiner zeitgenössischen Berufskollegen, die „das Poetische immer noch im Gegensatz zu der Wirklichkeit“ suchen und deshalb in ihren Romanen bloß „schattenhafte Helden in den allerunwahrscheinlichsten Situationen dem wirklichen Leben wie ein Gegenbild gegenüberstellen“103 würden. Produktionsästhetische Kernforderung im programmatischen Realismus war es demnach, dass die Dichter die empirische Realität, über die sie schreiben wollten, auch kennen sollten. Sie sollten die Menschen, ihre Tätigkeiten und ihren Bezug zur Gesellschaft bereits vor dem Schreibprozess „sehr genau und mit allen Einzelheiten studirt haben“, bevor sie sie laut Freytag „idealisirt“104 zur Darstellung bringen dürften. Demgemäß schrieb auch Ludwig, dass ein Realist über den „Reichthum“ der Wirklichkeit genau Bescheid wissen müsse, um „vollständig über ihn disponiren“105 zu können. Damit benutzte er einen Begriff, der laut einem 1835 erschienenen Artikel in der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste seinem lateinischen Ursprung nach bedeutete, „die Stellung gewisser Sachen in Ordnung“106 zu bringen. In kaufmännischem Kontext bezog man ihn auf den Warenbestand und die Güterströme, über die es in einem Geschäft nach ökonomischen Gesichtspunkten zu 99 Freytag, Gustav: Deutsche Romane (1853). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 71-72, S. 71. Im Folgenden als Freytag (1853b). 100 Ders. (1853a), S. 73. 101 Ders. (1853b), S. 71. 102 Ebd., S. 72. 103 Ebd. 104 Ders. (1853a), S. 72. 105 Ludwig (1874), S. 103. 106 Buddeus: [Art.] Disposition. In: Ersch, J. S. u. Gruber J. G. (Hgg.): Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge. Erste Sektion A-G, 26. Theil. Leipzig 1835, S. 74-76, S. 74.

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verfügen galt. In rhetorischer Hinsicht meinte „Disposition“ aber auch die „Pflicht des Redners“, seine Abhandlung ordnungsgemäß zu entwerfen, d.h. die „Theile des Ganzen nach Zahl und Verhältniß“ anzuordnen, wodurch auch die Schönheit des Ganzen erwirkt, mindestens gefördert wird; so hat die Anordnungskunst (ars disponendi), inwiefern man sie als eine für sich bestehende Kunst betrachtet, ihre Regeln theils aus Grundsätzen der Logik, theils aus Grundsätzen der Ästhetik, theils aus der Wissenschaft, in welcher sie gerade angewendet wird, zu entnehmen. 107

Wenn die Programmrealisten von der Pflicht eines Autoren sprachen, über die Wirklichkeit „disponieren“ zu können, meinten sie damit, dass er im kreativen Prozess problemlos über sie verfügen und sie nach bestimmten ästhetischen und sittlichen Grundsätzen anordnen müsse. Auch Schmidt verlangte von einem „Dichter, der das Leben der Gegenwart zum Gegenstand nimmt“, dass er „über dasselbe in seiner ganzen Fülle disponiren“ 108 müsse: Um poetisch wahr darzustellen, um einmal nicht gegen das Gesetz der Wirklichkeit zu verstoßen, und um den Schein des Lebens, die plastische Körperlichkeit seiner Figuren hervorzubringen, muß er die materiellen Mittel in der vollsten Ausdehnung in seinem Besitz haben. Wenn er einen charakteristischen Zug gebraucht, so muß er ihn nicht erst suchen dürfen, er muß in seiner Seele bereits gegenwärtig sein und sich ihm gewissermaßen aufdrängen. 109

Zunächst sollte ein Autor die Zusammenhänge des realen Lebens kennenlernen (Beobachtung), um sie in seinen Werken schließlich möglichst wahrheitsgetreu in Szene setzen zu können (Darstellung). „Der wahre Realismus der Beobachtung“ bestand laut Schmidt in der Fähigkeit, „schnell die charakteristischen Züge“ der Wirklichkeit respektive „den wahren Inhalt der Dinge“ zu erkennen, wohingegen er eine mangelhafte Unterscheidungsfähigkeit zwischen Charakteristischem und Uncharakteristischem als „falsche[n] Realismus der Beobachtung“110 bezeichnete. „Der wahre Realismus in der Darstellung“ zeige sich, wenn ein Künstler „über die nöthige Technik“ verfüge, mit der er das Leben charakteristisch und wahr „nachbilden“111 könne. Ein Poet, der „diejenigen Momente, die das Leben hervorbringen, nicht richtig zu wählen“112 wisse, würde indessen gegen das realistische Darstellungsprinzip verstoßen. Für einen wahren Realisten hielt Schmidt einen Dichter somit dann, wenn er es verstünde, charakteristische, auf einen wahren Kern der Dinge hinweisende Wirklichkeitsausschnitte ohne Überzeichnungen oder Verzerrungen realitätsgetreu abzubil107 Ebd. 108 Schmidt, Julian: Der neueste englische Roman und das Princip des Realismus (1856). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 90-94, S. 91. Im Folgenden als Schmidt (1856). 109 Ebd. 110 Ders.: Schiller und der Idealismus (1858). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 94-94, S. 95. Im Folgenden als Schmidt (1858a). 111 Ebd. 112 Ebd.

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den. Uncharakteristische Wirklichkeitsaspekte, die der substantiellen Wahrheit entbehrten, sollte er dagegen als ästhetische Verunreinigungen behandeln und aussparen. Von einem „Dichter gilt in noch weit höherem Grade wie vom Geschichtsschreiber, daß er unendlich mehr wissen muß, als sagen“ 113, womit Schmidt ihn an ein Schweigegebot band. Beobachtungs- und Darstellungsgabe galten als die beiden Basisfähigkeiten realistischer Dichter. Zunächst sollten sie die Kompetenz besitzen, den in der Wirklichkeit eingeschlossenen poetischen Gehalt zu erkennen. „Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken.“114 Die hier von Theodor Fontane gebrauchte Bezeichnung „Auge des Geweihten“ mutet genieästhetisch an. Seine Erwartung an den Künstler beschränkte sich allerdings nicht auf dessen inspirative Beobachtungsgabe. Neben der „ideelle[n] Durchdringung“ des Lebens müsse er dazu in der Lage sein, die ‚durchdrungene‘ Wahrheit in möglichst „vollendete[r] Form“115 herauszuarbeiten: „die Hand“, die sie gestaltet, sollte „eine künstlerische sein.“ Dabei dürfe sich der Realist nicht mit einer „daguerreotypisch-treue[n] Abschilderung des Lebens und seiner mannigfachsten Erscheinungen“116 zufrieden geben. Statt einer fotographischen Wiedergabe der oberflächlichen Wirklichkeit sollte ein Realist zusätzlich auch die poetische Tiefendimension derselben in einer Weise darstellen, dass sich ein verklärtes Abbild von Realität ergab. Dies bedeutete aber auch, dass Realien, die den ideellen Eindruck beeinträchtigten, aus Kunstwerken herausgelöst werden sollten. Mangels poetischen Gehalts galten sie als ästhetische Abfälle. Für Freytag stand fest, dass ein Realist nicht nur „das Leben anzusehen wissen“, sondern darüber hinaus einerseits genügend „Bildung, die dasselbe versteht“ und andererseits genügend „Schönheitssinn, der dasselbe zu idealisiren weiß“ 117, besitzen müsse. Damit sollte er die Fähigkeit aufweisen, zwischen idealer und unverklärbarer Wirklichkeit zu unterscheiden. Desweiteren sollte ein Realist auch ein moralisch gefestigter, besonnener, taktvoller, unpolitischer Optimist sein. So könne die „Schlußkatastrophe“ in einem Drama nur dann gelingen, wenn ihr Verfasser „ein feines und sicheres ethisches Fühlen“118 besäße. Um dem Werk eine angemessene „Versöhnung“ beizugeben, die „dem Gefühl des Schauenden nicht widerstrebt“, dürfe er sich weder von „Rohheit“, noch von „weiche[r] Sentimentalität“119 beherrschen lassen. Überdies sollte er „ein starkes und freudiges Gemüth“ vorweisen, um „durch das Schlechte und Verkehrte“ niemals „verbittert“ zu werden und voll von „gutem Zu-

113 Ders. (1856), S. 91. 114 Fontane, Theodor: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853). In: Theorie des bürgerlichen Realismus (1985), S. 140-148, S. 146. Im Folgenden als Fontane (1853). 115 Ders.: Soll und Haben (1855). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 328336, S. 329. Im Folgenden als Fontane (1855). 116 Ebd. 117 Freytag (1853b), S. 71. 118 Ders.: Die Technik des Dramas (1849). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 432-436, S. 432-433. Im Folgenden als Freytag (1849). 119 Ebd., S. 435.

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trauen zur Menschheit“120 zu bleiben. Dementsprechend wären Dichter vor allem durch die „politischen Leidenschaften“ gefährdet, wie sie „in das Leben jedes Einzelnen dringen“121 würden. Im Motto seines 1855 erschienenen Romans Soll und Haben äußerte Freytag sich dazu folgendermaßen: Wer in solcher Zeit Poetisches gestaltet, dem fließt nicht die freie Liebe allein, auch der Haß fließt leicht aus dem schreibenden Rohr, leicht tritt an die Stelle einer dichterischen Idee die praktische Tendenz, und statt freier Laune findet der Leser vielleicht eine unschöne Mischung von plumper Wirklichkeit und gekünstelter Empfindung. 122

Um seinen Werken keine störenden Tendenzen zu unterlegen, sollte es ein Dichter erstreben, „seine eigene Seele frei von Ungerechtigkeit“ 123 zu halten. Dazu sollte er es versuchen, sich „die heitere Ruhe“, die „zur künstlerischen Gestaltung“ 124 nötig wäre, zu bewahren. Ohne es explizit auszusprechen, verlangte Freytag von den Autoren des Nachmärz damit eine unpolitische Haltung und insbesondere eine Abkehr von allem tagespolitischen Engagement. Die künstlerische Nachahmung der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit sollte von politischen Tendenzen bereinigt bleiben. Da die Politik mit ihrer Meinungs- und Stimmenvielfalt als wankend galt, stand die unpolitische Haltung übrigens in keinem Gegensatz zu den verschiedentlich von den programmatischen Realisten eingeforderten festen Grundsätzen. Durchaus sollte ein Dichter nach Berthold Auerbach „einen bis zu einer gewissen Festigkeit erlangten Boden“ unter seinen Füßen haben „und nicht erst gestern angeschwemmtes lockeres Land, das vielleicht morgen die Fluth wieder verschlingt.“125 Ganz ähnlich verlangte auch Ludwig „Haltung, Vermeidung des Unruhigen, Hastigen.“ 126 Er war überzeugt davon, dass sich den Lesern die „Ungeduld“ des Verfassers eines Romans „sympathetisch“127 mitteilen würde. Nur wenn „eine kräftige heitre Gesundheit die Stimmung des Autors“ bestimmen würde und er seine Phantasie „im Zügel eines großen Verstandes“ zu halten wisse, der der Geschichte „den Weg vorschreibt, sie antreibt und zurückhält“, könne er auch die Handlungszusammenhänge angemessen „[u]nterordnen und [a]useinanderhalten“ 128 , so Ludwig. Haltlosigkeit, Unruhe und 120 Ders.: Für junge Novellendichter (1872). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 397-400, S. 398. Im Folgenden als Freytag (1872). 121 Ders. (1896), S. 4. 122 Ebd., 123 Ebd. 124 Ebd., 125 Auerbach, Berthold: Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J. P. Hebel´s (1846), zit nach Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 158-163, S. 162. Im Folgenden als Auerbach (1846). 126 Ludwig, Otto: Dickens und die deutsche Dorfgeschichte. In: Ders.: Romane und Romanstudien. Hg. von William J. Lillyman. Wien 1977, S. 545-551, S. 546. Im Folgenden als Ludwig: Dickens. 127 Ebd. 128 Ders.: Wesen und Technik des Romans bei den Engländern. In: Ders.: Romane und Romanstudien. Hg. von William J. Lillyman. Wien 1977, S. 533-541, S. 534-535. Im Folgenden als Ludwig: Technik des Romans.

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anderweitige Störungen galten als Verstöße gegen die ästhetische Ordnung, die ein Realist, der eine verklärte Wirklichkeit schildern wollte, vermeiden sollte.

5.3 DIE „POETISCHE VERKLÄRUNG“ DER WIRKLICHKEIT Die in realistischer Literatur geschilderte Wirklichkeit sollte unbedingt „Thatsachen der gegebenen Welt“129 zur Grundlage nehmen. Ein Dichter „der neueren Zeit“ dürfe es deshalb keineswegs scheuen, den „herben Roh-Stoffe des realen Lebens“130 zum Gegenstand seiner Schilderungen zu machen. Allerdings sollte er es verstehen, diesen Stoff künstlerisch so zu bearbeiten, dass sein poetischer, über seine Materialität hinausweisender Mehrwert sichtbar wird. Fontane umschrieb diesen Gedanken wiefolgt: „Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das blos Handgreifliche, aber er will das Wahre.“ 131 Den Realisten sei es in ihren Werken um eine „Wiederspiegelung [sic] alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst“ 132 zu tun, so Fontane weiter. Mithin sollte die dargestellte Realität durchaus „das Größte wie das Kleinste“ sowie „den höchsten Gedanken“ und „die tiefste Empfindung“ 133 umfassen. Der ‚Spiegel‘ der Realisten sollte auch nicht nur die Oberfläche, sondern zusätzlich den wahren Inhalt der Dinge reflektieren und sich damit vom „nackte[n], prosaische[n] Realismus“ unterscheiden, welchem „noch durchaus die poetische Verklärung fehlt.“134 Viele selbstverständlichen, stofflichen und sinnlichen Aspekte des Lebens galten vom ‚poetischen‘ Standpunkt der Programmrealisten als der Verklärung bedürftige Unreinheiten. Das realistische Konzept „künstlerischer Verklärung“ 135 bedeutete, die Wirklichkeit ohne sie zu verfremden in einer Weise zu bearbeiten, dass ihr wahrer Gehalt sichtbar wird. Ein Realist „ordnet, läutert und gestaltet sie zum Ganzen, so daß aus diesem die Idee hervorleuchtet“136, schrieb Carrière. In ihren Schriften haben die programmatischen Realisten zahlreiche mögliche Operationen erläutert, mit denen die Verklärung der Wirklichkeit in einem Kunstwerk gelingen könne. Mit Ordnungs-, Idealisierungs- und Läuterungstechniken lassen sich diesbezüglich drei typische Gestaltungsmethoden identifizieren137: 129 130 131 132 133 134 135 136 137

Carrière (1857), S. 45. Vischer (1857), S. 219. Fontane (1853), S. 147. Ebd. Ebd. Ebd., S. 142. Meyr (1859), S. 46. Carrière (1857), S. 45. Die Begriffe ‚Verklärung‘, ‚Idealisierung‘ und ‚Läuterung‘ sind nicht selten in nahezu äquivalenter Weise verwendet und nicht immer klar voneinander unterschieden worden. Trotzdem lässt sich die Tendenz erkennen, dass ‚Verklärung‘ häufig als Oberbegriff für alle produktionsästhetischen Verfahren fungierte. Die Begriffe ‚Idealisierung‘ und ‚Läuterung‘ wurden wie das ‚Ordnen‘ in der Regel als Bezeichnungen für jene spezifischen Gestaltungsmethoden benutzt, die auf den folgenden Seiten in den Blick genommen wer-

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(5.3.1) Es sollte eine aufgeräumte, wohlgeordnete Wirklichkeit erzeugt werden. Dabei stellt sich die Frage, nach welchen formalen Prinzipien ein Kunstwerk aufgebaut werden sollte. Welche Aspekte standen einem ungetrübten ästhetischen Eindruck entgegen und sollten deshalb entweder anders angeordnet oder gänzlich herausgefiltert werden? (5.3.2) Es sollte eine Idealisierung des gewöhnlichen Lebens stattfinden, weshalb gefragt werden muss, was als den ästhetischen Eindruck verunreinigende Störung dieses Idealisierungsprinzips aufgefasst wurde. (5.3.3) Nicht idealisierbare Wirklichkeitsaspekte galten als nicht kunstwürdig und mussten bereinigt werden. Welche aus realistischen Kunstwerken herauszuläuternden Stoffe lassen sich identifizieren? Dass irreale Dinge nicht in realistischer Literatur dargestellt werden durften, sei den folgenden Ausführungen vorangestellt; „die Chimäre, die Lüge, der Unsinn“ 138 galten als grundsätzliche Verstöße gegen das Realitätsgebot. Phantastische Sujets, wie sie die Romantiker mit ihrer „Gespenster- und Maskenwirthschaft“139 häufig zur Darstellung brachten, kamen nicht mehr in Frage. Laut Schmidt würden die Abweichungen von der Realität bei den Lesern „eine große Verwirrung“ stiften: „Was ist eigentlich schön und was häßlich? was gut und was böse? was ist ideal und was nicht? ja: was ist wirklich?“140 Auch „ein gesundes Volk“ könne eine solche Infragestellung der üblichen ästhetischen und sittlichen Kategorien nicht lange Zeit „ertragen“141. 5.3.1 Aufgeräumte Wirklichkeit Grundgedanke realistischen Weltverständnisses war, dass das Ideal zwar Teil der empirischen Realität ist, aber aufgrund allgegenwärtiger Unordnung nie in Gänze erfahrbar sein könne. Leistung realistischer Literatur sollte es demnach sein, dieses verschüttete Ideal herauszuarbeiten und in Gänze sichtbar zu machen. Aus der in realistischen Werken abgebildeten Wirklichkeit sollte die Unordnung empirischen Daseins getilgt sein. Somit war es Aufgabe des Dichters, die geschilderte Realität aufzuräumen. Sie sollte, wie Meyr es formuliert hat, in eine „Ordnung“ versetzt werden, „wie wir sie in der Wirklichkeit nicht finden“142 könnten. Beim Erschaffen eines Kunstwerks sollte deshalb in einer Weise über die Realität verfügt werden, dass der „Zusammenhang“ der gestalteten Welt „sichtbarer“ hervortreten würde, als er sich laut Ludwig „in der wirklichen“143 Welt darstellte.

138 139 140

141 142 143

den. Zum Konzept der ‚Verklärung‘ vgl. Plumpe (1996b), S. 50-57 sowie Becker (2003), S. 103-110. Schmidt (1858a), S. 95. Ders.: Geschichte der deutschen Literatur seit Lessing´s Tod (1858). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 343-346, S. 344. Im Folgenden als Schmidt (1858b). Schmidt, Julian: Die Verwirrung der Romantik und die Dorfgeschichte Auerbachs. In: Theorie des bürgerlichen Realismus (1985), S. 106-110, S. 108. Im Folgenden als Schmidt: Dorfgeschichte. Ders. (1858b), S. 344. Meyr (1863), S. 132. Ludwig (1874), S. 102.

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Die Kunstwelt des künstlerischen Realisten ist ein erhöhtes Spiegelbild des Gegenstandes, aber nach dem Gesetze der Malerei zu klarer Anordnung gediehen, so daß nicht das Eine das Andere verdeckt, noch eine Verwirrung entsteht, indem man zusammensuchen müßte, was zu einer und derselben Gestalt gehört.144

Um ein solch „künstlerisches Spiegelbild“ der „gemeinen Natur“ zu erschaffen, dürfe in einem Kunstwerk „die Mannigfaltigkeit der Dinge“ nicht gänzlich getilgt, jedoch müsse sie „durch Harmonie und Kontrast für unsern Geist in Einheit gebracht“ 145 werden. Ein Realist, so Ludwig weiter, müsse „seiner wiedergeschaffenen Welt“ deshalb „so viel von ihrer Breite und Mannigfaltigkeit“ lassen, „als sich mit der geistigen Einheit vertragen“146 würde. Damit aber wies er die Realität des poetischen Realismus als Ergebnis einer Ordnungs- und Abstraktionsleistung aus: sie müsse „von Dem, was dem Falle gleichgültig ist, gereinigt“ 147 werden. Die ungeordneten, disharmonischen Zusammenhänge gemeinen Lebens galten Ludwig als ästhetische Unsauberkeiten. Auch der von Auerbach konzipierte „gesunde Realismus“ sollte eine üblicherweise nicht sichtbare „Schönheit und Gesetzmäßigkeit offenbar[en]“, mit der den Lesern eine „Freude an der Welt, an der wirklichen Welt“ 148 vermittelt werden sollte. So gesehen sprach er realistischer Literatur eine kompensatorische, von den Mängeln der Gegenwart ablenkende Funktion zu. Für die Programmrealisten war Literatur aber vor allem ein spezifisches Erkenntnisinstrument, mit dem laut Schmidt eine „nach der göttlichen Seite hin idealisi[erte]“149 Wirklichkeit kenntlich gemacht werden sollte. In diesem Sinne betonte Auerbach, dass ein Dichter die Welt, die er schildern wollte, einerseits realistisch glaubhaft darstellen, andererseits „nach höheren Gesichtspunkten“ gestalten müsse: er „richtet und ordnet, er schaltet frei, er kann und soll abschließen, wo die Wirklichkeit noch bei der Halbheit und Zerrissenheit verharrt.“150 Die programmatischen Realisten gingen also von einer den Dingen innewohnenden Gesetzmäßigkeit und einer sich daraus ergebenden idealen Weltordnung aus, nach der sich die Dichter beim Aufräumen der Wirklichkeit richten sollten. Der idealistisch inspirierte Realist müsse „den Stoff ordnen, in Beziehungen bringen, ihm das Gesetz diktieren“151, so Homberger. Gustave Flaubert kritisierte er, in Madame Bovary die notwendigen Zuordnungs- und Grenzziehungsprozesse unterlassen zu haben: Alles, Steine, Pflanzen, Möbel, Kunstwerke, Menschenherzen liegen für den Dichter neben einander auf gleicher Fläche, und darum beschreibt er sie alle gleich sorgsam, gleich treu und 144 145 146 147 148

Ebd., S. 103. Ebd., S. 102-103. Ebd., S. 102. Ebd. Auerbach, Berthold: Gottfried Keller von Zürich (1856). In: Realismus (2011), S. 41-42, S. 41. Im Folgenden als Auerbach (1856). 149 Schmidt (1851), S. 88. 150 Auerbach (1846), S. 162. 151 Homberger, Heinrich E.: Gustave Flaubert (1870). In: Theorie des bürgerlichen Realismus (1985), 198-204, S. 200. Im Folgenden als Homberger: Flaubert.

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gleich theilnahmslos. Es gibt nichts wichtiges in dieser unaufhörlichen Schilderung, welche sich immer auf demselben Plane fortbewegt, und nichts bleibt als zu unwichtig ungeschildert; der Spiegel, welcher der Natur vorgehalten wird, hat keinen Brennpunkt, das Bild, welches er spiegelt keinen Abschluß. Denn wo will der Realist Gränzen finden wenn das Ideal sie ihm nicht zieht? Und während das Ganze unbegrenzt bleibt, fehlt zwischen dem Einzelnen Zusammenhang und Verhältnis.152

Indem Flaubert seine Welt nicht in Ordnung gebracht hat, habe er die „verstümmelte Natur als die ganze Natur dar[zu]stell[en]“ versucht und damit den ihr innewohnenden „Geist gebannt“153. Aus dem Grund müsse man ihm den „Vorwurf der Unsittlichkeit“154 machen, so Homberger. Formalästhetische Kernforderung der programmatischen Realisten war es, die „Bilder rein zu halten von Verzerrung“ 155 und „keine ungewöhnlichen Striche und hellen Farben“156 zu verwenden. Da sie bei den Rezipienten die „erfreu[ende] und erheb[ende]“157 Wirkung beeinträchtigen würden, waren Formexperimente unerwünscht. Überdies sollten realistische Dichter in ihren Werken „eine einheitliche, abgeschlossene, vollständig verständliche“ Handlungsführung anstreben, deren „innerer Zusammenhang dem vernünftigen Urtheil und den Bedürfnissen des Gemüthes völlig Genüge“158 tun könne. Stimmungen und Charaktere müssten in einem Drama oder einem Roman stets konsequent zur Darstellung und „Ereignisse zu einem Abschlusse“ gebracht werden, wie ihn „die baare Wirklichkeit noch nicht gibt.“ 159 Laut Meyr sollte ein Dichter bestrebt sein, „[a]lles Einzelne auf seinen Platz im Ganzen zu stellen und es festzuhalten auf ihm“160 und damit eine in sich konsistente Handlung zu erzeugen. In dem auf diese Weise „neuconstruierten Organismus“ müssten „nicht nur das Große und Erhabene, sondern auch das Kleine und Geringe, ja das Niedrige und Gemeine“161 so angeordnet sein, dass von ihnen keine „Gefahr“162 mehr für die harmonische, künstlerisch verklärte Ordnung des Kunstwerks ausgehen würde. Unbedeutende und gemeine Dinge dürften dargestellt werden, sollten aber unbedingt auch als unbedeutend und gemein erscheinen. Nebensächlichkeiten sollte mithin kein zu großer Raum eröffnet werden. Als einen Autor, der in seinen Werken die Dinge nach ihrer jeweiligen Bedeutung optimal arrangieren würde, lobte Fontane seinen Kollegen Freytag:

152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162

Ebd., S. 199. Ebd., S. 201. Ebd. Freytag (1896), S. 4. Schmidt, Julian: Neue Romane (1854). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 381-382, S. 382. Freytag (1872), S. 397. Ebd. Auerbach (1846), S. 162. Meyr, Melchior: Gedichte (1857). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 127-129, S. 128. Im Folgenden als Meyr (1857). Ders. (1863), S. 134. Ders. (1857), S. 128.

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Es giebt Baumeister, die ein erbärmlich schlechtes Haus bauen, aber die unbestrittene Gabe der Dekorirung, des Genies innerhalb der Niedlichkeit haben. Zu diesen zählt Gustav Freytag nicht, vermuthlich weil er nicht will. Er weiß zwischen Haupt- und Nebensache zu unterscheiden, und während er nicht Anstand nimmt die Candelaber und Consolen, die Wendeltreppchen und Kaminsimse, die Ofenbleche und Feuerzangen da her zu nehmen, wo sie nun ´mal erwiesenermaßen am besten zu haben sind, richtet er als ein wirklicher Meister seine Aufmerksamkeit auf den Grundriß, den Gedanken des Baus selbst und hält Maaß und Gesetz.163

Die Ordnung realistischer Kunstwerke war an die Normen und Maßstäbe der bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft gekoppelt. Aus dieser Perspektive heraus gerieten Alltagsgegenstände, für deren Sauberkeit und Funktionieren die Hausfrau oder das Dienstpersonal zuständig waren, zu Nebendingen, denen nur eine geringe Aufmerksamkeit zugebilligt wurde. Unter der Prämisse, jedes Ding auf einen ihm gebührenden Platz zu stellen, sollten auch Spannungen, Gegensätze und Konflikte in eine Roman- oder Dramenhandlung eingepasst werden können. Laut Ludwig benötigte jeder Roman ein „Rückgrat“ in Form einer interessanten „Hauptbegebenheit“, auf die sich „alle Personen wie alle Nebenbegebenheiten“164 beziehen und die zueinander wiederum in einem „richtige[n] Verhältnis“165 stehen müssten. Mit einer auf diese Weise harmonisch aufeinander bezogenen Handlungsführung ließen sich selbst unvereinbare Dinge und Ideen miteinander in Beziehung setzen. So lobte er Charles Dickens dafür, in Great Expectations „das Disparateste in einer idealen Komposition“166 zusammengebracht zu haben. Eine „spannend geordnet[e]“ Handlung dürfte aber, um die Leser möglichst „angenehm [zu] unterhalten“, keinesfalls „unruhig, unstet, haltungslos“ 167 auf sie wirken. Aus dem Grund sollten Spannung erzeugende, tragische Verwicklungen stets einen „gute[n] Ausgang“168 nehmen. Ludwigs Harmonierezept lautete: „Heiraten, Reichwerden, Vornehmwerden der Helden und womögliches Sichausweisen auch der wildesten und kältesten Bösewichter als von Hause aus oder am Ende des Buches guter Kerle.“169 Eine Geschichte müsse damit von einer „poetischen Gerechtigkeit“ 170 bestimmt sein, die bereits in ihrem Verlauf auf ihr ‚Happy End‘ verweist. Zwar sollte ein Leser angesichts unerwarteter Wendungen und Katastrophen „das Vergnügen des Ahnens, des Ratens“171 haben, wie sich die Verwicklungen wohl auflösen werden. Er müsse dabei aber immer auf die einem Roman innewohnende „Gerechtigkeitsliebe“ vertrauen und sicher sein dürfen, dass am Ende „die Ränkespinner in ihren eignen Net163 164 165 166 167 168 169 170 171

Fontane (1855), S. 329. Ludwig: Technik des Romans, S. 536. Ebd., S. 533. Ders.: Volksroman ‒ Volkslitteratur. In: Ders.: Romane und Romanstudien. Hg. von William J. Lillyman. Wien 1977, S. 635-654, S. 640. Im Folgenden als Ludwig: Volksroman. Ebd., S. 636-637. Ebd., S. 642. Ebd. Ders.: Technik des Romans, S. 537. Ebd.

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zen“172 gefangen werden. Das tragische Scheitern des Guten und der Sieg des Schlechten waren für Ludwig gleichsam ästhetische und moralische Ordnungsverstöße. Nur ein Roman, der solche Ordnungsverstöße vermied, hielt er für „[ä]sthetisch und moralisch zweckmäßig“173 arrangiert. Konflikte sollten nach Meinung der programmatischen Realisten im Handlungsverlauf gelöst werden. Sollten sie doch einmal tragisch enden, müssten sie laut Auerbach kräftige Spuren einer „Versöhnung in sich tragen“174; immer sollten die „Lichtseiten in all dem grausen Wirrwarr“ 175 des Lebens sichtbar bleiben. Auch Freytag beschied, dass es stets zu einer „Versöhnung der kämpfenden Gegensätze“ 176 kommen sollte. Dadurch könne die „Seele des Zuschauers Erhebung und Frieden“177 finden. Vor allen Dingen müsste in jedem literarischen Werk „die Wiederherstellung der durch die Helden gestörten ethischen Ruhe“178 vollzogen werden; „im Reiche der Kunst, der Freiheit und Schönheit“ müssten Freytags Überzeugung nach die ewigen Gesetze der Sitte und des Rechtes stets klar und allmächtig heraustreten, denn die einzige Grundlage wahrer Schönheit ist der sichere Fond von ethischen Empfindungen, welche der Dichter und seine Zeit haben. Wo dieser Grund wankt oder verloren gegangen ist, da wird das Schöne häßlich und die edelsten Intentionen des Schreibenden verwandeln sich in seiner Feder zu gemeiner Caricatur.179

Meyr betonte, dass in ein wohlgeordnetes Werk schöner Kunst selbst „das moralisch Verdammliche, das Böse“180 integriert werden dürfte. Um das Gerechtigkeitsempfinden der Leser nicht zu verletzen, dürfte es aber „nicht etwa als das Gute vorgeführt und behandelt“181, stattdessen sollte es in seiner Motivation sichtbar gemacht und im Handlungsverlauf bestraft werden. Auch Carrière hob die prinzipielle Offenheit seines Realismusverständnisses hervor. „Alles Wirkliche ist darstellbar für die Kunst“182, schrieb er und betonte, dass ein Realist durchaus „der Erregung des Augenblicks auch im schroffen Wechsel der Töne folgen“ und Widersprüchliches thematisieren dürfe, schließlich könne man auch „aus aufgelösten Dissonanzen eine Harmonie erzeugen.“183 Sogar „das Häßliche und Prosaische“184 ließe sich künstlerisch darstellen. Gerade wenn ein Künstler „Höhen und Tiefen“ des Lebens erfassen und dramatische Handlungen schildern wolle, müs-

172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184

Ebd. Ebd. Auerbach (1846), S. 163. Ebd., S. 162. Freytag (1849), S. 432. Ebd. Ebd. Ders. (1853a), S. 72. Meyr (1863), S. 132. Ebd., S. 133. Carrière (1859), S. 488. Ders. (1857), S. 44. Ebd.

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se er „auch das Häßliche aufnehmen.“185 Erst durch dessen Präsenz könne in einem Kunstwerk die Schönheit zur Geltung kommen. Dem Hässlichen gestand Carrière somit die Funktion zu, „dem Edeln und Reinen zum Contrast und zur Folie [zu] dienen“, wodurch sich das Schöne „als das Wahre und Rechte“ 186 erweisen würde. Mit der Kategorie des Hässlichen wurde erörtert, inwieweit ästhetische und sittlichmoralische Ordnungsverstöße in realistischer Literatur integriert werden dürften. Carrière formulierte mehrere miteinander verknüpfte Bedingungen, die bei der Darstellung des Hässlichen erfüllt sein müssten. Sie sollten verhindern, dass ein Kunstwerk ästhetisch oder moralisch verunreinigt wird. Das Hässliche war für Carrière eine dem Bösen und der Lüge verwandte „Entartung zur Maß- und Formlosigkeit“187 und damit ein störender, die Schönheit trübender Faktor, der in einem Kunstwerk durch „Verzerrung und Widerwärtigkeit“ den „Zusammenklang der Theile zum Ganzen“ 188 bekämpfe. Ein Dichter müsse deshalb besonders darauf achten, dass die Harmonie nicht allzu sehr gestört werde. Deshalb dürfe das Hässliche erstens niemals „für sich allein stehn“; beispielsweise sollten hässliche Züge einer Figur von ihren „positiven Eigenschaften getragen“ werden, „sodaß wir in ihnen sogleich ein Gegengewicht haben“189. Gleiches gälte für vordergründig widerwärtige Handlungen, die im Kern einen „geistig edeln Ausdruck“ 190 besitzen müssten; Verbrechen sollten sich im Handlungsverlauf etwa als human erweisen. Zweitens dürfe sich das Hässliche niemals durchsetzen, es müsse überwunden werden. Das „Ausbleiben der poetischen Gerechtigkeit, die nichts anders ist als die sittliche“, kritisierte Carrière dementsprechend als eine „Verirrung ins Häßliche“191; es verfiele ein Dichter zum Beispiel dann „in Häßlichkeit“, wenn er das entsetzliche Leiden von „Unschuldigen“192 in Szene setzen würde. Wenn er darüber hinaus noch „das Widerwärtige des Häßlichen“193 als „in der Ordnung“194 darstellen wolle und es sogar „für Schönheit auszugeben“195 wage, würde er nicht nur ästhetisch hässlich, sondern auch unmoralisch und unwahr handeln. Das Hässliche niemals „als das Berechtigte“196 erscheinen zu lassen, war mithin die dritte Bedingung. 5.3.2 Idealisierung des Gewöhnlichen Favorisierte Bezugsebene realistischer Literatur war der normale bürgerliche Alltag. Während alles „Abentheuerliche, Seltsame, in feindlichem Gegensatz zu der gewöhnlichen Lebensordnung Ringende“ aus einer Dramen- oder Romanhandlung her185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196

Ders. (1859), S. 147. Ebd., S. 151. Ebd., S 137. Ebd., S. 138. Ebd., S. 147. Ebd., S. 150. Ebd., S. 155. Ebd., S. 149. Ebd., S. 150. Ebd., S. 149. Ebd., S. 155. Ebd., S. 138.

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auszuhalten wäre, sollte laut Freytag bevorzugt, „Heiteres oder Rührendes, das aus dem Alltagsleben herauswächst“197, gestaltet werden. An sich galt das gewöhnliche Leben allerdings noch nicht als poetisch. Aufgabe des Dichters war es, die idealen Momente des Alltagslebens akzentuiert zur Darstellung zu bringen. In diesem Sinne schrieb Schmidt, dass Realisten „in der Wirklichkeit zugleich die positive Seite aufsuch[en]“198 sollten: „Wenn die Dichtung ein Duplicat des Wirklichen gäbe, so wüßte man nicht, wozu sie da wäre. Sie soll erheben, erschüttern, ergötzen; das kann sie nur durch Ideale.“199 Der Fehler der Idealisten vergangener Zeiten sei es gewesen, ihre Ideale abseits „der gewöhnlichen Wirklichkeit“ 200 zu suchen, so dass sie unglaubwürdig gewesen seien. Gegenüber diesem „falsche[n] Idealismus“201 sollte sich der Realismus gewissermaßen als der bessere Idealismus erweisen, da er der Wahrheit näherkäme. Sein idealistisch imprägniertes Realismusverständnis brachte Schmidt folgendermaßen auf den Punkt: Der Zweck der Kunst, namentlich der Dichtkunst, ist, Ideale aufzustellen, d. h. Gestalten und Geschichten, deren Realität man wünschen muß, weil sie uns erheben, begeistern, ergötzen, belustigen usw.; das Mittel der Kunst ist der Realismus, d. h., eine der Natur abgelauschte Wahrheit, die uns überzeugt, so daß wir an die künstlerischen Ideale glauben.202

Ludwig schlug seinen Autorenkollegen vor, zur Idealisierung „die Methode des Taschenspielers als Muster“203 zu nehmen. Realisten müssten es verstehen, die Begebenheiten, die sie erzählen wollten, möglichst glaubhaft und mithin „nicht über die Wahrscheinlichkeit hinausgehoben“204 darzustellen, sie aber trotzdem als eine von der gemeinen Wirklichkeit unterschiedene, poetische Realität auszuweisen: Die Kunst ist, auf der einen Seite die größtmöglichste künstlerische Täuschung hervorzubringen, auf der andern Seite immer vorzusehen, daß diese künstlerische Täuschung nicht in die falsche Illusion übergehe, die nichts mit der Kunst zu tun hat, sondern der „unfreiwillige Irrtum“ ist, daß das, was der Phantasie zum Spiele hingereicht wird, bare, blanke Wirklichkeit sei, wirkliche, nicht von der Kunst frei reproduzierte.205

Der ‚Taschenspielertrick‘, mit dem ein Autor eine solche „Poesie der Wirklichkeit“ kreieren könne, bestünde laut Ludwig darin, „die nackten Stellen des Lebens überblumend“, d.h. „durch Ausmalung der Stimmungen und Beleuchtung des Gewöhn-

197 Freytag (1872), S. 398. 198 Schmidt (1856), S. 94. 199 Ders.: Georg Büchner (1851). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 87-88, S. 88. Im Folgenden als Schmidt (1851b). 200 Ders.: Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert (1855). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 176-178, S. 176. Im Folgenden als Schmidt (1855). 201 Ebd. 202 Schmidt: Dorfgeschichte, S. 106. 203 Ludwig: Technik des Romans, S. 535. 204 Ders.: Dickens, S. 547. 205 Ders.: Volksroman, S. 642.

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lichsten im Leben mit dem Lichte der Idee“ 206 darzustellen. Die alltäglichen Verrichtungen galten als poetische Unreinheiten, die durch die akzentuierte Darstellung idealer Aspekte des Lebens kaschiert werden sollten. Ludwig war überzeugt, dass eine „große Quantität Poesie auch in dem wirklichen Leben unsrer Zeit“207 zu finden wäre, die ein realistischer Autor herausarbeiten müsse. Als Milieus, anhand derer sich „das Positive“ gewöhnlicher Wirklichkeit am besten entwickeln und „verklären“208 ließe, favorisierte auch er das „einfachste bürgerliche Berufsleben“209 sowie das „Familienglück“210. Die geschilderten Figuren sollten dem beruflichen und privaten Alltag normaler Bürger nahe stehen, so dass sich die Leser mit ihnen identifizieren könnten. Nach Ludwig sollte ein epischer Held mit „unsern Sitten“ vertraut sein und als „unser eigner Durchschnitt“211 erscheinen, dabei aber eine „Phantasievorneigung“ besitzen, „jung“ und „frisch“ sowie „mehr aufnehmend als produktiv“212 sein. Problemlos sollten die Leser so zu „Vertrauten“ des idealisierten Helden werden können, der ihnen „seine Vermutungen und Meinungen von den Charakteren und Dingen, seine Hoffnung wie seine Furcht“ 213 vermitteln würde. Vor allem aber müsse er als „Medium zwischen uns und den auffallenden, den drastischen Gestalten“214 fungieren, da „es uns zu schwer würde, uns mit außerordentlichen Naturen zu identifizieren“215. Nur durch eine zwischengeschaltete, den „mittlern Menschendurchschnitt“216 repräsentierende und gleichsam idealisierte Hauptfigur, dürfe einem Leser ein „extreme[r] Charakter“217 nahegebracht werden: Durch ihn berühren wir selbst uns mit jenen extremen Figuren, tun unsre eignen Fragen in denen des Helden an sie, sprechen unsre eignen Empfindungen, unsre Wünsche, unsre Warnungen in den seinen gegen sie aus, zeigen ihnen unsre Anerkennung, unsern Haß in dem seinen und reden uns so das Übermaß der Gefühle, welches uns sonst peinlich würde, vom belasteten Helden los.218

Der Held sollte die von anormalen oder extremen Charakteren ausgehenden, den poetischen Eindruck verunreinigenden Wirkungen filtern, die den Gefühlshaushalt der Rezipienten übermäßig zu belasten drohten.

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Ders.: Dickens, S. 547. Ders.: Volksroman, S. 646. Ebd., S. 645. Ebd., S. 640. Ders.: Walter Scott (Bezüge zu Shakespeare). In: Ders.: Romane und Romanstudien. Hg. von William J. Lillyman. Wien 1977, S. 553-565, S. 556. Ders.: Walter Scotts Einheitlichkeit. Seine Durchschnittshelden. In: Ders.: Romane und Romanstudien. Hg. von William J. Lillyman. Wien 1977, S. 580-585, S. 583. Ebd., S. 585. Ebd., S. 581. Ebd., S. 585. Ebd., S. 582. Ebd., S. 581. Ebd., S. 582. Ebd.

Die Verklärung der Wirklichkeit im programmatischen Realismus | 215

Wie Ludwig stellte Freytag klar, dass eine Hauptfigur keine negativen Attribute besitzen sollte, um sein Leben sinnvoll und nach bürgerlichen Maßstäben erfolgreich zu gestalten. Auch er vertrat ein gewissermaßen „ökonomische[s] Heldenkonzept“219. Um die im Handlungsverlauf auftauchenden Konflikte glaubhaft bewältigen zu können, durfte eine Figur weder faul, krank, schwächlich noch ungebildet sein. Dichter sollten „das tüchtige, gesunde, starke Leben eines gebildeten“, am bürgerlichen Arbeitsleben teilhabenden Menschen zum Vorbild nehmen und „seine Kämpfe, seine Schmerzen, seinen Sieg“ in einer Weise schildern, „daß wir eine heitere Freude daran haben.“220 Mit genügend Fleiß, Gesundheit, Stärke und Bildung ausgestattet, sollte eine Hauptfigur „die innerste Eigenthümlichkeit der deutschen Natur“ 221 spiegeln. Ludwig Eckardt forderte explizit zur Darstellung männlicher „Helden“ fortgeschrittenen Alters auf; „in voller Reife und Manneskraft“ sollten sie in ihrem selbstsicheren Handeln „den im Leben flüchtigen Moment der höchsten Schönheit“ 222 repräsentieren. Schwächliche, kränkelnde, gar weibliche Helden trübten seiner Meinung nach den ästhetischen Eindruck der Kunst. Bezüglich der Darstellung der bürgerlichen Arbeitswelt gab es innerhalb des programmatischen Realismus übrigens durchaus kontroverse Ansichten. Während sich viele Realisten eine Literatur wünschten, die „die Wirklichkeit abschreibe und das profane Berufsleben mit ihrem Zauber heilige“, sah Rudolph Gottschall darin einen unauflösbaren Widerspruch, der letztlich „nur gleichzeitig die Arbeit und die Poesie verderben“223 würde. 1858 kritisierte er die nach diesem Prinzip gestalteten Romane Soll und Haben von Freytag und Zwischen Himmel und Erde von Ludwig, die einzig „die Poesie der Materialwaarenhandlungen, der Schieferdeckerei und verschiedener anderer Gewerbe“224 zur Geltung gebracht hätten. Aufgrund einer „Detaillirung des Unbedeutenden“ habe es sich bei ihnen jedoch nicht mehr um Poesie im eigentlichen Sinne, sondern nur noch um „baare Prosa“225 gehandelt. Die Literatur, die sich, um auf dem „Markt der öffentlichen Interessen“ bestehen zu können, „der Prosa des Lebens, den Interessen der verschiedenen Stände, dem Ackerbau, dem Fabrikwesen, dem Handel und den Gewerben dienstbar“ gemacht habe, sei „in einen ästhetischen Materialismus ausgeartet“226, kritisierte Gottschall. Zwar sprach auch er sich für einen Realismus aus, der „sich in den Dienst der Idee begiebt und die von ihr durchleuchtete Welt in ihrer ganzen Wahrheit darstellt“ und plädierte damit ebenfalls für eine Synthese von „Natur und Geist, Idealismus und Realismus“, die allein „das 219 Stadler, Christian: Das ökonomische Heldenkonzept. Der Aufstieg des Homo Oeconomicus im frühen Realismus. In: Reiling, Jesko u. Rohde, Carsten (Hgg.): Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen. Bielefeld 2011, S. 199-213. 220 Freytag (1853a), S. 71. 221 Freytag (1853a), S. 72. 222 Eckardt, Ludwig: Vorschule der Ästhetik. Zwanzig Vorträge (1864). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 135-138, S. 135-136. Im Folgenden als Eckardt (1864). 223 Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik (1858). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 112-115, S. 113. Im Folgenden als Gottschall (1858). 224 Ebd. 225 Ebd. 226 Ebd., S. 112-113.

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wahrhaft schöne Dichtwerk“227 hervorbringen könne. Die bürgerliche Arbeitswelt stellte sich für Gottschall allerdings als ein nicht idealisierbares Darstellungsobjekt heraus. Tiefere Wahrheiten würden „solche realistischen Lebensbilder entbehren“, so dass sie den Lesern nur einen „ernüchternden Eindruck“ 228 machen könnten. 5.3.3 Zu bereinigende Wirklichkeitsaspekte Realistische Dichter sollten es laut Schmidt vermeiden, in ihren Werken „einen bloßen Abklatsch des Wirklichen“ anzufertigen, da eine solche Kopie „zu elend“ 229 wäre, um die Leser zu interessieren. In den vorangegangenen Abschnitten ist dargelegt worden, dass sie dazu die von ihnen geschilderte Realität klarer anordnen sollten, als sie sich in der Wirklichkeit darstellte und dass sie die bevorzugt auszuwählenden, gewöhnlichen Wirklichkeitsaspekte idealisieren sollten. Darüber hinaus sollten sie aber auch gewisse Wirklichkeitsaspekte gänzlich außen vor lassen. Wenn Schmidt schrieb, dass ein Dichter „in der Wirklichkeit zugleich die positive Seite aufsuch[en]“230 sollte, verwies er implizit auf eine negative Seite der Wirklichkeit, mit der er sich möglichst nicht beschäftigen sollte. Eine Sache, die „nicht in einer idealen Form dargestellt werden kann, hat überhaupt nicht das Recht künstlerisch dargestellt zu werden.“231 Stoffe, die nicht als idealisierbar galten, sollten aus der literarischen Wirklichkeit herausgehalten werden. Für diese Prozedur verwendeten die Programmrealisten häufig den Begriff der ‚Läuterung‘: In der Metallurgie bezeichnet er ein Verfahren, bei dem verschiedene, gemischt vorkommende Elemente voneinander getrennt werden, um ein von Verunreinigungen freies Metall zu erhalten. Äquivalent dazu sollte sich realistische Literatur als Ergebnis eines Trenn- und Reinigungsverfahrens erweisen, bei welchem idealitätsferne Wirklichkeitsaspekte als Verunreinigungen erkannt und entfernt werden sollten. „Gemeine“ Dinge ohne jeden poetischen Gehalt sollte ein Dichter „im Läuterungsfeuer der Phantasie ausscheide[n]“232, so Vischer. Ein Dichter, der das poetische Gewicht der Dinge nicht abwog und keine bereinigte Realität schilderte, verfiele dagegen einem prosaischen (bzw. nackten) Realismus. Eine solche „Richtung“ verhielte sich laut Fontane „zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt.“233 Die in das Konzept der „Verklärung“ integrierten Läuterungsverfahren hat Carrière mit einem Rückgriff auf eine Stelle aus Lessings Emilia Galotti veranschaulicht; Ordnungs- und Idealisierungsprozeduren sind darin ebenfalls benannt worden: Wenn schon der Maler in Emilia Galotti sagt daß das Porträt den Menschen wiedergeben müsse wie die plastische Natur sich ihn dachte, ohne den Abfall welchen der widerstrebende Stoff nothwendig macht, ohne den Verderb mit welchem die Zeit dagegen ankämpft, so können wir 227 228 229 230 231 232 233

Ebd., S. 114. Ebd., S. 113. Schmidt (1851b), S. 88. Ders. (1856), S. 94. Ders. (1852), S. 89. Vischer (1841), S. 2. Fontane (1853), S. 146.

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hinzusetzen, daß der frei schaffende Künstler aus der Fülle des wirklichen Lebens diejenigen Züge welche zum Ausdruck der Idee dienen, zu einem geschloßnen Ganzen zusammenfügt, und das mit klarer Bestimmtheit darthut was den ewigen Sinn der Dinge, was den idealen Gang des Geschehens überhaupt ausmacht.234

Statt „die sinnliche Erscheinungswelt“ zu kopieren, sollte realistische Kunst Carrières Verständnis nach „deren Urbild“ inklusive der „inneren geistigen Gedanken“ derselben „objectiv“235 machen. Nur auf diese Weise könnten „Idee und Wirklichkeit“ respektive „Geist und Materie“ eine substantielle „innere Einheit“ 236 bilden. Ein Künstler, der es anstreben würde, in seinen Werken möglichst makellose „Musterbilder der Dinge“237 zu erstellen, dürfe darum nicht nur bevorzugt diejenigen Aspekte empirischer Wirklichkeit auswählen, die „am charaktervollsten und herrlichsten sich zeigen“238 würden, er müsse auch den „Abfall“ (s.o.) entfernen, der die Idee bzw. den Geist der Dinge trüben würde. Im kreativen Prozess sollte ein Realist darum alles „Ungenügende, Unwesentliche, Zufällige ausscheide[n]“239, so Carrière. Es stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien zwischen idealisierbaren und zu bereinigenden Wirklichkeitsaspekten unterschieden wurde. Wie sollten Dichter in konkreten Fällen entscheiden, ob Stoffe aus Kunstwerken herausgeläutert werden sollten oder nicht? Die programmatischen Realisten beantworteten die Frage mit einem Verweis auf die in der Gesellschaft vorherrschenden ästhetischen und sittlichen Normen. Unbedingt sollten die in der bürgerlichen Gesellschaft etablierten ‚Grenzen des guten Geschmacks‘ eingehalten werden. „Der Realismus der Poesie wird dann zu erfreulichen Kunstwerken führen“, wenn er weder „unerfreulich in ästhetischer“, noch „gefährlich in sittlicher Beziehung“240 wäre. Nur Künstler, die dies zu beherzigen wüssten, würden auch nicht „der reinen Poesie ins Handwerk greif[en]“241, so Schmidt. Homberger unterstrich, dass sich realistische Autoren an die Konventionen der „verfeinerten Gesellschaft“ halten sollten, in welcher „gewisse Dinge nicht genannt“ werden dürften, von denen „eine rohe Gesellschaft ohne Bedenken redet.“ 242 Er verpflichtete sie damit zur Einhaltung der in ‚besseren‘ Kreisen üblichen Konversationsregeln243, die besagten, dass Dinge, die die Scham- und Peinlichkeitsschwelle gebildeter Menschen überschritten, unbedingt verschwiegen werden sollten. Ludwig präg234 Carrière, Moriz: Aesthetik. Die Idee des Schönen und ihre Verwirklichung durch Natur, Geist und Kunst, Bd. 1 (Die Schönheit. Die Welt. Die Phantasie). Leipzig 1859, S. 483. Im Folgenden als Carrière (1859). ‒ Originalstelle siehe Lessing, Gotthold E.: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Ders.: Werke und Briefe, Bd. 7. Werke 1770-1773. Hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt am Main 2000, S. 291-371, S. 295-296. 235 Carrière (1859), S. 485. 236 Ebd., S. 486. 237 Ebd., S. 485. 238 Ebd., S. 486. 239 Ebd. 240 Schmidt (1856), S. 94. 241 Ebd. 242 Homberger: Flaubert, S. 201-202. 243 Zu dem an ein Schicklichkeitsgebot gekoppelten Konversationston vgl. Kap. 3.2.

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te für die Ausrichtung an bürgerlichen Geschmackskonventionen folgende Formel: „Überall nach dem Gesetzbuche, dessen Paragraphen Sprichwörter; immer die Regel.“244 Damit hatte er nicht nur religiöse und juristische Gesetze, sondern insbesondere die Regeln von „Anstand“ und „Sitte“ im Sinn: Möglichst vielen gefallen, möglichst wenigen mißfallen! Das zweite, in dem man, wie in gemischter, zum Teil unbekannter Gesellschaft, erstlich den Anstand beobachtet, nichts anklingen läßt, was nur von ferne zweideutig wäre, nichts, was einen gegenwärtigen möglicherweise beleidigen könnte, sei es in dem, was die Sitte ihm geheiligt, oder persönlich in Stand und Beruf, ferner: nichts, was Gelegenheit geben könnte zu unangenehmen Auseinandersetzungen oder gar zu aufregenden Debatten.245

Insofern war, wie bereits in 5.2 erwähnt wurde, auch das Politische aus dem Bezirk realistischer Literatur ausgeklammert. Gleiches galt für alles Unanständige, Unsittliche und Aufregende, worunter Ludwig das „Raffinement, das entsetzlich Outrierte, Gequälte“246 fasste. Peinliches und Kontroverses galten als Verunreinigungen die die poetische Wirklichkeit beeinträchtigen würden. In diesem Sinne haben die programmatischen Realisten zahlreiche Wirklichkeitsaspekte benannt, die aus Kunstwerken unbedingt herauszuläutern wären. Beispielsweise war Fontane der Ansicht, dass „das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten“247 akzeptiert werden dürfte: Traurig genug, daß es nötig ist, derlei sich von selbst verstehende Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist noch nicht allzu lange her, daß man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Productionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht u. dgl. m.) sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben.248

Mangels Poetisierbarkeit hielt Fontane soziale Not nicht für literaturfähig. Realistische Kunstwerke waren auf die Darstellung durchschnittlicher bürgerlicher Lebenswelten fixiert, in denen sich laut Vischer ja ein „von den Extremen ferne[s] Bild der Sitte“249 zeigen sollte. Schmidt wandte sich gegen die künstlerische Darstellung von Gewalt: und zwar auch dann, wenn man damit „auf bestimmte Schäden der Gesellschaft aufmerksam“ machen und eine „gute Wirkung“250 erzielen wollte. Gegen Werke wie Oliver Twist von Charles Dickens und Uncle Tom´s Cabin von Harriet Beecher Stowe führte er schwerwiegende wirkungsästhetische Vorbehalte an; die Leser würden durch gewalt244 Ludwig: Dickens, S. 547. 245 Ders.: Volksroman, S. 635. 246 Ders.: Dickens Klein-Dorrit. In: Ders.: Romane und Romanstudien. Hg. von William J. Lillyman. Wien 1977, S. 551-553, S. 552. 247 Fontane (1853), S. 145. 248 Ebd., S. 145-146. 249 Vischer (1857), S. 220. 250 Schmidt (1856), S. 93.

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tätige Szenen „mehr verdorben“251, als dass positive soziale Effekte wie die Verbesserung des Armenhaussystems oder die Abschaffung der Sklaverei erzielt werden könnten: Wir erinnern an die sittlichen Folgen einer Hinrichtung. Durchweg wird das Publicum, das solchen Scenen beiwohnt, in seinem moralischen und ästhetischen Gefühl nicht geläutert, sondern abgestumpft und verwildert. Ganz ähnlich dürfte es mit jener Literatur beschaffen sein, die angeblich aus guten Absichten ausschließlich auf die Nerven wirkt und diese durch die Detailmalerei greuelhafter Scenen afficirt. Man denke an den ungeheuren Umfang dieser Literatur. Von den phantastischen Gebilden der Dichter schlingen sich tausend unsichtbare Fäden in die empfängliche Phantasie des Volks, und nicht die Absicht ist es, die haften bleibt, sondern der rohe Stoff.252

Nervenaufreibende Szenen standen der Läuterung der Leser entgegen und galten somit aus wirkungsästhetischer Hinsicht als unrein. Insofern realistische Kunstwerke Normalität inszenieren sollten, mussten sie von allem Sonderbaren und Abnormen bereinigt sein. Aufgrund des thematisierten Wahnsinns hielt Schmidt Büchners Lenz für eine nicht statthafte ästhetische Grenzüberschreitung, die der Vorstellungsgabe „einer krankhaften Natur“ entsprungen sei: Die Darstellung des Wahnsinns ist eine unkünstlerische Aufgabe, denn der Wahnsinn, als die Negativität des Geistes, folgt keinem geistigen Gesetz, die Willkür hat einen unermeßlichen Spielraum, und die hervorzurufenden Stimmungen contrastiren so gewaltsam mit einander, daß ein lebendiger Eindruck nicht möglich ist. Ueber das Widersinnige müssen wir lachen, und doch schaudert es uns vor diesem unheimlichen Selbstverlust des Geistes. Der Wahnsinn als solcher gehört in das Gebiet der Pathologie, und hat ebenso wenig das Recht, poetisch behandelt zu werden, als das Lazareth und die Folter.253

Die Darstellung extremer Figuren, von körperlichen und geistigen „Mißgeburten“ sowie von „Sonderlinge[n], wunderliche[n] Heilige[n], Kranke[n], zuletzt Narren und Verrückte[n]“ würde laut Schmidt „gegen das Gesetz und die Convenienz verstoßen“254. Mit nahezu denselben Vorbehalten wandte er sich auch gegen Victor Hugo. In Werken wie Han d´Islande, Notre-Dame de Paris und Le roi s´amuse habe dieser zwar „die Momente des Werdens und Vergehens“ mit poetischem „Licht zu verklären“ versucht, sei dabei aber immer wieder vom „Schönen“ abgewichen und habe damit absichtlich die „Grenzen“ der Kunst „überschritten“255. Dass Hugo in der 1827 veröffentlichten Préface de Cromwell „das Groteske“ als „das Princip der neuen Kunst“256 postuliert habe, war für Schmidt ebenfalls ein klarer Verstoß gegen das von ihm als zeitlos erachtete Kunstideal. In dem poetologischen Text hatte Hugo auf den 251 252 253 254 255 256

Ebd. Ebd. Ders. (1851b), S. 87. Ders. (1856), S. 91. Ders. (1858b), S. 95. Ders. (1856). S. 91.

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vordergründig banalen Umstand hingewiesen, das in der Realität „nicht alles im menschlichen Sinne schön ist, daß es Häßliches gibt neben dem Schönen, Mißgestaltiges dicht beim Anmutigen, Groteskes hinter dem Erhabenen, Schlechtes zugleich mit dem Guten, Schatten mit dem Licht.“257 Zeitgenössische Literaten sollten sich verstärkt für die in der Kunst bislang übersehenen Aspekte der Realität interessieren: „Sogar das Gemeine und Alltägliche muß Gewicht bekommen.“ 258 Mit solchen Forderungen hatte Hugo radikal mit der idealistischen Ästhetiktradition gebrochen. Auch wenn Schmidt in seinen literaturtheoretischen Texten eine Hinwendung zum realen Leben forderte, stand er doch ganz in dieser Tradition und wertete Hässlichkeiten, Deformierungen, Unmoral und gemeine Alltäglichkeiten als Verunreinigungen des reinen ästhetischen Eindrucks, der in Kunst und Literatur weiterhin angestrebt werden sollte. Hugos literarischen und programmatischen Schriften oder auch Edward BulwerLyttons Eugene Aram wären aus einer romantisch-skeptizistischen Haltung heraus entstanden, die dazu tendiert habe, Wirklichkeit nur noch als mangelhaft und schmutzig zu begreifen. Aus dieser Haltung wäre „jene Ineinanderbildung des Supranaturalismus und des Materialismus“259 hervorgegangen, die auf einer „Verklärung des Bösen und Ungeistigen“260 basieren würde und Schmidt deshalb als krankhaft aburteilte. Die Richtung habe das aus Skakespeares Macbeth stammende „Hexensprichwort: ‚fair is foul and foul is fair‘261 als höchste[n] Grundsatz der Kunst“ 262 aufstellen und damit eine ‚Umwertung der Werte‘ anstreben wollen. Geführt habe dies endlich zu jenem Pessimismus, der einen allgemeinen Weltenbrand erwartet, bevor die Saat der Tugend, der Freiheit, der Gleichheit aufgehen könne, und der eigentlich nichts Anderes ausdrückt, als die nothwendige Folgerung des ungerechtfertigten Verlangens, daß ein Cloak Wohlgeruch ausstreuen solle. Die frühere Poesie wußte sehr gut, daß die Verwesung etwas Unschönes sei, und vermied sie daher; die neue stürzt sich mit krankhafter Wollust hinein, und findet sich höchst unglücklich darüber, daß sich noch andere Düfte darin verbreiten, als die der Rosen und Narcissen.263

Als Gegenreaktion solcher Entwicklungen erwartete Schmidt von zeitgenössischen Autoren „eine Rückkehr zum Schönen“264, die den optimistischen Glauben an eine durch die Verallgemeinerung bürgerlicher Ideale hervortretende, bessere Zukunft bewahren sollte. Ungeistiges, Krankhaftes und Verwesendes galten ihm als anrüchige 257 Hugo, Victor: Vorrede zu „Cromwell“. In: Hausmann, Frank-Rutger; Mandelsloh, Elisabeth Gr.; Staub, Hand (Hgg.): Französische Poetiken, Bd. 1. Texte zur Dichtungstheorie von Victor Hugo bis Paul Valéry. Stuttgart 1978, S. 31-56, S. 33. 258 Ebd., S. 50. 259 Schmidt (1858b), S. 95. 260 Ders. (1851a), S. 86. 261 Aus Shakespeare, William: Macbeth. The Tragedy of Macbeth. Hg. von Nicholas Brooke. Oxford 1990, S. 95. 262 Schmidt (1851a), S. 86. 263 Ebd. 264 Ebd., S. 87.

Die Verklärung der Wirklichkeit im programmatischen Realismus | 221

Stoffe, die aus der Wirklichkeit realistischer Literatur herausgeläutert werden müssten. Die Kloakenmetapher zeigt an, dass er sie durchaus mit Unreinheit konnotiert hat, die er mit der von ihm eingeforderten „reinen Poesie“265 für inkompatibel hielt. Dichter sollten sich „streng an dem Gesetz der Griechen“ orientieren und „das wirklich Ekelhafte“ sowie „das wirklich Häßliche, ja das Widerwärtige“ 266 nicht in ihre Kunstwerke aufnehmen. Im Abschnitt 5.3.1 ist darauf hingewiesen worden, dass Carrière die Darstellung des Hässlichen unter gewissen Umständen für möglich hielt. Allerdings zählte er zahlreiche Varianten auf, deren künstlerische Verarbeitung er von einem auf Reinheit fixierten, idealrealistischen Verständnis aus als besonders problematisch erachtete. Beispielsweise klassifizierte er „Plumpheit, Klotzigkeit, Tölpelhaftigkeit“ im Verhalten, körperliche „Auswüchse“, Wucherungen und krankhafte „Misbildungen“ als nur eingeschränkt kunstfähig; da sie die harmonische Schönheit eines Kunstwerks bedrohen würden, galt das auch für „verschnörkelnde Überladung“, für „Verworrenheit“267, Zufall und Chaos. Die Darstellung „von gesetzloser Willkür“ und „naturwidrigem Zwang“268 würde die Freiheit des Schönen einschränken und wäre deshalb ebenso problematisch. Indem er schrieb, dass „[g]etanzter Wahnsinn, Balletmusik auf Gräbern“269 keinesfalls als Kunst anerkannt werden dürfte, wandte er sich auch deutlich gegen expressive Bühnenformen. Überhaupt schlüge der Wahnsinn, soweit er sich „an die Stelle des allgemeinen Wahren setzen“ wolle, unwillkürlich „ins Häßliche und Verwerfliche“270 um. Das von der Schönheit und der Wahrheit „Abgerissene“ müsse, wenn es ein Künstler thematisieren wolle, unbedingt von einem „Schimmer der Verklärung“271 erhellt werden. Künstler, die keinen sicheren Umgang mit der idealistischen Formensprache besitzen würden, sollten das Hässliche deshalb lieber komplett aus ihren Werken herausläutern. Andere Realisten verwiesen auf die störenden Kleinigkeiten des Alltagslebens, auf die „Flecken und Runzeln der Wirklichkeit“ 272, die in Kunstwerken ebenso wenig zu suchen hätten, wie die auffällig grotesken Dinge. So richtete sich Gottschall gegen detailrealistische Werke, „in denen die Charakteristik daguerreotypartig uns nicht die kleinste Warze erspart und die spießbürgerliche Gemüthlichkeit des häuslichen Zusammenlebens durch Gespräche über die Tintenflecke an den Händen der Kinder ausgedrückt wird“273. Ein Stilprinzip, das die Darstellung von Hautanomalien und Schmutzflecken akzeptierte, wäre laut Gottschall „das Dürftigste von der Welt!“ 274 In 265 266 267 268 269

270 271 272 273 274

Ders. (1856), S. 94. Ders. (1852), S. 89. Carrière (1859), S. 138-140. Ebd., S. 139. Ebd. ‒ Damit wandte sich Carrière eindeutig gegen das nach romantischen Motiven Heinrich Heines von Theophile Gautier (Libretto) und Adolphe Adam (Musik) komponierte Ballett Giselle, das in Paris 1841 uraufgeführt worden war. Ebd., S. 140. Ebd. Homberger, Heinrich E.: Der realistische Roman (1870). In: Realismus, Manifeste und Dokumente (1981), S. 117-121, S. 118. Gottschall (1858), S. 113. Ebd., S. 114.

222 | Die Verschmutzung der Literatur

diesen Dingen müsse das „Princip des Idealismus höhere Berechtigung als das des Realismus“ besitzen, da dieser die Kunst ansonsten „an die Galeerenbank der Wirklichkeit schmiedet und zur sclavischen Nachahmung der Natur verdammt.“ 275 Wie Gottschall nutzte auch Eckardt ein Warzengleichnis, um sein Verständnis vom so genannten „Ideal-Realismus“ zu erläutern: Die Wahrheit des Portraitmalers besteht nicht darin, dass er uns die Warze malt, sondern dass er das Bleibende, den von allem Zufälligen und Nebensächlichen gereinigten Grundcharakter scharf auffasst und wiedergibt. Wir sind nicht in jedem Augenblick ganz wir, Unwohlsein, Laune, Ermüdung, Aufregung verändern uns. Dies Zufällige ist abzustreifen, wenn man unser wahres Selbst auffassen will. In diesem Sinne idealisire man immerhin! 276

Realistische Kunstwerke sollten einen „gereinigten Grundcharakter“ vorweisen, weshalb sich Dichter nicht „in der Darstellung des Hässlichen“277 gefallen dürften. Für Eckardt wie für die anderen programmatischen Realisten waren das Unreine und das Hässliche nahezu kongruent. Konzeptionell präsent, blieb das Unreine allerdings semantisch unmarkiert. Verstöße gegen die ästhetische und moralisch-sittliche Ordnung der Kunst wurden stattdessen am Hässlichen diskutiert. Neben Hautanomalien fasste Eckardt auch alle zufälligen und nebensächlichen Aspekte des Lebens in der Kategorie des Hässlichen zusammen. Auch die ganz alltäglichen Verrichtungen sollten aus der Realität des Kunstwerks herausgeläutert werden: „Unsere Helden essen, trinken und schlafen nicht, unsere Heldinnen besorgen den Küche- und Waschzettel nicht, was eine recht realistische Darstellung nicht vergessen sollte: aber ihre Gedanken, Gefühle, Thaten werden uns um so breiter und tiefer entwickelt.“278 Wiederum zeigt sich hier, dass die Protagonisten realistischer Werke nichts mit den alltäglichen Besorgungen eines bürgerlichen Haushalts zu tun haben sollten, die in den Aufgabenbereich des Dienstpersonals gehörten und für die bürgerlichen Blicke weitestgehend im Verborgenen abliefen. Der von den programmatischen Realisten eingeforderte Realismus übernahm die in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschenden Mechanismen sozialer Distinktion. Dienstboten und andere Unterschichten konnten allenfalls aus der distanzierten Perspektive der bürgerlichen Durchschnittshelden in den Blick geraten. Dies galt freilich auch für Unordnung, Staub, Garten- und Küchenabfälle, um deren Beseitigung sich die Dienstboten kümmerten. In Anbetracht solch stark eingeschränkter Darstellungsmöglichkeiten erscheint die von Eckardt trotzdem behauptete Freiheit realistischer Kunst, wonach ein Dichter „nicht leicht zu realistisch“279 schreiben könne, nach heutigen Maßstäben weit übertrieben. Wesentliche Aspekte des Lebens sollten ausgeblendet bleiben, ohne die das Funktionieren der auf Sauberkeit und Ordnung geeichten Alltagswelt des ökonomisch bessergestellten Bürgertums faktisch undenkbar war. Paradigmatisches Beispiel für ein realistisches Prosawerk, in dem diese Forderung eingehalten wurde, ist Der Nachsommer Adalbert Stifters. Um die Sauberkeit 275 276 277 278 279

Ebd. Eckardt (1864), S. 136. Ebd., S. 137. Ebd., S. 136. Ebd., S. 137.

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und Ordnung der in dem Roman geschilderten Räume hervorzuheben, sind sie, wenn sie der Ich-Erzähler Heinrich Drendorf betritt, vom Dienstpersonal immer bereits von Staub, Schmutz und Unordnung befreit worden. Während sie aus ästhetischen Gründen in der Romanerzählung weitestgehend ausgeblendet bleiben, fallen sie in der erzählten Welt somit durchaus an. Die auf die Abfälle und den Dreck bezogenen Prozesse sind bevorzugte Handlungsmotive, ohne die sich die fortwährend im Verborgenen ablaufenden Bemühungen um Schönheit, Sauberkeit und Ordnung nicht versinnbildlichen ließen.280 Damit ist der Nachsommer auch ein anschauliches Beispiel dafür, dass eine an Reinheit orientierte Ästhetik der Verklärung, wie ihn die programmatischen Realisten präferierten, das Unreine zwar in semantischer Hinsicht unterdrückt. Als das Andere der Reinheit müssen der materielle Schmutz und ästhetisch für unrein befundene Wirklichkeitsaspekte konzeptionell trotzdem vorhanden sein. Neben alltäglichen Verrichtungen sollten auch vermeintlich unsittliche Aspekte des Lebens aus realistischer Literatur herausgeläutert werden. Keinesfalls sollten Schriftsteller sittlich unreine „Gedanken wachruf[en]“, weshalb sie möglichst keine „unverschleierte Wirklichkeit“281 schildern sollten. Laut Homberger würde „reale Nacktheit“ zwangsläufig „an den rohen thierischen Trieb erinnern“ 282 und sollte darum niemals zu einem literarischen Motiv erhoben werden. Auch in der Kunst wäre „die Bekleidung ein Gebot der Sittlichkeit.“ 283 Nur die idealisierte, „nicht an den Stand der Thierheit erinnern[de]“284 Nacktheit, wie sie die (de facto halbbekleidete) Venus von Milo zeigen würde, wäre laut Homberger nicht unsittlich. In der von Homberger so genannten „bekleideten Zeit“285 des 19. Jahrhunderts sollte jede an Sinnlichkeit gemahnende Nacktheit verhüllt bleiben. Interessanterweise bezog er die Forderung nach einer Verschleierung der nackten Wirklichkeit auch auf sprachstilistische Aspekte und führte den Stil Flauberts als Negativbeispiel an, der allzu „reich an Substantiven und Adjektiven“286 wäre. Damit habe der Verfasser der Madame Bovary die Dinge „stets klar, scharf, farbenreich, plastisch, strotzend vor Sinnlichkeit“287 zeichnen wollen, was Homberger sarkastisch kommentiert hat: Der Dichter [Flaubert, L.R.] will ja Realität, keine Abstraction geben. Könnte er, statt der Namen der Dinge, die Dinge selber vorführen, so wäre das ohne Zweifel noch viel besser. Doch da er sich nun einmal mit Namen behelfen muß, so seien es wenigstens die rechten, die eigentlichen, die wirklichen. Also kein Name der das Ding nur von weitem andeutete, der es verschönte oder verhüllte. Nein, je deutlicher, je rückhaltloser, je nackter das Wort ist, desto näher kommen wir dem Dinge selbst.288

280 281 282 283 284 285 286 287 288

Vgl. Rosenbaum (2014), S. 205 u. passim. Homberger: Flaubert, S. 202. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 200. Ebd. Ebd.

224 | Die Verschmutzung der Literatur

Statt detailgetreuer Beschreibungen à la Flaubert forderte Homberger eine umschreibende, bloß andeutende, verschönernde und gleichsam verhüllende Benennung eines Dings, um es auf diese Weise „in seiner idealen Sphäre“289 zu belassen. Einem Realisten, der ohne Idealisierung nackte Tatsachen wiedergeben wolle, sprach er, da er „Partei für die Sinnlichkeit gegen den Geist“290 einnehmen würde, jeglichen Anspruch auf Objektivität ab: „Er will uns volle Wirklichkeit geben, und wir fühlen daß er uns nur die halbe Wahrheit gibt, daß seine Welt nur eine Welt niedern Grades ist, und daß ihn die Schwäche seiner Augen hindert eine höhere Welt wahrzunehmen.“291 Die Argumentation ist paradox. Wer in seinen Kunstwerken Teile der Wirklichkeit verschleierte, gab Hombergers Logik nach ein kompletteres Bild der Wahrheit preis als jemand, der sie nicht ausblendete. Die narrative Akzentuierung von Sinnlichkeit und Sexualität problematisierte auch Carrère. Sowohl das „Obscöne wie das Zweideutige“ und „Zotenhafte“ galten ihm als „absichtliche Verletzungen der Scham“ und gehörten zumindest dann nicht in ein Kunstwerk, wenn es darin aus Lust am blos Sinnlichen erscheint; häßlich ist die blos sinnliche Lust ohne die ethische Weihe der Liebe, doppelt häßlich wenn sie sich zur Schau stellt, wenn statt eines anmuthigen Liebesspiels die grellen Zuckungen viehischer Wollust in üppigen Tänzen statt eines reinen Wohlgefallens die sündige Begier erwecken; dreifach häßlich die unnatürliche Wollust die nicht einmal dem Naturtriebe der Gattung dient, und damit den Mensch unter das Thier erniedrigt. Hier wird überall von der Sinnlichkeit das Band zerrissen das sie mit dem Geiste verknüpft und sie zur Schönheit adelt; es ist nicht die unbefangene Natur, nicht die unschuldige Nacktheit das Häßliche, sondern der bewußte Bruch mit dem Idealen, die Verleugnung der Wahrheit, die Zerreißung seines Gesetzes.292

Sexuelle Begierde war für Carrière ein geistloser, idealitätsferner Aspekt des Lebens, dessen Darstellung er als eine hässliche ästhetische Unreinheit ansah, die in Kunstwerken nichts zu suchen hatte. Wer sie dagegen hervorkehrte, würde bloß einen „Reiz für die verlüderlichte[n] Seele[n]“ jener Menschen setzen, die ihre Gedanken gar „nicht rein [zu] erhalten“293 bestrebt wären. Wie er die Sexualtriebe als einen absolut kunstunwürdigen „Bruch mit dem Idealen“294 erachtete, so verurteilte Carrière auch die Darstellung von Unreinlichkeit, Verwesung und körperlichen Ausscheidungen. Dabei ist interessant, dass er den materiellen Schmutz mit Totem und nicht mit Lebendigem assoziiert hat: „Häßlich ist die Unreinlichkeit. Sie besteht darin daß man den Schmutz, das heißt das Todte oder den ausgeschiedenen formlosen Stoff an das Lebendige sich anhängen läßt.“295 Dort wo ein Kunstwerk „schamlos die leibliche Notdurft und ihre Verrichtung hervorkehrt und sich in tönenden Unschicklichkeiten gefällt, da wird es durch Brutalität und Ge289 290 291 292 293 294 295

Ebd., S. 201. Ebd., S. 203. Ebd. Carrière (1859), S. 140-141. Ebd., S. 142 Ebd., S. 141. Ebd., S. 142.

Die Verklärung der Wirklichkeit im programmatischen Realismus | 225

meinheit häßlich.“296 Die künstlerische Darstellung materiellen Schmutzes war für Carrière ein absolut unstatthafter Verstoß gegen die Normen der Sauberkeit, die er als den „Anfang der Cultur“297 erachtete. Er verwies darauf, dass man den zivilisatorischen Fortschritt laut dem Chemiker Justus von „Liebig sogar am Seifenverbrauch messen“298 könne. Außerdem wäre die Neigung zur Sauberkeit eng mit Ästhetik- und Moralvorstellungen verbunden. Carrière zufolge war die äußerliche Reinlichkeit eines Menschen „ein Symbol des geistig reinen Sinnes und Herzens“, wohingegen es sich um eine „verwerfliche Schwäche“ handeln würde, wenn ein Individuum an Körper oder Kleidung „Unreine[s]“299 akzeptieren würde. Insbesondere hielt Carrière eine den Schmutz absichtlich akzentuierende Kunst für verwerflich. Als einen Dichter, der seine Leser mit Schmutz jeglicher Konsistenz reizen würde, kritisierte er Heinrich Heine. Dieser sei „leider nur zu oft aus der Aetherhöhle der Poesie in dieses Vergnügen am Unreinen herabgesunken, und selber ein Stern im Mist geworden; er der berufen war zum Priesterthum der Schönheit, gefiel sich dann die Kothseelen anzusingen“300. Als Beleg für diese These führte er ein vierzeiliges Gedicht Heines aus dessen Buch der Lieder an: Selten habt ihr mich verstanden, Selten auch verstand ich euch; Nur wo wir im Koth uns fanden, Da verstanden wir uns gleich.301 296 Ebd., S. 140. 297 Ebd., S. 142. 298 Ebd. ‒ Carrière spielte auf eine berühmt gewordene Stelle in Liebigs Chemischen Briefen an: „Die Seife ist ein Maßstab für den Wohlstand und die Cultur der Staaten. Diesen Rang werden ihr freilich die Nationalökonomen nicht zuerkennen wollen; allein nehme man es im Scherz oder Ernst, so viel ist gewiß, man kann bei Vergleichung zweier Staaten von gleicher Einwohnerzahl mit positiver Gewißheit denjenigen für den reicheren, wohlhabenderen und cultivirteren erklären, welcher die meiste Seife verbraucht; denn der Verkauf und Verbrauch derselben hängt nicht von der Mode, nicht von dem Kitzel des Gaumens ab, sondern von dem Gefühl des Schönen, des Wohlseins, der Behaglichkeit, welches aus der Reinlichkeit entspringt. Wo dieser Sinn neben den Anforderungen anderer Sinne berücksichtigt und genährt wird, da ist Wohlstand und Cultur zugleich.“ In: Liebig, Justus von: Chemische Briefe. [5. wohlf. Aufl.] Leipzig u.a. 1865, S. 97. 299 Carrière (1859), S. 142. 300 Ebd. ‒ Es handelt sich hierbei um eine versteckte Anspielung auf das Gedicht Unstern von Heine, Heinrich: VI. Unstern. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 2. Neue Gedichte. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1983, S. 79: „Der Stern erstralte so munter, / Da fiel er vom Himmel herunter. / Du fragst mich, was Liebe ist? / Ein Stern in einem Haufen Mist. // Wie´n räudiger Hund, der verrecket, / So liegt er mit Unrath bedecket. / Es kräht der Hahn, die Sau, sie grunzt, / Im Kothe wälzt sich ihre Brunst. // O, fiel ich doch in den Garten, / Wo die Blumen meiner harrten, / Wo ich mir oft gewünschet hab´ / Ein reinliches Sterben, ein duftiges Grab!“ 301 Carrière (1859), S. 142. ‒ Siehe auch Heine, Heinrich: LXXVIII. In: Ders.: Historischkritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 1, 1. Buch der Lieder. Text.. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1975, S. 293.

226 | Die Verschmutzung der Literatur

Dass Carrière gerade dieses Gedicht Heines zitiert, ist durchaus bemerkenswert. Heines Vierzeiler kann nämlich als ein ironischer Gegenangriff gegen diejenigen Kritiker gedeutet werden, die in seinem Werk akribisch Frivolität und Schmutz nachgewiesen und unter Verweis auf idealistische Kunstnormen bekämpft haben. 302 Als ein ganz besonders schmutziges, ohne jede Läuterung auskommendes Werk erwähnte Carrière George Gordon Byrons Don Juan als Ausdruck einer „geistigen Selbstbefleckung“, die in vielen Passagen in einem „schauervollen Bund von Wollust und Grausamkeit, von Zeugungs- und Zerstörungstrieb“303 kulminieren würde. Das epische Gedicht basierte laut Carrière auf einem bewussten Bruch mit den Prinzipien des Lebens, weshalb es sich um „einen scheußlichen Abfall der Menschennatur ins Häßliche“304 handeln würde. Mit ihrer provozierten „Lust am Scheußlichen“ würde solch eine Art von Literatur „auf die Stoffsinne widerwärtig“ 305 wirken. In Carrières Augen war die Überschreitung der Ekelgrenze in keiner Weise mehr mit schöner Kunst vereinbar: Die Natur würgt sich dagegen, die Nase zieht sich im Gestank zusammen, und der Ekel kann sich im Gegensatz zur Nahrungsaufnahme als Erbrechen äußern. Dennoch verlangen die durch Ueberreizung stumpf gewordenen Nerven nach der Fäulniß, und wie man stechend gewürzte Brühen an verwestes Wildbret gießt, so bildet sich dann eine Literatur aus Koth und Blut, und die in ihr verdorbenen Lüstlinge gehen selber zu dem Verbrechen fort weibliche Leichen auszugraben, zu schänden und zu zerfleischen.306

Die künstlerische Verarbeitung von körperlichem Schmutz sah Carrière als Verstoß gegen das Leben selbst an. Der Vorwurf, dass die im Zitat erwähnte „Literatur aus Koth und Blut“ Leser zu Leichenschändern machen würde, ist aber auch aus einem anderen Grund beachtenswert. Damit wendete er nämlich einen wirkungsästhetischen Kausalnexus an, der ein halbes Jahrhundert später in den Kämpfen um ‚Schund und Schmutz‘ von großer Bedeutung sein sollte (vgl. Kap. 8.5). Allerdings hatte er bei seiner Kritik noch nicht die Unterschichten, sondern Menschen mit einer „übersättigten Verbildung“ im Sinn, die in ihren Lektüren „Reize des stechend Gewürzten oder Verwesenden“ suchen würden, „um nur aus der gleichgültigen Leere aufgestachelt“ und paradoxerweise „zur Empfindung des Lebens gebracht zu werden.“307 Die an einer „öde[n] Stumpfheit“308 leidenden Gebildeten würden sich, um dem Alltag zu entkommen, bewusst 302 Diese Interpretation erhärtet sich mit Blick in das im Buch der Lieder nachfolgende Gedicht LXXIX, ebd.: „Doch die Kastraten klagten, / Als ich meine Stimm´ erhob; / Sie klagten und sie sagten: / Ich sänge viel zu grob. // Und lieblich erhoben sie alle / Die kleinen Stimmelein, / Die Trillerchen, wie Kristalle, / Sie klangen so fein und rein. // Sie sangen von Liebessehnen, / Von Liebe und Liebeserguß; / Die Damen schwammen in Thränen, / Bei solchem Kunstgenuß.“ 303 Carrière (1859), S. 143. 304 Ebd. 305 Ebd. 306 Ebd. 307 Ebd., S. 100. 308 Ebd.

Die Verklärung der Wirklichkeit im programmatischen Realismus | 227

„an das Seltsame und Außerordentliche“309 halten. Leser aus den Mittel- und Unterschichten, deren „rohe[r] Sinn noch wenig zur Besinnung“ gekommen wäre, würden in der Regel kein Interesse an solch schmutzigen Stoffen haben, sondern eher auf „das Bunte, Abenteuerliche, selbst fratzenhaft Grelle“ 310 fixiert sein. Keinesfalls goutierte Carrière den Geschmack am Abenteuer, doch verzichtete er darauf, ihn als unrein zu diskreditieren. Seine Kritik an den überbildeten, apathischen Lesern höherer Schichten war jedoch ungleich größer; „wenn um der Langeweile zu entrinnen die Wahrheit und Schönheit geopfert werden, so ist dies eine Entwürdigung der Kunst und für das Leben vom Uebel.“311 Die künstlerische Darstellung körperlicher Abfallstoffe hat auch Karl Rosenkranz in seiner systematisierten312 Ästhetik des Häßlichen nur in wenigen Ausnahmefällen für möglich erachtet. Einzig „für die groteske Komik“ 313 ließe sich von „Schweiß, Schleim, Kot, Geschwüre[n] u. dgl.“314 Gebrauch machen. Dies gälte selbst für den durchaus ehrenwerten „Schweiß der Arbeit, der von der Stirne rinnt, von der Brust perlet“315; die künstlerische Darstellung von schweißtreibender bäuerlicher oder proletarischer Arbeit war damit unterbunden. Auch der „in das Vergnügen hineingemischt[e]“ Schweiß sah Rosenkranz vom ästhetischen Standpunkt aus als „schlechthin ekelhaft“316 an. Die „Darstellung der Notdurft“ hielt er, „weil sie den Menschen in der niedrigsten Abhängigkeit von der Natur erscheinen läßt“, für etwas „unter allen Umständen unästhetisch[es], und nur die Komik kann sie erträglich machen.“ 317 Die ausgeschiedenen Stoffe erinnerten ebenfalls an die Natürlichkeit des Menschen sowie an Tod und Verwesung: „Dreck und Kot sind ästhetisch ekelhaft“ 318, weshalb eine in die Kloaken blickende Kunst bloß abstoßen würde: So ist auch das Sumpfwasser in Stadtgräben, worin sich die Immunditien aus den Rinnsteinen sammeln, worin Pflanzen- und Tierreste aller Art mit Lumpen und sonstigen Kulturverwesungsabschnitzeln zu einem scheußlichen Amalgam sich zusammenfinden, höchst ekelhaft. Könnte man eine große Stadt wie Paris einmal umkehren, so daß das Unterste zuoberst käme und nun nicht bloß die Jauche der Kloaken, sondern auch die lichtscheuen Tiere zum Vorschein gebracht würden, die Mäuse, Ratten, Kröten, Würmer, die von der Verwesung leben, so würde dies ein entsetzlich ekelhaftes Bild sein.319

309 310 311 312

313 314 315 316 317 318 319

Ebd., S. 134. Ebd. Ebd. Rosenkranz´ Bemühung, das Hässliche als das Negative der Ästhetik zu erfassen und zu systematisieren, veranschaulicht Funk, Holger: Ästhetik des Häßlichen. Beiträge zum Verständnis negativer Ausdrucksformen im 19. Jahrhundert. Berlin 1983, S. 225-251 u. S. 325-329. Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Hg. von Dieter Kliche. Leipzig 1990, S. 254. Ebd., S. 252. Ebd., S. 253. Ebd. Ebd., S. 189. Ebd., S. 254. Ebd., S. 253

228 | Die Verschmutzung der Literatur

Von einem solchen Kunstwerk würden sich einem Betrachter ästhetisch unangenehme Wirkungen aufdrängen, die dem „üble[n] Geruch der Exkremente“ 320 entsprächen. Dagegen sei es völlig unproblematisch, wenn „in unsern mineralogischen Sammlungen […] der versteinerte Kot vorsündflutlicher Tiere“ ausgestellt würde, da er laut Rosenkranz „nichts ekelhaftes mehr an sich“321 habe. Der von Archäologen für wertvoll erachtete Koprolith ließ eine wissenschaftliche Betrachtungsweise zu, die sich grundlegend von der angewiderten Wahrnehmung organischen Schmutzes unterschied.

5.4 SAUBER, SITTLICH, VORBILDLICH? FUNKTIONEN REALISTISCHER LITERATUR Für die programmatischen Realisten sollte die in der Literatur darzustellende verklärte Wirklichkeit besser als das Original und damit zugleich wahr, gut und schön sein (rein = wahr = gut = schön ‹≠› [unrein]). Die Ordnungs-, Idealisierungs- und Läuterungsprozeduren dienten als Klärfilter, mit denen in ästhetischer sowie moralischer Hinsicht verunreinigende Wirklichkeitsaspekte aus literarischen Werken herausgehalten werden sollten. Der Schmutz als selbstverständlicher Aspekt alltäglichen Lebens sollte in seiner Latenz verharren und sich in idealrealistischer Literatur möglichst nicht manifestieren. Laut Carrière wäre ein in sich aufgeräumtes, ideal gestaltetes und von allen störenden Aspekten bereinigtes Kunstwerk eine Krystallgestalt des Lebens: es sind dieselben Elemente, die aber nicht wirr und wüste durcheinander liegen oder trüb aufgähren, sondern sie sind geordnet nach ihrem eingebornen Gesetz und damit durchsichtig dem Auge und farbenhell im freudigen Licht. Das Reich der Kunst ist der Festsaal der Menschheit, in welchem sie die Bilder ihres Seins und ihrer Entwickelung in schlackenlosen Metallglanz aufstellt[.]322

Ein Dichter, der in seinen Werken die „Natur verklärt“ zur Darstellung brächte, müsse „weniger ein Nachahmer der Natur als ein Nachahmer Gottes genannt werden“323. Damit sprach er Kunst eine (quasi)religiöse Funktion zu 324: „Die Kunst ist die Verklärung der Natur, sie befriedigt die Paradiessehnsucht der Menschheit“ 325, beschied Carrière. Bei Meyr findet sich eine ähnliche, religiöse Zuschreibung. Ein Produkt „künstlerischer Verklärung“326 böte ein Gleichniß des Lebens, wie es in den Himmel zugelassen wird: rein erfaßtes, gerecht beurtheiltes, nach seinem eigenen Ideal liebevoll verklärtes Leben. Wenn die realistische Kunst von

320 321 322 323 324 325 326

Ebd. Ebd. Carrière (1859), S. 486-487. Ebd., S. 485 Zu den religionsphilosophischen Grundlagen des Realismus vgl. Bucher (1981), S. 38-41. Carrière (1859), S. 486. Meyr (1859), S. 46.

Die Verklärung der Wirklichkeit im programmatischen Realismus | 229

der Wirklichkeit ausgeht und diese in einem idealisirten Bilde vorführt, worin ihre Art immer noch zu erkennen ist, dann soll sie willkommen seyn!327

Ein Realist sollte das Leben abzüglich aller unverklärbaren unsittlichen und hässlichen Aspekte desselben schildern. Auf diese Weise würden sich seine Kunstwerke „dem Ziel der Dinge“328 annähern. Die Ästhetik, wie sie Meyr und auch Carrière im Sinn hatten, kann damit ohne Weiteres als ein vorscheinender, utopischer Idealrealismus gedeutet werden. Den utopischen Charakter rechtfertigte Meyr wie folgt: Wenn „die Leute“ einem realistischen Dichter vowürfen „‚so sind wir nicht!‘ dann könnte er ihnen entgegnen: ‚das weiß ich wohl; aber so sollt und könnt ihr werden! Bessert euch, dann wird´s besser seyn für euch, und ich hab´ dann Recht auch in eurem Sinn!‘“329 Die Leser sollten die in einem realistischen Kunstwerk perfekt gestaltete Welt mit ihren idealisierten Durchschnittshelden als eine für das eigene Leben vorbildhafte Realität erfahren können. Andere Programmrealisten hielten sich mit religiösen Funktionszuschreibungen zurück und verwiesen stattdessen auf positive Wirkungen, die Literatur auf ihre Rezipienten ausüben könne. Voraussetzung war, dass sie die in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschenden geschmacklichen und moralischen Konventionen bestätigte. Insbesondere hob Schmidt die „sittliche Bedeutung“330 realistischer Literatur hervor: Die schöne Kunst soll allerdings auf die Sittlichkeit wirken, ja sie ist vielleicht der mächtigste Hebel, aber sie kann es nicht unmittelbar, sondern nur durch die Vermittelung des ästhetischen Gefühls. Sie soll den Sinn für das Schöne und Erhabene erregen und nähren, und dadurch wird im Verein mit den zweckmäßigen Einrichtungen des öffentlichen Lebens auch der Charakter eines ganzen Zeitalters veredelt. 331

Literatur gelangte in die Rolle einer Sozialisationsinstanz. Indem Schmidt auf ihren volkspädagogischen Zweck verwies, widersetzte er sich den autonomieästhetischen Postulaten, wie sie im Zuge der Weimarer Klassik aufgestellt worden waren (vgl. Kap. 4). Ihre Bedeutung für die ästhetische und sittliche Erziehung des Volkes unterstreichend, stellte er realistische Literaturwerke auf eine Stufe mit den im Zitat so genannten „zweckmäßigen Einrichtungen des öffentlichen Lebens“332, womit er (neben der Kirche) wohl vor allem die Volksschulen gemeint haben dürfte. Dem Gebot, pädagogisch wertvoll zu sein, sollten sich auch realistische Autoren unterordnen. Wenn Ludwig schrieb, dass sich in Romanen, in denen das Leben gewöhnlicher Menschen geschildert werde, die Leser „heimisch angeweht“333 fühlten, wird eine weitere Funktion realistischer Literatur sichtbar: sie sollte identifikatorische Lektüren stiften. Schließlich sollte sie den Menschen des prosaischen Zeitalters aber auch kompensatorische Lektüren gewährleisten. Da die Bürger angesichts „der ungeheu327 328 329 330 331 332 333

Meyr (1863), S. 134. Ebd., S. 135. Ebd. Schmidt (1856), S. 93. Ebd., S. 93-94. Ebd., S. 94. Ludwig: Volksroman, S. 641.

230 | Die Verschmutzung der Literatur

ern Bewegung des Kulturlebens“ nicht mehr in das „Paradies“ des einfachen, naturnahen Lebens „zurückkehren“ könnten, sollte Literatur eine „grüne Oase“ sein, in welche die Leser „zuweilen von dem Staub und Lärm des Geschäftsweges einkehr[en]“ könnten, um sich daraufhin „gestärkt und mit neuer Lust“ 334 in den staubigen Alltag zurückzubegeben. Der von Ludwig präferierte realistische Roman sollte den Lesern eine Versöhnung von Kultur und Natur darbieten. Gelingen könne diese Versöhnung, indem ein Protagonist „der Kultur nicht entsagte, wenn er zur Natur zurückkehrt, oder die Natur mit hineinnähme in die Kultur“335, womit Ludwig eigentlich eine Konstellation der Familienblattästhetik illustriert hat. So ist die 1853 von Ernst Keil gegründete Gartenlaube zu einem zwischen Kultur und Natur verorteten, staubfreien Refugium erklärt worden, über dem „der Hauch der Poesie schweben“ würde, der die Leser der Zeitschrift „anheimeln“336 sollte. Die Unterhaltungsfunktion von Literatur war im programmatischen Realismus somit durchaus angelegt, was letztlich ebenfalls einer Abkehr vom Anspruch auf Kunstautonomie gleichkam. Das ist erstaunlich, weil die ‚eigentliche‘ Unterhaltungsliteratur, nachdem sie von den Klassikern als unrein kategorisiert und aus dem ästhetischen Diskurs herausgedrängt worden war (vgl. Kap. 4.5), auch im kunsttheoretischen Diskurs der Mitte des 19. Jahrhunderts als „andere, zweite Literatur“ 337 kaum Beachtung fand.338 Tatsächlich waren die auf Unterhaltung abgestellten Familienblätter für die meisten realistischen Autoren, wenn sie mit ihren Texten ein möglichst 334 Ebd. 335 Ebd. 336 Stolle, Ferdinand u. Keil, Ernst: An unsere Freunde und Leser! In: Die Gartenlaube 1 (1853), Heft 1, S. 1. 337 Prutz, Robert E.: Über die Unterhaltungsliteratur, insbesondere der Deutschen. In: Ders.: Zu Theorie und Geschichte der Literatur. Hg. von Ingrid Pepperle. Berlin 1981, S. 108128, S. 108. Im Folgenden als Prutz (1981). 338 Eine Ausnahme bildete Robert Eduard Prutz, der für eine „Vermittelmäßigung der Literatur“ eintrat, so Gamper, Michael: Gute Unterhaltung, Robert Prutz und die ästhetische Mittellage. In: Ananieva, Anna; Böck, Dorothea; Pompe, Hedwig (Hgg.): Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert. Bielefeld 2011, S. 301-318, S. 301. Die Unterhaltungsliteratur war laut einer von Prutz (1981) erstmalig 1845 veröffentlichten Schrift „die Literatur derjenigen, welche gebildet genug sind, um überhaupt an künstlerischer Production Antheil zu nehmen: und wieder nicht gebildet genug, um zu dem eigentlichen Kern der Kunst, dem innerlichen Verständniß des Schönen vorzudringen und sich von etwas Anderm befriedigen zu lassen, als allein von dem Höchsten und Vortrefflichsten“ (S. 116). Demzufolge verstand er sie als ein „nothwendiges Product“ seiner Zeit, das man auch konsumieren könne, ohne ein ausgebildetes ästhetisches Verständnis zu besitzen und „auch ohne Autor oder Kritiker oder überhaupt Gelehrter zu sein“ (S. 120). Allein Neugierde und Langeweile seien die wesentlichen Voraussetzungen für den Umgang mit ihr, beschied Prutz und gab aufrichtig zu, dass auch die ästhetisch Gebildeten durchaus ihre „schwachen Stunden“ hätten, in denen ihnen „das Klassische nicht schmecken“ wolle: „wo wir unsre Thüren zuschließen, um uns in trauter Einsamkeit, unter den Standbildern Apollo´s und aller neun Musen, an einem ‚Lectürbuch‘ zu ergötzen“ (S. 120).

Die Verklärung der Wirklichkeit im programmatischen Realismus | 231

großes Publikum erreichen und Geld verdienen wollten, attraktive Publikationsmedien. Insofern hing die sich im programmatischen Realismus andeutende Abkehr von der Autonomieästhetik inklusive der Forderung nach konventionellen, sinnstiftenden, identifikatorischen und kompensatorischen Lektüren mit ökonomischen Zwängen und publikationsgeschichtlichen Rahmenbedingungen zusammen. 339 Interessanterweise stand für Ernst Keil, dem Gründer der Gartenlaube, fest, dass alles das, „was reine Kunst […] und nicht unmittelbar zweckdienlich“ ist, „eigentlich von Übel“340 wäre. Soweit, dass sie wie Keil von der Idee einer reinen Kunst abrückten, gingen die Realisten, wie geschildert wurde, nicht. Sie definierten Reinheit jedoch ausschließlich formal- und inhaltsästhetisch. Reine, von Zwecken und ökonomischen Zwängen freigestellte Kunst forderten sie nicht. Die diversen Akteure der naturalistischen Literatenopposition stellten sich in den 1880er-Jahren exakt auf jenen autonomieästhetischen Standpunkt, von dem aus sie die an den Konventionen der Familienzeitschriften ausgerichtete Literatur als schmutzig brandmarkten und stattdessen eine unkonventionellere und forschere Art des Schreibens einforderten.

339 Der Gedanke folgt Helmstetter, Rudolf: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Bedingungen des Poetischen Realismus. München 1997. ‒ Vgl. außerdem Günter, Manuela: Die Medien des Realismus. In: Begemann, Christian (Hg.): Realismus. Epoche, Autoren, Werke. Darmstadt 2007, S. 45-61. ‒ Dies.: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2008. 340 Zit. nach Obenaus, Sybille: Literarische und politische Zeitschriften 1848-1880. Stuttgart 1987, S. 16.

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Naturalistische Ästhetik und die Schmutzflecken der Wirklichkeit

Während die Weimarer Klassik noch von reinstem, antikem Quellwasser gespeist wurde (vgl. Kap. 4), bezogen die Realisten nach 1848 ihre ästhetischen Substanzen aus der Gegenwart. Am idealistischen Anspruch einer reinen Ästhetik festhaltend, mussten die trübenden Aspekte des zugrunde gelegten realen Lebens der Zeit herausgefiltert werden, um eine verklärte Wirklichkeit schöner Kunst zu erhalten. Indem das gewöhnliche bürgerliche Leben idealisiert zur Darstellung gelangen sollte, galten sowohl das sozial Periphere als auch alles das, was nicht dem konventionellen Geschmack und den sittlichen Normen der bürgerlichen Gesellschaft entsprach, als nicht oder nur eingeschränkt kunstkompatibel (vgl. Kap. 5). Der in den 1880er-Jahren auf den Plan tretende Naturalismus 1 hielt am Gegenwartsbezug fest, verzichtete aber auf die Forderung, dass unbedingt eine verklärte Wirklichkeit gestaltet werden sollte. Als Reaktion auf die tabubehaftete ältere Kunstdoktrin wurden die bislang sanktionierten, als ästhetisch unrein erachteten Wirklichkeitsbereiche für kunstfähig erklärt.2 Insofern konnten die Naturalisten ihre Ästhetik nicht auf eine substantielle, von antiken ästhetischen Normen oder zeitgenössischen 1

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Überblicksdarstellungen und sozialgeschichtliche Einordnungen naturalistischer Literatur und Ästhetik liefern Voswinkel, Gerd: Der literarische Naturalismus in Deutschland. Eine Betrachtung der theoretischen Auseinandersetzungen unter besonderer Berücksichtigung der zeitgenössischen Zeitschriften. [Diss.] Berlin 1970. Im Folgenden als Voswinkel (1970). ‒ Hamann, Richard u. Hermand, Jost: Naturalismus. München 1972. Im Folgenden als Hamann/Hermand (1972). ‒ Mahal, Günther: Naturalismus. München 1975; ‒ Scheuer, Helmut: Der deutsche Naturalismus. In: Kreuzer, Helmut (Hg.): Jahrhundertende, Jahrhundertwende. Wiesbaden 1976, S. 153-188. ‒ Magerski, Christine: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. Tübingen 2004. ‒ Bunzel, Wolfgang: Einführung in die Literatur des Naturalismus. Darmstadt 2008. ‒ Stöckmann, Ingo: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2011. Die Naturalisten brachen mit traditionellen Rezeptionsgewohnheiten. Der Provokation wegen waren Schockwirkungen durchaus erwünscht, vgl. Just, Klaus G.: Der Schock. Protest oder neue Konvention. In: Lehner, Horst (Hg.): Zeitalter des Fragments. Literatur in unserer Zeit. Stuttgart u.a. o. J. [1965], S. 77-92, v.a. S. 80-82.

234 | Die Verschmutzung der Literatur

moralästhetischen Konventionen ausgehende Reinheit begründen, wie sie sich in einem Kunstwerk zeigen sollte. Dies stellte sie vor ein paradoxes Problem, das im vorliegenden Kapitel beleuchtet werden soll: Wie konnten sich die Naturalisten dem Schmutz zuwenden3, ohne selbst für schmutzig befunden zu werden? Um sich gegen den naheliegenden Schmutzvorwurf behaupten zu können, mussten sie ihre ästhetischen Prinzipien neu begründen. Auch die folgende Analyse beschränkt sich mit wenigen Ausnahmen auf programmatische Schriften.4 Zunächst wird (6.1) untersucht, wie sich der frühe Naturalismus kritisch vom literarischen Leben seiner Gegenwart losgesagt 5 und sich (6.2) unter der Maßgabe, eine Literatur mit höherem Wahrheitsgehalt zu forcieren, den mit Schmutz assoziierten Bereichen der Realität zugewandt hat. Daraufhin wird (6.3) gezeigt, wie die Naturalisten in Auseinandersetzungen mit Émile Zola ihre eigenen ästhetischen Ansichten geschärft haben.6 Dabei haben sich in der Mitte der 1880erJahre zwei unterschiedliche Tendenzen herauskristallisiert: Während einige Natura3

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Der zentrale Stellenwert des Schmutzes im Naturalismus ist in literatur- und ästhetikgeschichtlichen Darstellungen verschiedentlich erwähnt, aber kaum systematisch erforscht worden. Eine Ausnahme bildet Bogdal, Klaus-Michael: „Schaurige Bilder“. Der Arbeiter im Blick des Bürgers am Beispiel des Naturalismus. Frankfurt am Main 1978, darin das Kapitel „Schmutz und Schlamm“, S. 85-116 u. 219-227. Im Folgenden als Bogdal (1978). Wenn nicht anders gekennzeichnet, ist auf folgende Materialbände zurückgegriffen worden: Meyer, Theo (Hg.): Theorie des Naturalismus. Stuttgart 1973. Im Folgenden als Naturalismus (1973); ‒ Brauneck, Manfred u. Müller, Christine (Hgg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880‒1900. Stuttgart 1987. Im Folgenden als Manifeste und Dokumente (1987); ‒ Dietrich, Stephan u. Wunberg, Gotthart (Hgg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Freiburg im Breisgau 1998. Im Folgenden als Literarische Moderne (1998). Zur naturalistischen Kritik an älteren Realismuskonzeptionen vgl. Schneider (2005), S. 193-285. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die Auseinandersetzung der deutschen Naturalisten mit Zola; freilich hat es andere ausländische Autoren wie Alphonse Daudet, Bjørnstjerne Bjørnson, Henrik Ibsen und Fjodor Dostojewski gegeben, an denen sie sich orientiert haben. Zu den internationalen Einflüssen des Naturalismus vgl. Moe, Vera I.: Deutscher Naturalismus und ausländische Literatur. Zur Rezeption der Werke von Zola, Ibsen und Dostojewski durch die deutsche naturalistische Bewegung (1880-1895). [Diss.] Aachen 1981, im Folgenden als Moe (1981). ‒ Chevrel, Yves: Der Naturalismus in Deutschland und in Frankreich. Begegnungen, Mißverständnisse, Abweichungen. In: Heftrich, E. u. Valentin, J.-M. (Hgg.): Gallo-Germanica. Wechselwirkungen und Parallelen deutscher und französischer Literatur (18.-20. Jahrhundert). Nancy 1986, S. 207-217. ‒ Speziell zur naturalistischen Zolarezeption im deutschsprachigen Raum siehe Root, Winthrop H.: German Criticism of Zola 1875-1893. With special reference to the RougonMacquart Cycle and the Roman Expérimental. New York 1966. ‒ Vgl. auch den Sammelband von Engler, Winfried u. Schober, Rita (Hgg.): 100 Jahre Rougon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte. Tübingen 1995. ‒ Zum Einfluss Ibsens auf den deutschsprachigen Naturalismus vgl. Bernhardt, Rüdiger: Henrik Ibsen und die Deutschen. Berlin 1989.

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listen die Gewinnung neuer Stoffe für die Literatur ins Zentrum ihrer Forderungen rückten (6.3.1), waren andere Naturalisten kritischer und knüpften die Darstellung ‚schmutziger‘ Wirklichkeit an diverse Bedingungen (6.3.2). Damit ist die Bruchstelle gekennzeichnet, die die Literatenopposition um 1890 spalten sollte. Schließlich wird (6.4) dargelegt, mit welchen Argumenten idealistisch rückgebundene und konsequentere Auslegungen des Naturalismus um 1890 voneinander abdrifteten. Der Schmutz stellte sich in dieser Phase gleichsam als Markenkern und internes naturalistisches Streitobjekt dar.

6.1 KRITIK AM „AUGIASSTALL DER PSEUDOLITERATUR“ Als sich die junge, naturalistische Literatenopposition allmählich zu formieren begann, hatte sie noch kein eigenes Programm vorzuweisen. Eigenständige ästhetische Leitlinien sind erst in der Auseinandersetzung mit dem literarischen Leben der damaligen Gegenwart geschärft worden. Der seichte Publikumsgeschmack und eine Literatur, die sich diesem aus purem Gewinnstreben heraus anpassen würde, standen im Zentrum der Kritik. So wandten sich die Brüder Heinrich und Julius Hart gegen das „unglaubliche Geschmackswirrwarr im Publikum“ 7, das einen Gefallen an den zahlreichen dilettantischen Lyrikbändchen, den dialogreichen aber handlungsarmen Theaterstücken und den gefühlsseligen Familienblattnovellen gefunden habe. Solche literarischen Werke dienten ihren Lesern allenfalls als belanglose Gesprächsstoffe, mit denen sie die „Parfüms und Causerien der Salons“ 8 bereichern würden. Ernsthafte Auseinandersetzungen mit den Texten habe dagegen nicht stattgefunden. Aus dem Grund zielten die Angriffe, die die Brüder zwischen 1882 und 1884 in ihrer Zeitschrift Kritische Waffengänge führten, nicht nur auf das „Geröll und Gerümpel“9, das die „Fluthwoge novellistischer Fabrikarbeit“ 10 zutage gefördert, sondern auch auf die „Gleichgültigkeit des Publikums“11, das sich mit solchem literarischen Müll zufrieden gegeben habe. Die Anpassung an den Publikumsgeschmack ist vor allem den zahlreichen populären, per Kolportage vertriebenen Literaturformaten angelastet worden. Bereits im Eingangssatz des programmatischen ersten Artikels wandten sich Redaktion und Verlag der Gesellschaft 1885 gegen den „journalistischen Industrialismus, der nur auf Abonnentenfang ausgeht“ und sich bei seiner „Familienblätterkocherei“ 12 einen allzu familienfreundlichen, frauen- und kindertauglichen Stil angewöhnt habe. Um ein möglichst großes Lesepublikum zu erreichen, haben sich die Journale den in bürgerlichen Familien vorherrschenden Anstands- und Sprachregeln, die Kommunikati7

Hart, Heinrich u. Hart, Julius: Wozu, Wogegen, Wofür? In: Kritische Waffengänge (1882), H. 1, S. 3-8, S. 6. Im Folgenden als Hart, H. u. J. (1882). 8 Hart, Heinrich: Neue Welt. Literarischer Essay (1878). In: Manifeste und Dokumente (1987), S. 7-18, S. 16. Im Folgenden als Hart, H. (1878). 9 Hart, H. u. J. (1882), S. 7. 10 Ebd., S. 5. 11 Ebd., S. 7. 12 [Redaktion und Verlag der Zeitschrift „Die Gesellschaft“:] Zur Einführung. In: Die Gesellschaft 1 (1885), H. 1, S. 1-3, S. 1. Im Folgenden als Gesellschaft: Einführung (1885).

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on über heikle Themen einschränkten oder ganz unmöglich machten, angenähert. Die Anpassung an den weiblich konnotierten Konversationsraum ‚Familie‘ habe aber auch anspruchsvollere Literaturformate erreicht. Selbst in „der periodischen schöngeistigen Litteratur und Kritik“ würde eine pseudoidealistische „Tyrannei der ‚höheren Töchter‘ und der ‚alten Weiber beiderlei Geschlechts‘“13 vorherrschen. In der Gesellschaft wollte man deshalb ausdrücklich „mit jener geist- und freiheitsmörderischen Verwechslung von Familie und Kinderstube aufräumen“14, die zu einer ‚Verweiblichung‘ des literarischen Diskurses beigetragen habe: Wir wollen die von der spekulativen Rücksichtnehmerei auf den schöngeistigen Dusel, auf die gefühlvollen Lieblingsthorheiten und moralischen Vorurteile der sogenannten ‚Familie‘ (im weibischen Sinne) arg gefährdete Mannhaftigkeit und Tapferkeit im Erkennen, Dichten und Kritisieren wieder zu Ehren bringen.15

Männlich konnotiert, sollte der literarische Diskurs keinen Kommunikationstabus mehr unterworfen sein, weshalb man sich für das Verschwinden „der geheiligten Backfisch-Litteratur“ und der „phrasenseligen Altweiber-Kritik“16 engagierte. Man wollte keine Anstrengung scheuen, der herrschenden jammervollen Verflachung und Verwässerung des litterarischen, künstlerischen und sozialen Geistes starke, mannhafte Leistungen entgegenzusetzen, um die entsittlichende Verlogenheit, die romantische Flunkerei und entnervende Phantasterei durch das positive Gegenteil wirksam zu bekämpfen. 17

Auch Ernst Henriet Lehnsmann setzte sich in einem 1886 erschienenen Aufsatz gegen die Effemination der zeitgenössischen Kunst und Literatur ein, aufgrund derer viele Aspekte des modernen Lebens ausgeblendet würden. Dass die meisten Künstler in ihren Werken „Schwächlinge und ‒ höhere Töchterschulen als ihr Publikum vorauszusetzen“ schienen, empfand er „nach dem markerschütternden Donner dreier siegreicher Kriege“ als besonders „entwürdigend“18. Seiner Meinung nach tauchten die meisten Kunstschaffenden allzu gerne „in die Dunstwolke[n] ästhetischer Thees und Salons“19 ein. Aus „Rücksicht auf die nervös übertriebene Feinheit des individuellen Gefühles“20, wie es dort angesichts weiblicher Gäste gepflegt werde, würden sie keine Anbindung mehr an das wahre, schmutzbehaftete und darum konversationsuntaugliche Leben besitzen. Ihnen fehle „die markige Kraft echten und gesund-tiefen Empfindens“, die sie für eine künstlerische Gestaltung der „großen[,] die Welt bewe-

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Lehnsmann, Ernst H.: Die Kunst und der Sozialismus (1885). In: Manifeste und Dokumente (1987), S. 23-32, S. 25. 19 Ebd. 20 Ebd.

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genden Probleme“21 des Industriezeitalters bräuchten. Angesichts weitverbreiteter Not der Arbeiter würde die Mehrzahl „unserer Künstler und Dichter“ eine allzu „angstvolle Zurückhaltung“22 wahren. Wie Wagner in Goethes Faust wären sie „ein Feind von allem Rohen“23 und würden deshalb die soziale Frage nicht an sich heranlassen. Oskar Welten führte die weit verbreitete „ästhetische Empfindlichkeit“ 24, die mit einer „Verpönung des kräftigen Wortes, des starken Bildes, des gewaltigen Gedankens“25 einhergehe, in einem in der Gesellschaft 1885 veröffentlichten Essay auf eine Entwicklung zurück, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts durchgesetzt habe. Während sich das Literaturpublikum zu Zeiten von Lessing, Goethe und Schiller nach anfänglichem Zögern schnell daran gewöhnt habe, „daß die deutsche Sprache eine urkräftige ist und daß kräftige, gewaltige Gedanken und Gefühle nur in einer kräftigen Sprache geäußert werden können“26, sei nach 1800 eine „ästhetische Reaktion“27 an die Macht gelangt, die vor allem die Theater reguliert habe. In ihnen sei es zu einer „ästhetische[n] Säuberung der Dramen unserer Klassiker und des großen Shakespeare“28 gekommen. Fortan sei alles das, „was dem sogenannten ‚geläuterten Geschmack‘ als nicht ganz wohlanständig, als zu derb, als zu frei erschien“, bei den Aufführungen weggelassen worden, was Welten als Akte „ästhetische[r] Lynchjustiz“29 kritisierte. Dabei habe es sich keinesfalls nur um Akte einer althergebrachten „politischen Zensur“ gehandelt; „eine sittliche und eine, selbst die Gefahr der Lächerlichkeit nicht scheuende, ästhetische Zensur“30 sei hinzugetreten. Weltens Hypothese nach habe sich diese Entwicklung negativ „auf den allgemeinen Geschmack“ ausgewirkt, wodurch „die geleckte Ästhetik verwässerter, kraftloser, poetischer Bettelsuppenliteratur geschaffen“ worden sei, „an der wir“, wie er es ironisch formulierte, auch „heute noch unsere Freude und unser Wohlgefallen haben.“ 31 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd. ‒ Das Rohe, von dem sich Wagner im Faust abgrenzt, ist das „Fiedeln, Schreien, Kegelschieben“ der Bauern in der Szene „Vor dem Tor“, siehe Goethe, Johann W.: Faust. Eine Tragödie. In: Ders.: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 7/1. Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1999, S. 9-464, S. 52. 24 Welten, Oskar: Unsere ästhetische Empfindlichkeit als Ausdruck des Verfalls unseres Geschmacks. In: Die Gesellschaft 1 (1885), Nr. 16, S. 492-495. Im Folgenden als Welten (1885). 25 Ebd., S. 494. 26 Ebd., S. 493. ‒ Ende des 18. Jahrhunderts habe man „begriffen, daß schön etwas ganz anderes bedeutet, als süßlich, schwächlich, lüstern und geleckt, als empfindsam und rührselig, als überspannt und verlogen“ (ebd., S. 494). 27 Ebd., S. 494. 28 Ebd. ‒ „Von den Hoftheater-Intendanzen als den amtierenden Wächtern der ‚guten Sitte‘ ausgehend, zog sie[, die „Unverfrorenheit“ der Zensur, L.R.,] immer weitere Kreise, und schließlich durfte jeder Stadtrat und Bürgermeister in den kleinsten Flecken seinen Rotstift an unseren klassischen Meisterwerken reiben.“ (Ebd.) 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd.

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Die zeitgenössische Lyrik galt den Naturalisten als besonders konfliktscheu. Hermann Conradi kritisierte 1885, dass die meisten Gedichte die Menschen nicht mehr in der Konfrontation „zur Natur, zum Fatum, zum Ueberirdischen“ 32 zeigen würden. Statt das „philosophisch Problematische“ und das „hartnäckig Sociale“ zu thematisieren, „spielt, tändelt“33 die Lyrik und verliere sich in Formspielereien. In formalästhetischer Hinsicht sprach er sich deshalb gegen allzu „fein und sauber polirtes, zierlich gedrechseltes und gefeiltes und bei aller Peinlichkeit doch roh und geistlos gebliebenes Stümperwerk“34 aus. Wie Conradi und andere Naturalisten distanzierte sich auch Heinrich Hart ausdrücklich vom „Wortschwall und Kling-Klang“ der „hohlen Formlyrik“35 der so genannten Epigonen, zu denen er etwa die Dichter Emanuel Geibel und Friedrich Halm zählte. Deren Gedichte seien „glatte, durch Lektüre vermittelte Reproduktion[en]“ klassischer Texte, in denen sich „nirgendwo ein urendlicher Naturlaut, nirgendwo lebendige Quelle“36 finden würde. Der an die etablierten Dichterkollegen gerichtete Vorwurf der Epigonalität ist von den Naturalisten oft mit einem Verweis auf einen allzu „feine[n] Dilettantismus“ kombiniert worden, der laut Karl Henckell besticht und betrügt, denn er ist eitel Phrase und Schein. Er gebraucht bunte und leuchtende Tünche, denn sein Material ist wurmstichig, urväteralt und überall löchrig wie faules Holz. Er stinkt auch nicht wie der gemeine Dilettantismus, sondern er hat Parfüm. Er ist ein getreues Abbild der Toilette seiner Zeit.37

Diese Polemik Henckells ist in einem programmatischen Vorwort der 1885 erschienenen, frühnaturalistischen Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere zu finden. Seiner Meinung nach überdeckten die dilettierenden Dichter die inhaltlichen Mängel ihrer Verse mit oberflächlichen Phrasen, mit denen sie zu vertuschen versuchten, dass sie zum angefaulten, längst überlebten Abfall gezählt werden müssten. Neben Schauspiel und Lyrik wandten sich die Naturalisten auch gegen die zeitgenössische Prosaliteratur. Die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Franziska von Kapff-Essenther kritisierte 1886 die „in Familienblättern, Zeitungsfeuilletons, Leihbibliotheken und Kolportagespekulationen“38 ihrer Wahrnehmung nach omnipräsenten Unterhaltungsromane. Als „Schauplatz der seltsamsten, fremdartigsten, zum Teil höchst unwahrscheinlichen Begebenheiten“ seien sie vom „Wirklichen und Möglichen entrückt“39 und stünden damit in einem extremen Widerspruch zum modernen Leben: 32 Conradi, Hermann: Unser Credo. In: Arent, Wilhelm (Hg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. I-IV, S. II. Im Folgenden als Conradi (1885). 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Hart, H. (1878), S. 13. 36 Ebd., S. 10. 37 Henckell, Karl: Die neue Lyrik. In: Arent, Wilhelm (Hg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. V-VII, S. VI. 38 Kapff-Essenther, Franziska von: Der Anfang vom Ende des Romans. In: Die Gesellschaft 2 (1886), H. 4, S. 226-229, S. 229. Im Folgenden als Kapff-Essenther (1886). 39 Ebd., S. 227

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Menschen, die nirgends auf Erden existieren, Zufälle, die mit der Pünktlichkeit einer Maschinerie ihre Schuldigkeit thun, Katastrophen, welche alle schwierigen Verhältnisse lösen und mit unvergleichlicher Gerechtigkeit den Schuldigen treffen, Geheimnisse, Verwicklungen, wunderbare Vorstellungen und wie der ganze Apparat heißt ‒ das macht den ‚Roman‘ aus, der mit dem wirklichen Leben grundsätzlich nichts gemein hat.40

Aufgrund ihrer „Buntheit, Wunderlichkeit, Phantastik und überraschende[n] Abwechslung des Inhaltes“ waren solche auf den Effekt hin konstruierten Geschichten Kapff-Essenther viel zu „romantisch“41, viel zu wenig realistisch. Wenig Verständnis brachten die Naturalisten außerdem für das breite Interesse an den „endlosen Romanen“ der „Engländer und Franzosen“ auf, mit denen der Literaturmarkt laut den bereits 1878 getätigten Aussagen Heinrich Harts „überschüttet“42 worden sei. Die Schmöker hätten bei den Lesern die typischen Symptome der Lesesucht gezeitigt: „[U]nsere Phantasie wurde stumpf unter dem Druck der ewigen Spannung und Bizarrerie, unser Zustand beim Lesen hatte etwas Fieberartiges, und unser Interesse an der Dichtung war dasselbe, womit wir den Gang einer Criminalverhandlung verfolgen.“43 Die Possessivpronomina deuten darauf hin, dass der damals erst 22jährige Dichter den beschriebenen Zustand des fieberhaften Lesens sehr gut selber kannte; allerdings stellte er ihn als eine bereits überwundene Krankheit dar.44 Inzwischen habe er sich „der frischen, gesunden Atmosphäre“ in den Romanen von Bjørnstjerne Bjørnson, Henrik Ibsen und Bret Harte angenähert, beteuerte Heinrich Hart und hoffte, dass dem Lesepublikum durch den zunehmenden Erfolg jener Autoren allmählich die „Zauber wahrer Poesie […] verständlich“45 gemacht

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Ebd. Ebd. Hart, H. (1878), S. 16. Ebd. Den Erinnerungen seines vier Jahre jüngeren Bruders Julius kann man entnehmen, dass die Harts als Jugendliche Romane von Dickens (Oliver Twist, David Copperfield), Scott und James Fenimore Cooper (Lederstrumpf) gelesen hatten, vgl. Hart, Heinrich u. Hart, Julius: Lebenserinnerungen. Rückblicke auf die Frühzeit der literarischen Moderne (1880-1900). Hg. von Wolfgang Bunzel. Bielefeld 2006, S. 103. An Romane französischer Autoren erinnerte er sich in dem 1928 in der illustrierten Zeitung Der Tag erschienen Aufsatz Meine Jugendfreunde ‒ die Bücher interessanterweise nicht mehr. Dafür taucht der historische Roman Der Löwe von Flandern von Hendrik Conscience in seiner Aufzählung auf (vgl. ebd.): ein Buch über die so genannte „Sporenschlacht“, in der sich im Jahr 1302 flämische Handwerksbürger und Adlige gegen die französische Herrschaft aufgelehnt hatten, und die ‒ wohl durch den Erfolg des Buches mit beeinflusst ‒ im 19. Jahrhundert zu einem flämischen Nationalmythos wurde. Nicht nur hat Julius Hart die Erinnerung an seine Jugendlektüre von der französischen Literatur bereinigt, er hat ihr damit auch einen deutlich antifranzösischen Anstrich verpasst. Dabei scheinen zumindest Hugo und Balzac zu den Autoren gehört zu haben, für die er und sein Bruder als Jugendliche „geschwärmt hatte[n]“ (vgl. ebd., S. 165); das geht indirekt aus einem 1918/19 in Velhagen & Klasings Monatsheften erschienenem Aufsatz (Friedrichshagen II. Aus meinen Lebenserinnerungen) hervor. 45 Hart, H. (1878), S. 16.

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würden. Tatsächlich sind die drei Autoren auch von anderen deutschsprachigen Naturalisten in den 1880er-Jahren immer wieder als Vorbilder genannten worden. Zum Standardrepertoire naturalistischer Polemik gehörte die bereits zitierte, in der Gesellschaft angeklungene Kritik zeitgenössischer Literaturkritik. Heinrich Hart sprach vom „fressende[n] Castratenthum der Kritik“ 46 und Karl Bleibtreu bescheinigte ihr nicht nur in seinem 1886 erschienenen Buch Revolution der Literatur einen erbärmlichen Zustand.47 Seiner in der 1888 veröffentlichten Schrift Der Kampf um´s Dasein der Literatur geäußerten Meinung nach handele es sich um eine „PseudoKritik“, die den „stümperhaften Regeln des Formalismus“ verhaftet bleibe und deshalb gar nicht richtig zwischen guten und schlechten Kunstwerken zu unterscheiden wisse: „[D]as Hübsche, Seichte, Oberflächliche“ werde gelobt, „das wirklich Geniale“48 dagegen bemängelt oder einfach übergangen. In ganz ähnlicher Weise ist die etablierte Literaturkritik auch noch 1890 im programmatischen ersten Aufsatz der Zeitschrift Freie Bühne angegangen worden. Ihre Deutungshoheit über den literarischen Diskurs in Frage stellend behauptete man, dass sie zu sehr an der „erstarrte[n] Regel“ festhalten und mit dieser „angelernte[n] Buchstabenweisheit dem Werdenden sich entgegenstemm[en]“49 würde. Das „todte Alte“ repräsentierend, habe die „abgelebte Kritik“ mit ihrer „ersessenen Autorität“ den lebendigen Ansichten und „Forderungen unserer Generation“50 entgegengestanden. Eine ähnlich aggressive Kampfansage ist auch in den 1886 aufgestellten Thesen der literarischen Vereinigung ‚Durch!‘ gemacht worden. Dort ist eine hygienische Reinigung der Kritik angemahnt worden, die auf eine „entschiedene, gesunde Reform der herrschenden Litteraturzustände abzielen“ 51 sollte: Als ein wichtiges und unentbehrliches Kampfmittel zur Vorarbeit für eine neue Litteraturblüte erscheint die Kunstkritik. Die Säuberung derselben von unberufenen, verständnislosen und übelwollenden Elementen und die Heranbildung einer reifen Kritik gilt daher neben echt künstlerischer Produktion als Hauptaufgabe einer modernen Litteraturströmung.52

Die naturalistische Kritik bezog sich auf alle Ebenen des literarischen Lebens. Es wurden die Produktions-, Rezeptions- und Distributionsbedingungen sowie die etablierte Literaturkritik ins Auge gefasst, die für den schlechten Zustand der zeitgenössischen Literatur mitverantwortlich gemacht wurden. Inhaltsästhetisch beanstandete

46 Hart, H. u. J. (1882), S. 5. 47 Vgl. Bleibtreu, Carl: Revolution der Literatur, hg. von Johannes J. Braakenburg. [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig o.J. (1887).] Tübingen 1973, S. 87 u. passim. Da die erste Auflage 1886 veröffentlicht wurde, im Folgenden als Bleibtreu (1886/1887). 48 Ders.: Der Kampf um´s Dasein der Literatur (1888). In: Manifeste und Dokumente (1987), S. 221-226, S. 224. Im Folgenden als Bleibtreu (1888). 49 Anon.: Zum Beginn. In: Freie Bühne für modernes Leben 1 (1890), H. 1, S. 1-2, S. 2. 50 Ebd. 51 Anon.: Thesen der „Freien literarischen Vereinigung Durch!“ (1886). In: Literarische Moderne (1998), S. 24-26 hier These Nr. 8 auf S. 25. Im Folgenden als „Durch!“-Thesen (1886). 52 Ebd., S. 26 (These Nr. 9).

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man Oberflächlichkeit, Wirklichkeitsferne und Konventionalität 53, Vermeidung vitaler Stoffe, derber Sprache und heikler Themen sowie eine mangelnde Beschäftigung mit den großen und kleinen Problemen der Menschen einschließlich der unteren Schichten. Die Naturalisten wandten sich deshalb gegen die ihrer Meinung nach idealisierenden Tendenzen der Gegenwartsliteratur. In einer 1887 stattfindenden Sitzung des Vereins ‚Durch!‘ wurde der „Idealismus“ als „eine Richtung der künstlerischen Phantasie“ charakterisiert, „welche die Natur nicht, wie sie ist, darstellt, sondern wie sie irgend einem Ideal gemäß sein sollte“54. Entsprechend war es ein typischer, hier nach Michael Georg Conrad zitierter Vorwurf, dass die „idealistischen Fabulierer“ überhaupt „kein zuverlässiges Organ für die Wirklichkeit der Dinge besitzen“55 würden. Damit galt die zeitgenössische, idealisierende Literatur als eine lebensferne, „überlebte Epigonenklassizität“, gegen die, wie es in den ‚Durch!‘-Thesen formuliert worden ist, „ein Kampf geboten“56 schien. Dieser wurde häufig auch zu einem heroisch-männlichen Kampf gegen die Verweiblichung und Verweichlichung einer Literatur stilisiert, die an die vom sozialen Leben abgeschnittenen und auf den Kreis der Familie beschränkten bürgerlichen Frauen adressiert war und sich darum die geschlechtsspezifischen Kommunikationstabus angeeignet hatte.57 In der Gesellschaft wurde dieser Kampf auf das gesamte kulturelle Leben der Zeit ausgedehnt: Unsere Gesellschaft wird keine Anstrengung scheuen, der herrschenden jammervollen Verflachung und Verwässerung des litterarischen, künstlerischen und sozialen Geistes starke, mannhafte Leistungen entgegenzusetzen, um die entsittlichende Verlogenheit, die romantische Flunkerei und entnervende Phantasterei durch das positive Gegenteil wirksam zu bekämpfen. Wir künden Fehde dem Verlegenheits-Idealismus des Philistertums, der Moralitäts-Notlüge der alten Parteien- und Cliquenwirtschaft auf allen Gebieten des modernen Lebens. 58

Die polemischen Angriffe gegen die von den modernen Entwicklungen abgekoppelte, als verweiblicht, überlebt und unwahr erachtete Literatur mündete nicht selten 53 Vgl. Hillebrand, Julius: Naturalismus schlechtweg! In: Die Gesellschaft 2 (1886), H. 4, S. 232-237, der dem etablierten deutsche Bühnendrama auf S. 235 vor allem „sexuellen und sozialen“ „Konventionalismus“ vorwarf. Im Folgenden als Hillebrand (1886). 54 Wille, Bruno: [Protokoll der Sitzung des Vereins „Durch!“ vom 22. April 1887]. In: Manifeste und Dokumente (1987), S. 61. Hervorhebung im Original. 55 Conrad, Michael G.: Zola und Daudet. (Geschrieben in Paris 1880.) In: Die Gesellschaft 1 (1885), Nr. 40, S. 746-750 u. Nr. 43, S. 800-805, S. 746. Im Folgenden als Conrad (1880/1885). 56 „Durch!“-Thesen (1886), S. 25 (These Nr. 7). 57 Vgl. Helduser, Urte: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. [Diss. Kassel 2003] Köln 2005, v.a. S. 63-72 u. S. 195 („Feminisierungskritik“) ‒ Konkret zu den komplementären „Semantisierungen des Weiblichen“ im Naturalismus vgl. Igl, Natalia: Geschlechtersemantik 1800/1900. Zur literarischen Diskursivierung der Geschlechterkrise im Naturalismus. Göttingen 2014, S. 196-207 u. passim. ‒ Neben der naturalistischen Kritik der Verweiblichung der Literatur weisen beide, Helduser und Ilg, in ihren Studien auf die gleichzeitige Öffnung naturalistischer Zeitschriften für Texte schreibender Frauen hin. 58 Gesellschaft: Einführung (1885), S. 2.

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auch in einer Abfall- und Schmutzmetaphorik. Beispielsweise stellte es Heinrich Hart als eine „Pflicht“ dar, entschlossen gegen das „Ueberwuchern eines eklektischen Dilettantismus“ vorzugehen und das „Unkraut auszujäten“59, womit er die etablierte Literatur seiner Zeit pauschal als unnützen Gartenabfall abqualifizierte. In seiner Revolution der Literatur (1886) sprach Karl Bleibtreu sogar von einem „Augiasstall der Pseudo-Literatur“; dabei bedauerte er, dass es seiner Generation an mutigen Personen mangele, die mit männlich konnotierter „kritische[r] Herkulesarbeit“60 einschreiten und den literarischen Mist auskehren würden: „Vor Goethe und Schiller schritt wenigstens Lessing her“, schrieb er. „Bei uns aber werden die Herkulesse schon in der Wiege verkrüppelt und die heilige Dreieinigkeit der Dummheit, Heuchelei und Trägheit hat ihren Schmutzhaufen allzuhoch gethürmt.“61 Bleibtreus Wendung gegen die schmutzigen Literaturzustände seiner Zeit war freilich auch eine Antwort auf Polemik konservativer Kritiker, die den Naturalismus mit Schmutz in Verbindung brachten.62 Interessant aber ist, dass er sich, wie es im folgenden Abschnitt geschildert wird, auf die Seite der Sauberkeit stellte, obwohl er selbst eine Beschäftigung der Kunst mit bislang ausgeblendeten Wirklichkeitsaspekten und damit auch mit dem Schmutz einforderte. Wie an diesem exemplarischen Fall deutlich wird, förderte die Hinwendung zum Schmutz Paradoxien zutage, auf die die Naturalisten eine Antwort finden mussten.

6.2 DAS WAHRHEITSPOSTULAT UND DER NATURALISTISCHE GRIFF IN DEN SCHMUTZ Intention naturalistischer Kritik ist es gewesen, „den programmatischen Anspruch des Realismus zu erneuern, ohne dessen idealistisches Voraussetzungssystem übernehmen zu müssen.“63 Der eingeforderte Bruch mit den „alten überlieferten Motive[n]“ und „abgenutzten Schablonen“64 konfrontierte die opponierenden Literaten mit der Frage, an welchen ästhetischen Grundsätzen sie sich in positiver Weise orientieren sollten. In Abgrenzung zu dem, wie sie nicht sein wollten, schärften sie die Konturen ihres eigenen Programms. Allem voran ging es um eine Emanzipation von der vorherrschenden Verklärungsästhetik, die an bürgerlichen Geschmackskonventionen ausgerichtet war. Ein moderner Realist sollte „das Leben schildern, wie es ist“ und sich „stets fernhalten von dem Unterfangen, uns die Welt als ein heiteres Theater darzustellen, wo alle Conflicte zum Guten auslaufen“65, so Wilhelm Bölsche. In diesem Sinne forderte man in der Gesellschaft, dass Kunst nicht mehr an die „Denk- und

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Hart, H. u. J. (1882), S. 5. Bleibtreu (1886/1887), S. 13. Ebd., S. 13-14. Zur polemischen Zolakritik vgl. Fußnoten 133-135 in diesem Kapitel. Schneider (2005), S. 7. Conradi (1885), S. II. Bölsche, Wilhelm: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik [1887]. Hg. von Johannes J. Braakenburg. Tübingen 1976, S. 50. Im Folgenden als Bölsche (1887).

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Gefühlsweisen der höheren Kinderstuben, der pedantischen Bildungsschwätzer und der polizeifrommen Gesinnungsheuchler“66 angepasst werden solle, an denen sich die meisten zeitgenössischen Autoren orientierten. In der 1885 in München gegründeten Zeitschrift, die bis 1890 das einflussreichste Publikationsorgan der Naturalisten blieb, wollte man sich dagegen einer „Reinlichkeit des Denkens“, einer „Kraft der Empfindens“ sowie einer „Lauterkeit und Offenheit der Sprache“67 befleißigen, um auf diese Weise die Entwicklung einer modernen Literatur zu befördern, die frei von ‚unlauteren‘ Kommunikationstabus bleiben und ‚wahr‘ sein sollte. 68 Mit dem Wahrheitspostulat69 vertrat man einen für den Naturalismus paradigmatischen Anspruch, den man der vermeintlich ‚unwahren‘, auf Schein und Lüge basierenden Gründerzeitkultur selbstbewusst entgegenhielt.70 Die Naturalisten rückten die Forderung nach hohem Realitätsgehalt, nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit ins Zentrum ihrer ästhetischen Theorie. Die idealistischen Implikationen traditioneller Ästhetik wurden mit diesem Wahrheitspostulat jedoch nicht komplett ausgehebelt. Dies zeigt sich etwa in den Schriften der Brüder Heinrich und Julius Hart, die ihre Idealvorstellung eines „modernen und nationalen“ Schriftstellers folgendermaßen in Worte kleideten: „Wahrheit durch realistischen Gehalt, Sittlichkeit durch Erfassung der reinsten, höchsten Ideen, Schönheit durch kraftgesättigte Form, ‒ das sind die drei Attribute, welche der moderne Dichter aufzuweisen hat.“71 Die Begriffe „Wahrheit“, „Sittlichkeit“, „Schönheit“ und die Rede von den „reinsten, höchsten Ideen“, wie sie ein Dichter zu erfassen habe, legen nahe, dass die Forderung der Harts im Kern durchaus einer Reaktivierung identitätslogischer Positionen des programmatischen Realismus gleichkam. Tatsächlich sprachen sie sich explizit für eine Literatur mit einem „großen ideal-realistischen Gehalt“72 aus. Allerdings führten sie ihre Forderung statt auf Vischer, Carrière oder Freytag auf Georg Brandes zurück. Das ist bezeichnend, weil der aus Dänemark stammende Brandes zu Beginn der 1880er-Jahre mit Aufsätzen über Ibsen und Bjørnson nicht nur allgemein zur größeren Bekanntheit der beiden skandinavischen Autoren im deutschsprachigen Raum beigetragen, sondern auch deren Rezeption als moderne, den Problemen der

66 Gesellschaft: Einführung (1885), S. 2. 67 Ebd., S. 1-2. 68 Nicht zufällig wurde in der ersten Nummer der von Michael Georg Conrad herausgegebenen Gesellschaft direkt nach dem einführenden Artikel der Dialog Wahrheit und Lüge von Bertha von Suttner abgedruckt, vgl. Suttner, Bertha von: Wahrheit und Lüge. In: Die Gesellschaft 1 (1885), Nr. 1, S. 3-5. 69 Vgl. Hamann/Hermand (1972), S. 244-249. 70 Vgl. Voswinkel (1970), S. 96, der schreibt, dass das „Unbehagen an der herrschenden Kultur“ im letzten Jahrhundertdrittel in großen Teilen des Bürgertums durchaus weit verbreitet war und sich oft als kulturkritische Wendung gegen die Moderne selbst gerichtet habe. Dazu verweist er auf den Erfolg von Max Nordaus Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit aus dem Jahr 1883. 71 Hart H.; Hart J.: Graf Schack als Dichter. In: Kritische Waffengänge (1883), H. 5, S. 3-64, S. 64. 72 Ebd., S. 9.

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Gegenwart zugewandte Realisten bestärkt hatte. 73 Bjørnson und Ibsen sind den Harts nachweislich bereits im Jahr 1878 bekannt gewesen. Schon damals hatte Heinrich sie gewissermaßen als Prototypen moderner Dichter gelobt, die „die Natur nicht länger durch die trüben Gläser der Reflexion und Bücherweisheit“ anschauen, sondern „den naturalistischen Untergrund“ vermessen und sich darüber hinaus „den modernen Konflikten“74 zuwenden würden. Die geforderte Hinwendung zu bis dahin tabuisierten und als ästhetisch unrein erachteten Wirklichkeitsbereichen und damit auch zu den „schmutzigen Realien des Lebens“75 stand in einem klaren Gegensatz zur idealistisch imprägnierten realistischen Programmatik der 1850er- und 1860er-Jahre, die deren künstlerische Verwertung streng sanktioniert hatte. Die Aufwertung des Wahrheitsbegriffs war ein emanzipatorischer Akt, der die Frage, was in einem Kunstwerk dargestellt werden darf, von ihrem Wirklichkeitsbezug abhängig machte und von ästhetischen und moralischen Zusatzbedingungen freistellte. Die in der Literatur geschilderte Wirklichkeit musste nun nicht mehr zugleich wahr, schön und gut (vgl. Kap 5.4) sein; die Identität der drei Kategorien begann sich aufzulösen. Moralästhetische Bedingungen knüpften sich fortan nicht mehr an die Frage, ob das Unreine dargestellt werden durfte, sondern nur noch an die Frage, in welcher Weise es dargestellt werden sollte. Diesbezüglich blieben Idealistische Vorstellungen weiterhin aktiv. Die Auffassung, dass prinzipiell alle Bereiche der Wirklichkeit dargestellt werden dürften, entsprach dem Grundkonsens, wie er in allen Manifesten der naturalistischen Literatenopposition vorherrschte. So wurde etwa auch in den Thesen der Berliner literarischen Vereinigung ‚Durch!‘, zu deren Mitgliedern neben den Harts auch Conrad Alberti, Leo Berg, Wilhelm Bölsche, Gerhart Hauptmann, Arno Holz, Bruno Wille, Eugen Wolff und Andere gehörten, für eine moderne Literatur plädiert, die sich den aktuellen Problemen keinesfalls verschließen dürfe: Wie alle Dichtung den Geist des zeitgenössischen Lebens künstlerisch verklären soll, so gehört es zu den Aufgaben des Dichters der Gegenwart, alle bedeutungsvollen und nach Bedeutung ringenden Gewalten des gegenwärtigen Lebens in ihren Licht- und Schattenseiten poetisch zu gestalten und der Zukunft prophetisch und bahnbrechend vorzukämpfen. Demnach sind soziale, nationale, religiös-philosophische und litterarische Kämpfe specifische Hauptelemente der gegenwärtigen Dichtung, ohne dass sich dieselbe tendenziös dem Dienste von Parteien und Tagesströmungen hingiebt.76

73 Vgl. Brandes, Georg: Björnstjerne Björnson. In: Ders.: Moderne Geister. Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert. Frankfurt am Main 1882, S. 387-436 sowie ders.: Henrik Ibsen (1883). In: Bohnen, Klaus (Hg.): Der Essay als kritischer Spiegel. Georg Brandes und die deutsche Literatur. Eine Aufsatz-Sammlung. Königstein im Taunus 1980, S. 63-79. Dieser Aufsatz ist ursprünglich in der von Paul Lindau herausgegebenen Zeitschrift Nord und Süd erschienen. Brandes stellte Ibsen darin als einen modernen, an der Wahrheit orientierten Moralisten dar. 74 Hart, H. (1878), S. 16. 75 Schlaf, Johannes: Moral, Kritik und Kunst. In: Die Gesellschaft 7 (1891), H. 9, S. 11681172, S. 1170. 76 „Durch!“-Thesen (1886), S. 58 (These Nr. 2).

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Das klare Bekenntnis zur poetischen Gestaltbarkeit nicht nur der „Licht-“, sondern auch der „Schattenseiten“ von Realität und zur Hinwendung zu den Kämpfen der Gegenwart wich klar vom Grundverständnis des poetischen Realismus ab. Die idealistische Terminologie, wonach Literatur den Zeitgeist zu „verklären“ habe, verrät jedoch, dass man sich hinsichtlich ihrer ästhetischen Funktion 1886 weiterhin in dem von der traditionellen Ästhetik aufgespannten Möglichkeitsraum bewegte. So wundert es auch nicht, dass man zwar eine Figurenzeichnung präferierte, die „den Menschen mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit“ darstellen sollte, womit von selbstkontrolliert agierenden Durchschnittstypen (vgl. Kap. 5.3.2) keine Rede mehr war, man aber gleichzeitig betonte, dass es nicht erlaubt sei, „die durch das Kunstwerk sich selbst gezogene Grenze zu überschreiten“ 77. An der Existenz einer Grenze zwischen künstlerisch darstellbaren und nicht-darstellbaren Figuren wurde somit weiterhin festgehalten. Es müsse „die Grösse der Naturwahrheit“ eines Menschen veranschaulicht werden, um auf diese Weise „die ästhetische Wirkung“78 zu steigern. Das schmutzbehaftete „Wahre“ sollte sich, um nicht als ästhetisch unrein zu gelten, als heroisch erweisen. Auch Hermann Conradi hat den Wahrheitsaspekt mit Attributen wie Größe, Kraft und Nation in Verbindung gebracht. Die „neue Lyrik“79, für die er sich aussprach, sollte „lebenswahr“ und „national“80, „wahr und groß, intim und confessionell“ sowie „starkgeistig“ und „gewaltig“81 werden. Moderne Dichter müssten deshalb „wieder sehgewaltig, welt- und menschengläubig“ werden und dürften nicht mehr nur „aufwärts“ schauen, „wo das Licht und die Freiheit wohnen“, sie sollten fortan auch „hinab in die Abgründe“ sehen, „wo die Armen und Heimathlosen kargend und duldend hausen“82, mahnte er eine Öffnung des Blicks auf Schmutz und soziales Elend an. Auch für Karl Bleibtreu sollte der moderne Realismus „diejenige Richtung der Kunst“ sein, die „allem Wolkenkukuksheim entsagt und den Boden der Realität bei Wiederspiegelung des Lebens möglichst innehält.“83 Dabei machte er ausdrücklich auf den Unterschied zum bürgerlichen Realismus aufmerksam, der sich fälschlicherweise darauf beschränkt habe, bloß „die nüchterne Prosa des ‚wirklichen‘, soll heissen des Alltags-Lebens wiederzuspiegeln“84, wie es besonders in den Romanen Gustav Freytags der Fall gewesen sei. Dagegen müsse die gesamte Realität inklusive der „Mängel und Flecken der Innenwelt“ der geschilderten Charaktere sowie auch der „Niedrigkeit und Nichtigkeit der [sie] umgebenden Aussenwelt“ 85 abgebildet werden. Anstatt also „mit Moritz Carriere ‚eine Kunst, bei der uns wohl wird‘“, einzufordern,

77 Ebd., S. 59 (These 5). ‒ Die Wendung „Menschen von Fleisch und Blut“ geht auf Georg Büchner zurück, vgl. Fußnote 140 in diesem Kapitel. 78 Ebd. 79 Conradi (1885), S. I. Hervorhebung im Original. 80 Ebd., S. II. 81 Ebd., S. IV. 82 Ebd., S. III. 83 Bleibtreu (1887), S. 29. 84 Ders. (1888), S. 222. 85 Ebd., S. 224.

246 | Die Verschmutzung der Literatur

verlangte Bleibtreu eine an der tatsächlichen Lebenswirklichkeit ausgerichtete „Kunst, die uns erhebt.“86 Die idealistische Wortwahl zeigt an, dass auch er traditionellen Denkmustern verhaftet blieb. Beispielsweise lobte er explizit solche Autoren, die „mit tiefem sittlichen Ernst danach“ streben würden, „die Wahrheit realistischer Weltabspiegelung zu erreichen“: und zwar „ohne darüber die Schönheit einzubüssen.“ 87 ‚Wahrheit‘ blieb auch Bleibtreus Verständnis nach weiterhin an die Begriffe ‚Sittlichkeit‘ und ‚Schönheit‘ gekoppelt. Trotzdem unterschied sich der von ihm eingeforderte moderne Realismus klar vom älteren Idealrealismus. Während sich das Dargestellte bislang als ästhetisch und sittlich ‚rein‘ erweisen sollte, um wahr zu erscheinen, galt es ihm als eine gewissermaßen ‚sittliche Tat‘, von den inhaltsästhetischen Konventionen abzurücken und die Realität naturalistisch mit all ihren unreinen Aspekten abzubilden. Jedoch hielt auch er an der Forderung fest, dass diese verklärt werden sollten, um den Lesern schöne Eindrücke zu gewährleisten. Wenn er in seiner Schrift Revolution der Literatur die sozialen Romane Max Kretzers 88 dafür lobte, dass in ihnen sowohl „die lauernden Raubthierinstinkte des vierten Standes“, als auch „das heroische Ringen desselben gegen die Noth“ abgebildet worden seien, dann nicht ohne den Verweis darauf, dass „der Dichter würdevolle Worte der Versöhnung“ gefunden habe, mit denen er inmitten jenes „dämonischen Todtentanzes“ etwa auch „die Macht der heiligen allüberwindenden Liebe feiert.“89 Entsprechend schwebe über jener Geschichte „des Dichters reiches Gemüth und weiss im Schlamm noch so manches Goldkorn zu entdecken“90, wie Bleibtreu schrieb. Die Goldkörner sollten den poetischen Gehalt eines Kunstwerks garantieren, der durch die geforderte Implementierung des Schmutzes gefährdet war. Nur durch die Verklärung des Drecks vermittels Heroismus oder Liebe ließ sich dessen Darstellung legitimieren. Obwohl einige idealistische Vorstellungen also weiterhin aktiv blieben, induzierte der von den Naturalisten eingeforderte hohe Realitätsgehalt Abweichungen von der herkömmlichen Darstellungspraxis; ihnen galt jeder Stoff als literarisierbar. Das betraf all diejenigen Wirklichkeitsaspekte, die dem traditionellen Kunstverständnis nach als nicht poetisierbar gegolten hatten, vom Standpunkt reiner Ästhetik also als unrein erachtet wurden, und aus Kunstwerken herausgefiltert werden mussten. Erst das naturalistische Wahrheitspostulat ermöglichte die Implementierung jeglicher mit Schmutz assoziierter Wirklichkeitsaspekte in literarische Werke. Klaus-Michael Bogdal spricht diesbezüglich von einer „Anerkennung einer genuin ästhetischen Qualität der neuen, ‚schmutzigen‘ Bereiche der Realität“, womit die Naturalisten einen „ersten Schritt der Loslösung von der herrschenden Kunstideologie“ 91 vollzogen hätten. Folgerichtig war ihre Darstellung immer auch ein symbolträchtiger Akt der

86 Ebd., S. 224. 87 Ders. (1886/1887), S. 71. 88 Zu Kretzers Romanen vgl. Küppers, Patrick: Die Sprache der Großstadt. Zeitkritik und ästhetische Moderne in den frühnaturalistischen Berlinromanen Max Kretzers. [Diss. Potsdam 2013] Marburg 2014. 89 Bleibtreu (1886/1887), S. 36. 90 Ebd. 91 Bogdal (1978), S. 88.

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Abgrenzung. Abbildungen des erwähnten „naturalistischen Untergrund[es]“92, der „Schattenseiten“93 des Lebens, der sozialen Peripherien und des dort aufzufindenden Elends, der „Mängel und Flecken“ 94 sowie der „Niedrigkeit[en] und Nichtigkeit[en]“95 des Alltags zeigten eine Distanzierung von der konventionellen Literatur an und ließen sich gleichsam als heroische Tabubrüche sowie als ehrliche Vorstöße in randständige, bislang ausgeblendete Wirklichkeitsbereiche deuten. Bogdal schreibt dazu: „Die Überschreitung der Grenzen auch zum ‚Schmutzigen‘ wird als neue wahre Größe begriffen und zur heroischen Bewährung der Kunst angesichts einer kunstfeindlichen Realität stilisiert.“96 Der Schmutz wurde zu einem provokanten Symbol für die Aufdeckung aller bislang tabuisierter Realitäten. Sehr gut veranschaulicht das ein Gedicht von Otto Ehrlich, dem durchaus „eine kulturrevolutionäre Attitüde kaum überbietbarer Radikalität“97 bescheinigt werden kann: Durch! Wann werden endlich sie´s capiren: Auch unsre Zeit ist ein Vulkan! Mit Bücherschmieren und Dociren ist leider Gottes nichts gethan. Nicht mehr von oben schöpft das Uebel, Und krieg [sic] der Handschuh auch ´nen Fleck; Greift tiefer in den schmutzgen Kübel. Denn auf dem Boden sitzt der Dreck!98

Die Thematisierung des Drecks wurde nicht nur als berechtigt angesehen, sie wurde geradezu eingefordert. Man beachte jedoch den Handschuh, den der im Kübel rührende Naturalist trägt. Er ermöglichte es ihm, sich mit dem Schmutz zu befassen, ohne von ihm beschmutzt zu werden. Überträgt man die bakteriologischen Erkenntnisse der damaligen Zeit (vgl. Kap. 2.4) auf das Gedicht, dann bot ihm das Accessoire Schutz vor Ansteckung durch das „Uebel“ des potentiell infektiösen Schmutzes. Trotz intensivster Auseinandersetzungen mit dem Unreinen bewahrte der Naturalist seine Reinheit und Gesundheit. Die in 6.1 angesprochene Paradoxie war damit entschärft. In ästhetischer Hinsicht verweist das Bild vom Handschuh auf die Frage nach den Bedingungen, die die frühen Naturalisten an die Darstellung des Schmutzes 92 93 94 95 96 97

Hart, H. (1878), S. 16. „Durch!“-Thesen (1886), S. 58 (These Nr. 2). Bleibtreu (1888), S. 224. Ebd. Bogdal (1978), S. 88. ‒ Sprengel, Peter: Leo Berg und das Netzwerk der Moderne. In: Ders. (Hg.): Im Netzwerk der Moderne: Leo Berg. Briefwechsel 1884-1891. Kritiken und Essays zum Naturalismus. Bielefeld 2010, S. 7-74, S. 22. Im Folgenden als Sprengel (2010). 98 Im Original siehe Ehrlich, Otto: Mene Tekel! Harmlose Reimereien eines Modernen. Zürich 1886, S. 89. Der von Sprengel (2010) auf S. 23 getätigten Vermutung nach mag das Gedicht Durch! die Benennung des gleichnamigen literarischen Vereins inspiriert haben.

248 | Die Verschmutzung der Literatur

knüpften, um weder das ästhetische Moment des Kunstwerks noch die Sauberkeit der Hand des Künstlers zu beeinträchtigen.

6.3 AUSEINANDERSETZUNGEN MIT ZOLA Die Rezeption der Romane und kunsttheoretischen Schriften Zolas regte innerhalb der Literatenopposition eine Verständigung über die Möglichkeiten und Grenzen einer naturalistischen Ästhetik an, die auch die Darstellung von „widerwärtigen Bilder[n]“99 gestattete. Anders als die „Tadler Zolas“, die ihn ohne Umschweife zum „Undichter“100 erklärten, waren sie um eine differenziertere 101 Auseinandersetzung bemüht. Zolas theoretische Auffassungen wurden allerdings nur von wenigen der frühen deutschen Naturalisten kritiklos übernommen. Immer wieder rückte die Frage ins Zentrum, ob eine Kunst, die „ernstlich widerwärtig[e]“ Dinge abbilde, trotzdem als ästhetisch gelten bzw. als „angenehm“102 rezipiert werden könne. In einem in der Gesellschaft veröffentlichten Aufsatz delegierte Erdmann Gottreich Cristaller die Frage vom literarischen Werk auf dessen Rezipienten um, indem er ihre Beantwortung von der „unausrottbare[n] Idealisierungsleidenschaft des Lesers“ 103 abhängig machte. Nicht ein Kunstwerk sondern dessen Betrachter sollte sich als idealistisch erweisen. Das war kein unüblicher Vorschlag zur Lösung des ästhetischen Problems. Es haben sich nämlich zwei typische Ansätze zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage herauskristallisiert, die in den folgenden beiden Unterabschnitten veranschaulicht werden sollen. Die Einen beantworteten sie positiv und leiteten etwaige wirkungsästhetische Bedenken an die Leser weiter. Etwaige Bedingungen für die Darstellbarkeit des Schmutzes waren für sie zwar nicht irrelevant, jedoch von nachgeordneter Bedeutung. Die Anderen rückten ihre wirkungsästhetischen Bedenken ins Zentrum und machten die Beantwortung der Frage nach der Darstellbarkeit des Schmutzes von konkreten Bedingungen abhängig. 6.3.1 Die Eroberung neuer Wirklichkeitsbereiche Für Franziska von Kapff-Essenther ist Zola derjenige Schriftsteller gewesen, der durch die uneingeschränkte „Eroberung der Wirklichkeit“ in seinen Romanen erst „den Realismus zum Naturalismus [ge]steigert“ 104 habe. Mit den „Nachtseiten des menschlichen Lebens“ habe er in ihnen eben auch solche Wirklichkeitsaspekte ge-

99 Cristaller, Erdmann G.: Zolaismus, am „Germinal“ erklärt. In: Die Gesellschaft 1 (1885), Nr. 35, S. 647-650, S. 647. Im Folgenden als Cristaller (1885). 100 Ebd. 101 „Die Ablehnung der herrschenden Zolakritik ‒ oft nur in der Form einer differenzierteren Kritik ‒ und nicht das vorbehaltlose Eintreten für den Zolaschen Naturalismus, wurde zum entscheidenden Kriterium für die Zugehörigkeit zur Bewegung der ‚Modernen‘“, schreibt Moe (1981) auf S. 119. 102 Cristaller (1885), S. 647. 103 Ebd., S. 649. 104 Kapff-Essenther (1886), S. 227.

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schildert, die aufgrund von Anstandsregeln bis dahin als künstlerisch nicht darstellbar gegolten hätten: Mit einer allumfassenden, alldurchdringenden Kraft, wie sie nur dem wirklichen Genius eigen ist, legt er jene dunklen Gewalten bloß, die aus unerforschter Tiefe quellend, ihr Spiel mit dem Menschen treiben, gegen alle Vorkehrungen und Palliative der Zivilisation einen heimlichen, aber unerbittlichen Kampf kämpfend. Dieser Kampf ist so schrecklich, so widerlich, so tragikomisch bisweilen, daß bis heute die Dichter sich redlich Mühe gegeben haben, ihn uns vergessen zu machen.105

Im Unterschied zu idealrealistischen Künstlerkonzeptionen stellte Kapff-Essenther den prototypischen Naturalisten Zola als wagemutigen Entdecker unbekannter Randbereiche innerhalb der eigenen Kultur heraus. Er scheue sich nicht davor, die zivilisationsfernen, mit naturhafter Gewalt und Schmutz assoziierten sozialen und sonstigen Peripherien zum Thema seiner Romane zu machen. So werfe Zola seine Blicke etwa auch auf das Leben der großstädtischen Proletarier, auf die Arbeitswelt in einem Kohlebergwerk, auf die Verhältnisse der Pariser Prostitution sowie auch auf „pathologische Prozesse“106 einzelner Figuren, die die Schriftsteller bis dato nicht interessiert hätten. Eben „weil sie wirklich“107 seien, stelle Zola in seinen Romanen bislang ausgeblendete Aspekte von Realität ungeschminkt 108 dar und könne vermittels einer „analytisch-induktiven“ Methode, wie sie sich in der Wissenschaft durchgesetzt habe, eine „poetische Wahrheit“109 erzeugen, die mit der bloß spekulativen und nur auf idealisierbare Wirklichkeitsaspekte Bezug nehmenden Wahrheit älterer Dichtung nicht mehr viel gemein habe. Die Auffassungen Kapff-Essenthers korrespondierten mit Michael Georg Conrads bereits aus dem Jahr 1880 stammenden und 1885 in der Gesellschaft veröffentlichten Ausführungen zu Zola. Am Wahrheitsanspruch orientiert, beruhten dessen Romane „auf den Ergebnissen der Beobachtung und Wissenschaft“, weswegen sie ganz „ohne idealisierende Flunkerei“110 ausgekommen seien. Das Konzept vom „roman expérimental“, das Zola „aus der ästhetischen Analyse“ 111 von Flauberts Madame Bovary extrahiert habe, umriss Conrad wiefolgt: Im Zentrum habe die Intention nach „[t]reue[r] Wiedergabe des Lebens“ gestanden, die allerdings nur „unter strengem Ausschluß des romantischen, die Wahrscheinlichkeit der Erscheinung beeinträchtigenden Elementes“112 gewährleistet werden könne. Die Handlung eines Romans müsse logisch aufgebaut, die „dem wirklichen Leben entnommenen Szenen“ 113 müssten auch hinsichtlich ihrer sozialen Einbettung glaubhaft wiedergegeben sein. 105 106 107 108 109 110 111 112 113

Ebd. Ebd., S. 228. Ebd., S. 227. „[D]enn da ist eben kein einziges gemildertes Wort, kein einziger geschminkter Zug, keine einzige gemachte Wendung“, so Kapff-Essenther ebd., S. 228. Ebd., S. 229. Conrad (1880/1885), S. 746. Ebd. Ebd. Ebd.

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Bei den dargestellten Figuren müsse es sich um „wirkliche Menschen“ handeln, „just so erhaben oder so erbärmlich, wie sie die Gesellschaft hervorbringt“, da heldenhafte „Puppen in Riesenformat“114 dem Realitätsanspruch krass entgegenstehen würden. Insgesamt müsse ein Roman, obschon es sich weiterhin um ein Kunstwerk handle, hinsichtlich Aufbau, Handlung und Figurenzeichnung den Charakter eines „menschlichen Dokuments“115 annehmen, dessen Schönheit ausschließlich von der Annäherung an die Wahrheit abhängig sei. Aus dem Grund müsse ein Autor das Idealisieren in jeder Form unterlassen, da er dadurch die darzustellende Realität verfremden würde. Auch dürfe sich der Verfasser nicht in die Romanerzählung einschalten, müsse „vollständig hinter der Handlung“ zurücktreten, deren Ereignisse er „mit seinen eingeschobenen Reflexionen oder Sentenzen“116 stören würde. Nur so könne sich der Roman als eine „unpersönliche, objektive Einheit“117 erweisen. Dabei unterstrich Conrad die erkenntnisbringende Funktion solch naturalistischer Experimentalromane. Nicht selten sei das in ihnen Dargestellte ein „furchtbar entschleiertes Geheimnis des Lebens“; der Anspruch auf dokumentarische Wahrheit, Objektivität und Wissenschaftlichkeit ermögliche es, alles und damit auch die schmutzigen Bereiche des Lebens, die von der guten Gesellschaft normalerweise ignoriert würden, in Kunst zu überführen: Nehmen wir z. B. die Nana, die Heldin des neuesten Romans. Nana ist eine Kokotte ‒ une belle petit nach dem neuesten Sprachgebrauch der „Vie parisienne“. Wo geht die Kokotte hin? In die eleganten Theater, wo sie keine erste Vorstellung versäumt. Zola studiert das Parterre, die Logen, das Paradies, den Bühnenraum, die Kulissen, wo die Kunst aufhört und die liebe Natur der Komödianten wieder anfängt, das Toilettenkämmerchen der Schauspielerin, mißt die Staubschicht auf den Möbeln, die Schmutzablagerungen in den Ecken, die Spinnengeweben an den Wänden, die Löcher in den Tapeten, die Sprünge im Plafond.118

An Zolas Romanstil hob Conrad also den Detailrealismus und den damit zusammenhängenden Umstand hervor, dass dem Dreck dabei genauso viel Bedeutung zukäme wie der Eleganz in den Logen. Der Blick werde nicht nur auf die Bühne, sondern auch hinter die Kulissen gerichtet, wo Staub, Schmutz und Spinnenweben vorherrschten und die Schauspieler nicht mehr als künstlich geschminkte, sondern als natürliche Menschen erkennbar seien. In übertragenem Sinn gelte dies auch für alle Figuren in Zolas Romanen. Es würden sogar die moralischen Verfehlungen der „‚vornehmen‘ Gesellschaft“ ‒ jene „verborgensten Seiten der eleganten Korruption“119 ‒ in den Blick genommen. In seiner „Nana“ lasse Zola auch das „zuchtlose Leben vor dem Beobachter sich abspielen“ und entreiße der Pariser Lebewelt damit „den letzten Schleier“; er „zeigt mit seiner naturalistischen Leuchte hinein in die Ab-

114 115 116 117 118

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ders.: [Über Zola. In:] Parisiana. Plaudereien über die neueste Literatur und Kunst der Franzosen (1880). In: Naturalismus (1973), S. 103-106, S. 106. 119 Conrad (1880/1885), S. 800.

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gründe, wo das vornehme Gesindel der Lebemänner mit seinen ‚Löwinnen‘ sich im Schlamme sittlicher Verkommenheit wälzt…“120 Zola habe in seinen Romanen somit auch den unsittlichen Schmutz, d.h. all jene „unglaublichen aber wahrhaftigen Phänomene des ekelhaften Daseins verirrter Menschen“121, beleuchtet. Entsprechend sei es eine durchaus „haarsträubende Geschichte, die der Naturalist dem Leser vorführt“122, gab Conrad zu. Selbst in ihrer „Phraseologie“ sei sie „oft unpoetisch, roh, gemein“; allerdings liege es daran, dass „die behandelten Zustände und Menschen unpoetisch, roh, gemein“ 123 seien bzw. handelten. Zola habe demnach realistisch geschildert, „nichts davon und nichts dazu gethan“124, so Conrad weiter: „Wohlan, Zola giebt uns Menschen von Fleisch und Blut, und wenn sich diese „Ebenbilder Gottes“ wie Schweine aufführen, so schildert er sie eben wie Schweine und läßt sie grunzen wie Schweine. Dem Viehstand widerfährt sein Recht so vollständig wie dem Menschenstand. Suum cuique.“125 Aus dem Grund dürfe man Zola keineswegs als einen unmoralischen oder schmutzigen Dichter aburteilen. Obwohl viele seiner Werke mit „Obszönitäten“ angefüllt seien, sei er eine durchaus „sittliche Seele, der keuscheste Schriftsteller“126, beteuerte Conrad. Im Unterschied zu seinen idealistisch gestimmten Autorenkollegen, die sich „einem metaphysischen oder theologischen Sittengesetz“ verpflichtet fühlten, sei Zola „Werkmann der Wissenschaft“127. Aus einer wissenschaftlich-analytischen Distanz heraus befasse er sich mit realen Dingen, ohne von ihnen beschmutzt zu werden. Ohne in irgendeiner Weise zu „moralisier[en]“, stelle er einfach die physische Wahrheit der Menschen und Dinge dar, die in der Welt nicht nach „Evangelien und Katechismen“, sondern nach dem darwinistischen „Naturgesetz“ organisiert seien, wonach eben „der Stärkere“ 128 gewinne. Folgerichtig könnten seine Romane auch keine „sittenstärkende[n] Nutzanwendung[en]“129 mehr sein. Die „Moral der Geschichte“ werde nicht mehr ausgesprochen, stattdessen liege sie „unausgesprochen im Vorgang selbst, im Charakter und Schicksal der Helden“130. Dadurch werde die Frage nach der Moral an die Lesenden weitergeleitet, mit denen bei der Lektüre Folgendes geschehen würde: Man hält einen Augenblick den Atem an, faßt sich voller Ergebung in den unbeugsamen Willen der Thatsachen und studiert weiter; Blatt für Blatt unterliegt man der fascinierenden Gewalt der schrecklichen Wahrheit. Das Herz bebt vor Trauer, aber es gewinnt bald an Stärke und geht jusq´ au bout, koste es, was es wolle. Der Abscheu zerrinnt in tiefstem Mitleid wie in einem Mollakkord, in dem der Menschheit ganzer Jammer ausklingt. 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130

Ebd., S. 800-801. Ebd., S. 801. Ebd. Ebd., S. 748. Ebd. Ebd., S. 804. ‒ Bezüglich der von Georg Büchner stammenden Wendung „Menschen von Fleisch und Blut“ vgl. Fußnote 140 in diesem Kapitel. Ebd., S. 748. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

252 | Die Verschmutzung der Literatur

Zola anklagen, hieße die Welt anklagen, die er mit ihren Nöten und Gebresten und Verbrechen vor unser Tribunal schleppt. Klagt man den Richter etwa der Unsauberkeit an, wenn er einen schmutzigen Prozeß instruiert? Oder den Arzt wenn er grauenhafte Geschwüre bloßlegt? Wie absurd! Oder soll bloß der Sittenschilderer die Verpflichtung haben, die schlimmen Wahrheiten des Menschendaseins durch sentimentale Idealisierung zu ‒ verschlimmern? 131

Als Autor, der mit wissenschaftlicher Akribie den Schmutz aufdecke und benenne, sei Zola nicht schmutzig, sondern ehrlich, argumentierte Conrad. Dies mache ihn zu einem der „einschneidensten Moralisten, die Frankreich je hervor gebracht“ habe: „‚Dem Reinen ist alles rein‘, bezeugt die Bibel.“132 Aus dem Grund verfehlten ihn auch die Angriffe von Gegnern wie Gustav Wacht, Ludwig Pfau oder Paul d´Abrest, die Zola ein „Durchströmen der gemeinen Gesinnung“133 sowie einen „Trieb zur Pfütze“ nachgesagt und ihn damit als „Charlatan des schriftstellerischen Kloa kentums“134 verunglimpft hätten.135 Allerdings betonte Conrad auch, dass die auf Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit statt auf „Schönheit, Sitte und Würde“ gemünzten naturalistischen Experimentalromane durchaus nicht für jene „zahnlosen Gewohnheitsleser“ zu empfehlen seien, die ihre Lektüren „auf den Konsum des idealistischen Novellen-Zuckerbrods beschränk[en]“136 würden: ich wage nicht zu sagen der Leserin; denn bei der gegenwärtigen Beschaffenheit unserer öffentlichen Erziehung, welche die soziale Sittlichkeit mit dem Scheine absoluter Unwissenheit in geschlechtlichen Dingen ‒ kopflos genug ‒ zu befördern vermeint, wird man gemeint sein, Zola´s letzte Romane, wie die Bibel in den Klöstern des Mittelalters, mit einer eisernen Kette an den Bücherschrank zu fesseln, damit sie Frauen und Töchtern von sittiger Gesinnung und feinem Gefühl nicht in die Hände fallen. Die verassekurierte Sittlichkeit unserer FeigenblattPädagogik gestattet nur das lyrisch verblümte Phantasiespiel mit der Liebe und scheut vor der nackten Wahrheit zurück, weil das sozial-sittliche Ideal der Geschlechtsliebe nicht in die spröde Lastermoralität unserer angestammten Erziehungsweisheit paßt. So wie heute die Jugend erzogen wird, fehlt die Unschuld selbst da, wo die Jungfräulichkeit noch vorhanden ist. Alle halbe Kenntnis geschlechtlicher Verhältnisse ist ungleich gefährlicher, als die ganze. Allein die Halbheit paßt so wundervoll in das System unseres sozial-pädagogischen Versteckspiels, unserer schulmäßigen Vernunftverdunkelung! 137

Implizit für einen gesellschaftlich offeneren Umgang mit Sexualität plädierend, hielt Conrad es angesichts der Vorherrschaft bewahrpädagogischer Prinzipien für durchaus berechtigt, den in sexueller Hinsicht zumeist ungenügend aufgeklärten Frauen 131 132 133 134 135

Ebd., S. 804. Ebd., S. 748. Ebd., S. 802. Ebd., S. 803. Ausführlich mit der abfälligen Zolakritik konservativer deutscher Literaturkritiker auseinandergesetzt hat sich Bleibreu, Karl: Berliner Briefe, III (Zola und die Berliner Kritik). In: Die Gesellschaft (1885), Nr. 25, S. 463-471. Hervorhebungen im Original. 136 Conrad (1880/1885), S. 803. 137 Ebd., S. 801. Hervorhebungen im Original.

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den Zugang zu naturalistischer Literatur bis auf Weiteres zu verweigern. Moderne, an der Wahrheit orientierte Experimentalromane waren seinem Verständnis nach aus sexualhygienischer Vorsicht ausschließlich für ein aufgeklärtes, männliches und in geistiger Hinsicht gesundes Publikum bestimmt. Auf jedem Gebiete, auch auf dem schlüpfrigsten, ist zutreffende Erkenntnis dem männlichen, gesunden Geiste Bedürfnis. Die Heuchler mögen ihre Augen niederschlagen und fromme Grimassen reißen. Der wahre Freund der Menschen ist auch ein Freund der radikalen Wahrheit und ihrer unverblümten Aussprache.138

Anstatt „die nackten Stellen des Lebens überblumend“139 darzustellen, wie es Otto Ludwig gefordert hatte, sollte ein Naturalist sie Conrads Verständnis nach radikal und unverblümt benennen dürfen. Die Rücksichtnahme auf das weibliche Lesepublikum sollte nichts an der grundsätzlichen Berechtigung einer an wissenschaftlicher Erkenntnis orientierten ‒ und damit von moralisch begründeten Darstellungstabus enthobenen ‒ naturalistischen Literatur ändern. Um die Berechtigung derselben in ästhetischer Hinsicht zusätzlich zu untermauern, zitierte Conrad interessanterweise Georg Büchner. Wohl nicht zufällig versuchte er den Naturalismus à la Zola an jene von den bürgerlichen Realisten der 1850erJahre marginalisierte (und bereits damals als Naturalismus diskreditierte, vgl. Kap. V, 3.3) Traditionslinie des ästhetischen Diskurses anzudocken: „Wenn man so wollte,“ schrieb unser genialer Georg Büchner schon 1835, „dürfte man auch keine Geschichte studieren, weil sehr viele unmoralische Dinge darin erzählt werden, müßte man mit verbundenen Augen über die Gasse gehen, weil man sonst Unanständigkeiten sehen könnte, und müßte über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so viele Lüderlichkeiten vorfallen. Wann man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben …“140

Ähnlich wie Conrad hat übrigens auch Julius Hillebrand den Naturalismus als Fortführung einer durch Goethe, Lenz, Grabbe, Kleist und auch Büchner geprägten, mar138 Ebd., S. 804. 139 Ludwig: Dickens, S. 547. 140 Conrad (1880/1885), S. 804. ‒ Im Original siehe Büchner, Georg: Brief an die Familie, 28.07.1835. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2. Schriften, Briefe, Dokumente. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt am Main 1999, S. 409-411, S. 410-411. ‒ Im Dichterverein ‚Durch!‘ hat Gerhart Hauptmann 1887 einen Vortrag über Büchner gehalten, in dessen Anschluss von Eugen Wolff und Rudolf Lenz darauf verwiesen wurde, dass dieser „etwas Ungeklärtes, Stürmisches“ an sich gehabt hätte, was zu einer „Vernachlässigung seitens der Litteraturgeschichte“ geführt habe, vgl. Berg, Leo: [Protokoll des Berliner Dichtervereins „Durch!“ (1887).] In: Goltschnigg, Dietmar (Hg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar, Bd. I (1875‒1945). Berlin 2001, S. 149.

254 | Die Verschmutzung der Literatur

ginalisierten Traditionslinie aufgefasst. In seinem Aufsatz Naturalismus schlechtweg von 1886 verwies er auf die „sehr verachtete[n] Buchdram[en]“141, die die erwähnten Autoren ohne die Hoffnung verfasst hätten, dass sie jemals aufgeführt werden könnten. Generell stünden „dramatische Dichter vor dem Dilemma, entweder auf die Bühne zu verzichten, oder aber ‚sich möglich zu machen durch Anpassung‘ an den Geschmack der Logenabonnenten.“142 Dies sei für die gegenwärtigen Autoren noch immer der Fall. Während sich „in der Romanlitteratur das sozial-physiologische Prinzip“143, als dessen konsequentesten Vertreter er Zola bezeichnete, allmählich durchzusetzen beginnen würde, habe eine solche Entwicklung aufgrund des von der Theaterzensur behüteten konventionellen Geschmacks auf den Bühnen noch nicht einsetzen können. Indem dieser Geschmack den Konnex „der Poesie mit dem sozialen Leben und der Wissenschaft“ ignoriere und als „absolute Aesthetik“ 144 begriffen werde, basiere er, wie Hillebrand beschied, auf einem grundlegenden Irrtum. Insbesondere die mit der Urbanisierung und Industrialisierung (vgl. Kap. 2) zusammenhängenden Veränderungen brächten „in sozialer Hinsicht neue Probleme“ mit sich, die nun „ein neues Kunstprinzip“145 notwendig machen würden. Mit Blick auf Roman und Drama skizzierte er die Eckpunkte jenes naturalistischen Prinzips: Vor allen Dingen müssten Schriftsteller „an Stelle der abgedroschenen Spießbürgerkonflikte die großen Geisteskämpfe der Wirklichkeit“ treten lassen, an denen nicht nur „Pfarrer, Kommerzienräte, Sekretärs oder Lieutnants“, sondern auch „den vierten Stand“146 repräsentierende Figuren beteiligt sein sollten. Dabei gälte es, „immer das Packende im Leben, die Katastrophe herauszugreifen“, um dadurch wie „in einem ärztlichen Krankheitsbericht“ dasjenige hervorzuheben, „was auf den Fall oder auf die Krankheit Bezug hat“147, so Hillebrand. Um aber auch die „physiologische und pathologische Seite“148 eines Charakters erfassen zu können, dürften keine „Durchschnittstypen“ oder „Dutzendmenschen“, stattdessen sollten „streng individualisierte Typen“, auch „geistig und körperlich herabgekommene Menschen“ 149, abgebildet werden. Als Vorbild nannte auch Hillebrand „‚Nana‘, die Verworfene“ 150. Mit Blick auf das soziale Drama forderte er außerdem eine „Sprache des Lebens“, die „den traditionellen Theaterjargon“151 ablösen müsse. Darüber hinaus sollten Naturalisten auf alle „Taschentüchereffekte“ inklusive des Happy Ends verzichten; schließlich müsse ein Drama „disharmonisch ab[schließen], gerade so disharmonisch, wie die Wirklichkeit.“152 Mit all diesen Forderungen rückte Hillebrand klar von der Ver-

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Hillebrand (1886), S. 235. Ebd. Ebd. Ebd., S. 233. Ebd., S. 234. Ebd., S. 236. Ebd., S. 235. Ebd., S. 236 Ebd., S. 235. Ebd., S. 234. Ebd., S. 236. Ebd., S. 237.

Naturalistische Ästhetik und die Schmutzflecken der Wirklichkeit | 255

klärungsästhetik des programmatischen Realismus ab, die die Darstellung sozial und moralisch abseitiger Realitäten zum Teil sanktioniert, zum Teil blockiert hatte. 6.3.2 Vorbehalte gegen eine zu hohe Schmutzaffinität Forderungen wie Hillebrand oder Conrad sie in Auseinandersetzung mit Zola stellten, waren innerhalb der Literatenopposition nicht unumstritten. Anstatt die literarische Darstellung peripherer, mit Schmutz assoziierter Bereiche bedingungslos einzuklagen, artikulierte die Mehrzahl der Naturalisten Vorbehalte gegen eine zu hohe Schmutzaffinität. Insofern verweist die Zolarezeption auf eine interne Grenzlinie der naturalistischen Richtung. Bezeichnend für jenen Umstand ist es, dass die HartBrüder einen 1882 in ihren Kritischen Waffengängen erschienenen Aufsatz Für und gegen Zola betitelt haben. Darin haben sie sich zwar deutlich gegen die Angriffe vonseiten der konservativen Literaturkritik ausgesprochen, die in ihm nichts weiter als einen „schmutzigen Gesellen“153 sehen würden. Trotzdem waren auch sie der Ansicht, dass Zola mit seinen Experimentalromanen „gegen den Geist der Poesie selbst verst[ieße]“154. Es ist lohnenswert, diese vordergründig diskrepante Einschätzung näher zu betrachten. Die Harts vertraten ein realistisches Literaturverständnis, wonach „die Poesie keine andere Aufgabe haben kann, als die gesammte Welt wiederzuspiegeln“; hinsichtlich des Dargestellten betonten sie, „daß kein Stoff, auch der unsittliche und gemeine nicht, an und für sich undichterisch“155 sei. Vor dem Hintergrund des naturalistischen Wahrheitspostulats begrüßten die Hart-Brüder somit auch die realistische Darstellung der mit Unreinlichkeit, Unsittlichkeit und maximaler Unzivilisiertheit assoziierten Arbeiter. Zola sei durchaus berechtigt dazu, in seinen Romanen „Menschen aus der Hefe des Volkes“ wiederzugeben: und zwar ohne sie zuvor „in ein irisches Bad“ zu schicken, zu parfümieren und „in reine Wäsche und schwarzen Anzug“156 stecken zu müssen. Auch dürfe er sie reden lassen, „wie sie ohne Zweifel in ihren Höhlen reden.“157 Ein naturalistischer Autor wie Zola dürfe sich diesbezüglich keiner vom Salon diktierten Darstellungstabus unterwerfen, wo „schmutzige und unsittliche Scenen überhaupt den Anstand beleidigen“158 würden. „Schicklichkeits-Bedenken“159 hielten die Harts für unangebracht. Die Imago der Arbeiter als schmutzstarrende Höhlenmenschen sollte den Realitätsgehalt literarischer Werke steigern, sie war jedoch alles andere als realitätsnah und auf jeden Fall diskriminierend. Statt der tatsächlichen Lebensbedingungen reflektierte sie die distanzwahrende Abscheu vor den Unterschichten.

153 Hart, Heinrich; Hart, Julius: Für und gegen Zola. In: Kritische Waffengänge (1882), H. 2, S. 44-55, S. 46. 154 Ebd., S. 49. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. 155 Ebd., S. 47. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. 156 Ebd., S. 46. 157 Ebd. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 49.

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Statt auf den Inhalt zielte ihre Kritik auf die technische Umsetzung: „auf das Wie, nicht auf das Was kommt es an.“160 Entsprechend rückten sie die Frage nach der Art und Weise der Stoffbehandlung ins Zentrum ihrer Kritik. Durch „die Anhäufung schildernder Details, die Armuth an Erfindung und die Ueberwucherung des Nebensächlichen“161 handele es sich bei Zolas Romanen bloß um unpoetische Machwerke. Dabei griffen die Hart-Brüder die „ebenso originellen wie falschen“162 ästhetischen Prämissen Zolas an. Der seiner Theorie zugrundeliegende Irrtum, wonach sich die Literatur „aus einer Kunst zu einer Wissenschaft gestalten“ müsse, habe sein literarisches Werk zu einem „Gewebe von Einseitigkeiten, falschen Voraussetzungen, Entstellungen und halben Wahrheiten“163 verkommen lassen. Der allzu sehr auch auf den Schmutz fokussierte Detailrealismus seiner Experimentalromane habe somit auf einem gänzlich unpoetischen Verständnis basiert, wonach Literatur „zu einem pathologischen Lehrbuche werden“164 müsse. Dass Zola in seinen Romanen „den schlammigen Grund, wo dämonische Leidenschaften gähren“165, nicht ausgeblendet hat, hielt Heinrich Hart auch in einem 1884 erschienenen Essay für akzeptabel. Jedoch habe Zola den Blick seiner Meinung nach zu einseitig auf jene randständigen Zonen der Wirklichkeit hingelenkt. Deutlich kommt hier ein Dilemma zum Vorschein: Auf der einen Seite war die Darstellung solcher mit Dreck assoziierter Bereiche angesichts des naturalistischen Wahrheitspostulats erwünscht; auf der anderen Seite bedrohte die Präsenz des Schmutzes die poetische Qualität eines Kunstwerkes. Ein Dichter, der „die volle reiche Wirklichkeit mit allen ihren Flecken, mit allen ihren Verzerrungen“166 wiedergeben wollte, stand in den Augen Harts vor einem wirkungsästhetischen Problem. Jene Schmutzflecken der Wirklichkeit seien nämlich, „rein äußerlich betrachtet, nur zu oft so widerwärtig“, dass bei ihrer Betrachtung „der ästhetische Sinn abgestoßen“167 werde. Bei den Betrachtern stelle sich „Enttäuschung“ und „Ekel“ 168 ein. Jene „krasse Realität“ trotzdem „genießbar, selbst das Widerliche ästhetisch erfreulich zu machen“169, sei deshalb eine Fähigkeit, die nur die großen Romandichter beherrschen würden. Letzthin entscheide nämlich die geschickte Komposition über die poetische Qualität eines realistischen Kunstwerks; damit hielt Heinrich Hart an grundlegenden Prämissen des Programmrealismus fest. Durch eine maßvolle Verwendung und ein kunstvolles Arrangement schmutziger Aspekte sowie auch durch die Zugabe von „Humor“170 könne deren „Ekelhaftigkeit“171 erträglich gemacht werden. Zola hingegen würde aufgrund 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171

Ebd., S. 48. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. Ebd., S. 49. Ebd. Ebd,, S. 51. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. Ebd., S. 53. Hart, Heinrich u. Hart, Julius: Friedrich Spielhagen und der deutsche Roman der Gegenwart. In: Kritische Waffengänge (1884), H. 6, S. 3-74, S. 56. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., Ebd. Ebd., S. 56.

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seiner wissenschaftlichen Ausrichtung jene poetischen Maßgaben gänzlich ignorieren. Ähnlich äußerte sich übrigens auch der von Bleibtreu hochgeschätzte Gerhard von Amyntor 1884 kritisch über die Ausrichtung an der Wissenschaft, insbesondere an der Evolutionstheorie, mit welcher Zola bloß versucht habe, den eigenen „Dreck und Feuerschöpfungen ein vornehmes, gewissermaßen wissenschaftliches Ansehen“172 zu verleihen. Jenes ‚Mäntelchen‘ dürfe jedoch nicht mit einer echten poetischen Idee verwechselt werden, so Amyntor. Nur wenn eine würdige und gesunde Idee vorhanden sei, dürften etwa auch unsittliche Dinge in ein Kunstwerk integriert werden, wobei man solche Werke „den Blicken der Jugend“ seiner Meinung nach vorsichtshalber trotzdem entziehen sollte: um einen „Verstoss gegen das Gute, Wahre und Schöne“173 handele es sich in solchen Fällen aber nicht. Die Werke Zolas und seiner Nachahmer, die ihre „Camera obscura vor den hässlichsten und widerlichsten Dingen öffnen“ würden, fielen dagegen nicht darunter; jenen „unsauberen Bilderbüchern“ fehle jegliches „Gute und Echte“174, beschied Amyntor. In ihrem Der französische Naturalismus betitelten Aufsatz von 1886 hat sich auch Irma von Troll-Borostyani ausführlich mit dem ‚Phänomen‘ Zola befasst. Ihrer Beobachtung nach lösten dessen Verkaufserfolge äußerst fatale Nachahmungseffekte aus. Um Aufmerksamkeit zu generieren, fühlten sich vor allem in Frankreich viele, zumeist wenig talentierte Autoren dazu ermutigt, in ihren Texten, dem Vorbild Zolas nacheifernd, die Schwelle zum Schmutz zu überschreiten: Jeder französische Skribent, der sich die Fähigkeit beimißt, die Brutalitäten und Zoten eines Schnapsbruders, das gleißende oder auch stinkende Elend einer Dirne recht drastisch zu schildern, fühlt sich von einem unwiderstehlichen Bedürfnisse gedrängt, ein Blatt von Zolas Ruhmeslorbeeren für seinen eigenen hohlen Kopf, einige tausend Franks von Zolas glänzenden Einnahmen für seine leere Brieftasche zu ergattern. Er setzt sich hin, reiht einige grob gearbeitete Szenen aus den schmutzigsten Tiefen der menschlichen Gesellschaft oder aus dem langweiligsten Getriebe des Alltagslebens, ohne jedwede geistige Bedeutung, ohne jeden inneren Zusammenhang aneinander und flugs ist ein sogenannter ‚naturalistischer‘ Roman fertig.175

Solchen Schriftstellern mangele es an der „Absicht“, mit ihren Romanen „zum Wohle der Menschheit beizutragen“176, so Troll-Borostyani weiter. Dabei stellte auch sie klar, dass es durchaus „gestattet“ sein müsse, „den Menschen in seiner tiefsten Gesunkenheit, in seinen furchtbarsten Verirrungen“ darzustellen, jedoch nur, um bei den Lesern „das Mitleid und das Streben wachzurufen, die Verlorenen aus ihrem Elend emporzuheben“177. Wenn ein Dichter die „abscheulichsten Wunden der Gesellschaft“ offenlegen wolle, dann müsse er das „als Arzt thu[n], der zeitgleich auf 172 Amyntor, Gerhard von: Zur Orientierung über den Zolaismus (1884). In: Manifeste und Dokumente (1987), S. 660-663, S. 661. 173 Ebd. 174 Ebd., S. 662. 175 Troll-Borostyani, Irma von: Der französische Naturalismus. In: Die Gesellschaft 2 (1886), H. 4, S. 215-226, S. 218. 176 Ebd., S. 216. 177 Ebd.

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die Ursache der Krankheit hinweist und dadurch anregt, auf die Mittel zu deren Heilung zu sinnen.“178 Wenn er Verbrechen oder Sexualität dagegen bloß abbilden würde, ohne mit quasi medizinischem Bestreben positiv auf die Gesellschaft einwirken zu wollen, dann müsse er zu „jenen Sudlern“ gezählt werden, die ohne idealen Zweck Kot und Fäulnis aufwühlen, weil ihnen selbst die Beschäftigung mit der Niederträchtigkeit Vergnügen gewährt; die Gefallen daran finden, im Verbrechen nicht die immer übrigbleibenden Reste der Menschheit, sondern auch in den Tugenden jene niederen Empfindungen zu suchen, welche nach ihrer Behauptung die einzige Triebfeder unserer Handlungen bilden[.]179

Die Darstellung des Drecks war Troll-Borostyanis Meinung nach nur dann gerechtfertigt, wenn sie mit einem „idealen“, nämlich einem sozialhygienischen „Zweck“ verbunden war. Gegen eine allzu einseitige Schmutzaffinität führte sie ihr moralästhetisches imprägniertes Realismusverständnis ins Feld. Da sich das Leben in ästhetischer Hinsicht als „ein Wechsel von Licht und Schatten, von Schönem und Häßlichem“, in ethischer Hinsicht als „eine Mischung von relativ Gutem und Schlechtem, von Edlem und Gemeinem“180 erweise, verfehle ein einseitig auf „Niedertracht, Schmutz und Gemeinheit“181 fixierter Naturalismus den Anspruch, die Wirklichkeit realistisch abzubilden. Die übertriebene Akzentuierung „des Häßlichen, des Platten und Ordinären“ reduziere den Menschen auf sein tierisches Element seiner physiologischen Triebe, während durch die Blindheit „für alles Edle, Schöne und Gute“ auch vom „idealen Gehalt der Menschenseele“182 abgesehen werde. Die „Doppelnatur allen individuellen Lebens“183 könne eine solche Darstellungsweise 184 darum nicht aufzeigen. Dies sollten Naturalisten ihrer Meinung nach allerdings unbedingt anstreben. Täten sie es nicht, würde die Literatur trivial 185 werden und „auf der schiefen Ebene eines verdorbenen Geschmacks in den Sumpf bodenloser Gemeinheit und ödester Banalität“186 zu versinken drohen. Mehrfach betonte Troll-Borostyani in ihrem in der Gesellschaft erschienenen Aufsatz, dass es der grundlegende Denkfehler Zolas und seiner Adepten sei, Literatur als eine Wissenschaft zu verstehen, die nicht mehr an die idealistischen „Gesetze der

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 217. Ebd., S. 220. Ebd., S. 219. Ebd., S. 217. Übrigens betonte Troll-Borostyani ebd. auf S. 219-220, dass nicht nur, wenn Schmutziges offen dargestellt werde, sondern auch, wenn „die menschlichen Verirrungen geschminkt, gepudert und schön gekleidet“ abgebildet würden, der naturalistische Realitätsanspruch verfehlt werde. 185 „Die einzige richtige Bezeichnung für litterarische Erzeugnisse dieser Art wäre Trivialismus“, so Troll-Borostyani ebd., S. 219. 186 Ebd.

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Schönheit“187 rückgebunden werden müsse. Von einer Unvereinbarkeit von Realismus und Idealismus ausgehend, könnten die materialistischen „PseudoNaturalisten“188 ohne „die Ideen des Guten und Schönen, des Edlen und Erhabenen“189 nur noch die äußere Erscheinungswelt „in ihrer nackten Wirklichkeit“ 190, nicht aber deren inneren Zusammenhänge erfassen. Troll-Borostyanis eigener Ansicht nach würde der Idealismus einer anzustrebenden „realistischen Wahrheitstreue“ jedoch keinen „Abbruch“191 tun, womit sie selbst für ein idealrealistisches Verständnis naturalistischer Literatur plädierte: Die Dichtkunst ist einem Baume vergleichbar, der mit seinen Wurzeln im Boden nüchterner Lebenswirklichkeit haftet, aus dem er seine Nahrung saugt, mit seinem Wipfel aber frei und stolz der Sonne der Idealität entgegenragt. In dem Weltbilde des echten Dichters werden auch die dunkelsten Tiefen des Lebens von den Strahlen der Poesie verklärend berührt.192

Keine Tabuzonen solle es mehr geben, die Realität in einem Kunstwerk solle aber verklärt zur Darstellung gelangen. Werde die „Verkommenheit“ geschildert, dann dürfe sie zwar nicht beschönigt, es müsse aber immer auch auf den in der Asche verborgenen „Funke[n] edlerer Menschlichkeit“193 verwiesen werden, wodurch den Romanlesern „eine augenblicklich gehobene, dem Guten geneigtere Stimmung erweck[t]“194 werde, so Troll-Brorostyani. Prosawerke, die „jeder ethischen leitenden Idee entbehren“195 würden, müssten indessen als „Abhub der Romandichtung“ 196 angesehen werden. Dass „derartiger litterarischer Schund“ trotzdem Verbreitung fand, lag ihrer Meinung nach an den „sinnlichen Neigungen der menschlichen Natur“197, die beim Großteil des Publikums das Interesse an idealistischen, den Geist anregenden Texten überwiegen würden. Genau darauf spekulierten die falschen Naturalisten. Indem sie in ihren Werken pikante Dinge beschreiben würden, wie sie „der kühnste Romancier bis jetzt kaum andeutungsweise zu erwähnen wagte“, setzten sie Reize, so dass die Leser „gespannt darauf“ seien, „bis zu welcher Grenze in der ungenierten Schilderung verfänglicher Situationen der Verfasser wohl gehen werde“198. Jener Reiz der Grenzüberschreitung, den der Schmutz markiere, war Troll-Borostyanis Meinung nach jedoch ein mehr als zweifelhaftes Erfolgsrezept naturalistischer Literatur.

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Ebd., S. 220. Ebd., S. 226. Ebd., S. 222. Ebd., S. 221. Ebd. Ebd. Ebd., S. 219. Ebd., S. 225. Ebd. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. Ebd., S. 220. Ebd., S. 225. Ebd.

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6.4 SCHMUTZ ALS PROVOKANTER MARKENKERN UND STREITOBJEKT Die am Beispiel der frühnaturalistischen Zolarezeption skizzierten Unterschiede in der Beurteilung deuten bereits auf jene interne Grenzlinie hin, die ab ca. 1887 immer deutlicher zu Tage treten und schließlich zu einem offenen Bruch innerhalb der naturalistischen Literatenopposition führen sollte. Das Wahrheitspostulat blieb allerdings unbestritten. Damit herrschte auch hinsichtlich der Frage, ob mit Schmutz assoziierte Wirklichkeitsbereiche in literarischen Werken dargestellt werden dürften, Konsens. Tatsächlich ist die naturalistische Ästhetik damit „eine Bezugsquelle neuer Stoffe“199 gewesen, als die Heinrich Hart sie bezeichnet hat. Der städtische Schmutz, Unreinigkeiten in den Wohnungen der einfachen Bevölkerung oder der Staub in verborgenen Winkeln von Theatergarderoben, soziales Elend, unsittlich erachtete Verhältnisse wie das Bordellleben oder pathologische Verhaltensweisen rückten in den Fokus naturalistischer Literatur. Der mehrheitlich an traditionellen Ästhetikvorstellungen orientierten Literaturkritik ging das freilich zu weit: „Die Darstellung der Wahrheit hat eine Grenze“ 200, die die Naturalisten mit ihren „Krankenstubengeschichten, voll krasser Unnatur und voll widerlichen Schmutzes“201 überschritten haben, wie G. Oertel, ein Gegner der neuen Richtung, in einem 1887 erschienenen Aufsatz schrieb. Eine idealrealistische Auffassung von Kunst vertretend, war er der Meinung, dass Hässlichkeitsdarstellungen nur dann erlaubt seien, wenn sie dem Zweck, das Schöne wirkungsvoll in Szene zu setzen, dienen würden. Bei den Naturalisten sei die Darstellung des Hässlichen jedoch zu einem bloßen „Selbstzweck“ verkommen; sie gefielen „sich in der Darstellung des Niedrigen, Gemeinen und Schmutzigen derart, daß es den Anschein gewinnt, als hielte[n] sie allein den Schmutz und die Gemeinheit für Wahrheit.“202 Das war weniger ein ästhetischer als ein moralischer Vorwurf, der besagte, dass die Naturalisten, weil sie auf die „ideale Durchdringung“ des Stoffes verzichteten, „von den Satzungen conventioneller Moral“203 abwichen. Moral und Sauberkeit gleichsetzend, fragte sich der Kritiker, wieso sich auf Anstand bedachte Menschen und selbst manche „wohlerzogene junge Dame, die sich scheut, ohne Handschuhe etwas anzugreifen“ 204, mit einer „im tiefsten Schlamme“205 wühlenden Literatur befassen könnten. Die Naturalisten verwahrten sich gegen die zahlreichen Angriffe vonseiten konservativer Literaturkritiker, die „nicht müde werden, uns mit dem Kote ihrer ge-

199 Hart, Heinrich: Die realistische Bewegung. Ihr Ursprung, ihr Wesen, ihr Ziel (1889). In: Manifeste und Dokumente (1987), S. 118-129, S. 126. Im Folgenden als Hart, H. (1889). 200 Oertel, G.: Die litterarischen Strömungen der neuesten Zeit, insbesondere die sogenannten „Jungdeutschen“. Heilbronn 1887, S. 49. 201 Ebd., S. 9. 202 Vgl. ebd., S. 49-50. 203 Ebd., S. 49. 204 Ebd., S. 9. 205 Ebd., S. 56.

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meinsten Verleumdungen zu bewerfen“206, wie Alberti 1889 schrieb. Sie argumentierten, dass die Darstellung des Schmutzes, da er ein selbstverständlicher Teil der Wirklichkeit sei, vom Standpunkt einer modernen realistischen Ästhetik aus erlaubt sein müsse. Der Schmutz war der symbolträchtige und provokante Markenkern der Literatenopposition, der das Wahrheitspostulat griffig veranschaulichte und die Abkehr von einem sauberen, sittlichen und vorbildlichen Realismus verkörperte. Über die Frage, ob die schmutzigen Aspekte des Lebens in einer ihnen angemessenen Weise gestaltet werden sollten, herrschte jedoch intern Uneinigkeit. Diejenigen Naturalisten, die die neue Richtung trotz des Wahrheitspostulats nicht als „ein Widerspiel zum Idealismus“207, sondern als eine Art zeitgemäße Variante desselben verstanden wissen wollten, knüpften an die Darstellung des Schmutzes gewisse Bedingungen, mit denen sie die Grenze naturalistischer Wirklichkeitsschilderungen festlegten. Zu jenen am Idealismus orientierten Naturalisten gehörten weiterhin die HartBrüder. Ein Dichter müsse in seinen Werken „das Kleinste wie das Größte, das Angenehme wie das Abstoßende“208 behandeln, schrieb Heinrich in einem 1889 veröffentlichten Essay. „Die ganze Welt“ solle er zum „Stoff der Poesie“ machen, müsse es aber verstehen, den gewählten Stoff so zu gestalten, dass dadurch „die Wirklichkeit zur Wahrheit“209 erhoben werde. Dies könne er jedoch nicht in der Weise der traditionellen Ästhetik durch „Idealisirerei“ 210 erreichen. Unter Zuhilfenahme naturwissenschaftlicher, nicht zuletzt psychologischer Verfahren müsse er das Handeln und Denken einzelner Individuen und der Gesellschaft durchleuchten, müsse auch die Lebenswelt detailliert schildern, um den Lesern den „Zusammenhang zwischen Natur und Mensch deutlich zur Erscheinung kommen“ 211 zu lassen. Nur so könne in einem literarischen Werk „die höchste Wahrheit“ herausgeschält werden, die für Heinrich Hart gleichsam „das höchste Ideal“212 verkörperte. Der den Naturalisten nahestehende Kritiker Leo Berg wandte ein, dass „die Herren Hart´s“ mit solchen Forderungen letztlich einem veralteten „Real-Idealismus“ verhaftet blieben, wie er als „schon längst rostig gewordenes Schwert aus den litterarischen Kämpfen der fünfziger Jahre“ 213 hervorgegangen sei. Auch Conrad Alberti meinte, dass die Brüder im Wesentlichen „auf dem Boden der älteren Kunstanschauung“214 stehen würden. Heinrich und Julius Hart selbst betonten dagegen, dass

206 Alberti, Conrad: Die zwölf Artikel des Realismus. Ein litterarisches Glaubensbekenntnis. In: Die Gesellschaft 5, 1 (1889), S. 2-11, S. 10. Im Folgenden als Alberti (1889). 207 Hart, H. (1889), S. 125. 208 Ebd., S. 121. 209 Ebd. Hervorhebung im Original. 210 Ebd ., S. 125. 211 Ebd. 212 Ebd., S. 126. 213 Berg, Leo: Zur Kritik des Realismus. In: Deutsche Litterarische Volkshefte (1889), H. 3, S. 28-30. In: Sprengel, Peter (Hg.): Im Netzwerk der Moderne: Leo Berg. Briefwechsel 1884-1891. Kritiken und Essays zum Naturalismus. Bielefeld 2010, S. 204-206, S. 205. Im Folgenden als Berg (1889). 214 Alberti, Conrad: Der moderne Realismus in der deutschen Litteratur und die Grenzen seiner Berechtigung. Vortrag, gehalten im deutschen Litteraturverein in Leipzig. [Deutsche

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sie den modernen Realismus ausdrücklich nicht an ältere Idealisierungs- bzw. Verklärungskonzepte zurückbinden, sondern an moderner Wissenschaftlichkeit ausrichten wollten. Explizit sprachen sie sich gegen die idealrealistische Ästhetik von „Hegel, Vischer, Carrière u.a.“215 aus. Deren Dichtungslehren charakterisierte Julius als „systematisch und spekulativ“216, da sie Kunst und Literatur zu sehr an einen vagen, bloß konventionalen Schönheitsbegriff koppeln würden. Die Hart-Brüder setzten ihre Hoffnung stattdessen in eine noch zu entwerfende „wahrhaft empirische Poetik“, die mit wissenschaftlichen Methoden „zu ganz festen Kunstgesetzen gelangen“ werde; „auf unumstößlicher Wahrheit“ basierend, sollten diese Gesetze jedoch nichts mehr „mit Regelzwang zu tun haben“, sondern die „freie Entfaltung“ 217 der Künste ermöglichen. Die Anknüpfung an wissenschaftliche Methodik sollte die Modernität des naturalistischen Projekts in einer dynamisierten Gegenwart beglaubigen, tatsächlich aber darüber hinwegtäuschen, dass die eigenen Forderungen letztlich nicht aus dem geregelten Fahrwasser des vorherrschenden idealistischen Kunstverständnisses herausführten. Dies wird mit Blick auf das Mimesisverständnis der Hart-Brüder deutlich: „Nicht die Natur nachahmen, sondern von der Natur lernen, das muß man vom Künstler verlangen.“218 Anders als in der Wissenschaft dürfe die Beobachtung in der Kunst nicht zum „Selbstzweck“219 werden. Ein Dichter müsse die von ihm beobachteten Wirklichkeitsaspekte in einem kreativen Prozess „sonder[n] und unterscheide[n]“, um schließlich dasjenige darzustellen, was „bewegt und erregt“ und auch „Interesse einflößt“220. Die Nähe zum programmatischen Realismus ist augenfällig. Jene Naturalisten aber, die „über die Äußerlichkeiten nicht hinauskönnen“ und „auch das Gute und Richtige nicht anerkennen“ würden, förderten dagegen bloß „Abstruses zu Tage“ 221, lautete der Vorwurf der Harts gegen die konsequenter von idealistischen Prinzipien abrückenden Naturalisten. Statt „Ideen“ auszuarbeiten, die „die Menschheit bewegen“, würden sie in ihren Werken nur die uninteressante „Seite […] des modernen Lebens“222 wiedergeben. Einseitig223 würden jene „Pseudonaturalisten“224 die „Ge-

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Zeit- und Streitfragen N.F. 4 (1890), Nr. 52] Hamburg 1889, S. 35. Im Folgenden als Alberti (1890). Hart, Julius: Eine schein-empirische Poetik (1889). In: Naturalismus (1973), S. 140-141, S. 140. Ebd. Ebd., S. 141. Hart, Julius: Phantasie und Wirklichkeit (1889). In: Manifeste und Dokumente (1987), S. 129-131, S. 131. Ebd. Ebd. Hart, Julius: Phantasie und Wirklichkeit (1889). In: Naturalismus (1973), S. 142-145, S. 143. Im Folgenden als Hart, J. (1889) Hart, H. (1889), S. 127. Verschiedentlich wandten sich die Hart-Brüder mit dem Verdikt der „Einseitigkeit“ gegen die konsequenten Naturalisten, vgl. ebd., Hart, J. (1889), S. 143 sowie Hart, Julius: Der Kampf um die Form in der zeitgenössischen Dichtung (1890). In: Naturalismus (1973), S. 146-149, S. 146, im Folgenden als Hart, J. (1890). Ebd.

Naturalistische Ästhetik und die Schmutzflecken der Wirklichkeit | 263

staltung nur des Alltäglichen, Niederen und Gemeinen“, „des Tendenziösen und Stofflichen“225 in den Mittelpunkt ihrer Werke stellen. Zwar betonte Julius Hart in einem anderen, 1890 veröffentlichten Aufsatz, dass jene Einseitigkeit der Darstellung literaturgeschichtlich „als ein nothwendiger Gegenschlag gegen die schwächliche Ueberzierlichkeit, Weibischkeit und schönfärberische Verschwommenheit der älteren Litteratur“226 durchaus zu begreifen sei. Trotzdem plädierte er für eine Überwindung jenes „Kultus des Häßlichen“; eine allzu pointierte Illustration des Gemeinen, Stofflichen und Schmutzigen sah er als einen Verstoß gegen die Regeln einer naturalistischen Kunst an, die seiner Meinung nach weiterhin „die Darstellung des Höchsten, Geistigen“227 anzustreben habe. Dies Höchste und Geistige müsse „naturalistische Poesie“ an „Durchschnitts- und Alltagsmenschen“ veranschaulichen; Hauptprotagonisten sollten bürgerliche Ty pen sein, die durch die Verwicklungen einer Geschichte „in dumpfe Bezirke hinabgezogen“228 werden sollten. In jenen schmutzstarrenden „Niederungen des Lebens“ könnten sich die Figuren dann als faustische und prometheische „Naturen“229 erweisen. Ausdrücklich reformulierte er damit Positionen des programmatischen Realismus und wandte sich mit ihnen gegen den „heutigen Naturalismus“, in dessen Werken ein allzu pessimistisches Menschenbild gezeichnet würde: Sie wollen uns den Durchschnittsmenschen zeigen, gerade sehen lassen, wie klein und niedrig wir sind, von thierischen Begierden erfüllt, im Staube kriechen, wie, trotz all unseres Selbstdünkels und unserer Hoffart, das Gemeine doch das Mächtigste in uns ist, und wie sehr wir uns alle belügen, wenn wir auf Erhabenheit unserer Menschlichkeit pochen. Die Menschen, die sie uns vorführen, sind eben Menschen von geringer Intelligenz, von niedrigem Empfinden, oft geradezu von viehischer Gefühllosigkeit, trocken, nüchtern und ohne allen Schwung der Phantasie.230

Für die Harts war die schmutzige Realität ein Prüfstein, an dem das Individuum seine Größe beweisen sollte. Die Darstellung gemeiner, viehischer ‚Dreckskerle‘ war dagegen nicht mit mehr ihrem Naturalismusverständnis kompatibel. Viele der Naturalisten sahen die Darstellung solcher stereotypen Figuren tatsächlich nicht als ein Problem an. In einem 1891 erschienenen Essay verteidigte Hans Merian Schriftsteller, die in ihren Werken mit Vorliebe Lumpe als Helden231 einsetzten. Ähnlich wie Hillebrand fünf Jahre zuvor (vgl. Kap. 6.2.1), vertrat auch Merian die Ansicht, dass sich durch die Zeichnung hässlicher, verkommener oder kranker Figuren in anschaulicher Weise die auf den modernen Menschen einwirkenden „so-

225 Hart, J. (1890). In: Manifeste und Dokumente (1987), S. 138. 226 Ebd. ‒ „Um diesen Geist zu überwinden, mußte die Dichtung durch den Naturalismus radikal-terroristisch vorgehen“, betonte Julius Hart ebd. 227 Ebd. 228 Ebd., S. 136. 229 Ebd. 230 Ebd. 231 So der Titel von Merian, Hans: Lumpe als Helden. Ein Beitrag zur modernen Ästhetik. In: Die Gesellschaft 7, 1 (1891), S. 64-79.

264 | Die Verschmutzung der Literatur

ziale[n]“ und darwinistisch-„evolutionistische[n]“232 Kräfte darstellen ließen. Aus dem Grund hielt er die Darstellung von alltäglichen „Gleichgewichts-Helden“233 für nicht mehr zeitgemäß: Gleichgewicht ist Ruhe; wir aber wollen in unserem Helden das Abbild des bewegten Lebens sehen, wir wollen die Kräfte in ihrer mannigfachen Wirksamkeit betrachten. Es müssen die Gleichgewichtsstörungen vorhanden sein, diese können aber zunächst nicht auf dem Gebiet moralischer Wertschätzungen liegen[… ,] sondern sie müssen in die soziale oder in die evolutionistische Sphäre fallen, d. h. der Held des modernen Kunstwerkes ist gesellschaftlich oder erblich belastet, mit anderen Worten: er repräsentiert den Typus einer sozialen oder physischen Krankheit oder beides zugleich. So gelangen wir zum ‚Verkommenen‘, zum ‚Lumpen als Helden‘.234

Dass solche „Lumpen“ bei den Rezipienten unbedingt „Ekel und Abscheu“ 235 erregen könnten, gab Merian zu. Allerdings besitze der sozialwissenschaftlich sensibilisierte und darwinistisch denkende moderne naturalistische Dichter die Möglichkeit, die ästhetische Wirkung zu verändern. Gelinge es ihm, die auf die „Lumpen“ einwirkenden sozialen und evolutionären „Kausalitätskette[n] bloßzulegen“, dann würden jene Krankheits- und Verkommenheitstypen nicht mehr Ekel und Abscheu, sondern als Abbilder und Symbole der allgemeinen logischen Weltkausalität ästhetische Befriedigung hervorrufen, ja es werden dies gerade diejenigen Typen sein, an denen er[, d.h. der moderne Dichter, L.R.] sich bis zu den höchsten Problemen der modernen Erkenntnis emporzuschwingen vermag. 236

Übrigens betonte Merian, dass die Naturalisten mit einem Lumpen keineswegs „das Häßliche, Verkommene, Unmoralische entschuldigen, beschönigen, verherrlichen oder gar das Schlechte zur Nachahmung empfehlen“237 wollten. Vielmehr würde es ihnen darum gehen, „Sympathie“ für das „Ankämpfen gegen die ihm durch das Gesetz der Erblichkeit oder die sozialen Verhältnisse aufgedrungenen moralischen Defekte“238 zu wecken. Und falls „diese übermächtigen Faktoren“ den Lumpen „zu Falle“ bringen würden, habe dies „Mitleid mit dem unterliegenden Streiter“239 zur Folge. Die Darstellung von „Degenerierten“ und „Verkommenen“240 geradezu einfordernd, wichen Merians inhaltsästhetische Auffassungen damit radikal von herkömmlichen idealistisch imprägnierten realistischen, am Normalen, Gesunden und Reinen ausgerichteten Konzeptionen ab. Die Figur des in schmutziger Umgebung agierenden, von Krankheit und Armut gebeutelten „Lumpen“ symbolisierte eine Umkehr 232 233 234 235 236 237 238 239 240

Ebd., S. 70. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. Ebd., S. 72. Ebd., S. 72-73. Ebd., S. 73. Ebd. Ebd., S. 66. Ebd., S. 79. Ebd. Ebd., S. 70.

Naturalistische Ästhetik und die Schmutzflecken der Wirklichkeit | 265

von der traditionellen Darstellungspraxis. Bemerkenswert ist aber, dass auch Merians Variante eines konsequenten Naturalismus in wirkungsästhetischer Hinsicht weiterhin mit idealistischen Vorzeichen versehen blieb: Wir sehen an unseren „Lumpen-Helden“, die in realster Wirklichkeit vor uns stehen, daß eine höhere Macht hinter aller scheinbaren Willkür waltet, und wir gewinnen dadurch auch den uns im Pessimismus verloren gegangenen Glauben wieder, den Glauben an eine sittliche Weltordung, den Glauben an eine mächtige transzendentale [sic] Gerechtigkeit.241

Freilich hat Merian versucht, den von Moriz Carrière geprägten Begriff von der „sittlichen Weltordnung“242 hier ironisch gegen den Idealrealismus à la Carrière auszuspielen und für einen pessimistischen Naturalismus zu beanspruchen. Dahinter stand die ernstgemeinte Absicht, den ethischen Zweck des Naturalismus zu behaupten und ihn damit in die offizielle Kunstdoktrin des ausgehenden 19. Jahrhunderts einzupassen. Damit bewegte sich Merian ‒ auch wenn er letztlich ganz unterschiedliche ästhetische Prinzipien vertrat ‒ durchaus im Fahrwasser eines idealistisch-monistischen Naturalismus, wie er etwa von Wilhelm Bölsche und Conrad Alberti vertreten wurde. In seiner Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie hatte sich Wilhelm Bölsche bereits 1887 für eine realistische Ästhetik ausgesprochen, die „Fühlung mit den Naturwissenschaften“243 aufnehmen sollte. Die „nach metaphyischen Gesichtspuncten“244 aufgestellten Spekulationen der veralteten Ästhetik sollten durch „neue, der exacten Wissenschaft entsprechende“245 Grundanschauungen ersetzt werden. Eine Literatur, sie sich als zeitgemäß erweisen wolle, müsse nicht nur akkuratere Beobachtungsmethoden verwenden, sie müsse darüber hinaus auch die aktuellen physiologischen und psychologischen Forschungsresultate zur Kenntnis nehmen. Moderne realistische Autoren sollten den „Standpunct des Naturforschers“ 246 einnehmen. Vor allem müssten sie das durch Darwin und Haeckel geprägte Kausalitätsprinzip verinnerlichen und in ihren Werken „die Bedingtheit aller menschlichen Willensacte“247, d.h. die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Denkens und Handelns herausstellen. Jedes in Kunstwerken dargestellte Agieren müsse als „das restlose Ergebniss gewisser Factoren, einer äussern Veranlassung und einer innern Disposition“ kenntlich gemacht werden: „erst so können wir hoffen, jemals zu einer wahren mathematischen Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen zu gelangen und Gestalten vor unserm Auge aufwachsen zu lassen, die logisch sind, wie die Natur.“248 Dabei vertrat Bölsche eine monistische Denkweise, wonach sich in den Naturgesetzen „ein einziges grosses Princip“ offenbare,

241 242 243 244 245 246 247 248

Ebd., S. 79. Vgl. Carrière, Moriz: Die sittliche Weltordnung. Leipzig 1877. Bölsche (1887), S. 1. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 50. Ebd., S. 25. Ebd.

266 | Die Verschmutzung der Literatur

nach dem alles strebt, alles ringt: das gesicherte Gleichmass, die fest in beiden Schaalen schwebende Wage [sic], den Zustand des Normalen, die Gesundheit. Ganz vollkommen erfüllt ist dieses Princip allerdings nirgendwo. Aber es schwebt über Allem als das ewige Ziel, niemals ganz realisirt, aber darum doch die unablässige Hoffnung des Realen. Es giebt nur einen Namen für dieses Princip, er lautet: Ideal.249

Modernen realistischen Dichtern sprach Bölsche die Aufgabe zu, in ihren Werken jenes Ideal als eine „Tendenz“ aufscheinen zu lassen: als „Tendenz zum Harmonischen, Gesunden, Glücklichen“ und „Normalen“, auf welcher sich ein neuer, „menschliche[r] Begriff des Schönen“250 aufbauen lasse. Dies bedeute allerdings nicht, dass sie wie in einem Liebesroman „die Welt als ein heiteres Theater“ zu schildern haben. Ganz im Gegenteil müssen Realisten auch beispielsweise „das Ungesunde“ thematisieren, um daran „im Negativen, im Contraste“ 251 die allgemeine Tendenz zur Gesundheit aufzuzeigen. Vor dem Hintergrund wandte sich Bölsche gegen die konsequenten Naturalisten, die durch ihre einseitigen Schilderungen menschlichen Unglücks „gegenwärtig so viel Staub aufwirbel[n]“252 würden. Zwar dürfe die Literatur in den „Krankensaale“ vordringen, sie dürfe die Krankheit aber nicht als den „normalen Allgemeinzustande“253 erscheinen lassen: denn „neben den kranken Seelen wandeln gesunde. Wer die Welt schildern will, wie sie ist, wird sich dem nicht verschliessen dürfen.“254 Einseitigkeit in der Darstellung galt ihm als eine unstatthafte Verfälschung des realistischen Kunstprinzips. Nur wenn das Kleine und Kranke „in´s Licht der Idee“ gerückt werde, werde sich der moderne Realismus schließlich als „der höchste, der vollkommene Idealismus“ 255 erweisen. Eine solche realistische Poesie könne dann weiterhin die Rolle „als Erzieherin des Menschengeschlechts“ einnehmen und mit dazu beitragen, „den Menschen gesund zu machen“256, verwies Bölsche auf deren gesundheitserzieherischen Wert. Ganz ähnliche Ansichten vertrat Conrad Alberti in seinen als „litterarisches Glaubensbekenntnis“ betitelten Zwölf Artikel[n] des Realismus aus dem Jahr 1889. Darin formulierte auch er das Prinzip, dass alle Wirklichkeitsaspekte künstlerisch darstellbar seien, griff zur Veranschaulichung allerdings nicht auf den Gegensatz gesund/krank, sondern rein/schmutzig zurück. Von der Auffassung ausgehend, dass jedes Ding in der Natur vom „göttlichen Hauche ihrer Größe und Vernunft erfüllt“ sei, betonte er, dass „kein Winkel, kein Fleck, kein Geschöpf, kein Vorgang in derselben“ existiere, „der nicht der künstlerischen Verkörperung würdig und fähig wäre.“257 Einem Künstler komme allerdings die Aufgabe zu, das jedem Ding „innewohnende natürliche Gesetz, den Geist, der [dasselbe] beseelt, zur klaren Anschauung“

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Ebd., S. 49. Ebd., S. 50. Ebd. Ebd., S. 51. Ebd., S. 10. Ebd., S. 52. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Alberti (1889), S. 8.

Naturalistische Ästhetik und die Schmutzflecken der Wirklichkeit | 267

zu bringen und auf diese Weise „den natürlichen Stoff zum Kunstwerk zu adeln“ 258; tue er das, gebe es für ihn „keine Stoffe zweiten oder dritten Ranges“ 259. Selbst der Dreck lasse sich auf diese Weise als „reiner und wahrer“ Ausdruck der „unermeßlichen Größe“ und „allwaltenden Schönheit“260 der Natur abbilden, so Alberti.261 Dabei argumentierte er, dass „es in der Natur an sich Häßliches, Schmutziges, Gemeines, Unkünstlerisches“262 gar nicht gebe. Jenen Gedanken führte er in einem 1890 im ‚Deutschen Litteraturverein zu Leipzig‘ gehaltenen Vortrag mit einem anschaulichen Beispiel näher aus: Häßlich ist nur das Naturwidrige; auch der Koth hat nichts Häßliches an sich sobald man ihn als das nothwendige Produkt einer nothwendigen Entwickelung betrachtet, sobald ihn der Künstler als solches darstellt. In diesem Falle hat er auch die volle Berechtigung alles darzustellen, ohne die mindeste Zimperlichkeit und Uebernervosität; er sündigt nur dann gegen die Kunstlehre, wenn er etwas nach der oberflächlichen Anschauung Häßliches darstellt um seiner selbst willen, ohne die zwingende Nothwendigkeit der organischen Entwickelung eines künstlerischen Motivs. Sobald aber die logische Entwickelung des gewählten Motivs zu etwas nach gewöhnlichen Begriffen Häßlichem führt, wäre es Feigheit, an demselben mit geschlossenen Augen vorbei zu gehen, denn die Kunst ist kein Maskenspiel, sondern eine heilige, ernste Sache.263

Anders ausgedrückt: Wer den Kot künstlerisch darstellen wolle, solle das mit einem Verweis auf die physiologische Notwendigkeit des Essens und Verdauens tun. Ihn bloß als hässliches Ingrediens zu gebrauchen, war Albertis Verständnis nach weiterhin ein Verstoß gegen die Regeln der Kunst. Auch Alberti knüpfte an die Darstellung des Schmutzes (wie auch aller anderen Wirklichkeitsaspekte) weiterhin Bedingungen. Einen nach solchen Prinzipien verfahrenden Realismus ‒ wie Bölsche sprach er nicht vom Naturalismus ‒ meinte er hinlänglich gegen den typischen Schmutzvorwurf der konservativen Kritiker verteidigt zu wissen. 264 Übrigens hatte auch Alberti Vorbehalte gegen eine zu hohe Schmutzaffinität: „Das Naturgesetz bewirkt nun einmal, daß sich in der Welt Sittliches und Unsittliches, Reines und Schmutziges mischen, und wer die Natur anders darstellt, fälscht

258 259 260 261

Ebd. Ebd., S. 6. Ebd., S. 8. Leo Berg hat Albertis Argumentation folgendermaßen auf den Punkt gebracht und dabei ironisch-kritisch deren nationalistische Implikationen hervorgehoben: „Man wirft den Jüngsten vor, daß sie im Schmutze wühlen! Aber hat nicht Gott auch den Schmutz erschaffen? Muß man Gott nicht überall verehren? Sollte sich der Dichter also nicht auch mit dem Schmutz befassen dürfen? Und dann und vor allem, ist es denn nicht der Schmutz der Reichshauptstadt, ist es nicht am Ende deutscher Schmutz? und den sollte man ihnen beanstanden dürfen? wie undeutsch ist nicht diese alte Kritik! Auch der wahre Patriotismus ist hier, im Lager der Realisten!“ (Berg (1889), S. 204-205.) 262 Alberti (1889), S. 8. 263 Alberti (1890), S. 20. 264 Vgl. Alberti (1889), S. 10-11.

268 | Die Verschmutzung der Literatur

sie.“265 Darüber hinaus hielt er eine Literatur auch dann für „verwerflich, wenn [sie] das Unsittliche oder Unangenehme als höchstes Ziel darstellte“266. Dies waren dann auch die Argumente, mit denen Alberti den „konsequenten Naturalismus“ anging, den er als „bloße Anhäufung roher und gemeiner Züge aus dem Alltagsleben“267 nicht für künstlerisch erachtet. Ein solcher schmutzfixierter Naturalismus war seiner Meinung nach nicht in der Lage dazu, „eine lebendige, die großen seelischen Kämpfe umfassende Kunst zu schaffen“, die die „Zukunft der deutschen Litteratur“ 268 positiv beeinflussen könne. Den von Arno Holz und Johannes Schlaf unter dem Pseudonym Bjarne P. Holmsen verfassten Papa Hamlet bezeichnete er dementsprechend als „Machwerk der traurigsten Sorte. Glaubt der Verfasser ein Realist zu sein, wenn er nichts thut als platte Ausdrücke anzuwenden und ekelhafte Einzelzüge auf einen Haufen zusammen zu tragen, dann täuscht er sich.“269 Und weiter: „Der Realismus ist eine ernste, heilige Sache, aber er ist keine Löwenhaut in der sich Ekel verstecken dürfen. […W]ir müssen auch Herrn Holmsen von unseren Rockschößen abschütteln.“270

6.5 DIE MANIFESTATION DES SCHMUTZES IM NATURALISMUS Mit dem Naturalismus manifestierte sich der Schmutz in literarästhetischen Diskursen auf semantischer Ebene (rein ‹≠› unrein). Und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits reaktivierte man autonomieästhetische Prämissen ‚reiner Kunst‘, von denen aus der auf Unterhaltung und sittliche Erbauung abzielende Familienblattrealismus als schmutzig kritisiert wurde. Andererseits wurden ältere form- und inhaltsästhetische Prämissen gekappt. Literatur sollte nicht mehr sauber, sittlich und vorbildlich respektive wahr, schön und gut sein, sondern die unverfälschte Wahrheit wiedergeben. Die naturalistische Literatenopposition rückte damit von den vorherrschenden Konversationsregeln ab, die im Idealrealismus der 1850er- und 1860er-Jahre dafür gesorgt hatten, dass der Schmutz in seiner semantischen Latenz verharrte. Stattdessen orientierte man sich nun an natur- und sozialwissenschaftlichen Beobachtungsprinzipien und Techniken des Umgangs mit schmutzigen Stoffen. Mit diesem Selbstverständnis konnten die Naturalisten auf die ‚Klärfilter‘ des bürgerlichen Realismus verzichten und sukzessive vom ästhetischen Reinheitsgebot abrücken. Dass das eine schrittweise Entwicklung war, belegt das Festhalten vieler Naturalisten an idealrealistischen Prinzipien. Die Darstellung des Schmutzes wurde, wie sich gezeigt hat, weiterhin an Bedingungen geknüpft. Selbst die ästhetischen Vorstel-

265 Alberti (1890), S. 24. 266 Ebd. 267 Alberti, Conrad: Die „Freie Bühne“. Ein Nekrolog. In: Die Gesellschaft 6, 2 (1890), S. 1348-1355, S. 1353. 268 Ebd. 269 Alberti, Conrad: [Rez.] Bjarne P. Holmsen: Papa Hamlet. In: Die Gesellschaft 5, 1 (1889), S. 569. 270 Ebd.

Naturalistische Ästhetik und die Schmutzflecken der Wirklichkeit | 269

lungen Merians, der ja ausdrücklich die Präferenz für die Darstellung ‚lumpiger‘ Figuren goutierte und damit als Vertreter des konsequenten Naturalismus gewertet werden kann, besaßen einen idealistischen Überbau. Weiterhin wurde der Kunst die Aufgabe zugesprochen, die Wirklichkeit nicht bloß quasi fotografisch nachzuahmen, sondern einen zusätzlichen Mehrwert zu erzeugen, wobei es sich dann wahlweise um Goldkörner, um die Wahrheit, um eine erzieherische Funktion, um das Erkennen eines Kausalnexus und/oder des sittlich fundierten Naturgesetzes handeln mochte. Diese Bedingung, einen ästhetischen oder ethischen Mehrwert zu erzeugen, sollte auch und insbesondere mit Blick auf den Schmutz eingehalten werden. Erst das positivistische Kunstgesetz271 von Arno Holz („Kunst = Natur ‒ x.“272) führte in eine andere Richtung. Indem er der Kunst „die Tendenz“ zusprach, „wieder die Natur zu sein“ und hierzu als Ziel ausgab, „das verdammte x“ möglichst zu „reduciren“273, blieb auch für den erwähnten idealistischen Überbau kein Platz mehr. Damit war auch die Identität von Wahrem, Gutem und Schönem aufgehoben und Wahrheit als autonomes Prinzip etabliert. „In Holz´ Kunstbegriff entfällt sowohl die Erkenntnisfunktion, wie sie insbesondere von Bölsche und Alberti hervorgehoben wurde“, konstatiert Christine Müller, „es entfällt aber auch die Funktion der Idealbildung als ein fast durchgängiges Postulat der literarischen Opposition bis 1890. Darüberhinaus wird der ethische Anspruch, der ein wesentlicher Motor für den kämpferischen Geist der jungen Literaten war, in Holz´ Kunsttheorie obsolet.“274 Jener Logik nach war auch die Darstellung des Schmutzes von allen an ihn geknüpften Zusatzbedingungen befreit. Arno Holz´ Kunstgesetz kann diesbezüglich als theoretischer Schlusspunkt einer Entwicklung betrachtet werden, im Zuge dessen sich der Schmutz in der modernen Literatur hat manifestieren können.

271 Vgl. Möbius, Hanno: Der Positivismus in der Literatur des Naturalismus. Wissenschaft, Kunst und soziale Frage bei Arno Holz. München 1980, S. 16-80. 272 Holz, Arno: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (1891). In: Manifeste und Dokumente (1987), S. 140-151, S. 148. 273 Ebd., S. 149. 274 Müller, Christine: [Kommentar zu Arno Holz: Die Kunst, Ihr Wesen und ihre Gesetze]. In: Ebd., S. 151.

Teil C: Kontroversen um Schmutz in der Literatur und literarischen Schund um 1900

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„Durch Dreck zum Zweck“: Der vorausgeahnte Skandal um die Uraufführung von Vor Sonnenaufgang und die schmutzige Taufe der modernen Literatur

Als Gerhart Hauptmann im hohen Alter seine Lebenserinnerungen schrieb, ging er auch auf jenen „grenzenlose[n] Theaterskandal“ ein, der ihm ein halbes Jahrhundert zuvor schlagartig zu internationaler Bekanntheit verholfen: ihn, wie er selbst es formulierte, „berüchtigt“1 gemacht hatte. Am 20. Oktober 1889 war sein Soziales Drama Vor Sonnenaufgang im Rahmen einer Vereinsveranstaltung der ‚Freien Bühne‘ im Berliner Lessingtheater uraufgeführt worden und hatte das Publikum polarisiert. In seiner Rückschau betonte er, dass das Stück mit den gängigen Rezeptionsgewohnheiten gebrochen habe und deshalb von einigen Theaterzuschauern mit Schmutz assoziiert worden wäre: Daß ein Bauernstück Düngerhaufen und andere landwirtschaftlichen Notwendigkeiten nicht verschwieg, daß ein Bauer morgens von seiner Geliebten schlich und nicht ein Marquis, wie im Residenztheater, hauptsächlich aber, daß die Geburt eines Kindes auf der Bühne gemeldet wurde, ging über alles hinaus, was man an Unflätigkeit auf der Bühne erdulden konnte. Aber freilich, ein Halbteil der Theaterbesucher, jung und alt, dachte nicht so.2

Zwischen den beiden Fraktionen hatten sich im Premierenpublikum jene Ereignisse abgespielt, die laut Hauptmanns 1938 verfassten Aufzeichnungen noch immer „allzu bekannt“ wären, als dass er näher auf sie „eingehen“3 müsste. Die Gegner, die der Ansicht gewesen waren, dass Unflat nicht auf die Bühne gehörte, empörten sich lautstark über die Aufführung. Für sie war der Schmutz ein Skandalon, ein Schlüsselreiz erbitterter Reaktionen. Andere Zuschauer hatten sich ihrerseits über die Empörten entrüstet, so dass die Stimmung im Zuschauerraum mehrfach eskaliert war. Missfal-

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Hauptmann, Gerhart: Zweites Vierteljahrhundert. In: Ders.: Sämtliche Werke (CentenarAusgabe), Bd. XI. Hg. von Hans-Egon Hass, fortgef. von Martin Machatzke. Darmstadt 1974, S. 481-576, S. 486. Im Folgenden als Hauptmann (1974): 2. Vierteljahrhundert. Ebd., S. 486-487. Ebd., S. 486.

274 | Die Verschmutzung der Literatur

lensbekundungen und Applaus, Pfuirufe, Pfeifen, Trampeln und Zischen hatten sich abgewechselt und einander verstärkt. Auf die Vorstellung war dann das Medienecho gefolgt, das die Ereignisse im Lessingtheater erst zu einem öffentlichen Skandal gemacht hat. In vielen der in den darauffolgenden Tagen und Wochen erschienenen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln war die Aufführung des Stücks als eine Anstoß erregende Verherrlichung des Schmutzes und deshalb als Verunglimpfung der Kunst und des Theaters bewertet worden. So argumentierend hatten die konservativen Literaturkritiker teils sogar Verständnis für die Unmutsäußerungen der Zuschauer aufgebracht. Es hatten sich aber auch Kritiker zu Wort gemeldet, die gegen die Skandalisierung des hauptmannschen Dramas Einspruch erhoben. Im unvollendet gebliebenen zweiten Teil seiner Autobiografie (Zweites Vierteljahrhundert) wies Hauptmann fast fünfzig Jahre später auf die besondere Ironie der Geschichte hin: nämlich dass es die Gegner gewesen seien, die mit ihren wütenden Invektiven erst die breite öffentliche Aufmerksamkeit auf das kontroverse Drama und seinen Verfasser gelenkt hätten: Die eine Partei schrie: „Nieder mit ihm!“ und scheute keine Mittel, um meinen moralischen Totschlag durchzusetzen. Aber schließlich schlug sie in das nun einmal entzündete Feuer und bewirkte gerade durch ihre Raserei, daß sich der Brand selbst über Deutschland hinaus verbreitete. Hinter mir aber wich und wankte nicht, sondern stand felsenfest die zu mir haltende Minderheit.4

Der von den Gegnern angeheizte Skandal hat Hauptmanns späterer Einschätzung nach allerdings nicht nur seine eigene Bekanntheit erwirkt. Indem er die Aufführung vom 20. Oktober mitsamt ihrer Begleiterscheinungen und dem nachfolgenden Skandal mit einer „nicht ohne schmutziges Wasser vollzogenen Taufe“ verglich, bei der „eine ganz neue literarisch-künstlerische Generation und Epoche“5 das Licht der Welt erblickt habe, stilisierte er jene Begebenheiten kurzerhand zu einem Schöpfungsmythos der literarischen Moderne. All das ist Grund genug, die an sich sehr gut aufgearbeitete Geschichte6 des Skandals um Vor Sonnenaufgang auf den Schmutz hin zu perspektivieren, so dass folgende Fragen beantwortet werden können: (7.1) Wieso hat Hauptmann überhaupt ein von der vorherrschenden Ästhetik so deutlich abweichendes Soziales Drama ver4 5 6

Ebd., S. 539-540. Ebd., S. 487. Rezeptionsgeschichtliche Analysen des Skandals liefern Baseler, Hartmut: Gerhart Hauptmanns Soziales Drama „Vor Sonnenaufgang“ im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. Eine rezeptionsgeschichtliche Modellanalyse: Karl Frenzel, Theodor Fontane, Karl Bleibtreu, Wilhelm Bölsche. [Diss.] Kiel 1993. Im Folgenden als Baseler (1993). ‒ Jaron, Norbert; Möhrmann, Renate; Müller Hedwig (Hgg.): Berlin. Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889-1914). Tübingen 1986, S. 84-99. Im Folgenden als Jaron/Möhrmann/Müller (1986). ‒ Machatzke, Martin u. Requardt, Walter: Gerhart Hauptmann und Erkner. Studien zum Berliner Frühwerk. Berlin 1980, S. 139-160. Im Folgenden als Machatzke/Requardt (1980). ‒ Mendelssohn, Peter de: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt am Main 1970, S. 106-110. Im Folgenden als Mendelssohn (1970).

Vor Sonnenaufgang und die schmutzige Taufe der modernen Literatur | 275

fasst, hat er es selbst mit Unreinlichkeit oder Dreck assoziiert und ist er sich über mögliche negative Reaktionen im Klaren gewesen? (7.2) Wie reagierten die ersten Leser auf Vor Sonnenaufgang: haben sie es aufgrund des Inhalts als ein schmutziges Stück empfunden, das einer besonderen Legitimation bedurfte? (7.3) Aus welchem Grund wurde das Stück schließlich vom Verein ‚Freie Bühne‘ für eine Aufführung im Berliner Lessingtheater ausgewählt? (7.4) Inwieweit wurden die Ereignisse vom 20. Oktober vorausgeahnt, wurde versucht sie zu verhindern, wie lief die Uraufführung dann tatsächlich ab und welche Gründe lassen sich für den ‘Schmutzskandal’ anführen? (7.5) Zur medialen Resonanz: (7.5.1) Mit welchen Argumenten wurden in den ablehnenden Kritiken die althergebrachten Regeln der Kunst zu behaupten versucht, die die Gegner durch die Aufführung des Dramas als verletzt ansahen und welche Rolle kam dabei dem Schmutzvorwurf zu? (7.5.2) Wie argumentierten dagegen diejenigen Zeitgenossen, die sich gegen die Skandalisierung von Vor Sonnenaufgang aussprachen? (7.6) Schließlich werden die Auswirkungen in den Blick genommen, die auf den ‘Schmutzskandal’ zurückzuführen sind und gefragt, ob die literarische Moderne nicht tatsächlich entscheidende Impulse von ihm bekommen hat.

7.1 SCHMUTZIGE STOFFE ALS LITERARISCHER DÜNGER: HAUPTMANNS SCHREIBINTENTION Im 1937 veröffentlichten ersten Teil seiner Autobiographie (Das Abenteuer meiner Jugend) schrieb Hauptmann rückblickend, dass er, bevor er Vor Sonnenaufgang im Frühjahr 1889 zu Papier gebracht habe, längere Zeit auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten gewesen sei.7 Jenes Suchen veranschaulichte er mit einer naturalisierenden Metaphorik: Um sich vom Einfluss der kraftlosen epigonalen Ästhetik frei zu machen, die längst „den Boden unter den Füßen verloren“ hatte und „ins Himmelblaue entrückt“8 war, habe er „etwas unmittelbar Erdnahes hervorbringen“9 wollen. Gleich einem „Gärtner“10 habe er „plötzlich die Kühnheit“ entwickelt, „nach allem Profanen, Humus- und Düngerartigen um mich zu greifen, das ich bisher nicht gesehen, weil ich es nicht für würdig erachtet hatte, in Bereiche der Dichtkunst einzugehen.“11 Demnach habe er begonnen, als Nährboden für Vor Sonnenaufgang gerade solche Substanzen auszuwählen, die bis dahin auch er selbst als literaturunwürdig beurteilt hatte.

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Zu Hauptmanns retrospektiver Einschätzung seiner eigenen literarischen Entwicklung, die von der „Vermeidung des Begriffs ‚Naturalismus‘“ gekennzeichnet war, vgl. Tempel, Bernhard: Alkohol und Eugenik. Ein Versuch über Gerhart Hauptmanns künstlerisches Selbstverständnis. Dresden 2010, S. 238-242. Im Folgenden als Tempel (2010). 8 Hauptmann, Gerhart: Das Abenteuer meiner Jugend. In: Ders.: Sämtliche Werke (Centenar-Ausgabe), Bd. VII. Hg. von Hans-Egon Hass. Darmstadt 1962, S. 451-1088, S. 1076. Im Folgenden als Hauptmann (1962): Das Abenteuer meiner Jugend. 9 Ebd., S. 1075. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 1076.

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Nachdem er sich mit „Vererbungsfragen“ und der in seinem Freundeskreis intensiv geführten „Alkoholdiskussion“12 beschäftigt hatte, habe er damit angefangen, bislang als unbedeutend angesehenen und darum übersehenen Aspekten der sozialen Wirklichkeit Beachtung zu schenken: „bisher unsichtbares Kapital gewann Sichtbarkeit.“13 Fortan hätten ihn Orte wie „die Dorfstraße, die Weberhütten und Bergmannsquartiere“, die „das Ärmlichste vom Ärmlichen“14 repräsentierten, beeindruckt. Verbunden damit habe er von da an auch den Gegensatz zwischen Arm und Reich stärker wahrgenommen. Auf einem Schloss etwa hätten sich ihm die Blicke für den Kontrast zwischen der offiziellen Welt der Adeligen ‒ „sozusagen Wohnung der Götter“ ‒ und der „drängenden Armut der Hintertreppe“, d.h. der normalerweise unbeachtet bleibenden Welt der Bediensteten ‒ von „Hausknechten, Kutschern“15 etc. ‒ geschärft. Darüber hinaus erwähnte er in seiner Biographie auch den auf seinen Dramenerstling hindeutenden Kontrast zwischen „reichen Kohlenbauern“ und den „bettelarmen Heloten“, die die Kohle „aus fünfhundert Meter Tiefe unter der Erde herauf[holten]“, den er im „Industrie- und Grubengebiet von Waldenburg“16 in Schlesien zu Gesicht bekommen hatte. Die von der Lebenswirklichkeit der Wohlhabenden stark abweichenden Verhältnisse der sozial niedrig stehenden Bevölkerung haben Hauptmann die Stoffe und mit dem dort gängigen „Volksdialekt“ 17 auch die Sprache für Vor Sonnenaufgang geliefert. Auf diese Weise habe er seinem Schreiben eine Energie verleihen können, an der es der zeitgenössischen Literatur seiner Meinung nach gemangelt habe.18 Dieser metaphorische Griff in den Erdboden erwies sich für Hauptmann rückblickend keineswegs als Griff in den Schmutz, da sich die neu gewonnenen profanen Stoffe ja tatsächlich als werthaltig darstellen sollten. Er selbst sprach von einem „alte[n], neuentdeckte[n] Reichtum“19, den er für die Literatur erworben habe. In dem Sinn lässt sich auch seine Rede vom „Düngerartigen“ (s.o.) deuten. Man darf wohl davon ausgehen, dass er damit auf in der Landwirtschaft zum Einsatz kommenden organischen Dünger, auf Kompost, Jauche, Mist etc. anspielte. Gleich den von diesen stofflichen Mix12 Ebd., S. 1065. ‒ Angeregt durch seinen Bruder Carl hat sich Hauptmann mit Haeckels Interpretationen der darwinistischen Evolutionslehre auseinandergesetzt, schreibt Hilscher, Eberhard: Gerhart Hauptmann. Berlin 1969, S. 44-45. Im Folgenden als Hilscher (1969). ‒ Zu Hauptmanns Beziehung zur Abstinenzbewegung vgl. Tempel (2010), v.a. S. 102-105. Neben seinem Bruder ist demnach auch Hauptmanns Freund Alfred Ploetz ein Verfechter eines alkoholfreien Lebenswandels gewesen. Bekannt war der Freundeskreis außerdem mit dem Psychiater Auguste Forel, der sich in der Abstinenzbewegung sehr stark engagiert hat; auch die sozialhygienischen Ideen von Gustav Bunge wurden rezipiert. 13 Hauptmann (1962): Das Abenteuer meiner Jugend, S. 1076. 14 Ebd., S. 1077. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Die naturalisierende Metaphorik führte Hauptmann so weit, dass er sie nicht nur auf sein Schreiben, sondern auch auf sich selbst bezog. Diesbezüglich sprach er in seiner Autobiographie angesichts der neu entdeckten Stoffe sogar von einem „innere[n] Zauber, der mich zu einem gesunden, verwurzelten Baum machte.“ (Ebd.) 19 Ebd.

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turen ausgehenden unangenehmen Gerüchen, ist dem Begriff „Dünger“ somit latent eine Assoziation mit dem Schmutz beigegeben. Allerdings wird, wenn man von Düngemitteln spricht, eben nicht auf ihre schmutzigen Eigenschaften, sondern auf ihren agrarökonomischen Zweck verwiesen. Dünger ist somit immer schon Ergebnis einer Transformation, bei der sich Abfallstoffe als Wertstoffe erweisen. Indem Hauptmann ihn metaphorisch aufrief, sprach er sich mithin gegen die Diffamierung von Themen wie Alkoholismus, Vererbung, soziales Elend oder sittliche Verwahrlosung als Schmutz und für ihre Einbindung in Literatur aus, um ihr neue Energie zu verleihen. Freilich handelt es sich bei all dem um fast fünfzig Jahre später getroffene Einschätzungen Hauptmanns, mit denen er retrospektiv noch einmal den ‚Schmutzskandal‘ von 1889 kommentiert hat. Dass er Vor Sonnenaufgang im Frühjahr20 desselben Jahres tatsächlich mit der Intention verfasst hatte, ohne Rücksicht auf die Konventionen neue Stoffe, zeittypische Figuren und Konflikte, eine naturalistische Sprache und damit einen neuen literarischen Stil auszuprobieren, steht aber außer Frage. 21 Die Absicht, mit inhaltlichen, formalen und sprachlichen Innovationen eine moderne Literatur durchzusetzen ‒ sich hierzu im Zweifel auch nicht von konservativen Literaturkritikern beirren zu lassen, die sie als unwürdig oder schmutzig brandmarken mochten 22 ‒, teilte Hauptmann mit anderen naturalistischen Schriftstellern, mit denen er erstmalig 1887 im Berliner Verein Durch! in Kontakt getreten war.23 Mit unkonventionellen Texten Publikumserwartungen zu brechen, war eine Strategie dieser jungen Autoren, um Aufmerksamkeit zu generieren.24 20 Laut Machatzke/Requardt (1980) reichen die „konzeptionellen Anfänge“ von Vor Sonnenaufgang „in das Jahr 1888 zurück“ (S. 139); nicht vor dem 18. März 1889 hat Hauptmann dann angefangen, am Drama zu schreiben. Laut Baseler (1993), S. 68 hat er es wahrscheinlich Ende Mai fertiggestellt. 21 Bezeichnend dafür ist folgende, ein Jahr nach der Arbeit an Vor Sonnenaufgang getätigte Notiz Hauptmanns vom 23. April 1890: „Das Neue in der Kunst sind die neuen Menschen, welche geschildert werden. Es sind die neu erschlossenen Stoffgebiete. […] Das Neue im Drama ist die Ersetzung der äußeren Handlung durch den inneren Konflikt.“ Siehe Hauptmann, Gerhart: Notiz-Kalender 1889 bis 1891. Hg. von Martin Machatzke. Frankfurt am Main u.a. 1982, S. 241. Im Folgenden als Hauptmann (1982): Notiz-Kalender. 22 Dergestalt negative Reaktionen waren nicht ungewöhnlich. Vor allem die Zolarezeption war laut Bleibtreu von „nach persönlichen Invektiven schmeckenden Gallenergießung[en]“ konservativer Literaturkritiker geprägt, die von ihm und anderen Naturalisten wiederum ablehnend zur Kenntnis genommen wurden; hier Bleibtreu, Karl: Berliner Briefe III (Zola und die Berliner Kritik). In: Die Gesellschaft 1 (1885), Nr. 25, S. 463-471, S. 463. Bleibtreu hat mehrere Polemiken gegen die als „Schmutzromane“ (ebd.) diffamierten Werke Zolas zusammengetragen und anschaulich machen können, dass auf die Texte in den Kritiken gar nicht näher eingegangen wurde. Mit einem Schmutzvorwurf entledigte sich der Kritiker eingehenderer kritischer Auseinandersetzungen. 23 Zu Hauptmanns Beziehung zum Durch! siehe das Kapitel „Kurs auf den Naturalismus“ in der Biographie von Hilscher (1969), S. 74-102, v.a. S. 87-89. 24 Dieser Gedanke geht auf Baseler (1993) zurück, der die These aufstellt, dass die Literatur einem qualitativen „Tiefststand zustrebte“, da sich das Gros der Autoren bemühte, den „Publikumserwartungen möglichst zu entsprechen“ (S. 69). Angesichts eines übersättigten

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Bei der Niederschrift von Vor Sonnenaufgang hat Hauptmann sich hinsichtlich der Dramenform und der sozialen Thematik an Leo Tolstois Macht der Finsternis25 und sprachstilistisch an den von Arno Holz und Johannes Schlaf gemeinsam verfassten und Anfang 1889 unter dem Pseudonym Bjarne P. Holmsen erschienenen Prosaskizzen Papa Hamlet26 inspirieren lassen. In seinem „Bauernstück“ 27 hat er das Gegenteil eines bäuerlichen Idylls entworfen. Mit Verweisen auf einen dengelnden Arbeitsmann, auf Mägde, die auf dem Feld und im Viehstall beschäftigt sind und auf Gerätschaften wie „Harke und Dunggabel“ 28 kommen im Stück tatsächlich die eingangs erwähnten „landwirtschaftlichen Notwendigkeiten“ (s.o.) vor. Darüber hinaus werden die prekären Verhältnisse der Bauern, die sich zum Teil bei lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen im Witzdorfer Kohlerevier als Bergleute verdingen müssen, thematisiert. Sie werden vom Hauptprotagonisten, dem Sozialreformer Alfred Loth, dessen Motivation es ist, die „Verkehrtheit unserer Verhältnisse“29 zu verändern, zwecks ökonomischer Studien in den Blick genommen. Auf dem Gut der Schwiegereltern seines Jugendfreundes Hoffmann bekommt der Abstinenzler Loth außerdem Einblick in das von Luxus, Hedonismus und maßlosem Alkoholgenuss geprägte Leben der durch die Kohle reichgewordenen Bauernfamilie Krause: einer „Potatorenfamilie“, in der nach Loths Worten eine „Sumpfluft“ 30 vorherrsche. Der

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Buchmarkts und darum in der Regel nur geringer Auflagenzahlen, war konventionelles bzw. epigonales Schreiben eine Strategie zur Risikominimierung. Um auf dem Buchmarkt Fuß zu fassen, verfolgten die Naturalisten eine gegenteilige Strategie. Vgl. Martin, Dieter: Tolstoi im deutschen Naturalismus. „Die Macht der Finsternis“ als Vorbild für Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“. In: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland (2012/2013). Bonn 2013, S. 83-93. Die Figurenreden der von Hauptmanns guten Bekannten verfassten Skizzen sind nicht an die literarische Hochsprache angepasst, sondern simulieren vermittels „Jargon und Dialekt, Gestammel und Versprecher, Seufzer und Aufschrei“ in innovativer Weise Alltagssprache, so Fricke, Thorsten: Arno Holz und das Theater. Biografie, Werkgeschichte, Interpretation. Bielefeld 2010, S. 159. Er stellt die These auf, dass diese „neue Sprache des Halbsagbaren, Kaumerfassbaren und Unartikulierbaren“ nicht nur als eine bewusste „Abkehr von der Papierprosa mit ihrer schöngefärbten Wortwahl und ihrer grammatischen Eleganz“ (ebd.) gedeutet werden sollte. Mit ihr hätten Holz und Schlaf darauf abgezielt, die Figuren tiefenpsychologisch als moderne, von fragmentarischer Welterfahrung geprägte Subjekte „erfahrbar“ zu machen. Hauptmann (1974), S. 487. Hauptmann, Gerhart: Vor Sonnenaufgang. In: Ders.: Sämtliche Werke (Centenar-Ausgabe), Bd. I. Hg. von Hans-Egon Hass. Darmstadt 1966, S. 9-98, S. 44. Im Folgenden als Hauptmann (1966): Vor Sonnenaufgang. Ebd., S. 47. Symbol jener „verkehrten Verhältnisse“ ist für Loth bezeichnenderweise die Seife; als Kind hat er den Tod eines Arbeiters beobachtet, der in einer Seifenfabrik giftigen Chemikalien ausgesetzt war und deshalb an Lungenschwindsucht gestorben ist: „Ein einfaches Stückchen Seife, bei dem sich in der Welt sonst niemand etwas denkt, ja, ein paar reingewaschene, gepflegte Hände schon können einem in die bitterste Laune versetzen.“ (Ebd., S. 49.) Mit Blick auf die soziale Wirklichkeit geraten in Vor Sonnenaufgang die Kategorien von Sauberkeit und Schmutz, von gut und schlecht durcheinander. Ebd., S. 94.

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Bauer, ein heruntergekommener Säufer, trägt die Insignien der Verwahrlosung am Leib ‒ ein „schmutzige[s] Hemd“ sowie eine „ehemals gelbe, jetzt schmutzig glänzende, an den Knöcheln zugebundene Lederhose“ ‒ und stellt seiner eigenen Tochter Helene nach, die sich schämt, sich vor ihm ekelt und ihn als „Tier, Schwein!“ 31 beschimpft. Angesichts all dessen spricht Klaus-Michael Bogdal von der „Herrschaft des Schmutzigen (und Animalischen)“32, die sich in dem Stück manifestiere.

7.2 DIE ERSCHLAGENEN MISTFLIEGEN: ERSTE LESERREAKTIONEN Dass sich mit „C.F. Conrad´s Buchhandlung“ ein Verlag dazu entschlossen hat, Vor Sonnenaufgang herauszugeben, ist keine Selbstverständlichkeit gewesen. Nicht nur, weil es sich bei Hauptmann um einen noch nahezu unbekannten Autoren gehandelt hat, war das Risiko, ihn zu verlegen, hoch. Hinzu trat der Umstand, dass sein Soziales Drama einen konsequent naturalistischen Stil repräsentierte, wie er bei der Mehrzahl der damaligen Literaturkritiker nicht gerade wohlgelitten war. Das hatte sich ein halbes Jahr zuvor angesichts der Veröffentlichung von Papa Hamlet gezeigt, die zum Teil scharf angegangen worden war. Beispielsweise ist behauptet worden, dass „der Verfasser nur für den Schmutz einen klaren Blick“ (Allgemeine Kunstchronik) gehabt hätte, so dass den Lesern „auch nicht das Äußerste von Schmutz erspart“ (Frankfurter Zeitung) bliebe; auch „die stilistische Methode“ wäre „eine höchst widerliche“ (Berner Bund), da sie den Lesern nichts weniger als „die Poesie verekeln“ (Otto von Leixner) würde.33 Selbst ein Naturalist wie Conrad Alberti lehnte die Skizzen, weil darin bloß „platte Ausdrücke […] und ekelhafte Einzelzüge auf einen Haufen zusammen[getragen]“34 worden wären, ab. Dass Vor Sonnenaufgang ähnlich abfällige Reaktionen nach sich ziehen und sich eine denkbare ‚Schmutzkampagne‘ negativ auf das Verlagsimage auswirken mochte, steigerte das Risiko noch einmal. Angesichts dessen hatten sich zwei dem Naturalismus durchaus offenstehende Verlage ‒ „Carl Reissner“, bei dem wenige Monate zuvor Papa Hamlet erschienen war und „Wilhelm Friedrich“, bei dem die Gesellschaft herausgegeben wurde ‒ gegen eine Veröffentlichung entschieden. Dass Hauptmanns Soziales Drama ab August 1889 im Verlag „C.F. Conrad“ publiziert wurde, ist auf die Initiative des Verlegers Paul Ackermann zurückzuführen, der selbst Mitglied im Literarischen Verein Durch! gewesen ist. In seiner Entscheidung, Vor Sonnenaufgang ins Verlagsprogramm auf-

31 Ebd., S. 40. 32 Bogdal (1978), S. 98. 33 Vgl. Holz, Arno; Schlaf, Johannes: Papa Hamlet. Hg. v. Theo Meyer. Frankfurt am Main 1979. Auf S. 15-26 findet sich eine „kleine Blütenlese“, wie sie Holz und Schlaf aus ihnen „vorliegenden Kritiken über unser Buch“ zusammengestellt und späteren Auflagen des Papa Hamlet beigefügt haben. Bei etwa der Hälfte der angeführten Zitate aus unterschiedlichsten Publikationen handelte es sich allerdings um positive Besprechungen. 34 „Der Realismus ist eine ernste, heilige Sache, aber er ist keine Löwenhaut, in der sich Ekel verstecken dürfen“, begründete er seine Ablehnung des Buches; siehe Alberti, Conrad: [Rez.] Bjarne P. Holmsen: Papa Hamlet. In: Die Gesellschaft 5/1 (1889), H. 4, S. 569.

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zunehmen, dürfte Ackermann ein Gutachten vom ebenfalls die Sitzungen des Berliner Vereins besuchenden Adalbert von Hanstein bestärkt haben. Der Umstand, dass Hauptmann einen nicht unbedeutenden Posten der ersten, tausend Exemplare umfassenden Auflage aufkaufte und an Freunde, bekannte Schriftsteller und auch einige sozialdemokratische Politiker versandte35, wird angesichts der damit garantierten Einnahmen aus Verlagssicht ebenfalls zugunsten der Veröffentlichung gesprochen haben.36 Die Buchpublikation löste zunächst noch keine abfälligen Reaktionen aus; Presseurteile erschienen überhaupt erst im Vorfeld der Uraufführung. Es waren seine Freunde und Autorenkollegen37, von denen Hauptmann in den Wochen vor dem Erscheinen des Buches zumeist wohlwollende Kritik oder, wie im Fall von Ferdinand Simon, überschwängliches Lob übermittelt bekam: Lichtel, verfluchter Kerl; Dein Drama war ein Meisterschuß. ‒ Ein ganzes Dutzend Mistfliegen mit einer Klappe erschlagen! Es ist entschieden das bedeutendste soziale Drama, das ich gelesen habe. Du hast es ausgezeichnet verstanden, Tendenz zu machen, ohne im geringsten der Realität auf die Hühneraugen zu treten. Das ist vorläufig wenigstens mein erster Eindruck, Lichtel, glückliches Vieh, ich beneide Dir!38

Hauptmann als Fliegen jagendes, ‚tapferes Schneiderlein‘; das ist eine im Zusammenhang mit Vor Sonnenaufgang vielsagende Anspielung, da Simon mit ihr den späteren Skandal antezipiert und bereits im Vorhinein ironisch kommentiert hat. Kein schmutziges Drama habe Hauptmann demnach verfasst, sondern ein heikles, den Mist thematisierendes Stück gelungen umgesetzt, die Mistfliegen erschlagen. Als besonders gelungen lobten die frühesten Leser einhellig die ungewöhnliche naturalistische Figurenkonzeption: „Endlich einmal ein Stück mit wirklichen Menschen“ 39 (Georg Zimmermann), in welchem die „existierende Menschheit von der Höhe bis in die grauenvolle Tiefe wahr dar[ge]stellt“40 (Karl Henckell) worden sei. Allerdings werde es, da „die Menschen im Schauspiel so heruntergekommen sind“, Kritik herausfordern; man werde es Hauptmann „in Deutschland übelnehmen“ 41, prophezeite ihm etwa Georg Brandes. 35 Die Liste mit achtzig Namen, an die er seinen Dramenerstling verschickt hat, ist erhalten und abgedruckt bei Hauptmann (1982): Notiz-Kalender, S. 383-385. 36 Die in diesem Absatz skizzierten Hintergründe zur Publikationsgeschichte der ersten Auflage basieren auf Baseler (1993), S. 70-73 und Machatzke/Requardt (1980), S. 141-142. 37 Näheres zu dieser frühesten Rezeptionsphase von Vor Sonnenaufgang findet sich bei Voigt, Felix A.: Die Aufnahme von „Vor Sonnenaufgang“ in Hauptmanns Freundes- und Bekanntenkreis. In: Ders.: Hauptmann-Studien. Untersuchungen über Leben und Schaffen Gerhart Hauptmanns, Bd. 1. Aufsätze über die Zeit von 1880 bis 1900. Breslau 1936, S. 162-163. ‒ Der Arbeit von Voigt liegen Briefe an Hauptmann zugrunde, die der Autor in seinem Notizkalender aufbewahrt hat, vgl. Hauptmann (1982): Notiz-Kalender. 38 Simon, Ferdinand [Seo]: Brief an Gerhart Hauptmann, 30.08.1889. In: Ebd., S. 162-163. Hervorhebung im Original. 39 Zimmermann, Georg: Brief an Gerhart Hauptmann, 27.09.1889. In: Ebd., S. 180. 40 Henckell, Karl: Brief an Gerhart Hauptmann, 26.08.1889. In: Ebd., S. 161. 41 Brandes, Georg: Brief an Gerhart Hauptmann, 04.09.1889. In: Ebd., S. 167.

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Die Briefe, die Hauptmann Ende August und im September 1889 erreichten und in denen neben manchem Lob durchaus auch Vorbehalte geäußert wurden, spiegeln unterschiedliche naturalistische Positionen wider. Es herrschte aber Einigkeit darüber, dass es sich bei dem Drama nicht um minderwertige Schmutzliteratur handelte. Mit idealistischem Gestus schrieb Julius Hart, dass es Hauptmann mit „Reife“ und einer „echten poetischen Kraft“42 gelungen sei, Vor Sonnenaufgang in einer Weise zu gestalten, dass er bei seiner Lektüre „eine Stunde reinster künstlerischer Begeisterung“43 empfunden habe. Allerdings merkte er mit Blick auf die „theoretischen Anschauungen“44 des Dramas, die er mit den sozialpolitischen und temperenzlerischen Ansichten der Hauptfigur Loth in eins setzte, kritisch an, dass die „Tendenz“ für seinen Geschmack „zu schroff und einseitig“45 ausgefallen sei. Alfred Ploetz hielt Hauptmanns Drama für „famos“46, weil darin nicht nur „ein Stück unserer gärenden Gesellschaft“ vor Augen geführt, sondern darüber hinaus auch die biologistischen sowie die „ökonomischen und sozialen Faktoren“ 47, die die Menschen in ihrem Leben und Handeln beeinflussten, klar zutage treten würden. Vor dem Hintergrund eines naturwissenschaftlichen Monismus argumentierte er, dass sich Vor Sonnenaufgang als „Differential der menschheitlichen Entwickelung“ 48 erweise. Indem der „Schmerz des Untergangs und die Begeisterung des Fortschreitens“ beleuchtet werde, löse es „starke Gefühlsreaktionen“ aus und könne mit zur „Vervollkommnung der einzelnen menschlichen Seelen“49 beitragen. Statt des reinen ästhetischen Genusses lobte Ploetz die humanistisch-pädagogische Tendenz und die damit zusammenhängende soziale Funktion von Hauptmanns Sozialem Drama. Vorbehalte äußerte er mit Blick auf dessen Realismus: So war er der Ansicht, dass das bäuerliche Umfeld überzeichnet dargestellt worden sei, nämlich in Wirklichkeit nicht ausschließlich aus „degenerierte[n] Exemplare[n]“50 bestünde; desweiteren hielt er die Figur des Loth für „zu einfach, klar und konfliktlos, um wahr zu sein.“ 51 Dagegen war Johannes Schlaf von der Hauptfigur in Vor Sonnenaufgang, wie er Hauptmann in einem Brief mitteilte, begeistert. Loth, der in der Dramenhandlung aufgrund seiner Überzeugung von der Vererbbarkeit des Alkoholismus auf die Ehe mit Helene, der Tochter der Trinkerfamilie Krause, verzichtet ‒ sie bringt sich daraufhin um ‒, habe etwas Imponierendes an sich, schrieb er an Hauptmann. Die Figur symbolisierte für ihn „ein neues Pathos“52 eines „kerngesunden, fest auf seinen beiden Füßen stehenden Menschen in einem durchaus gesunden Konflikt“, den sie er-

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Hart, Julius: Brief an Gerhart Hauptmann, 19.08.1889. In: Ebd., S. 153-156, S. 154. Ebd., S. 155. Ebd. Ebd., S. 156. Ploetz, Alfred: Postkarte an Gerhart Hauptmann, 26.08.1889. In: Ebd., S. 160. Ders.: Brief an Gerhart Hauptmann vom 03.09.1889. In: Ebd., S. 164-167, S. 166. Mündliche Äußerung von Alfred Ploetz, nach Hauptmann, Carl: Brief an Martha Hauptmann, undatiert. In: Ebd., S. 162. Ploetz, Alfred: Brief an Gerhart Hauptmann, 03.09.1889. In: Ebd., S. 164-167, S. 166. Ebd. Ebd., S. 165. Schlaf, Johannes: Brief an Gerhart Hauptmann, 21.08.1889. In: Ebd., S. 156-159, S. 158

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folgreich, nämlich „in gesunder und natürlicher Weise überdauert.“ 53 Für Schlaf war Loth sowohl ein charaktervoller „ganzer Mensch“, als auch eine „reifgewordene, in Fleisch und Blut übergegangene Idee und Weltanschauung“: mithin die Verkörperung eines „herzerfrischende[n], gesunde[n] Positivismus“54. Damit stellte er den Prototypen des „wahre[n] Mensch[en]“ und „wahre[n] Künstler[s]“ dar, wie ihn Schlaf zwei Jahre später in einem in der Gesellschaft veröffentlichten Aufsatz kurzerhand zum „Ideal der nach Vollkommenheit ringenden Menschheit“55 erklären sollte. Ein solcher Mensch scheue es nicht, „sich an den Realien des Lebens ‚die Finger schmutzig zu machen‘“56 und wage es, „durch die Sumpfwüsten menschlichen Lasters das Banner des Ideals zu tragen“57; die Anspielung auf das Milieu von Vor Sonnenaufgang, das sowohl von Loth als auch von Helene als ein Sumpf erfahren wird, fällt ins Auge. Loth war für Schlaf die Identifikationsfigur, die aufgrund ihrer naturwissenschaftlich-positivistischen Weltanschauung gewissermaßen Immunität erlangt hat und deshalb heroisch in den Schmutz vordringen kann, ohne in moralischer Hinsicht beschmutzt oder von der „Sumpfluft“58 angesteckt zu werden. Erst sie war es, die die Darstellung des Schmutzes in Vor Sonnenaufgang Schlafs Verständnis nach rechtfertigte, da sie optimistisch über ihn hinaus bzw. den Weg durch ihn hindurch weise. Vor dem Hintergrund hob er Hauptmanns Drama von einem „faule und verzweifelte Negation“ ausdrückenden Roman wie Madame Bovary ab, bei dessen Lektüre ihm „hundsmiserabel zu Mute“59 geworden sei. Die frühesten Reaktionen auf Vor Sonnenaufgang deckten also eine gewisse argumentative Bandbreite ab. Dass es sich aber, obwohl in dem Text das menschliche Elend, das Gärende und Schmutzige thematisiert wird, um ein qualitativ beachtenswertes Drama handelte, war Konsens. Dazu wurde auf einen Mehrwert verwiesen ‒ auf reinen ästhetischen Genuss entweder, oder aber auf eine soziale Funktion bzw. auf eine weltanschauliche Tendenz ‒, der den schmutzigen Inhalt von Vor Sonnenaufgang aufwog und legitimierte.

53 Ebd., S. 157. 54 Ebd., S. 158. 55 Schlaf, Johannes: Moral, Kritik und Kunst. In: Die Gesellschaft 7/2 (1891), H. 9, S. 11681172, S. 1172. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 1170. 58 Hauptmann (1966): Vor Sonnenaufgang, S. 94. 59 Schlaf, Johannes: Brief an Gerhart Hauptmann, 21.08.1889. In: Hauptmann: NotizKalender, S. 158-159. Begründend schrieb er über Madame Bovary ebd.: „Wieviel Pessimismus, wieviel einseitiges Auffassen des Menschen, wieviel Unwahrheit bei aller Wahrheit!“

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7.3 NICHT DER REINLICHSTE WEG: VOR SONNENAUFGANG UND DIE VERLEBENDIGUNG DES THEATERS „Na man zu: durch Dreck zum Zweck!“60 schrieb Ferdinand Simon an Hauptmann, nachdem er erfahren hatte, dass Vor Sonnenaufgang als Veranstaltung des Vereins ‚Freie Bühne‘ im Berliner Lessingtheater gespielt werden sollte. Der von ihm angeführte Zweck betraf die Veranstaltung selbst. Aus seinem Brief geht hervor, dass er die Aufführung eines moralische Verwahrlosung, soziales Elend und Schmutz thematisierenden Stücks auf einer deutschen Bühne kaum für möglich gehalten hatte. Auch Hauptmann selbst notierte in seinen Erinnerungen, dass er die Frage nach einer öffentlichen Darbietung zunächst für „absurd“ befunden und „als indiskutabel verneint“61 habe. Die Einschätzungen von Simon und Hauptmann entsprachen den damaligen Theaterverhältnissen in Deutschland. Während sich modernen Autoren auf dem Buchmarkt gewisse Nischen zu öffnen anfingen ‒ es einige Verlage wagten, naturalistische Texte zu publizieren und sich mit der Gesellschaft außerdem ein renommiertes Organ der jungen Literatenopposition zu etablieren begonnen hatte ‒, blieb ihnen der Zugang zum Theater weiterhin verwehrt. Das hing freilich sehr stark mit der Theaterzensur zusammen, deren repressiver Einfluss auf die deutschen Bühnen hoch war, wie Norbert Jaron in seiner umfangreichen Einleitung zur „Bühnengeschichte der Reichshauptstadt“ betont 62: Stücke, die öffentlich aufgeführt werden sollten, mussten vor der Premiere im Polizeipräsidium vorgelegt werden, wo dann geprüft wurde, ob ordnungs- oder sittenpolizeiliche Gründe gegen eine geplante Veranstaltung sprächen. Diese Praxis ging auf eine nach dem einstigen Generaldirektor der Polizei in Preußen Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey benannten Verordnung von 1851 zurück, die ähnlich auch außerhalb Preußens angewandt worden ist. 1885 sprach Oskar Welten von einer „ästhetische[n] Reaktion“63, die durch die Theaterzensur bestärkt worden wäre und nicht nur politische, sondern auch sittliche und sogar ästhetische Beschränkungen mit sich gebracht habe. Deutschlandweit seien die Theater von Akten „ästhetische[r] Lynchjustiz“, sogar von Klassikerinszenierungen betreffenden „ästhetische[n] Säuberung[en]“64 bedroht gewesen. Diese von Welten geschilderte Entwicklung hat laut Jaron schließlich zu einer „Selbstbeschränkung der Theater“ geführt, weshalb es in den 1880er-Jahren kaum noch „rigorose Stückverbote“, allenfalls „Streichung[en] ‚unanständiger‘ Stellen“65 gegeben hat. In jener politisch, moralisch und ästhetisch regulierten Atmosphäre herrschte auf den deutschen Gründerzeitbühnen somit eine offizielle Ästhetik „geläuterten Ge-

60 Simon, Ferdinand: Brief an Gerhart Hauptmann, 24.09.1889. In: Ebd., S. 180. 61 Hauptmann (1974): 2. Vierteljahrhundert, S. 533. 62 Vgl. Jaron, Norbert: Zur Berliner Theatergeschichte. In: Jaron/Möhrmann/Müller (1986), S. 1-72, im Folgenden als Jaron (1986), S. 10-11. 63 Welten (1885), S. 494. ‒ Vgl. Kap. 6.1. 64 Ebd. 65 Jaron (1986), S. 10-11.

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schmacks“66 vor, die laut Welten der allgemeinen „ästhetische[n] Empfindlichkeit“67 Vorschub geleistet habe. Repräsentiert wurde sie durch ein mit dem Begriff „Idealismus“ etikettiertes „‚Drama‘ alter Art“, das einen Hang zu effektvoll inszenierten „historischen Tableaus“ besessen hat und mit „heldenhaften Auftritten, heroischer Rhetorik und Gebärde“68 gespickt gewesen war. Auf den Bühnen herrschte ein mit Manierismen versetzter, deklamatorischer Aufführungsstil vor. 69 In einem nur wenige Wochen vor der Uraufführung von Vor Sonnenaufgang im August 1889 in der Gesellschaft abgedruckten Berliner Brief schrieb Max Halbe von einer „Regelzwangsjacke“70, in welcher das deutsche Bühnendrama feststecken würde: Kunstvolle Zuspitzung, sorgfältige Beschneidung vordringlichen, saftsprießenden Astwerks, das die schöne Symmetrie, die Kugel- oder Pyramidenform der Baumkrone entstellen könnte, „Geschlossenheit der Komposition“ und zuguterletzt […] der ganze Bühnenkonventionalismus mit seinen dröhnenden Abgängen und dem hallenden Kothurnschritt.71

Angesichts solcher Verhältnisse sei einem unkonventionellem „naturalistischen Drama das Kainsmal der Unmöglichkeit und der Lächerlichkeit auf die Stirn [ge]zeichnet“72 gewesen, konstatierte Halbe. Wollten talentierte Autoren auf den Bühnen Erfolg haben, müssten sie sich den konventionellen Gesetzen des Theaters beugen, um als bühnenfähig zu gelten und gespielt werden zu können.73 Eben jenen „Drang nach Bühnenfähigkeit“ bezeichnete der ambitionierte junge Autor, der nur wenige Jahre darauf mit seinem naturalistischen Drama Jugend großen Erfolg haben sollte, als den „verseuchende[n] Bacillus, an dem unser Drama schwer niederliegt[.]“74 Die kritisierten Bühnenverhältnisse als Krankheit wertend, war Halbe der Ansicht, dass „Gegenmaßregeln ergriffen werden“75 müssten, um den Tod des Theaters zu verhindern. Zu eben diesem Zweck war im Frühjahr 1889 ‒ Halbe scheint davon noch nichts mitbekommen zu haben ‒ der Berliner Verein ‚Freie Bühne‘ gegründet worden.76 In 66 Welten (1885), S. 494. 67 Ebd. 68 Rühle, Günther: Theater in Deutschland 1887-1945. Seine Ereignisse ‒ seine Menschen. Frankfurt am Main 2007, S. 22. Im Folgenden als Rühle (2007). 69 Vgl. Jaron (1986), S. 14-15. 70 Halbe, Max: Berliner Brief. In: Die Gesellschaft 5/2 (1889), H. 8, S. 1171-1186, S. 1175. Im Folgenden als Halbe (1889). 71 Ebd., S. 1175. 72 Ebd., S. 1174. 73 In der Gesellschaft wurde bereits 1886 behauptet, dass ein naturalistischer Autor „vor dem Dilemma“ stünde, „entweder auf die Bühne zu verzichten, oder aber ‚sich möglich zu machen durch Anpassung‘ an den Geschmack der Logenabonnenten.“ Siehe Hillebrand (1886), S. 235. ‒ Vgl. Kap. VI, 1. 74 Halbe (1889), S. 1175. 75 Ebd. 76 Näheres zur ‚Freien Bühne‘, deren Vorbild das von André Antoine 1887 gegründete Pariser ‚Théâtre Libre‘ war, erfährt man bei Jaron (1986), S. 20-26 sowie bei Schanze, Helmut: Theater, Politik, Literatur. Zur Gründungskonstellation einer „Freien Bühne“ zu Berlin

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einem Schreiben zur Mitgliederwerbung heißt es, dass er auf den Weg gebracht worden sei, um „unabhängig von dem Betriebe der bestehenden Theater und ohne mit diesen in einen Wettkampf einzutreten, eine Bühne zu gründen, welche frei ist von den Rücksichten auf Theatercensur und Gelderwerb.“77 Die Gebühren, die jedes Vereinsmitglied bezahlen musste, sollten finanzielle Unabhängigkeit gewährleisten. Die Wahl des Vereinsmodells ist aber vor allem eine juristische Finte gewesen, die die Freiheit vor Zensureingriffen garantieren sollte. Normalerweise galt jede Theateraufführung im Wilhelminischen Deutschland als eine „öffentliche Angelegenheit“, die „Zensur, d.h. präventive Kommunikationskontrolle im Hinblick auf die Erhaltung der Öffentlichen Sicherheit“78, legitimierte. Die Besucher der Theaterveranstaltungen der ‚Freien Bühne‘ mussten deshalb allesamt Mitglieder des Vereins sein, so dass es sich rechtlich betrachtet um geschlossene Veranstaltungen handelte, die nicht von polizeilicher Zensur belangt werden konnten.79 Diese Beschränkung auf eine „Halböffentlichkeit“80 eröffnete dem Verein jenen Freiraum, der für die Darbietung „moderner Dramen von hervorragendem Interesse“ genutzt werden sollte, „welche den ständigen Bühnen ihrem Wesen nach schwerer zugänglich sind“, wie es in dem Schreiben zur Mitgliederwerbung heißt: „Sowohl in der Auswahl der dramatischen Werke, als auch in ihrer schauspielerischen Darstellung sollen die Ziele einer der Schablone und dem Virtuosenthum abgewandten, lebendigen Kunst angestrebt werden.“81 Es entsprach den zeitgleich formulierten Forderungen Halbes, das der Verein vermittels moderner Stücke und Aufführungstechniken eine Wiederbelebung des Theaters intendierte. Ausdrücklich sollte „vor die Lampenprobe das Zweifelhafte“ gebracht und „Gewagtes“82 ausprobiert werden, um eine zeitgemäße Entwicklung der Bühnenkunst zu initiieren, die durch die Zensur blockiert war. In der Genesis der Freien Bühne heißt es: Wir glauben, daß sich die Kunstgebiete mit dem Wandel der Zeiten ebenso ändern wie alle Gebiete des Lebens. Mit religiösen und politischen Anschauungen, mit Sitte und Recht, mit Tracht und Neigung wechseln auch die Anschauungen der Kunst. Jeder Zeitgeist sucht sich seinen eignen künstlerischen Ausdruck. Wenn ein Altes aufgegeben, ein Neues gesucht wird, so verschieben sich die Grenzen; und diejenigen sind die glücklichsten Kinder, die sich bis zur äu-

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1889. In: Ders.; Bayerdörfer, Hans-Peter; Conrady, Karl O. (Hgg.): Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter. Tübingen 1978, S. 275-291. Im Folgenden als Schanze (1978). Schreiben zur Mitgliederwerbung des Vereins ‚Freie Bühne‘, hier zit. nach Mendelssohn (1970), S. 93. Hervorhebung im Original. Schanze (1978), S. 284. Paradox sei es laut Schanze gewesen, dass der Verein immer wieder hat nachweisen müssen, „daß diese Bühne kein ‚Publikum‘ habe. Solange sie eine Veranstaltung von Vereinsmitgliedern war, galten ihre Vorstellungen als private Angelegenheit.“ (Ebd.) Ebd., S. 285. Schreiben zur Mitgliederwerbung des Vereins ‚Freie Bühne‘, hier zit. nach Mendelssohn (1970), S. 93. Schlenther, Paul: Wozu der Lärm? Genesis der Freien Bühne. Berlin 1889, S. 14. Im Folgenden als Schlenther (1889a).

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ßersten Grenze vorwagen. Wäre Columbus in der alten Welt geblieben, so hätte er nicht Amerika entdeckt.83

Dem Selbstverständnis nach war die ‚Freie Bühne‘ damit gewissermaßen ein Labor zur Modernisierung des Theaters, in dem Grenzverschiebungen unter kontrollierten Bedingungen ausgetestet werden sollten. In das Anforderungsprofil der ‚Freien Bühne‘ passte Vor Sonnenaufgang exakt hinein: modern, gewagt und zweifelhaft repräsentierte es jenen Naturalismus, der spätestens seit Bleibtreus Revolution der Literatur (1886) in kulturinteressierten Kreisen für manches Aufsehen gesorgt hatte. Mitte September 1889 bekam Hauptmann, der das Stück einer öffentlichen Bühne gar nicht erst angeboten hatte, die Nachricht, dass es am 20. Oktober im Lessingtheater gespielt werden sollte. 84 Otto Brahm, Vorsitzender des Vereins, hatte ihm mitgeteilt, „daß wir für die Zwecke der ‚Freien Bühne‘ darin ein ausgezeichnetes Werk gewinnen würden.“85 Wie Ferdinand Simon sprach damit auch Brahm der Aufführung einen Zweck zu, der aus Sicht des Vereins in der Modernisierung bzw. Wiederbelebung des Theaters bestand. Ganz ähnlich wertete auch Paul Schlenther die geplante Aufführung des Stücks als eine Reanimationsmaßnahme für das von „Erstarrung und Vertrocknung“ 86 bedrohte Theater. In einer am 12. Oktober in der Deutschen Litteraturzeitung erschienen Rezension lobte er Hauptmanns Drama, das er als einen „geniale[n] Versuch“ ansah, „ein neues und volles Leben in dramatische Formen zu fassen“, übrigens nicht weil, sondern obwohl sich in ihm „ein schrankenloser, noch schlackenreicher Naturalismus“87 offenbaren würde. Neben der sozialen wies er damit auf die ästhetische „Tendenz des außergewöhnlichen Stücks“88 hin, wie sie sich in der ungeschönten, d.h. ohne „jede zarte Rücksicht auf ein etwaiges Theaterpublicum“ 89 verfassten Darstellung zeigen würde: Hauptmann habe sich damit „aller Convention und aller Schablone gründlich“90 entledigt. Als Schlacken wertete er in sprachlicher Hinsicht den Dialekt der „Landleute“, die ein „mittelschlesisches Messing“ reden würden, in inhaltlicher Hinsicht die Darstellung enormer sozialer Missstände innerhalb eines Kohlendistrikts, die zur „lebendigsten Anschauung“91 kommen würden, sowie auch die anschauliche Darstellung der „Roheit“ der handelnden Figuren, ihrer „Rüdigkeit“, „geilen Trunksucht“ und „lüsternen Lafferei“92, ihrer „Wollust“ und 83 Ebd. 84 Vgl. Baseler (1993), S. 79-80. 85 Brahm, Otto: Brief an Gerhart Hauptmann, 10.09.1889. In: Brahm, Otto; Hauptmann, Gerhart: Briefwechsel 1889-1912. Erstausgabe mit Materialien. Hg. von Peter Sprengel. Tübingen 1985, S. 95. Im Folgenden als Brahm/Hauptmann: Briefwechsel. 86 Schlenther, Paul: [Rez.] Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang. In: Deutsche Litteraturzeitung 10 (1889), Nr. 41, Sp. 1514-1516, hier Sp. 1514. Im Folgenden als Schlenther (1889b). 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Ebd., Sp. 1516. 90 Ebd., Sp. 1514. 91 Ebd., Sp. 1515. 92 Ebd., Sp. 1516.

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„abgeschmackte[n] Eitelkeit“93. In naturalistischer Weise habe Hauptmann damit ein Milieu zur „gründlichste[n] Einsicht“ gebracht, das Schlenther plakativ als „Schmutz“94 bezeichnete. Als schön sei dieser zwar nicht zu bezeichnen, allerdings handele es sich um eine für die Bühne belebende Zutat: „Der Weg, den Gerhart Hauptmann geht, mag nicht der reinlichste sein. Er führt am Geschäft der Hebamme und beim Buhllager der Stallmagd vorbei, aber er ist kein Irrweg, denn er führt ins Leben.“95 Durch Dreck also zum Zweck: der schmutzige Stoff, den Hauptmann in Vor Sonnenaufgang gestaltet hatte, sollte dem Theater gleich einem Düngemittel neue Lebenskraft verleihen.96 Die sich darin ausdrückende semantische Kopplung von Schmutz und Leben ist bemerkenswert. Die programmatischen Realisten der Jahrhundertmitte haben den Schmutz noch mit Tod, Verfall und Verwesung assoziiert und ihn als wert- und funktionslos tabuisiert (vgl. Kap. 5.3.3). Der Bedeutungswandel war durch hygienische und agrarökonomische Entwicklungen möglich geworden. Der Dreck war im letzten Jahrhundertdrittel eine Substanz, den man nicht mehr ignorieren konnte, wenn man sich für hygienischen oder sozialen Fortschritt engagierte. Man hatte erkannt, dass man sich mit Schmutz befassen musste, um Besserungen im Bereich der Hygiene zu erreichen; außerdem diskutierte man nun etwa über die potentielle Werthaltigkeit von Abfällen und Ausscheidungen als Dünger (vgl. Kap. 2.5). Diese funktionale, den ökonomischen Wert des Schmutzes berücksichtigende Logik wurde von den Naturalisten auf das Gebiet der Literatur appliziert. Die Uraufführung von Vor Sonnenaufgang wurde zu einem Ereignis stilisiert, das die auf die Identität von Sauberkeit, Schönheit und Sittlichkeit abstellende ältere Ästhetik ablösen sollte. Dem Schmutz wurde eine ästhetische, teilweise auch eine soziale Funktion beigemessen.

7.4 DER VORAUSGEAHNTE SKANDAL UND SEINE GRÜNDE Dass die intendierte ästhetische Grenzverschiebung nicht jedem Zuschauer gefallen würde, sah Schlenther bereits voraus. Den „ästhetische[n] Ängsterlingen“ legte er deshalb nahe, sich an Schiller (Die Räuber) und Goethe (Götz von Berlichingen) zu erinnern, die ihre Karrieren „[s]tofflich genommen“97 ähnlich wie Hauptmann begonnen hätten. Überhaupt gab er den Kritikern den Rat, „sich mit ihren stofflichen Einwänden zurück[zu]halten“ und stattdessen das in dramentechnischer Hinsicht zukunftsweisende Talent Hauptmanns anzuerkennen, der gänzlich ohne die veralteten

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Ebd., Sp. 1515. Ebd. Ebd., Sp. 1516. Oder auch als nährstoffreicher Boden, siehe Schlenther (1889a), S. 21: „Immer, so oft die deutsche Dichtung sich auf sich selbst besann, grub sie sich mit derbem Spatenstich tief ein in den Boden des niedrigen und niedrigsten Volkslebens. Von dorther sog sie neue Kraft, die sie allmählich nach oben trieb.“ Dies Zitat erinnert bereits an die Düngermetaphorik, die Hauptmann Jahrzehnte später in seinen Lebenserinnerungen verwendet hat (vgl. 7.1). 97 Schlenther (1889b), Sp. 1516.

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„Eselsbrücken des deutschen Schauspiels, wie Monolog, Beiseitesprechen“98 etc. auskäme. Auch Brahm war sich sicher, dass die Aufführung Widerspruch herausfordern würde. Da es sich ausschließlich um Vereinsmitglieder handeln musste, konnte er als Vorsitzender sehr genau absehen, welch ein Publikum sich am 20. Oktober im Lessingtheater einfinden würde: Die junge naturalistische Avantgarde würde in der Minderheit sein, zum Großteil würde es sich aus dem typischen Berliner Premierenpublikum99 rekrutieren, das es gewohnt war, Meinungen über ein Stück lautstark durch Klatschen oder Niederzischen kundzutun. Es waren wohlsituierte Bürger, die sich den Mitgliedsbeitrag leisten konnten und für die ein Premierenbesuch ein gesellschaftliches Ereignis darstellte; meinungsmäßig handelte es sich um eine durchaus heterogene, wenn auch mehrheitlich konservative Zuschauerschaft.100 Vor allem bei Ibseninszenierungen hatte sich in den Berliner Theatern ein Riss zwischen progressiveren und konservativen Premierengängern aufgetan. 101 Dieser Bruch ist auch am 29. 98 Ebd. 99 Über das Publikum, wie es sich schließlich am 20. Oktober im Lessingtheater versammeln sollte, schrieb Baake, Kurt: Verein „Freie Bühne“. In: Berliner Volksblatt. Organ für die Interessen der Arbeiter, Nr. 247 (22.10.1889). In: Jaron/Möhrmann/Müller (1986), S. 9697, im Folgenden als Baake (1889), S. 96: „Es war in der Hauptsache das alte Premierenpublikum Berlins, aus Börsianern, Rechtsanwälten, Assessoren, Lebemännern, Weibern der Bourgeoisie und der Halbwelt zusammengesetzt, das im Residenz-Theater zotige Possen und im Schauspielhause ehrwürdige Klassiker mit gleichem Vergnügen beklatscht. Es waren die Leute, die bei allem Neuen dabei sein müssen, weil es für gebildet gilt, alles Neue zu wissen, und die 30 oder 50 M., soviel kostet auf den ‚feineren‘ Plätzen der Mitgliedsbeitrag der ‚Freien Bühne‘, ruhig auf einem Brett für solchen Spaß bezahlen können. Als fremdartiger Zusatz saßen unter oder richtiger über diesem Publikum im zweiten Range junge Leute, Studenten, Schriftsteller, Maler und Schauspieler: Enthusiasten, verständige und unverständige, für die neue Kunstrichtung.“ 100 Über die Zuschauerschaft der ‚Freien Bühne‘ und die Mitgliedsbeiträge schreibt Jaron (1986) auf S. 22: „Ende Juni hatten etwa 350 Personen ihren Beitritt erklärt, bis Jahresende stieg die Zahl auf 900, bis Spielzeitende auf über 1.000. Hierbei handelte es sich durchaus nicht um das von den naturalistischen Autoren der 80er-Jahre intendierte, um ein kleinbürgerliches oder gar proletarisches Publikum. Die ‒ gestaffelten ‒ Mitgliedsbeiträge unterschieden sich nicht wesentlich von den Eintrittsgeldern der teuersten Berliner Theater für eine entsprechende Zahl von Vorstellungen.“ ‒ Einschätzungen zur Zusammensetzung der Mitgliederschaft der ‚Freien Bühne‘ finden sich auch bei Mendelssohn (1970), S. 95-97 und bei Machatzke/Requardt (1980), S. 149, die betonen, dass es „kaum einen Grund“ geben würde, „die Progressivität der Mitgliedschaft der ‚Freien Bühne‘ gesondert hervorzuheben.“ 101 Das zeigt sich mit Blick in den bereits angeführten Berliner Brief von Max Halbe, der darin auf zwei ganz unterschiedlich verlaufene Berliner Ibsenpremieren verwiesen hat: Die Frau vom Meere sei als eine „Schande“ verschrien, Die Stützen der Gesellschaft seien positiv aufgenommen worden. Neben den alten Premierengängern habe sich dort auch „eine sogenannte ‚Ibsengemeinde‘“ stimmgewaltig hervorgetan, „die bei allen Erstaufführungen Ibsenscher Stücke aufrückt“ und es darauf abgesehen habe, die „lauteren Meinungsäußerungen der Gegenpartei [zu] erstick[en]“, so Halbe (1889), S. 1183.

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September sichtbar geworden, als die ‚Freie Bühne‘ mit Gespenster eröffnet wurde und sich viele der „Vereinsgenossen im Theater“ ‒ sich „ihrer Abneigung gelegentlich entschlossen Luft“ machend ‒ als „Gegner des Dichters und seines Werks“ 102 entpuppt hatten. Dementsprechend machte sich Brahm auch über einen Vor Sonnenaufgang betreffenden Theaterskandal keine Illusionen. Nur wenige Stunden bevor sich der Vorhang heben sollte, schrieb er angesichts des „Wagnisses“ an Hauptmann: Was auch heute der Bildungspöbel über Sie verhängen mag, mir wird es stets ein Stolz sein, zur Darstellung dieses Stückes beigetragen zu haben; und ich vertraue, daß Sie diesen Kampfesstunden mit demselben Gefühl entgegengehen wie ich: daß nur das Publikum sich heute blamieren kann, nicht Sie und wir.103

Angesichts des vorausgeahnten Kampfes kam am frühen Sonntagnachmittag des 20. Oktobers dann eine durch den „Regiestift“104 Hans Meerys entschärfte Version des Dramas auf die Bühne des Lessingtheaters. Laut Schlenther ist es nicht nur von einigen „socialpolitischen und philantropischen“ Aussagen bereinigt zur Aufführung gelangt, darüber hinaus seien auch all diejenigen „Saft- und Kraftworte“ weggelassen worden, „die jenseits der Grenze dessen lagen, was auf der Bühne verträglich schien.“105 Den Skandal verhinderte diese auf das Unschickliche und Politische zielende Präventivzensur jedoch nicht. Nach einem relativ ruhig verlaufenden ersten Akt, wurden Teile des zweiten Aktes von der Mehrheit des Publikums als „ungewohnte Zumutung abgelehnt[.]“106 Im Besonderen stieß man sich am verwahrlosten Krause, der seine eigene Tochter bedrängte sowie auch an der Unterhaltung zwischen Frau Krause und ihrer Stieftochter, in der sich Helene für die Magd einsetzt, der, weil sie „[m]it´n Grußknecht zusoammagelahn hot“107, gekündigt werden soll; um das durchzusetzen droht sie die Beziehung ihrer Stiefmutter mit ihrem Verlobten (Wilhelm Kahl) bekannt zu machen. Das alles sorgte für lautstark artikulierte sittliche Empörung, die im später vielfach zitierten Entrüstungsausruf ‒ „Sind wir denn hier in einem Bordell?“108 ‒ des Arztes Isidor Kastan gipfelte, der daraufhin von anderen Zuschauern niedergezischt wurde. Von dem Moment an war eine „ordnungsgemäße Aufführung“ nicht mehr durchführbar, „Ruhe wurde zur Ausnahme[.]“109 Im dritten Akt sympathisierten viele Zuschauer dann mit Hoffmann, der seine Ablehnung des sozialreformerischen, über „Sitte und Moral hinweg[führenden]“110 Enthusiasmus Loths verkündet, für welchen sich dann wiederum die Minderheit im Publikum lautstark einsetzte. Als im fünften 102 Schlenther (1889a), S. 15, der ebd. betont hat, dass die Freie Bühne trotz der vielfachen Ablehnung „einen glückverheißenden Anfang gemacht“ habe. 103 Brahm, Otto: Brief an Gerhart Hauptmann, 19.10.1889. In: Brahm/Hauptmann: Briefwechsel, S. 97. 104 Schlenther (1889a), S. 21. 105 Ebd., S. 21-22. 106 Ebd., S. 24. 107 Hauptmann (1966), Vor Sonnenaufgang, S. 51. 108 Vgl. Baseler (1993), S. 85. 109 Baseler (1993), S. 85. 110 Hauptmann (1966), Vor Sonnenaufgang, S. 58.

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Akt, der „die meisten Zuschauer wieder abstieß 111, durch nervöses hin- und hergehen des Arztes angedeutet wurde, dass im Nebenraum Hoffmanns Frau ein Kind bekam ‒ das im Buch vorgesehene „Wimmern der Wöchnerin“112 war gestrichen worden ‒, holte Kastan eine Geburtszange hervor und wies mit ihr empört zur Bühne. Von den Empörungsschreien aufgebrachter Zuschauer begleitet, ging die Aufführung wenig später zu Ende. Was mag Dr. med Isidor Kastan bewogen haben, sich zu entrüsten? Er war praktischer Arzt in Berlin und sommers Badearzt in Bad Ems. Ab Mitte der 1870er-Jahre schrieb er für das innenpolitische Ressort des Berliner Tageblatts. Außerdem hat er eine, an ein bürgerliches Publikum adressierte, gesundheitspädagogische Schrift verfasst, in der er nicht nur auf die „Hygieine des Körpers“, sondern auch auf die „Hygieine des Geistes und des Gemüthes“113 eingegangen ist. Insbesondere hat er sich mit dem „schädlichen Einfluß einer ungesunden Lectüre“114 auf jugendliche Leser befasst, den die Eltern durch Kontrolle des Lesens, das nur im Wohnzimmer gestattet sein dürfe, unterbinden sollten: Zweifelsohne giebt es Miasmen, unter deren Einwirkung unsere Seele, unser Gemüth die erheblichsten Einbußen erfährt, und diese müssen mit ganz besonderer Sorgfalt von unseren Wohnzimmern ferngehalten werden. Gewisse Zeitströmungen begünstigen die Entwickelung solcher moralischer Miasmen, solcher moralischer Fäulnißerreger, und die Folgen machen sich denn auch wirklich rasch genug bemerkbar. Derartigen Zeitströmungen muß man nach Kräften entgegenwirken, und sobald in den gebildeten, wohlanständigen Bürgerhäusern die Hebel angesetzt werden, dann werden die angedeuteten Strömungen schon wieder in eine andere und gesündere Richtung abgelenkt werden. 115

Das Zitat veranschaulicht, wie Kastan durch die Verwendung teils veralteter (Miasma116) medizinwissenschaftlicher Begriffe die moralische Abwertung moderner literarischer Entwicklungen von einem vorgeblich modernen hygienischen Standpunkt aus vornahm. Von dort aus konnte er sein Vorgehen als einen gesundheitsprophylaktischen Kampf gegen moralisch verfaulte, ‚miasmaauströmende’ und damit auf jugendliche Gemüter sich schädlich auswirkende Lektüren ausweisen. Ziel seiner auch auf den Literaturkonsum bezogenen „Seelendiätetik“ war es, „in unserem bürgerlichen Wohnzimmer eine Pflegestätte zu bereiten“117. Sein Auftreten am 20. Oktober ließe sich damit als eine im repräsentativen Wohnzimmer der bürgerlichen Gesell-

111 Schlenther (1889a), S. 28. 112 Hauptmann (1966), Vor Sonnenaufgang, S. 86. 113 Kastan, Isidor: Gesundheitspflege in Haus und Schule. Ein Lesebuch. Berlin 1887, S. 249. Im Folgenden als Kastan (1887). 114 Ebd., S. 256. 115 Ebd., S. 251-252. 116 Im kulturellen Denken des späten 19. Jahrhunderts blieben veraltete ‚Miasma‘Vorstellungen aufgrund ihrer vielfältigen Symbolkraft aktiv, so Seitz, Anne: Wimmeln und Wabern. Ansteckung und Gesellschaft im französischen Roman des Naturalismus und Fin de siècle. Bielefeld 2015, S. 48. 117 Kastan (1887), S. 254.

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schaft ‒ dem Theater ‒ getätigte ärztliche Intervention und damit als symbolischen Akt öffentlicher Gesundheitspflege deuten. Wenige Wochen nach den Ereignissen im Lessingtheater hat Schlenther rückblickend zu erklären versucht, wieso die Stimmung so sehr hat eskalieren können. Anfangs sei es die Absicht der ordentlichen Mitglieder der ‚Freien Bühne‘ gewesen, „dem unbefangenen Urteil unsres Vereinspublicums etwas Unbekanntes und Ungeahntes“ darzubieten, betonte er: „allein es kam anders.“118 Schon vor der Uraufführung habe sich der „Ruf des Stückes“ rasant verbreitet, habe es „halb Berlin“ verschlungen gehabt und wäre bereits „in allen Kaffeehäusern und Bierstuben Gegenstand erbitterter Kämpfe“119 gewesen. Um die Situation zu veranschaulichen, fingierte er ein Stammtischgespräch, wie es in der Stadt zu hören gewesen sein mochte: „Das mußt Du lesen“, sagte Einer zum Andern; „Goethe und Schiller werden da Sch‒kerls genannt. Ein Bauernlümmel schleicht sich in der Morgendämmerung halb entkleidet aus dem Zimmer seiner Frau Nachbarin. Mehrmals kommt das Wort Dreck vor. Es ist unglaublich, lies es gleich morgen“! Und der Andre freut sich diebisch auf den schrecklichen Genuß. „Ja aber!“ warf ein Sanfter ein, „wie ist denn so was möglich?“ „Sehr einfach“, entgegnete ein Kunstfreund, „das Stück spielt nicht am Hofe eines sittenstrengen Königs, auch nicht im Salon einer feinen Dame, sondern auf einem schlesischen Dorfe unter verlotterter Landbevölkerung.“ „Warum muß aber auch ein Dramatiker auf die Dörfer gehn“, meinte ein scherzhaft Aufgelegter und lachte laut über diesen seinen Witz.120

Mit dieser Unterhaltung hat Schlenther zu suggerieren versucht, dass das Publikum am 20. nicht mehr unvoreingenommen gewesen sei und das Stück damit gar nicht mehr „ungestört durch die öffentliche Meinung“121 hätte gegeben werden können. Die Zuschauer seien von den Gesetzmäßigkeiten des Stammtischs beeinflusst gewesen, wo weniger „dichterische[r] Wert“ als vielmehr „naturalistischer Inhalt“ 122 von Interesse wäre. Jener Logik entsprechend hat sich der Skandal dann an dem „schrecklichen Genuß“ auslösenden naturalistischen Dreck des Stückes entzündet und schließlich verselbständigt. Der Erklärungsversuch Schlenthers basierte allerdings auf Übertreibungen. Tatsächlich sind bis zur Uraufführung nicht mehr als tausend Exemplare von Vor Sonnenaufgang verkauft worden.123 Selbst wenn man davon ausgeht, dass manch ein Büchlein von Hand zu Hand gewandert ist, dürfte das Drama vor der Aufführung kaum zum Stadtgespräch Berlins geworden sein. Dass es in kulturversierteren Kreisen der Hauptstadt bereits einige Leser gefunden und für Gesprächsstoff gesorgt ha118 119 120 121 122 123

Schlenther (1889a), S. 22. Ebd. Ebd., S. 22-23. Ebd., S. 22. Ebd.. Diese Annahme bezieht sich auf die Angaben zu den Verkaufs- und Auflagenhöhen bei Baseler (1993), S. 91, der darauf verweist, dass erst acht Tage nach der Premiere ein Vertrag zwischen Ackermann und Hauptmann über die zweite und dritte Auflage, also über zweitausend weitere Exemplare von Vor Sonnenaufgang geschlossen worden ist, die dann innerhalb weniger Wochen ausverkauft waren.

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ben mag, ist allerdings wahrscheinlich. Dass gerüchteweise etwas von den abweichenden Meinungen zweier literarischer „Autoritäten“ durchgesickert war ‒ „Theodor Fontane, der Dichter der Irrungen und Wirrungen, sei entzückt, Paul Heyse entsetzt!“124 ‒, mag ebenfalls gestimmt haben. Insofern mögen viele Zuschauer tatsächlich voreingenommen gewesen, die Publikumsreaktionen nicht spontan geäußert worden und die Hemmschwelle der Empörung niedriger gewesen sein. Ob ein unbefangeneres Publikum jedoch geschlossen die Qualität von Vor Sonnenaufgang anerkannt hätte, ist unwahrscheinlich, ob der Tumult abgemildeter ausgefallen wäre, bleibt spekulativ. Jedenfalls hat Schlenther mit seinem fingierten Szenario unterschlagen, dass der „dichterische Wert“ eines Kunstwerks dem traditionellen ästhetischen Verständnis nach grundsätzlich von der Abwesenheit ‚unverklärter‘ naturalistischer Inhaltsstoffe abhing. Die Rezeption eines naturalistischen Dramas wie Vor Sonnenaufgang erforderte dagegen ein genuin modernes Ästhetikverständnis, welches Qualität unabhängig von den ‚unreinen‘ Inhalten bemisst. Insofern lag den Auseinandersetzungen der Konflikt zweier ästhetischer Richtungen zugrunde, deren Grundprämissen unvereinbar waren; die Ereignisse allein mit Stammtischgesetzmäßigkeiten erklären zu wollen, greift zu kurz. Vielmehr brach die Aufführung tatsächlich mit den Sehgewohnheiten der Theaterzuschauer, denen die Differenz zwischen politisch, ästhetisch und moralisch bereinigtem traditionellem und modernem Theater klar vor Augen geführt wurde. Das ‚Schmutzige‘ in Vor Sonnenaufgang, d.h. all das von Schlenther angeführte Zotige, Dreckige, Unsittliche und Verlotterte, das auf den deutschen Bühnen bis dahin nicht dargestellt werden durfte, symbolisierte diese Differenz. Dass die einer traditionellen, an politischen und sittlichen Konventionen gebundene Theaterästhetik anhängende Mehrheit des Publikums ihn als ein provozierendes, die Überschreitung der Grenze des guten Geschmacks markierendes, Empörung rechtfertigendes Skandalon empfunden hat, ist vor dem Hintergrund wenig überraschend. Freilich machten erst die Theaterkritiker aus dem Skandalon einen medial inszenierten Skandal125, dessen Brisanz nur dann zu erahnen ist, wenn man sich die Be124 Schlenther (1889a), S. 22. – Tatsächlich ist Fontane einer der ersten Leser gewesen und hat sich bei Otto Brahm persönlich für eine Inszenierung eingesetzt, der sich zu dem Zeitpunkt aber bereits dazu entschlossen hatte, Vgl. Baseler (1993), S. 78-80. Auch Paul Heyse hat Vor Sonnenaufgang bereits am 26. August gelesen und bezeichnete es abwertend als „ein unerhört naturalistisches Stück“, siehe Heyse, Paul: Brief an Wilhelm Petersen, 26.08.1889. In: Hillenbrand, Rainer (Hg.): Briefe an Wilhelm Petersen. Mit Heyses Briefen an Anna Petersen, vier Briefen Petersens an Heyse und einigen ergänzenden Schreiben aus dem Familienkreise. Frankfurt am Main 1998, S. 416. ‒ Fontane gegenüber gestand Heyse, dass er angesichts der naturalistischen Literatenopposition gänzlich anderer Meinung war, als sein Kollege: „Ich sehe das Treiben nur darum mit einiger Betrübnis mit an, weil mich der erschreckende Mangel an Talenten, an hoffnungsvollem Nachwuchs befremdet. Im übrigen möchte sich der Most so absurd geben, wie er wollte; aus gegorenem Essig ward aber nimmermehr ein Wein.“ Siehe Heyse, Paul: Brief an Theodor Fontane, 12.12.1889. In: Petzet, Erich (Hg.): Der Briefwechsel von Theodor Fontane und Paul Heyse 1850‒1897. Berlin 1929, S. 192. 125 „Erst wenn man Literatur aus dem Zirkel der Eingeweihten heraus nimmt, sie öffentlich macht und jedem den Zugang zur Kunst faktisch ermöglicht, entsteht der öffentliche

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deutung des Theaters in der Wilhelminischen Gesellschaft vor Augen führt. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war es „(noch immer) das einzige Instrument, bewegte und bewegende Bilder zu schaffen“126 und somit von großem öffentlichem Interesse. Für die kulturinteressierte Öffentlichkeit waren vor allem die auf den großen Bühnen stattfindenden und hernach von der Theaterkritik besprochenen Premieren gesellschaftliche Ereignisse von hohem symbolischem Wert. Einer „Öffnung ins öffentliche Bewusstsein“ gleichkommend, war eine Uraufführung gewissermaßen eine dem Buch nachfolgende „zweite Veröffentlichung“127 eines Werks, der ein noch größerer Signalcharakter zukam. Die sich auf die jeweilige Bühnenhandlung beziehenden Publikumsreaktionen und die späteren Theaterkritiken, in denen neben der Bühnenhandlung die Publikumsreaktionen gewissermaßen als Schauspiele zweiter Ordnung mitverhandelt wurden, waren Definitionskämpfe, in denen die Öffentlichkeit sich über Strukturen, Grenzen und Entwicklungsmöglichkeiten des ästhetischen Diskurses verständigte. Und der Skandal um Vor Sonnenaufgang, wie er in den Tagen nach der Uraufführung in den Zeitungen und Zeitschriften tobte128, war insofern ein ganz besonderer Definitionskampf, da mit ihm erstmals einer großen Öffentlichkeit die Unvereinbarkeit zwischen traditionellem und modernem Kunstverständnis klar vor Augen trat.

7.5 DAS MEDIALE ECHO Die Uraufführung von Vor Sonnenaufgang wurde in vielen der darauf Bezug nehmenden Pressestimmen mit Schmutz in Verbindung gebracht, so dass es berechtigt ist, von einem medial vermittelten ‚Schmutzskandal‘ zu sprechen. Wie sich das mediale Echo in der Bewertung der Geschehnisse im Lessingtheater aufspaltete, beleuchten die folgenden beiden Abschnitte. 7.5.1 Die Abscheu vor dem Düngergeruch: Stimmen der Gegner Die erste Besprechung, die in einem hohen Maße durch Vorstellungen von Reinheit und ihre Opposition zum Schmutz geprägt war, ist von Isidor Landau „mit ehrlich

Skandal. Damit aber hängt es von dieser Öffentlichkeit ab, ob etwas Skandal wird oder nicht. Organ dieser Öffentlichkeit ist die Presse ‒ die aus dem Skandalon den Skandal macht“, so Ladenthin, Volker: Literatur als Skandal. In: Holzner, Johann u. Neuhaus, Stefan (Hgg.): Literatur als Skandal. Fälle, Funktionen, Folgen. Göttingen 2007, S. 19-28, S. 23. Im Folgenden als Ladenthin (2007). ‒ Ein wissenssoziologisches Theoriemodell zur Beschreibung des typischen Ablaufs und zur Funktion von Skandalen in der modernen Mediengesellschaft liefert Burkhardt, Steffen: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln 2006. ‒ Vgl. außerdem Neuhaus, Stefan: Wie man Skandale macht. Akteure, Profiteure und Verlierer im Literaturbetrieb. In: Matthias Freise u. Claudia Stockinger (Hgg.): Wertung und Kanon. Heidelberg 2010, S. 29-41. 126 Rühle (2007), S. 34. 127 Ebd. 128 Zur medialen Rezeption der Uraufführung vgl. Baseler (1993), S. 85-129.

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eingestandenem Abscheu gegen das Werk“129 verfasst worden. Sie erschien noch am Tag der Erstaufführung in der Abendausgabe des Berliner Börsen-Couriers. Gleich zweimal den Superlativ bemühend, bezeichnete der Kritiker Vor Sonnenaufgang kurzerhand als „das Abstoßendste […], was je auf einer deutschen Bühne erschien, das Abstoßendste, das eine geübte Realisten-Phantasie ersinnen“130 konnte. Mit seiner „schnapsduftenden Säufergeschichte“ habe sich Hauptmann an für die Literatur gänzlich „unwürdigen Stoffen versucht.“131 Dabei zeigte sich Landau überrascht, dass der Verfasser auf „unsaubere[m] Terrain“ und inmitten einer „unsauberen Gesellschaft“ durchaus „Beobachtungs- und Schilderungs-Talent“132 bewiesen habe, welches er seiner Meinung nach lieber an weniger schmutzigen Themen hätte erproben sollen. Als guter Literat könne sich Hauptmann nämlich nur dann beweisen, wenn er sich von den am Wahrheitsbegriff orientierten ästhetischen Vorstellungen der Naturalisten emanzipieren würde, die letztlich auf eine Umkehrung der normativen Gesetzmäßigkeiten der traditionellen idealistischen Ästhetik hinausliefen: „Schön ist häßlich, häßlich ist schön“, diese Offenbarung der Macbeth-Hexen ist die ganze Aesthetik der neuesten Quacksalber, die aus widrigen Ingredienzien Heiltränke für die kranke Literatur brauen wollen. Rosen und Vergißmeinicht sind nichts, sind Ideal-Lügen. Aus Rattenzahn und Molchszunge wird nun die Nahrung für die Bühne und ihre Gemeinde bereitet. Ihr wollt das Leben schildern, ihr Poeten, und führt uns in einen Salon? in eine bürgerliche Stube? Pfui über euch, ihr Lügner. Als ob es in der Welt einen Salon gäbe, eine bürgerliche Stube! Der Misthaufen, der ist wahr, der ist die Welt, erschließt uns den Stall und ihr seid Schrift-ställer. Das ist die Heilslehre der Realisten. Unter dem Schlachtruf „Wahrheit“ wird ein Chimborasso von Phantasterei und Lüge aufgerichtet, aber es ist die Uebertreibung des Häßlichen, also ist´s die alleinseligmachende, neue, die echte Poesie.133

Hauptmanns Drama habe eindeutig bewiesen, dass die Wahrheit des Misthaufens bloß auf Übertreibungen basiere und damit „falsch ist“; es reiche nicht aus, bloß „anwidernde Gegenstände zu discutiren […], um die blanke Lebenswahrheit zu treffen“134, so Landau. Sowohl auf die dem antiken Gott der Künste Apollo geweihte, Reinheit und künstlerische Inspiration symbolisierende Kastalische Quelle 135, als auch auf das Goethegedicht Der Zauberlehrling anspielend, schrieb Landau, dass die für die Aufführung Verantwortlichen ihrem „Hexenmeister“ Ibsen nachfolgende „Zauberlehrlinge“ wären, die „mit dem unsauberen Wasser aus dem neuesten kastalischen 129 Landau, Isidor: Vor den Coulissen. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 533 (Abendausgabe vom 20. Oktober 1889). In: Jaron/Möhrmann/Müller (1986), S. 87-91, S. 88. Im Folgenden als Landau (1889). 130 Ebd. 131 Ebd., S. 89 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Ebd., S. 90. 135 Zur Symbolik der Kastalischen Quelle vgl. Daverio-Rocchi, Giovanna: [Art.] Kastalia. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 6. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Stuttgart 1999, Sp. 322-323.

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Schlammquell der Realisten“ die Bühne „überschwemm[t]“136 hätten. Damit hat er sie für die Verunreinigung und Entweihung des Theaters verantwortlich gemacht und ihnen hinsichtlich der Frage, wie „die Geister, die sie riefen, wieder loszuwerden“137 wären, Unwissenheit bescheinigt. Es war ein Katastrophenszenario, das Landau damit zeichnete. Der Schmutz ‒ einmal auf die Bühne gelangt ‒ drohte außer Kontrolle zu geraten und die schöne Kunst zu verdrängen. Dass eine solche Zukunft mehrheitlich nicht gewünscht wäre, hätten die Publikumsreaktionen gezeigt, die Landau als interne Vereinsabstimmungen wertete. Zwar wären die „Getreuen“ des Vereinsvorstands „mit einem geradezu fanatischen Eifer“ darum bemüht gewesen, „durch jubelnde Rufe und schallenden Applaus“ Stimmung für das Stück zu machen, letztlich hätten sie sich aber nicht gegen die Mehrheit durchsetzen können, die sich an „der Widerwärtigkeit des aufgeführten Werkes“ gestört und sich mit „Aeußerungen des Ekels und des Abscheus“138 gewehrt habe. Aufgrund jenes eindeutig zu ihren Ungunsten ausgefallenen Votums hoffte Landau, dass die Naturalisten inklusive Hauptmann durch die Veranstaltung dazu motiviert worden seien, sich neu auszurichten, um „durch die jetzige wilde Gährung“ doch noch „zu schöner Klärung [zu] gelangen[.]“139 Im Berliner Tageblatt beurteilte Paul Lindau die Aufführung tags darauf ebenfalls als eine Niederlage der Naturalisten. Zwar sprach auch er dem Drama eine „Echtheit in der Beobachtung und Schilderung“ und Hauptmann eine „Keckheit in der Aufgreifung des Ekelhaften und Widerwärtigen“ zu, „die in ihrer Weise bedeutend genannt werden“140 müssten. Das allerdings wären keine Qualitätsmerkmale guter Literatur, die sich auch dann an ästhetischen und moralischen Kategorien zu messen habe, wenn sie auf Darstellung der Wahrheit abzielte. Ein Künstler dürfe in seinem „Schaffen der Mitwirkung jener ethischen Kraft, die nach den sokratischen Begriffen in der Verbindung des moralisch Schönen und Guten besteht, der ‚Kalokagathie‘, dessen also, was schön-gut oder gut-edel ist, nicht entbehren[.]“141 Vor dem Hintergrund wandte sich Lindau pauschal gegen die Jüngeren, die sich an der Wahrheit orientieren würden, jedoch „das Schöne und Gute nur im Gegensatze zur Wahrheit zu denken vermögen.“142 Mithin gäbe es zwei konträre Grundauffassungen deren Unvereinbarkeit mit Blick auf den Stellenwert des Schmutzes in der Literatur deutlich zutage träte: „Ist nur das Häßliche, das Ekelhafte wahr? Nur der Unrath, die Jauche, die Kloake? Ist alles andere Lug und Trug, feige Beschönigung und jämmerliche Schminke?“143 Während die Naturalisten die gestellten Fragen bejahen würden, verneinte Lindau sie: „Da stehen wir eben am Scheidewege.“ 144 Von seinem Standpunkt 136 137 138 139 140

141 142 143 144

Landau (1889), S. 90. Ebd. Ebd. Ebd., S. 91. Lindau, Paul: Berliner Tageblatt, Nr. 533 (21. Oktober 1889). In: Fels, Edgar: Die naturalistischen Dramen des jungen Gerhart Hauptmann. Presseurteile zu den Uraufführungen, Bd. 2. [Mag.] Bielefeld 1988, S. 5-9, S. 5. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd., S. 8. Ebd.

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aus befand er, dass Hauptmanns Drama „im Großen und Ganzen einfach ekelhaft“145 sei. Die gute Literatur ausmachende „Verbindung des moralisch Schönen und Guten“146 wurde seinem Verständnis nach durch Reinlichkeit symbolisiert. Sympathie brachte Lindau demzufolge einzig für die Figur der „in einer anständigen Erziehungsanstalt unter den Bedingungen gewöhnlicher Sauberkeit“ herangewachsenen Helene auf, die gegenüber ihrer Familie verständlicherweise „Ekel und Abscheu“147 empfände. Auf der Handlungsebene hatten ihn bloß die Liebesszene zwischen ihr und Loth überzeugt, der er „Innigkeit, Reinheit und Wärme“ 148 bescheinigte. Die wenigen positiven Aspekte wurden Lindaus Meinung nach allerdings durch das Schmutzige überblendet, dessen Präsenz auf der Bühne er als „widerwärtig!“ 149 empfunden habe. Die prononciert artikulierte Abscheu diente dem Kritiker als hinreichende Begründung, sich nicht eindringlicher mit den Gegenständen seiner Kritik befassen zu müssen. Dementsprechend wies er nicht auf konkrete Inhalte, sondern auf die diversen metaphorischen Gerüche hin, die im Lessingtheater von der unsauberen Bühnenhandlung ausgegangen wären und naturgemäß Abscheu erregt hätten: Mit dem Fuseldunste, der aus der nahen Schänke in das Bauernhaus herüberdringt und alle Räume ganz erfüllt, verschwistern sich die Gerüche des Düngers aus dem Kuhstalle, des Kammillenthees aus dem Zimmer der Wöchnerin und des Chlors und Karbols, die man für die eingesargte Kindesleiche verwenden wird.150

Statt sich abzuwenden, hätten manche „überfeinerten Großstädter“ sogar Gefallen an den erwähnten Gerüchen gefunden; für sie habe sich die ‚Freie Bühne‘ als „über aus sinnreiche Einrichtung“ erwiesen, die ihnen „die Sonntage angenehm durchzuekeln“151 gestattete, beschied Lindau ironisch. Die Ekelreaktion diente ihm damit nicht nur der Ablehnung des Stückes selbst, sondern außerdem der moralischen Diskreditierung der Anhänger moderner Kunst. Auch andere Kritiker stellten wie Landau und Lindau die Aufführung von Vor Sonnenaufgang als eine ekelerregende Verunreinigung des Theaters dar. Dabei gaben sich die Autoren Mühe, die metaphorische Materialisierung des Schmutzes in ihren Artikeln möglichst ausdrucksstark zu beschreiben. Auf der Bühne habe sich „der reinste Schmutz“ materialisiert und „fußtief waten wir das ganze Stück darin herum“152, wusste der Reichsbote zu berichten. In der National-Zeitung bezeichnete Karl Frenzel die „Versündigung[en] gegen Sitte, Gefühl und Geschmack“ als 145 146 147 148 149 150 151 152

Ebd. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd. Ebd., S. 7. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. K.: Ein neues realistisches Drama. In: Der Reichsbote, Nr. 250 (25. Oktober 1889), 1. Beilage. In: Zeller, Bernhard: Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Eine Gedächtnisausstellung des Deutschen Literaturarchivs zum 100. Geburtstag des Dichters im SchillerNationalmuseum Marbach a.N. vom 13. Mai bis 31. Oktober 1962. Stuttgart 1962, S. 56.

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„Unfläthigkeiten“ und weigerte sich kurzerhand, „in das Einzelne einzugehen und den Unrath weiterzutragen.“153 Auch das Kleine Journal hob die vermeintliche Materialität des Schmutzes hervor: „Das Unsauberste und Ekelhafteste, das Unheiligste und Unkeuscheste wird da auf die Bühne gezerrt.“ 154 Auch wenn das Dargestellte wahr wäre, habe Hauptmann einseitig bloß „die cloaca maxima des menschlichen Lebens nach allem Unrath durch[stöbert], nach allem Kehricht durch[wühlt] und diesen wohlgefällig aus[gebreitet]“; dabei habe er „Miasmen ausströmende“ 155 unreine Stoffe aufs Theater gebracht. Statt einen „erziehlichen Zweck“156 zu erfüllen, wie man es im Kleinen Journal von Dramen erwartete, wurde Vor Sonnenaufgang eine Ansteckungskraft zugesprochen. Damit wurde der ‒ gegen die „unsre Schauspielhäuser zu Matrosenkneipen“ degradierende „Schamlosigkeit“157 des Stückes ausgerufene ‒ Kampf für eine moralisch saubere Literatur mit hygienischen Vorzeichen geführt. Erst die metaphorische Verdichtung und Materialisierung des Schmutzes erlaubte die Übertragung hygienischer Diskurslogik auf das literarische Feld. 7.5.2 Differenziertere Bewertungen und kritische Stimmen gegen die inszenierte Abscheu der Empörten Während die Gegner die vermeintliche Präsenz (vor allem) des (unsittlichen) Schmutzes auf der Bühne als einen klaren Verstoß gegen die Regeln der Kunst und des guten Geschmacks werteten und sich mit ihren Invektiven nicht zurückhielten, versuchten Befürworter und um differenzierte Urteile bemühte Kritiker Hauptmanns Drama vor pauschaler Verurteilung in Schutz zu nehmen. Dazu plädierten sie für eine von Schicklichkeits- und Sittlichkeitserwägungen emanzipierte, rein ästhetische Beurteilung. So meldete sich in der Nation Otto Brahm gegen „die erbitterten publizistischen Vertreter der Alten“ zu Wort, deren auf „stofflichen Sympathien und Antipathien“ beruhenden „moralischen Entrüstungen“158 er den Status ästhetischer Werturteile absprach. Indem sie das Dargestellte mit der Idee bzw. der Tendenz eines Kunstwerks verwechselten und von Figuren geäußerte Anschauungen mit den Anschauungen des Verfassers gleichsetzten, wies er den auf identifikatorische Lektüren

153 Frenzel, Karl: Freie Bühne. In: National-Zeitung, Nr. 575 (Abendausgabe vom 21. Oktober 1889). In: Jaron/Möhrmann/Müller (1986), S. 91-93. 154 Anon.: Verein „Freie Bühne“ im Lessing-Theater. In: Kleines Journal, Nr. 289 (21. Oktober 1889). In: Baseler (1993), S. 103. 155 Ebd. 156 Ebd. 157 Ebd. 158 Brahm, Otto: Lindau: Der Schatten (Deutsches Theater); Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (Freie Bühne). In: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirthschaft und Litteratur 7 (1889/1890), S. 58-60. In: Ders.: Kritiken und Essays. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Fritz Martini. Stuttgart 1964, S. 295-302, S. 300. Im Folgenden als Brahm (1889/1890).

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trainierten „Kunstphilister[n]“ Kategorienfehler159 nach und überantwortete sie dem „Gesindetisch der Kritik“160. Dass „sittliche Maßstäbe“ bei der Beurteilung von Kunstwerken gänzlich irrelevant bleiben müssten, war auch die Ansicht Maximilian Hardens (Gegenwart), der sich vor dem Hintergrund gegen die moralisch sich empörenden Kritiker aussprach, welche „widrige Dünste und Düfte“ anklagen und damit „das alte Märchen von den ‚Schmutzmalern‘ und der ‚Kothliteratur‘“161 weiterspinnen würden. Dieser Standpunkt hielt ihn übrigens nicht davon ab, ästhetisch argumentierend Kritik an der seiner Meinung nach übertriebenen Realitätsdarstellung in Vor Sonnenaufgang zu äußern, wo „nur Gewohnheitssäufer, Cretins und Dirnen“162 gezeigt würden. Gegenteilig fiel die im sozialdemokratischen Berliner Volksblatt abgedruckte Bewertung von Kurt Baake aus, der lobte, dass in Deutschland erstmalig „Menschen von Fleisch und Blut“ auf die Bühne gebracht worden wären, „bei denen jeder Zug mit erstaunlicher Genauigkeit getroffen ist. Diese Menschen sind die schlesischen Bauern und Bäuerinnen, sind die Knechte und Mägde, die Armen und Elenden des platten Landes.“163 Allerdings kritisierte Baake die Figur des Loth, dessen Entscheidung gegen eine Zukunft mit Helene er als unbegreiflich erachtete. Auch Theodor Fontane hat sich in einem am 21. und 22. Oktober in der Vossischen Zeitung veröffentlichten Artikel in die Debatte eingeschaltet.164 Im September noch hatte sich der Neunundsechzigjährige in einem Brief an Hauptmann festgelegt, bezüglich Vor Sonnenaufgang nicht mehr „in die Arena niedersteigen und mich an den Streitigkeiten, Verherrlichungen und Totmachungen des Tages beteiligen“ 165 zu wollen. Als er etwas mehr als einen Monat später ahnte, dass die zwei Tage später stattfindende Uraufführung, welcher er beizuwohnen beabsichtigte, „wütende Kämpfe im Geleite haben wird“166, hatte er seinen Neutralitätsvorsatz bereits wieder ad acta gelegt. Als Befürworter der Aufführung werde ihm die Rolle eines Bannerträgers,

159 „Skandale entstehen oft aus Kategoriefehlern [sic] beim Publikum. Sie verwechseln Fiktion mit Wirklichkeit, eine ästhetische Darstellung mit einer Meinung. Sie beurteilen, was ästhetisch gemeint ist, moralisch“, schreibt Ladenthin (2007), S. 26. 160 Brahm (1889/1890), S. 302. 161 Harden, Maximilian: Dramatische Aufführungen. In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben 1889, Bd. 36, Nr. 43 (26. Oktober), S. 269-271. In: Jaron/Möhrmann/Müller (1986), S. 97-99, S. 97. 162 Ebd., S. 98. 163 Baake (1889), S. 96. Zu den Menschen von Fleisch und Blut“ vgl. Fußnote 140 in Kap. 6. 164 Zu Fontanes Rolle als Theaterkritiker und auch zu seiner ambivalenten Haltung zum Naturalismus vgl. Stüssel, Kerstin: Fontanes Theaterkritik. Ansätze zu einer kommunikations- und mediengeschichtlichen Analyse. In: Nickel, Gunther (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Theaterkritik. Tübingen 2007, S. 167-184. 165 Fontane, Theodor: Brief an Gerhart Hauptmann, 08.09.1889. In: Hauptmann: Notiz-Kalender, S. 169-170, S. 170. 166 Fontane, Theodor(Vater): Brief an Theodor Fontane (Sohn), 19.10.1889. In: Fontane, Theodor: Werke, Schriften und Briefe, Abt. IV, Bd. 3 (Briefe). Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1980, S. 730-731, S. 731. Im Folgenden als Fontane: Briefe.

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eines „Gonfaloniere der ‚Neuen‘“167 zukommen, schrieb er in einem Brief an seinen Sohn. Friedrich Stephany, dem Chefredakteur der Vossischen, schrieb er zur Beruhigung, dass er ausgewogen urteilen, sich „sehr manierlich ausdrücken und allen Radau vermeiden“ wolle, „weil ich durchaus nicht so stehe, daß ich wünschen könnte, die nächste Generation mit lauter Gerhart Hauptmannschen Schnapstragödien oder dem Ähnlichen beglückt zu sehen.“168 Dementsprechend leitete er den betreffenden Artikel mit einer betont differenzierten Einschätzung ein: Nur wer den Mut hat, frisch, fromm, fröhlich und frei rundweg zu verabscheuen oder rundweg in den Himmel zu heben, dem wird auch dies G. Hauptmannsche Drama kein Kopfzerbrechen machen; wer diesen Mut aber nicht hat, vielmehr sich mit jeder neuen Szene vor immer neue Fragen gestellt sieht, der wird […] einen schweren Schreibetag haben.169

Das Drama selbst hat Fontane ausnahmslos positiv bewertet. In verschiedenen in den Wochen zuvor verfassten Briefen hatte er Vor Sonnenaufgang bereits als konsequent, klar und knapp komponiertes, hervorragendes Werk gelobt, dessen Lektüre ihn „ganz benommen“170 gemacht habe. Hauptmann hätte darin das Leben „in seinem vollen Graus“ wiedergegeben, wobei sich aber „ein Maß von Kunst“ gezeigt habe, „wie´s nicht größer gedacht werden kann.“171 Dies privat geäußerte Urteil führte er in seinem Artikel näher aus, wobei er den „Ton“, in dem die „gruslige Geschichte“ gehalten ist, als sein Hauptkriterium literarischer Qualität anführte: Ergreift er mich, ist er so mächtig, daß er mich über Schwächen und Unvollkommenheiten, ja selbst über Ridikülismen hinwegsehen läßt, so hat ein Dichter zu mir gesprochen, ein wirklicher, der ohne Reinheit der Anschauung nicht bestehen kann und diese dadurch am besten bekundet, daß er den Wirklichkeiten ihr Recht und zugleich auch ihren rechten Namen gibt. Bleibt diese Wirkung aus, übt der Ton nicht seine heiligende, seine rettende Macht, verklärt er nicht das Häßliche, so hat der Dichter verspielt, entweder weil seine Gründe doch nicht rein genug waren und ihm die Lüge oder zum mindesten die Phrase im Herzen saß, oder weil ihn die Kraft im Stich ließ und ihn sein Werk in einem unglücklichen Momente beginnen ließ. Ist das letztere der Fall, so wird er´s beim nächsten Male besser machen, ist es das erstere, so tut er gut, sich „anderen Sphären reiner Tätigkeit“ zuzuwenden. Gerhart Hauptmann aber darf aushalten auf dem Felde, das er gewählt, und er wird aushalten, denn er hat nicht bloß den rechten Ton, er hat auch den rechten Mut, und zu dem rechten Mute die rechte Kunst. Es ist töricht, in

167 Ebd. 168 Fontane, Theodor: Brief an Friedrich Stephany, 10.10.1889. In: Fontane: Briefe, S. 729. 169 Fontane, Theodor: Freie Bühne. In: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staatsund gelehrten Sachen. Vossische Zeitung, Nr. 492 (Abendausgabe vom 21. Oktober 1889); Nr. 493 (Morgenausgabe vom 22. Oktober 1889). In: Ders.: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Bd. 2 (Theaterkritiken). Hg. von Siegmar Gerndt. Darmstadt 1969, S. 817824, S. 817. Im Folgenden als Fontane (1889). 170 Fontane, Theodor: Brief an Hauptmann, 08.09.1889. In: Hauptmann: Notiz-Kalender, S. 169. 171 Ders.: Brief an Martha Fontane, 14.09.1889. In: Fontane: Briefe, S. 725-726, S. 726.

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naturalistischen Derbheiten immer Kunstlosigkeit zu vermuten. Im Gegenteil, richtig angewandt (worüber denn freilich zu streiten bleibt) sind sie ein Beweis höchster Kunst.172

Der Ton müsse den Inhalt verklären: Fontane hat seine positive Einschätzung von Vor Sonnenaufgang durchaus im Sinne einer idealrealistischen, am Prinzip der Verklärung ausgerichteten Ästhetik begründet.173 Die Frage nach der Darstellbarkeit unverklärter Wirklichkeitsaspekte hat er produktionsästhetisch von der Art und Weise ihrer künstlerischen Gestaltung und damit zusammenhängend von den gestalterischen Fähigkeiten ihres Verfassers abhängig gemacht. Insoweit Hauptmann als ein mit reinen Anschauungen begabter Dichter den richtigen Ton getroffen habe, habe er selbst die derben, ridikülen und hässlichen Inhalte verklären können. Selbst eine „Häufung von Entsetzlichkeiten“174, wie Fontane sie Vor Sonnenaufgang bescheinigte, war für ihn kein hinreichender Grund, dem Drama den künstlerischen Wert abzusprechen. Weniger Lob ließ Fontane der Aufführung zuteilwerden, deren „Wirkung […] eine von der Lektüre sehr verschiedene“175 gewesen sei. Quasi herkömmliche Szenen hätten bedeutend gewirkt, während Teile, von denen er sich eine „kunstrevolutionäre Wirkung“ versprochen hatte, „spurlos“ an ihm vorübergezogen wären, woraus er folgerte, dass Theateraufführungen eigentümlichen „Bühnengesetzen unterworfen“ 176 blieben: „Züge lebendigen Lebens, die dem realistischen Roman, auch wenn sie häßlich sind, zur Zierde gereichen“, wirkten auf der Bühne „abstoßend“; das „Widerliche“ rücke, „mit vielleicht sehr bedenklichen Folgen für den Ausgang des Stücks“ 177 allzu sehr in den Vordergrund. Eine Abschwächung der „Brutalitäts-Elemente“178 werde notwendig, wirke aber prosaisch. Im Fall von Vor Sonnenaufgang sei eben das der Fall gewesen. Damit wichen Fontanes Einschätzungen klar von denjenigen der Gegner ab, die der Aufführung ja eine abscheuliche Wirkung zugesprochen und damit ihre Ablehnung begründet hatten. Aus einem Brief an Stephany geht hervor, dass er deren Reaktionen nicht nachvollziehen konnte. Ihre bloß auf den Schmutz fokussierten Kritiken seien demnach eigentlich „gar keine Kritiken“179 gewesen: „Das alles sind Schimpfereien und Ulkereien, als Ulke zum Teil sehr gut, aber, auf das Eigentlichste angesehn, oberflächlich und böswillig, entweder ohne jedes wahre Kunstverständnis geschrieben oder unter Zurückdrängung aller besseren Einsicht.“180 Nichtsdestotrotz zeigt Fontanes Artikel aber, dass auch er für das Theater an einer wirkungsästhetisch begründeten Grenze des Darstellbaren festhielt, aufgrund derer allzu

172 Fontane (1889), S. 819-820. 173 Der programmatische Realist Moriz Carrière sprach dagegen von einer „Mistjauche“, die den Zuschauern im Lessingtheater angeboten worden wäre. In: Baseler (1993), S. 104. 174 Fontane (1889), S. 821. 175 Ebd., S. 820-821. 176 Ebd., S. 821-822. 177 Ebd. 178 Ebd., S. 821. 179 Fontane, Theodor: Brief an Friedrich Stephany, 22.10.1889. In: Fontane: Briefe, S. 731732. 180 Ebd.

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brutale und hässliche und darum unverklärbare Realitäten ausgeblendet werden müssten. Über jene „Grenze des Widerwärtigen […], bis zu welcher ein Bühnenschriftsteller sich versteigen“ dürfe, hat sich auch K. Erdmann im Kunstwart Gedanken gemacht, anders als Fontane aber betont, dass sie seiner Ansicht nach tatsächlich „überschritten“181 worden wäre. In seiner Kritik wies auch er auf den wirkungsästhetischen Unterschied zwischen Buch- und Bühnendrama hin: Was uns allen in abstracto bekannt ist, worüber wir in allgemeinen und verwaschenen Ausdrücken reden, was wir uns im Roman in eingehender Schilderung gefallen lassen, wirkt auf der Bühne wie etwas Neues, Schreckhaftes, Unerhörtes. An die Behandlung des Ehebruchs im Drama, nicht aber an die anschauliche Vorführung sind wir gewöhnt. Wenn wir den halbbekleideten Liebhaber geraden Wegs vom ehebrecherischen Lager weg über den Hof schleichen sehen, dann wird nicht allein das Gefühl moralischer Entrüstung erzeugt, worauf es hier ankommt, sondern das Gefühl des Ekels wird zu übermäßiger Höhe gesteigert und bei gar vielen das Gefühl verletzter landläufiger Schamhaftigkeit erregt.182

Insofern wandte er gegen Hauptmann ein, dass dieser „die Wirksamkeit“ einiger Szenen tatsächlich „falsch beurteilt“183 habe. Obszönitäten auf der Bühne dargestellt zu sehen, war für Erdmann widerwärtig und nicht mehr mit Kunst vereinbar. Allerdings kritisierte er jene Zuschauer, die in der „Darstellung des Widerwärtigen und der Häufung von Gräßlichkeiten das eigentliche Wesen des Stückes“184 gesehen und es darum niedergemacht, dagegen die in der realistischen Wirklichkeitsschilderung und der Sprache liegenden Stärken übersehen hätten. Erdmann wandte sich allerdings nicht nur gegen die Gegner sondern gegen alle Akteure, die sich bei den Ereignissen im Lessingtheater lautstark hervorgetan hatten. Klar sprach er sich gegen den dogmatischen Kampf zweier „erstarrter, unversöhnlicher Überzeugungen von der unbedingten Vortrefflichkeit oder Verwerflichkeit der ‚neuen‘ Dichtung“185 aus und mahnte unparteiliche, ästhetisch differenzierte Beurteilungen an. Das entsprach übrigens der Meinung Heinrich Harts, der in der Täglichen Rundschau „die ästhetische Unreife des größten Theiles unseres Publikums“ beklagte, das im Lessingtheater nicht dazu in der Lage gewesen wäre, „ein Kunstwerk als solches zu würdigen“186, womit er eine rein ästhetische Rezeptionshaltung einforderte.

181 182 183 184 185 186

Erdmann, K.: [Rez.] In: Der Kunstwart 3 (1889/1890), S. 38-39. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Hart, Heinrich: [Rez.] In: Tägliche Rundschau, Nr. 247 (22. Oktober 1889). In: Jaron/Möhrmann/Müller (1986), S. 93-95, S. 94.

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7.6 NACH DEM SCHMUTZSKANDAL: BEREINIGUNGEN, ERFOLGE, ZERWÜRFNISSE Soviel zu der unmittelbar nach der Uraufführung einsetzenden medialen Resonanz; bis weit in den November hinein wurden in vielen deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften Stellungnahmen für oder gegen Vor Sonnenaufgang abgedruckt. Unzweifelhaft handelte es sich um eine Sensation, die nicht nur in den höheren Kreisen für Diskussionsstoff gesorgt haben dürfte und bei manchen entrüsteten Gegnern wohl auch heimliche Neugier geweckt haben mag. Dafür spricht, dass der ‚Schmutzskandal‘ auch in den einschlägigen Witzblättern thematisiert worden ist. Die in vielen Kritiken behauptete Abscheu, welche die Aufführung des Stücks angeblich ausgelöst habe, bot einen idealen Anlass zur Komik, wie sie etwa in folgender im Kladderadatsch fingierten Nachricht aufscheint: Der Vorstand des Vereins „Freie Bühne“ bemüht sich, den berechtigten Wünschen der Mitglieder in jeder Weise entgegenzukommen. Bei der letzten Veranstaltung sahen sich viele Besucher vergebens nach den Näpfen um, welche auf jedem Schiffe den Seekranken zur Verfügung stehen. Bei der nächsten Vorstellung wird man in jeder Loge die nöthige Anzahl von diesen nützlichen Gefäßen vorfinden. 187

In anderen Witzen und Karikaturen fiel die Ironie oft deutlicher zuungunsten Hauptmanns und der ‚Freien Bühne‘ aus.188 Der zitierte Witz ist dagegen bemerkenswert indifferent; der Standpunkt des Lesers entscheidet darüber, ob sich die Ironie gegen die ‚Freie Bühne‘ oder gegen die überempfindlich-seekranken Gegner richtet. Fragt man nach den Auswirkungen des ‚Schmutzskandals‘, müssen unterschiedliche Aspekte in den Blick genommen werden. Zunächst einmal ist das Interesse an der Buchausgabe von Vor Sonnenaufgang sprunghaft angestiegen. Bereits im Dezember 1889 sind die zweitausend Exemplare der zweiten und dritten Auflage vergriffen gewesen, danach nahm das Interesse an dem Büchlein allerdings wieder ab.189 Für Hauptmann, dessen Name durch den Skandal deutschlandweit bekannt geworden ist, gilt das nicht. Innerhalb kürzester Zeit konnte er sich hernach auf den regulären deutschen Bühnen etablieren, wobei erwähnenswert ist, dass sich ausgerechnet Vor Sonnenaufgang nicht durchsetzen konnte. Zwar ist es bereits ab Ende 1889 zwanzigmal öffentlich aufgeführt worden, doch blieb der Erfolg ‒ wohl auch aufgrund der massiven Beschneidung des Textes, mit der die Zustimmung von der Polizei erwirkt

187 Anon.: [Ohne Titel.] In: Kladderadatsch, XLII. Jg., Nr. 50 (Beiblatt vom 3. November 1889), S. 452. 188 Vgl. Baseler (1993), S. 88-89. 189 Vgl. ebd., S. 91: „Ende 1889 waren 3.000, bis Oktober 1891 insgesamt ca. 5.000 Exemplare verkauft. Danach erlahmte die Nachfrage.“

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wurde ‒ aus.190 „Den Publikumsgewohnheiten adäquatere Werke des Autors ließen ‚Vor Sonnenaufgang‘ bald in den Hintergrund treten.“191 Bereits anderthalb Jahre später beobachtete Leo Berg, dass sich Hauptmann mittels eines „gereinigte[n] Naturalismus“192 im literarischen Feld zu etablieren begonnen hatte. Der Publikumserfolg, den seine durch den Skandal erwirkte Popularität versprach, habe ihm in kürzester Zeit den Weg ins Deutsche Theater gebahnt, wo für den 21. März 1891 die Aufführung von Einsame Menschen angekündigt war.193 Um in jene „Hochburg dramatischer Kunst“ einziehen zu können, musste sich Hauptmann allerdings „vorher anständiger Weise gereinigt haben! Das geziemt sich nur!“194 Berg spielte darauf an, dass Hauptmann in seinem neuen Drama auf die Darstellung von Wirklichkeitsaspekten wie Alkoholsucht, Sexualität oder soziales Elend, die gemeinhin mit Schmutz assoziiert wurden, weitestgehend verzichtet und damit (bewusst oder unbewusst sei dahingestellt) wesentlichen Forderungen der konservativen Kritiker entsprochen hat. Mit ihren Verweisen auf das Talent haben die Empörten des Jahres 1889 somit indirekt der raschen Kanonisierung des bereinigten Hauptmanns Vorschub geleistet. Dass er von ihnen damals als Gegner von „Moral und Sitte“ angegangen worden war, störte nun nicht mehr: „Der Dichter ist jetzt rein, völlig trichinenfrei und strahlt im hehren Glanze echter Dichterglorie“ 195, konstatierte Berg ironisch. Allerdings ist Hauptmanns Etablierung außerdem „ein Resultat rezeptionaler Vorgänge“196 gewesen. Nachdem Hauptmann aufgrund seines Erfolgs „auch von den Konservativen nicht mehr übersehen werden konnte, eignete man sich den Naturalisten unter rezeptiver Verkürzung um seinen gesellschaftskritischen Impuls an“ 197, der seinen Stücken ja weiterhin innewohnte. „Voraussetzung für die Einnahme dieser Haltung war allerdings ein grundsätzliches Akzeptieren der naturalistischen Ästhetik“, d.h. des Detailrealismus, des sprachlichen und des psychologischen Realismus. Mithin hat sich „in der Tat das Rezeptionsverhalten dieser Publikumsschicht innerhalb weniger Monate stark verändert“198. Die dreimalige Verleihung des GrillparzerDramatikerpreises (1896; 1899; 1905) sowie auch die Verleihung des Literaturnobelpreises von 1912 symbolisieren die Etablierung des ‚bereinigten‘ Naturalisten Gerhart Hauptmann. 190 Unter der Leitung von Carl Rosenfeld wurde Vor Sonnenaufgang zwischen dem 30. November und dem 19. Dezember unter schnell sinkendem Zuschauerzuspruch im „BelleAlliance-Theater“ gegeben, vgl. ebd., S. 92-97. 191 Jaron/Möhrmann/Müller (1986), S. 87. 192 Berg, Leo: Hauptmann oder der „gereinigte Naturalismus“. In: Die Moderne (1891), H. 2/3, S. 49. In: Sprengel, Peter (Hg.): Im Netzwerk der Moderne: Leo Berg. Briefwechsel 1884-1891. Kritiken und Essays zum Naturalismus. Bielefeld 2010, S. 217-218. Im Folgenden als Berg (1891). 193 Zur Aufführung der Einsamen Menschen im Deutschen Theater vgl. Jaron/Möhrmann/ Müller (1986), S. 179. 194 Berg (1891), S. 218. 195 Ebd. 196 Jaron/Möhrmann/Müller (1986), S. 178. 197 Ebd. 198 Ebd.

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Bei nicht wenigen Vertretern der traditionellen Kunstanschauung blieb Hauptmann jedoch weiterhin unbeliebt und wurde von ihnen weiterhin als ‚schmutziger‘ Autor erachtet. Ein Verweis auf Vor Sonnenaufgang reichte fortan, um diese Assoziation in Erinnerung zu rufen. Ein Beispiel dafür ist Paul Heyse, der Zeit seines Lebens ein Gegner der Naturalisten blieb und ihre krankhafte „Sucht des Gemeinen, Wüsten und Albernen“ angriff, vor deren Influenzen man sich „zu verwahren“ habe; angesichts des 1899 an Hauptmann für das Drama Fuhrmann Henschel verliehenen Grillparzerpreises schrieb er: „Wenn aus dem schmutzigen Thauwasser seines Aprils sich wirklich der glorreiche Mai erheben sollte, muß ich mir gefallen lassen, als ein blödsichtiger Greis verhöhnt zu werden.“199 Gegner wie Heyse konnten sich von höchster Stelle aus bestätigt fühlen; mit mehreren symbolischen Handlungen trat der Kaiser in den 1890er-Jahren ‚höchstpersönlich‘ gegen Hauptmann in Erscheinung.200 Durch diese Einmischungen Wilhelms II. bestärkt ist es im Deutschen Reich ‒ diverse Zensurstreitigkeiten zeugen davon ‒ ab den 1890er-Jahren immer häufiger zu Kontroversen um moderne naturalistische Theateraufführungen (nicht nur von Hauptmann-Inszenierungen) gekommen. Von offizieller Seite wurde versucht, den ästhetischen Wandel zu blockieren und die traditionelle, an Sauberkeit, Schönheit und Sittlichkeit gekoppelte Ästhetik zu sanktionieren. Der Schmutz blieb in diesen Auseinandersetzungen symbolisch umkämpftes Objekt. Freilich hat der ‚Schmutzskandal‘ um Vor Sonnenaufgang nicht nur Hauptmanns eigene Popularität, sondern auch, was die angestiegenen Mitgliederzahlen 201 belegen, die der ‚Freien Bühne‘ bestärkt. Nimmt man die programmatischen Aussagen des Vereins als Maßstab, dann dürfte gerade der Skandal mit zu der gewünschten Veränderung der Theaterästhetik in Deutschland beigetragen haben. Das Interesse am Naturalismus war geweckt und motivierte Autoren und Theatermacher fortan dazu, naturalistisch inspirierte Stücke zu verfassen und auf die Bühnen zu bringen. Im Schatten des Skandals etablierten sich in den folgenden Jahren vor allem Naturalisten wie 199 Heyse, Paul: Brief an Wilhelm Petersen, 07.02.1899. In: Hillenbrand, Rainer (Hg.): Briefe an Wilhelm Petersen. Mit Heyses Briefen an Anna Petersen, vier Briefen Petersens an Heyse und einigen ergänzenden Schreiben aus dem Familienkreise. Frankfurt am Main 1998, S. 221-222. 200 Nachdem nach fast zweieinhalbjähriger Auseinandersetzung mit der Zensur am Preußischen Oberverwaltungsgericht die Freigabe für eine öffentliche Inszenierung von Die Weber im „Deutschen Theater“ erwirkt worden war, kündigte Wilhelm II. demonstrativ seine Loge und ließ auch sein kaiserliches Wappen vom Haus an der Schumannstraße entfernen. Überdies legte er den Offizieren von Armee und Marine nahe, das „Deutsche Theater“ in Zukunft nicht mehr, auch nicht zivil gekleidet, zu betreten. Zu all dem siehe Houben, Heinrich H.: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Ein kritisch-historisches Lexikon über verbotene Bücher, Zeitschriften und Theaterstücke, Schriftsteller und Verleger, Bd. 1. Hildesheim 1965, S. 353-354. ‒ 1896 und 1899 legte Wilhelm II. ein Veto gegen die Verleihung des Schillerpreises an Hauptmann ein, vgl. Sowa, Wolfgang: Der Staat und das Drama. Der preußische Schillerpreis 1859-1918. Eine Untersuchung zum literarischen Leben im Königreich Preußen und im deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main u.a. 1988, S. 591-592. 201 Vgl. Jaron (1986), S. 22: „Ende Juni 1889 hatten etwa 350 Personen ihren Beitritt erklärt, bis Jahresende stieg die Zahl auf 900, bis Spielzeitende auf über 1.000.“

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Hermann Sudermann oder Max Halbe, deren Werke im Sinne des bereits erwähnten ‚bereinigten‘ Naturalismus gedeutet werden konnten. Mit diesem Wandel ging auch die allmähliche Durchsetzung eines naturalistischen Aufführungsstils einher, im Zuge dessen sozial und psychologisch begründete Verhaltens- und Sprechweisen deklamatorische Darstellungsmethoden mehr und mehr verdrängten.202 Allerdings führte der Skandal auch zu einem Bruch innerhalb der naturalistischen Literatenopposition. Der Arzt Konrad Küster, der Mitbegründer des Vereins ‚Durch!‘ gewesen war, wandte sich nach der Aufführung von Vor Sonnenaufgang gänzlich vom Naturalismus ab: „Jungdeutschland muß im Schmutze waten und alles muß pessimistisch ohne eine harmonische Lösung und einen heiteren Blick in die Zukunft enden“203, äußerte er sein Unverständnis. Auch Conrad Alberti nutzte das Schmutzverdikt der Gegner, um Vor Sonnenaufgang zu diskreditieren. Das Stück sei bloß deshalb so erfolgreich gewesen, weil Hauptmann und die ‚Freie Bühne‘ es gewagt hätten, „so viel Dreck auf einmal vor die Öffentlichkeit zu schleppen“204, schrieb Alberti in der Gesellschaft: Um nun auf dieses Fricassée von Unsinn, Kinderei und Verrücktheit die Aufmerksamkeit zu lenken, durchsetzte es Herr Hauptmann mit einem Gemisch von Rohheiten, Brutalitäten, Gemeinheiten, Schmutzereien, wie es bisher in Deutschland unerhört gewesen war. Der Kot wurde in Kübeln auf die Bühne getragen, das Theater zur Mistgrube gemacht. Dies hätte mich nun freilich noch keineswegs gestört

‒ eine bemerkenswerte Aussage, mit welcher Alberti sich trotz aller Ablehnung als Naturalist zu erkennen geben wollte, der die Darstellung des Schmutzes pauschal nicht verurteilte ‒, allein Herr Hauptmann gab diese Ryparographie [d.i. eine Schmutzmalerei, L.R.] für ein wahrheitsgetreues Bild des schlesischen Bauernlebens aus, und dagegen muß ich als Schlesier und Schriftsteller die entschiedenste Verwahrung einlegen. In keinem schlesischen Bauernhause frißt man Austern. So ist selbst der kleinste charakteristische Milieuzug in dem H´schen Stücke erlogen. Das ganze Stück stinkt, aber nicht weil es von Kot handelt, sondern weil es selbst erstunken ist. Nicht einmal der Dialekt ist richtig behandelt. 205

Der Vorwurf, dass Hauptmann bewusst von der Wahrheit abgewichen sei, steht zwar im Zentrum der Argumentation Albertis, seine Wortwahl zeigt aber deutlich an, dass es ihm keineswegs darum zu tun war, die Schmutzvorwürfe der konservativen Gegner zu entkräften. Ihm ging es darum, den Naturalismus der ‚Freien Bühne‘ inklusive Hauptmann persönlich anzugreifen. Abschließend muss konstatiert werden, dass der öffentliche Skandal vor allen Dingen zu einer Selbstvergewisserung der literarischen Moderne beigetragen hat. 202 Vgl. ebd., S. 24-25 und Rühle, S. 34. 203 Küster, Konrad: [Unbekannter Titel.] In: Allgemeine Deutsche Universitäts-Zeitung. Berlin 1889, Nr. 31, S. 164. 204 Alberti, Conrad: Die „Freie Bühne“. Ein Nekrolog. In: Die Gesellschaft 6/2 (1890), H. 1, S. 1104-1112, S. 1112. 205 Ebd., S. 1111.

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Abseits der sich an die verschiedenen Ismen bindenden Richtungskontroversen, wie sie in den 1890er-Jahren noch wesentlich intensiver geführt werden sollten, hat sich in den Apologien zu Vor Sonnenaufgang das Basisverständnis eines modernen, weitestgehend autonomen Literaturverständnisses abgezeichnet, wonach Literatur rein ästhetisch zu beurteilen sei und nicht etwa aus Gründen der Moral oder der Schicklichkeit in Frage gestellt werden dürfe. Indem im Zuge des Skandals selbst der Schmutz als ein ästhetischer Gegenstand behauptet worden war, haben die Anhänger der Moderne deutlich angezeigt, dass sie herkömmliche Darstellungstabus in Frage stellen und die Regeln der Kunst oder wenigstens die bis dahin gültigen Konventionen der Theaterästhetik in Bewegung versetzen wollten.

7.7 DIE IN BEWEGUNG VERSETZTE GRENZE ZWISCHEN KUNST UND SCHMUTZ Mit Vor Sonnenaufang hat Hauptmann sich idealistischer Darstellungstabus einer auf Reinheit fixierten, traditionellen Ästhetik entledigt. Ihm ist bewusst gewesen, dass sein Werk Kritik herausfordern würde und als ‚schmutzig‘ gebrandmarkt werden könnte. Für ihn und seine Wegbegleiter diente der im Sozialen Drama thematisierte Dreck und die mit ihm assoziierten neuen Stoffe (Armut, Alkoholismus, moralische Verwahrlosung) als literarische ‚Düngemittel‘. Diese positive Deutung wurde entweder mit dem Verweis darauf gerechtfertigt, dass die Darstellung der verwahrlosten Verhältnisse ästhetischem Genuss nicht widersprechen würde. Die andere Rechtfertigungsvariante lag darin, auf die soziale Funktion des Stückes hinzuweisen. Der Verein ‚Freie Bühne‘ wollte das Soziale Drama auf die Bühne bringen, um das als gekünstelt, unwahr und tot kritisierte zeitgenössische Theater zu verlebendigen. Da die vorherrschende Theaterästhetik naturalistische Stoffe und Darstellungsweisen weitestgehend blockierte, konnte der Skandal von allen Beteiligten antezipiert werden. Vor Sonnenaufgang konfrontierte die Zuschauer mit neuen Wahrnehmungsformen. Die konservativen Literaturkritiker haben diesen Umstand als Verstoß gegen die Ordnung, d.h. gegen die ästhetischen und sittlichen Normen der Kunst erachtet und angegriffen. Der Schmutz diente ihnen dazu, den Ordnungsverstoß zu markieren und sich darüber empören zu können. Paradoxerweise hat sich die Schmutzsemantik dadurch in den Feuilletons manifestieren können. Andere Literaturkritiker verwahrten sich gegen solche mit dem Schmutzvorwurf verbundenen Empörungen und verwiesen darauf, dass Kunst und Literatur nicht an moralischen, sondern ausschließlich an ästhetischen Maßstäben gemessen werden sollten. Der Skandal um Vor Sonnenaufgang hat die zuvor im ästhetischen Spezialdiskurs geführten Auseinandersetzungen um eine naturalistische, von idealistischen Prinzipien abrückende Literatur in die breite Öffentlichkeit getragen und zur Polarisierung beigetragen. Während die Anhänger der traditionellen Ästhetik auf der Beibehaltung der Demarkationslinie zwischen Kunst und Schmutz festhielten, versuchten die Modernen sie in Bewegung zu versetzen, was ihnen ein Stück weit auch gelang. Die zunehmende Akzeptanz eines ‚bereinigten‘ Naturalismus verweist auf diese Grenzverschiebung, zeigt aber auch an, dass die Grenze nicht komplett aufgehoben wurde.

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Der Kampf gegen den „Kolportageschund“ um 1900

Um 1900 waren die Begriffe ‚Schund‘ und ‚Schmutz‘ häufig gebrauchte Etiketten, mit denen populäre Unterhaltungsliteratur als ästhetisch und moralisch minderwertig angegriffen wurde. Bis 1903 sind sie hauptsächlich den Lieferungsromanen angehängt worden, die ausschließlich per Kolportage Verbreitung gefunden haben. Obwohl der ambulant agierende Kolportagebuchhandel, der sich ab den 1850er-Jahren zu einer selbständigen Konkurrenz des ortsfesten Sortimentsbuchhandels ausentwickelt hatte, auch andere Literaturgattungen1 führte, ist er von missliebigen Gegnern häufig auf den Vertrieb von „Kolportageschund“2 festgeschrieben worden. Die „Mehrzahl der Kolporteure“ würde, wie es ein ‚Schundbekämpfer‘ 1889 behauptete, „mit der im Volke vorhandenen Leselust den ärgsten Mißbrauch“ betreiben und ihm „schlechte und immer schlechtere Schriften“3 aufdrängen. Somit zielte das ‚Schundund Schmutzverdikt‘ nicht nur gegen die Lieferungsromane, sondern auch gegen den modernen Kolportagevertrieb. Darüber hinaus diente es der Entmündigung der gering gebildeten, sich aus dem einfachen Volk rekrutierenden Leserschaft. Da der „Kolportageschund“ die allgemeine „Dummheit und Unsittlichkeit“4 bestärken würde, beriefen sich dessen Gegner in ihrem Engagement auf das „Volkswohl“ 5, das gerettet werden sollte. Damit sind drei Aspekte (Kritik der Texte, der Vertriebsform, der Literatur) aufgeschlüsselt, die sich in der Semantik von ‚Schund‘ und ‚Schmutz‘ überlagert haben. Im vorliegenden Kapitel soll eine differenzierte Analyse den unterschiedlichen Bedeutungsaspekten des so genannten ‚Schundkampfes‘ Rechnung tragen. In den Abschnitten 8.1 und 8.2 wird die Geschichte des modernen Kolportagevertriebs skizziert und die Konkurrenz zum Sortimentsbuchhandel beleuchtet. In Abschnitt 8.3

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Neben den Lieferungsromanen wurden Unterhaltungszeitschriften aller Art, fach- und populärwissenschaftliche sowie klassische Literatur umfassende Lieferungswerke und kleinere Komplettwerke (Ratgeberliteratur, Kalender, Kochbücher etc.) per Kolportage vertrieben; siehe dazu Abschnitt 8.2. Fränkel, Heinrich: Ein neuer Weg zur geistigen und sittlichen Hebung des Volkes. Berlin 1889, S. 16. Im Folgenden als Fränkel (1889). Ebd., S. 9. Ebd., S. 13. Ebd.

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werden allgemeine Informationen zu den Lieferungsromanen und ihren potentiellen Lesern gegeben. Daraufhin wird im Abschnitt 8.4 gezeigt, wie die Romane als ‚Schundliteratur‘ instrumentalisiert wurden, um mit ihnen den Kolportagebuchhandel anzugreifen; diese Logik lag auch zwei 1883 und 1894 vom Centrum auf den Weg gebrachten Gesetzesinitiativen zur Änderung der Gewerbeordnung zugrunde. Im Abschnitt 8.5 wird dann die von verschiedenen Akteursgruppen getragene, außerparlamentarische ‚Schundkampfbewegung‘ in den Blick genommen. Neben den diversen Beweggründen für das Engagement werden typische Argumente zusammengetragen, die gegen die Lieferungsromane vorgebracht wurden. Außerdem wird die hygienische Aufladung der Debatte offengelegt und die Funktion der um 1900 häufig benutzten Schmutzsemantik untersucht, die in früheren Auseinandersetzungen um Unterhaltungsliteratur noch kaum Verwendung gefunden hatte.6 Schließlich wird im Abschnitt 8.6 exemplarisch ein 1897 erschienener Lieferungsroman untersucht und mit den Argumenten verglichen, die gegen den ‚Schund‘ angeführt wurden. Da es sich um eine Gattung populärer Literatur handelt, die bis jetzt nur aus der Perspektive ihrer einstigen Gegner erschlossen worden ist, können der literaturwissenschaftlichen Forschung mit der vorliegenden Analyse neue und interessante Erkenntnisse geliefert werden. In Bezug auf den in den 1880er-Jahren anhebenden ‚Schundkampf‘ beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf die Kritik der Lieferungsromane und blendet die 1904 verstärkt hinzutretende Kritik anderer populärer Literatur- und Kunstgattungen aus.7 6

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Man denke an die Kritik der ebenfalls als ästhetisch und moralisch schlecht erachteten Räuberromane, die um 1800 weitestgehend ohne Schund- und Schmutzinvektiven auskam, wobei seltene Ausnahmen die Regel bestätigen. Eine solche zitiert Dainat, Holger: Abaellino, Rinaldini und Konsorten. Zur Geschichte der Räuberromane in Deutschland. Tübingen 1996, S. 9. Im Folgenden als Dainat (1996). Auseinandersetzungen um unsittliche, als schmutzig bewertete Literatur hat es bereits im Zuge der Debatten um die ‚Lex Heinze‘ im Jahr 1900 gegeben, die allerdings von dem gegen populäre Literaturformen gerichteten ‚Schundkampf‘ isoliert blieben; vgl. Stolleis, Michael: Der Mordfall Heinze und die Lex Heinze. In: Greiner, Bernhard u. Thums, Barbara (Hgg.): Recht und Literatur. Interdisziplinäre Bezüge. Heidelberg 2010, S. 219-235. Im Folgenden als Stolleis (2010). Erst ab 1904 wurde der Kampf gegen die ‚Schund- und Schmutzliteratur‘ verstärkt auch auf andere, als unsittlich erachtete Literaturgattungen ausgedehnt. In jenem Jahr erschien eine breit rezipierte Schrift (Leixner, Otto von: Zum Kampfe gegen den Schmutz in Wort und Bild. Ein Mahnwort und ein Aufruf. Leipzig 1904), in der der Literaturkritiker Otto von Leixner gegen im Straßenhandel und per Kolportage vertriebene Witzblätter, Ansichtspostkarten, illustrierte kunstgeschichtliche und populärmedizinische Werke und Anzeigen in Tageszeitungen polemisierte. Mit ihnen würde eine „Flut des Unreinen“ (ebd. S. 7) über Deutschland hinweggehen, die die sittliche Gesundheit der Bevölkerung gefährden würde. Im selben Jahr fand in Köln der „Internationale Kongreß zur Bekämpfung der unsittlichen Literatur“ statt, der in der deutschen Presse ebenfalls viel und kontrovers besprochen wurde. Dabei wurden neben den von Leixner kritisierten Literaturgattungen auch moderne französische Romane und die naturalistische Bewegung als moralisch unrein angegriffen; siehe dazu Bohn, Friedrich: Materialien zur Bekämpfung der unsittlichen Literatur. Ein

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Mit Blick auf den ‚Schundkampf‘ sind Arbeiten von Georg Jäger8, Kaspar Maase9 und Mirjam Storim10 herangezogen worden, in denen die Auseinandersetzungen um den ‚Kolportageschund‘ ausführlicher thematisiert wurden. Bezüglich des modernen Kolportagevertriebs bestanden in der Literaturwissenschaft bis zum Beginn der 1990er-Jahre eklatante Wissenslücken. Durch Studien von Günter Kosch 11, Gabriele Scheidt12, Mirjam Storim13 und Andreas Graf14, die auch den folgenden Ausführungen zugrunde liegen, sind diese größtenteils geschlossen worden. Als Überblicksdarstellung wurde die Geschichte des deutschen Buchhandels15 von Reinhard Wittmann herangezogen, die der Kolportage nach einem Jahrhundert weitestgehender buchhan-

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kulturgeschichtliches Denkmal für die deutsche Presse. Zusammengestellt für den Internationalen Kongreß zur Bekämpfung der unsittlichen Literatur Köln im Jahre 1904. Berlin 1905. 1905 kamen Serienheftreihen wie Buffalo Bill, Nick Carter, Lord Lister oder Nat Pinkerton auf, die rasch ins Zentrum der Schundkritik rückten. Hinzu traten Polemiken gegen Schundmusik oder Schundkinofilme. Nichtsdestotrotz hielt die Agitation gegen die Lieferungsromane bis zum Ersten Weltkrieg nahezu unvermindert an. Vgl. Jäger, Georg: Der Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 31 (1988), S. 163-191. Im Folgenden als Jäger (1988). Vgl. Maase, Kaspar: Die soziale Bewegung gegen Schundliteratur im deutschen Kaiserreich. Ein Kapitel aus der Geschichte der Volkserziehung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27 (2002), H. 2, S. 45-123. Im Folgenden als Maase (2002). ‒ Ders.: Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich. Frankfurt am Main 2012. Im Folgenden als Maase (2012). Vgl. Storim, Mirjam: Ästhetik im Umbruch. Zur Funktion der ‚Rede über Kunst‘ um 1900 am Beispiel der Debatte um Schmutz und Schund. Tübingen 2002. Im Folgenden als Storim (2002). Vgl. Kosch, Günter: Einleitung. In: Ders. u. Nagl, Manfred: Der Kolportageroman 1850 bis 1960. Weimar 1993, S. 1-74. Im Folgenden als Kosch (1993). Vgl. Scheidt, Gabriele: Der Kolportagebuchhandel (1869-1905). Eine systemtheoretische Rekonstruktion. [Diss. München 1992] Stuttgart 1994. Im Folgenden als Scheidt (1994). Vgl. Storim, Mirjam: „Einer, der besser ist, als sein Ruf“. Kolportageroman und Kolportagebuchhandel um 1900 und die Haltung der Buchbranche. In: Maase, Kaspar (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900. Köln u.a. 2001, S. 252-282. Im Folgenden als Storim (2001). ‒ Dies.: Kolportage-, Reise- und Versandbuchhandel. In: Jäger, Georg (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1871-1918, Teil 2. Frankfurt am Main 2003, S. 523-593. Im Folgenden als Storim (2003). Vgl. Graf, Andreas: Kolportage bei Münchmeyer und anderswo (I und II). Dresden und Berlin als Produktionszentren von ‚Volksromanen‘ 1850-1930. In: Mitteilungen der KarlMay-Gesellschaft 38 (2006), Nr. 149, S. 3-18 u. Nr. 150, S. 8-23. Im Folgenden mit Angabe der Heftnummer als Graf (2006). Vgl. Wittmann, Reinhard: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750-1880. Tübingen 1982. Im Folgenden als Wittmann (1982). ‒ Ders.: Geschichte des deutschen Buchhandels. [2. Aufl.] München 1999. Im Folgenden als Wittmann (1999).

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delsgeschichtlicher Ignoranz einen größeren Raum gegeben hat. Soweit es möglich war, ist aus zeitgenössischen Quellen zitiert worden, die Dokumentenlage ist allerdings schlecht.16

8.1 FRÜHFORMEN DES MODERNEN KOLPORTAGEVERTRIEBS Der Begriff ‚Kolportage‘ hat sich im deutschsprachigen Raum zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst als ein Synonym für den Hausierbuchhandel, d.h. für den traditionellen Druckschriftenhandel von Tür zu Tür, etabliert. Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte geriet er zu einem Oberbegriff, der auch alle weiteren Geschäftsarten ambulanten Druckschriftenvertriebs bezeichnete. Darunter fielen einerseits die ebenfalls traditionelle Form des Fliegenden Buchhandels und andererseits alle Varianten des sich in der Mitte des Jahrhunderts ausdifferenzierenden modernen Kolportagevertriebs.17 All diesen Geschäftsarten gemeinsam war, dass sich der Absatz der gehandelten Druckschriften jeweils nicht innerhalb, sondern „außerhalb eines bestimmten Geschäftslokals“18 vollzog. Nebenbei bemerkt wandte auch der Sortimentsbuchhandel bis in die 1880er-Jahre hinein ambulante Geschäftsmethoden an; „der Anteil der Ladenverkäufe war gering und bestand meist aus Geschenkliteratur und Gebet- sowie Schulbüchern.“19 Üblich war, dass „jeder potentielle Bücherkäufer des gehobenen Bürgertums mit unverlangten Sendungen ‚zur gefälligen‘ Einsicht überhäuft“20 wur-

16 Dokumente, die die Geschichte des Kolportagebuchhandels aus seinem Inneren heraus beleuchten würden, sind wohl weitestgehend verloren gegangen. Umso wertvoller ist die Quellensammlung von Friedrich Elsner, für die er Dokumente des ‚Verband[es] des werbenden Buch- und Zeitschriftenvertriebs‘ ausgewertet hat, der 1886 unter dem Namen ‚Central-Verein Deutscher Colportage-Buchhändler‘ gegründet worden war, siehe Elsner, Friedrich (Hg.): Beiträge und Dokumente zur Geschichte des werbenden Buch- und Zeitschriftenhandels, Bd. 1. Von den Anfängen des Buchhandels bis zum Beginn des ersten Weltkrieges. Köln 1961. Im Folgenden als Elsner (1961). 17 Das vorliegende Kapitel beschränkt sich auf die Darstellung der Entwicklung und Kritik der modernen Kolportage, die zunächst das Hauptziel der sich in den letzten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts formierenden Schundgegner war. Hausierbuchhandel und Fliegender Buchhandel wurden allerdings ebenfalls verdächtigt, dem Volk neben politisch aufrührerischen und religiös zweifelhaften Schriften unsittliche Schundliteratur zu vermitteln, doch standen sie um 1900 weniger im Fokus der Schunddebatte. Informationen zur Bedeutung dieses fast vergessenen Buchhandelszweiges und seiner Gegner liefert Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt am Main 1970. 18 Heinrici[, Karl]: Die Verhältnisse im Colportagebuchhandel. In: Untersuchungen über die Lage des Hausierergewerbes in Deutschland, Bd. 3. Leipzig 1899, S. 181-234, S. 184. Im Folgenden als Heinrici (1899). 19 Wittmann (1999), S. 261. 20 Ebd.

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de. Auch die Anfänge des modernen Kolportagevertriebs liefen bis zur Jahrhundertmitte nicht komplett am Sortiment vorbei. Diese Anfänge gehen auf Verlage zurück, die in den 1820er- und 1830er-Jahren alternative Absatzwege ausprobierten, auf denen sie ein größeres Publikum für ihre Produkte zu gewinnen versuchten. Drucktechnische Innovationen, vor allem die zwischen 1811 und 1814 von Friedrich König entwickelte Schnellpresse, hatten es möglich gemacht, in kurzer Zeit große Auflagenhöhen herzustellen.21 Um die nun machbaren Produktionsmengen abzusetzen, stieß man mit dem Sortimentsbuchhandel allerdings an enge geographische22 und soziale Grenzen. Nur in mittleren und größeren Städten gab es ortsfeste Buchhandlungen, die in der Regel nur eine kleine gebildete und betuchte Kundschaft besaßen. Angesichts hoher Preise war der Bücherkauf für die Mehrzahl des Lesepublikums jedoch nicht üblich. Die selbst in vielen kleineren Städten entstandenen Leihbibliotheken waren die Orte, an denen sich auch die weniger kaufkräftigen, mittleren sozialen Schichten, „die tendenziell bereits lesemotiviert waren“23, für geringe Gebühren mit Lesestoffen aller Art, vor allem aber mit Romanen eindecken konnten.24 Unterhaltende Erzählprosa wurde von den Verlagen fast 21 Zu dieser und weiteren drucktechnischen Innovationen jener Zeit vgl. ebd., S. 220-223. Auf S. 222 verweist Wittmann etwa auf neuartige Illustrationsverfahren, welche ab den 1830er-Jahren die Bebilderung von Druckwerken auch „bei hohen Auflagen, passabler Qualität und geringen Herstellungskosten“ möglich machten. Erst jetzt war die Voraussetzung für die Produktion von illustrierten Zeitschriften und bebilderten Lieferungsromanen gegeben. 22 Über die geographische Verbreitung des Buchhandels in Deutschland ist in Meyers Großem Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände Auskunft erteilt worden; siehe Anon.: [Art.] Buchhandel (in Deutschland). In: MCL (1843), Bd. 6, S. 559-571, S. 563. Im Folgenden als Buchhandel (1843). Die Autorschaft von Carl Joseph Meyer ist anzunehmen. Laut dem Artikel habe es unter Einbeziehung von Musik-, Kunst und Antiquariatsgeschäften zu jener Zeit in Deutschland „gegen 1250 Etablissements für den literarischen Verkehr“ gegeben, was als eine Zahl ausgewiesen wurde, „die frühere Verhältnisse weit überflügelt.“ Allerdings wurde beklagt, dass sich „das Gros des Buchhandels“ immer noch in nur „wenigen Städten“ konzentrierte: „In kaum 350 Städten hat sich der Buchhandel angesiedelt; die übrigen drittehalbtausend Städte der deutschen Bundesstaaten und die nicht geringe Zahl anderer Städte Ungarns, Kur-, Liv- und Esthlands und der Schweiz gehen leer aus und sind gezwungen, auf Schleichwegen oder mit Verlust an Zeit und Geld ihren Bedarf aus der Ferne zu beziehen.“ 23 Wittmann (1999), S. 251. 24 Eine Vielzahl an Informationen zur Leihbibliothek liefern Martino, Alberto: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914). Wiesbaden 1990. ‒ Jäger, Georg u. Schönert, Jörg: Die Leihbibliothek als literarische Institution im 18. und 19. Jahrhundert. Ein Problemaufriß. In: Dies. (Hgg.): Die Leihbibliothek als Institution des literarischen Lebens im 18. und 19. Jahrhundert. Organisationsformen, Bestände und Publikum. Hamburg 1980, S. 7-60. Im Folgenden als Jäger/Schönert (1980). ‒ Über Buchpreise und die finanzielle Motivation zur Benutzung einer Leihbibliothek informiert Saalfeld, Diedrich: Materialien zur Beurteilung der Buchpreise und Leihgebühren im Rahmen der allgemeinen Preisentwicklung und der Lebenshaltungskosten des 19. Jahrhunderts. In: Jäger, Georg u. Schönert, Jörg (Hgg.): Die Leihbibliothek als Institution des literarischen Le-

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ausnahmslos an Leihbibliotheken abgesetzt, so dass die Auflagenzahlen für solche Literatur auf niedrigem Niveau stagnierten.25 Merkliche Absatzsteigerungen ließen sich somit über den Sortimentsbuchhandel und die Leihbibliothek, die beiden wichtigsten Institutionen der Literaturverbreitung, nicht erreichen. Um auch die mittleren Schichten zum Literaturkauf zu motivieren, begann man in dem von Carl Joseph Meyer 1826 gegründeten „Bibliographischen Institut“ die Miniatur-Bibliothek der deutschen Klassiker in Lieferungen aufzuteilen, die jeweils für den geringen Preis von 2 Groschen zu erstehen waren. Den Lektürebedarf der Menschen sollten eigens engagierte Reisende wecken, die massenhaft produzierte Anzeigenprospekte verteilten. Sie zogen von Tür zu Tür und sammelten für die „mit dem programmatischen liberalen Motto ‚Bildung macht frei‘“26 versehenen Lieferungsbändchen Subskribenten.27 Und tatsächlich erwies sich das von Meyer eingeführte Editions- und Vertriebssystem als erfolgreich, so dass es rasch von anderen Verlagen zum Vorbild genommen wurde. In den folgenden Jahrzehnten führte es zu einer neuen Dynamik und einer vor allem sozialen Ausdehnung des Buchhandels. Eine wesentliche Voraussetzung für den ökonomischen Erfolg dieser Frühform der modernen Kolportage stellte die persönliche Kundenakquise dar. Zwei ineinandergreifende Faktoren kamen hinzu28: Aufgrund hoher Auflagenziffern und dem Wegfall der Buchbindung senkten sich die Produktionskosten, weshalb ein in Einzellieferungen unterteiltes Werk im Vergleich zu einem gebundenen Komplettwerk günstiger abzusetzen war. Umgekehrt führte der geringe Preis dazu, dass überhaupt große Auflagen abgesetzt werden konnten. Für viele Menschen aus den mittleren Schichten (kleine Handwerker, Händler, Gesellen, einfache Beamte, Volksschullehrer etc.) wurde die Anschaffung von Literatur erst aufgrund der günstig zu erstehenden Lieferungswerke möglich. Außerdem hatte die Portionierung für weniger wohlhabende Kunden den Vorteil, dass sie nicht gleich für ein ganzes Werk, sondern sukzessive bei Erhalt der Lieferungen bezahlen mussten. Für die Verlage lag der Vorteil der Portionierung darin, dass sie mit jeder abgesetzten Lieferung und nicht erst mit dem Absatz des Gesamtwerkes Geld verdienten. Auch ließ sich die Auflagenhöhe an die Zahl der Bestellungen anpassen, was die finanziellen Risiken gegenüber dem bis dahin zwischen Verlag und Sortiment stattfin-

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bens im 18. und 19. Jahrhundert. Organisationsformen, Bestände und Publikum. Hamburg 1980, S. 63-88. Vgl. Jäger/Schönert (1980), S. 11. Wittmann (1999), S. 230. Zu den Unternehmungen des „Bibliographischen Instituts“ vgl. Wittmann (1982), S. 113114 sowie Ders. (1999), S. 230-231. ‒ Auflagenzahlen der Miniatur-Bibliothek sind nicht überliefert. Es sei aber auf eine retrospektive Einschätzung in einem buchhandelsgeschichtlichen Werk aus dem Jahr 1855 verwiesen: „Anzeigen wurden zu Millionen von Haus zu Haus verbreitet und fast jede dritte oder vierte Anzeige kam mit einer Bestellung zurück.“ Die Lieferungen seien „in mehreren Hunderttausenden von Exemplaren abgedruckt“ und deutschlandweit verbreitet worden, heißt es in [Prinz, August:] Der Buchhandel vom Jahr 1815 bis zum Jahre 1843. Bausteine zu einer späteren Geschichte des Buchhandels, [2. Aufl.] Altona 1855, S. 16. Vgl. Scheidt (1994), passim.

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denden Konditionsverkehr29 minimierte. Bei dieser gängigen Vertriebsvariante mussten die Verlage in Vorleistung treten. Neuerscheinungen wurden an alle Sortimentsbuchhandlungen gesandt, die diese an ihren Kundenstamm zur Ansicht weiterleiteten. Nicht verkaufte Bücher wurden nach einer in der Regel einjährigen Frist von den Sortimentern an die Verlage zurückgegeben und erst nach dieser so genannten „Remittierung wurde abgerechnet“30; bei geringem Absatz sah sich ein Verlag dann „mit Bergen von Makulatur“31 statt mit kostendeckenden Einnahmen konfrontiert.32 Aufgrund einer fehlenden Vertriebsinfrastruktur war die Frühform der modernen Kolportage noch nicht strikt vom Sortimentsbuchhandel getrennt. Soweit die Verlage nach dem Vorbild Meyers selbst Reisende einstellten, mussten die von ihnen eingesammelten Bestellungen trotzdem an örtliche Buchhandlungen weitergeleitet werden, die dann für die Auslieferung zuständig waren. Die meisten Unternehmungen rückten allerdings aus rechtlichen Gründen von dieser als „Verlagskolportage“ 33 bezeichneten Vertriebsvariante ab. „Die kostspielige und langwierige Erteilung eines Wandergewerbescheines“, an die das über Land ziehende Hausiergewerbe in vielen Einzelstaaten gebunden war, vermieden sie, indem sie die Subskribentensammler „für einen ortsansässigen Buchhändler arbeiten ließen, der sich mit der einfacher zu bekommenden Legitimationskarte von der örtlichen Polizeibehörde zu revanchieren hatte.“34 Solche Kooperationen führten mit der Zeit zu einer Spaltung des Sortimentsbuchhandels. Während sich viele Geschäfte „auf die Belieferung von Subskribenten spezialisierten und häufig das Sortiment nur noch als Nebengeschäft betrieben“ 35, stellten sich andere Sortimenter klar gegen das neue Editions- und Vertriebssystem. Den Kern ihres Unbehagens fasste Carl Joseph Meyer folgendermaßen zusammen: Der Sortimentshändler klagt den Verleger der Geschäftserschwerung an. Er tadelt die Zerstückelung der Werke in Lieferungen, weil ihm die Vertheilung der kleinen Portionen mehr Umstände macht, als wenn er ein voluminöses Werk zum hohen Preise mit einem Male seinen Kunden senden kann.36

Der Kritik begegnete der Gründer des „Bibliographischen Instituts“ souverän mit einem Hinweis auf die durch die neuen Produktions- und Distributionsformen erlangte Dynamik, die dem Buchhandel neue Publikumsschichten erschlossen habe. Der Sortimenter 29 30 31 32 33 34

Informationen zum Konditionsverkehr liefert Wittmann (1999), S. 124-126 und S. 261. Ebd., S. 125. Scheidt (1994), S. 138. Vgl. ebd., passim. Ebd., S. 138. Kosch (1993), S. 11. Die Aussage bezieht sich auf Preußen. In anderen Territorien dürfte die jeweilige Kolportagepraxis abhängig von der Gesetzeslage variiert haben. Auf die gesetzlichen Hintergründe zum Wanderbuchhandel bis zur Gewerbeordnung von 1869 verweist Vogel, Adolf: Beschränkungen des Wanderbuchhandels in Deutschland. Historischkritische Darstellung. Kirchhain Niederlausitz 1906, S. 12-19. Im Folgenden als Vogel (1906). 35 Scheidt (1994), S. 139. 36 Buchhandel (1843), S. 564.

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will nicht sehen, daß die Heftliteratur nicht nur das Erzeugniß, sondern weit mehr das Bedürfniß unserer Zeit ist, daß sie, eine kaufmännische Spekulation, dem B[uchhandel], als er still zu stehen und zu sinken drohte, neuen Impuls ertheilte, weil dem Publikum Werke zugänglich wurden, deren Dickleibigkeit und hohe Preise für dasselbe früher keine Anziehungskraft besaßen.37

Andere Sortimentsbuchhändler wandten sich gegen das als aufdringlich empfundene Geschäftsgebaren mancher Subskribentensammler. Von diesen würden die Menschen laut einem zeitgenössischen Kritiker „solange gequält, bis sie unterzeichnen, oder die Colporteurs zur Thüre hinauswerfen.“38 Dass die Hartnäckigkeit der Sammler mit den Provisionen zusammenhing, die sie statt einem Gehalt pro Unterschrift bekamen, verschwieg der Kritiker durchaus nicht. Sein eigentliches Unbehagen bezog sich aber auf die Einebnung sozialer Distinktion, die den Bucherwerb bislang bestimmt hatte. Er hielt es für „Mißbrauch“ des Buchhandels, wenn Sortimenter den Absatz nicht durch eigenes Personal, sondern durch „verdorbene Lohnbedienten [sic] ‒ Straßenjungen, ja sogar durch ‒ Frauenzimmer ‒ besorgen“ ließen; als eine Sache der Gebildeten hatte Literatur seiner Meinung nach nichts in den Händen solcher sozial niedrig stehender „Subjecte“ verloren, durch die „der ganze Buchhandel selbst herabgewürdigt“39 werde. Per Verlags- und Sortimentskolportage sind bis in die Zeit des Nachmärz verschiedenste Arten von Literatur vertrieben worden. In der Nachfolge der Meyer´schen Klassikerausgaben erschienen auf dem Buchmarkt ab den späten 1820erJahren andere, in Lieferungen von 5 bis 7 Bogen unterteilte Romanbibliotheken, die zu einem Preis von 2 bis 7 Groschen zu kaufen waren. 40 Aus Gründen rechtlicher Vorsicht wurden neben antiken Klassikern hauptsächlich Übersetzungen ausländischer Belletristik vertrieben.41 Die Miniatur-Bibliothek, in der auch Werke deutscher Dichter erschienen waren, war nur deshalb nicht als Verstoß gegen das Urheberrecht belangt worden, weil Meyer eine rechtliche Grauzone ausgenutzt hatte. Da „Abdrucke in Anthologien und auszugsweise Wiedergabe“ erlaubt waren, hatte er sie „zerstückelt und oft im Erscheinen monate- und jahrelang durch Teillieferungen anderer Autoren unterbrochen.“42 Firmen wie „J. D. Sauerländers Verlag“ oder die „Franckhsche Verlagsbuchhandlung“ griffen stattdessen auf Werke zurück, die aufgrund fehlender internationaler Urheberrechtsverträge frei waren und deshalb nicht so extrem zerstückelt zu werden brauchten. Beispielsweise boten die Brüder Johann Friedrich und Friedrich Gottlob Franckh die Romane Walter Scotts zu 2 Groschen pro Lieferung an, so dass ein komplettes Werk in 7 bis 10 Lieferungen für 14 bis 20

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Ebd. Wochenblatt für Buchhändler (1836), S. 1156, zit. nach Kosch (1993), S. 11. Ebd. Zu den Romanbibliotheken des Vormärz vgl. Wittmann (1999), S. 237-239 sowie Kosch (1993), S. 11. 41 Vgl. ebd., S. 12. 42 Wittmann (1999), S. 230-231.

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Groschen zu erstehen war. Über das Sortiment hätte man für einen kompletten Roman etwa das Sechs- bis Achtfache, nämlich 3 bis 5 Taler zahlen müssen.43 Neben den Romanbibliotheken sind ab den 1830er-Jahren auch naturkundliche und historische Werke in Heftausgaben unterteilt und durch Kolporteure vertrieben worden.44 Auf demselben Weg fanden ab 1833 außerdem populärwissenschaftlich ausgerichtete, illustrierte Periodika in hohen Auflagen Verbreitung. Die erste deutschsprachige Zeitschrift jener Art wurde für kurze Zeit von der Leipziger Filiale des weltweit operierenden Verlages von Martin Bossange und später von „F. A. Brockhaus“ in hohen Auflagen verlegt. In diesem zunächst von Johann Jakob Weber herausgegebenen Pfennig-Magazin wurde naturwissenschaftliches und berufsbezogenes Wissen auf eine unterhaltende Art aufbereitet. 45 Seit 1830 sind auch die populären Enzyklopädien lieferungsweise abgesetzt worden (vgl. Kap. 3). Ab jenem Jahr brachte „F. A. Brockhaus“ eine 240 Lieferungen umfassende Ausgabe des Conversations-Lexikons heraus, die im Kolportagevertrieb für 50 Pfennige das Stück zu erstehen war. Die 52 Bände von Meyers Großem Conversations Lexikon der gebildeten Stände sind von 1840 bis 1852 in über 1.000 Lieferungen kolportiert worden.46 Bis über die Jahrhundertmitte hinaus diente die Kolportage somit hauptsächlich dem Bildungsvertrieb. Mit Klassikerbibliotheken, naturkundlichen und geschichtlichen Volksausgaben, populärwissenschaftlichen Pfennigzeitschriften und populären Enzyklopädien gingen die Verlage gezielt auf das mit Aufstiegshoffnungen verbundene Bildungsstreben mittlerer Schichten ein, um sie als Neukunden zu gewinnen. Ein günstiger Preis war nämlich noch kein hinreichender Motivationsgrund für den Erwerb eines Buches. Darüber hinaus musste dessen Kauf auch „als lohnend erscheinen“47, was auf Unterhaltungsliteratur wie auf die in den Leihbibliotheken erfolgreichen Moderomane nicht zutraf; dagegen stellten die Klassiker literaturgeschichtlich abgesicherte Werte dar, deren Besitz in der bürgerlichen Welt prestigebehaftet war. 48 Populärwissenschaftliche Magazine und Lexika vermittelten nützliches, zum Teil auch „berufspraktisches Realienwissen“49, so dass deren Erwerb ebenfalls als sinn43 Das Umrechenverhältnis war 30 Groschen = 1 Taler. Die hier genannten Zahlen gehen auf ebd., S. 237-238 sowie Elsner (1961), S. 30 zurück. Letzterer verweist ebd. auf die sehr schlechte Papierqualität der in der „Franckschen Verlagsbuchhandlung“ herausgegebenen Scott-Romane. Neben den hohen Auflagen dürfte auch dieser Umstand besonders niedrige Preise möglich gemacht haben. 44 Vgl. ebd., wo Elsner auf Werke wie die Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände (7 Bde., 1833-1841) von Lorenz Oken, die Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände (5 Bde., 1846) von Karl von Rotteck, Friedrich der Große, sein Leben und Wirken (1834) von Theobald Chauber (d. i. Berthold Auerbach), Polen, geographisch und historisch geschildert (1834) von R. Soltyk sowie die Geschichte der französischen Revolution (1835) von François-Auguste Mignet verweist. 45 Zum Pfennig-Magazin vgl. Wittmann (1999), S. 231-232, der schreibt, dass die Zeitschrift nach zeitgenössischen Berichten zeitweilig mit einer Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren vertrieben wurde. 46 Vgl. ebd., S. 229 sowie Kosch (1993), S. 11. 47 Dainat (1996), S. 133. 48 Vgl. ebd. 49 Wittmann (1999), S. 251.

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voll erachtet werden konnte. Sie entwickelten sich „zum alltäglichen Gebrauchsgegenstand und Hilfsmittel“; eine populäre Ratgeberliteratur war entstanden, die sich vom „exklusiven Wissens- und Erbauungsvermittler Buch“50 unterschied. Diese Entwicklung griff der Buchhändler und Verleger Friedrich Christoph Perthes 1834 scharf an. Wenn er schrieb, dass der Buchhandel „wahrer Gelehrsamkeit und Bildung zu Förderung und Nutzen“ 51 sein sollte, sprach er ihm damit keine Volksbildungsfunktion zu. Seiner Meinung nach bedrohte die soziale Öffnung die Kernfunktion des Buchhandels, die er darin sah, „dem höher gebildeten Publikum“ 52 qualitativ hochwertige Literatur zu vermitteln. Er warnte davor, dass „wissenschaftliche und klassische Werke“ durch das „Pfennigmagazin, und alle diejenigen periodischen und enzyklopädischen Werke, die mit ihm in Konkurrenz getreten sind“ 53, verdrängt zu werden drohten. Durch die fabrikmäßig hergestellte Literatur würde der Buchhandel „trotz des ehrenhaften Zweckes einzelner volkstümlicher Unternehmungen“ allmählich „zum Colporteur-Geschäft herabsinken“54, was einem „Versinken in den Dienst der Seichtigkeit, der Oberflächlichkeit, der Vielwisserei, des Bilderkrames unter der täuschenden Firma der Volksbildung nur um des Gewinnes willen“ 55 gleichkäme. Damit hat Perthes Argumente gegen eine Kommerzialisierung des Buchhandels angeführt, die sich auch in den nach der Jahrhundertmitte geführten Auseinandersetzungen um die moderne Kolportage wiederfinden. 56 Das ‚Schundetikett‘ hat er allerdings noch nicht verwendet.

50 Ebd. 51 Perthes, Friedrich C.: Die Bedeutung des deutschen Buchhandels, besonders in der neuesten Zeit. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1 (1834), Nr. 1, S. 6-8. In: Widmann, Hans (Hg.): Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen, Bd. 1. Hamburg 1965, S. 234-236, S. 234. 52 Ebd., S. 236. 53 Ebd., S. 235. 54 Ebd., S. 236. 55 Ebd., S. 235. 56 Nach Wittmann (1999), S. 236 spiegeln Perthes Auffassungen das Selbstverständnis des deutschen Sortimentsbuchhandels im 19. Jahrhundert: „Die Überzeugung von der eigenen Kulturmission, die Verachtung jeder Profanisierung der geistigen Güter, die Skepsis gegenüber allen Zugeständnissen an die Lektürebedürfnisse der unterbürgerlichen Schichten, die Ablehnung neuer Vertriebsmethoden, die Verfemung unverbrämten Gewinnstrebens“ basierten allesamt auf einem „Mißtrauen gegen eine sich demokratisierende und zugleich kommerzialisierende Medienlandschaft“. Unter diesen Vorzeichen wurden liberale Positionen mehr und mehr von nationalkonservativen Ansichten ersetzt, so Wittmann ebd.: „Friedrich Christoph Perthes (1772-1843) selbst, der markanteste konservativ-christliche Verleger, war […] für ein einheitliches Urheber- und Verlagsrecht eingetreten, nicht aber für die Preßfreiheit. Im Gegenteil […] inszenierte er 1827 feierlich eine Verbrennung von pikanten Verlagserzeugnissen eines mißliebigen Kollegen durch den Vorstand des kurz zuvor gegründeten Börsenvereins.“

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8.2 ENTSTEHUNG, STRUKTUREN UND VERTRIEBSOBJEKTE DES KOLPORTAGE- UND REISEBUCHHANDELS Neue Impulse erhielt der Buchhandel ab den 1850er-Jahren durch die illustrierten Familienzeitschriften, die in den folgenden Jahrzehnten zum Teil sechsstellige Auflagenzahlen erreichten.57 Am erfolgreichsten und genreprägend war die 1853 von Ernst Keil gegründete Gartenlaube, die eine Mixtur aus belletristischer Unterhaltung und unterhaltender Wissensvermittlung bot und sich dabei „aller raisonnirenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions- und andern Sachen“58 weitestgehend enthielt. Sie richtete sich an „[j]eden, dem ein warmes Herz an den Rippen pocht“ und imaginierte eine sozial integrative, „am Guten und Edlen“59 orientierte bürgerliche Wertegemeinschaft. Dazu griff man auf die damals zeitgemäße idealrealistische Formensprache zurück: „Ueber das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben wie der Duft auf der blühenden Blume“, liest man in Heft No. 1, „und es soll Euch anheimeln in unsrer Gartenlaube, in der Ihr gut-deutsche Gemüthlichkeit findet, die zu Herzen spricht.“60 Mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren gestartet, stieg der Absatz bis 1875 auf den Höchstwert von 382.000 Exemplaren an und blieb auch in den folgenden Jahrzehnten auf einem vergleichsweise hohem Niveau. Der Massenerfolg von Titeln wie Die Gartenlaube, Illustrirte Welt, Daheim, Am deutschen Herd oder Über Land und Meer wäre ohne den Einsatz innovativer Produktionstechniken nicht denkbar gewesen. Darüber hinaus war ihr Erfolg an eine regelmäßige und pünktliche Distribution der im Fall der Gartenlaube wöchentlich erscheinenden Einzelhefte gebunden. Diesen Aufwand konnten die meisten Sortimentsbuchhandlungen jedoch nicht mehr leisten, ohne das Kerngeschäft zu vernachlässigen. So entstand „ein Vakuum in der Absatzgestaltung“61, das allmählich von Unternehmungen aufgefüllt wurde, die sich auf den Kolportagevertrieb spezialisierten. Die sich in den 1850er-Jahren herausbildenden Strukturen eines selbständig agierenden Kolportagebuchhandels verfestigten sich mit der in vielen deutschen Staaten in den 1860er-Jahren gewährten und mit der Reichsgründung deutschlandweit installierten Gewerbefreiheit62, so dass er nunmehr „als ein eigener Zweig des Buchhandels figurierte“63. Repressive Beschränkungen, denen der ambulante Druckschriften-

57 Ausführliche Informationen zu den Familienzeitschriften der zweiten Jahrhunderthälfte und ihren verlegerischen Erfolg liefern Graf, Andreas u. Pellatz, Susanne: Familien- und Unterhaltungszeitschriften. In: Jäger, Georg (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1871-1918, Teil 2. Frankfurt am Main 2003, S. 409-522. Im Folgenden als Graf/Pellatz (2003). 58 Stolle, Ferdinand; Keil, Ernst: An unsere Freunde und Leser! In: Die Gartenlaube 1 (1853), Heft 1, S. 1. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Scheidt (1994), S. 140. Vgl. auch ebd., S. 151-152. 62 Neue Gewerbeordnungen wurden bereits 1862 in Sachsen, Baden sowie Württemberg und erst 1869 in Preußen verabschiedet, vgl. Graf (2006), Nr. 149, S. 5. 63 Scheidt (1994), S. 146.

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vertrieb bis dahin ausgesetzt war, fielen größtenteils weg. 64 Auch der Konzessionszwang wurde aufgehoben. Hatte man bislang Mitglied einer Buchdrucker- oder Buchbinderinnung sein oder ein Buchhandelsexamen absolviert haben müssen, war jetzt „allen Mitgliedern der Gesellschaft die potentielle Teilnahme am Buchhandel“65 erlaubt. Fortan waren es nicht mehr nur ehemalige Sortimenter, die ihr Geschäft auf Kolportage umstellten. Viele neue Kolportagebuchhandlungen wurden von Quereinsteigern aus buchhandelsfernen Branchen gegründet.66 Mit der Formierung des autonomen Kolportagebuchhandels bekam das Sortiment Konkurrenz. Verlage mussten sich zur Distribution ihrer Werke nun nicht mehr zwangsläufig an einen Sortimentsbuchhändler wenden. Dieser würde, wie es ein Zeitgenosse 1859, auf einen konkreten Fall bezugnehmend, kritisierte, oft erst „zu guter Letzt, wenn das Feld schon abgeerntet“ ist, in Anspruch genommen; „ja, was noch schlimmer ist: die Boten der quäst. Handlung sind in den Stand gesetzt, die Verlagsartikel derselben billiger zu verkaufen, als solche der Sortimenter angesetzt erhält.“67 Tatsächlich traf es zu, dass Verlage Kolportagebuchhandlungen üblicherweise höhere Rabatte gewährten, da sich über sie höhere Auflagen absetzen ließen. 68 Diese ökonomische Besserstellung blieb in den folgenden Jahren zentraler Aspekt der vom Sortiment geäußerten Kolportagekritik. Den Vertrieb literarischer Erzeugnisse organisierten die zahlreich entstehenden Kolportagebuchhandlungen von Warenlagern aus. 69 Mit der Annahme von Bestellungen und dem Warenvertrieb lief die Distribution in zwei voneinander getrennten Arbeitsschritten ab. Die Firmen beschäftigten Abonnentensammler, die in der näheren Umgebung „von Haus zu Haus gehen, um überall Probehefte von Lieferungswerken zur Ansicht auszulegen. Beim Wiedereinsammeln suchen sie Abonnenten auf das Werk zu gewinnen.“70 Desweiteren wurden Expedienten engagiert, die „die bestellten Hefte auszutragen“71 und abzukassieren hatten. Von der Bezahlung in Bar war der Bezug der nächsten Lieferungen abhängig, ein Zeitschriftenabonnement war in der Regel „vierteljährlich im voraus [zu] bezahlen“72. Eine gesonderte Variante des Kolportagebuchhandels bildete der so genannte Reisebuchhandel. Der von einer 64 „Die Colportage ist trotz des alten Gewerbegesetzes, welches sie in Acht erklärte, die Colporteure durch Polizisten hetzen ließ, bereits eine Macht geworden; unter dem neuen Gewerbegesetz, welches sie endlich freigiebt, wird sie sicher eine neue Blüthe treiben“, prognostizierte 1870 Glagau, Otto: Der Colportage-Roman oder „Gift und Dolch, Verrath und Rache.“ In: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 6 (1870), S. 51-59, S. 59. Im Folgenden als Glagau (1870). 65 Ebd., S. 143. 66 Vgl. Wittmann (1999), S. 272 und Graf (2006), Nr. 149, S. 5. 67 Anon.: Der Buchhandel vom Jahre 1815 bis zum Jahre 1858 und Erinnerungen aus alter Zeit. Bausteine zu einer späteren Geschichte des Buchhandels, 5. Teil. Hamburg u.a. 1859, S. 10-11. In: Elsner (1961), S. 35. 68 Vgl. Storim (2001), S. 272-273. 69 Informationen zu den üblichen Distributionsweisen, die auch den vorliegenden Ausführungen zugrunde liegen, fasst Scheidt (1994) auf S. 147-156 zusammen. 70 Heinrici (1899), S. 186. 71 Ebd., S. 187. 72 Ebd., S. 229.

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Firma angestellte Reisende machte üblicherweise „große Touren“, auf denen er sich mit nur einem Werk „an einen auserwählten Kreis von Fachinteressierten oder überhaupt Gebildeten“73 wandte. Dabei warb er in der Regel mit einem kompletten Ansichtsband des oft umfangreichen und teuren Lieferungswerkes. Geliefert wurden die Bestellungen dann entweder von Expedienten oder aber per Post, wobei häufig das komplette Werk abgesetzt wurde. Den Kunden ist die Möglichkeit der Ratenzahlung eingeräumt worden; im Gegensatz zum Barzahlungsverhältnis im normalen Kolportagebuchhandel herrschte im Reisebuchhandel demnach ein Kreditverhältnis vor. Jetzt waren auch sozial und ökonomisch schlechter gestellte Personen in der Lage, ‚auf Pump‘ teurere Buchhandelsprodukte zu erwerben. Kolportage- und Reisebuchhandel setzten auf eine Vertraulichkeit erzeugende, direkte Form der Kundenakquise. In einer für den ‚Verein für Socialpolitik‘ 1899 erstellten Studie über Die Verhältnisse im deutschen Colportagebuchhandel führte Karl Heinrici den Erfolg der modernen Kolportage auf eine im Vergleich zum Sortimentsbuchhandel „umfassendere und intensivere Vertriebsart“ 74 zurück: Sie begnügt sich insbesondere nicht damit, vorhandene Bedürfnisse zu befriedigen, sie weckt auch verborgene. Sie individualisiert den Vertrieb. Bei seinem häufigen Kommen findet der Colporteur Gelegenheit, die Verhältnisse des Einzelnen kennen zu lernen; er wird mit seinen Eigentümlichkeiten vertraut: je mehr er diesen entgegenkommt, um so größer ist sein Erfolg. 75

Das eloquente Auftreten der Kolporteure76 weckte Lesebedürfnisse und steigerte den Kaufanreiz auch dort, wo er für literarische Erzeugnisse bis dahin nicht existiert hatte. Hinzu kam, dass Personen aus weniger gebildeten Kreisen damit überfordert waren, ihre „Wünsche zu präcisieren“ und sich deshalb nicht in eine Sortimentsbuchhandlung trauten; eine Scheu vor hellerleuchteten Läden, die Furcht sich lächerlich zu machen, der oft weite Weg bis zum Laden des Sortimenters, die manchmal vorhandene faktische Unmöglichkeit, den Laden während der Stunden, da er geöffnet ist, zu erreichen: all´ das hält viele vom Bücherkauf beim Sortimenter ab, während sie bei dem ihnen auch social näher stehenden Colporteur gern ihren Bedarf decken; denn alle jene Schwierigkeiten fallen hier fort. Der Colportagevertrieb dringt so in Volkskreise, denen der Sortimenter naturgemäß fernbleiben muß. 77

Neben dem niedrigschwelligen Angebot der Kolporteure mussten auf Seiten der Adressaten zusätzliche Bedingungen erfüllt sein, um die soziale Ausdehnung des Buchhandels zu ermöglichen. Die potentiellen Kunden mussten für den Bucherwerb ein Mindestmaß an Bildung, Freizeit und Einkommen besitzen. Neben geringerer Arbeitszeiten und sich bessernder Einkommensverhältnisse abhängig Beschäftigter im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, ist vor allem die verbesserte Bildungssituation 73 74 75 76

Ebd., S. 186. Heinrici (1899), S. 229. Ebd. Über den Vorteil der personalisierten Form der Kundengewinnung in der modernen Kolportage vgl. Scheidt (1994), S. 226-229. 77 Heinrici (1899), S. 227.

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ein Grund dafür gewesen, dass die Kolporteure allmählich auch in der städtischen und ländlichen Unterschichtsbevölkerung Abnehmer für ihre Zeitschriften und Lieferungswerke finden konnten.78 Mit der forcierten Durchsetzung der Schulpflicht erlangten nun alle Kinder zumindest grundlegende Lesekenntnisse. In einer Informationsbroschüre über das Kolportagegeschäft hat Erwin Ackermann 1876 beteuert, dass mit der „fortschreitende[n] Bildung“ auch „die Bedürfnisse der Menschen“ angestiegen wären, weshalb man nun „mehr und mehr Leser“ als Kunden gewinnen könne; „und wer einmal an der angenehmen Kost des Lesens Gefallen gefunden, dem wird sie zur Gewohnheit, zum Bedürfnis, und die Folge ist, daß er sich fortwährend mit neuer Lectüre versorgt und der Colporteur ein von ihm nicht ungern gesehener Gast ist.“79 Mit der sozialen Ausweitung ist eine geographische Ausdehnung des Buchhandels einher gegangen, so dass es jetzt in den meisten größeren und in vielen kleinen Ortschaften Kolportagegeschäfte gab.80 Mehr und mehr wurden nun auch entlegenere Gebiete mit Lesestoffen versorgt. Durch die Erschließung bislang (sozial und geographisch) buchhandelsferner Kundenkreise ist die moderne Kolportage somit binnen „kurzer Zeit zur Blüthe gelangt.“ 81 Bei aller Unschärfe zeitgenössischer Zahlen und Statistiken zur Kolportage, weisen diese doch eindeutig auf die angesprochene Blüte und das weitere Wachstum des ambulanten Buchhandelszweiges im letzten Jahrhundertviertel hin. Gab es 1875 bereits 589 im ‚Börsenverein‘ organisierte Kolportagebuchhandlungen, so stieg ihre Zahl 1880 auf 634, 1885 auf 690 und 1890 auf 988 an. 1892 erreichte die Entwicklung mit einem Wert von 1.033 Handlungen ihren Höhepunkt. 82 Dabei war Dichte an Kolportagebuchhandlungen in ländlichen Regionen, in denen keine Sortimentsbuchhandlungen zu finden waren, am Ende der 1880er-Jahre höher, als in mittleren und größeren Städten.83 Ein weiterer Hinweis auf den Erfolg war die Entstehung von Grossofirmen, die als Zwischenbuchhandlungen zwischen Verlagen und kleineren Kolportagehandlungen agierten.84 Für eine „hektische Prosperität der Kolportagebranche in den achtziger und neunziger Jahren“ 85 spricht außerdem die große Anzahl an brancheninternen Fach- und Werbeblättern, die über buchhandelsspezifische Entwicklungen und Neuerscheinungen informierten. Bis zum Ersten Weltkrieg blieben die nicht-wissenschaftlichen, oftmals illustrierten Unterhaltungszeitschriften die gängigsten Vertriebsobjekte im Kolportagebuchhandel. Einer zeitgenössischen Zählung aus dem Jahr 1894 nach gehörten 54,4% der per moderner Kolportage vertriebenen Produkte dieser Kategorie an.86 Nach dem Er-

78 Vgl. etwa Graf (2006), Nr. 149, S. 4-5. 79 Ackermann, Rudolf: Ueber den deutschen Colportage-Buchhandel. Neustadt an der Haardt (1876), S. 3-4. In: Elsner (1961), S. 37. 80 Vgl. ebd. 81 Ebd. 82 Vgl. ebd., passim. 83 Vgl. Storim (2003), S. 528. 84 Vgl. Scheidt (1994), S. 157-158. 85 Vgl. Kosch (1993), S. 24. 86 Die in diesem Absatz genannten Zahlen sind anlässlich der Verhandlungen zur zweiten Gewerbenovelle veröffentlicht worden und gehen auf Erhebungen des Abgeordneten

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folg der Familienblätter kamen auch Modezeitschriften, Kunstzeitschriften, Frauenzeitschriften, Witzblätter, populärwissenschaftliche und andere Formate auf den Markt. Ab den 1860er-Jahren wurden außerdem Romanzeitschriften vertrieben, die Fortsetzungsromane, kleinere Prosastücke, feuilletonistische Beiträge, seltener auch Lyrik enthalten haben.87 Dabei richteten sich Titel wie die ansprechend gestaltete Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens ausdrücklich an Leser aus mittleren und unteren Schichten, die sich den Kauf gebundener Romane nicht leisten konnten.88 Neben den Zeitschriften handelten die Kolportage- und Reisebuchhändler mit Fach- und Konversationslexika (vgl. Kap. 3), Romanreihen (Klassiker) sowie fachund populärwissenschaftlichen Periodika (Brehms Tierleben etc.), die nach und nach in Einzellieferungen vertrieben wurden. Dieser Posten machte 19,75% aus. Eine dritte Kategorie bildeten die auch als Kolportageromane bezeichneten Lieferungsromane, deren Anteil an der gesamten Kolportageliteratur 1894 16,23% betrug. Mit einem Anteil von 9,62% sind außerdem kleinere Komplettwerke geführt worden, zu denen neben populärmedizinischen Ratgebern und politischen Publikationen vor allem Schriften gehörten, mit denen auch das Hausiergewerbe traditionellerweise Handel trieb, etwa Kochbücher, Kalender, Volksschriften, Traktate, Bibeln und Gebetbücher. Die Auflistung zeigt, dass es weiterhin Bildungswerke waren, die den Hauptanteil der kolportierten Literatur ausmachten. Der Kolportagebuchhandel führte die gesamte Warenpalette und wandte sich damit vorzugsweise an Leser aus den mittleren und unteren Schichten, die den Gang zum Sortimenter scheuten oder für die er zu weit war. Dagegen sprach der Reisebuchhandel gezielt gutsituierte Personen an. Sie mussten die teuren Lieferungswerke (Konversationslexika, Fachenzyklopädien, KlassikerLuxusausgaben, wissenschaftliche Prachtwerke etc.), auf die er sich spezialisiert hatte, entweder bar bezahlen oder wenigstens kreditwürdig sein, um die Raten abstatten zu können. Die höheren und mittleren Gesellschaftsschichten machten seinen Hauptkundenkreis aus.89 Dass der Reisebuchhandel in Einzelfällen auch finanziell abgesicherte und an Bildung interessierte Personen aus den Unterschichten (kleine Angestellte, Facharbeiter, Handwerksmeister etc.) ansteuerte, ist allerdings nicht auszuschließen.90 Dieser Kundenkreis konnte aber auch über den normalen Kolportage-

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Flodoard von Biedermann zurück; sie wurden abgedruckt bei Dehn, Paul: Moderne Kolportage-Litteratur. Stuttgart 1894, S. 19. Im Folgenden als Dehn (1894). Vgl. Graf/Pellatz (2003), S. 497. Die in Kleinoktavformat dreizehn Mal im Jahr erscheinenden, 75 Pfennig teuren, gebundenen Bände der Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens besaßen historistisch gestaltete Buchrücken und Titelbilder. Mit ihnen wollte man das Bildungs- und Prestigestreben von Personen bedienen, „denen es wegen der damit verbundenen großen Kosten nicht vergönnt gewesen war, sich eine Privatbibliothek anzuschaffen“, wie es im Einband der Einzelbände betont wurde: Anon.: [Redaktionsmitteilung.] In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens. Mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. 16 (1891), H. 1, Einband. Vgl. Storim (2003), S. 541. Vgl. Vogel (1906), S. 56, der dort den Inhalt stenographischer Berichte der Reichstagsdebatten um die Gewerbenovelle 1883 wiedergab: „Vor allem sei aber der Reisebuchhandel derjenige, der ausschließlich gute geistige Nahrung den unteren Schichten zuführe.“

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buchhandel ‚bessere‘ Werke erstehen; für ihn sind beispielsweise preiswertere, kleine Ausgaben der Konversationslexika konzipiert worden. 91 Durch die moderne Kolportage konnte der Bildungsvertrieb somit bis in untere Bevölkerungsschichten vordringen.

8.3 HINTERGRUNDINFORMATIONEN ZU DEN LIEFERUNGSROMANEN UND ANMERKUNGEN ZU IHRER TABUISIERUNG Per Kolportage wurden auch Unterhaltungsschriften vertrieben, zu denen die Lieferungsromane zählten, auf deren Produktion sich in der zweiten Jahrhunderthälfte eigens entstehende Kolportageverlage spezialisiert haben. Es handelte sich um eine eng an die Distributionsbedingungen angepasste, in ihrer äußeren Form standardisierte Literaturgattung. In der Regel besaß ein Lieferungsroman seit den 1870er-Jahren pro Lieferung 24 Seiten sowie einen Gesamtumfang von 80 bis 110 Lieferungen, wobei das Einzelheft zumeist 10 Pfennige kostete.92 Die Lieferungen erschienen häufig, zwischen einem und vier Mal im Monat93; die Auslieferungen eines Romans mit 100 Heften dürfte demnach mindestens ein halbes Jahr und maximal zwei Jahre gedauert haben. 1870 behauptete Otto Glagau, dass die Lieferungsromane zwar für die breite Masse des Volkes geschrieben, allerdings nicht nur von den unteren Schichten gelesen wurden. Käufer und Leser fände man nicht nur unter Dienstmädchen und Soldaten, Kutschern und Bedienten, Gesellen und Arbeitern, Bauern und Tagelöhnern: sondern auch unter dem besser situierten und höher gebildeten Mittelstand, das heißt unter Commis, Handwerkern, Geschäftsleuten, Subalternbeamten, kleinen Rentiers etc. Auch in diesen Kreisen vertritt der Colportage-Roman in der Regel die ganze Literatur; er wird von jedem Mitglied der Familie eifrig gelesen, man läßt ihn sauber einbinden, und so bildet er neben der Bibel und dem Gesangbuch die Hausbibliothek.94

Mit den ins Haus gelieferten, günstigen Romanlieferungen konnten große Teile der Bevölkerung für den Kauf von Unterhaltungsliteratur motiviert werden. Massenauflagen ließen sich absetzen und die herkömmliche Verkaufszahlen belletristischer Literatur in den Schatten stellten: Während, abgesehen von wenigen bevorzugten Namen, die Romane unserer Dichter der Regel nach nur in 700 bis 1.000 Exemplaren abgezogen werden, das heißt also in einer Auflage, die ziemlich genau der Zahl der größeren Leihbibliotheken in Deutschland entspricht; und während diese für das gebildete Publicum geschriebenen Romane nur selten eine zweite Auflage erleben: ‒ wird jeder Colportage-Roman mit mindestens 5.000 bis 10.000 Exemplaren gedruckt,

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Zu den kleinen Lexikonausgaben vgl. Spree (2000), S. 146 sowie Jäger (2001), S. 552. Vgl. Kosch (1993), S. 28. Ebd. Glagau (1870), S. 59.

Der Kampf gegen den „Kolportageschund“ um 1900 | 323

erscheinen viele Werke dieser Art in noch weit größerer Auflage, oder sie werden gar stereotypirt und verschiedene Male rasch hintereinander aufgelegt. 95

Auflagenhöhen der Lieferungsromane lassen sich nicht mehr exakt bestimmen. Sowohl die Verleger als auch die Gegner der Lieferungsromane nannten häufig übertrieben hohe, oft sechsstellige Auflagenzahlen; diese wollten Ängste schüren, jene mit dem Verweis auf die große Beliebtheit Interesse wecken. 96 Kosch weist darauf hin, dass es sich um ein „ausgeprägtes Degressionsgeschäft“ 97 gehandelt hat. Die von Glagau genannten 5.000 bis 10.000 Exemplare dürften der Zahl der Abonnenten entsprochen haben, die sich einen Roman bis zum letzten Heft haben liefern lassen; nur wenige Romane namhafter Kolportageautoren mochten höhere Abonnentenzahlen gehabt haben.98 Während der mehrmonatigen Zeit der Auslieferung ist immer „eine mehr oder minder große Zahl Abnehmer untreu“99 geworden. Die anfängliche Auflagen- und Abonnentenzahl dürfte darum wesentlich höher als 10.000 gewesen sein. Die ersten drei bis fünf Lieferungen sind in noch weitaus größeren Stückzahlen produziert und gratis verteilt worden, um mit ihnen eine möglichst große Leserschaft für ein Abonnement zu gewinnen.100 An diesen Zahlen bemaßen sich die von den Verlegern und Gegnern unterstellten Auflagenhöhen. Als Leser der Kolportageromane wurden um 1890 meist nur noch Personen aus den unteren Schichten wie Arbeiter, Lehrjungen, Dienstmädchen und Bauern vermutet.101 Dieser Umstand deutet auf einen Absinkprozess der Leserschaft hin. Die Romane wurden nun eindeutig als Unterschichtslektüren identifiziert. Die populär gewordene Bezeichnung „Hintertreppenroman“ signalisiert die mit der Verengung des Adressatenkreises zusammenhängende soziale Festschreibung: „Hintertreppenlitteratur wird sie genannt, weil die redegewandten Hausierer unter den armen Bewohnern der Hinterhäuser und Kellergeschosse, der Schlafstellen und unter den leichtherzigen Küchenfeen ihre eigentliche Kundschaft haben.“102 Gleichzeitig hat sich der pejorative Begriff ‚Schundromane‘ durchgesetzt, mit dem man sich von der Lektüre der Unterschichten symbolisch distanzierte. Ob Lieferungsromane tatsächlich keine Leser mehr aus mittleren Gesellschaftsschichten fanden, ist allerdings fraglich. Immerhin steuerten die Kolporteure nicht nur die Hinterhäuser, sondern auch bessere Wohngegenden an und hätten den dortigen Bewohnern an den Haustüren diskret auch unterhaltende Romane verkaufen können. Nur wenige zeitgenössische Aussagen weisen darauf hin, dass sich manche gebildeteren Leser durchaus ab und an von der „Sensationsliteratur“ fesseln ließen: „Natürlich nimmt auch unter den 95 Ebd. 96 Vgl. Kosch (1993), S. 30. 97 Kosch (1993), S. 28-29. 98 Vgl. ebd., S. 30. 99 Ebd., S. 29. 100 Vgl. ebd. 101 Die erwähnten Gruppen nennt beispielsweise Heilborn, Ernst: Hintertreppenlitteratur und deren Bekämpfung. In: Die Nation. 10 (1892/93), Nr. 14, S. 215-216, S. 215. Im Folgenden als Heilborn (1892/93). 102 Meyer, F.: Das Lesebedürfnis des Volkes und dessen Befriedigung. Nach einem Vortrage. Weimar 1891, S. 9. Im Folgenden als Meyer (1891).

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geistig Hochstehenden gelegentlich einer in einer faulen Stunde einen Kolportageroman in die Hand“103, ist etwa in einem 1911 veröffentlichten Aufsatz behauptet worden. Solche Hinweise sind allerdings rar. Festzustellen ist, dass fast keine Lektürezeugnisse überliefert sind, was auf die Stigmatisierung der Lieferungsromane als ‚Schundliteratur‘ zurückzuführen ist. Dass man ihre Lektüren besser geheim hielt, gehörte, wie es ein Zeitgenosse 1893 beobachtete, zum Allgemeinwissen: „Die meisten Leser dieser Hefte fühlen es, daß es mit diesem Lesestoff nicht alles in Ordnung sei, und verbergen deshalb die Hefte vor den Gebildeten, besonders auch vor den Pastoren.“104 Wenn man nicht den guten Ruf und daran geknüpftes soziales Prestige verspielen wollte, musste man die ‚Schundlektüren‘ verheimlichen. Aufgrund diesen tabuisierenden Umgangs ist über die Rezipienten derjenigen Literatur, die um 1900 am meisten gelesen wurde, heute nahezu nichts mehr bekannt. Die Tabusierung weist auf soziale Kräfte hin, die das Auseinanderdriften zweier Literaturen, Vertriebswege und Leserschaften begleitet haben. Die durch die Kolportage hervorgerufene soziale Ausdehnung des Buchhandels hat zu einer symbolischen Distanzierung der ‚alten‘ von der ‚neuen‘ Leserschaft geführt. In den ‚Schundkämpfen‘ hat sich dies in der permanenten Betonung der Kluft zwischen ‚sauberen‘ und ‚schmutzigen‘ Lektüren sowie ‚immunen‘ und ‚gefährdeten‘ Lesern niedergeschlagen.

8.4 ANGRIFFE GEGEN DEN MODERNEN KOLPORTAGEVERTRIEB In den 1870er-Jahren wurden aus dem Sortimentsbuchhandel vermehrt Stimmen laut, die gegen die neue Konkurrenz Stellung bezogen. Indem der „Colportagehandel“ von einem Anonymus 1872 pauschal als „ein gar precäres, vielfach unsolides und widerwärtiges Geschäft“105 bezeichnet wurde, deutet sich eine rhetorische Verschärfung der Auseinandersetzung an. Scheidt begründet sie mit der „allgemeinen Absatzkrise“106, von der der Buchhandel bis in die 1880er-Jahre hinein betroffen war. Aus der eigenen ökonomischen Verunsicherung heraus wurde der Aufschwung des neuen Konkurrenten besonders missgünstig beobachtet: „Die Kaufkraft des zum großen Theil aus dem unteren Mittelstande sich recrutierenden Publicums“ werde gänzlich

103 Fueter, E.: Illusionen im Kampfe gegen den Kolportageroman. In: Wissen und Leben (1911), S. 232-237, S. 233. Im Folgenden als Fueter (1911). 104 Anon.: Was liest das Volk? Mahn- und Weckruf eines Volksfreundes. Berlin 1893, S. 5. Im Folgenden als Was liest das Volk? (1893). 105 Anon.: Aus der Erfahrung II. Colportage und Colporteure. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 39 (1872), Nr. 58, S. 923. 106 Scheidt (1994), S. 170. Zur Absatzkrise verweist sie erklärend auf Wittmann (1999), S. 296-297: „Die Expansion des Buchmarktes mit ihren spekulativen Begleiterscheinungen und die stete Firmenzunahme hatten in der Gründerzeit zu einer fundamentalen Krise des gesamten Distributionssystems geführt, die 1887 mit der ‚Krönerschen Reform‘ ihre Lösung fand.“

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durch die Kolportage „erschöpft“107, weshalb das Sortiment nichts mehr an ihm verdienen könne, heißt es in einer 1880 erschienenen Quelle. Dass es sich dabei um neu rekrutierte Buchhandelskunden handelte, für die das Sortiment wenig attraktiv war und um die es sich in der Regel auch nicht aktiv bemühte108, blieb unerwähnt. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass die Verlage aufgrund der massenhaft per Kolportage abgesetzten Lieferungswerke und Lexika ihre Literaturproduktion vereinseitigten, was eine Qualitätsminderung des gesamten Buchhandels nach sich ziehen würde.109 Das Sortiment sah seinen Bildungsauftrag bedroht. Demgegenüber bestand die Verteidigungsstrategie des Kolportagebuchhandels darin, die eigene Volksbildungsfunktion zu akzentuieren. Die eingesetzten Kolporteure wurden etwa als „Pioniere der Bildung“ bezeichnet, die „Städte, Flecken und Dörfer durchwanderten“110, um lese- und bildungshungrige Menschen mit kulturellen Erzeugnissen vertraut zu machen. Die ökonomischen Motive dieses buchhändlerischen Engagements wurden allerdings nicht geleugnet. Man hielt sich „seine hohen Auflagen und seine publikumswirksamen Absatzstrategien zugute“ 111, während man den Sortimentern fehlenden kaufmännischen Elan vorwarf. Diese Hervorhebung der eigenen „wirtschaftlichen Effektivität“ war freilich mehr als eine bloße „Imagepflege“112, sondern darüber hinaus auch eine Strategie zur Verteidigung der ökonomischen Argumente, die der Sortimentsbuchhandel gegen die moderne Kolportage vorbrachte. Weiterhin ist die Praxis vieler Verlage, dem Kolportagebuchhandel höhere Rabatte zu gewähren, kritisiert worden. Als eine besonders unlautere Geschäftsmethode beanstandete man außerdem die von manchen Verlagen ausgelobten Prämienangebote (Uhren, Schmuck, Farbdrucke, Bettwäsche etc.), mit denen die Abonnenten motiviert wurden, ein Werk bis zur letzten Lieferung zu beziehen. 113 Um 1880 gerieten schließlich auch die Lieferungsromane in die Kritik. Sie wurden angeklagt, weil mit ihnen „die großen geistigen und moralischen Schäden unserer Zeit, die Selbstüberschätzung, die Eitelkeit und das Unfehlbarkeitsbewußtsein“114 eine immer größere Verbreitung im Volk finden würden. Die Diskreditierung der „Schundromane“115 nutzte der hier zitierte Kolportagegegner als „moralische Stütze seiner ökonomischen

107 Anon.: Ueber den Unfug der Colportage. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 47 (1880), Nr. 242, S. 4319. Im Folgenden als Unfug der Colportage (1880). 108 Dies behauptet Heinrici (1899), S. 227; Ansichtsbuchsendungen wurden vom Sortiment aus etwa nur an einen kleinen Kundenstamm versendet, „der großen Masse des Volkes bleibt er fremd.“ 109 Vgl. Unfug der Colportage (1880), S. 4319. 110 Ackermann, Rudolf: Ueber den deutschen Colportage-Buchhandel. Neustadt an der Haardt (1876), S. 14. In: Elsner (1961), S. 41. 111 Scheidt (1994), S. 172. 112 Ebd. 113 Vgl. Scheidt (1994), S. 229-232, die darauf hinweist, dass es die Zeitgenossen vor allem irritierte, dass es sich bei den Prämien um keine Buchhandelswaren handelte. Diesbezüglich äußerte sich etwa auch der eigentlich für den Kolportagebuchhandel eintretende Karl Baumbach (1894) auf S. 9 kritisch. 114 Unfug der Colportage (1880), S. 4319. 115 Ebd.

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Bedenken“116, die er der missliebigen Konkurrenz aus dem Kolportagebuchhandel entgegenbrachte. Als 1883 vom Centrum im Reichstag eine Novellierung der Gewerbeordnung angestrebt wurde, sind dazu wesentliche Impulse aus Kreisen des Sortimentsbuchhandels gekommen.117 Der zunächst vorgeschlagene Gesetzestext lautete: „Ausgeschlossen vom Feilbieten im Umherziehen sind Druckschriften, andere Schriften und Bildwerke, mit Ausnahme von Bibeln, Bibelteilen, Schriften und Bildwerken patriotischen, religiösen oder erbaulichen Inhalts, Schulbüchern, Landkarten oder landesüblichen Kalendern.“118 Da damit fast alle üblicherweise geführten Schriften nicht mehr hätten gehandelt werden dürfen, war der Vorschlag für die moderne Kolportage existenzbedrohend. Während der Parlamentsdebatten verschwiegen die Antragssteller nicht, dass das weitestgehende Kolportageverbot letztlich dem „solidere[n] Sortimentsbuchhandel“119 zugutekommen würde. Hauptsächlich wurden jedoch moralische Gründe für die Gesetzesnovelle angeführt. Dabei sind die Kolportageromane als Anlass herangezogen und das einfache Volk als schützenswert apostrophiert worden: Der Landbevölkerung werden unter verlockenden Titeln unsittliche Romane aufgedrängt, welche geeignet sind, die Moral des Volkes zu vergiften. Gegen diese hausierweise Verbreitung sittenverderblicher Schriften gewährt das Strafgesetzbuch nur einen ungenügenden Schutz, denn sittenverderblich deckt sich nicht immer mit unzüchtig.120

Desweiteren sollte die Novellierung gewährleisten, dass auch nach dem Auslaufen der Sozialistengesetze keine sozialistischen Schriften per Kolportage Verbreitung finden könnten. Schließlich wollte man den „Prämienschwindel“ beenden, durch den „die unteren Klassen von einigen Unternehmern in betrügerischer Weise ausgebeutet“121 würden. Die Gegner der Gewerbenovelle argumentierten, dass man mit ihr „um einiger Auswüchse willen einen ganzen Gewerbezweig und einen für das deutsche Volk hochwichtigen Bildungszweig“122 zerstören würde. Dabei konnten sie sich auf zahlreiche Petitionen „aus allen Lagern des Buchhandels“ 123 berufen, in denen ebenfalls 116 117 118 119 120

So Storim (2001), S. 272, die damit auf die entsprechende Quelle bezugnimmt. Vgl. ebd., S. 269. Vogel (1906), S. 28. Ebd., S. 30. Nach Vogel (1906), S. 29-30. ‒ Ein Handel mit unzüchtigen Schriften, Abbildungen und Darstellungen war nach § 184 des Strafgesetzbuches grundsätzlich verboten, vgl. ebd., S. 21. ‒ Zu den im Kampf gegen die so genannte Schundliteratur in Frage kommenden gesetzlichen Bestimmungen vgl. Jäger (1988), S. 178-180. 121 Ebd., S. 30. 122 Ebd., S. 33. 123 Ebd., S. 31. „Unter den Petenten waren vertreten: der Vorstand des Börsenvereins deutscher Buchhändler zu Leipzig, der Süddeutsche Buchhändler-Verein zu Stuttgart, der Provinzialverband der schlesischen Buchhändler, der Mitteldeutsche Buchhändler-Verband zu Frankfurt a. M., der Buchhändler-Verband Kreis Norden, der Bayrische Buchhändler-Verein, der Dresdner Buchhändler-Verein, der Provinzialverein Ost- und Westdeutscher Buchhändler, die Korporation der Berliner Buchhändler, der Verein deutscher

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gegen ein striktes Kolportageverbot plädiert wurde; auch vielen Sortimentern gingen die Centrumspläne zu weit. Nach mehreren Lesungen verabschiedete man schließlich einen entschärften Kompromiss: „Ausgeschlossen vom Feilbieten im Umherziehen sind Druckschriften, andere Schriften und Bildwerke, insofern sie in sittlicher oder religiöser Beziehung Ärgernis zu geben geeignet sind, oder welche mittelst Zusicherung von Prämien oder Gewinnen vertrieben werden.“124 Damit ist für die Kolportage ein allgemeines Prämienverbot durchgesetzt worden. Die Zensur sittlich oder religiös bedenklicher Druckschriften sollten fortan Druckschriftenverzeichnisse garantieren, die sich Gewerbetreibende bei örtlichen Verwaltungsbehörden genehmigen lassen mussten. Aufgrund einer Gesetzeslücke konnte die intendierte Kontrolle des modernen Kolportagebuchhandels jedoch faktisch nicht durchgesetzt werden; da es von Buchhandlungen aus operierte, handelte es sich der juristischen Definition nach um ein stehendes Gewerbe, das für ambulanten Vertrieb lediglich eine Legitimationskarte benötigte.125 Aus dem Grund traf die Gewerbenovelle von 1883 vor allem den traditionellen Hausierbuchhandel, der fortan auf die Genehmigung durch örtliche Beamte angewiesen war. Diese werden in aller Regel wohl „weder die Zeit noch die Vorbildung“ mitgebracht haben, um „nach den vorgelegten Titellisten die ‚sittliche‘ und ‚staatsbedrohende‘ Gefahr der Schriften zu beurteilen“126, so Scheidt. Kolportage- und Reisebuchhandel sind durch die Novelle lediglich hinsichtlich der bisherigen Prämienpraxis eingeschränkt worden. Somit konnte der ökonomische Erfolg der Branche anhalten. Man kann „davon ausgehen, dass die Kolportagefirmen zwischen 1880 und 1900 den relativ größten Anteil am Verkauf von Büchern, Zeitschriften und sonstigem Lesestoff hatten“127. Angesichts dessen hielten die Angriffe aus Teilen des Sortimentsbuchhandels an. Der als übergeordnete Interessensvertretung der Branche 1886 gegründete ‚Central-Verein Deutscher ColportageBuchhändler‘ betrachtete es deshalb als Kernaufgabe, der „abfälligen Kritik“, wie sie „wieder mehr als zuvor“ geäußert wurde, abgestimmt und geschlossen „entgegenzu-

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Kolportagebuchhändler zu Berlin, der Zentralverein zu Leipzig, die Reutlinger Kolporteure, ferner die Handelskammern zu Stuttgart, Köln und Reutlingen.“ ‒ Storim (2001), S. 270 verweist darauf, dass sich in vielen Buchhändlervereinen auch die Stimmen von Verlagen artikulierten; diese „profitierten vom Kolportagebuchhandel und dessen alternativen und umsatzsteigernden Werbe- und Vertriebsmethoden, während sie umgekehrt das Sortiment immer wieder wegen fehlender Modernisierungsbereitschaft kritisierten.“ Vogel (1906), S. 34; der Wortlaut wurde als § 56, Absatz 10 der Gewerbenovelle hinzugefügt. Vgl. Scheidt (1994), S. 236-237. Ebd., S. 236. ‒ Vgl. auch Baumbach (1894), S. 6, der darauf hinwies, dass die Behörden laut Gesetzestext gar nicht darüber zu befinden hatten, ob eine Schrift unsittlich wäre, sondern ob „sie in sittlicher oder in religiöser Beziehung Aergerniß erregen“ könne. Mit dieser Formulierung sei „geradezu eine moderne Censur eingeführt worden“ (ebd.), so Baumbach. Maase (2012), S. 62.

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treten“128. Bei den Invektiven aus dem Sortimentsbuchhandel rückte nun mehr und mehr die moralische Entrüstung in den Vordergrund und verdrängte die bis dahin vorherrschenden ökonomischen Argumente. Die Debatte wurde auf die so genannten ‚Schundromane‘ verengt. Es handelte sich um eine „Strategie“, mit welcher man dem Kolportagebuchhandel, wie Gabriele Scheidt schreibt, den Vertrieb der ‚besseren‘ Werke wie Zeitschriften und Konversationslexika absprach, um ihn auf den Vertrieb von Lieferungsromanen festzuschreiben. Mit der gleichzeitigen moralischen Abwertung dieses Genres konnte man sich selbst als ‚moralisch‘ einwandfreies und zugleich unumgängliches Glied in der Distributionskette präsentieren[.]129

Damit schlossen sich die Sortimentsbuchhändler dem sich allmählich formierenden ‚Kampf gegen die Schundliteratur‘ an, deren Wegbereiter vor allem Volkserzieher, kulturkonservative Gruppierungen und christlich orientierte Sittlichkeitsverbände waren. Dabei konnten sich die ‚Schundkämpfer‘ auf das Einvernehmen von „bürgerlichen Geschmacksträgern der Gesellschaft“ stützen, die die Kolportageromane für ästhetisch minderwertig und moralisch fragwürdig hielten. Das hatte sich bereits während der Debatten um die Gewerbenovelle von 1883 gezeigt, als hinsichtlich der „sittlichen Gefahren der Schundliteratur“130 im Reichstag parteiübergreifend Einigkeit herrschte. Als ab 1894 über eine zweite vom Centrum eingebrachte und von der konservativen Regierung mitunterstützte Gewerbenovelle diskutiert wurde, blieb diese Einschätzung bestehen. Karl Baumbach, der sich als Abgeordneter der Deutschen Freisinnigen Partei gegen die Beschränkung des Kolportagevertriebs aussprach, äußerte sich in einem Aufsatz über den Kolportagebuchhandel und seine Widersacher vielsagend: „Ein großes Kulturfeld soll zerstört werden um des Unkrauts willen, welches sich zwischen schöner Frucht findet.“131 Im Unterschied zu den für die Gewerbenovelle Eintretenden waren die Gegner allerdings nicht bereit dazu, wegen der allgemein für schlecht befundenen Kolportageromane die gesamte Branche „völlig lahm zu legen.“132 Da der Antrag vorsah, Ratenzahlungen im Rahmen des ambulanten Schriftenvertriebs komplett zu verbieten, hätte dessen Verabschiedung jedoch eben dies zur Folge gehabt. Zu den Bestrebungen des Centrums verhielt sich der Sortimentsbuchhandel „teils abwartend, teils stimmte er offen den Regierungsvorschlägen zu“; zwei norddeutsche Buchhändlervereinigungen erklärten sich in Petitionen „selbst mit einem gänzlichen Verbot der Kolportage einverstanden.“133 Die Mehrzahl der an den Reichstag gerichteten Petitionen bezogen allerdings für die Kolportage Stellung. Vom inzwischen gut organisierten Kolportagebuchhandel ging „eine lebhafte Agitation gegen die Anträ128 [Aufruf vom ‚Central-Verein Deutscher Colportage-Buchhändler‘.] In: Börsen-Zeitung für den deutschen Colportage- und Eisenbahnbuchhandel 7 (1886), Nr. 9. In: Elsner (1961), S. 75-76. 129 Scheidt (1994), S. 170-171. 130 Vogel (1906), S. 29. 131 Baumbach (1894), S. 32. 132 Vogel (1906), S. 49. 133 Ebd., S. 50

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ge“134 aus, die von zahlreichen, ihm nahestehenden Vereinigungen mitgetragen wurde. Besonders aktiv waren die „Verleger der illustrierten Zeitschriften, der populärwissenschaftlichen Werke und anderer für den Massenvertrieb berechneter Artikel“135, die hauptsächlich per Kolportage abgesetzt wurden. Um auch eine breite Öffentlichkeit vom Nutzen des Kolportagevertriebs zu überzeugen, erschien in der eigentlich unpolitischen Gartenlaube 1894 ein klar Stellung beziehender Artikel: Ein großer Teil des deutschen Publikums denkt bei den Worten „Kolporteur“ und „Kolportage“ nur an dunkle Gestalten, welche die Hintertreppen auf und ab steigen und unreifen Jünglingen, naiven Kindermädchen oder sensationslüsternen Küchenfeen irgendein Blut und Grausen erfülltes Machwerk in unbestimmt vielen Lieferungen aufschwatzen. Diejenigen unserer Leser, welche unter anderem auch die Gartenlaube durch den Kolporteur erhalten, wissen es besser, und in der Tat ist es ein großer Irrtum, anzunehmen, daß der Kolportagehandel hauptsächlich oder gar ausschließlich mit dem sog. „Schauerroman“ sich abgebe. Vielmehr bestehen mindestens 90 % der durch die Kolportage im weitesten Sinne vertriebenen Literatur aus durchaus guten volkstümlichen Schriften und Büchern, großen und kleinen Sammelwerken und Atlanten u. dergl. m. Es gibt in Deutschland verkehrsarme Gegenden, in denen der Kolporteur und vielleicht noch der Buchbinder die einzigen Vermittler literarischer Erzeugnisse bilden, die also, wenn man den Kolporteur aus ihrem wirtschaftlichen Betriebe streicht, von jeder Berührung mit dem literarischen Leben der Nation so gut wie vollständig ausgeschlossen würden. 136

Die Argumentation, wie sie hier ausgebreitet wurde, ist in den Parlamentsdebatten von den Befürwortern der Kolportage ähnlich vorgebracht worden. Den „unteren Klassen“ würde der „Erwerb guter Werke“ mit den Plänen des Centrums erschwert, so dass ihnen schließlich nur die „Schundliteratur“ 137 bliebe, die dann nur nicht mehr lieferungsweise, sondern in einem anderen Format erscheinen würde. Dass auch die ‚besseren‘ Werke des Reisebuchhandels durch die Novellierung der Gewerbeordnung getroffen würden, hielt das Centrum dagegen für unproblematisch und argumentierte folgendermaßen: Durch die Zungenfertigkeit der Reisenden und die scheinbar sehr günstigen Zahlungsbedingungen werden wirtschaftlich Schwache zum Ankauf eines kostspieligen Werkes bewogen. Ein Werk, das wie etwa Meyers Konversationslexikon nahezu 200 M. kostet, gehört nicht in das Haus des Arbeiters, weil es für ihn zu teuer ist.138

Menschen aus den unteren Schichten sollten vom Literaturkauf, der ihnen durch die Kolportage möglich geworden war, abgehalten werden. Den Bezug von Kolportageromanen sollten sie aus moralischen Gründen, den Bezug prestigeträchtiger, ‚besserer‘ Werke dagegen aus ökonomischen Gründen unterlassen. Die im Zeichen des Kampfes gegen die ‚Schundliteratur‘ geführte Gesetzesinitiative des Centrums rich-

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Ebd., Ebd. Anon.: Etwas von der Kolportage. In: Die Gartenlaube 42 (1894), Nr. 2, S. 36. Vogel (1906), S. 49. Ebd.

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tete sich damit eigentlich gegen die als gefährdet erachteten Leser aus den Unterschichten, denen die Mündigkeit abgesprochen wurde. Letztlich fand sich für den Vorschlag des Centrums im Reichstag wieder keine Mehrheit. Die 1896 verabschiedete Gewerbenovelle sah lediglich vor, dass alle Lieferungswerke mit dem Gesamtumfang und dem Preis des Gesamtwerkes versehen werden sollten.139 Spätestens jetzt war klar geworden, dass sich über den parlamentarischen Weg in absehbarer Zeit weder größere Erfolge im Kampf gegen den Kolportagevertrieb, noch im Kampf gegen die vermeintlich sittenverderblichen Lieferungsromane erzielen ließen. Auch aus dem Grund wurde nun verstärkt versucht, die Debatte in die Gesellschaft hineinzutragen und Ressentiments gegen den ‚Kolportageschund‘ zu wecken.

8.5 DER KAMPF GEGEN DIE LIEFERUNGSROMANE UND DESSEN HYGIENISCHE AUFLADUNG UM 1900 Wie erläutert mündeten die vom Sortimentsbuchhandel geführten Angriffe gegen die Kolportageromane in einer breiten gesellschaftlichen Bewegung gegen die ‚Schundliteratur‘, die nicht nur von kulturkonservativen Kreisen, sondern auch von Teilen des liberalen Bürgertums getragen wurde. Die Aktivitäten gingen insbesondere von diversen christlichen und volkserzieherischen Gruppen aus. Auch „in der wilhelminischen ‚guten Gesellschaft‘“ gehörte es „zu den anerkannten repräsentativen Tätigkeiten“, sich mit einer Spende am ‚Schundkampf‘ zu beteiligen: „Ein intensiveres, anhaltendes Engagement bildete in diesen Kreisen aber die Ausnahme.“ 140 Nichtsdestotrotz war das Eintreten für eine von ‚Schund und Schmutz‘ bereinigte Kultur um 1900 äußerst prestigebehaftet. Wer sich auf diese Weise für Sauberkeit und Bildung einsetzte, konnte sich als wertvoller Teil der Gesellschaft profilieren. Auch die Sozialdemokratie engagierte sich deshalb „keineswegs weniger erbittert“141, wobei man sich allerdings klar von den christlich-konservativen und liberalen Bestrebungen abgrenzte. Die sozialdemokratischen ‚Schundkämpfer‘ haben zwischen den an ‚guter‘ Lektüre interessierten ‚sauberen‘ Arbeitern und einem an ‚Schundlektüren‘ interessierten ‚Lumpenproletariat‘ unterschieden und „die Abscheu vor dem Wertlosen und Schmutzigen geradezu als internalisierte[n] Reflex“ der organisierten Arbeiterschaft eingefordert, die sich auf diese Weise symbolisch vom „sozialen Unten“142 distanzieren sollte. Für die im ‚Schundkampf‘ ebenfalls involvierten Sortimentsbuchhändler standen freilich die bereits erwähnten ökonomischen Motive im Zentrum ihres Engagements. Mit dem Verweis auf die unsittlichen Lieferungsromane sollte die gesamte Kolportagebranche in Verruf gebracht werden. Viele andere ‚Schundgegner‘ erkannten dage-

139 Vgl. Scheidt (1994), 176. 140 Maase (2002) S. 50. 141 Wietschorke, Jens: Schundkampf von links. Eine Skizze zur sozialdemokratischen Jugendschriftenkritik vor 1914. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34 (2009), H. 2, S. 157-175, S. 162. 142 Ebd., S. 157.

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gen an, dass per Kolportage auch bessere Lesestoffe Verbreitung finden würden. 143 Das Hauptmotiv für Geistliche und Volkserzieher war die soziale Anerkennung. Mit dem Einsatz gegen den ‚Schund‘ ließ sich die erzieherisch-sittliche Bedeutung von kirchlichen und öffentlichen Wohlfahrts- und Volksbildungseinrichtungen für die Gesamtgesellschaft betonen. Ähnliches gilt für die Volksschullehrerschaft, die die aktivste ‚Antischund‘-Gruppierung war. Im Gegensatz zu Ober- und Mittelschullehrern, die sich nur sporadisch am ‚Schundkampf‘ beteiligten, wurden Volksschullehrer wesentlich schlechter entlohnt und von den gesellschaftlichen Eliten weniger gewürdigt.144 Mit ihrem Engagement konnten sie sich „für ihren Anerkennungsanspruch auf gesellschaftlich hochrangige Werte und Ziele berufen“; durch Vorträge, Informationsbroschüren, Boykottaufrufe und sonstige Aktivitäten „nahmen sie öffentlichkeitswirksam ein kulturelles Wächter- und auch Richteramt wahr“ und traten damit als „das kulturelle Gewissen der Nation“145 auf. Dabei konnten sie im Kampf gegen die ‚Schundliteratur‘ auf Konzepte zurückgreifen, die im pädagogischen Spezialdiskurs unter den Schlagworten ‚Reinlichkeitserziehung‘ und ‚ästhetische Bildung‘ lang schon entwickelt waren (vgl. Kap. 1). Ein weiteres Motiv vieler ‚Schundgegner‘ war die Sorge um den Verlust kultureller Hegemonie. Man fürchtete, dass die Kolportageromane Leser aus den unteren Schichten negativ beeinflussen und die „etablierten Erziehungsmächte“146 Schule, Kirche und Kaserne ihren Einfluss auf sie einbüßen könnten. Heinrich Fränkel sprach 1889 von einer sich allmählich durchsetzenden „Einsicht, daß die Gebildeten und Besitzenden das Volk nicht sich selbst überlassen dürfen, weil es sonst unfehlbar dem ersten besten Verführer und Verderber in die Hände fallen muß“ 147; darin sprach sich eine Angst vor sozialdemokratischer Politisierung der Unterschichten aus. 148 Für 143 So etwa Kellen, Tony: Der Massenvertrieb der Volksliteratur. In: Preußische Jahrbücher 98 (1899), S. 79-103, im Folgenden als Kellen (1899), der auf S. 82 schrieb: „Ist es doch eine Thatsache, daß zwei drittel [sic] der gesammten buchhändlerischen Produktion auf dem Wege der Kolportage vertrieben wird. Kein einsichtiger wird behaupten, daß all diese Bücher das Licht der Vordertreppe zu scheuen hätten.“ Aus dem Grund sollte der Kolportagevertrieb nicht unterbunden sondern dazu genutzt werden, bessere Schriften im Volk zu verbreiten. Diese Argumentation, aus der der positive Schundkampf hergeleitet wurde, überwog. ‒ Neben den Sortimentsbuchhändlern gab es aber auch christlichkonservative Akteure, die für ein gesetzliches Totalverbot der „Kolportage von Druckschriften“ plädierten, auch wenn sie sich wohl nicht mehr „so leicht wieder beseitigen läßt“, so Müller, K. J.: Die Pflichten der Innern Mission gegenüber dem verderblichen Volksschriftenwesen. Berlin 1891, S. 21. Im Folgenden als Müller (1891). 144 Vgl. Maase (2002), passim. 145 Ebd., S. 55. 146 Maase (2012), S. 66. 147 Fränkel (1889), S. 4. 148 Direkter ging Dehn (1894) auf die Angst vor sozialdemokratischer Beeinflussung des Volkes ein: „Ich will nicht behaupten, daß der Schauerroman unmittelbar sozialdemokratische Tendenzen verfolgt. Allein er leistet ihnen Vorschub. Edel, hilfreich und gut ist in diesen Romanen, oft ja auch im Leben, der arme Mann, aber zumeist dieser allein im Gegensatz zu den höheren Kreisen, aus denen vorzugsweise, wenn auch nur zur Verstärkung romanhafter Gegensätze und Effekte, Schwindler, Betrüger und Schurken vorgeführt

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Fränkel war das einfache Volk ein geistig beschränktes und darum unmündiges Problempublikum. Durch Romanlektüren würden „undurchführbare Schwärmereien, schließlich wilde, ziellose Begehrlichkeiten sich der breiten Masse bemächtigen.“ 149 So argumentierend wiesen auch andere ‚Schundkämpfer‘ darauf hin, dass das Ziel, die Jugend des Volkes „zu idealer Gesinnung, guter Gesittung und zu treuen Stützen für Thron und Altar zu erziehen“150, durch Kolportageromankonsum konterkariert würde. Dieser verstärke „den Verderb der Sitte und des guten Geschmacks, der Frömmigkeit und des deutschen Wesens“151; in ästhetischer, moralischer, christlicher und nationaler Hinsicht würde das „kräftige und richtige Urteilen und Empfinden“152 der Menschen durcheinandergebracht. Desweiteren könne die „zu häufige Lektüre von Kolportageromanen schliesslich das Bedürfnis nach Tätigkeit ganz aufheben“, weshalb die Menschen ihre „Arbeitspflicht“ vernachlässigen und sie schließlich gar nicht mehr „erfüllen“153 würden. Neben den ordnungspolitischen waren es ökonomische Ängste, die viele ‚Schundkämpfer‘ antrieben. Da nach der gemildert verabschiedeten zweiten Gewerbenovelle „die staatlichen Mittel“ in den Augen der Schundliteraturgegner „nicht ausreichen“ würden, um das einfache Volk vor dem „verderblichen Schriftenwesen“ zu schützen, sahen sie sich in der „Pflicht“154, sich außerparlamentarisch einzusetzen. Für das als unmündig erachtete Volk sprachen sie sich eine Fürsorgepflicht zu. Ein vorrangiges Ziel ihres Engagements war es, die Öffentlichkeit für das Problem zu sensibilisieren. Zwar war es für das Gros des gebildeten Publikums selbstverständlich, Lieferungsromane zur sozialen Distanzierung als ästhetisch minderwertigen ‚Schund‘ zu betrachten. Um den Kampf gegen sie als eine Notwendigkeit erscheinen zu lassen, musste allerdings Überzeugungsarbeit geleistet werden. Statt über sie „zu lächeln oder zu spotten“, so heißt es in einer Schrift aus dem Jahr 1890, „verdienen dieselben sehr ernst genommen zu werden.“155 Die besorgten Aktivisten gaben sich Mühe, das Gefährdungspotential der Kolportageromane möglichst drastisch herauszustellen. Das Lesen solcher Werke erhitzt die Phantasie, fördert Träumerei und Zerstreutheit: verroht das Gemüt, weckt abenteuerliche Gelüste und verleitet dadurch nicht selten zum Diebstahl, giebt schiefe Begriffe vom Heldenhaften, erregt Mordlust, beeinflußt das klare Urteil über Gut und Böse in nachteiliger Weise, reizt zu sinnlicher Lust, erweckt Unzufriedenheit, verleitet zu Unbotmäßigkeit, zerrüttet die geistige und sittliche Kraft und leert den Geldbeutel.156

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werden. […] Bei seinen Lesern erregt der Schauerroman schließlich Unzufriedenheit und Begehrlichkeit und ebnet so den Boden für die sozialdemokratische Agitation.“ Fränkel (1889), S. 4. Rühle, Otto: Die Schund-Litteratur und ihre Bekämpfung von seiten des Lehrers. Großenhain 1896, S. 14. Im Folgenden als Rühle (1896). Meyer (1891), S. 5. Ebd., S. 7. Fueter (1911), S. 237. Müller (1891), S. 22. Müller-Guttenbrunn, Adam: Die Lectüre des Volkes. [4. Aufl.] Wien 1890, S. 14. Im Folgenden als Müller-Guttenbrunn (1890). Rühle, S. 13.

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Immer wieder ist die ‚Schundliteratur‘ für Verbrechen ihrer jugendliche Leser verantwortlich gemacht worden. In zahlreichen Beispielgeschichten wurden Ängste vor psychisch und moralisch schädigenden Lektüreauswirkungen geschürt: Das Lesen von ‚Schundheften‘ habe die „wilden Leidenschaften“157 junger Frauen und Männer erregt und sie zu Diebereien, Mord oder Selbstmord angestiftet, beteuerte der evangelische Strafanstaltspfarrer Theodor Just 1909. Er nutzte die auf den simplen Kausalzusammenhang reduzierten Fallgeschichten jugendlicher Verbrecher ausdrücklich zur „intensive[n] Beeinflussung der öffentlichen Meinung“ 158. Auch anderen ‚Schundkampfakteuren‘ dienten solche Beispiele als Beweise für die demoralisierenden Wirkungen159 der ‚Schundlektüren‘, die die jugendlichen „Gemüther verroh[en] und verthier[en]“160 würden. Zur Veranschaulichung des Gefährdungspotentials wurde im ‚Schundkampf‘ häufig auf eine gesundheitlich-hygienische Semantik zurückgegriffen. Die Lieferungsromane trügen „Keime leiblicher und seelischer Zerrüttungen, des Hasses gegen Staat und Kirche, der Auflehnung gegen alle göttliche und menschliche Ordnung“161 in sich, weshalb man ihnen „Attentate auf [den] gesunden Sinn“ 162 des Volkes vorwarf. „Man hat die Schundliteratur öfters mit einer ansteckenden Krankheit verglichen und der Vergleich ist bis zu einem gewissen Grade auch zutreffend.“163 Aus dem moralischen Vorbehalt wurde die hygienische Abwehr der krankmachenden ‚Schundliteratur‘ hergeleitet. Beispielsweise riet ein Reformpädagoge den Eltern eines ‚Schundliteratur‘ konsumierenden Kindes, den nötigen mahnenden Worten „keinen ethischen, sondern einen hygieinischen Inhalt“ zu geben; „man sage ihm der Wahrheit gemäß: ‚Solche Bücher zu lesen regt auf und macht krank: Darum nennt man sie giftige Bücher.“164 Im Zuge der hygienischen Aufladung der Debatten wurde nun häufig nicht mehr nur von ‚Schundliteratur‘, sondern von ‚Schund und Schmutz‘ geredet. Bis dahin war der Schmutzvorwurf auf vermeintlich unsittliche Werke beschränkt worden, die aufgrund der Thematisierung von Sexualität die Sinnlichkeit anregen würden. Der Schundvorwurf war dagegen eher auf ästhetisch minderwertig erachtete Literatur angewandt worden. Durch die semantische Aneinanderkopplung von ‚Schund und Schmutz‘ verschmolzen die Vorbehalte zusehends; der ‚Schund‘ galt nun ebenfalls als moralisch unrein. Durch diese metaphorische Übertragung ließ sich die Logik des hygienischen Diskurses auf das Feld der Literatur applizieren. Seit den bakteriologi157 Just, Theodor: Die Schundliteratur, eine Verbrechensursache, und ihre Bekämpfung. Düsseldorf 1909, S. 5. Im Folgenden als Just (1909). 158 Ebd., S. 15. 159 Mit einigen interessanten Einschätzungen geht Scheidt (1994) auf S. 282-286 auf die „ systematische Überschätzung der Wirkung des Kolportageromans“ und die „ Annahme, daß aus der Lektüre entsprechender Bücher zwangsläufig die kriminelle Tat erwachsen müsse“ (S. 284), ein. 160 Müller-Guttenbrunn (1890), S. 21. 161 Müller (1891), S. 14. 162 Müller-Guttenbrunn (1890), S. 35. 163 Börner, Wilhelm: Die Schundliteratur und ihre Bekämpfung. Wien 1908, S. 11. 164 [Otto, Berthold:] Sommergruß an Eltern, Erzieher und Lehrer. In: Der Hauslehrer. Wochenschrift für den geistigen Verkehr mit Kindern (1901), Nr. 19, S. 249-252, S. 251.

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schen Erkenntnissen galt der Schmutz nämlich als Nährboden krankmachender, für das Auge unsichtbarer Keime, was einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Verunreinigungen hervorgerufen hatte: Bis dahin war der Schmutz nur aus dem unmittelbaren Lebensumfeld verdrängt worden; unter Zuhilfenahme moderner Hygienetechniken versuchte man ihn nun so systematisch wie möglich aus der Umwelt zu eliminieren. Hatte bis dahin ein weitestgehend tabuisierender Umgang mit Schmutz vorgeherrscht, ist er zu einem aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zu ignorierenden Diskursgegenstand geworden (vgl. Kap. 2.7). Durch die Verwendung der Schmutzsemantik versuchten die ‚Schundkämpfer‘ die hygienische Notwendigkeit eines Einschreitens zu evozieren. Ein Kunstwart-Artikel aus dem Jahr 1903 veranschaulicht das: Als wir begannen, von Schundromanen Kenntnis zu nehmen sind wir von nicht wenigen Leuten verwundert angeblickt worden. Das war ja so klar, daß dieser Kram da Schund war, über so etwas sprach man doch nicht erst, da lachte man doch darüber. Richtig, aber es ist uns auch wirklich nicht beigefallen, in unsern Lesern ein etwaiges Publikum für Kolportageromane anzunehmen. Weshalb wir auf die Schundromane zu achten baten, das sagt am einfachsten ein Gleichnis. Es war einmal eine Stadt, die bemühte sich viel mit Fleiß und Eifer rein und gesund zu machen, tagtäglich fegten scharfe Besen auf ihren Straßen den Schmutz zusammen, und Wagen fuhren ihn weg. Sonderbar, es half nicht recht, Schmutz, Miasmen und Krankheiten blieben. Man hatte nicht unter die Erde gesehen. Da nämlich gab es, Gott weiß woher, ein sonderbares Kanalsystem – mag sein, daß eine Bodenveränderung Hoch und Tief verrückt hatte, kurzum: es arbeitete gerade umgekehrt, als andere solche Anlagen – es schwemmte Schmutz nicht aus, sondern ein. Von den Rieselfeldern ringsum, von stickigen Sümpfen, selbst von eben den Ablagestellen, wohin die Reiniger den Unrat geschafft hatten, kroch in diesen Kanälen der Schmutz unter die gesäuberten Straßen her, und ungesehen aber unaufhörlich stieg zwischen den Pflastersteinen das Gift wieder auf. – Alle Mühe um eine gesunde Volksliteratur ist umsonst, wenn wir die Kloaken nicht verstopfen können. 165

Die Wahl eines Szenarios aus dem Bereich der Städtereinigung war deshalb schlüssig, weil der Schmutz nicht mehr nur oberflächlich beseitigt, sondern durch moderne Kanalisationssysteme zusehends aus dem öffentlichen Raum verdrängt worden war. Für die Menschen ist diese Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts sinnlich erfahrbar gewesen und hatte nachweisbar positive Effekte für die allgemeine Gesundheit zeitigen können. An diese konkreten Erfolge versuchte der unbekannte Verfasser des Artikels mittels der Schmutzmetaphorik anzuknüpfen. Er plädierte dafür, nun auch das Feld der Literatur hygienisch umzugestalten und von moralischen Verunreinigungen zu befreien. Man müsse „ins Unterirdische hinab[steigen]“ 166 und Vorkehrungen treffen, dass der Schmutz von dort aus keinen Schaden mehr anrichten könne. War die ‚Schundliteratur‘ bislang verdrängt oder verlacht worden, so sollte sie nun als in psychischer und moralischer Hinsicht krankmachend erkannt, offen benannt und systematisch bekämpft werden.

165 Anon.: Schundromane. In: Der Kunstwart. Rundschau für alle Gebiete des Schönen 16, 2 (1903), S. 421-424, S. 421. Hervorhebung im Original. 166 Ebd.

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Die Hoffnung der ‚Schund(be)kämpfer‘ war, dass die von der Gefährlichkeit der Lieferungsromane überzeugten Personen keine Abonnements mehr abschließen und auch in ihren Familien gegen die problematische Literatur einschreiten würden. Desweiteren sollten sie „den Kolporteuren schlechter Schriften den Eingang in Fabriken, Werkstätten und Häuser“167 verwehren. Mit dem Ziel, das als unmündig erachtete Volk vor ‚Schund und Schmutz‘ zu schützen, setzte man sich außerdem für gesetzliche Verschärfungen ein und organisierte Boykottaufrufe. Lehrer kontrollierten Schultaschen, beschlagnahmten darin befindliche ‚Schundhefte‘ und „impft[en]“ den Schülern mittels mahnender Worte „ein heilsames Vorurteil“168 gegen sie ein. Als die wirkungsvollste Form der Immunisierung brachten die Pädagogen eine gelungene, am Ideal der Reinheit ausgerichtete Erziehungsarbeit ins Spiel. Nur durch „religiössittliche Erziehung“ und „Bildung des ästhetischen Gefühls“ könne es gelingen, Kindern „Abscheu vor dem Häßlichen, Unreinen und Gemeinen einzuflößen,“ 169 betonte ein Lehrer in einer 1909 erschienenen Konferenzschrift: „Der in der Schundliteratur zusammengetragene Schmutz findet in dem gebildeten religiös-sittlich-ästhetischen Sinne des Kindes ein wirksames Abwehrmittel.“170 Neben repressiven Maßnahmen gab es aber auch Bestrebungen, den unteren Schichten bessere Schriften zukommen zu lassen, denen „Kraft, Gesinnung und gesunder Verstand“ innewohnen sollten. Mit ihnen ließe sich „eine wirksame Steigerung der sittlichen und geistigen Tüchtigkeit unseres Volkes“ und im Zuge dessen auch eine „Veredelung der Volksseele“171 erreichen. Es ist doch geradezu widersinnig, daß die Geisteskultur für uns verhältnismäßig sehr Wenige, die wir so glücklich sind, daran theilnehmen können, immer reicher und tiefer sich entwickelt, während dort unten die ungeheure Mehrzahl der Menschen von all´ dem Großen und Schönen, Wahren und Guten entweder nichts oder nur ein verzerrtes und getrübtes, ja beschmutztes Spiegelbild kennen lernt!172

Intention des so genannten ‚positiven Schundkampfs‘ war es, die ästhetische und sittliche Bildung des Volkes zu heben, so dass es von sich aus zwischen guten und schlechten Lektüren zu unterscheiden lerne und keinen Gefallen mehr am ‚Schund‘

167 Koch, Th.: Die Schundlitteratur, ihre Verderblichkeit und ihre Bekämpfung. Vortrag, gehalten auf der Herbstversammlung des christlichen Kolportagevereins am 23. Oktober 1899 zu Lichtenthal bei Baden-Baden. Berlin 1900, S. 30. Im Folgenden als Koch (1900). 168 Rühle (1896), S. 15. 169 Rösseler, J.: Der Kampf der Schule gegen die Schund- und Schmutzliteratur. Düren 1909, S. 19. 170 Ebd. Dort heißt es weiter: „Daher muß der Lehrer jede Gelegenheit und die vielfachen Mittel benutzen, die ihm in der Schule zu Gebote stehen, um den Schönheitssinn seiner Schüler zu pflegen: Reinlichkeit, Ordnung, Anstand, Förderung des kindlichen Kunsttriebes durch Zeichnen, Schreiben, Gesang, Blumenpflege, Benutzung künstlerischer Bilder als Anschauungsmittel und Zimmerschmuck; und ebenso muß er bemüht sein, ihnen Abscheu vor dem Häßlichen, Unreinen und Gemeinen einzuflößen.“ 171 Fränkel (1889), S. 22-23. 172 Ebd., S. 21.

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finden würde.173 In folgendem Zitat aus einer 1893 erschienenen Schrift sind die Ziele des ‚positiven Schundkampfes‘ in eine hygienische Metaphorik übersetzt worden: „Den Sumpf mit seinen giftigen Dünsten kann man trocken legen, aber dem infizierten Strom muß man aus reinen Quellen frisches, gesundes Wasser zuführen, um die seuchebringenden Wogen zu verdrängen.“174 Die Frage war, auf welchem Weg eine bessere Literatur Verbreitung finden könnte. Viele ‚Schundkämpfer‘ setzten sich für Volksbibliotheken und Lesehallen ein. Soweit sie keine ‚Schundwaren‘ mehr führten, könnten die lese- und bildungshungrigen Menschen von kompetenten Bibliothekaren zum so genannten ‚Hinauflesen‘ animiert werden.175 Andere ‚Schundkämpfer‘ hielten die Bibliotheken zur Erreichung des Ziels für denkbar ungeeignet. Selbst wenn man sie qualitativ soweit verbessern würde, dass sie keine ‚Schundliteratur‘ mehr führten, müssten gegen jene Institutionen „schwerwiegende gesundheitliche Bedenken erhoben werden“; Fränkel betonte, daß die von Hand zu Hand gehenden Bücher Ansteckungskeime zu übertragen geeignet sind, zumal sie gerade in den unteren Volksschichten besonders viel, möglicherweise sogar am meisten von Kranken und in der Genesung befindlichen Personen gelesen, dabei vor den Mund gehalten und fleißig mit den Fingern begriffen werden. 176

Das hygienische Argument gegen öffentliche Bibliotheken war an die physische Abscheu des Bildungsbürgertums vor den hochinfektiösen Unterschichten gekoppelt. Dass damit die Wahrung sozialer Distinktion begründet wurde, veranschaulicht das folgende Zitat von Tony Kellen: Ich möchte schon deshalb keine Zeitschrift und kein Buch aus einer Leihbibliothek in die Hände nehmen, weil sie viel zu schmutzig aussehen. Ich meine, ein etwas feinfühlender Mensch könnte doch eigentlich keinen Genuß von der Lektüre einer Schrift haben, in denen [sic] bereits zahlreiche Leser mit mehr oder weniger sauberen Händen (meistentheils weniger sauberen, nach dem Aussehen der Hefte oder Bücher zu urtheilen) geblättert haben.177

173 Die sich für den Gedanken des positiven Schundkampfs engagierenden Pädagogen konnten sich auf bewährte Konzepte berufen, die nur noch in den Volksbildungskontext eingefügt zu werden brauchten. Vgl. etwa Theden, Dietrich: Grundsätze zur Beurteilung der deutschen Jugendliteratur. In: Paedagogium. Monatsschrift für Erziehung und Unterricht 4 (1882), S. 261-280, der zu diesem Zweck auf S. 278 Johann Friedrich Herbart zitiert hat: „Wir müssen den Zögling lesen lehren, indem wir ihm das Gute und Schöne zuführen, damit ihn künftig das Geschmacklose und Unsittliche durch sich selbst abstosse.“ 174 Was liest das Volk (1893), S. 13. 175 Hierfür setzte sich vor allem die 1901 gegründete „Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung“ ein, Vgl. Jäger (1988), S. 186-187. Für die Ziele der Stiftung warb besonders der Schundkämpfer Ernst Schultze in zahlreichen Aufsätzen, vgl. etwa Schultze, Ernst: Die Verbreitung guter Literatur. In: Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen 20,2 (1907), S. 422-431 u. S. 473-481. 176 Fränkel (1889), S. 10. 177 Kellen (1899), S. 97.

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Angesichts dieser Vorbehalte schlug Fränkel vor, sich den modernen Kolportagevertrieb zunutze zu machen, um auf dem Weg als Lieferungsromane getarnte bessere Schriften zu verbreiten: Die schlechte Volksliteratur ist nur dadurch mit Erfolg zu bekämpfen , daß dem Volke gute Bücher ebenso bequem zugänglich gemacht, oder vielmehr, daß dieselben in ebenso auffälliger Ausstattung ebenso aufdringlich und dabei zu noch wohlfeilerem Preise in jedem Hause angeboten werden, als bisher nur die schlechten: das Schlechte muß mit seinen eigenen Waffen geschlagen, die Leute müssen geradezu getäuscht werden, indem sie glauben den gewohnten Kolportageschund zu erhalten und statt dessen gesunden Lesestoff in ihren Händen haben, an den sie sich, wenn nicht Alle, so doch Viele vermöge der dem Guten innewohnenden inneren Kraft dann bald gewöhnen werden.178

Zu dem Zweck gründete Fränkel 1889 den ‚Verein zur Massenverbreitung guter Schriften‘, der sich in den folgenden Jahren aktiv im ‚Schundkampf‘ hervortat und von zahlreichen bekannten Persönlichkeiten unterstützt wurde. Selbst die Kaiserin Auguste Viktoria unterstützte das Engagement des Vereins und ließ ihr Wohlwollen in einem Brief ihres Kammerherren Eberhard von der Recke übermitteln: „Ihre Majestät beklagen den weitgehenden, verderblichen Einfluß, welchen die übliche Kolportage-Litteratur auf große Kreise unseres Volkes gewonnen hat, und begleiten alle Bestrebungen, eine gesunde Volkslitteratur zu schaffen, mit regem Interessen.179“ Der im Zeichen der Volksgesundheit geführte Kampf gegen die kolportierte ‚Schundliteratur‘ ist damit von höchster Stelle anerkannt worden. Möglicherweise war das Engagement auch deshalb so hoch, weil Fränkel in Aussicht stellte, dass mit dem positiven Ansatz die „Bildungsfrage“, die er als den wichtigsten Aspekt „der sozialen Frage“ bezeichnete, „der Lösung fähig“ wäre: „wenn auch die äußere, materielle Ungleichheit nicht beseitigt werden“ könne, so ließe sich doch die „Geisteskultur“ der unteren Schichten heben und eine „Brücke über die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten“180 bauen. Die durch gute Literatur vermittelte Bildung sollte als sozialintegrativer Kitt gesellschaftlichen Konflikten entgegenwirken. Tatsächlich scheiterte der Verein aber mit seinem Anliegen. Auch andere Initiativen, die nach 1900 mit einem ähnlichen Ziel in die Wege geleitet wurden, waren mit ihrer unterhaltungsskeptischen, erzieherischen Absicht „nicht in der Lage, mit der Unterhaltungsindustrie wirtschaftlich zu konkurrieren.“181 Bemerkenswert ist, dass der Kolportagebuchhandel die Lieferungsromane in einer Weise verteidigt182 hat, die durchaus der Logik des ‚positiven Schundkampfes‘ entsprach. Man pries sie als eine Literatur, die sich gut zum ‚Hinauflesen‘ eignen würde. Dass es sich um ästhetisch minderwertigen ‚Schund‘ handelte, leugnete man nicht. Dass die Lieferungsromane allerdings „entsittlichend und verrohend wirken sollen, kann unseres Erachtens weder nachgewiesen noch im Ernste behauptet wer178 179 180 181 182

Fränkel (1889), S. 15. Zit. nach Dehn (1894), S. 17. Fränkel (1889), S. 20-21. Jäger (1988), S. 188. Ausführlich zu den Verteidigungsstrategien der Kolportagebuchhhändler vgl. Storim (2002), S. 213-221.

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den.“183 Mit diesem Verweis beschrieb man sie als eine für gering gebildete Leser zweckdienliche Literatur, mit der sie sich an das literarische Lesen gewöhnen könnten. Nach der Lektüre mehrerer Lieferungsromane würde oftmals Ernüchterung einsetzen und der Wunsch nach besseren Lesestoffen wach werden, die sie dann ebenfalls beim Kolporteur erstehen könnten. Und selbst, wenn sie ihnen nicht überdrüssig würden, zeitigten die Lieferungsromane einen für die Gesellschaft positiven Effekt: „Es ist immer besser, die Leute unterhalten sich zu Hause mit Romanlesen, als daß sie ihr Geld in die Kneipe tragen, was doch unzweifelhaft geschehen würde, wenn der einfache Mann nicht die von ihm geliebte Lectüre erhalten könnte.“184

8.6 GEFÄHRDETE REINHEIT: EINBLICKE IN DEN 1897 ERSCHIENENEN LIEFERUNGSROMAN DOLORES Angesichts der massiven Kritik, der die als „Rohheit, Schmutz und Unvernunft“185 diskreditierten Lieferungsromane ausgesetzt waren, stellt sich die Frage, ob diese auch zutraf. Widersprachen sie den vorherrschenden idealrealistischen Grundsätzen, wonach Literatur wahr, schön und gut zu sein hatte? Standen sie den damaligen moralischen Maßstäben entgegen, indem sie eine Lust an sexuellen Ausschweifungen oder „Mitgefühl und Bewunderung für den Verbrecher“ 186 weckten? Kehrten sie das Verständnis von Gut und Böse um? Leisteten sie der Faulheit oder der Rohheit der Leser Vorschub? Ist in den Romanhandlungen die politische Ordnung in Frage gestellt worden? Kurz: Erfüllten die Lieferungsromane eigentlich die Kriterien, aufgrund derer die Gegner sie als schmutzige Machwerke bewerteten? Leider hat es die literaturwissenschaftliche Forschung bisher versäumt, diese Fragen zu stellen, geschweige denn Schritte zu ihrer Beantwortung in die Wege zu leiten. Obwohl viele Kolportageromane seit den 1990er-Jahren im Deutschen Literaturarchiv in Marbach zugänglich sind, gilt für sie noch immer, was Holger Dainat bereits 1997 festgestellt hat: „Eine literaturwissenschaftliche Analyse der ästhetischen und semantischen Strukturen dieser Textsorte steht weiterhin aus.“187 Im Folgenden werden erste Schritte unternommen, diese Forschungslücke zu schließen. Die Ausführungen beziehen sich auf den 1897 im Dresdener Verlag von Adolph Wolf erschienenen Lieferungsroman Dolores die verkaufte Frau oder das Geheimnis des Frauenarztes, der noch 1909 als eine zu Verbrechen anregende, unsaubere ‚Schund- und Schauerlektüre‘ diffamiert wurde.188 Mit dem Titel sollte das Interesse eines geschlechterübergreifenden, erwachsenen Publikums geweckt werden, deutete er doch auf eine intimste Details preisgebende Geschichte einer durch Prostitution

183 Blumenthal, Hans: Das Buch-Sortiment und der Colportage-Buchhandel. Sehr zeitgemäße Betrachtungen. Iglau 1894, S. 8-9. In: Elsner (1961), passim, hier S. 123. 184 Ebd., S. 124. 185 Müller-Guttenbrunn (1890), S. 35. 186 Fränkel (1889), S. 14. 187 Dainat, Holger: [Rez.] Über Arbeiten zum Kolportageroman. In: Arbitrium 15 (1997), S. 106-111, S. 111. 188 Vgl. Just (1909), S. 8.

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oder ähnliche Verbrechen in Bedrängnis geratenen Frau hin. Die Titelillustration (vgl. Abb. 1), die in winterlicher Szenerie eine im Schatten eines Schlosses kauernde, sich sorgend über ein Kind gebeugte junge Frau zeigt, war gezielter auf ein weibliches Lesepublikum ausgerichtet. Bei dem Autorennamen Dr. Hugo Hartmann handelte es sich höchstwahrscheinlich um ein Pseudonym, mit dem die Authentizität eines frauenärztlichen Erfahrungsberichts fingiert wurde. Die äußere Form des im Folgenden als Dolores bezeichneten Lieferungsromans entspricht den seinerzeit üblichen Standards. Er besitzt einen Gesamtumfang von 2.190 Seiten, was 90 Lieferungen à 24 Seiten entsprach. Neben dem Titelblatt, auf dem auch der Preis von 10 Pfennigen pro Einzelheft abgedruckt steht, gehört zu jeder Lieferung eine untertitelte schwarzweiße Abbildung, die eine Szene aus der Handlung illustriert. Dolores ist in 194 Kapitel aufgeteilt, die unterschiedlich lang und nicht an die Lieferungen angepasst sind. Oft wird der Übergang von Heft zu Heft durch spannende Handlungssequenzen unterbrochen, womit für die zeitgenössischen Leser ein ‚Cliffhanger-Effekt‘ entstand, der sie für den Kauf des nächsten Heftes motivieren sollte. 189 Abbildungen 1 u. 2: Titelblatt und Illustration aus dem Lieferungsroman „Dolores“.

Quelle: Hartmann, Hugo: Dolores die verkaufte Frau oder das Geheimnis des Frauenarztes. Dresden 1897.

189 Dieser Effekt fällt bei der Lektüre des aus der Sammlung Kosch/Nagl stammenden gebundenen Exemplars (Nr. 201) freilich weg. Die einzelnen Lieferungen sind sauber eingebunden worden und können nur noch durch kleine Nummerierungen identifiziert werden. Trotz einiger Gebrauchsspuren ist das Exemplar in einem verhältnismäßig guten Zustand erhalten.

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Dass die Lieferungsromane des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wie Günter Kosch vermutet, genretypologisch wenig festgelegt“190 waren, trifft auf Dolores zu. In erster Linie handelt es sich um einen Schicksalsroman. Im Mittelpunkt steht das verworrene Schicksal der jungen Dolores Groß, die durch betrügerische Intrigen ihres Ehemannes Baron Alfred Groß, dem Vater ihres Kindes Lea, immer wieder ins Unglück gerät. Alfred ist ein Spieler in Geldnöten und Hochstapler par excellence, der Dolores zu Beginn des Romans zwingt, sich als seine unverheiratete und kinderlose Tochter auszugeben und den Londoner Fabrikbesitzer Eduard Frank zu ehelichen. Da Alfred Lea in seiner Gewalt hat, lässt sich Dolores widerwillig auf den Plan ein, der tatsächlich gelingt. Eduard verliebt sich in Dolores und beide heiraten. Auf diese Weise bekommt der Baron Zugang zum Palais des Fabrikherren und nutzt in der Hochzeitsnacht die Gelegenheit, Wertpapiere aus Eduards Geldschrank zu stehlen, wird von jenem aber auf frischer Tat ertappt. Um nun von Eduard nicht als Dieb der Polizei übergeben zu werden, erpresst Alfred ihn. Er erzählt ihm, dass er nicht der Vater, sondern der Ehemann von Dolores ist und droht, Eduard bei einer Verhaftung seinerseits der Bigamie zu bezichtigen. „Wagen sie es nicht, jenes reine und schöne Wesen mit ihren teuflischen Verdächtigungen zu besudeln“191, empört sich Eduard. Unsicher, ob Alfred nicht doch die Wahrheit gesagt hat, lässt er ihn aber unbehelligt. Damit hat Alfred erreicht, was er wollte und sich das erste, aber nicht das letzte Mal zwischen das Glück von Dolores und Eduard gestellt: „Das war der Baron Groß,“ heißt es an jener Stelle über ihn, „der in dieser Nacht plötzlich seine Larve abwarf und sich, durch Noth dazu gedrängt, in seiner ganzen Gesunkenheit zeigte.“ 192 Da Eduard in Dolores zunächst eine Komplizin Alfreds vermutet, muss diese fliehen. Damit ist der zentrale Konflikt des Romans vorgezeichnet, der sich semantisch auf die Dichotomie von Reinheit und Unreinheit reduzieren lässt. Er besteht darin, dass übelwollende Personen aus eigennützigen Motiven heraus Dolores beständig ins Unglück stürzen und ihre moralische Reinheit gefährden. Mit der Zeit wird Eduard die Irrungen des Romanverlaufs als „eine niederträchtige, verächtliche Komödie“ begreifen, die er mit den Worten kommentiert: „Ah – wie schmutzig das alles war!“193 Auf den über zweitausend Seiten wird Alfred in betrügerischer Manier immer wieder von Neuem versuchen, an Geld zu kommen und sich unter anderen Namen und an anderen Orten ein Leben in Luxus leisten zu können. Allerdings richten sich seine Intrigen nicht nur gegen Dolores. Als Heiratsschwindler stürzt er im Verlauf des Romans auch andere Frauen aus gehobenen Kreisen ins Unglück, die er mit Charme für sich einzunehmen versucht, um ihre Vermögenswerte zu erheischen. Obwohl charakterlich „unruhig und zerfahren“ und in jeder Beziehung ohne moralische Grundsätze, besitzt er die Fähigkeit, sich „zu verstellen“ und den Frauen, denen er schmeichelt, „den Hochherzigen und Liebenden zu spielen“, weshalb ihm sogar „Mädchen von der Seelenreinheit unserer Dolores“ nahezu „blindlings vertrau[en]“194. Laut Kommentar des allwissenden und sich häufig mit moralischen Wertun190 Kosch (1993), S. 40. 191 Hartmann, Hugo: Dolores die verkaufte Frau oder das Geheimnis des Frauenarztes. Dresden 1897, S. 28. 192 Ebd., S. 27. 193 Ebd., S. 638. 194 Ebd., S. 433.

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gen einschaltenden Erzählers, besitzt er „eine dämonische Macht“, die er „auf Frauenherzen auszuüben im Stande ist“195. Darüber hinaus scheut Alfred aber auch vor Vergehen wie Raub, Entführung und Erpressung nicht zurück. Zugute kommen ihm dabei die Gabe der sozialen Anpassungsfähigkeit, körperliche Gewandtheit und ein Geschick sich zu verkleiden, wodurch er einige Male der Polizei entkommen kann (vgl. Abb. 2). Insofern lässt sich Dolores dem Genre des Verbrecher- und Hochstaplerromans zuordnen, der von einem spielerischen Umgang mit Identitäten und sozialen Rollen lebt. Nach dem Mord an einer Pfandleiherin und einer längeren Flucht wird Alfred am Ende des Romans verhaftet und nach einer spektakulären Gerichtsverhandlung für seine zahlreichen Vergehen hingerichtet. Desweiteren kann man Dolores aber auch als einen Gesellschaftsroman lesen, der an verschiedenen europäischen Schauplätzen in unterschiedlichen sozialen Schichten und Milieus spielt. Nicht nur das Leben der Reichen, sondern auch die Verhältnisse der Armen (Arbeiter, Dienstboten) und Ärmsten (Arbeits- und Mittellose) werden ausführlich geschildert. Die Romanhandlung führt ihre Protagonisten somit nicht nur in die Salons und Theater, sondern auch in die Fabriken sowie in großstädtische Arbeiter- und Elendsviertel. Auch ein Gefängnis und ein Irrenhaus sind Orte der Handlung. Mit der Schilderung randständiger Milieus steht der Roman in der Tradition der Geheimnisliteratur suescher Provenienz (vgl. Kap. 2.2). Er lebt von abwechselnden Schilderungen verschiedener sozialer Milieus, wodurch er den zeitgenössischen Lesern Identifikationsmöglichkeiten bot, aber auch Räume für eskapistische Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen eröffnete. Spannung gewinnt Dolores maßgeblich durch das Nebeneinander verschiedener, lose miteinander verwobener Handlungsstränge. Zusätzlich zu den Dolores betreffenden Episoden gibt es Nebenhandlungen, die vom Grundprinzip her allesamt ähnlich aufgebaut sind. Beständig werden positiv gezeichnete Figuren durch die Intrigen diverser Gegenspieler ins Unglück gestürzt und dabei nicht selten in Lebensgefahr gebracht. Stets zielen die Episoden auf ein Mitleid mit den ‚Unglücklichen‘; sie sind die positiven Identifikationsfiguren des Romans. Dolores ist eine prototypische ‚Unglückliche‘, für die bereits in der Anfangssequenz des Romans, in der man sie zum ersten Mal auf der Flucht vor Alfred erlebt, Sympathie geweckt wird. Die Erzählung beginnt in medias res: Eine junge Frau, welche ein etwa zweijähriges Kind, sorgsam in ihrem Umhang gehüllt, auf dem Arme trug, eilte an einem kalten Novembertage schnell durch die in trübe Nachmittagsdämmerung gehüllten Straßen hin. Der Wind, der ihr mit wachsender Gewalt entgegenwehte und Regentropfen in ihr Gesicht peitschte, ließ ihr leichtes Kleid flattern, das, wie auch der dünne Umhang, ihr nur unvollkommen Schutz gewährte. Aber die junge, mädchenhaft schlanke Frau achtete nicht auf Sturm, Regen und Kälte. Besorgt nur waren ihre Blicke auf das kleine Mädchen gerichtet, das sie an ihr Herz drückte. Ein kleines Hütchen, das einst hübsch und elegant gewesen, nun aber abgenutzt aussah, bedeckte ihren Kopf. Man sah ihrer ganzen Kleidung an, daß sie einst in besseren Verhältnissen gelebt, jetzt aber mit Noth und Sorge zu kämpfen hatte; auch das bleiche, feingeschnittene, schöne Gesicht und die rothgeweinten Augen verriethen, daß sie eine Unglückliche war, an welcher die Men-

195 Ebd., S. 980.

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schen theilnahmslos vorüberhasteten – jeder hatte mit sich zu thun. Wer kümmerte sich in der großen Stadt um den anderen? 196

Der Romanbeginn ist rhetorisch geschickt aufgebaut, schließlich sollte er möglichst viele Menschen zum Kauf animieren. Nachdem ein Interesse für die mit ihrem Kind fliehende junge Mutter geweckt worden ist, wird behauptet, dass ihre Notlage die meisten Menschen nicht interessieren würde. Die Frage am Ende des Zitats sollte als Antwort eine emotionale Trotzreaktion hervorrufen, die unausgesprochen blieb: ‚Niemand – außer wir Leserinnen und Leser!‘ Denn diejenigen, die Dolores´ Geschichte in 90 Lieferungen verfolgten, würden im Gegensatz zur teilnahmslosen Menge ein solches Mitgefühl empfinden, lautet der Subtext des Romanbeginns. Die Leser interessierten sich für die ‚Not‘ und die ‚Sorge‘ unglücklicher, in prekäre Situationen geratener Menschen, die trotzdem versuchten, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Tatsächlich schließt der Roman an den Erfahrungshorizont einer sozial niedrig stehenden Leserschaft an, für die das Ungenügen an der Realität und die Schwierigkeit sozialen Aufstiegs alltägliche Realität bedeutete. Wenn etwa ausführlich die lange Zeit vergebliche Arbeitssuche der Romanfigur Julia von Liebenau geschildert wird, dann mochte sich bei der Lektüre so mancher Leser mit einer unangenehmen, aber auch allzu bekannten Erfahrung konfrontiert gesehen haben. Und wie es ihr täglich ergangen war, erging es ihr auch heute. Sie kam in das Büreau einer Fabrik. Höflich und liebenswürdig empfing man sie. Als sie aber ihr Anliegen vorgetragen, betrachtete man sie mit mitleidigen Blicken und zuckte die Achseln. „Sie haben keine kaufmännischen Vorkenntnisse? Bedauern unendlich! Überdies ist der Andrang so enorm, daß an eine Anstellung ohnedies nicht zu denken wäre!“197

Alltägliche Zwänge, Sorgen und Wünsche von Arbeitssuchenden, von Arbeitern, Dienstboten und einfachen Angestellten wurden ernst genommen und bilden das ‚emotionale Fundament‘ des Romans. Die in leidvolle Situationen geratenden ‚Unglücklichen‘ der Romanhandlung sind „Gefährten“198 der zu den gesellschaftlichen Randgruppen rechnenden potentiellen Leserschaft. Persönlich erfahren die (nicht alle aus besseren Verhältnissen stammenden) Romanfiguren, wie schwierig es ist, sich am unteren Rand der Gesellschaft gegen die Not zu stemmen. Beispielsweise ist Dolores nach diversen Schicksalsschlägen gezwungen, im Londoner Elendsviertel unterzutauchen und dort wochenlang „in einer elenden, schmutzigen Wohnung unter den Aermsten der Armen“ 199 zu hausen. Sie erlebt dort, was der Erzähler in einer anderen Handlungssequenz feststellt: „O, wie schwer war doch das Leben, wie schwer für die Unglücklichen, die das Schicksal für den Kampf mit dem Dasein mit nichts ausstattete, als mit einem reinen Herzen und redlichem Willen!“200 Interessant ist, dass die Erzählinstanz die Probleme der so196 197 198 199 200

Ebd., S. 1. Ebd., S. 530. Ebd., S. 528. Ebd., S. 1221. Ebd., S. 531.

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zial Schwachen als einen darwinistischen Daseinskampf darstellt, diesen aber an traditionelle Tugendideale bindet. Die Reinheit des Herzens und die Redlichkeit des Willens werden zu den beiden einzigen Kapitalien der ‚Unglücklichen‘ erklärt und gleichsam verklärt. Denn das märchenhaft anmutende, sozialutopische Moment der Handlung besteht darin, dass es die Hauptprotagonisten letztlich allesamt schaffen, sich gewissermaßen mit Herz und Willen aktiv aus ihren jeweiligen Notsituationen zu befreien. So bekommt Dolores nach längerer Arbeitssuche eine Stelle als Korrespondentin in einer in London residierenden deutschen Handelsfirma und kann darum bald ihre schmutzige Unterkunft im Elendsviertel gegen ein Zimmer „in einem ärmlichen, aber sauberen Hause“201 eintauschen. Damit repräsentiert sie eine an den Tugenden von Fleiß und moralisch-sittlichem Verhalten gekoppelte Hoffnung sozialen Aufstiegs. Das lässt sich auch an der positiv konnotierten Nebenfigur des Dr. Roger festmachen: Der junge Arzt stammte aus einer armen aber ehrenhaften Familie. Der Aelteste von sieben Geschwistern, hatte er bereits frühzeitig Noth und Elend kennen gelernt, und nur durch eisernen Fleiß war es ihm gelungen, seines Schicksals Herr zu werden und auf die hohe Stufe geistiger und sittlicher Vervollkommnung zu gelangen, auf der er sich heute befand. 202

Insofern die unglücklichen Romanfiguren in ihrer Not tugendhaft bleiben, verdienen sie sich ihr Happy End, dass ihnen letztendlich auch niemals verweigert wird. Freilich muss bedacht werden, dass die zum Teil abstrus anmutende Handlungsführung ein uneingeschränktes Happy End für Dolores über zweitausend Seiten lang verweigert. Gleiches gilt für andere Hauptfiguren, die ebenfalls mehrfach zurück ins Unglück gestürzt werden. Positive Entwicklungen und glückliche Fügungen wechseln mit Schicksalsschlägen ab und so weiter. Die zahlreichen biographischen Wendungen, die Dolores und die anderen Hauptfiguren im Verlauf der Romanhandlung vollziehen, täuschen eine für die Gesellschaft um 1900 eher untypische soziale Mobilität vor, boten den Lesern damit allerdings Projektionsflächen für Abstiegsängste und Aufstiegsträume. Die Gegenspieler der ‚Unglücklichen‘ werden im Roman als ‚Unwürdige‘ bezeichnet. Während jene ihr Schicksal mit moralischen Mitteln zu bewältigen versuchen, ignorieren diese die moralischen Spielregeln. Anstatt fleißig zu sein, sind die ‚Unwürdigen‘ untätig, anstatt sparsam zu sein, verschwenden sie ihr Geld und ihre Lebenszeit, anstatt gütig zu sein, handeln sie eigennützig und scheuen dabei nicht vor Verbrechen zurück, mit denen sie andere Personen ins Unglück stürzen. Damit erzeugt der Roman einen holzschnittartigen moralischen Dualismus. Beispielsweise besitzt Arno Huth, ein Freund Alfreds, statt Herzensreinheit „einen niedrigen, gewissenlosen Charakter“ und statt eines redlichen Willens „einen unausrottbaren Hang zu einem rohen Genußleben“203. Auch Alfred selbst setzt sich in seinem Handeln ohne Bedenken über „die engherzigen Grundsätze der Moral und Rechtlichkeit der elenden

201 Ebd., S. 1263. 202 Ebd., S. 1494. 203 Ebd., S. 193.

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Philister“204 hinweg. Aus den Erfolgen seiner Verbrechen leitet er sein „Anrecht auf Reichthum und Wohlleben“ ab und hält es gar für „unwürdig“, sich in redlicher Arbeit seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Und wo hätte sich auch eine Thätigkeit gefunden, welche ihm Mittel in den Schoß geworfen hätte, die einen Baron Groß für seinen Lebensunterhalt bedurfte? Denn wahrlich, die Menschen, welche tagsüber in Kontoren und Werkstätten arbeiteten, besaßen nicht einmal Zeit zu Schwelgereien und üppigen Gelagen, selbst wenn sie die Mittel dazu besessen hätten.205

Bei einer Leserschaft, die in der Regel hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten musste, dürfte, bei aller etwaigen Faszination für seine Hochstapeleien, die Sympathie spätestens aufgrund solcher Aussagen zuungunsten Alfreds und zugunsten der ‚Unglücklichen‘ tendiert haben. Eine andere unwürdige Romanfigur ist Virginia Kennedy, die sich im Romanverlauf mehr und mehr zur Antagonistin von Dolores entwickelt. Von vornherein werden ihr negative Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben. Bereits als sie das erste Mal im Roman auftaucht, heißt es, dass sie ein „hübsches, aber hochmütiges Gesicht“ hat; als ihre Mutter mit ihr reden möchte, liegt das Mädchen mit einem „Buch in der Hand […] lässig auf einem Divan“ und richtet sich nur „widerwillig aus seiner bequemen Lage auf“206. Dabei fügt sich das Bild der Lesesucht und Faulheit, das Virginia abgibt, in ein heruntergekommenes Interieur ein: Der Raum, in welchen das junge Mädchen blickte, war ebenso wie der, in welchem sie sich befand, mit einer Einrichtung mit verblichenem Glanze ausgestattet. Die Überzüge der Möbel waren von werthvollem Stoffe, aber verschossen und schadhaft, die Politur der Möbel erblindet und das Holz wurmzerfressen. Auch die Vorhänge der Fenster und Thüren, sowie die Teppiche waren von dem Zahne der Zeit arg mitgenommen, so daß die ganze Einrichtung den Eindruck machte, als gehörte sie einer heruntergekommenen Familie, die dereinst bessere Tage gesehen. Und so war es auch. Frau Kennedy, die Tante Eduard Franks, war die Witwe eines ehemaligen kleinen Beamten, der vorzeitig verstorben war und den Frauen nur ein geringes Vermögen und eine noch geringere Pension hinterlassen hatte. So wäre den beiden Frauen vielleicht schwer gewesen, der Noth den Eintritt in ihr Haus zu verwehren, wenn sie nicht an Eduard Frank einen treuen Freund und Helfer gefunden hätten. Allerdings waren ihre Verhältnisse trotzdem keine geordneten, da der Hochmuth Frau Kennedy´s und die Verschwendungssucht ihrer einzigen Tochter selbst mit einem größeren Vermögen nicht hauszuhalten vermocht hätten.207

Damit unterscheidet sich die Wohnung der Kennedys von den vereinzelt im Roman auftauchenden Haushalten positiv gezeichneter Nebenfiguren, die zwar von Armut zeugen, aber trotzdem sauber und ordentlich gehalten werden. Während sich die 204 205 206 207

Ebd., S. 1432. Ebd., S. 1431-1432. Ebd., S. 388. Ebd.

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Kennedys trotz eigener finanzieller Engpässe verschwenderisch geben und es auch vernachlässigen, sich um ein gepflegtes und vorzeigbares Zuhause zu kümmern, bewohnt Frau River, bei der Dolores zwischenzeitlich unterkommen kann, ein „einfach aber sauber ausgestattetes Gemach […]. Auf dem Herde, in einer Ecke des kleinen Raumes, glühte noch ein Kohlenfeuer, indessen auf dem sauber gedeckten Tische eine freundliche Lampe brannte, neben welcher die aufgeschlagene Bibel und auf dieser eine Hornbrille lag.“208 Im Frömmigkeits-, Sauberkeits- und Ordnungsbewusstsein von Frau River manifestiert sich ihr positiver Charakter. Dolores hilft sie aus uneigennützigen Motiven, wobei sie darauf achtet, dass ihre gute Tat auch einer ihr würdigen Person zukommt: „Können Sie mir schwören, daß sie eine Unglückliche und keine Unwürdige sind?“ fragt sie Dolores deshalb: „Denn für eine solche wäre kein Platz in diesem Hause!“209 Das penible Ordnungsbewusstsein Frau Rivers erstreckt sich bis auf den Bereich ihres moralischen Handelns. Virginia, die bezeichnenderweise lieber „auf einer Ottomane liegend ein Modejournal“ 210 durchblättert, als ernsthaft in der Bibel zu lesen, verrichtet hingegen nur dann gute Taten, wenn sie selbst von ihnen profitieren kann. Als sie sich wohltätig um die Kinder einer erkrankten Frau eines Arbeiters kümmert, um sich auf diese Weise bei Eduard einzuschmeicheln, gibt sie ihrer Mutter gegenüber offen ihren Widerwillen zu: „[I]ch habe es wirklich satt mich länger mit dem schmutzigen Arbeiterpack abzugeben und die ruppigen Bälger zu kämmen und zu waschen! Ein- oder zweimal werde ich wohl noch hingehen müssen, dann aber wird die Frau sehen, wie sie allein fertig wird.“ 211 Obwohl sie selbst von der finanziellen Hilfe Eduards abhängig ist, scheut Virginia den persönlichen Einsatz für sozial niedrig stehende Personen. Mit ihrer abfälligen Bemerkung stellt sie sich endgültig als eine „Unwürdige“ dar, die kein Mitleid von den Lesern zu erwarten hat. Mit ihren Intrigen richten sich die ‚Unwürdigen‘ immer wieder gegen die Ehre und den guten Ruf der ‚Unglücklichen‘, die darum beständig gezwungen sind, der „Schande zu entgehen“212. Besonders die Reinheit der weiblichen Figuren stellt sich wiederholt als gefährdet heraus. Mehrfach wird im Romanverlauf betont, wie Alfred den „Namen einer wehrlosen Frau besudelt“213, was besonders deshalb problematisch ist, weil die Reinheit beständig als das höchste Gut von Frauen in Szene gesetzt wird. Sie basiert auf einer emotional grundierten moralischen Güte und Selbstlosigkeit, auf einem Maximum an Liebes- und Leidensfähigkeit sowie auf sexueller Enthaltsamkeit. Lebenserfahrung und Urteilskraft sind hingegen nicht vonnöten. Auch kann die Reinheit von Frauen nicht von materiellem Schmutz, sondern nur von moralischem Fehlverhalten beeinträchtigt werden. Die Angriffe auf die Reinheit weiblicher Romanfiguren richten sich insbesondere gegen die körperliche Selbstbestimmung der Frau. Stets schaffen es die ‚Unglücklichen‘, den zudringlichen Männern im letzten Moment zu entfliehen. Als Dolores als Zofe angestellt ist, wird sie Opfer sexualisierter Übergriffe vonseiten des Vikomte Kerbriand. Der Adlige verficht „gleich vielen 208 209 210 211 212 213

Ebd., S. 93-94. Ebd., S. 97. Ebd., S. 438. Ebd., S. 732. Ebd., S. 239. Ebd., S. 884.

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seiner Standesgenossen“ die Meinung, „daß ein junges Mädchen, das schön, aber arm ist und sich überdies in dienender Stellung befindet, nur den Zweck hat, ihm und seinesgleichen zum Zeitvertreib zu dienen, und sich geehrt fühlen mußte, wenn er sich zu einigen aufdringlichen Liebenswürdigkeiten herabließ.“214 Zunächst kneift Kerbriand Dolores in die Wange. Als sie sich deshalb über ihn entrüstet, wird er nur noch zudringlicher: „‚Du bist drollig, Kind!‘ sagte er. ‚Für ein Kammerkätzchen besitzest Du eine recht nette Portion Unverfrorenheit! Aber ich will Dir deswegen nicht böse sein, denn Dein Zorn steht Die allerliebst zu Gesichte. Strafe aber muß sein!‘ Und vor Sinnlichkeit glühend, drang er brutal auf sie ein und versuchte, den Arm um ihren Leib zu schlingen.“215 Mit Mühe schafft es Dolores, sich zu entwinden, woraufhin Kerbriand eine Drohung ausstößt: „Sie sollen ihre Frechheit büßen, Sie Person!“216 Mit dieser kleinen Handlungssequenz zum Thema sexualisierter Gewalt gegenüber abhängig beschäftigtem Dienstpersonal ist im Roman ein heikles Tabuthema aufgegriffen worden. Realistische Schilderungen der proletarischen Arbeitswelt um 1900 bietet Dolores nicht. Trotzdem spielten Arbeiter, durch mehrere Nebenfiguren in Szene gesetzt, eine zentrale Rolle. Sie boten vielen Lesern Identifikationsmöglichkeiten, weshalb die beleidigende Rede Virginias vom „schmutzigen Arbeiterpack“ 217 im Roman in diversen Episoden widerlegt wird. Soweit sie wertgeschätzt werden und in einem sozial abgesicherten Arbeitsverhältnis unterkommen, erweisen sich die Arbeiter als tugendhaft, fleißig und loyal. Damit spricht sich im Roman eine Sympathie für ein fürsorglich-patriarchales Herrschaftsmodell aus, das durch Eduard Frank repräsentiert wird. Der versteht es, sich „wie ein Vater“ um die Belange der Belegschaft seiner Spinnerei „zu sorgen“218. Zu seinen „Musteranstalten“ gehört auch eine Arbeitersiedlung mit einer „Gruppe kleiner Häuschen“219, in denen seine Arbeiter mit ihren Familien in einer gepflegten Umgebung leben können: „Schmuck und sauber standen sie in gleichmäßigen Abständen, jedes umgeben von einem kleinen Gärtchen, das von einem grünbestrichenen Staket umsäumt wurde.“220 Eduard setzt sich mit dem von ihm geförderten Wohnungsbau gegen die soziale Verelendung ein, wie sie etwa in einem schmutzigen Londoner Arbeiterviertel vorherrscht: „Die Häuser, die schier bis zum Himmel ragten, waren grau, einförmig und verwahrlost, verwahrlost auch waren die zerlumpten Kinder, die in den Gossen spielten, verwahrlost die Weiber mit den schmutzigen Zottelköpfen und die Männer, die betrunken über den Fahrdamm taumelten.“221 Eduards soziale Fürsorge wird auch von Erzählerseite als vorbildlich gelobt. Er habe „Heimathstätten“ errichtet, in denen die Menschen „froh und glücklich“222 leben könnten.

214 215 216 217 218 219 220 221 222

Ebd., S. 801-802. Ebd., S. 802. Ebd., S. 803. Ebd., S. 732. Ebd., S. 726. Ebd., S. 1592. Ebd., S. 726. Ebd., S. 1750. Ebd., S. 727.

Der Kampf gegen den „Kolportageschund“ um 1900 | 347

Als Eduard aufgrund von Intrigen vorübergehend in der Irrenanstalt landet, wird die Spinnerei von einem inkompetenten, die Arbeiterehre nicht respektierenden Ingenieur namens Harrison geleitet und rasch heruntergewirtschaftet. Die Fabrikgebäude verkommen „zu Brutstätten von Verschwörungen, von Unzufriedenheit, von Haß und Verhetzung“223. Als er die Tochter eines ehrbaren Arbeiters bedrängt, erhält er von einem Beschäftigten „zwei schallende Ohrfeigen, die so kräftig ausgefallen waren, daß der Ingenieur taumelte und sich die Spuren der Arbeiterhand alsbald auf den rothen, geschwollenen Wangen Harrison´s zeigten.“224 Der Vorfall hat einen nicht mehr zu bändigenden Aufruhr zur Folge, bei dem das Werk mitsamt dem palastartigen Wohnsitz des Fabrikherren von „entmenschten“225 Arbeitern niedergebrannt wird. Als Eduard, aus der Irrenanstalt geflohen, schließlich vor den Trümmern steht und sieht, wie die Revoltierenden, denen „eine lange Kerkerstrafe gewiß“ ist, von der Polizei abgeführt werden, sind sie für ihn „weniger Schuldige, als Unglückliche, Bejammernswerthe“226. Während die Rebellion der Arbeiter bezüglich ihrer Folgen absolut negativ dargestellt wird, wird die Wut der Menschen aufgrund des ehrverletzenden Handelns Harrisons emotional entschuldigt. Der Roman lässt somit keine Sympathie für die Umgestaltung des traditionellen Herrschaftsmodells erkennen. Einen sozial fürsorglichen Umgang mit unteren Schichten präferierend, wird allerdings implizit vor den Folgen einer unsozialen, die einfache Bevölkerung nicht ernst nehmenden Politik gewarnt.

8.7 DIE ‚SCHUNDLITERATUR‘ UND DIE UNKUNDIGEN EXPERTEN Die Untersuchung zu Dolores platziert sich in einer erstaunlichen Forschungslücke. Bislang existieren keine literaturwissenschaftlichen Studien zu Lieferungsromanen, obschon sie im Zuge der „Demokratisierung des Lesens“ 227 einen großen Stellenwert erlangt haben und zudem von den bürgerlichen Eliten im ‚Schundkampf‘ besonders diskreditiert wurden. Vergleicht man nun Dolores mit der Kritik, die sich um 1900 gegen die Lieferungsromane richtete, ist eine extreme Diskrepanz zu erkennen. Traditionelle Moralvorstellungen werden in Dolores nicht unterlaufen. Weder werden sexuelle Ausschweifungen in Szene gesetzt, noch werden irgendwelche Gewaltverbrechen verherrlicht. Die Vorstellungen von Gut und Böse werden nicht in Frage gestellt und sind den Figuren aufgrund ihrer schablonenhaften Züge eindeutig zuzuordnen. Ambivalente Charaktere gibt es nicht. Die positiv gezeichneten Figuren in Dolores verhalten sich allesamt sauber, sittlich und vorbildlich. Reinlichkeit, Ordnung und Sittlichkeit, Fleiß und Hilfsbereitschaft bilden das Wertefundament des Romans, auf dem sich die positiv gezeichneten Romanfiguren auf ihr immer wieder hinausgezögertes, letztlich aber doch gewährtes Happy End zubewegen. Damit bietet Dolores

223 224 225 226 227

Ebd., S. 1593. Ebd., S. 1598. Ebd., S. 1698. Ebd., S. 1782. Langenbucher (1975), S. 28.

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seinem Personal jene poetische Gerechtigkeit, wie sie etwa auch im Konzept des poetischen Realismus eingefordert wurde (vgl. Kap. 5). Wenn im Roman die Ehre der Arbeiter und ihr Anrecht auf soziale Fürsorge stark gemacht werden, ist damit auch keinesfalls die vorherrschende politische Ordnung hinterfragt worden. Dolores verfolgt vielmehr einen Realismus, der Lesern aus den unteren Schichten Identifikationsmöglichkeiten bot, ihre alltäglichen Träume und Sorgen ernst nahm und fiktiv ausgestaltete. Insofern haben sich in den Roman tatsächlich „Spuren der Arbeiterhand“228 eingeprägt. Bei den Lieferungsromanen handelte es sich von daher um eine idealrealistische Literatur für Unterschichten, die sich von den Prinzipien des bürgerlichen Realismus nur dadurch unterschied, dass sich das Figurenpersonal auch aus den Unterschichten rekrutiert hat. Der Vorwurf, dass Lieferungsromane unmoralischer ‚Schmutz‘ wären, trifft auf Dolores, wenn man die Bewertungsmaßstäbe der einstigen Kritiker anlegt, jedenfalls nicht zu. Angesichts der auf Reinheit geeichten semantischen Struktur des Romans waren die immer wieder an Lieferungsromane herangeführten ‚Schund- und Schmutzinvektiven‘ in keiner Weise zu rechtfertigen. Nur selten wurden zeitgenössische Stimmen laut, die auf diesen Umstand hinwiesen. Eine solche Ausnahme stellte ein Aufsatz des Literaturkritikers Ernst Heilborn dar, in dem er darauf verwies, dass die Lieferungsromane „in moralischer Hinsicht“ tatsächlich „weniger zu wünschen übrig“ ließen, „als man anzunehmen geneigt ist.“229 Angesichts dessen stellt sich die Frage, wieso der Schmutzvorwurf, obwohl er an den Texten vorbeiführte, so erfolgreich war und differenziertere Ansichten in den öffentlich geführten Diskursen Ausnahmen blieben. Die Kritik funktionierte, weil die Lieferungsromane in der bürgerlichen Gesellschaft nahezu einvernehmlich tabuisiert wurden. Man ignorierte sie, weil sie ‚Schmutz und Schund‘ waren. Las man sie doch, gab man dies, um die eigene Reputation nicht zu gefährden, nicht zu (vgl. Kap. 3). Insofern mussten die Kolportageromangegner auch keine eingehende Kenntnis von den Objekten ihrer Kritik besitzen. Ernsthafte literaturkritische Auseinandersetzungen über die ‚Schundtexte‘ durfte es aufgrund der ‚schweigenden Übereinkunft‘, sie geflissentlich zu ignorieren, gar nicht geben. So darf es nicht verwundern, wenn ein Referent in den einleitenden Worten eines 1899 gehaltenen Vortrags über Die Schundlitteratur, ihre Verderblichkeit und ihre Bekämpfung offen zugab, „daß meine persönlichen Erfahrungen auf diesem traurigen Gebiete leider ‒ oder sage ich vielmehr ‚glücklicherweise‘ ‒ nur geringe sind. Gestatten Sie deshalb, daß ich in meinem Referate hauptsächlich berufenere Sachverständige zu Worte kommen lasse!“230 Der unkundige Sachverständige berief sich auf Sachverständige, die ebenfalls keine Ahnung, geschweige denn Expertenkenntnisse von der Sache hatten. Dass niemand von ihnen als Unwissender aufflog lag auch daran, dass die Lieferungsromangegner in ihren Zirkeln verblieben. Hätte man Stimmen von Lesern zu Wort kommen lassen, hätten die ‚Schundkämpfer‘ ihre Argumente revidieren müssen. Insofern basierte der ‚Schundkampf‘ auf einer streng einzuhaltenden Distanz zu den ‚neuen‘ Lesern aus den Unterschichten. Aus einem paternalistischen Verständnis heraus gab man ihnen Hinweise, was sie lesen durften und was 228 Ebd., S. 1598. 229 Heilborn (1892/93), S. 216. 230 Koch (1900), S. 3.

Der Kampf gegen den „Kolportageschund“ um 1900 | 349

nicht; eine eigene Stimme geschweige denn ein eigenes literaturkritisches Urteil gestand man ihnen nicht zu. Insofern bestärkte der ‚Schundkampf‘ die soziale Kluft zwischen Bürgertum und den Unterschichten, die durch die soziale Öffnung des Kolportagebuchhandels und der damit einhergehenden „Demokratisierung des Lesens“ zu erodieren begonnen hatte. Solange weitere Studien über die Lieferungsromane ausbleiben, wird es auch die heutige Literaturwissenschaft nicht schaffen, den alten Mechanismen der Tabuisierung zu entgehen, die die unkundigen Sachverständigen von einst im ‚Schunddiskurs‘ installiert haben. Mit Abschnitt 8.6 liegt nun ein erster kleiner Beitrag zur Erforschung dieser unbekannten aber einstmals häufig gelesenen Literaturgattung vor.

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Der unreine Reigen und „die geheime Sittenreinheit der Normalmenschen“

Die Publikations- und Inszenierungsgeschichte von Arthur Schnitzlers Reigen ist ein Musterbeispiel für die Wirkmächtigkeit von Unreinheitsvorstellungen in den Diskursen um eine moderne Kunstliteratur.1 Für die fast 25 Jahre von der Fertigstellung des Textes im Frühjahr 1897 bis zum zweiten Berliner Reigen-Prozess im Herbst 1921 lässt sich dies anschaulich anhand zahlreicher historischer Quellen dokumentieren. Vor allen Dingen zeigt sich, dass die Grenze zwischen ‚reiner‘ und ‚unreiner‘ Kunst respektive Kunst und Schmutz manifest war und nicht nur von ‚Schundkämpfern‘ auf populäre Unterhaltungsliteratur projiziert wurde. Darüber hinaus können die Kräfte nachgewiesen werden, die in den von unterschiedlichsten Akteuren geführten Definitions- und Richtungskämpfen auf besagte Grenze eingewirkt und diese im Verlauf des Vierteljahrhunderts verschoben haben. Durch eine textnahe Auswertung der gut erschlossenen Quellen2 lassen sich die argumentativen Strukturen jener Kämpfe, die

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Am umfassendsten ist die Geschichte des Reigen in zwei in den 1990er-Jahren veröffentlichten Arbeiten dargelegt worden. Aufgrund seiner umfangreichen Materialanhänge hervorzuheben ist das zweibändige Werk von Pfoser, Alfred; Pfoser-Schewig, Kristina; Renner, Gerhard: Schnitzlers „Reigen“. Zehn Dialoge und ihre Skandalgeschichte. Analysen und Dokumente, 2 Bde. (Bd. 1: Der Skandal; Bd. 2: Die Prozesse). Frankfurt am Main 1993. Im Folgenden als Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bandnummer. – Ebenfalls gut aufgearbeitet ist die Geschichte von Schneider, Gerd K.: Die Rezeption von Arthur Schnitzlers Reigen 1897-1994. Text, Aufführungen und Verfilmungen. Pressespiegel und andere zeitgenössische Kommentare. Riverside 1995. Im Folgenden als Schneider (1995). Einen kurzen Abriss zur problematischen Publikationsgeschichte bietet ein bereits 1931 erschienener Aufsatz, in dem auch einige Pressestimmen erwähnt sind: Schinnerer, Otto P.: The History of Schnitzler´s „Reigen“. In: PMLA 46, 2 (1931), S. 839-859. Im Folgenden als Schinnerer (1931). – Einige interessante Details finden sich auch bei Mendelssohn (1970), v.a. S. 437-443 u. passim. Um die Bedeutung zu erschließen, die Schnitzler und sein Umfeld dem Reigen beigemessen haben, wird auf Tagebuchnotizen sowie Briefwechsel zurückgegriffen. Einen einführenden aber unvollständigen Überblick über Äußerungen Schnitzlers zum Reigen liefert Lindgren, Irène (Hg.): „Seh´n Sie, das Berühmtwerden ist doch nicht so leicht!“ Arthur Schnitzler über sein literarisches Schaffen. Frankfurt am Main 2002, S. 183-234. Im Fol-

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sich hinter den oft polemischen Äußerungen der Akteure verbergen, klar erschließen. Inhalts- und wirkungsästhetische Argumente, wie sie ähnlich etwa gegen die Lieferungsromane angeführt wurden (vgl. Kap. 8.5), bestimmten auch die Kritik der Reigen-Gegner. Dabei wird die Skandalgeschichte der Dialoge im vorliegenden Abschnitt als eine symbolisch stark aufgeladene Etappe im Kampf gegen ‚Schmutz und Schund‘ und für eine saubere Literatur erkennbar und diskursgeschichtlich anschlussfähig gemacht. Kulturkonservative, christliche und deutschnational-antisemitische Kräfte verbündeten sich, um gemeinsam auf ein Verbot jenes umstrittenen Werkes der Wiener Moderne zu drängen, wie es sich deutlich mit Blick auf den Berliner Reigen-Prozess und in Ansätzen bereits für die Zeit vor dem 1. Weltkrieg offenbart. Somit ist die im Folgenden nachvollzogene Geschichte auch ein Beispiel für die Instrumentalisierung des Kampfes gegen moderne Literatur aus politisch-ideologischen Motiven.

9.1 „VOLLKOMMEN UNDRUCKBAR“? DIE FRÜHGESCHICHTE DES REIGEN VOR 1903 Drei Monate lang arbeitete Schnitzler im Winter 1896/97 an den zehn Dialogen, die er zunächst mit dem Titel Liebesreigen versah.3 Dass er in jenen Tagen bereits ahnte, an welch problematischem Text er schrieb, belegen Briefe, in denen er ihn als „vollkommen undruckbar“4 sowie als unaufführbar5 bezeichnete. Und nachdem Schnitzler

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genden als Lindgren (2002). – Zu den Tagebüchern siehe Schnitzler, Arthur: Tagebuch, 10 Bde. Wien 1987-2000. Im Folgenden als Schnitzler (1987-2000), Tagebuch I-X. Folgende Briefwechsel sind herangezogen worden: Schnitzler, Arthur: Briefe 1875-1931. Hg. von Therese Nickl und Peter M. Braunwarth. Frankfurt am Main 1981. Im Folgenden als Schnitzler (1981), Briefe I. – Rodewald, Dierk; Fiedler, Corinna (Hgg.): Samuel Fischer, Hedwig Fischer. Briefe mit Autoren. Frankfurt am Main 1989, S. 51-164 u. S. 851889. Im Folgenden als Fischer/Schnitzler (1989), Briefe. – Nickl, Therese; Schnitzler, Heinrich (Hgg.): Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler. Briefe. Frankfurt am Main 1964. Im Folgenden als Hofmannsthal/Schnitzler (1964), Briefe. – Daviau, Donald G: The Letters of Arthur Schnitzler to Hermann Bahr. Chapel Hill 1978. Im Folgenden als Schnitzler/Bahr (1978), Briefe. Den zweiten Berliner Reigen-Prozess dokumentiert Heine, Wolfgang (Hrsg.): Der Kampf um den Reigen. Vollständiger Bericht über die sechstägige Verhandlung gegen Direktion und Darsteller des Kleinen Schauspielhauses Berlin. Berlin 1922. Im Folgenden als Kampf u. d. Reigen (1922). „Einen Hemicyclus von zehn Dialogen begonnen“; siehe Schnitzler, Arthur: Tagebuchnotiz, 23.11.1896. In: Ders. (1989), Tagebuch II, S. 226. ‒ „Liebesreigen beendet“; siehe Ders.: Tagebuchnotiz, 24.02.1897. In: Ebd., S. 239. „Geschrieben hab ich den ganzen Winter über nichts als eine Scenenreihe, die vollkommen undruckbar ist, literarisch auch nicht viel heißt, aber, nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Theil unsrer Cultur eigentümlich beleuchten würde.“ Siehe Schnitzler; Arthur: Brief an Olga Waissnix, 26.02.1897. In: Schnitzler (1981), Briefe I, S. 314-315, S. 315.

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am 24. Februar 1897 seine Arbeiten am Liebesreigen beendet hatte, blieb er, was dessen Publikation betraf, weiterhin skeptisch und zögerte noch monatelang damit, sie in die Wege zu leiten.6 Erst gegen Ende des Jahres setzte er seinen Verleger S. Fischer von der Existenz der Dialoge in Kenntnis, wobei er bereits andeutete, wie heikel eine Veröffentlichung für den Verlag möglicherweise werden könnte.7 Nach der Lektüre der Dialoge teilte Fischer die Bedenken Schnitzlers. Zwar wünschte er sich „dieses feine Werk zu veröffentlichen“, gab aber unumwunden zu, „große Bedenken“8 zu haben. Auch der in Fragen der Zensur versierte Anwalt Albert Osterrieth, den Fischer um eine Einschätzung gebeten hatte, warnte vor einer Publikation, da sie „manchen Anstoß erregen“ und wohl auch „gerichtlich verfolgt werden“ würde; unbedingt müsse man die „moralische Empfindlichkeit eines Staatsanwalts oder Gerichtshofes“9 berücksichtigen. Dementsprechend entschloss sich Fischer daraufhin gegen eine Veröffentlichung des Liebesreigen in seinem Verlag.10 Für eine alternative Form der Veröffentlichung des Werkes, dass Schnitzler 1899 auf Anraten Alfred Kerrs umgetauft und mit dem weniger platonischen, griffigeren Titel Reigen versehen hatte11, engagierte sich der Verleger aber weiterhin. Im August desselben Jahres 5

„Ich arbeite jetzt übrigens auch zu Zeiten – zehn Dialoge, eine bunte Reihe; aber etwas Unaufführbareres hat es noch nie gegeben.“ Siehe Schnitzler, Arthur: Brief an Otto Brahm, 07.01.1897. In: Ders. (1981), Briefe I, S. 309-311, S. 309. 6 Seinen Freunden hat er die Existenz des Liebesreigen in jenen Monaten nicht verschwiegen. Laut Tagebuchnotizen vom 17. und 24. März hat er Georg Hirschfeld, Hugo von Hofmannsthal, Gustav Schwarzkopf, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Leo Vanjung sowie Hermann Bahr und Karl Weiß aus dem Text vorgelesen und damit – wie er schrieb – „großen Erfolg“ gehabt (Schnitzler (1989), Tagebuch II, S. 241). Auch bei seinem Parisaufenthalt im Juni 1897 scheint Schnitzler mit Paul Goldmann über den Liebesreigen gesprochen zu haben. Obwohl der die Dialoge lobte, bestärkte er Schnitzlers Skepsis und riet ihm von einer Publikation ab, um den Gegnern keine Angriffsfläche zu bieten, was aus einem Brief Schnitzlers an Marie Reinhard vom 5. Juni 1897 hervorgeht (abgedruckt bei Lindgren (2002), S. 184). 7 Dies geht indirekt aber eindeutig aus einem Brief S. Fischers an Schnitzler hervor, in dem es heißt: „Sind denn diese Sachen wirklich so gewagt, daß sie sich meinetwegen dabei beunruhigen?“ Siehe Fischer, Samuel: Brief an Arthur Schnitzler, 13.11.1897. In: Fischer/Schnitzler (1989), Briefe, S. 59-60, S. 60. 8 Fischer, Samuel: Brief an Arthur Schnitzler, 11.01.1898. In: Ebd., S. 60. 9 Ders.: Brief an Arthur Schnitzler, 11.02.1898. In: Ebd., S. 61-62, S. 61. Die Stellungnahme Osterrieths hat S. Fischer dem Brief beigefügt. 10 Vgl. ebd., S. 62; S. Fischer hat in dem Brief noch einmal persönlich betont, dass „die Veröffentlichung des Liebesreigen in Deutschland unmöglich ist.“ 11 Hiervon berichtete Kerr im Berliner Reigenprozess von 1921 rückblickend: „Ich kannte das Buch, bevor es in die Welt kam, vor bald einem Vierteljahrhundert. Ich las es in der Handschrift des Dichters, bevor der Reigen gedruckt war, und ich bin die Ursache, daß das Werk nicht ‚Liebesreigen‘ heißt, sondern Reigen. Der Dichter schickte mir vor 1900 das Werk aus Wien und fragte, was ich davon dächte; ob ich es zur Veröffentlichung für geeignet hielte. Ich habe ihm zugeredet, es zu veröffentlichen. Ich bemängelte nur, daß das Werk ‚Liebesreigen‘ heißen sollte. Denn ich sagte oder schrieb ihm, dieser Begriff gehe zu weit. ‚Liebe‘ sei in dem ganzen Werk nicht geschildert – sondern etwas anderes, also der Ge-

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riet er schließlich dazu, es als Manuskript in einem österreichischen Verlag privat drucken zu lassen, um es dann – wenn es denn die verhältnismäßig liberale österreichische Buchzensur passieren sollte12 – wenigstens an Freunde verschenken zu können.13 Auf den Vorschlag des Privatdrucks ging Schnitzler ein; allerdings wurden die Dialoge schließlich doch in einer Druckerei im Deutschen Reich, die Fischer ihm vermittelt hatte, hergestellt.14 Auf Kosten des Autors erschien im Frühjahr 1900 der Reigen in einer kleinen Auflage von nur 200 Exemplaren, dem Schnitzler ein vielsagendes Vorwort beifügte: Ein Erscheinen der nachfolgenden Scenen ist vorläufig ausgeschlossen. Ich habe sie nun als Manuscript in Druck gegeben; denn ich glaube, ihr Wert liegt anderswo als darin, daß ihr Inhalt den geltenden Begriffen nach die Veröffentlichung zu verbieten scheint. Da jedoch Dummheit und böser Wille immer in der Nähe sind, füge ich den ausdrücklichen Wunsch bei, daß meine Freunde, denen ich dieses Manuscript gelegentlich übergeben werde, es durchaus in diesem Sinne behandeln und als ein bescheidenes, ihnen persönlich zugedachtes Geschenk des Verfassers aufnehmen mögen.15

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schlechtsakt. Im Zusammenhang damit entschloss sich der Dichter, die ersten beiden Silben wegzulassen und nannte es Reigen.“ Siehe Kampf u. d. Reigen (1922), S. 213. Der Vorschlag Fischers wird nachvollziehbar, wenn man sich den Zensuralltag in Deutschland und Österreich um 1900 vor Augen führt. Im Deutschen Reich war die Zensur zwar seit 1874 offiziell abgeschafft, doch galten in den einzelnen Ländern weiterhin unterschiedliche Gesetze und Polizeiverordnungen, mit denen die Behörden in ihren Zuständigkeitsbereichen gegen dort erschienene Bücher oder Theateraufführungen vorgehen konnten. Viele Werke waren deshalb in manchen Ländern verboten, in anderen – zumindest faktisch – nicht. Hinzu kam, dass jeder Bürger berechtigt war, beim Staatsanwalt Strafanzeige gegen ein Buch oder Theaterstück zu stellen, woraufhin dem betroffenen Werk unweigerlich der Prozess gemacht werden musste. In Österreich unterlag dagegen jedes gedruckte Werk einer einmaligen Vorzensur, deren Ergebnis in der Regel nicht mehr in Frage gestellt wurde. Vgl. Mendelssohn (1970), S. 439. Vgl. Fischer, Samuel: Brief an 30.08.1899. In: Mendelssohn (1970), S. 438. – Einen anderen Vorschlag hatte S. Fischer Schnitzler bereits im Februar 1898 unterbreitet: „Vielleicht empfiehlt es sich, das Werk in französischer Sprache in Paris erscheinen zu lassen, wodurch es jedenfalls für einen beträchtlichen Theil der deutschen Leser gerettet werden könnte.“ Fischer, Samuel: Brief an Arthur Schnitzler, 11.02.1898. In: Fischer/Schnitzler (1989), Briefe, S. 62. Betreut wurde die Auflage zwar im Verlag S. Fischer, nicht jedoch verlegt. Gedruckt wurde sie in der Buchdruckerei Roitzsch bei Bitterfeld, in der auch Fischers Neue Deutsche Rundschau produziert wurde. Bemühungen, einen Wiener Verlag für eine reguläre Veröffentlichung des Reigen zu gewinnen, nahm Schnitzler zeitgleich vor, eine Vereinbarung kam jedoch nicht zustande. Vgl. Mendelssohn (1970), S. 439-440 sowie Pfoser/PfoserSchewig/Renner (1993), Bd. I, S. 44. Ob das Risiko, dass der Privatdruck die österreichische Vorzensur nicht passieren und der Reigen damit nicht mehr verlegt werden dürfte, Schnitzler davon abhielt, ihn in Österreich herauszubringen, kann vermutet werden. Schnitzler, Reigen: [Vorwort]. In: Reigen. Privatdruck [1900]. In: Pfoser/PfoserSchewig/Renner (1993), Bd. I, S. 211, Dok. 6.

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Damit erkannte Schnitzler die Faktizität einer gesellschaftlich vorausgesetzten und auch justiziablen Grenze der Kunst, außerhalb der sich – „den geltenden Begriffen nach“ und wenigstens „vorläufig“16 – der Reigen befände, faktisch an, hinterfragte sie gleichzeitig und unterstellte ihren potentiellen Verfechtern – und zwar bevor sie überhaupt in Erscheinung treten konnten – mangelnde Intelligenz und Böswilligkeit. Die Dialoge privat zu veröffentlichen erlaubte es ihm immerhin, besagte Grenze wenigstens ein Stück weit zu umgehen und ein kleines Publikum von Freunden für sie zu gewinnen. In den Rezensionen, die als Reaktionen auf den Privatdruck erschienen, wurde dem weitestgehenden Ausschluss der Öffentlichkeit Verständnis entgegengebracht; die Rezensenten bedauerten allerdings, dass jener Schritt überhaupt notwendig war. In der Literaturzeitschrift Stimmen der Gegenwart gab Camill Hoffmann zu, dass der Reigen zwar „hart an der Grenze des Erlaubten vorbeibalancieren“17, diese aber keinesfalls überschreiten würde. Es sei unbedingt eine Kunst, „das Verschwiegenste und das Gewagteste“ so „fein und klar, so raffinirt naiv“ 18 auszudrücken, wie es Schnitzler mit seinen Dialogen elegant und gewandt umgesetzt habe. Dagegen beklagte er, dass die meisten seiner Zeitgenossen kein Sensorium für solche Feinheiten besitzen würden: „leider sind unsere Leute doch wohl wenig sinnlich, als sie der Autor haben möchte“19, meinte er und verwies zur Bekräftigung seiner These auf die in Deutschland noch nachhallenden Debatten um die so genannte ‚Lex Heinze‘.20 Ähnlich wie Camill Hoffmann äußerte sich auch Alfred Kerr in der Neuen Deutschen Rundschau bedauernd über den gesellschaftlich vorherrschenden Literaturgeschmack, der Schnitzler dazu gebracht habe, den Reigen bloß privat zu veröffentlichen: „Das Buch ist im Handel nicht erschienen. Unsre Besten haben kein Vertrauen zu dieser Gegenwart.“21 Inhaltlich erwähnte er lobend, dass Schnitzler etwas Verschwiegenes, nämlich die „unteren Zonen“22 des Menschen, in eine komödiantische Form gebracht habe. Gleichsam hob er aber auch den ernsten Zug der Dialoge positiv hervor: „Die Vergänglichkeit, auch des unterirdischen Lebens, klingt durch das Ganze.“23 Damit wäre der Reigen „ein kleiner Dekameron unserer Tage“ 24, womit ihn Kerr mit Bocaccios berühmten Novellen verglich, das bekanntlich selbst eine jahrhundertealte Verdrängungs- und Zensurgeschichte vorzuweisen hat. Als dritter Rezensent sprach Michael Georg Conrad in der Gesellschaft von einer „Serie erschütternder Blicke ins Kaleidoskop der Alltags-Liebe“25, die Schnitzlers Werk seinen Lesern bieten würde: „Und daß sich das als Reigen vollzieht, über die 16 Ebd. 17 Hoffmann, Camill: Drei Wiener Bücher. In: Stimmen der Gegenwart. Monatsschrift für moderne Litteratur und Kritik 2 (1901), S. 52-53, S. 52. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Hintergründe zur ‚Lex Heinze‘ liefert Stolleis (2010). 21 Kerr, Alfred: Reigen von Schnitzler. In: Neue Deutsche Rundschau 11 (1900), S. 666. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Conrad, Michael G.: [Rez.] Arthur Schnitzler. In: Die Gesellschaft 16, III (1900), S. 251. Im Folgenden als Conrad (1900).

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ganze soziale Rangabstufung hinweg, giebt diesen mit unerhört raffinierter naturalistischer Technik ausgearbeiteten Scenen ihren höllischen Humor.“26 Die pointierte Thematisierung des Geschlechtsaktes und der Umstand, dass er im Reigen über alle Gesellschaftsschichten hinweg vollzogen werde, ließen Conrad daran zweifeln, dass die Dialoge in absehbarer Zukunft regulär veröffentlicht werden könnten. Er mutmaßte, dass die „öffentliche Dummheit und die geheime Sittenreinheit der Normalmenschen“ ihre freie Publikation wohl „noch auf Jahrzehnte hinaus“27 verhindern würden. Die frühen Rezensenten waren demnach überzeugt davon, dass der Reigen aufgrund der Thematisierung des Verschwiegenen, Unterirdischen bzw. Unerhörten nicht mit den dominierenden Vorstellungen einer sittenreinen Kunst kompatibel wäre. Indem sowohl Sexualität als solche thematisiert sowie mit der sexuellen Doppelmoral auch die sozialen Mechanismen des Geschlechtslebens, d.h. die sich an Sexualität bindenden Verhaltens-, Kommunikations- und Machtstrategien offengelegt werden28, handelte es sich bei Schnitzlers Werk um ein (damals tatsächlich gewagtes) Spiel mit gesellschaftlichen Tabus, die in den Dialogen angedeutet, aber aufgrund des durch Gedankenstriche ausgesparten Geschlechtsaktes niemals ausbuchstabiert werden. Die Fürsprecher betonten zwar, dass der Reigen die Grenze des Sagbaren berühre, ohne sie durch Aussprechen des Unsagbaren, d.h. mit der Explikation von Sexualität zu überschreiten. Sie wussten aber auch, dass allein die Berührung jener Grenze in den Augen großer Teile der Bevölkerung und nicht nur in den Augen der kulturellen Eliten einen subversiven Akt vorstellte, der – wie sie schließlich Recht behalten sollten – bei öffentlichem Erscheinen Sanktionen nach sich ziehen würde. Auch M.G. Conrad war sich darüber bewusst, dass viele Personen die Dialoge als Tabubruch werten würden, weil in ihnen ein Tabu, über das man in der Öffentlichkeit nicht sprach, in ein literarisches Kunstwerk übersetzt worden war. Wenn er den potentiellen Gegnern Dummheit unterstellte, dann deshalb, weil sie – wie er richtig vermuten sollte – die angebliche Unsittlichkeit des Reigen vornehmlich an der Thematisierung von Sexualität festmachen würden, ohne es als überhaupt relevant zu erachten, dass sie in ihm explizit nicht vorkommt. Mit der Formel von der „geheime[n] Sittenreinheit der Normalmenschen“29 antezipierte er, dass die herkömmlichen Konversationsregeln (vgl. 3.2) von den Gegnern stillschweigend auf den Reigen appliziert werden würden. Einerseits scheint er damit dessen Diskreditierung in den Feuilletons als unrein und unsittlich, andererseits die polizeilichen und staatsanwaltlichen Akte der Zensur vorausgesehen zu haben, wie sie im Namen kunstunverständiger ‚Normalmenschen‘ auch gegen den Reigen getätigt werden sollten.30 26 Ebd. 27 Ebd. ‒ Ironisch schlug Conrad den Lesern seiner Rezension vor: „So mache man sich denn Herrn Arthur Schnitzler zum Freund und lasse sich ein nummeriertes Exemplar seines Reigen dedizieren!“ (Ebd.) 28 Vgl. Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I, S. 28, der aufgrund dessen die „satirische Wirkung“ der Dialoge hervorhebt. 29 Conrad (1900), S. 251. 30 Die ‚Normalmenschen‘ wurden in Strafprozessen um Kunst und Literatur häufig als Maßstab herangezogen, um die Frage zu entscheiden, welche Schriften, Abbildungen und Darstellungen nach § 184 des Strafgesetzbuches in geschlechtlicher Beziehung als sittlich oder

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Doch so weit war es noch nicht. Drei Jahre lang verblieben die Dialoge noch – „sich misstrauisch der Oeffentlichkeit“ 31 entziehend, wie es Camill Hoffmann formulierte – im Verborgenen, wodurch das Stück in jener Zeit dem vom Autor und seinen Freunden vorausgeahnten Skandal entging. Tatsächlich mochte sich in jenem Zeitraum in literaturinteressierten Kreisen eine geheimnisvolle Aura um Schnitzlers Werk gebildet haben, hinter der diejenigen, die von ihm gehört, es aber nicht gelesen hatten, ein höchst pikantes Buch vermuteten. 32 Es scheint zwischen 1900 und 1903 aber auch niemand der sicherlich mehr als 200 Leser, denen der Reigen zum offenen Geheimnis geworden war, öffentlich Anstoß genommen zu haben, was Schnitzler dazu gebracht haben mochte, seine bisherige Meinung bezüglich einer regulären Publikation zu überdenken.33 So erkundigte er sich zu Beginn des Jahres 1903 nochmals bei Fischer, ob jener den Reigen nicht inzwischen doch herausbringen wolle. Mit sehr deutlichen Worten beschied der Verleger die Anfrage erneut ablehnend: Lieber Herr Doctor! Ich habe den Reigen noch einmal gelesen, aber ich bin auch jetzt zu der Überzeugung gekommen, daß an eine Veröffentlichung in Deutschland nicht zu denken ist. Ich unsittlich zu gelten hätten. Vgl. Buchholz, Ernst: Wann ist Kunst unzüchtig? Das Ende des „Normalmenschen“. In: Ders.: Kunst, Recht und Freiheit. Reden und Aufsätze. München u.a. 1966, S. 31-43. – Buchholz schreibt dort, dass mit dem Terminus „Normalmensch“ eine gesellschaftliche Norm des „Sittlichkeitsempfindens“ präformiert wurde, „wie es normal und durchschnittlich breitere Volkskreise beherrsch[en]“ würde (S. 32) und hebt die Bedenklichkeit jener juristischen Praxis hervor: „denn Kunst wurde hier nicht mit dem Maßstab derer gemessen, die sich um ihr Verständnis bemühen. Sie wurde – wenigstens vorwiegend – gemessen mit dem Maßstab der Masse, die keine Beziehung zu ihr hat – eine für Literatur und bildende Kunst gefährliche Methode“ (S. 33). Auch im Berliner Reigen-Prozess von 1921 wurde von der Staatsanwaltschaft das angeblich verletzte sittliche Empfinden des ‚Normalmenschen‘ angeführt, um für ein Verbot der Aufführung im Kleinen Schauspielhaus zu plädieren; vgl. 9.3.3. 31 Hoffmann (1901), S. 52. 32 Vgl. Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I. Im Abschnitt „Eine Leidensgeschichte. Reigen, Verlage und Schnitzler“ (S. 43-79) schreiben Pfoser-Schewig und Renner über den Privatdruck, dass der Reigen „als ein höchst interessantes Buch [galt], für dessen Lektüre man einiges in Bewegung zu setzen bereit war. Von Beginn an umgab den Reigen neben der Aura des Geheimnisvollen auch die des Pikanten und Erotischen“ (S. 45-46). Dabei verweisen sie auf eine 1903 anlässlich der ersten regulären Publikation im Wien Verlag erschienene Rezension, in der über die Vorgeschichte von Arthur Schnitzlers Dialogen ausgesagt wird, dass „die zweihundert Exemplare des Reigens […] den Neid aller jener, die nicht vom Autor bedacht worden waren“, erregt hätten. „Alle Beziehungen wurden aufgeboten, alte Bekanntschaften erneuert, um ein Exemplärchen zu erlangen, natürlich meistens vergeblich, denn nur wenige sind in der Lage jenes hochstehenden Beamten, der einem Bittsteller die angesuchte Audienz nur deshalb gewährte, um von ihm beim Abschied den Reigen zu borgen. (Wahrheit oder Dichtung?).“ Aus Schiller, Friedrich: Wiener Brief. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel (Leipzig), Nr. 202 (1903), S. 6656-6657. 33 Vgl. Schinnerer (1931), S. 840 und Mendelssohn (1970), S. 440. – Dass die Zahl der Leser durch die Praxis des Weiterverleihens die Anzahl der hergestellten Exemplare übertroffen haben dürfte, ist bei einem Buch mit dem Ruf des Reigen wahrscheinlich.

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glaube auch nicht, ob dieses Werk unbeanstandet in Österreich erscheinen könnte. Aber das müssen die Wiener Verleger wissen. Diesen Reigen, der künstlerisch gewiß zu rechtfertigen ist, sollten Sie nach meiner Meinung einem größeren Publikum überhaupt nicht zugängig machen. Ich könnte mir vorstellen, daß dieses Werk in einer sehr exquisiten und teuren Ausgabe für reife und verständnisvolle Leser sehr am Platze wäre. Bevor Sie aber dieses Buch der breiteren Öffentlichkeit übergeben, wo es möglicherweise als pornographische Literatur empfunden und beurteilt werden könnte, sollten sie sich mit ihren Freunden gründlich beraten. 34

Aufschlussreich ist die rezeptionsästhetische Argumentationsweise Fischers, die es lohnt, noch einmal ausführlicher nachzuvollziehen: Der Wunsch, einen Literaturskandal von den Dialogen abzuwenden, bestärkte ihn in seiner Überzeugung, dass es richtig sei, sie nur für „reife und verständnisvolle“35 Personen zugänglich zu machen. Eine reguläre Reigen-Veröffentlichung wäre demnach nur dann denkbar, wenn es sich um eine Luxusausgabe handelte, die für Leser der „breiteren Öffentlichkeit“ 36 in aller Regel nicht bezahlbar wäre. Einzig die Exklusivität vermochte es in seinen Augen eventuell, den Reigen davor zu bewahren, von einem unverständigen Publikum als Pornographie „empfunden und beurteilt“ 37 zu werden. Implizit scheint Fischer damit Teilen der breiteren Bevölkerung abgesprochen zu haben, mangels Reife und Verständnis in Fragen der Kunst genügend abstrahieren und Kunstwerke autonom rezipieren zu können; seine Befürchtung, dass der Reigen aufgrund seines bereits erlangten Rufes und unvermeidlicher negativer Kritiken als pornographisches Werk gelesen und damit missverstanden werden könnte, war jedenfalls groß. Interessanterweise verfolgte er damit eine Argumentation, wie sie auch die Reigen-Gegner späterhin immer wieder anführen sollten, wenn sie zum Schutz unverständiger Rezipienten Veröffentlichungs- oder Aufführungsverbote einforderten. Daraus lässt sich freilich nicht ableiten, dass Fischer sich auf deren Seite geschlagen hätte. Seine Forderung nach Ausschluss des breiteren Publikums basierte auf dem Wissen um die gängige juristische Praxis in Deutschland, wonach das Sittlichkeits- und Schamgefühl eines kunstunverständigen Durchschnittspublikums in Strafprozessen üblicherweise als Maßstab herangezogen wurde, um zu beurteilen, ob ein Kunstwerk nach § 184 unzüchtig wäre oder nicht.38 Dass Fischer diese im Namen des ‚Normalmenschen‘ getätigte Zensur mit Blick auf den Reigen goutierte, ist definitiv nicht anzunehmen. Ähnlich doch anders als S. Fischer reagierten Hugo von Hofmannsthal und Richard Beer-Hofmann auf die Frage ihres Freundes Schnitzler, wie sie zu einer regulären Veröffentlichung seiner Dialoge stünden. Sie antworteten ihm in einem gemeinsam abgefassten Brief, den Peter de Mendelssohn aufgrund des scherzhaften Stils zurecht als „ein literarhistorisches Kuriosum erster Ordnung“39 bezeichnet. Dessen Inhalt sollte aber unbedingt ernst genommen werden, birgt er doch die unerhörte Einsicht, mit potentiellem literarischen Schmutz wie dem Reigen spekulieren zu können: 34 Fischer, Samuel: Brief an Arthur Schnitzler, 13.02.1903, . In: Mendelssohn (1970), S. 440441. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Vgl. Fußnote 30 in diesem Kapitel. 39 Mendelssohn (1970), S. 441.

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lieber Pornograph wir denken es käme darauf an was für ein Verlag Ihr Schmutzwerk herausgibt. Ist es etwa Grimm in Buda-Pest? dazu würden wir nicht raten. Ist es aber ein ernster Verlag, die Ausstattung sehr ernsthaft und anständig (Illustrationen à la Coschell würden diese Cochonnerie zum Gelächter Europas machen) dann geht es immerhin. Denn schließlich ist es ja ihr bestes Buch, Sie Schmutzfink. Weder ist es so confus wie das Vermächtnis, noch so glatt wie die Liebelei, noch so snobish wie die Beatrice, noch so unsäglich langweilig wie ihre läppischen Novellen, kurz, natürlich sollen Sie es herausgeben, unter dem Pseudonym Ludassy oder auch unter ihrem eigenen Namen. Aber in einer anständigen Form. Das ist unsere Ansicht. Sie müssen soviel Geld dafür bekommen (im V o r h i n e i n , denn im Nachhinein wird es confisciert) daß Sie sich jedenfalls darüber mehr freuen, als Sie sich später über das Schwätzen der Leute ärgern. Viele Leute werden es als ihr erectiefstes Werk bezeichnen. Ob i c h es an Ihrer Stelle herausgeben würde weiß ich nicht; jedenfalls würde ich Sie um Rat gefragt haben; geben Sie ihn mir also! Ob ich es an Ihrer Stelle herausgegeben hätte? Unbedingt, gegen einen beträchtlichen Vorschuß und unter ihrem Namen. (Der Vorschuß natürlich unter meinem Namen zahlbar.) Verstehen Sie also, was wir Ihnen geraten haben? Ernstlich: 1.) Summe 2.) Verlag entscheiden 3.) Ausstattung

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1.) Sehr groß, 2.) Sehr ernst (die war´s nicht, der´s geschah) 3.) Würdig, d.h. stark – wie Ihr Talent, Format einfach, und eher groß, ja nicht Taschenformat oder zierlich. Genug Hugo Ja! Richard Dieser Brief kann als Vorrede abgedruckt werden!40

Davon ausgehend, dass der Reigen nach seinem Erscheinen einen Skandal nach sich ziehen und bald verboten werden würde, stellten Hofmannsthal und Beer-Hofmann – ökonomisch kalkulierend – eine auf eben jene Annahme basierende Kosten-NutzenRechnung auf. Wenn man den Brief mit autonomieästhetischer Brille liest und dem Künstler als „Mensch ohne Inhalt“41 nicht zugesteht, außerästhetische, mit ökonomischen Zwecken und Zwängen behaftete Überlegungen an ein Kunstwerk heranzutragen, dann bleibt er eine unerhörte Kuriosität. Nur wenn man die Brille absetzt, kann man die Verwandlung des autonomen in den marktgebundenen Künstler beobachten, wie sie Hofmannsthal und Beer-Hofmann hier performativ – zwar ironisch gebrochen, aber ernst gemeint – vollziehen. (Der ironische Stil des Briefes ist selbst eine verschlüsselte Botschaft der Adressaten, dass sie sowohl um ihre Verwandlung, als auch um die Notwendigkeit wissen, sie niemals ernsthaft zugeben zu dürfen.) Alles andere als autonomieästhetisch argumentierend, gaben Hofmannsthal und Beer-Hofmann Schnitzler also die Empfehlung, auf den die Verkaufszahlen antrei40 Hofmannsthal, Hugo von u. Beer-Hofmann, Richard: Brief an Arthur Schnitzler, 15.02.1903. In: Hofmannsthal/Schnitzler (1964), Briefe, S. 167-168. Hervorhebung im Original; die kursiv gesetzten Worte stammen von Beer-Hofmann. 41 Agamben (2012), Titel.

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benden ‚Schmutzskandal‘ zu spekulieren und eine Veröffentlichung zu riskieren, soweit der absehbare finanzielle Gewinn das zu erwartende Ärgernis aufwiegen würde. Wenn man weiß, dass man eine Grenze überschreitet und ahnt, welche nachteiligen Sanktionen eine solche Grenzüberschreitung voraussichtlich nach sich ziehen werden – so die Überlegung –, dann kann man auch berechnen, ob bzw. unter welchen sonstigen Voraussetzungen die Vorteile einer Veröffentlichung deren Nachteile kompensieren dürften. Ihre den Tipps Fischers entsprechenden Vorschläge, das Werk in möglichst würdiger Aufmachung, in einem ernsten Verlag und zu einem hohen Preis publizieren zu lassen, entsprangen dem Gedanken, das drohende Verbot möglichst lange hinauszuzögern, um in jener Zeit genügend Profit mit dem Reigen machen zu können. Der Hinweis, kein Taschenbuchformat zu wählen, reagierte auf die Praxis der zeitgenössischen ‚Schmutz- und Schundbekämpfer‘, die sich vorrangig an den preisgünstigen, für Jugendliche und das so genannte ‚Volk‘ erschwinglichen Literaturformen entzündeten. Man wusste, dass der Blick der an Themen wie Jugendschutz und Volkssittlichkeit interessierten Öffentlichkeit zuallererst auf jene Veröffentlichungen fiel; die Publikation eines teuren und ‚seriös‘ aussehenden Buches sollte kritische Blicke ablenken.

9.2 DER VERÖFFENTLICHTE REIGEN. REIZ UND REAKTIONEN Die Briefe von Fischer und Hofmannsthal/Beer-Hofmann an Schnitzler sind beide auf Mitte Februar 1903 datiert. Zeitgleich unterredete sich der Autor bereits mit dem Verleger Fritz Freund vom Wiener Verlag, in dem die Dialoge dann nur wenige Wochen später bereits am 2. April erschienen sind.42 Freund hatte den Verlag erst kurz zuvor übernommen, sogleich damit begonnen das Geschäft auszuweiten und hierzu auch auf Autoren aus dem Umfeld der so genannten „Wiener Moderne“ gesetzt; auch Schnitzlers Freunde Hermann Bahr und Felix Salten veröffentlichten zeitweilig im Wiener Verlag. Das Marketingkonzept Freunds war fortschrittlich, die Neuerscheinungen wurden auffällig gestaltet und offensiv beworben.43 Schnitzler hatte sich da-

42 Unterredungen mit dem Verleger fanden laut Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 15 und S. 16 am 10., 17. und 20. Februar statt. Am 2. April 1903 dann die Tagebuchnotiz „Reigen erscheint“ (S. 23). 43 Zum Wiener Verlag vgl. Hall, Murray G.: Der „Törleß“- und „Reigen“-Verleger. In: Musil-Forum 9 (1983), S. 129-149. Im Folgenden als Hall (1983). Auf S. 138 schreibt er: „So viel Werbeaufwand hatte kaum ein anderer (belletristischer) Verlag aufzuweisen, und obwohl der Wiener Verlag außerordentlich viel im ‚Börsenblatt‘ annoncierte und nicht ein einziges Mal in der ‚Österreichisch-ungarischen Buchhändler-Correspondenz‘ seine Bücher anzeigte, gab er außerdem für Anzeigen in Dutzenden führender Tageszeitungen, für Auslagendekorationen, für Werbeprospekte für einzelne Verlagswerke usw. sehr viel Geld aus.“ Weitere Informationen über Freund und den Wiener Verlag liefern ders.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938, Bd. 1. Geschichte des österreichischen Verlagswesens. Wien u.a. 1985, S. 80-91. Im Folgenden als Hall (1985). – Fischer, Marianne: Erotische Li-

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mit entgegen der angeratenen Vorsichtsmaßnahmen ‒ altehrwürdiger Verlag, exquisites Layout, hoher Preis ‒ einen jungen Verlag ausgesucht, in dem der Reigen in moderner Ausstattung mit einem von Jugendstilornamenten geprägten Buchschmuck Berthold Löfflers publiziert wurde. Auch der Ladenpreis von 5 Mark für ein gebundenes Exemplar bewegte sich nur knapp über dem durchschnittlichen Preisniveau. 44 Weshalb Schnitzler sich letztlich doch für eine reguläre Publikation entschlossen hatte – ob aus ideellen und/oder finanziellen Motiven –, ist endgültig nicht mehr zu klären. Ein gewisser Trotz mag seine Entscheidung mitbestimmt haben: „Was immer wir thun oder unterlassen werden“, schrieb er in einem Brief an Hermann Bahr, „eine kompakt-vertrackte Majorität wird schimpfen.“45 Von daher hielt er es für notwendig, „sich ausschließlich nach dem zu richten, was wir selbst für das Vernünftige halten.“46 Angesichts des drohenden ‚Schmutzskandals‘ bat er Bahr einen Aufsatz zugunsten der Dialoge zu verfassen, der möglichst „noch vor dem zu erwartenden Heuchel- und Schimpfchor beleidigter Sittlinge“ 47 gedruckt werden sollte. Allerdings stellte sich rasch heraus, dass keine größere Wiener Zeitung dazu bereit war, Rezensionen zum Reigen zu veröffentlichen.48 Somit deutete sich bereits vor dem Erscheinungsdatum an, dass die Vorahnungen Schnitzlers und seiner Freunde alles andere als unberechtigt gewesen waren. Am 26. März schrieb er in sein Tagebuch:

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teratur vor Gericht. Der Schmutzliteraturkampf im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts. Wien 2003, S. 53-66 u. 146-149. Der durchschnittliche Preis für ein gut ausgestattetes belletristisches Buch betrug 1910 etwa 3 bis 4 Mark, vgl. Krieg, Walter: Materialien zu einer Entwicklungsgeschichte der Bücher-Preise und des Autoren Honorars vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Bad Bocklet u.a. 1953, S. 33. Bahr, Hermann: Brief an Arthur Schnitzler, 06.04.1903. In: Schnitzler/Bahr (1978), Briefe, S. 77-78, Dok. 51, S. 77. Ebd. Ebd., S. 80. – Der Brief ist dort auf den 28. September 1903 datiert, aufgrund des Inhalts ist es allerdings wahrscheinlich, dass diese Angabe falsch ist. Nicht nur das oben wiedergegebene Zitat, sondern auch der Umstand, dass Schnitzler einleitend schrieb, der Reigen würde „in etwa acht Tagen“ erscheinen, deuten darauf hin. Bahr „was unsuccessful, for no newspaper would accept his article. Even the Neues Wiener Tagblatt, for which he worked as an editor and feuilletonist, refused to publish it because of internal politics“, schreibt Daviau in seiner Introduction zum Briefband Schnitzler/Bahr (1978), Briefe, S. 24. ‒ Siehe außerdem Schnitzler, Arthur: Brief an Hermann Bahr, 06.04.1903. In: Schnitzler/Bahr (1978), Briefe, S. 77-78, S. 78. ‒ Sowie Schnitzler, Arthur: Tagebucheintrag, 05.04.1903. In: Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 23: „Auch in der Zeit kann über Reigen kein Feuill. Erscheinen. Prof. I[sidor] S[inger] sagte meinem (mit 4000 fl. an der Zeit betheiligten) Schwager, dass morgen (heute) Feuill. über R. als erstes in der Zeit erscheinen solle – Schwager beschwor angeblich, über dieses Buch nichts zu schreiben. Kam damit Herrn I. S. sehr entgegen.“ Ob es sich hierbei um das Feuilleton Bahrs handelte, ist wohl nicht mehr zu klären. Auch Felix Salten versuchte lange Zeit eine Reigen-Rezension zu platzieren, die aber erst im November in der Wiener Zeit abgedruckt wurde.

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Was hilft alle Vernunft, alle Gleichgiltigkeit in der Tiefe der Seele gegen die Angriffe, Bosheiten, Bübereien, wenn die Oberflächen doch immer wieder aufgewühlt und beschmutzt werden.– Beim „Reigen“ wird es nett werden!– Sehnsucht: fort, fort aus dem allen. Geld haben. Unabhängig sein. Reisen. Nichts mit der Oeffentlichkeit zu thun haben.–49

Öffentliche Angriffe wurden von Schnitzler mit Verschmutzung assoziiert, der Rückzug aus der Öffentlichkeit als Möglichkeit angesehen, davon nicht berührt zu werden. Die Tagebuchnotizen der Folgewochen lassen die Tiefenentspannung gänzlich vermissen, zeugen stattdessen von großer Aufregung Schnitzlers. Mit der Enttäuschung, Nervosität und Scham von denen sie sprechen, tritt ein emotionaler Aspekt von ‚Schmutzkampagnen‘, in denen Personen gezielt angegriffen werden, zutage, wie er für einen Historiker oft nur schwer erfassbar ist und gerade deshalb hier nicht unterschlagen werden soll. Am 7. April, also fünf Tage nach dem Datum der Veröffentlichung, notierte der Reigen-Autor: „Hohe Nervosität. Mit Gustav spazieren.– Nachm. gepackt, plötzl. Abreise-Entschluss.– […] Beim Verleger. Allgemein Entrüstung über Reigen; Verlogenheit, Feigheit. Aerger.– Kopfweh.“50 Besorgt über erste negative Reaktionen von denen er hörte, gab Schnitzler seiner zuvor geäußerten Sehnsucht, sich der Öffentlichkeit zu entziehen, nach, reiste von Wien aus nach Linz, dann nach Gmunden. Er wäre „in vollkommen alberner Weise préocc. durch das was ‚vielleicht‘ über den Reigen stehen mag“, schrieb er am 10. April in sein Tagebuch: „Empfindung wie verfolgungswahnsinnig, monomanisch; zugleich heftige Beschämung“51 und er versuchte, möglichst nicht an den Reigen erinnert zu werden.52 Am selben Tag bekannte er Olga Gussmann per Brief, er wäre in Gmunden stundenlang bei Regen und Schnee „auf allen möglichen Wegen im Koth gewatet“ anstatt in ein Kaffeehaus einzukehren, „um nicht durch Zufall in einer Zeitung meinen Namen zu finden. Es ist geradezu krankhaft.“53 Trotzdem habe ihn später am Tag ein Telegramm von Fritz Freund erreicht, in welcher ihm der Verleger mitgeteilt habe, daß in der Dtsch Zeitg ein wüthender Angriff gegen mich erfolgt ist u weitere Artikel in Aussicht gestellt werden. Sosehr ich weiß, daß die deutsche Zeitg das gemeinste Blatt der Welt ist und alle diese Sachen im wesentlichen wurst sind; – ich befinde mich trotzdem in einem ununterbrochenen Zustand der Irritation, – ähnlich, ich kanns gar nicht anders sagen, als wenn meine Haut wund wäre. Ein förmlicher körperlicher Ekel überfällt mich, wenn ich an Wien denke.54

In dem Brief vertraute Schnitzler seiner zukünftigen Ehefrau überdies an, dass er mit nicht viel Solidarität rechnete. Wahrscheinlich – so mutmaßte er – werde er „voll49 Schnitzler, Arthur: Tagebucheintrag, 26.03.1903. In: Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 22-23. 50 Ders.: Tagebucheintrag, 07.04.1903. In: Ebd., S. 24. 51 Ders.: Tagebucheintrag, 10.04.1903. In: Ebd. 52 Er habe „absichtl. Observer Auftrag gegeben[,] mir nichts zu schicken“, so Schnitzler ebd. 53 Schnitzler, Arthur: Brief an Olga Gussmann, 10.04.1903. In: Schnitzler (1981), Briefe I, S. 460-462. 54 Ebd.

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kommen im Stich gelassen“ und gerade weil „kaum einer zurückschieß[en]“ werde, würden „Tücke und Gemeinheit der Angriffe“ auf Seiten der Reigen-Gegner zunehmen, da sie sich ja in „angenehme[r] Sicherheit“55 wiegen könnten. Tatsächlich erschienen in den Wochen und Monaten nach der Veröffentlichung viele ablehnende Rezensionen. Den ‚Reigen‘ polemischer Verrisse eröffnete besagter Angriff in der Wiener Deutschen Zeitung, in dem in diffamierender Weise vom Werk auf den Charakter seines Verfassers kurzgeschlossen wurde: „Es läßt sich daraus nur das eine entnehmen, daß der Verfasser das Metzenwesen aller Stände in Wien genau in Augenschein genommen hat und aus diesen Kreisen die ethischen Momente seiner Psychologie holt.“56 Inhaltlich wurde in den negativen Rezensionen insbesondere die im Reigen thematisierte Sinnlichkeit beanstandet, die nicht wert wäre, in Literatur überführt zu werden. Pikant und frivol, unsittlich und pornographisch wären die Dialoge, weshalb sie von einigen Kritikern kurzerhand mit Schmutz in Verbindung gebracht wurden: „Warum willst du uns im Reigen / All´ den Unflat kecklich zeigen, / Den die Sinnlichkeit erzeugt?“57 fragte sich etwa Max Waldstein in einer eigenwilligen, in Versform verpackten Kritik im Ischler Wochenblatt. Während die „hehren Geister“ deutscher Literatur im Dichterolymp „Göttermeth“ tränken, müsse Schnitzler als Strafe für seinen Reigen nach seinem Tod dereinst Tantalusqualen erleiden, denn: „Wer den Reiz der Liebe schildert / Nur priapisch und verwildert, / Hat kein Recht zum Göttermahl!“58 Prosaischer schrieb der Literaturkritiker Leopold Weber im Kunstwart, dass ihn vor allen Dingen „die allzu intime und ausführliche Behandlung“ der „Geschlechtsfrage“ stören würde, wie sie im Reigen vorrangig mit Blick auf die „Stadien der Geschlechtserregung“ 59 thematisiert werde. Dadurch würde die „Bedeutung des Gegenstandes für alle, die nicht besondere Liebhaber auf diesem Gebiete sind“60, übertrieben zur Darstellung gelangen. Die über die Maßen vertrauliche „Schilderung des oft recht übelriechenden Stoffes“ würde sich deshalb „für empfindlichere Nasen unangenehm bemerkbar mach[en]“, so Weber. 61 Ähnlich war übrigens auch ein in der Königsberger Hartungschen Zeitung schreibender Anonymus der Meinung, dass der Reigen von Schnitzler ausschließlich „für die literarischen Lüstlinge […] instrumentiert“62 worden sei. Andere Rezensenten erachteten neben dem Inhalt auch die Form des Reigen als problematisch. Nach „Schema F gearbeitet“ würden die zehn Dialoge allesamt einander gleichen, „nur daß ein Wechsel der Personen eintritt“, weshalb ein Kritiker der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung „das erotische Moment“ – da es durch die 55 Ebd. – Schnitzler selbst wollte sich keinesfalls öffentlich auf „Polemiken einlassen“ (ebd.). 56 Verfasser, Titel und exaktes Erscheinungsdatum der Rezension unbekannt, ursprünglich erschienen in: Deutsche Zeitung, zit. nach Schinnerer (1931), S. 841. 57 Waldstein, Max: Sommerlieder 1903. In: Ischler Wochenblatt (5. Juli 1903). In: Schneider (1995), S. 48-49. 58 Ebd. 59 Weber, Leopold: Münchner Theater. In: Kunstwart 16,2 (2. Juliheft 1903), S. 380-382, S. 381. Im Folgenden als Weber (1903). 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Anon.: Neue Belletristik III. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Morgenausgabe (18. Juli 1903), S. 7. In: Schneider (1995), S. 49-50, S. 49.

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Form nicht abgeschwächt, sondern verstärkt würde – als den „Hauptzweck“ des Buches ansah; Schnitzler habe mit seinem Reigen somit „in pornographischer Literatur Kräftiges“63 geleistet, beschied er. Wieder andere Gegner wandten sich nicht nur gegen die mangelhafte Form und den problematischen Inhalt des Buches, sondern warnten auch vor dessen gefährliche Wirkung auf ungebildete Leserinnen und Leser. In der Kulturbeilage des Hamburger Fremdenblattes setzte sich ein Gegner, der Schnitzlers Buch als sarkastisch, spöttisch und frivol bezeichnete, aus dem Blickwinkel des Jugendschutzes mit dem Reigen auseinander und schrieb: Wir sehen nicht ein, was der Autor damit bezweckt. Den Schaden, den solche ‚vorurteilslose‘ Schilderung bei jugendlichen Lesern hervorruft […] wiegt doch wohl schwerer, als die künstlerische Befriedigung des Autors. In unserm Zeitalter der sozialen Fürsorge hätte ein Schriftsteller wie Schnitzler besser getan, seine Studien ruhig im Pulte liegen zu lassen, anstatt die große Bibliothek der ‚pikanten Lektüren‘ noch zu vermehren. 64

In einer im Neuen Wiener Journal veröffentlichten Auseinandersetzung wurde nicht aus pädagogischen, sondern aus volkshygienischen Motiven heraus gegen den Reigen Stellung bezogen, der nicht nur als unsittlich und schmutzig, sondern als „unkünstlerisch“ und „kulturfeindlich“65 bewertet werden müsse. Denn die „sittliche Gesundheit und Kraft einer Nation“ wären wichtiger, „als die Veröffentlichung einer noch so virtuos gemachten Alkovenstudie“66, hieß es dort: Man mag Katholik oder Protestant, Christ oder Atheist, radikal oder konservativ sein: Reinheit des Familienlebens, Keuschheit der Frau, Treue des Mannes, Reinhaltung der Jugend, Gesundheit der Geschlechter stehen auf dem Spiele! Und da geht einer von den ersten und geachtesten deutschen Schriftstellern hin und überläßt der Öffentlichkeit ein solches Buch.67

Wie auch immer die Gegner im Einzelnen argumentierten, sie waren sich einig darin, dass die Schnitzlerschen Dialoge lieber hätten unveröffentlicht bleiben sollen. Es handele sich um „gepfefferte Bagatellen“, wie man sie sich allenfalls am „Biertische“ herumerzählen könne; „als Produkt seiner dichterischen Schöpferkraft“ hätte sie ihr Autor niemals in den Druck geben dürfen, hieß es in der Belletristischen Beilage der Hamburger Nachrichten.68 In der Wiener Ostdeutschen Rundschau fragte der deutschnationale Kritiker und Publizist Ottokar Stauf von der March: „Es heißt, daß Schnitzler das Zeug vor etwa sechs Jahren zu Papier gebracht habe, ja, warum läßt er es nun erst erscheinen?! Ist er dem Geschmack oder der Geschmack ihm so untreu 63 Verfasser, Titel und Erscheinungsdatum der Rezension unbekannt, erschienen in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung (24. Mai 1903), S. 2. In: Ebd., S. 48. 64 Unbekannter Verfasser: Bilder der Wirklichkeit. In: Literatur- und Unterhaltungsblatt, Beilage des Hamburger Fremdenblattes (2. Mai 1903), S. 1. In: Ebd., S. 47-48. 65 Verfasser und Titel der Rezension unbekannt, erschienen in: Neues Wiener Journal (2. Juli 1903), S. 9-10. In: Ebd., S. 51. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Verfasser und Titel der Rezension unbekannt. In: Belletristische Beilage der Hamburger Nachrichten, Morgenausgabe (21. Juni 1903), S. 2. In: Ebd., S. 49.

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geworden, daß er glaubt, der ‚Reigen‘ werde seinem Lorbeerkranze ein weiteres Blatt hinzufügen.“69 Weiter schrieb er, sich unverkennbar als Gegner der kulturellen Moderne und als Antisemiten positionierend, dass der Reigen eine Verherrlichung der Prostitution wäre, mit der sich dessen Verfasser „außerhalb des Schrifttums […] in die Reihen der gewissenlosen Sudler“ gestellt habe, deren mephitische [sic] Erzeugnisse die Spalten der sogenannten Wiener „Witz“-Blätter ad majorem Veneris vulgivagae gloriam füllen. Schnitzler hat freilich schon von allem Anfang an starke Neigung zu diesem sauberen Handwerk besessen, für ihn existierte beinahe nichts als das Geschlechtliche, und zwar in seiner grobsinnlichen Erscheinungsform. […A]llenthalben [ist] der bekannte foetor judaicus zu spüren […] wie bei der „Décadence“ überhaupt […]. Dabei ist es mit so hündischer Geschlechtsgier geschrieben, daß es einen ekelt.70

Mit der Rede vom „foetor judaicus“71 – dem jüdischen Gestank – benutzte der Rezensent eine tradierte antisemitische Ansteckungsmetapher, womit offenbar wird, dass der Kampf gegen den als unrein erachteten Reigen bereits 1903 instrumentalisiert wurde, um judenfeindliche Ressentiments zu schüren. Stauf von der March war außerdem Herausgeber der Wiener Zeitschrift Neue Bahnen, in der aggressiv gegen die Neuerscheinung Schnitzlers polemisiert wurde. 72 In einem dort am 1. Juni 1903 erschienenen Artikel betonte Friedrich Törnsee, dass er im Reigen nichts als „eine ganz platte Schilderung eines alltäglichen Vorganges“ sähe, in dem sich weder echte Leidenschaften noch edler Sinn sondern bloß eine „frivole Lust am Schmutze“73 auffinden ließen. Die üblichen Argumente, wie sie in den Wochen zuvor angeführt worden waren, steigerte der Rezensent nochmals in pejorativem Sinne: Die Wahl des Stoffes sei unwürdig, ekelhaft und gemein, sie böte „nichts Neues, nichts in die Tiefe Dringendes und nichts in die Höhe Führendes“ und gestaltet wären die Dialoge „in gedanklich ärmster und formal wertlosester Weise“ 74. Neu an seiner Polemik war, dass er den Staatsanwalt indirekt aufforderte, gegen den Reigen einzuschreiten.75 Als Reaktion auf diese Zensurforderung schaltete sich sogleich die Münchener Zeitschrift Freistatt ein, in welcher Adolf Dannegger sie als eine arge Entgleisung der Redaktion der Neuen Bahnen kritisierte. Wie immer man zu Schnitzlers Werk stehe, eine Literaturzeitung dürfe niemals „den Staatsanwalt auf 69 Stauf von der March, Ottokar: Reigen. In: Ostdeutsche Rundschau (17. Mai 1903). In: Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I, Dok. 16, S. 232-233. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Unter maßgeblichem Einfluss ihres antisemitischen und einen Anschluss Österreichs an Deutschland befürwortenden Herausgebers Ottokar Stauf von der March hatten sich die Neuen Bahnen zunehmend radikalisiert, weshalb viele Ausgaben der Zeitschrift beschlagnahmt wurden. Siehe Gradwohl-Schlacher, K.: [Art.] Stauf, Ottokar. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. 13. Wien 2010, S. 122. 73 Törnsee, Friedrich: Sehr geehrter Herr Staatsanwalt. In: Neue Bahnen (1. Juni 1903), S. 288-289. In: Schneider (1995), S. 52-53. 74 Ebd. 75 Vgl. ebd.

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Literaturerzeugnisse zu hetzen“76 versuchen. In den Wochen darauf wurde die Kontroverse zwischen den Neuen Bahnen und der Freistatt hitzig weitergeführt; zu einer Verständigung kam es dabei nicht.77 Gänzlich allein gelassen, wie es Schnitzler im Brief an Gussmann vermutet hatte, wurde er demnach nicht. Es erschienen ab April 1903 durchaus auch wohlwollende Kommentare zum Reigen, in denen ähnlich argumentiert wurde, wie in den anlässlich der Privatveröffentlichung erschienenen Rezensionen. In ihnen wurde insbesondere die gekonnt ausgeführte sprachliche Form gelobt, wodurch Schnitzler in seinem Werk etwas bislang Unerhörtem Ausdruck verliehen habe. 78 Durch „neue, witzige, geistreiche und treffende Einzelheiten in den Dialogen“, in denen sich die „Sprachmeisterschaft Schnitzlers“ offenbare, habe es der Verfasser laut Kurt Aram vermocht, „das Unanständige anständig [zu] sagen.“79 Er habe die deutsche Sprache, der man bisher nachgesagt habe „zu keusch“ zu sein, um sich in ihr „über geschlechtliche Dinge anders als brutal und ungeschlacht“ unterhalten zu können, um ein „Ausdrucksmittel bereichert“80. Dies solle man – so Aram weiter – unbedingt nicht als ein Zeichen des Sprachverfalls oder der fortschreitenden Dekadenz „sondern einer hohen persönlichen Kultur“81 auffassen. Denn gerade aufgrund seiner feinen sprachlichen und formalen Gestaltung wäre der Reigen von einer „subtilen Psychologie“ durchzogen, die bei den Lesern einen „leise-bitteren Nachgeschmack“82 hinterlassen würde. Stärker als Aram hoben andere Rezensenten die enthüllende Wirkung hervor, die durch die sprachlich gekonnte Perspektivierung bislang verborgener Realitäten erzeugt werde. L. Berndl bewertete das Buch gerade deshalb als ein „literarisches Ereignis“, weil es „vielleicht eine neue Epoche unverkünstelter Naturbetrachtung“ eröffnen könne; im Reigen werde „mit fröhlicher Beherztheit auf einmal ausgespro-

76 Dannegger, Adolf: [Titel unbekannt]. In: Freistatt (6. Juni 1903), S: 457-458. In: Schneider (1995), S. 54-55, S. 55. 77 Ausführlich geht Schneider ebd. im Abschnitt „Die Kontroverse zwischen den Zeitschriften Freistatt und Neue Bahnen im Jahre 1903“ (S. 52-58) auf dieses Kapitel in der Geschichte der Reigen-Rezeption ein. Zu den Verteidigern des Reigen, die sich in der Freistatt äußerten, gehörte wiederum M.G. Conrad, dem von Stauf von der March sogleich vorgeworfen wurde, sich damit über seine eigenen Grundsätze, wie sie Conrad in patriotischen Deutschen Weckrufen geäußert habe, hinweggesetzt zu haben, vgl. ebd., S. 55-56. 78 Anschaulich auf den Punkt brachte diese Auffassung auch Karl Hans Strobl in einem Aufsatz im Literarischen Echo von 1907. Nur aufgrund der außergewöhnlich ausgereiften Formsprache Schnitzlers habe der es wagen können, „ein Buch wie ‚Reigen‘ zu schreiben und zu veröffentlichen. Ein Buch, das immer an der Grenze des Möglichen voltigiert, eine fabelhaft kühne Seiltänzerei, ein Looping the Loop rund um das, was man in der Gesellschaft nur durch Gedankenstriche andeutet. Er ist vielleicht der einzige, der das in deutscher Sprache konnte und durfte.“ Siehe Strobl, Karl H.: Arthur Schnitzler. In: Das literarische Echo 9 (1906/07), Heft 8 (15. Januar 1907), Sp. 576-587, hier Sp. 587. 79 Aram, Kurt: [Anzeige]. In: Das literarische Echo 6 (1903/04), Heft 7 (1. Januar 1904), Sp. 512-513. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd.

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chen“, „was die gebildeten Schriftsteller und Dichter“83 vergangener Zeiten stets ausgespart hätten. Dabei differenzierte Berndl nicht, sondern war der Auffassung, der Reigen sei ausnahmslos „allen Leuten, den Prüden und den Feigen, den Scheinheiligen und den Sittlichkeitsfexen, ja sogar den kleinen Mädchen und den kleinen Bübchen bestens zu empfehlen, da das wohltätige Gift dieses Buches sie möglicherweise gegen unsere Zeitlüge immunisiert.“84 Julius Bab maß der „Sprachgestaltung verstecktester psychischer Relativitäten“ sogar einen hohen ethischen Wert bei. Bei den Rezipienten würde der Reigen „eine Stärkung des Erkennens, Zerstörung des Phraseologischen, Enthüllung des Wirklichen“85 bewirken können, meinte Bab. Ähnlich unterstrich auch Philipp Frey den „psychologischen Wert“ der Dialoge, da in ihnen „das Oberflächliche“ auf eine Weise thematisiert werde, „daß es ein Stück Inneres frei läßt.“86 Außerdem würde die Lektüre des Buches jungen Männern wertvolle Einblicke in die Gefahren einer von Gefühlen abgekoppelten und „sexualökonomische[n] Bedingungen“87 unterworfenen Lust eröffnen, wodurch sie den Ernst des Lebens begreifen lernten. Frauen hielt er dagegen für den Reigen zu sensibel, weshalb er anders als Berndl offen bekannte: „an Leserinnen will ich lieber nicht denken“ 88. Während also Uneinigkeit über die Frage bestand, ob und für wen das Buch ein geeigneter Lesestoff sei89, waren sich die erwähnten Rezensenten einig darin, dass Schnitzlers Dialoge unbedingt „genug Perspektiven“ eröffnen würden, „um nicht frivol genommen zu werden“90, wie Frey es formulierte. Deutlicher fasste ein Kritiker im Hannoverschen Courier zusammen, weshalb er den Reigen als ein über den Schmutz erhabenes Kunstwerk erachtete: Aber die Darstellung, die Schnitzler dem Gedanken von der Erniedrigung des Menschen in den trüben Tiefen der Sinnlichkeit gibt, ist eine so eminent künstlerische, die Szenen, die er schildert, sind mit vollendeter Herrschaft über den Stoff, mit frappierender Wahrheit und so souveräner Sicherheit des Blickes für den wesentlichen Inhalt der geschilderten Situationen gezeichnet, daß, rein als Kunstwerk genommen und mit künstlerischen Augen betrachtet, Schnitzlers Studie zu den ersten ihrer Gattung zu rechnen ist.91

83 Berndl, L.: Literatur. Arthur Schnitzlers Reigen. In: Floridsdorfer Zeitung (23. Mai 1903). In: Schneider (1995), S. 45. 84 Ebd. 85 Bab, Julius: Schnitzlers „Reigen“. In: Die Schaubühne (1905), S. 379-380. 86 Frey, Philipp: Schnitzlers Reigen. In: Die Wage (18. April 1903). In: Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I, Dok. 14, S. 228-229. Im Folgenden als Frey (1903). 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Robert Hirschfeld etwa sah im Reigen ein Kunstwerk, dass „wie die Kleinkunst im geheimen Kabinett zu Neapel“ einer „Abteilung der Kunst“ zugeordnet werden müsse, „die sich nicht jedermann, nicht jeder Frau öffnet.“ Nach einem in der Frankfurter Zeitung erschienenen Feuilleton, zit. bei Kraus, Karl: Chroniqueur. In: Die Fackel 5 (1903/04), Nr. 148, S. 23-26, S. 23. Im Folgenden als Kraus/Hirschfeld (1903). 90 Frey (1903). 91 K., C.: Abermals Kunst und Sittlichkeit. In Hannoverscher Courier (1. Dezember 1903), S. 5. In: Schneider (1995), S. 64.

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Dass wohl nicht alle Leserinnen und Leser den Reigen wegen der kunstvollen Überwindung des Frivolen und Stofflichen rezipieren würden, vermutete dagegen ein unter dem Pseudonym Willibald schreibender Kritiker, dessen Artikel an ein deutsches Unterschichtenpublikum adressiert war, das von den Dialogen allenfalls gehört haben mochte. Denn Arbeiter würden in der Regel nicht über die finanziellen Mittel verfügen“, 5 Mark für ein Buch aufzubringen, kritisierte er als einziger Kommentator den Preis des Reigen als zu hoch.92 Das Buch habe bloß „der geile Unverstand der Bürgersippe zu einer teuren Modelektüre gemacht“ 93. Damit wandte sich der Rezensent nicht gegen Schnitzlers Dialoge sondern gegen den bloß an Sensation und Pikanterie interessierten bürgerlichen Geschmack, der die eigentlich sozialkritische Färbung des Buches gar nicht erfassen würde: „Der Zweck des Dichters“ sei es nämlich nicht, mit den einzelnen lüsternen Szenen die Sinne des Lesers zu kitzeln. Wer das Buch in diesem Sinne liest, ist einfach ein Trottel, ein versumpfter, indifferenter Lackel, der sich – ist´s ein Mann – in einen Veteranenverein einschreiben lassen, oder – ist´s ein Weib, unter dem Schutz der Patronage in der Reitschule Tänze aufführen soll.94

Solche Leser übersähen, dass der Reigen – wie es dessen Verfasser intendiert habe – „den Kastenunterschied, den unsere kapitalistische Weltordnung geschaffen [hat], ad absurdum führen“ würde. In den Dialogen zeige sich, dass selbst Liebe und Sexualität ökonomischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen seien. Nur die „kapitalskräftigen“ Personen könnten sich den Genuss eines sich prostituierenden süßen Mädels leisten, das dadurch zum „Spielballe des Erstbesten“95 werde. Ein „Arbeitssklave“ würde dagegen niemals „erfahren […], wie so ein süßes Mädel schmeckt“, sondern sich allenfalls „unten am Schlammboden der Liebe unter freiem Himmel oder im Proletarierehejoch“96 vergnügen können. Ebenfalls aus sozialdemokratischer Perspektive, jedoch weniger wohlwollend, kommentierte ein Rezensent der Wiener ArbeiterZeitung den Reigen. Er sei zu glatt, zu wenig kühn, weder von außergewöhnlicher „psychologischer noch moralischer Tiefe“ und verdanke seinen Erfolg bloß „dem unerbittlichen Behagen an der Pikanterie, das dem Bourgeois nun einmal zu eigen ist.“97 Der zur „Liebenswürdigkeit neigende“ Schnitzler habe es versäumt, die Nachtasyle, Massenquartiere und den „Elendsschmutz“ zu schildern, in denen nicht selten auch Offiziere „aus den trüben Quellen“98 trinken und zur Verbreitung von Geschlechtskrankheiten beitragen würden. Insgesamt ist die Zahl derjenigen, die in Rezensionen zugunsten der Dialoge Stellung bezogen haben, geringer gewesen, als die Zahl ablehnender Artikel und in vie-

92 Vgl. Willibald: Reigen. Undatierter Zeitungsausschnitt. In: Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I, Dok. 12, S. 222-226, S. 222. 93 Ebd. 94 Ebd., S. 224-225. 95 Ebd., S. 225. 96 Ebd., S. 225. 97 [Verfasser unbekannt:] Reigen. In: Arbeiter-Zeitung (10. September 1903). In: Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I, Dok. 15, S. 230-231. 98 Ebd.

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len Zeitungen wurde gar nicht erst über den Reigen berichtet.99 Schnitzler ärgerte sich vor allem darüber, dass in den größeren Blättern Wiens keine ernsthaften Auseinandersetzungen – allenfalls negative Kommentare aus anderen Zeitungen – abgedruckt wurden100, während in einem Witzblatt wie der Wiener Bombe „jeden Sonntag dasselbe mit derselben Verve“ verkündet wurde: „Reigen eine Schweinerei“ 101. Doch weder das Ausbleiben von Rezensionen in Wien 102 noch die vielen negativen Kritiken taten dem Erfolg des Buches Abbruch. Bis Anfang Mai lag die Auflagenhöhe bei 4.000, bis Ende 1903 bei 11.000 Exemplaren. Mitverantwortlich für den Verkaufserfolg dürften zu einem Großteil auch die Werbemaßnahmen für den Reigen gewesen sein. So annoncierte der Wiener Verlag in regelmäßigen Abständen von wenigen Wochen im Börsenblatt und anderen Zeitungen, um über den Verkaufserfolg des Buches, dessen Einzigartigkeit man hervorhob, zu berichten. Selbst Lieferengpässe wurden angeführt, um auf dessen Begehrtheit hinzuweisen und Buchhändlern rasches Bestellen anzuraten, bevor der Reigen wieder vergriffen sei. Außerdem wurde das Werk für die Auslagen der Buchläden mit auffälligen Schleifen vertrieben, auf denen Zitate aus Rezensionen abgedruckt waren, die die Einmaligkeit der Dialoge besprachen.103 Auch ein Münchener Ereignis vom 25. Juni 1903 hat dazu geführt, dass die Dialoge im Gespräch blieben. Der ‚Akademisch-Dramatische Verein‘ hatte in den Kaimsälen in geschlossener Veranstaltung drei Szenen aus dem Reigen aufgeführt, die beim Publikum gut, im bayerischen Kultusministerium jedoch weniger gut ankamen. Von dort aus wurde Druck auf den Senat der Universität ausgeübt, der den Verein kurzerhand verbot.104 In der Presse fand dieser erste kleine Theaterskandal um den Reigen ein verhältnismäßig lautes Echo, wobei das Verbot des Vereins zumeist 99 Vgl. Schinnerer (1931), S. 840 und Schneider (1995), S. 47. 100 Tagebucheintrag vom 27. Juli 1903 (Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 37): „Nm. Freund Verleger bei mir. Über Reigen nichts in Wien erschienen; nur die schlechte Kritik aus der Münchner Allg. haben 2 Wr. Zeitungen abgedruckt. N. Wr. Journal, Wr. Abendpost.–“. 101 Tagebucheintrag vom 23. Juli 1903 (Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 37). 102 Als Protest gegen eine polizeilich verbotene Lesung Hermann Bahrs aus dem Reigen (vgl. Fußnote 111 in diesem Kapitel) verfasste Max Eugen Burckhard im Namen Bahrs im November 1903 einen Rekurs, den Letzterer an verschiedene Zeitungen sandte, der jedoch nur gekürzt im Berliner[!] Tageblatt abgedruckt wurde Insbesondere wurde darin die vorsichtige Haltung der österreichischen Presse kritisiert: „Es hat unserer Publizistik an dem Mut gefehlt, öffentlich für das Werk Schnitzlers einzutreten. Gewiß, viele unserer Schriftsteller und Kritiker erkennen den literarischen Wert der Dichtung Schnitzlers voll an, aber in keinem Blatt ist ein Artikel für das Buch erschienen. So wurde ein Werk eines Dichters totgeschwiegen, ja schlimmer als das, dem Unverstande und der Gehässigkeit preisgegeben.“ Zit. nach Schinnerer (1931), S. 844. – Schnitzler wertete die „Einsendung des Recurses an die Statthalterei“ in einer Tagebuchnotiz vom 10.11.1903 als positiv, da in ihm „das systematisch (heuchlerisch feige) Todtschweigen des Buches durch die Wiener Presse“ thematisiert worden ist. Siehe Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 48. 103 Vgl. Hall (1983), S. 138-140 sowie Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I, S. 47. 104 Am 4. Dezember notierte Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 51: „Auflösung des Akad. Dram. Vereins München wegen der Aufführung einiger Reigenscenen im Frühjahr.–“

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als überzogen bewertet wurde.105 Weitestgehend einig waren sich die Rezensenten aber darin, dass der Reigen überhaupt nicht aufgeführt werden dürfe, wobei die Gegner der Buchveröffentlichung vor allem sittliche, die Befürworter auch ästhetische Argumente anführten. Was „die Buchausgabe unter Gedankenstrichen begräbt“ dürfe nach Leopold Weber, der zu den Widersachern zu zählen ist, erst recht nicht „auf der Bühne ins Leben gerufen“106 werden. Adolf Dannegger, der den Reigen zwiespältig bewertet aber nichts gegen dessen Publikation einzuwenden hatte, sprach von der „Unmöglichkeit der Aufführung“ und wertete sie als „unerhörte Geschmacklosigkeit“107. Er war der Meinung und sah sich angesichts der Aufführung darin bestätigt, dass eine Bühnenadaptation des Reigens der Vorlage niemals gerecht werden könne: Die „Darstellung unterschlug selbstverständlich alle Pointen“ und bei den Dialogen habe es sich um „blöde und zum Teil widersinnige Hin- und Herredereien“108 gehandelt. Auch in der Berliner Zeitung sprach man sich gegen die Aufführung der drei Reigen-Szenen aus: Wir sind nicht ängstlich und schätzen den Literaturwert des Schnitzlerschen Dialogbuches höher ein als viele seiner rabiaten Gegner, aber wir können in diesem Falle dem Ministerium nicht völlig Unrecht geben. Die Aufführung einiger Szenen aus diesem nur zur Lektüre für reife Menschen bestimmten Buche war, gelinde gesagt, eine derbe Geschmacklosigkeit.109

Wie Kurt Aram, der das „Wagnis“110 des Vereins lobte, äußerten sich nur wenige Rezensenten positiv über die Münchener Ereignisse. Eine weitere, den Reigen betreffende Begebenheit, die ebenfalls ein größeres mediales Echo hervorrief, war eine für den 8. November in Wien geplante Lesung von Hermann Bahr im Bösendorfersaal, die eine Woche vor dem angesetzten Termin polizeilich untersagt wurde.111 Bahrs Versuche, doch noch eine Erlaubnis zu erwirken, 105 Weitere Informationen über die Münchener Ereignisse und das Presseecho, das sie hervorriefen bei Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I, S. 73 sowie bei Schneider (1995), S. 58-65. 106 Weber (1903), S. 381. 107 Dannegger, Adolf: Arthur Schnitzlers Reigen und die Kritik. In Freistatt 5 (1903), S. 549550. In: Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I, Dok. 27, S. 253-255, S. 255. 108 Ebd. 109 Verfasser, Titel und Datum der Rezension unbekannt, erschienen in: Berliner Zeitung, S. 2. In: Schneider (1995), S. 62. 110 Aram, Kurt: [Besprechung]. In: Abendausgabe der Frankfurter Zeitung und Handelsblatt (26. Juni 1903), S. 1. In: Ebd., S. 60. 111 Am 1. November 1903 schrieb Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 47: „In St. Veit bei Bahr, nach vorherigem Spazierg. über den Hakkenberg.– Seiner Vorlesung des ‚Reigen‘ im B. Saal verboten.–“ Auf die Vorahnung Schnitzlers und Bahrs, dass die Lesung aus Angst vor antisemitischen Protesten verboten worden wäre, deutet eine Notiz vom selben Tag hin: „Über Wr. Zustände im allgemeinen. Charakteristikon: die Antisemiten sind straflos, unangreifbar … die jüd. Blätter: Wir können doch einen antisem. nicht angreifen …– Ekel Bahrs“. Sensibel für judenfeindliche Stimmungen und Strömungen hatte Bahr bereits 1893 ein Interviewbuch zum Thema Antisemitismus veröffentlicht, siehe Bahr, Hermann: Der Anti-

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scheiterten; selbst eine ihm gewährte Unterredung mit dem liberalen Ministerpräsidenten Ernest von Koerber änderte an dem Verbot nichts.112 Seine Idee einer ReigenLesung und sein Engagement für eine Freigabe derselben wurden übrigens auch unter bekannten Wiener Kunstkritikern wie Albert Leitich, Eduard Pötzl, Robert Hirschfeld und Karl Kraus kritisch beurteilt.113 Letzterer zitierte in seiner Fackel eine in der Frankfurter Zeitung erschienene, „beachtenswerte“ Glosse Hirschfelds, in der Bahr mangelndes „Unterscheidungsvermögen für die Schattierungen des Anstands“114 vorgeworfen wurde. Da Schnitzler kein junger Autor sei, der noch unterstützt werden müsse und es der Reigen angesichts des Verkaufserfolges auch nicht mehr nötig habe, extra beworben zu werden, leitete Hirschfeld Bahrs Motive dahingehend ab, dass es ihn wohl drängen müsse vor Frauen und Halbjungfrauen die Gedankenstriche des ‚Reigen‘ mimisch darzustellen, die Bett- und Kabinettgespräche vor dem unausbleiblichen Gedankenstrich und nach dem Gedankenstrich zu lesen; er will bei dem ‚Ach!‘ und ‚Oh!‘ der verfänglichsten physiologischen und physischen Deutlichkeit zwinkern, blinzeln, seufzen … Die Polizei verbietet dieses Vorlesegeschäft. Jetzt ist´s erreicht: Hermann Bahr ist Märtyrer der Polizei geworden. Der ‚Reigen‘ ist nicht verboten, aber Hermann Bahr ist verboten. Mehr kann er nicht wünschen. Er läuft zum Ministerpräsidenten, ‚frozzelt‘ ihn gleich nach der Audienz in rasch arrangierten Interviews, die Reklamesucht treibt ihn bis zum höchsten Gerichtshof, um den Reigen – Autor, Verleger, Vorleser, Verleger, Autor – zu verteidigen.115

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semitismus. Ein internationales Interview. Hg. von Hermann Greive. [Orig. Berlin 1894] Königstein im Taunus 1979. Dort resümierte er, dass sich der Antisemitismus nur um sich selber drehe (ebd., S. 16): „Der einzige Zweck des Antisemitismus ist der Antisemitismus. Man ist Antisemit, um Antisemit zu sein.“ Weiter hob er hervor, dass für Antisemiten stichhaltige Argumentationen nebensächlich seien (ebd., S. 17): „Wer Antisemit ist, ist es aus Begierde nach dem Taumel und dem Rausche einer Leidenschaft. Er nimmt die Argumente, die ihm gerade die nächsten sind. Wenn man sie ihm widerlegt, wird er sich andere suchen. Wenn er keine findet, wird es ihn auch nicht bekehren. Er mag den Rausch nicht entbehren.“ Diese Aussagen werden von den argumentationsarmen Einwürfen der antisemitischen Reigen-Gegner gewissermaßen bestätigt (vgl. 9.3.1). Der erwähnte Ekel Bahrs dürfte daher gerührt haben, dass er sich angesichts der Reaktionen auf den Reigen und die abgesagte Lesung in seinen resignativen Überlegungen, die er ein Jahrzehnt zuvor getätigt hatte, bestätigt fühlte. Hierzu hatte Max E. Burckhard, ein Freund Bahrs und Schnitzlers, einen Rekurs verfasst (vgl. Fußnote 111). – Nähere Informationen zu der abgesagten Lesung Bahrs bei Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), S. 73-74 sowie bei Schneider (1995), S. 68-70. Schnitzler in seinem Tagebuch (1. November): „Im ‚Journalistenverein‘ erhob sich neulich Leitich, gab zu bedenken, ob ein Journalist, der den Reigen vorlese, nicht die Standesehre verletze – Poetzl und Rob. Hirschfeld secundirten. Niemand trat dafür ein.–“ (Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 47.) Kraus/Hirschfeld (1903), S. 24. Ebd.

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Hirschfeld und mit ihm Kraus unterstellten Bahr hier nicht nur Anzüglichkeiten, sondern warfen ihm vor, am Literaturskandal partizipieren bzw. „schmarotzen“116 zu wollen. Fast zeitgleich mit den Ereignissen um die abgesagte Lesung Bahrs erschien in der Zeit am 7. November zum ersten Mal ein Feuilleton in einer größeren Wiener Zeitung über den Reigen.117 Einleitend resümierte dessen Verfasser Felix Salten darin die Ereignisse der vergangenen Monate: Von den Büchern, die Arthur Schnitzler geschrieben hat, ist dem Reigen der größte Erfolg zuteil geworden. Der Reigen wird am meisten gelesen. Vom Reigen wird am meisten gesprochen. In acht Monaten hat diese Dialogreihe zehn Auflagen erlebt. Man streitet über dieses Werk, was zur Folge hat, daß immer mehr und mehr Leute danach greifen. Die Behörden beschäftigen sich damit, und es kann der Öffentlichkeit nicht vorenthalten, nicht verheimlicht werden. 118

Dabei hob er hervor, dass der Reigen nicht nur von einer kleinen bildungsbürgerlichen Community rezipiert werde, sondern dass „sich heute Klatsch und Schwatz mit diesem Werk beschäftigen“ und „die breitesten Kreise diese sonderbare Dichtergabe diskutieren und umstreiten“119 würden. Der den Reigen-Erfolg beobachtende Salten erkannte, dass die Publikation des Buches viele seiner Zeitgenossen polarisierte. Sowohl in den Feuilletons als auch im ‚Klatsch und Tratsch‘ der Alltagskommunikation provozierte sie Reflexionen, Auseinandersetzungen, Stellungnahmen für oder wider den Reigen. Es gehört zum eigentümlichen Merkmal von ‚Schmutzskandalen‘, dass sie zumeist auch Gegenstand von ‚Klatsch und Tratsch‘ sind und dass die mediale Inszenierung der Skandale diesen nicht nur anregt, sondern auch von ihm angeregt wird, dabei dessen Formen und Richtungen imitiert. Jene Ebene der Alltagskommunikation darf in ihrer Bedeutung mit Blick auf ‚Schmutz- und Schundkämpfe‘ weder übersehen noch unterschätzt werden. Nach Meinung des Konstruktivisten Jörg R. Bergmann sind Klatsch- und Tratschgespräche, wie sie „öffentlich geächtet und zugleich lustvoll privat praktiziert“120 werden, niemals nur wertfreie Rekonstruktionen von Ungehörigkeiten, Merkwürdigkeiten oder Normverletzungen sondern implizieren stets auch Formen moralischer Entrüstung über ihr jeweiliges Klatschobjekt. Dabei

116 Ebd., S. 23. 117 Über das Feuilleton seines Freundes Salten war Schnitzler äußerst verstimmt, vgl. Schnitzler, Arthur: Brief an Felix Salten, 07.11.1903. In: Schnitzler (1981), Briefe I, S. 468-471. ‒ Da Salten ihm als Autor „Goldschmiedearbeit u Kleinkunst“ (ebd., S. 468) unterstellt hatte, fühlte er sich herabgesetzt, obwohl „Sie [, d.i. Salten, L.R.] von allen Seiten den Vorwurf hören werden, mich in einen unverdienten Himmel gehoben zu haben“ (ebd., S. 470). 118 Salten, Felix: Arthur Schnitzler und sein Reigen. In: Die Zeit (7. November 1903). In: Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I, Dok. 10, S. 215-218, S. 215. 119 Ebd. 120 Bergmann, Jörg R.: Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. Berlin u.a. 1987, S. 206.

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sei es das erzeugte „Gefühl der Empörung“121, die das Objekt des Klatsches erst zu einer „öffentlich relevante[n] Verfehlung“ werden lasse. Saltens beobachteter Tratsch zeigt, dass Schnitzlers Dialoge tatsächlich eine sensible Grenze berührt hatten. Ihre Veröffentlichung setzte einen Reiz, der zwei mögliche Reaktionen hervorrief. Entweder wurde der Reigen als ein Grenzverstoß und damit als unsittlich respektive schmutzig abgelehnt; in diesem Fall hielt man am alten, d.h. vor-modernen Grenzverlauf zwischen Literatur und nicht-Literatur fest. Oder aber der Reigen wurde nicht als unsittlich bzw. schmutzig gebrandmarkt sondern als Literatur akzeptiert; in jenem Fall musste der von den Gegnern behauptete Grenzverlauf zwischen Literatur und nicht-Literatur in Frage gestellt werden. Dabei hat sich auf den vorangegangenen Seiten gezeigt, dass die Grenze bezüglich der Medialität der Dialoge unterschiedlich gezogen wurde. Während der Reigen als Buch in seiner Existenzberechtigung umstritten war, herrschte mit wenigen Ausnahmen Einigkeit darüber, dass er nicht auf die Bühne gehörte. Wie außerdem nachgewiesen werden konnte, verschob sich die Grenze in den Augen mancher Befürworter auch mit Blick auf weibliche Leser, für die der Reigen von ihnen nicht als geeignete Lektüre aufgefasst wurde. Die hohen Verkaufszahlen im Jahr 1903 sind mit darauf zurückzuführen, dass der Reigen so sehr polarisierte. Freilich wurde vonseiten des Wiener Verlags versucht, jenen Effekt noch einmal zu verstärken. Eine im Vorfeld der dann verbotenen Lesung Bahrs im Börsenblatt geschaltete große Anzeige veranschaulicht die Werbestrategie: Diese Vorlesung ist ein literarisches Ereignis allerersten Ranges, welches das ausserordentliche Aufsehen machen und das stärkste Interesse für das Buch hervorrufen wird. Alle Zeitungen Deutschlands und Österreichs werden ausführliche Berichte über diese Vorlesung bringen, wodurch die Nachfrage eine sehr starke sein wird. Wir bitten Sie daher, sich rechtzeitig mit Exemplaren zu versehen. Das zehnte Tausend ist vollständig vergriffen. Das 11. Tausend erscheint am 3. November. 122

Dem folgten Erwähnungen positiver Presseurteile, wobei diejenigen Aussagen zitiert wurden, in denen Kritiker dem Reigen Kühnheit und eine erschütternde Wirkung zusprachen. Mithin wurde versucht, die Grenzwertigkeit des Reigens werbewirksam in Szene zu setzen. Auch manche Gegner waren sich des Reiz-Reaktions-Schemas bewusst und ahnten, dass ihre negativen Buchbesprechungen bei einigen Lesern anstatt Ablehnung Interesse an den Schnitzlerschen Dialogen wecken könnten. Nicht zufällig hieß es in der Vossischen Zeitung: „Wir wollen uns bemühen, diesen häßlichen Erfolg Schnitzlers zu vergessen.“123 Ganz im Gegenteil wurde der Reigen jedoch nicht vergessen, sondern erlangte gerade aufgrund des ‚Schmutzskandals‘ eine Bekanntheit, die die weiteren literarischen Erfolge Schnitzlers in jener Zeit weitestgehend überblendete. In seinem Tagebuch hielt er die vielsagende Beobachtung einer 121 Ebd., S. 185. 122 [Anzeige.] In: Börsenblatt (29. Oktober 1903), Nr. 252, S. 8657. Nach einer ebd. auf S. 56 abgedruckten Abbildung. 123 [Verfasser unbekannt:] Zeitschriften und Bücherschau. In: Vossische Zeitung, 1. Beilage (13. August 1903), S. 8. In: Schneider (1995), S. 52.

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russischen Bekannten fest, die ihm mitgeteilt hatte, wie „verwundert“ sie sei, „dass hier 100 Leute die sie nach mir gefragt (ohne Ausnahme) gesagt [hätten], ah – ‚der, der den Reigen geschrieben‘.“124 Eine weitere Tagebuchnotiz Schnitzlers vom 8. März 1904 beweist noch einmal, um welch eine problematische Lektüre es sich beim Reigen handeln konnte, die im Fall eines sechzehnjährigen Jugendlichen sogar zum Schulverweis führte: „Frau Stätter (Schneiderin) da, ihr Sohn ist ausgestoßen – weil er den „Reigen“ von einem Collegen sich ausgeliehn. Verlogenheit und Heuchelei des Direktor Thumser.– Der Katechet: Er kommt jetzt in das gefährl. Alter, 16 – die verdorbenen Judenkinder werden schon früher reif.“125 Der Schuldirektor spielte sich als Sittenrichter auf, um einen jüdischen Schüler der Schule zu verweisen. Der vermeintlich unsaubere und unsittliche Reigen wurde zu antisemitischen Zwecken instrumentalisiert. Als Reaktionen auf den Reiz, den der Reigen auslöste, müssen auch die Akte staatlicher Zensur126 gelten, die sich 1903 interessanterweise auf die Inszenierungen der Dialoge beschränkten und zunächst nicht gegen das Buch gerichtet waren. Erstmalig beschlagnahmt wurde es dann im März 1904 in Leipzig. 127 Ein Jahr darauf wurde der Reigen am 31. Januar 1905 vom Berliner Landgericht I verboten. Als sich jenes Urteil andeutete, entschlossen sich Freund und Schnitzler dazu, eine von der Ausstattung des Buches her veränderte Neuauflage herauszubringen 128, die erst – so das Kalkül – nach einem neuerlichen Gerichtsverfahren beschlagnahmt werden konnte. Tatsächlich wurde jene Auflage dann bereits am 24. Februar 1906 verboten und in der Folge in Berlin konfisziert. Auch an anderen Orten in Deutschland – etwa in München – fanden Beschlagnahmungen statt129, während das Buch in Österreich unbehelligt blieb. Mit den erfolgten Akten der Zensur wurde dem Reigen staatlicherseits der literarische Status abgesprochen, womit ein Grenzverlauf zwischen Literatur

124 Tagebucheintrag vom 15.06.1905. In: Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 140. 125 Ebd., S. 64. 126 Zur Zensurgeschichte von Schnitzlers Reigen vgl. Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. I, S. 53-54. 127 Schnitzler (1991), Tagebuch III, S. 64, Eintrag vom 16. März 1904: „Reigen in Deutschland beschlagnahmt.–“ 128 Siehe ebd., S. 100 und 114, Aufzeichnungen vom 10. November 1904 und 19. Januar 1905. 129 In Briefen vom 15. und 19. Juni 1908 versuchte Samuel Fischer Schnitzler über die in Deutschland vorherrschende uneinheitliche und äußerst unübersichtliche Zensurpraxis aufzuklären: „Da eine Zensur in Deutschland prinzipiell nicht existiert, so kann die Klage auf Freigabe nicht prinzipiell durchgefochten werden.“ Weiter: „Ich will versuchen, ob ich feststellen kann, wann und wo der Reigen in Deutschland verboten ist. Daß er verboten ist, ist zweifellos […]. Und das Buch darf ja tatsächlich auch in Deutschland nicht geführt werden. Es ist aber ein Irrtum von Ihnen zu glauben, daß die Beschlagnahme in München oder Leipzig nur eine lokale Bedeutung hat […]. Ich habe gesagt, daß ein erfolgreicher Prozeß in einer Stadt die abermalige Konfiskation an anderer Stelle nicht ausschließen würde, was nicht heißen soll, daß das Buch an anderer Stelle erlaubt ist, wenn es in irgendeinem Ort in Deutschland verboten wurde.“ Siehe Fischer, Samuel: Briefe an Arthur Schnitzler, 15 u. 19.06.1908. In: Mendelssohn (1970), S. 442.

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und nicht-Literatur protegiert wurde, wie ihn auch die Gegner moderner Literatur verteidigten. Der Absatz des Buches, der für das Deutsche Reich zunächst von Leipzig aus organisiert wurde, dürfte durch die Konfiskationen erheblich erschwert worden sein. Trotzdem blieben die Verkaufszahlen nach 1903 weiterhin hoch. Bis 1907, als Schnitzler nach Zahlungsschwierigkeiten des Wiener Verlags130 die Rechte zurückbekam, sind insgesamt 35.000 Exemplare aufgelegt worden. 131 In den Jahren darauf stieg die Auflagenhöhe des Reigens dann nicht mehr so rasch an, 1913 ist das 44.-46. Tausend aufgelegt worden, stagnierte dann in den Jahren des Ersten Weltkriegs. 132 Erst nach 1918 erlebte das Buch neue Auflagenrekorde, wozu die umstrittenen und zum Teil von gewalttätigen Protesten begleiteten Reigen-Inszenierungen in Berlin (1920/21), Wien (1921) und anderen Städten in hohem Maße beigetragen haben dürften. 1927 kam bereits das 100. Tausend auf den Markt. 133

9.3 DER INSZENIERTE REIGEN VOR GERICHT (BERLIN 1921) Die mit dem Ende des 1. Weltkriegs einhergegangenen politischen Umbrüche in Deutschland und Österreich scheinen Schnitzler bezüglich möglicher ReigenAufführungen zum Umdenken gebracht zu haben. Als der renommierte Max Reinhardt die Aufführungsrechte für das Deutsche Theater erbat, sagte er zu. Da sich Reinhardt 1920 aus Berlin zurückzog, kam es jedoch nicht zu einer von ihm betreuten Inszenierung. Felix Holländer übernahm die Rechte und trat sie an das „Kleine Schauspielhaus“ ab, das im Theatersaal im Gebäude der Berliner Hochschule für Musik unter der Leitung von Gertrud Eysoldt und Maximilian Sladek spielte. 134 Die Erstaufführung fand am 23. Dezember 1920 statt. Dabei widersetzten sich Eysoldt und Sladek einer einstweiligen Verfügung, die mit der sittlichen Bedenklich-

130 Mit einem zu großen Angebot und zu hohen Kosten hatte sich der Wiener Verlag unter der Ägide Freunds übernommen. Hinzu kam, dass zu wenig Bestseller im Programm waren. Vgl. Hall (1985), S. 83-85. – Schnitzler, Arthur: Tagebuchnotiz, 26.11.1906. In: Ders. (1991), Tagebuch III, S. 235: „Freunds Compagnon (Dülberg) sagte neulich Salten: Das einzige, was geht, ist ‚Reigen‘. Und ich kann von diesen Gaunern kein Geld kriegen. Prozess. Vergleich neulich, der mir Raten zuspricht und das Verlagsrecht zurückgibt, im Nichteinhaltungsfall.“ 131 Vgl. Hall (1985), S. 90. 132 „Schnitzler hatte Pech mit seinen Reigen-Verlegern,“ konstatieren Pfoser/PfoserSchewig/Renner (1993), S. 58. Auch der Verlag J. Singer & Co, wo das Buch ab 1908 aufgelegt wurde, ging bereits Mitte 1909 in Konkurs und mit dem gleichnamigen Nachfolgeverlag kam es immer wieder zu Unstimmigkeiten. Nach dem Krieg wurde der Reigen dann vom Berliner Benjamin Harz Verlag vertrieben. Die Zensurschwierigkeiten mit dem Reigen im Deutschen Reich blieben die gesamte Zeit über bestehen. Vgl. ebd., S. 5463. 133 Vgl. ebd., S. 64. 134 Vgl. Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. 2, S. 25-28.

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keit der literarischen Vorlage begründet wurde.135 Aus dem Grund kam es zu einem ersten Reigen-Prozess, in dem am 3. Januar 1921 die einstweilige Verfügung aufgehoben wurde. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass die Inszenierung ohne problematische Szenen auskommen würde. Sie veranschauliche den „Tiefstand der Haltung weitester Bevölkerungsschichten auf dem Gebiete des Geschlechtslebens“ und müsse deshalb sogar als „eine sittliche Tat“ 136 aufgefasst werden, die bei reifen und gebildeten Zuschauern aufklärend wirke. Der Reigen konnte weitergespielt werden, jetzt aber von einem konservativen Presseecho begleitet, das die Gerichtsentscheidung in Frage stellte und Stimmung gegen den Reigen machte. 137 Am 22. Februar kam es dann während einer Aufführung in und außerhalb des Theaters zu antisemitischen Ausschreitungen.138 Trotz des Landgerichtsurteils ermittelte die Staatsanwaltschaft weiter, und zwar wohl auch deshalb, weil Anzeigen der Zentralpolizeistelle zur Bekämpfung unzüchtiger Schriften eingegangen waren. Deren Mitarbeiter Professor Karl Brunner, der sich in den zwanzig Jahren zuvor bereits einen Namen im Kampf gegen ‚Schundund Schmutzliteratur‘ gemacht hatte, hat u.a. eine Unterschriftenaktion gegen den Reigen in die Wege geleitet, die von verschiedenen konservativen und deutschnationalen Gruppierungen unterstützt wurde.139 Schließlich hat die Staatsanwaltschaft auf Grundlage des § 183 StGB ein neues Verfahren gegen die an der ReigenInszenierung mitwirkenden Personen eingeleitet. Der Vorwurf lautete, dass die Schauspieler auf der Bühne unzüchtige Handlungen vollzogen und Eysoldt/Sladek sie dazu angestiftet hätten.140 Der Prozess, der zwischen dem 5. und 12. November 1921 an sechs Verhandlungstagen stattfand, endete mit einem Freispruch. Auf den folgenden Seiten werden die in diesem zweiten Reigen-Prozess vorgebrachten Argumente gegenübergestellt. Für die im Sinne der Anklage aussagenden Reigen-Gegner war der Schmutzvorwurf zentral. In Abschnitt 9.3.1 wird dargelegt, wie sie ihn begründet haben. Abschnitt 9.3.2 befasst sich mit den Argumenten der Reigen-Befürworter, die in ihren Aussagen den Schmutzvorwurf zu entschärfen versuchten. Abschnitt 9.3.3 wirft schließlich noch einen Blick in die Abschlussplädoyers des Staatsanwalts und der beiden Verteidiger sowie auch in die Urteilsbegründung. Den Ausführungen liegt die von Verteidiger Wolfgang Heine auf stenographischen Protokollen basierende Dokumentation Der Kampf um den Reigen zugrunde, die 1922 veröffentlicht worden ist. 9.3.1 Die Reigen-Gegner und ihre Argumente 38 Zeugen traten im Berliner Reigen-Prozess als Gegner auf, davon 16 Frauen und 22 Männer. Acht der Belastungszeugen waren in einem pädagogischen Beruf tätig, fünf Personen arbeiteten im Staatsdienst, drei Personen waren beruflich in christlichkaritativen Organisationen tätig, zwei Personen waren Bankbeamte und zwei gaben 135 136 137 138 139 140

Vgl. Kampf u. d. Reigen (1922), S. 6. Ebd., S. 8. Vgl. Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner (1993), Bd. 2, S. 47-49. Vgl. ebd., S. 49-52. Vgl. Kampf u. d. Reigen, S. 8-9. Vgl. ebd., S. 433-434.

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an, Kaufmann zu sein. Daneben traten ein katholischer Geistlicher, ein Buchhändler, ein Verleger und Redakteur, ein Fabrikant, ein Ingenieur sowie ein Medizinstudent als Zeugen der Anklage auf, desweiteren eine Bankbeamtengattin, eine Kaufmannsfrau, eine Redakteursgattin und eine Fabrikdirektorenwitwe. Neben den Pädagogen entstammten somit weitaus die meisten der im Prozess aussagenden Reigen-Gegner den alten Eliten, die ihr soziales und symbolisches Kapital in der Vorkriegsgesellschaft erlangt hatten. Politisch waren die im Sinne der Anklage aussagenden Zeugen entweder christlich-konservativ oder deutsch-völkisch orientiert. Sechs von ihnen sind Mitglieder rechtskonservativer Parteien gewesen; zwei waren im katholischen Zentrum organisiert (Martin Faßbender; MdR Christine Teusch), die anderen vier waren Mitglieder deutschvölkischer Parteien: der Deutschnationalen Volkspartei (MdL Ernst Jenne; Ulrike Scheidel), der antisemitischen Deutschsozialen Partei (Klara Müller) und der Nationaldemokratischen Partei (Rudolf Lebius). Viele der Zeugen waren laut eigener Aussage Mitglieder von einem oder mehrerer Vereine, einige von ihnen sind auch in Vereinsvorständen aktiv gewesen. Dabei handelte es sich ausschließlich um Sittlichkeitsvereine (u.a. Ausschuss der ‚Berliner Vereine für Volkssittlichkeit‘; ‚Berliner Frauenverein gegen den Alkoholismus‘; ‚Volksbund zur Wahrung von Anstand und Sitte‘; ‚Jüdischer Frauenbund‘) sowie um antidemokratische und antisemtische Organisationen (u.a. ‚Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund‘; ‚Bund der Aufrechten‘; ‚Deutschvölkischer Geselligkeitsverein‘; ‚Nationalverband Deutscher Offiziere‘; ‚Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband‘). Die weltanschaulichen Positionen der Zeugen spiegeln sich im Selbstverständnis wider, mit dem sie vor Gericht auftraten. Mehrere von ihnen urteilten unter Berufung auf ihr Anstandsgefühl, auf ihre Menschlichkeit bzw. auf ihr gekränktes sittliches Empfinden.141 Einige der Zeuginnen hoben hervor, dass ihre Frauenehre beleidigt worden wäre,142 beriefen sich auf ihr verletztes „weibliches Gefühl“143 oder nahmen den Standpunkt einer für „Reinheit“144 in ihrer Familie kämpfenden Mutter ein. Andere, die Anstoß am Reigen genommen hatten, betonten ihren beruflichen Standpunkt als Jugenderzieher, um ihr Engagement zur Wahrung guter Sitten im Sinne des Jugendschutzes zu begründen.145 Dagegen betonten mehrere der Zeugen ihre Objektivität und beriefen sich auf das „Interesse der Allgemeinheit“ 146 bzw. auf das „allgemeine Volksempfinden“,147 für welches sie einzutreten beanspruchten. Der Buchhändler Ernst Lüttke hob explizit hervor, dass er „keinem Jungfrauenverein und keinem politischen Verein“ angehören würde: „Ich komme neutral aus mir selbst, um aus dem Volke meine Meinung kundzutun“.148 Diejenigen, die aus „völkischem Interesse“149 gegen den Reigen aussagten, waren dagegen keineswegs darum bemüht, ei141 142 143 144 145 146 147 148 149

Ebd., S. 47; S. 51; S. 58; S. 72. Ebd., S. 51. Ebd., S. 193. Ebd., S. 91 u. S. 242. Vgl. ebd., S. 112. Ebd., S. 192. Ebd., S. 238. Ebd., S. 239. Ebd., S. 83.

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nen objektiven Standpunkt einzunehmen: einige von ihnen betonten, dass sie sich für die sittliche Gesundung des deutschen Volkes engagieren wollten und bekannten sich (mehr oder weniger) offen zum Antisemitismus. 150 Manche der Aussagenden wie die Zeugin Margarete von Arnim – Hausdame in einem Knabenerziehungsheim – vereinten gar alle genannten Perspektiven in sich: schließlich ärgerte sie sich nicht nur „als deutsche Untertanin“,151 sondern auch „als Erzieherin, als Frau, als Mensch“152 über den Reigen. Anzufügen ist, dass die Mehrzahl derjenigen, die gegen die Berliner Aufführung des Schnitzlerschen Bühnenstückes aussagten, sich zuvor mit ihrer Unterschrift an einer von Karl Brunner formulierten Protesterklärung beteiligt hatten, mit der auf eine Anklageerhebung gedrängt worden war. Im Prozess gaben viele von ihnen zu, den Reigen zu dem Zeitpunkt, als sie unterschrieben hatten, noch gar nicht gesehen zu haben. Als die Staatsanwaltschaft sie dann als Zeugen berief, schauten sich einige von ihnen das Stück nachträglich an, andere gaben zu, den Berliner Reigen erst bei der im Rahmen des Prozesses zwischen dem ersten und zweiten Verhandlungstag am 6. November angesetzten Aufführung im Kleinen Schauspielhaus gesehen zu haben. Die Zeugin Ottilie von Braunschweig tätigte ihre Aussage am ersten Verhandlungstag sogar gänzlich ohne Kenntnis des Stückes. 153 Mehrere in deutschvölkischen Vereinen organisierte Personen gestanden im Prozess offen, am Tag der Krawalle am 22. Februar im Kleinen Schauspielhaus zugegen gewesen zu sein, zum Teil auch mitprotestiert zu haben.154 Im Folgenden werden nacheinander aufführungs- und inhaltsästhetische, wirkungsästhetische und vermarktungskritische Argumente sowie die von manchen Gegnern offen vorgebrachten Säuberungsfantasien zusammengestellt. Daraufhin werden die Aussagen der beiden gegen den Reigen auftretenden Sachverständigen beleuchtet. Die Ausführlichkeit, mit der die Argumente der Reigen-Gegner in den Blick genommen werden, erlaubt es, die Grenzlinie zu veranschaulichen, die sie zwischen Kunst und Schmutz gezogen haben. Aufführungs- und inhaltsästhetische Aspekte „Ich habe an allem und jedem Anstoß genommen. Ich weiß kaum, was mir am anstößigsten erschien“155, beteuerte Margarete von Arnim und wie sie wandten sich die meisten Zeugen in ihren Aussagen im Kern zunächst gegen den Gesamteindruck, den sie bei ihrem Besuch des Reigen im Kleinen Schauspielhaus erlangt hatten. Sie störten sich an der Thematisierung von Sexualität, auf die alle Handlungsmomente des Theaterstücks hinweisen würden: „Der Zusammenhang, der in diesen Bildern sich ausdrückt, ist eben nur der Geschlechtsakt in dem Lichte tierischer Begierde“ 156, stellte die Lehrerin Eva Kulke fest und auch der Kaufmann Karl Koehne ärgerte sich darüber, dass „sich alles nur um den einen Punkt, die geschlechtliche Befriedi150 151 152 153 154 155 156

Vgl. z.B. ebd., S. 150; S. 136. Ebd., S. 58. Ebd., S. 59. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., passim. Ebd., S. 58. Ebd., S. 109.

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gung“157, drehen würde. Einige der Reigen Gegner betonten gar, wie sehr sie sich bei ihren Theaterbesuchen angewidert158, angeekelt159 oder in ihrem Schamgefühl verletzt160 gefühlt hätten. Mit deutlichen Worten zeigten sie an, dass mit der Aufführung des Reigens in ihren Augen ein Tabubruch einhergegangen wäre. Es sei „das Heiligste und Verborgenste in unmißverständlicher Andeutung“161 inszeniert worden, das „jeder anständige Mensch verbergen“ wolle, und worüber selbst die Natur normalerweise „den Schleier der Nacht“162 legen würde, wie es die Zeugen Reineck, Rost und Siebert formulierten. Die Kaufmannsfrau Klara Koehne hatte deshalb den in ihren Augen empörenden „Eindruck“ gewonnen, dass zu „viel Schmutz ans Licht gezerrt wurde“163 und auch Margarete von Arnim stieß sich daran, dass das Thema Sexualität auf einer Theaterbühne visualisiert worden war: „All das könnte ich, gelesen, als reifer Mensch vielleicht allenfalls ertragen, und manches begreifen und wissen, was vorgeht. Ich weiß es auch so. Aber daß ich das sehen kann und soll, das empört mich so furchtbar, wie ich es nicht ausdrücken kann.“164 Da die Anklage lautete, dass bei der Aufführung des Stückes unzüchtige Handlungen vorgenommen worden seien, versuchte der vorsitzende Richter die Zeugen dazu zu bringen, ihre Aussagen zu präzisieren und sich über einzelne Dialoge oder Handlungsmomente, über die Musik oder das Bühnenbild auszusprechen, um daran ihre Kritikpunkte eingehender auszuführen und zu erläutern, warum sie den Reigen als „unrein“165 empfunden hätten. Einige der Zeugen hatten jedoch Probleme, konkrete Dinge zu benennen, an denen sie Anstoß nahmen. Nicht nur die Bankbeamtengattin Gertrud Kohrun, die den Inhalt des Schauspiels ganz allgemein als unzüchtig empfunden hatte, wich den Bitten des Vorsitzenden, ihren Vorwurf näher zu erläutern, mit Verweis auf ihre Vergesslichkeit – „Auf Einzelheiten kann ich mich nicht mehr entsinnen“166 – aus. Andere Zeugen gaben offen zu, dass das Stück durchaus dezent gespielt worden wäre, betonten dann aber, dass sie den Reigen an und für sich als anstößig167 bzw. als „Schmutz“ und „Gemeinheit“168 erachteten. Die Mehrzahl der Zeugen gab sich hingegen Mühe, exegetisch das Selbstverständliche zu beweisen: nämlich dass der Reigen sich tatsächlich um das Thema Sexualität drehe. Mangels explizit unzüchtiger Handlungen oder Äußerungen mussten sie an einzelnen Szenen den impliziten Gehalt des Stückes – dessen Subtext – zum Vorschein bringen, um ihre Entrüstung verständlich zu machen. Beispielsweise zitierten sie Textstellen, deren „Zweideutigkeit“ 169 sie erläuterten und beanstandeten. 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169

Ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 89; S. 126; S. 130. Vgl. ebd., S. 44; S. 193. Ebd., S. 54. Ebd., S. 89. Ebd., S. 70. Ebd., S. 58. Ebd., S. 55. Ebd., S. 102. Vgl. ebd., S. 64. Ebd., S. 149. Ebd., S. 64.

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Nicht nur die Zeugin Elise Christiansen etwa verwies auf Figurenreden, anhand derer sie bei der Aufführung des Stückes „den Geschlechtsakt herausgefühlt“ habe: Dann sagte z. B. die Dirne: „Bei mir kannst du umsonst“ zu dem Soldaten. „Bezahlen tun die Zivilisten.“ – Dann sagte der Junge Mann, nachdem der Vorhang gefallen war: „Nun habe ich ein Verhältnis mit einer anständigen Frau!“ Vorsitzender: Was schlossen Sie aus dieser Aeußerung? Zeugin: Daß der Geschlechtsakt stattgefunden hat. – Ja, und dann sagte der Graf: „Es wäre noch schöner gewesen, wenn ich nur die Augen geküßt hätte.“ Auch daran muß man entnehmen, daß der Geschlechtsakt stattgefunden hat.170

Da ihr Sexualität als ein Thema galt, dass auf der Bühne nicht einmal vage thematisiert werden dürfe, hatte sie bei jenen Worten laut eigener Aussage eine „furchtbare Empörung“171 verspürt. Dass im Reigen eine von Moral und Liebe entkoppelte, allein der Befriedigung dienende, außereheliche Sexualität thematisiert wird, wurde von den Gegnern freilich als besonders problematisch angesehen. Johannes Steinweg, Direktor des Zentralausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, bezeichnete es als unzüchtig, wie in den Dialogen „diese gemeine Art des Geschlechtslebens, diese niedrige Form, dieses einfache Genußleben ohne irgendwelche seelische Tiefe“ angedeutet und „vor der ganzen Welt ausgebreitet“ 172 worden wäre. Ähnlich äußerte sich die Redakteursgattin Elise Gerken, die in den Figurenreden all jene „ethischen“ und „idealen“ Momente vermisste, die den „Verkehr zwischen Mann und Frau aus dem Tierischen ins Menschliche erheben“173 würden, und auch die Lehrerin Christine Teusch hob die in den Unterhaltungen vorherrschende „Heuchelei in bezug auf die wahre Liebe und die eheliche Treue“174 hervor, die ihrer Meinung nach unbedingt als unsittlich zu bewerten wäre. Der Landgerichtsrat und Scheidungsrichter Ernst Jenne stieß sich vor allem an der „Gleichstellung des außerehelichen Verkehrs mit dem ehelichen“ und forderte von einem Theaterstück stattdessen, dass in ihm eine ethische Bevorzugung der Ehe als vom Dichter intendierte Moral „erkennbar“ 175 sein müsse. Besonders missfiel einigen Zeugen, dass ausnahmslos alle im Stück handelnden Figuren, insbesondere aber die Frauen, sich unanständig, unehrenhaft bzw. würdelos verhalten würden. Diese Einseitigkeit war für den Regierungs- und Baurat Biermann der Grund dafür, das Stück als „naturalistisch“ und „unwahr“176 zu beurteilen. Ebenfalls als „unecht“177 wertete die Generalsekretärin der Deutschen Bahnhofsmission Theodora Reineck den Reigen aufgrund der ausnahmslos auf ihre Sexualität reduziert dargestellten Frauenfiguren. In „drei oder vier Szenen“, empörte sie sich, seien die 170 171 172 173 174 175 176 177

Ebd., S. 124-125. Ebd., S. 125. Ebd., S. 46. Ebd., S. 149. Ebd., S. 103. Ebd., S. 173-174. Ebd., S. 77-78. Ebd., S. 55.

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„Frauen im Bett vorgeführt“ worden, während in keiner der anderen Szenen zum Ausgleich wenigstens eine Frau gezeigt worden sei, „die sich selbst beherrscht und ihrer Ehre bewußt“178 gehandelt hätte: Es wird z. B. auch eine Ehefrau, die am selben Tage ein uneheliches Verhältnis hat, am selben Tage auch mit ihrem Mann im Schlafzimmer gezeigt. Das sind Dinge, die uns kränken und Aergernis erregen. Und besonders peinlich und schmerzlich hat mich auch berührt die Szene, in der der Soldat ein junges Dienstmädchen verführt hat, als sie ihn dann fragt, ob er sie lieb hat, da antwortet ihr der Soldat: „Das hast du doch vorhin gespürt!“ Ebenso unsittlich habe ich die Szene gefunden, wo die Schauspielerin im vorletzten Akt des Stückes, im Bett liegend, alle Anstrengungen macht, um den Grafen an sich zu fesseln. Es ist wohl mit das Peinlichste und Demütigendste für uns Frauen, das mit anzusehen, daß das Weib es ist, dessen sinnlichen Instinkte hervorbrechen.179

Dass Frauen sexuelles Verlangen besitzen und dass sie ihre Sexualität aktiv ausleben könnten, war in Reinecks Augen eine zutiefst unanständige Vorstellung, die sie keinesfalls in einem Bühnenkunstwerk angedeutet sehen wollte. Ähnlich argumentierte auch die Zeugin Christ, die die „Stellung der Frau“ im Reigen deshalb als eine „Erniedrigung des weiblichen Geschlechts“180 bezeichnete. Der Zeugin Elise Gerken, die sich im Arbeitsausschuss der ‚Berliner Vereine für Fragen der Volkssittlichkeit‘ engagierte, missfiel, dass sich alle im Stück dargestellten Frauen bloß körperlich anbieten und sich damit prostituieren würden, wobei sie einwandte, dass „die Prostitution so ganz anders dargestellt“ worden wäre, „als sie in Wirklichkeit“181 sei: nämlich wesentlich elender und unglücklicher. Dass sich die männlichen Figuren in Schnitzlers Bühnenstück nach dem Sex „fast jedesmal in einer zynischen Brutalität von dem Weibe“ abwenden würden, wertete Gerken als ein weiteres Zeichen dafür, dass „von Liebe oder von irgendwelchen seelischen Beziehungen gar nicht die Rede“182 sein könne. Eva Kulke betonte diesbezüglich den Warenund Wegwerfcharakter einer solchen Form von Sexualität und nahm eine emanzipierte Position ein; „als Frau“ nahm sie „tiefsten Anstoß“ daran, dass die Frauen in der Berliner Inszenierung bloß als „Gebrauchsgegenstand des Mannes“ hingestellt worden seien, „den der Mann wegwirft, sobald er seinen Zweck erfüllt hat“ 183. Dass dies nicht gerade ein positives Licht auf die Männer warf, störte als einzigen Mann den Direktor der Deutschen Evangelischen Missionshilfe M. Schreiber, der aus dem Grund in seiner Aussage hervorhob, dass das Stück zwar „eine Beleidigung der Frauen sei. Aber auch Männer, die auf ihre Ehre halten, die geschlechtliche Dinge vor und nach der Ehe als unsittlich betrachten, werden in ihrer Ehre ebenso getroffen.“184

178 179 180 181 182 183 184

Ebd., S. 51. Ebd., S. 51-52. Ebd., S. 71. Ebd., S. 149. Ebd. Ebd., S. 110. Ebd., S. 81.

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Dabei nahm Schreiber konkret daran Anstoß, dass der Gatte seiner Ehefrau gegenüber von Frauen als „Geschöpfen“ spricht, „auf die wir Männer angewiesen sind“185. Andere Zeugen sahen es hingegen als eine Beleidigung der Mannesehre an, dass im Reigen auch die männliche Impotenz thematisiert186 und – dies störte die Gemeindeschullehrerin Lina Graade besonders – zwischen den Figuren sogar „über die Unmöglichkeit des sexuellen Vorgangs“187 gesprochen (!) worden ist. Der Bankprokurist Fritz Witzmann sah es als besonders ehrverletzend an, dass „alle Kavallerieoffiziere“ nach Worten der Dirne „bei dieser Gelegenheit weinen“ würden: Zeuge: Ich habe das so verstanden, daß ein Mensch, der beim Geschlechtsakt weint, wohl nicht ganz leistungsfähig sein dürfte. (Heiterkeit.) Daß das außerdem ungerecht ist, geht daraus hervor, daß in diesem Bilde der Vorhang zweimal runtergeht, das beweist doch das Gegenteil. (Erneute Heiterkeit.) Ich finde es übel, so etwas überhaupt darzustellen. 188

Die Heiterkeit im Publikum wie auch der weitere Verlauf der Befragung Witzmanns offenbaren, dass die Thematisierung von Impotenz in der männlich dominierten Nachkriegsgesellschaft für einen Mann ein wohl noch größeres Tabu gewesen sein dürfte, als sich offen über einen vollzogenen, heterosexuellen Geschlechtsakt zu äußern: Staatsanwalt: Um das von dem Zeugen verständlich gesagt zu bekommen, muß wohl die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Der Zeuge geniert sich offenbar. Vorsitzender: Ist es ihnen peinlich, sich hier auszusprechen? Zeuge: Jawohl, es ist mir sehr unangenehm. Wenn ich gewußt hätte, daß ein Prozeß daraus wird, dann hätte ich es unterlassen, mir die Vorstellung anzusehen. 189

Ein großes Ärgernis nahm Witzmann übrigens an der Äußerung „Der Mann hat ja ein Verhältnis mit seinem Briefträger“190, an welcher er die angedeutete Homosexualität kritisierte. Desweiteren gaben mehrere Zeugen an, durch die Vermischung sexueller und christlicher Symbolik in ihrem religiösen Gefühl verletzt worden zu sein. Theodora Reineck äußerte sich dementsprechend über die betend vor dem Mann niederknieende Schauspielerin, was sie als eine unzulässige „Profanation des Gebets“ 191 auffasste. Und der Kuratus Heinrich Wienken empörte sich darüber, dass in einer angeblichen Bordellszene des Reigen ein Madonnenbild vorkommen würde: „Das gilt uns als Ideal der Reinheit“192, betonte er. Der Einwand des Verteidigers, dass das Heiligenbild nicht in einem Bordell, sondern in einem Wirtshaus hängen würde, wies er als irrelevant zurück. Allein das Vorhandensein eines solchen Bildes an einem Ort, wo der 185 186 187 188 189 190 191 192

Ebd.. Vgl. ebd., S. 38; S. 44; S. 166-167. Ebd., S. 74. Ebd., S. 62. Ebd.. Ebd., S. 64. Ebd., S. 56. Ebd., S. 232.

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Akt – wenn auch ausgeblendet – stattfinden würde, empfand er als eine Verunglimpfung des christlichen Symbols.193 Auch der sich auf seinen Katholizismus berufende Kaufmann Julius Müller stieß sich an derselben Szene: „Die Dame betete, und das hat mich geärgert. Ich habe Anstoß genommen, daß man unmittelbar vor dem Akt, der doch stattfinden muß, vor dem Madonnenbild kniet, das für uns doch noch immer heilig ist, trotz des 9. Novembers! Daß man es in solcher Weise in den Schmutz zieht.“194 Noch andere gestische Handlungen wurden beanstandet, wobei die ReigenGegner sich Mühe machten, sie sexuell auszudeuten. Beispielsweise wurden impulsive Bewegungen erwähnt, die geschlechtliche Erregung verraten würden: In der ersten Szene, der Soldat mit dem Dienstmädchen, da gingen sie immer aufeinander zu, sie stießen sich dann gegenseitig, kamen wieder aufeinander zu, dann hat der Soldat seinen Arm um das Mädchen gelegt, sie fest mit den Beinen umschlungen und sich derartig in so perverser Weise (große Heiterkeit) an das Mädchen herangedrückt –,195

beteuerte die Hauptmannsfrau Klara Müller. Von den betreffenden Schauspielern und dem Verteidiger Wolfgang Heine konnte ihre Aussage jedoch glaubhaft bestritten werden. In keiner der Aufführungen des Reigen sei es zu einer „perversen Beinumschlingung“ gekommen, so Heine: „Ich fürchte, daß die Dame in der Phantasie mehr gesehen hat als ich.“196 Ebenso wies Heine auch die Aussagen der Ehegatten Klara und Karl Koehne als unzutreffend zurück, die beide beteuerten, dass in der Szene zwischen dem jungen Herrn und dem Stubenmädchen die Bluse geöffnet und der Busen geküsst worden wäre.197 Unwidersprochen blieben hingegen Aussagen von Zeugen, die ein Zurechtmachen der Haare198 oder ein Ordnen der Kleider199 wahrgenommen hatten, wobei sie jene Bewegungen wiederum sexuell deuteten. Beispielsweise betonte der Lehrer Willi Rost, gesehen zu haben, dass die junge Frau auf der Bühne an ihrer Bluse „nestelte“, weswegen er unweigerlich den ihm ärgerlichen Eindruck gewonnen hatte, dass sie zuvor geöffnet und erst „jetzt geschlossen worden“200 sein musste. Der Zeuge Biermann sah es als unanständig und für die Darstellung auf dem Theater als unangebracht an, dass in der Berliner Aufführung „Frauen und Mädchen halbnackt oder nur sehr mäßig bekleidet“ aufgetreten seien, wobei er es als besonders unzüchtig erachtete, dass die Frau in einer Szene gar „im Bett liegt und das Nachtkleid“ 201 angehabt hat; seiner Meinung nach war dadurch die Grenze dessen, was man in einem Theaterstück zeigen dürfe, deutlich überschritten. Ähnlich äußerte sich der Buchhändler Ernst Lüttke, der das Publikum wiederholt mit seiner Überzeugung, „Bett193 194 195 196 197 198 199 200 201

Vgl. ebd., S. 234. Ebd., S. 132. Ebd., S. 94. Ebd.. Vgl. ebd., S. 68; S. 70-71. Vgl. ebd., S. 232. Vgl. ebd., S. 115; S. 231. Ebd., S. 86. Ebd., S. 78-79.

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stellen in dieser demonstrativen Form gehören nicht auf die Bühne“, 202 erheiterte. Verteidiger Heine war freilich anderer Meinung und appellierte an das Gericht, solchen Meinungen nicht Folge zu leisten; keinesfalls sei zuviel nackte Haut gezeigt worden: Ich möchte über die „Entkleidungs“frage noch einmal sprechen. Meine Klientin Frau Madeleine ist es gewesen, die in der einen Szene im Bett lag. Das Gericht hat bei der vorgestrigen Aufführung die unbekleideten Teile der Frau Madeleine gesehen. Von Hals, Armen und Schultern sieht man nicht um eine Spur mehr, als zu jeder Hoftoilette für die Bekleidung vorgeschrieben war. Sogar weniger. Daß die Bekleidung der Frau Madeleine eine Untertaille war, während im anderen Falle das als eine Kur-Toilette bezeichnet worden wäre, das ändert an der „Entkleidung“ gar nichts … (Heiterkeit).203

Schließlich wurde von manchen Zeugen auch der strukturelle Aufbau des Schauspiels kritisiert. Ein besonderes Ärgernis war es ihnen, dass zehn ähnlich aufgebaute Bilder hintereinander aufgeführt wurden. Die Betrachter des Stückes seien durch die Serialität allzu sehr auf den Sex fokussiert worden, der zehn Mal stattfinden würde, wie Lina Graade auseinandersetzte: Vor allem aber hat das Stück auf mich einen unsittlichen Eindruck gemacht durch die häufige Darstellung des sexuellen Aktes. Der sexuelle Akt ist in meinen Augen nicht an und für sich etwas Unsittliches, sonst wäre ja auch die Ehe etwas Unsittliches oder zum Teil Unsittliches. Aber diese zehnmalige Wiederholung innerhalb von anderthalb Stunden oder 100 Minuten, daß sich immer nach zehn Minuten dieser Vorgang abspielt und das Publikum immer auf diesen einen sexuellen Vorgang hingelenkt wird, das empfinde ich eben als unsittlich.204

Dass die berühmten Gedankenstriche der literarischen Vorlage in der Berliner Reigen -Inszenierung durch das Fallen des Vorhangs und dem Anspielen einiger kurzer Walzertakte ersetzt worden waren, wurde insbesondere beanstandet. So störte sich der Geheime Regierungsrat Martin Faßbender „an dem schablonenmäßigen Herabfallen des Vorhangs“, weil damit auf „sexuelle Vorgänge“ 205 verwiesen worden sei, auf die im Stück alles zulaufe. Durch das „Raffinement innerhalb der Dialoge“, wie sie vorher und nachher geführt wurden, würde alles darauf hindeuten, dass in der Zeit, in welcher bei heruntergelassenem Vorhang „Dunkelheit auf der Bühne“ herrschte, „dieser Koitus vollzogen“206 worden sei, befand auch Karl Koehne. Ähnlicher Meinung war die Studienrätin Ulrike Scheidel, die selbst die Bewegungen des Vorhangs mit subtiler sprachlicher Gewandtheit als rhythmische Imitation des Geschlechtsaktes zu interpretieren schien, indem sie betonte, daß das Heruntergehen des Vorhangs, das Aufgehen und Wiedersenken des Vorhangs nicht etwa die schlimme Wirkung abschwächt, sondern vielmehr hervorruft, denn der Zuschauer erlebt 202 203 204 205 206

Ebd., S. 237. Ebd., S. 79. Ebd., S. 74-75. Ebd., S. 37. Ebd., S. 68.

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das in seiner Phantasie, was der heruntergehende Vorhang verdecken soll, weil eine unmittelbare Vorbereitung des Geschlechtsaktes vorangegangen ist.207

Solchen Deutungen nach entsprach der sich zehn Mal senkende und wieder hebende Bühnenvorhang keineswegs dem oben erwähnten, bedeutungsnegierenden „Schleier der Nacht“208, hinter dem der Geschlechtsakt in den Augen der Reigen-Gegner unbedingt verborgen bleiben sollte, stattdessen ist er ihnen zu einem bedeutungsvollen Symbol für den Vollzug desselben geworden, was sie freilich als unbedingt zu ahndenden Tabubruch beurteilten. Freilich kann der Vorhang auch als ein Symbol für das von den Reigen-Gegnern verteidigte Tabu, das Thema Sexualität in der Öffentlichkeit bloß nicht zu verhandeln, aufgefasst werden. Diese zweite Symbolebene musste von ihnen jedoch unbeobachtet bleiben, da deren Anerkennung die Relativität des eigenen Standpunktes ersichtlich gemacht hätte. Auch die Musik, die währenddessen einsetzte, wurde als eine weitere Verstärkung des sexuellen Eindrucks, d.h. als ein „Markieren“209 des Aktes gewertet, wie Margarete von Arnim es formulierte. Die Kaufmannsfrau Helene Wendland betonte, dass sie den Rhythmus als „so verhalten, so schwül, so schwülstig“ 210 und deshalb als aufdringlich empfunden habe. Ernst Jenne störte die „süßliche Melodie, die in einem ziemlich langsamen Flusse sich bewegt“ habe, wodurch er den „Eindruck“ bekommen hätte, dass in jenen Momenten „der Geschlechtsakt vollzogen“ 211 worden wäre. Anhand solcher Aussagen zeigt sich wiederum, dass qua Wortwahl versucht wurde, dem Stück eine eindeutig sexuell-aufdringliche Note zuzusprechen, um es dann als unzüchtig respektive schmutzig ablehnen zu können. Jene Ablehnung ging zum Teil so weit, dass dem Reigen abgesprochen wurde, überhaupt Kunst zu sein. „Ich halte das Stück an und für sich als Schauspiel für unkünstlerisch“212, urteilte die Rektorin Christ und auch Willi Rost meinte: „Das, was ich sah, hat mit Kunst nichts zu tun gehabt“213. Andere Zeugen gaben dagegen zu, dass sie die Aufführung im Kleinen Schauspielhaus als durchaus kunstvoll erachtet hätten,214 waren allerdings wie der Regierungs- und Baurat Biermann der Meinung, dass die Frage letztlich vollkommen unerheblich wäre, ob „Unanständiges in eine künstlerische Form gebracht“ worden ist oder nicht. Auch wenn man den Berliner Reigen als ein Kunstwerk bewerten würde, müssten der „Kunst, soweit sie sich selbst nicht prostituieren will, doch gewisse Grenzen gegeben“ sein. Kunstwerke sollten nach Überzeugung des gelernten Architekten und selbsternannten Künstlers Biermann frei von sexuellen Inhalten bleiben und müssten darum einzig der „hausbackene[n], alltägliche[n] Frage“ unterworfen sein: „Was ist anständig, was nicht?“215 Diese Grenze des Anstands habe der Reigen jedoch weit überschritten. Mit einer Meta207 208 209 210 211 212 213 214 215

Ebd., S. 113. Ebd., S. 89. Ebd., S. 58. Ebd., S. 243. Ebd., S. 176. Ebd., S. 71. Ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 46; S. 55. Ebd., S. 78.

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pher veranschaulichte auch die Zeugin Lina Graade ihre Meinung über den Kunstwert des Stückes, wonach „das Ganze einem Gefäß glich, das äußerlich künstlerisch ist, innerlich aber angefüllt mit Schmutzwasser.“216 Ganz gleich ob Kunst oder nicht-Kunst: dass der Reigen schmutzig und als „eine Verletzung des Sittlichkeitsgefühls“217 zu verbieten wäre, war Konsens der Gegner. Einzig Lina Graade gestand die Möglichkeit zu, unter Umständen auch „Schmutz“ auf die Bühne bringen zu dürfen, betonte allerdings, dass wenigstens versucht werden müsse, ihn „menschlich zu erklären“, um mit den gesunkenen Personen „Mitleid empfinden“218 zu können; dies sei bei der Reigen-Aufführung jedoch nicht passiert. Andere Gegner empörten sich nicht nur darüber, dass (oder wie) der Schmutz aufgeführt wurde, sondern waren überdies der Meinung, dass durch die Inszenierung kulturelle Grundwerte verunreinigt worden wären, deren Verteidigung ihnen bedeutsamer erschien, als die Freiheit der Kunst. So störte sich die Zeugin Klara Müller nicht nur an dem Umstand, „daß ein so furchtbarer Schmutz öffentlich auf die Bühne gebracht“219 worden ist, sondern auch daran, dass auf jene Weise „das Familienleben, das Eheleben, unser religiöses Leben, unsere christliche Religion, der Stand des Offiziers, schließlich auch der Stand des Schauspielers so restlos durch die Akte der Unzucht in den Schmutz gezogen sind.“220 Die Gegner beriefen sich auf einen Wertkonservatismus, der in ihren Augen nicht mit dem Reigen kompatibel wäre. Manche der Zeugen stellten sich zusätzlich auf einen völkischen Standpunkt, von dem aus sie „die allgemeine Volksmoral“ gegen die „Schweinerei“221 bzw. „Sauerei“222 der kulturellen Moderne zu verteidigen gedachten. Wirkungsästhetische Aspekte In den Aussagen der Reigen-Gegner war die wirkungsästhetische Argumentationslinie besonders stark ausgeprägt. Wie Theodora Reineck, die die „unsittliche Wirkungsmöglichkeit des Stückes“223 auf jugendliche Zuschauer hervorhob, führten viele der Zeugen bewahrpädagogische Argumente an.224 Vor allem die gegen den Reigen aussagenden Lehrerinnen befürchteten, dass unreife, charakterlich noch nicht gefestigte Personen durch den Theaterbesuch in ihren sittlichen Anschauungen verwirrt werden könnten, da im Reigen einseitig nur der Ehebruch und die heuchlerisch vollzogene, sexuelle Doppelmoral thematisiert werde. Während reife Menschen in der Lage wären, zu differenzieren, müssten junge Leute zwangsläufig den Eindruck gewinnen: „So ist es im Leben, und: Das ist das Leben!“ 225, betonte Eva Kulke, die die 216 217 218 219 220 221 222 223 224

Ebd., S. 75. Ebd., S. 82. Ebd., S. 75. Ebd., S. 91. Ebd., S. 93. Ebd., S. 236. Ebd., S. 123. Ebd., S. 55. Zu den bewahrpädagogischen Implikationen der Reinlichkeitserziehung vgl. Kap. 1.3 und 1.4. 225 Kampf u. d. Reigen, S. 109.

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Aufführung vom erzieherischen Standpunkt her als anstößiges, schlechtes Vorbild bewertete und deshalb für ein Verbot des Reigen plädierte. Insbesondere befürchteten die Lehrerinnen, dass „junge Leute, die dies Stück betrachten würden, für ihr ganzes Leben in ihrer Anschauung von der Frau ruiniert sein können“226, wie es die Zeugin Christ formulierte. Aber auch die Kaufmannsfrau Klara Koehne war überzeugt davon, dass „junge Paare“ und „unreife Mädchen“ durch den als selbstverständlich dargestellten Ehebruch und die „in den Schmutz“ gezogene „Heiligkeit der Ehe“ 227 zutiefst demoralisiert werden könnten. Die Rektorin Elise Gerken war ganz ähnlicher Meinung, machte aber einen Unterschied zwischen kleinstädtischer und großstädtischer Jugend. Während in der Kleinstadt die soziale Kontrolle durch Eltern und Erzieher noch greifen würde, wäre die Großstadtjugend „vor sittlichen Gefahren“ kaum zu bewahren. Sie ging davon aus, dass Berliner Kinder und Jugendliche bei mangelhafter Erziehung und schwankender Lebensführung der Eltern häufig „in sehr schwierigen Verhältnissen“ aufwachsen würden und deshalb „leicht nach der einen oder anderen Richtung beeinfluss[bar]“228 wären. Aus dem Grund müssten sie „einen außerordentlichen Schaden an ihrem seelischen Leben leiden“229, sobald sie den Reigen im Theater anschauten. Sie würden falsche Vorstellungen von dem erlangen, „was erlaubt und was nicht erlaubt ist“230, so Gerken. Vor allem junge Männer würden bloß in der Annahme bestärkt, dass es erlaubt sei „jedes Mädchen, jede Frau, auch eine verheiratete, zu benutzen, zu mißbrauchen und dann wegzuwerfen“ 231. Und auch junge Frauen müssten zwar über Sexualität und die Gefahren aufgeklärt werden; „aber dann in Verfeinerung und in Reinheit, und nicht in Schmutz und Gemeinheit.“232 Bezüglich der Wirkung des Reigens ist auch die Meinung des Fabrikanten Heinrich Flohr aufschlussreich, der ihn „mit den sogenannten Aufklärungsfilms“ verglich, „die wohl von vornherein gedacht waren, die Jugend aufzuklären, um sie zu bewahren, sie aber im Gegenteil schließlich auf Abwege brachten, und dieses Theaterstück übt die gleiche Wirkung auf die Jugend aus.“233 So wie Heinrich Flohr befürchtete auch Karl Koehne, dass sich die jugendlichen Zuschauer von dem Stück „nicht abgeschreckt und abgestoßen, sondern angezogen“234 fühlen würden und noch weitere Zeugen wiesen auf die ihrer Meinung nach geschlechtlich aufreizende Wirkung des Stückes hin, die durch die Atmosphäre im Kleinen Schauspielhaus – durch das stimulierende Licht, die bestrickende Musik, die parfümgeschwängerte Luft und das Halbdunkel des Zuschauerraums – noch bestärkt worden wäre.235 Auf moralisch ungefestigte Besucher müsse der Reigen darum wie eine „Nervenpeitsche“236 wirken, führe 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236

Ebd., S. 71. Ebd., S. 70. Ebd., S. 153. Ebd., S. 149. Ebd., S. 150. Ebd., S. 152. Ebd., S. 153 Ebd., S. 122. Ebd., S. 67. Vgl. ebd., S. 52; S. 55; S. 116; S. 154. Ebd., S. 174.

388 | Die Verschmutzung der Literatur

unweigerlich zu einer „Anpeitschung niedriger Instinkte“ 237 und wäre laut Martin Faßbender geradewegs dazu geeignet, Jugendliche direkt „der Prostitution zuzuführen“238. Von einer „abschreckenden Wirkung“ könne keinesfalls „die Rede sein“, meinte auch Johannes Steinweg, jedenfalls nicht bei unreifen Menschen, nicht bei Menschen, die überhaupt mit ethischen Gesichtspunkten an diese Sache nicht herantreten. Denn das ist gerade so, wie wenn ein Tagelöhner, der an sehr schlechte Luft gewöhnt ist, von schlechter Luft dadurch abschrecken wollte, daß ich ihn in ein anderes schlecht gelüftetes Zimmer bringe und ihm sage: Sieh, wie es hier stinkt! Er wird den Unterschied von guter und schlechter Luft erst fühlen, wenn er gute Luft zu atmen bekommt.239

Um ihren Befürchtungen hinsichtlich der problematischen Wirkung des Stückes zu stützen, wiesen viele der Zeugen auf die Publikumsreaktionen hin, die sie während ihrer Theaterbesuche beobachtet hätten. Hierzu hatten sie ihre Aufmerksamkeit aufgeteilt, um neben der Bühnenhandlung auch den Zuschauerraum im Auge behalten und auf diese Weise die tatsächlichen Auswirkungen der Aufführung auf die Rezipienten nachvollziehen zu können.240 Dabei – so betonten sie – hätten sie „eine Unmasse von jungen Leuten mit ihren jungen Mädchen“ 241 erblickt, die „miteinander geflüstert“242 und „lüstern gelacht“243 hätten. Manche der Jugendlichen seien „sehr belustigt“, andere „in einer sehr unangenehmen Weise angeregt“ 244 gewesen, beteuerte Johannes Steinweg. Der Zeuge M. Schreiber meinte, dass „gerade bei den bedenklichen Stellen“, in denen der Vorhang unten war und die Musik einsetzte, „viele Aeußerungen der Zustimmung gegeben wurden, während gegen Aeußerungen des Mißfallens Einspruch erhoben worden ist. Ich habe z. B. auch eine Aeußerung gehört: ‚Dem Reinen ist alles rein, dem Schwein alles Schwein.‘“245 Der Spruch – ein Nietzschezitat – ist Schreiber Metapher einer im Zuge der kulturellen Moderne anbrechenden neuen, die alten Vorstellungen negierenden Moral gewesen, wie sie die Jugendlichen unwidersprochen übernehmen würden, was nicht nur ihn beunruhigte. Ähnlich hatte auch Elise Gerken im Gespräch mit einer 17jährigen Zuschauerin bemerkt, dass das Mädchen die neue „leichtere Lebensanschauung“ wiedererkannt habe, die sich gänzlich von dem unterscheiden würde, „was man bisher der Jugend gepredigt hat“246. Auf die Nachfrage des Verteidigers Heine, ob das Mädchen „Ausdruck gegeben“ habe, „man könnte, wenn man das Stück sieht, sich auch alles erlauben, was darin vorkommt“247, konnte Gerken allerdings nur verneinen. 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247

Ebd., S. 46. Ebd., S. 36. Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 81. Ebd., S. 77. Ebd., S. 38. Ebd., S. 47. Ebd., S. 46. Ebd., S. 82. Ebd., S. 149-150. Ebd., S. 150.

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Auch andere Zeugen bekundeten, nach der Aufführung Gespräche belauscht zu haben, deren Inhalte sie empört wiedergaben, um auf diese Weise zu veranschaulichen, dass viele der Jugendlichen, die den Reigen besucht hatten, tatsächlich bedenkliche moralische Lehren gezogen hätten. Elise Christiansen berichtete beispielsweise von einem Gespräch, das sie bei der Straßenbahnfahrt mitbekommen habe: „Da sagte der eine: ‚In den ‚Reigen‘ mußt du gehen, da siehst du gleich, wie´s gemacht wird. Und wenn du dich verheiratest, dann kannst du den Schwur tun, deiner Frau treu sein, und den nächsten Tag kannst du schon den Schwur brechen!‘“248 Auch M. Schreiber bezeugte, dass er auf dem Perron „ein paar junge Leute“ sich hat unterhalten hören, die gesagt hätten: „Jetzt gehen wir … da und dahin.“ Sie wollten offenbar in die Praxis umsetzen, was sie eben gehört hatten. Vorsitzender: Woraus entnehmen sie das? Zeuge: Wenn junge Leute aus dieser Aufführung kommen …! Vorsitzender: Welche Straße sagten sie? Zeuge: Das weiß ich nicht mehr. (Heiterkeit.) Das sind eben gerade die Wirkungen, die von derartigen Aufführungen zu befürchten sind!249

Die Aussage ist bezeichnend, offenbart sie doch, wie hartnäckig die Reigen-Gegner an dem wirkungsästhetischen Kausalitätsdenken festhielten, wonach das Stück so manchen Zuschauer zu Ehebruch und Prostitution angereizt habe. Jenes Kausalitätsprinzip war auch Grundlage für die Auffassung, wonach nur das Gute und Reine, nicht aber „das Schlechte und Gemeine uns zum Guten erziehen kann“, wie es Theodora Reineck formulierte. Deshalb war sie laut eigener Aussage auch „innerlich sittlich entrüstet“, als sie nach der Aufführung gehört habe, „daß der Schlamm und Schmutz, wie ihn heute das Leben bringe, ruhig so gezeigt“ werden dürfe und es auch „vollständig überflüssig sei, da etwas zu kritisieren“. 250 Ähnlich meinte auch Klara Koehne, dass das Theater eine Stätte der „Erholung und Erhebung“ bleiben müsse, in dem keine „Ausschreitungen des sinnlichen Gefühlslebens“251 zur Aufführung gelangen sollten. Vermarktungskritische Aspekte Die werk- und wirkungsästhetische Kritik am Reigen war eng mit dem Vorwurf verbunden, dass die Inszenierung aus Vermarktungsgründen bewusst auf ein Publikum ausgerichtet gewesen wäre, „das Pikanterien und dergleichen liebt“ 252. Darunter habe dann der ästhetische Wert des Schauspiels gelitten, wie es der als Zeuge auftretende Georg Clauß – seines Zeichens Bankinspektor beim Polizeipräsidium – meinte: „Ich habe, wenn ich die ganze Sache betrachte, den Eindruck gehabt, daß es eben eine moderne Sache war, die eine geschäftstüchtige Direktion auf den Plan gebracht hatte,

248 249 250 251 252

Ebd., S. 124. Ebd., S. 82. Ebd., S. 56. Ebd., S. 70. Ebd., S. 192.

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und sie appelliert besonders an ein gewisses Publikum, das es also als eine gefundene Einnahmequelle betrachtet.“253 Einige der Aussagenden sprachen sich auch gegen die in ihren Augen allzu offensiven Werbestrategien für den Reigen aus. M. Schreiber störte sich an der „Propaganda“, wie sie für das Stück in der Presse gemacht worden sei. Seiner Meinung nach war sie der Grund dafür, dass „doch viel Jugend“ ins Kleine Schauspielhaus geströmt sei, was eine Wirkung war, über die er sich bei seinem Theaterbesuch „aufs tiefste entrüstet“ habe.254 Und die in der Jugendfürsorge engagierte, 71jährige Ottilie von Braunschweig nahm „an den großen Plakaten an den Litfassäulen“ Anstoß, vor denen – wie sie sich empörte – Jugendliche gestanden und sich über die Überschriften („Der Soldat und die Dirne“, „Der Graf und die Dirne“) unterhalten hätten. Offensichtlich bewertete sie die Headlines als marktschreierisches Bewerben von Prostitution und aus dem Grund als jugendgefährdend.255 Eskalierende Säuberungsphantasien In der (freilich öffentlichen) Gerichtsverhandlung legte die Zeugin Helene Wendland ihre vermeintlich privaten Gründe dar, weshalb sie sich für ein Verbot öffentlicher Reigenaufführungen einsetzte: Ich kämpfe nicht öffentlich, aber in meinem Haus kämpfe ich, daß Reinheit herrschen soll, und ich weiß, daß mein Sohn, ich meine, auch ein bißchen locker ist, und ich meine, er ist auch durch diese ganzen Tendenzen ein bißchen locker geworden. Locker will ich ja nicht sagen, aber daß er vielleicht könnte locker werden.256

Ihre Aussage im Prozess wertete die Reigen-Gegnerin als erforderlichen Beitrag im Kampf gegen kulturelle Dynamiken, die die althergebrachten, statisch imaginierten Ordnungs- und Wertmaßstäbe aufzulösen drohten. Der Reigen ‒ vom Titel her selbst eine Bewegungsmetapher ‒ galt ihr als beunruhigendes Symbol einer ästhetischen und kulturellen Moderne, deren Etablierung ihrer Meinung nach mit zur Erosion der eigenen Weltanschauung beigetragen hatte. Ihr Wunsch, diese Entwicklung rückgängig zu machen, äußert sich in der von ihr herangezogenen Reinigungsmetaphorik. Die sich von autoritativer Gewissheit lossagenden neuen ‚Tendenzen‘ galten als Schmutz, der, um das traditionelle Kategoriensystem wieder instandzusetzen, bereinigt werden sollte. Die Tumulte vom 22. Februar, die mehrfach im Prozess zu Sprache kamen, sind von der Mehrzahl der im Sinne der Anklage aussagenden Zeugen ebenfalls als nachvollziehbares Engagement gegen eine als falsch und bedrohlich empfundene Entwicklung in Kunst und Kultur in Schutz genommen worden. Der Impetus der Protestierenden, der es gewesen sei, die Sauberkeit des kulturellen Lebens wiederherzustellen, wurde ausnahmslos gelobt. Der Lehrer Willi Rost hielt es für sein „gutes Recht, im Theater zu protestieren. Genau so wie ich Beifall klatschen kann, genau so kann

253 254 255 256

Ebd. Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 142. Ebd., S. 242.

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ich sagen, wir pfeifen. Stinkbombenwerfen ist natürlich eine Sache für sich.“257 Weniger zurückhaltend äußerte sich Margarete von Arnim, die meinte, dass es „unter Umständen nicht schaden“ würde, wenn die Berliner Reigen-Vorstellung „unter Wasser“258 gesetzt würde. Sie begrüßte es, wenn die von den Gegnern verschiedentlich geäußerten Säuberungsphantasien in die Tat umgesetzt würden. Für sie war jedes Mittel verständlich, was diese Sache abbricht, wenn sie nicht anders abgestellt werden kann. Ich kann ein Publikum verstehen, wenn es zu solcher Empörung kommt, wenn ich sie auch nicht mitmachen würde. Wenn da Menschen sind, die das machen, würde ich es unter allen Umständen eher entschuldigen als das, was mich in dem Stück empört hat.259

Empörung reichte in den Augen einiger Gegner bereits aus, um sogar Gewalttätigkeiten zu legitimieren. Man bedauerte, „daß keine Zensur da ist, die einen Strich durchziehen könnte“260 und rechtfertigte die Tumulte des 22. Februar als Akte unvermeidlicher Selbstjustiz. Mit ihnen waren die Säuberungsphantasien der Reigen-Gegner radikal eskaliert. Die Gutachten von Albert Paul und Karl Brunner 21 Sachverständige wurden im Prozessverlauf angehört, im Sinne der Anklage äußerten sich mit Karl Brunner und dem 64jährigen ehemaligen Hofschauspieler Albert Paul nur zwei. Pauls Gutachten beruhte einzig auf der Kenntnis des Buches; eine Aufführung hatte er sich nicht angesehen. Er vertrat die Meinung, dass der Reigen von Schnitzler nicht „für die Bühne bestimmt gewesen ist“ und auch niemals „auf die öffentliche Bühne“261 hätte gelangen dürfen. Die in dem Werk verhandelten „erotische[n] Probleme“ seien nicht hinreichend „entwickelt“ konzipiert worden, was er für unbedingt notwendig erachtete, wenn man sie „ins Licht der Rampen“ 262 rücken wolle. Dem Reigen fehle somit das, was den „großen klassischen Werken“ eigentümlich sei: „Wir sehen da die Entwicklung von Haß und Liebe, und bis zu dem Augenblick, wo es zu dem Geschlechtsakt kommt, wissen wir, warum es geschieht, warum diese Szenen, die uns vorgeführt oder angedeutet werden, möglich und notwendig sind. Das ist beim ‚Reigen‘ nicht der Fall.“263 Den kurzen Szenen mangele es an der Einbettung in eine klärende emotionale Dramatik; warum es zum Akt komme, bliebe unbegründet. Diese Unbestimmtheit in Bezug auf die Thematisierung von Sexualität würde „Verwirrung stiften und nicht gefestigte Gemüter verwahrlosen können“, fürchtete Paul deshalb. Dabei betonte er, dass er die literarische Vorlage durchaus wertschätzte, doch hätte der Reigen seiner Meinung nach unbedingt in Buchform belassen werden müssen, so dass er weiterhin nur „in der Stille der Studierstube“ hätte wirken können, wo er gänzlich verstanden würde. Auf dem Theater der breiten Öffentlichkeit preisgegeben, könne das Werk dagegen „nur halbwegs dem Verständnis 257 258 259 260 261 262 263

Ebd., S. 88. Ebd., S. 59. Ebd. Ebd., S. 192. Ebd., S. 272. Ebd., S. 273. Ebd..

392 | Die Verschmutzung der Literatur

des Publikums“264 nahegebracht werden. Interessant ist, dass Paul damit zwar gegen die Aufführbarkeit des Reigen Stellung bezog, jedoch nicht mit Lob an der Berliner Inszenierung sparte: Nach dem, was ich hier von vielen Zeugen gehört habe, kann ich nur sagen, daß ich der Kollegenschaft dieses Theaters, die diese Aufführung möglich gemacht hat, meine höchste Bewunderung aussprechen muß. Denn es muß mit einer Dezenz gespielt worden sein und mit einer künstlerischen und menschlichen Disziplin, die ich immer im Theaterbetriebe für sehr wichtig gehalten habe. Daß überhaupt die Vorgänge in diesem Stück gespielt werden konnten, was wohl hauptsächlich ein Verdienst der Leitung, der Frau Eysoldt und des Direktors Sladek und des Kollegen Reusch ist, zwingt mich zu sagen: Ich bewundere die Möglichkeit, die geschaffen worden ist, ein derartiges Werk so vorzuführen, daß es nicht eine allgemeine Empörung, sondern nur die Empörung eines Kreises sehr ehrenwerter und tief sittlicher Menschen auslöst. 265

Dieser Einschätzung ist im Urteilsspruch ausdrücklich gefolgt worden; die Dezenz des Spiels galt dem Gericht als empirischer Gegenbeweis zu der These, dass der Reigen unaufführbar sei.266 Karl Brunner, der zuvor bereits als Zeuge befragt worden war, wurde auch als Gutachter „für alle Gebiete der Kunst, soweit der Grenzbereich zwischen Zulässigem und Strafbarem in Frage kommt, sowie für Jugendliche“267, vereidigt. Wohl weil ihm von anderen Gutachtern und vom Verteidiger Heine wiederholt die Kompetenz und Objektivität seines Urteils abgesprochen worden war, wurde er vom Vorsitzenden zunächst darum gebeten, Zeugnis über sich selbst und seinen Sachverstand abzulegen, dem er ausführlich und ohne viel Bescheidenheit nachkam. So hob er seine Erfahrung hervor, die er im Umgang mit den Grenzfällen auf dem Gebiet der Literatur erlangt hätte. Bereits zwanzig Jahre habe er sich im ‚Schundkampf‘ „mit solchen Dingen“ beschäftigt: „als allerhand Strömungen die Reinheit unserer Kultur zu verschlechtern suchten“ sei er „in die große Bewegung eingetreten“, die sich zu formieren begann, um die „unterirdischen Kräfte, die gerade die Volkskunst zu bedrohen schienen, zu bekämpfen“268. Er habe sich engagiert und auf nationaler wie internationaler Ebene wichtige Impulse für die Bewegung geben können. Schließlich habe er seine „Tätigkeit im Polizeipräsidium aufgenommen“, sich dort zunächst „ein halbes Jahr ohne jedes Gehalt“ engagiert und eine Stelle geschaffen, die schnell zu einer Zentrale im ‚Schundkampf‘ wurde, „ohne daß sie es eigentlich de jure ist“269, wie er zugab. Seitdem würden seinem Engagement, seiner „Persönlichkeit“ und seiner „Qualifikation in Theaterangelegenheiten“270 über Berlin und Preußen hinaus hohe Anerkennung gezollt werden. Häufig sei er von Gerichtsbehörden um Rat gebeten worden: „Ich bekomme Anfragen aus ganz Deutschland zur Erledigung, und hier

264 265 266 267 268 269 270

Ebd.. Ebd., S. 273-274. Vgl. ebd., S. 431. Ebd., S. 296. Ebd., S. 297. Ebd., S. 297-298. Ebd., S. 297.

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heißt es, ich beschmutze alles und drücke alles nieder“271, drückte Brunner sein Unverständnis für die Vorwürfe gegen seine Person und seinen Sachverstand aus. Sich selbst sprach er ein „vorurteilsloses, anständiges, gesundes“272 Urteilsvermögen zu, bekundete die „Sachlichkeit“ 273, „Objektivität“274 und „Totalität“275 seiner Ansichten und bescheinigte sich ein bestmögliches Talent, in Fragen von Sittlichkeit und Reinheit gerecht abwägen und unterscheiden zu können: „wie es einen guten Turner, einen guten Schwimmer gibt, so bin ich ein Differenzierer, so genau, wie es einem Menschen eben möglich ist.“276 Dabei legte Brunner Wert darauf, mit seinen Gutachten oft auch die Freigabe eines Buches oder Theaterstückes erwirkt zu haben. Er betonte, dass er in Zweifelsfällen immer zugunsten der Angeklagten aussagen würde und dass er stets um „menschlichen Ausgleich“277 bemüht sei. Diese Aussagen über sich selbst gipfelten in der Schlussfolgerung, „doch ein besserer Mensch“ 278 zu sein: „Und wenn die Bezeichnung, ich sei der ‚Schmutz-Brunner‘, mich verhöhnen soll, so kann ich nur sagen: es ist eine Ehre für mich.“279 In seinem Gutachten zum Reigen sprach er sich keineswegs für einen Freispruch aus. Ähnlich wie Albert Paul vertrat er die Meinung, dass das Werk nicht auf die Bühne gehöre, da „die sexuelle Betätigung“ in der literarischen Vorlage „psychologisch“ nicht ausführlich genug entwickelt und begründet sei. Die zehn Szenen wären „mit der einen Sache im Mittelpunkt“ zu klein, so dass „die Häufung des Höhepunktes, der nur von kurzen Zu- und Abgängen umgeben ist, anstößig wirkt.“ 280 Dabei betonte auch Brunner, dass seine Deutung von der Medialität des Reigens abhinge. Die „Uebertragung aus der Form des Lesestückes“, dass durchaus als ein individualistisches Kunstwerk gelobt werden könne, „in das ausgeführte Stück“, wäre deshalb so problematisch, weil man „mit einem Male so viel sieht.“281 Als Leser könne man Schnitzlers Werk mit einer Bequemlichkeit, mit einer Nonchalance, mit Ueberschlagung der einen oder anderen Szene [rezipieren, L.R.]. Das ist aber vollständig ausgeschlossen bei dem Spiel, das in hundert Minuten, etwa, wie ein Zeuge sagte, wie ein Karussell oder wie in einem Panorama vorüberrollt. Es wird gespielt, nach einiger Zeit schnappt es, und dann kommt ein anderes Bild immer von derselben Szene.282

Aufgrund der rasanten Wiederholung des immer Gleichen würde der Bühnen-Reigen eine anstößige Wirkung entfalten, der sich die Theaterzuschauer nicht entziehen 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282

Ebd., S. 298. Ebd., S. 313. Ebd., S. 322. Ebd., S. 316. Ebd., S. 315. Ebd., S. 299. Ebd.. Ebd., S. 307. Ebd., S. 298. Ebd., S. 302. Ebd., S. 302-303. Ebd., S. 316-317.

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könnten. „Es ist rein ästhetisch genommen und wirkt auch sittlich in höchstem Grade verletzend, daß in ganz kurzer Frist das Stück abkurbelt.“283 Dabei beharrte er darauf, dass der Geschlechtsverkehr zehn Mal praktiziert worden sei und hielt es für irrelevant, dass er in der Handlung des Stückes nicht vorkommt: „Man wird uns doch nicht glauben machen wollen, wir wüßten nicht, was hinter dem Vorhang geschieht“284, betonte er. Mehrfach führte er in seinem Gutachten deshalb ein rhetorisches „Jongleurkunststück“285 aus, bei dem er dem impliziten Gehalt des Reigen Explizität beimaß. Deutlich zeigt sich dieses Bemühen am Beispiel des folgenden Zitates, das eine vielsagende Contradictio in adiecto aufweist: „Man weiß ganz deutlich, man fühlt eine zunehmende Aufgeilung des Geschlechtlichen ganz deutlich sichtbar.“ 286 Der innere Widerspruch des Satzes basiert auf einem argumentativen Kurzschluss: Was man aufgrund einer notwendigen interpretativen Leistung fühlt und weiß, weil es thematisch eindeutig – aber eben bloß angedeutet – im Zentrum des Reigen steht, erklärte Brunner kurzerhand zu etwas Sichtbarem, obwohl es in der Bühnenhandlung gar nicht vorhanden ist. Diese Sichtbarkeit zu postulieren war freilich notwendig, um die Rechtmäßigkeit der Anklage auf vollzogene unzüchtige Handlungen zu untermauern. Inhaltlich bezog Brunner seine Kritik auf dieselben Aspekte, die zuvor auch die Zeugen benannt hatten. So beanstandete er, dass das Thema Sexualität zu sehr im Zentrum des Stückes stehen würde, monierte die fehlende ethische Grundierung, da der Geschlechtsakt außerehelich und ohne den Wunsch nach Fortpflanzung vollzogen werde und damit „auf das Tierische reduziert“ 287 bliebe. Darüber hinaus stieß er sich an der Thematisierung von Prostitution, von Fetischismus, Impotenz und Homosexualität.288 Als guter „Differenzierer“ stellte er fest, dass damit Grenzlinien überschritten worden seien, wie sie bis 1918 wirksam gewesen sind: „Wir haben immer Grenzen gehabt bezüglich der geschlechtlichen Dinge auf der Bühne und im öffentlichen Leben. Sie sind erst in den letzten Jahren überschritten worden, und wenn das vindiziert wird für die Bühne, dann muß ich fragen: ‚Wo sind die Grenzen?‘“289 Im Kern der Argumentation Brunners stand der wirkungsästhetische Vorwurf, dass es sich bei Schnitzlers Stück – zumindest soweit man es auf die Bühne bringe – um eine „Versündigung an der Volkssitte und Volkssittlichkeit“ 290 handeln würde. Dabei schlug er sich auf die Seite der „Millionen Menschen, die“ – wie er sich ausdrückte – „keine tiefere Ahnung von der Kunst“ besäßen.291 Nur wenige „höchststehende Menschen“ könnten „an Stelle der Sittlichkeit die Kunst“ setzen; das Volk wäre dazu nicht in der Lage: „Die Kunst können wir ihm nicht beibringen, und die Sitt-

283 Ebd., S. 317. 284 Ebd., S. 319. 285 Mit diesem Ausdruck veranschaulichte Verteidiger Wolfgang Heine Brunners Vorgehensweise ebd., S. 15. 286 Ebd., S. 330. 287 Ebd., S. 318. 288 Vgl. ebd., S. 18; S. 321. 289 Ebd., S. 329. 290 Ebd., S. 320. 291 Ebd., S. 304.

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lichkeit geht ihm verloren, teilweise durch falsch verstandene Kunst“292, war Brunner überzeugt. Und da ein Werk wie der Reigen durch die allzu explizite Darstellung von Sexualität beim Volk eine pornographische Wirkung entfalten würde, die man aus sittlicher Rücksichtnahme unbedingt verhindern müsse, sah er den Staat in der Pflicht, die Reigen-Aufführungen unbedingt zu verbieten. Damit plädierte er für eine sittliche Beschränkung der Kunstfreiheit, die auch die Künstler zu beachten hätten: „Es ist nicht eine Sache der Kunst, betone ich, daß dem Literatentum völlige Freiheit gelassen wird.“ 293 In dem Augenblick, in dem ein Kunstwerk der Öffentlichkeit preisgegeben werde, trete es in ein „Verhältnis zur Welt“, dass auch von Kunstschaffenden „respektiert werden“ müsse. Es könne nicht mehr nur nach literarischen Maßstäben begutachtet werden. „[A]ndere Werte des Lebens, und zwar gerade die Volkssittlichkeit“, müssten unbedingt höher veranschlagt werden. Kunstwerke dürften die Sittlichkeit weder „verdrängen“ noch „gefährden“; soweit sie es täten, dürften sie auch „nicht zum Gemeingut des Volkes“ 294 gemacht werden. Dabei betonte Brunner – volkshygienisch argumentierend –, dass mit der Sittlichkeit die Gesundung des Volkes auf dem Spiel stünde. Vom Krieg und dessen Folgen sittlich angeschlagen, müsste dem „kranke[n] Volk“ eigentlich „eine Gegenkur“ in Form einer „höhere[n] Kunst“295 verabreicht werden. Mit „reinen Mitteln“ müsste versucht werden, „die Menschen aus dem Sumpf herauszuziehen“296. Stattdessen passiere jedoch das Gegenteil. Dem Volk würde dasjenige „in Menge“ geboten, „was ihm schädlich“297 sei. Vor allem in der „Kloake Berlin“298 werde nach dem Ende des Krieges und der Revolution auf dem Gebiet der Kunst geradezu auf die niederen Triebe der Menschen spekuliert. Die gewährte „geistige Freiheit“ werde als „Schmutzfreiheit“299 missbraucht. „Was sind für riesige Schmutzwellen niedergegangen auf das Straßenpflaster von Berlin“300, empörte sich Brunner. Die „Presse und das ganze Schaustellerwesen“ seien dort immer stärker „in den Bannkreis des Schmutzes“301 hineingeraten. Wenn man den Volksmassen nicht bessere Kunstwerke bieten könne, müsse man deshalb wenigstens versuchen, jene Entwicklungen zu unterbinden und die Kunst, die er in positiver wie negativer Hinsicht als „einen starken Faktor des sittlichen Lebens in höherem Sinne“ erachtete, „vor Verschmutzung“ 302 zu bewahren.

292 293 294 295 296 297 298 299 300 301 302

Ebd., S. 305. Ebd., S. 329. Ebd., S. 304-305. Ebd., S. 308. Ebd., S. 309. Ebd., S. 308. Ebd., S. 309. Ebd. Ebd. Ebd., S. 299. Ebd., S. 322.

396 | Die Verschmutzung der Literatur

9.3.2 Die Reigen-Befürworter und ihre Argumente Zugunsten des Reigen traten abzüglich der Angeklagten 18 Zeugen (2 Frauen und 16 Männer) und 19 Sachverständige auf. Von den Zeugen sind acht Personen Theaterangestellte gewesen. Neben drei Ärzten sagten außerdem ein staatlicher Angestellter, ein Rechtsanwalt, ein Architekt, ein Kaufmann, ein Buchdruckereibesitzer sowie ein Mechaniker und seine Frau im Sinne der Anklage aus. Von den Sachverständigen waren bis auf ein Oberverwaltungsgerichtsrat alle Personen im Kultur- und Literaturbetrieb tätig. Auf den folgenden Seiten werden aufführungs- und inhaltsästhetische sowie wirkungsästhetische Argumentationslinien herausgestellt. Aufführungs- und inhaltsästhetische Aspekte Aus der Aussage von Else Bäck, die bei der Inszenierung die Rolle der ‚Dirne‘ innehatte, geht hervor, dass Gertrud Eysoldt und Maximilian Sladek mit ihrer Inszenierung keine Angriffspunkte hatten liefern wollen. Als eine eigentlich „ziemlich naturalistische Schauspielerin“303 hätten ihr die beiden schauspielerischen Leiter deutlich gemacht, ihr Spiel dezent zu halten. Sie hätten es „ganz rein stilisiert haben“ wollen, der Reigen habe „absolut nicht naturalistisch wirken“ 304 sollen. Die im Prozess zugunsten des Reigen aussagenden Zeugen und Sachverständigen haben die äußerst zurückhaltende künstlerische Darstellung der Inszenierung allesamt bestätigt.305 Die Aufregung der Gegner hielten sie darum für unbegründet: Ich fühle mich durch nichts verletzt. Ich bin am letzten Sonntag besonders kritisch hingegangen, da es mich interessierte, und weil ich mich in die Gefühle und Gedankengänge derjenigen hineinversetzen wollte, die sich in ihren sittlichen Empfindungen verletzt fühlen. Ich habe nichts gefunden, weder in der Darstellung noch in dem Stück, noch an den Schauspielern. 306

Der hier zitierte Architekt Ernst Moritz Lesser meinte außerdem, „daß gar nicht dezenter gespielt werden“307 konnte, da sonst der Grundgedanke des Stückes nicht mehr erkennbar gewesen sein würde. Für den Mechaniker Franz Westerling war die von ihm besuchte Aufführung sogar viel zu dezent dargeboten worden; „es hat mir weiter nicht gefallen, ich habe mich aber weiter nicht daran gestoßen, es war mir langweilig.“308 Die Frage, ob er das Stück für unanständig hielt, wies er entschieden zurück: „Man hat ja weiter nichts gesehen.“309 Der Umstand, dass man nichts sehen konnte, was als unrein und obszön hätte gedeutet werden können, ist mehrfach beteuert worden. „Irgendeine Angriffslinie ist nach dieser Richtung nicht zu bemerken“, bekräftigte auch der Landgerichtsdirektor Dr. Bock, der mit der Aufgabe betraut gewesen war, „darauf zu achten, ob etwas pas-

303 304 305 306 307 308 309

Ebd., S. 144. Ebd. Vgl. ebd., S. 43; S. 44; S. 67; S. 108-109; S. 139; S. 143; S. 144; S. 154; S. 155; S. 157. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Ebd., S. 193. Ebd., S. 195.

Der unreine Reigen und „die geheime Sittenreinheit der Normalmenschen“ | 397

siert.“310 Er habe bei den von ihm besuchten Aufführungen weder Gesten, noch Gesichtsausdrücke oder Körperbewegungen als unanständig gedeutet, so dass nichts erkennbar gewesen sei, „was irgendwie an das erinnerte, was der Verfasser verhüllte.“311 Nachdem der Vorhang wieder hochgegangen ist, hätten die Schauspieler in allen Szenen stets entfernt voneinander gestanden, weshalb „ein Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen gar nicht zu fühlen ist, mit dem was durch die Zwischenpause angedeutet werden soll.“312 Dass der Vorhang auf den Geschlechtsakt der beiden Protagonisten hinwies, wurde von keinem der Reigen-Befürworter geleugnet. Nur ist er von ihnen deshalb nicht als anstößig bewertet worden. Der als Sachverständiger auftretende Dramatiker Ludwig Fulda äußerte sich wie folgt: Niemals kann etwas Dargestelltes deshalb als unzüchtig bezeichnet werden, weil etwas nicht Dargestelltes, worauf dieses Dargestellte hinweist, unzüchtig wäre, wenn es dargestellt würde; also der Hinweis auf den nicht dargestellten Geschlechtsakt kann nach meiner Meinung niemals eine unzüchtige Handlung sein.313

Wenn dem so wäre, müssten laut Fulda konsequenterweise auch viele Texte der Weltliteratur indiziert werden. Die Frage, ob die Walzermusik, die in den Zwischenpausen eingespielt worden war, von einem „reine[n] und anständige[n] Gemüt“ 314 als ‚Beischlafrhythmik‘ hätte interpretiert werden können, wurde von Kapellmeister Selmar Meyrowitz zurückgewiesen: „Mit demselben Recht könnte man irgendein Stück aus der Klavierschule von Kullak herausnehmen und als unzüchtig bezeichnen.“315 Der Regisseur Carl Heine, der ebenfalls als Sachverständiger gehört wurde, meinte, dass Schnitzler überhaupt nicht der Geschlechtsakt, sondern nur die vorher und nachher stattfindenden psychologischen Entwicklungen interessiert hätten; dazu habe er „ein Schlüsselloch markiert und nicht daran gedacht, daß es immer Schlüssellochmoralisten gibt, die durchaus durch das Schlüsselloch“316 linsen müssten. Auch Fulda wies darauf hin, dass das gesamte Œuvre Schnitzlers ihn „von dem Verdacht reinig[en]“ müsse, mit dem Reigen „ein unzüchtiges Werk“317 hätte verfassen zu wollen. Die Mehrzahl der Reigen-Befürworter hob hervor, dass es sich bei dem Stück, eben weil es so dezent gespielt und nichts obszönes dargestellt worden sei, um ein reines Kunstwerk handeln würde. Der als Zeuge auftretende praktische Arzt Walter Kröner betonte: „Ich habe dieses Kunstwerk als rein künstlerisches Produkt betrachtet und ich muß sagen, daß ich ein sittliches Aergernis nicht nehmen konnte. Ich betrachte das Stück als weder auf der Ebene des Kitsches noch auf der Ebene der Por-

310 311 312 313 314 315 316 317

Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Ebd. Ebd., S. 203. Ebd., S. 155. Ebd., S. 155. Ebd., S. 256. Ebd., S. 203.

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nographie liegend, sondern als literarisches Kunstwerk.“318 Einige der Sachverständigen sind ausführlicher auf den Stellenwert des Reigens als eines über den Schmutz erhabenen reinen Kunstwerks eingegangen. Der Schriftsteller und Literaturkritiker Max Osborn begründete seine Auffassung, dass es sich um „ein Kunstwerk von hohem Range und reinem Werte“319 handelte aus der Tradition der idealistischen Ästhetik heraus. Schnitzler habe es vermocht, den Stoff „aus der Roheit seiner Tatsächlichkeit“ zu bergen und „in eine andere Sphäre“320 zu übersetzen, in der er sich als formgewordenes Kunstwerk sowohl als ästhetisch als auch als ethisch erweisen würde. Ludwig Fulda vertrat einen idealistisch grundierten naturalistischen Grundsatz, wonach in der Kunst auch dasjenige, „was uns im Leben drängt, verwirrt und bedroht, anlockt oder abstößt“321, thematisiert werden müsse. Er sprach ihr eine „heilige Pflicht“ zu, die moralisch unreinen Aspekte des Lebens „in der reinen, interesselosen Anschauung zu verklären und uns dadurch zu befreien.“322 Der Leiter des Deutschen Theaters Felix Holländer argumentierte von einem autonomieästhetischen Standpunkt aus und hielt es für ganz irrelevant, ob überhaupt unmoralische Dinge thematisiert würden. Für ihn war alles vor Gericht erörterte von der Frage abhängig, „ob ein Werk Kunst ist. Dann ist es sittlich.“323 Erst, wenn sich herausstellte, dass es sich um keine Kunst handeln würde, könne man sich mit der Frage befassen, ob es etwas Anstoßerregendes an sich hat. Auch Emil Orlik, Professor am staatlichen Berliner Kunstgewerbemuseum, war der Ansicht, dass „wahre Kunst immer moralisch“ 324 sei und es unmoralische Kunst gar nicht geben könne. Da es sich beim Reigen eindeutig um Kunst handeln würde, wies er die Frage nach der Moral als irrelevant zurück. Wirkungsästhetische Aspekte Dass der Reigen als ein ‚reines‘ Kunstwerk trotzdem Wirkungen entfalten könne, wurde nicht in Frage gestellt. Der Zeuge Bannert beteuerte, dass das Stück auf ihn in sozialkritischer Hinsicht „besonders abschreckend“ gewirkt habe; indem im Reigen eine „Heuchelei in den intimsten Beziehungen zweier Menschen“ zur Sprache gebracht worden sei, habe sich ihm gezeigt, in was für einem „furchtbaren Elend sich die heutige Gesellschaft befindet.“325 Dass dieses „abgestoßen werden“326 eine durchaus berechtigte moralische Wirkung der in dem Stück dargestellten Zustände war, hob Ludwig Fulda hervor; diesbezüglich wies er auf einen Widerspruch in der Argumentation der Gegner hin: Ich wundere mich, daß so viele Zeugen hier sagen: Eine sittliche Wirkung kann nicht ausgehen, weil der Dichter nicht erklärt, das Stück solle abstoßen. Aber auf der anderen Seite sagen die318 319 320 321 322 323 324 325 326

Ebd., S. 44. Ebd., S. 338. Ebd., S. 339. Ebd., S. 206. Ebd. ‒ „Es ist ein Kunstwerk, dessen Darstellung und reine Anschauung schon insofern ethisch ist, als sie erhebt über das, was uns im Leben bedrückt“ (ebd., S. 207). Ebd., S. 201. Ebd., S. 265. Ebd., S. 134. Ebd., S. 206.

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selben Zeugen: sie seien sehr abgestoßen und angeekelt. Damit widersprechen sie sich doch in demselben Satz! Denn sie bezeugen damit, daß die moralische Wirkung, die sie in dem Werke vermissen, oder von ihm fordern, wenigstens in bezug auf sie stattgefunden hat: sie sind doch abgestoßen worden!327

Zeuge Karl Förstemann, ein Privatgelehrter für Philosophie und Kunstgeschichte, meinte, während der Aufführung etwas von „einer großen, merkwürdigen Wirkung auf die Zuschauer“328 gespürt zu haben, die er als eine moralische deutete. Nach der Aufführung unsicher geworden, ob seine Annahme auch stimmte, hat er zur Überprüfung zum nächsten Spieltermin zwei Damen veranlaßt, hinzugehen. Sie haben sich erst gewehrt, „solchen Schmutz“ sich anzusehen. Die eine ist unverheiratet. Dann sind sie doch hingegangen. Nach der Aufführung habe ich mit beiden Damen gesprochen und eine merkwürdige Erfahrung gemacht. Die eine hat mir gesagt: „Nein, Schmutz, Gemeinheit ist nicht drin!“ Die andere sagte: „Es war erschütternd!“ Das war für mich ein Beweis, daß ein künstlerischer Eindruck da ist.329

Dass der Zeuge die Frauen als Probanden einsetzte, mag kurios erscheinen. Die in den Prozessberichten stets erwähnte Heiterkeit im Gerichtssaal ist jedoch ausgeblieben. Es hat den Anschein, dass Männer Frauen in Sachen Schmutz und Moral tatsächlich ein sichereres Gespür zugestanden haben, als sich selbst. 330 Die Forderung, Schnitzlers Werk aufgrund möglicher unsittlicher Wirkungen auf jugendliche Zuschauer zu verbieten, ist von mehreren Sachverständigen klar zurückgewiesen worden. Dass der Reigen solche Wirkungen zeitigen mochte, ist auch gar nicht ausgeschlossen worden. Der Schriftsteller Arthur Eloesser konnte sich durchaus vorstellen, dass „ein unreifer Mensch“, der „dieses Buch abends vornimmt und möglicherweise damit zu Bett geht, nun mit Vergnügen bei diesen Gedankenstrichen verweilt ‒ denn der beste Schriftsteller ist vor dem schlechtesten Leser nicht sicher.“331 Aufgrund dieser möglichen onanistischen Rezeptionshaltung dürften jedoch weder Buch noch Inszenierung verboten werden. Dieser Ansicht war auch der Literaturkritiker Alfred Kerr, der betonte, dass „das Reich der Kunst keine Kinderschule ist.“332 Bewahrpädagogische Prinzipien wollte man nicht als Maßstab für die Kunst gelten lassen. Die möglichen unreinen Rezeptionsweisen unreifer Personen sollten Kunstverständigen nicht den Zugang versperren. „Wir Erwachsenen sind auch noch da“333, so Kerr. Eine „onanistische Phantasie“ hat Max Osborne übrigens allen Gegnern unterstellt, die im Reigen-Prozess „ein nervöses Suchen nach Unsittlichkeit“ gezeigt hätten; es handele sich um eine „Phantasie, die sich an ihrem Aergernis pervers

327 328 329 330

Ebd. Ebd., S. 190. Ebd., S. 190-191. Für das 19. Jahrhundert ist das in dieser Arbeit am Beispiel des Damen Conversations Lexikons bereits festgestellt worden; vgl. Kap 3.1. 331 Kampf u. d. Reigen, S. 262-263. 332 Ebd., S. 216. 333 Ebd.

400 | Die Verschmutzung der Literatur

erhitzt“, weshalb er es als paradox erachtete, dass sie allen anderen Personen „die Wirkung wirklich reiner und edler Kunstwerke“ 334 nehmen wollten. Dass es den Gegnern zum Teil gar nicht um Kunst, sondern um antisemitische Hetze zu tun war, haben einige Zeugenaussagen bekräftigt. Laut Otmar Keindl, der als Direktionssekretär des „Kleinen Schauspielhauses“ die Ereignisse vom 22. Februar beobachtet hatte, beschrieb sie als konzertierte Aktion: „Man sah die Gruppen herankommen und selbst ein Blinder hätte sehen können, daß das eine abgekartete Sache war. Es waren durchweg junge Burschen mit Hakenkreuzen.“335 Als im Theater auf ein Stichwort der Tumult mit Empörungsrufen und Stinkbombenwürfen losging, ist Keindl noch draußen gewesen und konnte beobachten, wie auch außerhalb des Theaters „sechzig bis siebzig Menschen […] heftig gegen die Aufführung sprachen.“336 Als sich die Theaterzuschauer aufgrund der unangenehmen Dämpfe ins Foyer zurückzogen, konnte er beobachten, wie sich die im Prozess als Zeugin aufgetretene Frau Christiansen „in den unflätigsten Beleidigungen“ 337 erging und damit die herumstehenden jungen Leute, die seiner Aussage nach zumeist zwischen 15 und 17 Jahre alt waren, aufzuhetzen versucht hatte; u.a. mit antisemitischen Gewaltparolen: „Mit diesen Juden muß Schluß gemacht werden! Wir sind doch schließlich Deutsche!“338 Die Verteidigung stellte daraufhin fest, „daß es sich gar nicht um einen Kampf gegen den ‚Reigen‘ handelt, sondern um einen Kampf gegen die Juden, daß man den ‚Reigen‘ nur benutzt hat, um in dieser Form eine antisemitische Aktion ins Werk zu setzen […].“339 Desweiteren verwies man auf die Widersprüchlichkeit eines solchen Handelns. Das Aufhetzen der Jugendlichen ließ sich ihrer Meinung nach nicht mit den gleichzeitigen Sorgen um die entsittlichende Wirkung des Reigen auf junge Menschen vereinbaren. 9.3.3 Abschlussplädoyers und Urteilsspruch Der Staatsanwalt plädierte dafür, das Urteil am fehlenden Kunstsachverstand der so genannten „Normalmenschen“340 zu orientieren. Dieser sei, während der künstlerische Mensch unberührt bleiben mochte, durch den zehn Mal wiederholten Beischlaf in seinem Sittlichkeitsempfinden verletzt worden. Betonend, dass „der Beischlaf vorgenommen“ wurde, da die sonstige Handlung sonst keinen Sinn ergeben hätte, wies er auf die Walzermusik hin, die mit ihren „auf und ab schwellenden Bewegungen“ exakt „das Auf und Nieder“341 desselben imitiert habe. Der zehnmalige Geschlechtsakt sei damit „derart kraß vor dem Publikum dargestellt“ worden, dass „das allge-

334 335 336 337 338 339 340 341

Ebd., S. 344. Ebd., S. 160. Ebd. Ebd., S. 161. Ebd. Ebd., S. 164. Ebd., S. 358. Ebd., S. 365.

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meine Schamgefühl verletzt“342 werden musste. Bei der Inszenierung habe „das rein Tierisch-Animalische“343 im Zentrum gestanden. Wenn der Dichter damit das Ziel verfolgt haben mag, abschreckend zu wirken, darauf hinzuweisen, wie niedrig, wie schal etwas Derartiges ist, so ist das eine Auffassung, zu der man nur auf Grund von Gedankenarbeit kommt, die sich aber nicht bei der bloßen Betrachtung des Schauspiels bietet, ohne daß man diese Betrachtung weiter in Gedanken umsetzt und verarbeitet, und das kann man von dem Publikum, das sich ein solches Stück ansieht, nicht erwarten und wird auch nirgends beim Publikum vorauszusetzen sein. 344

Eysoldt und Sladek hätten die Empfindungsweisen des breiten Publikums unberücksichtigt gelassen, das über „niedrige Einflüsse“345 nicht erhaben sei. „Die große Masse des Publikums steht auf einem anderen Niveau“ 346, lautete das despektierliche Fazit seiner Argumentation. Aus dem Grund müssten die Reigen-Inszenierung als unzüchtig bewertet und die Angeklagten verurteilt werden. Für Eysoldt und Sladek forderte er eine Freiheitsstrafe von 3 Wochen. Das Abschlussplädoyer der Verteidigung beharrte auf dem Umstand, dass eben keine sexuellen Handlungen auf der Bühne vollzogen worden seien: „Wollen wir nicht endlich die Augen aufmachen?! Wir tanzen im Kreise herum und reden von einer Angelegenheit, die nicht deutlich genug gesagt werden kann. Wo ist denn hier der Beischlaf auf der Bühne?! Er ist in die Phantasie des Beschauers gelegt!“347 Insofern sei es ganz allein die „unreine Phantasie“348 einiger Zuschauer gewesen, die sich über dasjenige, was „hinter der Szene gedacht ist“, erregt hätten und deshalb „das, was vor den Augen des Beschauers vor sich“ gegangen sei, zu einer „unzüchtigen Handlung“349 erklärt haben. Weil sich Menschen über etwas, das in ihrer Phantasie existieren würde, aufregten, dürften andere Zuschauer jedoch nicht beeinträchtigt werden. Aus dem Grund plädierte man auf Freispruch. Scharf griff die Verteidigung jene Zeugen an, „die sich am tiefsten in dem getroffen fühlten, was ‚deutsche Art und Sitte‘ eigentlich verlangen“, dabei jedoch „die unflätigsten Ausdrücke in die Debatte geworfen haben“, womit sie gezeigt hätten, „daß es mit der zarten Besaitung ihrer Seele gar nicht so ernst ist, wie sie tun.“ 350 Der Vorwurf richtete sich ausdrücklich auch an Brunner, der so viel „Unrat aufgewühlt“ habe, dass „er ihm selber in die Nase geht!“351 Mit seinem „trüben Dunst der Vorurteile und Unkenntnisse“352 habe Brunner versucht, ein „reines“ Kunstwerk mit „Schmutz und Unsittlichkeit“ in Verbindung zu bringen und dabei in Kauf genom342 343 344 345 346 347 348 349 350 351 352

Ebd., S. 366. Ebd., S. 362. Ebd. Ebd., S. 369. Ebd., S. 366. Ebd., S. 411. Ebd., S. 383. Ebd., S. 391. Ebd., S. 414. Ebd., S. 415. Ebd., S. 418.

402 | Die Verschmutzung der Literatur

men, „eine Bewegung [zu] entfessel[n]“353, die sich vom eigentlichen Gegenstand der Kritik entfernt und den Reigen-Protest zu antisemitischen Zwecken missbraucht hat. Das am 12. November 1921 veröffentlichte Urteil lautete schließlich auf Freispruch. „Das Stück verfolgt nun, wie das Gericht aus der Beweisaufnahme feststellt, einen sittlichen Gedanken.“354 Von parteipolitischen Fragen habe sich das Gericht nicht beeinflussen lassen. Allerdings ist der Argumentation der Staatsanwaltschaft gefolgt und vom „normal empfindenden Menschen“355 aus geurteilt worden. Dieser habe sich jedoch, da die Darstellung „sich höchster Dezenz befleißigt“ 356 hat, in keiner Weise in seinem „Scham- und Sittlichkeitsgefühl“357 verletzt wähnen müssen. Insofern hat das Gericht in Sachen der Kunst am ‚normalen Sittlichkeitsempfinden‘ als Maßstab der Rechtsprechung festgehalten.

9.4 DER SCHMUTZVORWURF UND DIE VON IHREM GEGENSTAND ENTKOPPELTE EMPÖRUNG Von der Veröffentlichung des Buches 1903 an ist Schnitzlers Reigen von Gegnern immer wieder genutzt worden, um öffentlichkeitswirksam für Sauberkeit und gegen die vermeintliche Unsittlichkeit des Stückes einzutreten. Den Höhepunkt, nicht aber den Endpunkt erreichte diese Geschichte in dem im Herbst 1921 stattfindenden Prozess um die erste Berliner Inszenierung. Während die Anhänger einer traditionellen Ästhetik an der Grenze zwischen Kunst und Schmutz festhielten und ein Verbot forderten, ist sie von den Reigen-Befürwortern in Frage gestellt worden. Allerdings ließ sich der von den Gegnern geäußerte Vorwurf, dass auf der Bühne etwas ‚Schmutziges‘ stattgefunden habe, nicht mit dem tatsächlich aufgeführten Stück in Einklang bringen. Die sich mit dem Schmutzvorwurf manifestierende moralische Empörung hat sich verselbständigt. Emotionen ersetzten die üblichen Beweisführungen der Literaturkritik. Der Schmutzvorwurf führte keine dem Gegenstand angemessenen ästhetischen Argumente mehr mit sich und entkoppelte sich damit vom Gegenstand seiner Empörung. Gerade weil er nicht rational begründbar war, ließ sich der gegen den Reigen geführte ‚Schmutzkampf‘ zu antisemitischen und antidemokratischen Zwecken instrumentalisieren und hat im Zuge dessen eine sich in Säuberungsphantasien, Verbotsforderungen und Gewaltakten äußernde Eigendynamik gewinnen können.

353 354 355 356 357

Ebd., S. 420. Ebd., S. 430. Ebd. Ebd., S. 431. Ebd., S. 432.

Resümee: Spritzendes Pfützenwasser und der „sittliche Indifferentismus“ der Moderne

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Möglichkeitsbedingungen für die auf einen semantischen Wandel hinweisende Konjunktur des Schmutzes im literarischen Diskurs des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ offenzulegen. Was hat diesen Wandel ermöglicht? Es sollte festgestellt werden, wieso der Schmutz um 1900 zu einem oft verwendeten Stoff moderner Literatur werden konnte und wieso sich die Auseinandersetzungen um populäre und avantgardistische Literaturen jetzt häufig als Kämpfe gegen den Schmutz und für eine saubere Kultur darstellten. Kunst und Literatur als soziale Phänomene begreifend, ist ein Ansatz gewählt worden, der nicht nur literarästhetische, sondern auch außerliterarische Entwicklungen berücksichtigt hat. Um der Ubiquität von Schmutz Rechnung zu tragen, ist in Teil A seine allgemeinkulturelle Bedeutung ermessen worden, wobei ein semantischer Wandel in den Blick geraten ist. Es konnten die sozialen Kräfte sichtbar gemacht werden, die das Manifestwerden des Schmutzes in öffentlich geführten, kulturellen Diskursen verhindert und ihn latent gehalten haben. Gleichsam konnten aber auch die Bedingungen erfasst werden, weshalb er sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich doch semantisch zu manifestieren begann. Teil B hat die Bedeutung des Schmutzes im ästhetischen Diskurs ermittelt. Dabei ist festgestellt worden, dass sich der im vorangegangenen Teil beobachtete semantische Wandel (Latenz → Manifest) auch in literaturtheoretischer Hinsicht vollzogen hat. Teil C hat sich exemplarisch mit drei Kontroversen befasst, in denen der Schmutz im literarischen Diskurs explizit wurde. Einerseits konnten ästhetische und außerliterarische (bewahrpädagogische, moralische, kulturrestaurative, rassistische und antisemitische) Argumente gebündelt werden, vor deren Hintergrund die als Schmutz abgewerteten Objekte als Ordnungsverstöße beurteilt wurden. Andererseits konnten die auf die Grenze zwischen Kunst und Schmutz einwirkenden beharrenden und nivellierenden Kräfte sichtbar gemacht werden. Die in den drei Themenblöcken herausgearbeiteten Aspekte verweisen auf die Bedingungen, weshalb sich der Schmutz im literarischen Diskurs um 1900 hat manifestieren können. Bevor sie in ihrem Zusammenhang veranschaulicht werden, müssen die Ergebnisse der einzelnen Kapitel zunächst in komprimierter Weise herausgestellt werden. Zuerst ist in Kapitel 1 der zentrale Stellenwert der Reinlichkeitserziehung im pädagogischen Diskurs des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ untersucht worden. Als Kernele-

404 | Die Verschmutzung der Literatur

ment der Sozialisation des Volkes sollte die in den Schulen internalisierte Abscheu vor dem Schmutz der ästhetischen, moralischen und gesundheitlichen Konditionierung eines in die bürgerliche Gesellschaft problemlos integrierbaren, reinlichen Individuums dienen. Dazu sollten Kinder immer wieder auf die Identität von äußerlicher und seelischer Verschmutzung hingewiesen werden. Der Fleck auf dem Kleid wies stets auch auf einen inneren Makel hin, stellte sich damit sowohl als Widerpart der Schönheit als auch der Sittlichkeit dar. Die Abneigung gegenüber dem Unreinen ist somit auch die Basiserfahrung gewesen, auf der die ästhetische Grundlagenerziehung aufbaute. In der Volksschule beschränkte diese sich weitestgehend auf eine erweiterte Reinlichkeitserziehung. Die Ausbildung guten Geschmacks sollte durch den Hinweis auf die in Sauberkeit, Ordnung, Ruhe, Schlichtheit und Natürlichkeit verborgene Schönheit und Sittlichkeit gelingen. Kunstwerke, die diesen Prinzipien widersprachen, sollten als schmutzig erkannt und abgewiesen werden. An die ästhetische, auf der Opposition zum Schmutz basierende Erziehung knüpfte man außerdem die sozialpolitische Hoffnung, dass sich die aus unteren Schichten rekrutierenden Volkschulabsolventen zu treuen und ordnungsliebenden Untertanen sowie fleißigen und genügsamen Arbeitern entwickeln würden. Insgesamt zeigen die in Kapitel 1 gewonnenen Erkenntnisse, wieso sich der Schmutz in kulturellen Diskursen des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ lange Zeit nicht hat manifestieren können: Die mittels Scham und Peinlichkeit früh internalisierten, bewahrpädagogischen Prinzipien der Reinlichkeitserziehung haben das verhindert. Die Menschen waren dazu angehalten, den Schmutz unbedingt zu vermeiden und ihn selbst in der Kommunikation nicht zu berühren. Hinweise, wieso er im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich in die kulturellen Diskurse einsickern konnte, lieferte Kapitel 2. In ihm ist der Stellenwert des urbanen Schmutzes untersucht worden, der sich durch den Erfolg der modernen Hygiene verändert hat. Für die im Zuge der Industrialisierung rasch anwachsenden Städte wurde es immer schwieriger, die größer werdenden Schmutzmengen zu bewältigen. Gerade in ärmeren, oft dicht bebauten Stadtbezirken waren die hygienischen Verhältnisse katastrophal, so dass dort besonders häufig Krankheiten und Seuchen auftraten. Interessanterweise stellte es sich in der Untersuchung als schwierig heraus, diesen urbanen Schmutz semantisch zu erfassen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ist er kein Gegenstand kultureller Diskurse gewesen. Der Dreck fiel aus der bürgerlichen Wahrnehmung heraus, wurde in der allgemeinen Konversation kollektiv ignoriert. Und zwar auch deshalb, weil er sich ‒ aus der bürgerlichen Perspektive betrachtet ‒ in den städtischen Unterschichtsquartieren gewissermaßen am richtigen Ort befand. Entsprechend spielten diese schmutzbehafteten Aspekte urbanen Lebens in der deutschen Literatur der Jahrhundertmitte kaum eine Rolle. Erst, als man sich der hygienischen und sozialen Folgen der Urbanisierung annahm, änderte sich das. Man musste nun ein anderes Verhältnis zum Schmutz finden. Ausdruck dafür war der Erfolg der modernen Hygiene. Bakteriologische Erkenntnisse und hygienetechnische Verfahren haben einen gänzlich veränderten Umgang mit Verunreinigungen möglich gemacht. Man wusste nun um die potentielle Gesundheitsgefährdung durch unreinliche Lebensverhältnisse und hatte die Verfahren optimiert, mit denen man die immer mehr werdenden Schmutzstoffe aus den Städten herausführen konnte. Unter wissenschaftlich-funktionalen Gesichtspunkten geriet der Schmutz in den Blick und löste sich unter den Mikroskopen der Bakteriologen sogleich in seine Bestandteile auf. Durch Assanierungsmaßnahmen verschwand er zusehends aus der

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Sichtbarkeit urbanen Lebens. Dass er sich gerade jetzt allmählich in kulturellen Diskursen zu manifestieren begann, ist ein paradoxes Resultat dieser Entwicklung. Kapitel 3 hat sich mit den in der bürgerlichen Gesellschaft des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ so prestigeträchtigen Konversationslexika befasst, in denen das Wissen der Zeit aufgespeichert wurde. Es stellte sich heraus, dass der Schmutz nicht zum Lemma erhoben und damit nicht in das lexikalisierte Norm- und Wertgefüge der bürgerlichen Gesellschaft eingepasst worden ist. Kommunikation über ihn galt aus ‚gutbürgerlicher‘ Perspektive als unschicklich, was dazu geführt hat, dass er sich nicht auf semantischer Ebene manifestieren konnte. Damit spiegeln die Konversationslexika die Logik der an ein kommunikatives Reinheitsgebot gebundenen kulturellen Diskurse der bürgerlichen Gesellschaft wider. Volltextrecherchen ergaben jedoch ein sehr viel differenzierteres Bild. So konnte gezeigt werden, dass Schmutz in der Fremde durchaus thematisierbar war. Der dort zur Kenntnis genommene Dreck konnte dazu dienen, die eigene Kultur gegenüber dem vermeintlich unreinlicheren Ausland aufzuwerten oder auf Ambivalenzen des Fortschritts hinzuweisen, die man in der eigenen Kultur ignorierte. Gleichsam markierte der Schmutz die Zonen des kulturellen Verfalls und die Randbereiche der westlichen Zivilisation, wobei er sowohl in einem romantisierenden wie bedrohlichen Licht erscheinen konnte. Mit den Kloaken Roms erschien auch der Schmutz der antiken Vergangenheit als konversationstauglich, während zeitgenössische Abfuhr- und Abwassersysteme erst am Ende des 19. Jahrhunderts thematisiert wurden. Der durch die moderne Hygiene initiierte und von funktionalen Aspekten bestimmte semantische Wandel, der in Kapitel 2 untersucht wurde, hat sich demnach auch in den populären Enzyklopädien niedergeschlagen. Zunehmend sickerte der Schmutz in naturwissenschaftlichen und technischen Kontexten in die Konversation ein. Es gab aber auch eine gegenläufige Tendenz. So ist das Unreine im Jahrhundertverlauf immer seltener zur Illustration sittlicher Verwahrlosung herangezogen worden, um Figuren der Weltgeschichte zu diffamieren. Eine Identität von äußerlicher und innerlicher Verschmutzung ist nach der Jahrhundertmitte kaum mehr behauptet worden. In literarästhetischen Kontexten ist hinsichtlich des Schmutzes keine semantische Degression zu verzeichnen. Die Herausbildung einer deutschen Nationalliteratur galt als Ergebnis eines Reinigungsprozesses, bei dem fremdsprachliche Elemente herausgeläutert und klassische Formen zur Geltung gebracht worden sind. Der ästhetische Genuss sollte von sinnlichen Neigungen bereinigt sein. Kunst und Literatur sollten ebenfalls keine Sinnlichkeit in Szene setzen. Unter dieser Vorgabe sind in den Konversationslexika zahlreiche Werke der Weltliteratur als schmutzig bewertet worden. Kapitel 4 hat das aus der Antike hergeleitete und von Winckelmann bereitgestellte Reinheitsideal der Weimarer Klassik in den Blick genommen. Während Reinheit in den untersuchten, mit Ausnahme einiger Texte Goethes vor 1800 erschienenen kunsttheoretischen Schriften zentral war, sind Unreinheiten in ihnen nur selten ausdrücklich benannt worden. Stattdessen tauchten andere Gegenbegriffe auf. Affekte, sinnliche Leidenschaften und die diversen Verrichtungen gemeinen und alltäglichen Lebens galten als Trübungen schöner Kunst. Allerdings haben die Klassiker Techniken der Beruhigung, des Ausgleichs und der Harmonisierung konzipiert, mit denen auch solche latent unreinen Elemente in Kunstwerke integriert werden konnten, ohne rein ästhetische Wirkungen zu beeinträchtigen. Aus inhaltsästhetischer Perspektive sind alle und somit auch die zumindest konzeptionell für unrein befundenen Wirk-

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lichkeitsaspekte für prinzipiell kunstfähig erklärt worden. Dagegen ist das Unreine zu einem wirkungsästhetischen Unterscheidungsmerkmal geworden. Schöne Kunst sollte ausschließlich ästhetisch wirken, was einerseits einer Forderung nach Kunstautonomie gleichkam und sie von außerästhetischen, also politischen, ökonomischen, religiösen oder didaktischen Zwecksetzungen entband. Diese sollten das Kunstwerk nicht verunreinigen. Andererseits ist auch jede Empfindungen, Leidenschaften und Spannungen evozierende Kunst latent mit Unreinheit in Verbindung gebracht worden. Diese durch die Klassiker vollzogene Abwertung der Unterhaltung ist im ästhetischen Diskurs des gesamten 19. Jahrhunderts nicht revidiert worden. Explizit kommuniziert wurde der Vorwurf, dass es sich bei Unterhaltungsliteraturen um ‚Schmutz und Schund‘ handelte, allerdings erst am Ende des 19. Jahrhunderts. Nach 1848 forderten zahlreiche Programmschriften eine gegenwartsbezogene, die empirische Wirklichkeit realistisch wiedergebende Literatur. Allerdings rückten die programmatischen Realisten nicht vom idealistischen Reinheitsgebot ab, vielmehr konzipierten sie eine Ästhetik, die von den unreinen Aspekten des realen Lebens absah. In Kapitel 5 ist herausgearbeitet worden, dass die in der Kunst abgebildete Wirklichkeit poetisch verklärt werden und dadurch idealer erscheinen sollte, als das schmutzbehaftete Original. Realität zu verklären hieß, sie zu ordnen, zu idealisieren und zu läutern. Die Wirklichkeit zu ordnen bedeutete, ihre ästhetisch verunreinigend begriffenen, unmoralischen und hässlichen Ingredienzien in einer Weise darzustellen, dass sich vor ihrem Hintergrund das Gute und das Schöne positiv abheben könne. Das Idealisierungsgebot bezog sich auf die gewöhnlichen Aspekte der bürgerlichen Realität, die in einem poetischen Licht erscheinen sollten. Schließlich sollten alle Elemente, die den reinen ästhetischen Eindruck unweigerlich stören würden, gänzlich aus der Kunstwirklichkeit herausgeläutert werden. Als Maßstab, an dem sich Künstler orientieren sollten, schlugen die Realisten die in bürgerlichen Zirkeln vorherrschenden Konversationsregeln vor. Die Darstellung sozialer Not und Unterdrückung, von extremen Gewaltszenen, von körperlichen und geistigen Behinderungen, von Anomalien, materiellem Schmutz und Verwesung und nicht zuletzt von Nacktheit und Sexualität galten als unbedingt herauszufilternde ästhetische Unreinheiten. Die von den programmatischen Realisten konzipierte idealrealistische Literatur glich einer ‚Verkläranlage‘, in der die erwähnten Aspekte herausgefiltert werden sollten, um eine saubere, sittliche und vorbildliche Wirklichkeit aufscheinen zu lassen. Unter diesen Vorzeichen sollte belletristische Literatur Identifikations-, Kompensations-, Erbauungs- und Unterhaltungspotential bieten. Damit orientierten Sich die Programmrealisten durchaus an dem in Literatur- und Familienzeitschrift vorherrschenden Geschmack bürgerlicher, in der Mehrzahl weiblicher Leser, was einer Abkehr von autonomieästhetischen Prämissen entsprach. Kapitel 6 hat sich mit dem Naturalismus der 1880er-Jahre befasst, der von den idealistischen Prinzipien des älteren Realismus abgerückt ist. Literatur sollte nun nicht mehr sauber, sittlich und vorbildlich erscheinen, sondern die unverfälschte Wahrheit widerspiegeln. Die naturalistische Literatenopposition reaktivierte den autonomieästhetischen Anspruch, rückte von den vorherrschenden Konversationsregeln ab und orientierte sich stattdessen an natur- und sozialwissenschaftlichen Beobachtungsprinzipien und Techniken des Umgangs mit schmutzigen Stoffen. Damit entfernte sich der Naturalismus vom allgemeinkulturellen Reinheitsgebot, was mit einem massiven Wandel der traditionellen ästhetischen Normen und Wertvorstellungen

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einherging. Diejenigen Aspekte der Wirklichkeit, die bis dahin in den Klärfiltern des bürgerlichen Realismus hängengeblieben sind, galten nun als kunstfähig. Gerade weil sie bis dahin ignoriert worden waren, ist ihnen jetzt ein besonders hoher Wahrheitsgehalt zugesprochen worden. Der Schmutz symbolisierte nunmehr die Abkehr von der traditionellen Ästhetik. Mit dem Naturalismus hat er sich in der Literatur semantisch manifestieren können. Ein Beispiel dafür ist Hauptmanns Soziales Drama Vor Sonnenaufgang, in dem der Dreck sogar ein zentrales Motiv der Handlung darstellte. Die Wende hin zur kommunikativen Explikation des Schmutzes ist auch von den nachfolgenden modernen Kunst- und Literaturströmungen nicht mehr rückgängig gemacht worden. In Kapitel 7 wurde der Skandal um die vom Verein ‚Freie Bühne‘ initiierte Uraufführung von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang aus dem Jahr 1889 untersucht. Für Autor, Veranstalter und Wegbegleiter diente der im Sozialen Drama thematisierte Dreck der Verlebendigung des Theaters, das von den Modernen gemeinhin als gekünstelt, unwahr und tot kritisiert wurde. Dabei waren sie sich im Klaren darüber, dass das über bislang als ästhetisch unrein erachtete Themen wie Armut, Alkoholismus und moralische Verwahrlosung handelnde Stück mit traditionellen Sehgewohnheiten brach und harsche Kritik nach sich ziehen würde. Als Gegenbegriffe der Reinheit sorgten sie für eine Polarisierung. Die Gegner beharrten auf den traditionellen, moralisch imprägnierten ästhetischen Normen. Indem sie Vor Sonnenaufgang mit einem moralisch aufgeladenen Schmutzvorwurf konfrontiert haben, haben sie sich dafür ausgesprochen, die Gegenbegriffe aus der Literatur herauszuhalten. Paradoxerweise hat sich im Zuge dessen die Schmutzsemantik in den Feuilletons etablieren können. Dagegen haben sich die Anhänger moderner Literatur gegen die Tabuisierung der literarischen Darstellung stofflich und moralisch unrein erachteter Themen und Begriffe ausgesprochen und sich gegen die moralische Empörung der Gegner verwahrt. Kapitel 8 befasste sich mit der Kritik der Kolportage, die um 1900 ihren Höhepunkt erreichte. Sie richtete sich nicht nur gegen die per Kolportage vertriebenen Lieferungsromane, sondern auch gegen den modernen Kolportagebuchhandel und gegen die Leser der Kolportageliteratur. Um diese in der Forschung bislang weitestgehend unbeachtet gebliebenen Zusammenhänge zu erschließen, ist die Geschichte des modernen Kolportagebuchhandels aufgearbeitet und mit der gegen ihn gerichteten Kritik in Beziehung gesetzt worden. Diese basierte zunächst auf der wirtschaftlichen Konkurrenz zwischen Kolportage- und Sortimentsbuchhandel und richtete sich deshalb vor allem gegen die ambulante Vertriebsweise. Als Gesetzesvorhaben zur Einschränkung des Kolportagehandels nicht umgesetzt werden konnten, entstand um 1890 eine breite gesellschaftliche Bewegung gegen die per Kolportage vertriebenen Lieferungsromane, die nun als ‚Schund und Schmutz‘ abgewertet wurden. Der Hauptvorwurf war, dass die ‚Schundliteratur‘ mit der Darstellung von Unsittlichkeit und schiefen moralischen Maßstäben zur sittlichen Verwahrlosung der ungebildeten, oft jugendlichen Leser aus den unteren Schichten beitragen würden. Durch die exemplarische Analyse eines als ‚Schundliteratur‘ abgewerteten Kolportageromans konnte gezeigt werden, dass die Kritiker ohne Kenntnisse der Texte argumentiert haben. Der Vorwurf, die Lieferungsromane seien unmoralisch, traf keineswegs zu. Vielmehr folgten sie dem traditionellen Werteschema, das in den Romanfiguren stets offensichtlich zutage trat. Die Guten waren nicht nur tugendhaft, selbstlos und fleißig, sie besaßen

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auch einen ausgeprägten Sinn für Sauberkeit. Die Bösen zeigten dagegen einen Hang zu Unordnung und Schmutz und waren den Lesern dadurch stets als moralisch zweifelhafte Figuren erkennbar. Damit erfüllten die Lieferungsromane die Kriterien der vorherrschenden Verklärungsästhetik, so dass der Vorwurf der ‚Schund- und Schmutzkämpfer‘ eigentlich paradox war. Diese überraschende Erkenntnis ist bislang übersehen worden, weil die einstmals populäre Literaturgattung wissenschaftlich bis heute vernachlässigt worden ist. Insofern konnte mit dem Kapitel ein erster Beitrag zum Schließen der Forschungslücke geleistet werden. Das abschließende Kapitel 9 hat die Skandalgeschichte um Schnitzlers Reigen bis ins Jahr 1921 nachverfolgt und hinsichtlich der Bedeutung in ihr wirksamer Verunreinigungsvorstellungen aufgearbeitet. Von der Veröffentlichung des Buches 1903 an ist das Stück von Gegnern immer wieder genutzt worden, um öffentlichkeitswirksam für Sauberkeit und gegen die vermeintliche Unsittlichkeit des Stückes oder gleich der gesamten modernen Literatur einzutreten. Den Höhepunkt, nicht aber den Endpunkt erreichte diese Geschichte in einem im Herbst 1921 stattfindenden Prozess um die erste Berliner Inszenierung. Dabei zeigte sich, dass die Ansichten von Befürwortern und Gegnern bezüglich der Grenze zwischen Kunst und Schmutz auseinanderklafften. Die Anhänger einer traditionellen Ästhetik hielten an ihr fest, die Anhänger moderner Kunst stellten sie zunehmend in Frage. Während eine öffentliche ReigenInszenierung vor dem Ersten Weltkrieg noch undenkbar erschien, ist das aufgrund der politischen und sozialen Umwälzungen danach nicht mehr der Fall gewesen. Anhand des 1921 geführten Prozesses um die erste Berliner Reigen-Inszenierung konnte der Empörungsmechanismus der Gegner anschaulich gemacht werden. Der von ihnen geäußerte Vorwurf, dass auf der Bühne etwas ‚Schmutziges‘ stattgefunden habe, ließ sich nicht mit dem tatsächlich aufgeführten Stück in Einklang bringen. Der Schmutzvorwurf hat sich vom Objekt seiner Kritik entkoppelt und ist im Zuge dessen zu antisemitischen und antidemokratischen Zwecken instrumentalisiert worden. Die Möglichkeitsbedingungen für den semantischen Wandel und die dadurch veranlasste Konjunktur des Schmutzes um 1900 liegen jetzt offen zu Tage und können benannt werden. Es lassen sich literarästhetische und literaturexterne Bedingungen unterscheiden: • Literarästhetische Bedingungen

Die im ‚langen 19. Jahrhundert‘ vorherrschende Ästhetik war an ein Reinheitsgebot gekoppelt, so dass der von den Anhängern der Moderne forcierte Traditionsbruch der Diskurslogik entsprechend als verunreinigend gedeutet werden musste. Für Gegner wie Anhänger der literarischen Moderne symbolisierte der Schmutz den Verstoß gegen herkömmliche ästhetische Ordnungsvorstellungen, die diese erzwingen und jene verhindern wollten. Der Schmutz verkörperte die moralisch begründeten Darstellungstabus der älteren, idealistischen Ästhetik, die vom Naturalismus sowie allen ihm nachfolgenden Ismen nicht mehr beachtet und von funktionalen Kriterien ersetzt wurden. Indem die Darstellungstabus wegfielen, konnte das Unreine (inklusive der mit ihm assoziierten anderen Gegenbegriffe des Reinen) zu ästhetischen, sozialkritischen oder epistemischen Zwecken in die Literatur einfließen, in der es bis dahin allenfalls randständig behandelt worden war. Wieso sie gerade am Ende des 19. Jahrhunderts wegfielen, lässt sich literarästhetisch jedoch nicht hinlänglich begründen.

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In den Kontroversen hat sich der Schmutzvorwurf von den Objekten der Kritik entkoppelt und ist zu einer häufig gebrauchten, pauschalen Formel gegen die literarische Moderne geworden. Das war möglich, weil der Schmutz keine weiteren Argumente mit sich führte, als die moralische Empörung. Ein Werk musste keinesfalls ‚Schmutziges‘ enthalten, um als ‚schmutzig‘ gebrandmarkt zu werden; Voraussetzung war nur, dass es (oder sein Autor) ‚modern‘ und nicht mehr in die ältere Ästhetiktradition einzugliedern war. Dass die unterhaltenden Lieferungsromane als ‚Schund und Schmutz‘ bewertet wurden, ist, obwohl der Vorwurf an den Texten vorbeiführte, aus der Perspektive der idealistischen Ästhetik heraus ebenfalls durchaus naheliegend gewesen. Auf Spannung setzende Unterhaltungsliteratur wurde seit der Zeit der Weimarer Klassik zumindest konzeptionell als ästhetisch unrein und minderwertig bewertet. Desweiteren ist ein literatursoziologischer Grund zu nennen: Die erst in der zweiten Jahrhunderthälfte zu Käufern und Lesern von Literatur gewordenen Unterschichten sind von den Anhängern des Bürgertums eng mit dem Schmutz assoziiert worden, in dem jene aufgrund sozioökonomischer Bedingungen lebten. Der Vorwurf, dass ihre Lektüre ebenfalls ‚schmutzig‘ war, ist aus der bürgerlichen Perspektive heraus durchaus ‚schlüssig‘ gewesen. Literaturpädagogische Versuche, den Unterschichten im ‚positiven Schundkampf‘ eine im Sinne des bürgerlichen Idealrealismus verfasste, saubere und sittliche Literatur zukommen zu lassen, zielten mit paternalistischer Intention darauf, sie aus dem ‚Schmutz‘ emporzuheben und damit sozial zu integrieren, politisch zu kontrollieren und ökonomisch dienstbar zu machen. Die in der Einleitung der Arbeit erwähnte Kaiserrede über Die wahre Kunst verfolgte exakt diese Logik. • Literaturexterne Bedingungen

Das kulturelle Reinheitsgebot, das besagte, nicht mit stofflichem oder moralischem Schmutz in Berührung kommen zu dürfen, ist den Menschen im ‚langen 19. Jahrhundert‘ durch das bewahrpädagogische Modell der Reinlichkeitserziehung internalisiert worden. Sauberkeit wurde zur unbedingt einzuhaltenden, gleichsam ästhetisch, moralisch und hygienisch imprägnierten Norm. Der Schmutz wurde damit auch in der Konversation marginalisiert; in den kulturellen Diskursen wurde er folglich latent gehalten. Mit dem Erfolg der modernen Hygiene löste sich der Latenzschutz des Schmutzes auch auf kommunikativer Ebene. Unter den Vorzeichen hygienisch-wissenschaftlichen Fortschritts war die Beschäftigung mit ihm seit dem Ende des 19. Jahrhunderts opportun und nicht mehr moralisch verwerflich. Man deckte ihn auf, wies auf Probleme hin und auf Methoden, ihn zu bewältigen. Unter dieser gleichsam analytischen und funktionalen Prämisse konnte der Schmutz nun in die kulturellen Diskurse und damit auch in die Literatur einfließen. Die Anhänger moderner Kunst- und Literaturströmungen konnten sich auf wissenschaftlich-funktionale Erkenntniszwecke berufen, wenn sie in ihren Werken den Schmutz und mit ihm in Verbindung gebrachte Dinge thematisierten. Wenn die Gegner innovativ-avantgardistische oder populäre Künste als ‚schmutzig‘ angriffen, um hygienische Gegenreaktionen hervorzurufen, haben sie das paradoxer Weise ebenfalls unter den Prämissen einer funktionalen Logik getan. Zentraler Befund der Arbeit ist, dass die Schmutzsemantik sukzessive aus einem latenten in einen manifesten Zustand überwechselte. Dieser im ‚langen 19. Jahrhun-

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dert‘ vonstattengegangene semantische Wandel des Schmutzes lässt sich als einen Prozess der Ausdifferenzierung beschreiben. Um diesen zu veranschaulichen, soll noch einmal das bereits in der Einleitung erwähnte Prinzip wiederholt werden, das über den Begriff der ‚Reinheit‘ organisierte Diskurse betrifft, in denen ‚Schmutz‘ latent bleibt. In der Regel treten in ihnen andere Gegenbegriffe auf, die damit konzeptionell als Unreinheiten diskriminiert werden und sich bis zur Synonymität einander annähern können. In den vorangegangenen Kapiteln konnte das anhand von Begriffen wie ‚Sinnlichkeit‘, ‚Unsittlichkeit‘, ‚Gemeinheit‘, ‚Niedrigkeit‘, ‚Unten‘, ‚Unterschicht‘, ‚Hässlichkeit‘, ‚Unordnung‘ etc. bestätigt werden, die in Opposition zur Sauberkeit standen und zum Teil miteinander identifiziert wurden. Vor dem Hintergrund drängen sich die bereits in der Einleitung gestellten Fragen auf: Wann und wieso hat sich der Schmutz manifestiert, wenn er seine diskriminierende Funktion latent oder mittels verwandter Begriffe erfüllen konnte? Was ist im Zuge dessen mit eben diesen Begriffen passiert, die als Gegenbegriffe der Reinheit mit Schmutz assoziiert wurden? Mit dem Erfolg der modernen Hygiene in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts musste der Schmutz aufgrund seiner forcierten realweltlichen Bewältigung zwangsläufig zu einem ausgesprochenen Thema werden. In anderen Bereichen der Kultur ist diese Entwicklung aufgrund der internalisierten Abscheu vor dem Schmutz und der ‚guten Sitten‘1 der gutbürgerlichen Gesellschaft blockiert worden. In der Konversation ist er sogar über den Untersuchungszeitraum hinaus weitestgehend latent geblieben. In der Literatur sind diese kommunikativen Blockaden ebenfalls bis in die 1880er-Jahre aufrechterhalten worden. Erst der Naturalismus hat die alten Konversationsideale für obsolet erklärt. Damit setzte auch in der Literatur ein Prozess der Ausdifferenzierung ein, der den Aufbruch in die ästhetische Moderne markiert. Mit der semantischen Manifestation des Schmutzes hat sich die Synonymität der Gegenbegriffe von Reinheit aufgelöst, so dass sie sich zu eigenständiger Bedeutung ausdifferenzieren konnten. Damit sind Bedeutungsdimensionen des ‚alten‘ Schmutzverständnisses weggebrochen; an diskriminierender Funktion hat der Schmutz weitestgehend eingebüßt. Was bislang pauschal als unrein galt, konnte fortan von unterschiedlichen Standpunkten aus unterschiedlich bewertet und zu verschiedenen Zwecken verwendet werden, löste sich demnach in relationalen und funktionalen Verhältnissen auf. Stofflicher Schmutz oder bislang mit Unreinheit assoziierte Unsittlichkeit konnten nun als ästhetisch erkannt und in Literatur integriert werden. Insofern war das plötzliche und massive Auftauchen des Schmutzes im literarischen Diskurs Symptom eines im Zuge der aufziehenden Moderne sich fundamental verändernden Wirklichkeitsverständnisses. So hat auch Friedrich Gundolf in seinem 1911 erschienenen Aufsatz Wesen und Beziehung beschrieben und beanstandet, dass ein allmählich verlorengehendes Substanzdenken von einem modernen, relativistischen Denken abgelöst wurde. Früher habe der Mensch ein zentrales Wesen ausbilden kön-

1

Vgl. z.B. Luhmann, Niklas: Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band I. Frankfurt am Main 1981, S. 72-162.

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nen, in dem sich die Sittlichkeit noch als eine „vernunft-gewordene leiblichkeit“2 substantialisieren konnte. Die moderne Wissenschaft habe dagegen ein Denken in Funktionen und Relationen bestärkt, durch das „die alten bindungen“3 zusehends verloren gegangen seien. Dazu zählte auch, dass sittlich motivierte, moralische Unterscheidungen an Bedeutung verloren hätten: „Der wissenschaftliche relativismus führt zum sittlichen indifferentismus.“4 Sittlichkeit hat Gundolf als ein körperliches Phänomen beschrieben, das „im unmittelbaren reagieren des leibes, in instinktiver ausscheidung der lebenzersetzenden, hemmenden elemente und wählerischer anverwandlung der lebenbauenden, -fördernden“5 bestehen würde. Derjenige, der keine unveränderliche Substanz besitzen würde, sei deshalb nicht mehr in der Lage dazu, sich körperlich ergriffen zu fühlen: Der zu blossem geist zersetzte, leiblicher reaktionsfähigkeit verlustige mensch weigert sich zu hassen, zu zürnen, zu lieben und zu kämpfen und versucht aus dieser not eine tugend zu machen, indem er vorgibt alles zu verstehen und alles zu verzeihen. Bespritzte etwa einen solchen z. b. ein vorüberfahrender wagen mit pfützenwasser, so würde er das reale geschehen in begriffliche bezüge verflüchtigen, das schmutzige wasser auf seine chemische formel H 2O, das spritzen auf die mechanische rotation zurückführen und so wäre er ganz zufrieden, es bliebe nichts als ein begriffsschema und der körperliche vorgang wäre einfach annulliert.6

Ein dem relativistischen Funktionsdenken verhafteter Mensch musste sich Gundolfs Annahme zufolge nicht mehr allzu sehr über die durch spritzendes Dreckwasser verursachten Flecken auf seiner Kleidung aufregen. Schmutz verwies jedenfalls nicht mehr auf einen inneren, sittlich zu beanstandenden Makel. Für den ‚modernen Menschen‘ hat er an empörender Substantialität und damit auch an Anklagekraft eingebüßt. Er ist zu einem Element unter vielen geworden, das sich analysieren ließ. Und während er sich unter den Mikroskopen der Wissenschaftler in seine stofflichen Bestandteile aufgelöst hat, hat er sich auch semantisch auszudifferenzieren begonnen und stand fortan nicht mehr unhinterfragt synonym für Unsittlichkeit. Unter funktionalen Gesichtspunkten ließ er sich nun literarisch verarbeiten, ohne dass er für Empörung sorgen musste. Die in dieser Arbeit angestellten Beobachtungen bestätigen diesen mit dem modernen Relations- und Funktionsdenken einhergehenden Wandel. Was mit einem Sturz in den Schmutz begann, endet nun mit spritzendem Pfützenwasser und einer großen Relativierungsleistung der Moderne.

2 3 4 5 6

Gundolf, Friedrich: Wesen und Beziehung (1911). In: Ders.: Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte. Hg. von Victor A. Schmitz. Heidelberg 1980, S. 150-175, S. 162. Ebd., S. 153. Ebd., S. 162. Ebd. Ebd.

Literaturverzeichnis

POPULÄRENZYKLOPÄDIEN UND FUNDSTELLEN ZU DEN LEMMA- UND VOLLTEXTSUCHEN (KAP. 3) Populärenzyklopädien Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk. Ein Handbuch zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung, 4 Bde., Leipzig 1837-1841 [=Digitale Bibliothek 146, DVD-Rom-Ausgabe, Berlin 2006]. Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissenschaften und Künsten vorkommenden Gegenstände mit beständiger Rücksicht auf die Ereignisse der älteren und neueren Zeit, 8 Bde., Bd. 1-7 Amsterdam u. Bd. 8 Leipzig 1809-1811 [=Digitale Bibliothek 131, DVD-Rom-Ausgabe, Berlin 2015]. Damen Conversations Lexikon. Herausgegeben im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen von C. Herloßsohn, 10 Bde., Bd. 1-2 Leipzig u. Bd. 3-10 Adorf 1834-1838 [=Digitale Bibliothek 118, DVD-Rom-Ausgabe, Berlin 2005]. Herders Conversations-Lexikon. Kurze aber deutliche Erklärung von allem Wissenswerthen aus dem Gebiete der Religion, Philosophie, Geschichte, Geographie, Sprache, Literatur, Kunst, Natur- und Gewerbekunde, Handel, der Fremdwörter und ihrer Aussprache etc. etc., 5 Bde., Freiburg im Breisgau 1854-1857 [=Digitale Bibliothek 133, DVD-Rom-Ausgabe, Berlin 2005]. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 20 Bde., [6. Aufl.] Leipzig u. Wien 1905-1909 [=Digitale Bibliothek 100, DVD-Rom-Ausgabe, Berlin 2003]. Pierer´s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, 19 Bde., [4. Aufl.] Altenburg 1857-1865 [=Digitale Bibliothek 115, DVD-RomAusgabe, Berlin 2005]. Fundstellen • Conversations-Lexikon (1809-1811)

Vorrede. In: CL, Bd. 1, S. V-XIV, S. IX-X. [Art.] (Peter) Leopold der zweite. In: CL, Bd. 2, S. 387. [Art.] Chabot. In: CL, Bd. 1, S. 253.

414 | Die Verschmutzung der Literatur

[Art.] Conversation. In: CL, Bd. 7, S. 241. [Art.] Das Mönchswesen. In: CL, Bd. 3, S. 154. [Art.] Das neue Rom. In: CL, Bd. 4, S. 321. [Art.] Das Schauspiel. In: CL, Bd. 5, S. 82. [Art.] Die Jacobiner. In: CL, Bd. 2, S. 255. [Art.] Die Kretinen. In: CL, Bd. 2, S. 330. [Art.] Die Kretinen. In: CL, Bd. 2, S. 331. [Art.] Die Samojeden. In: CL, Bd. 5, S. 44. [Art.] Diogenes. In: CL, Bd. 1, S. 350. [Art.] Ignatius von Loyola. In: CL, Bd. 7, S. 566. [Art.] Johann Baptista Joseph Villart von Grecourt. In: CL, Bd. 2, S. 128. [Art.] Madrit. In: CL, Bd. 3, S. 10. [Art.] Marat, Johann Paul. In: CL, Bd. 3, S. 62-63. [Art.] Orion. In: CL, Bd. 8, S. 179. [Art.] Racen der Menschen. In: CL, Bd. 4, S. 21. [Art.] Salomo Geßner. In: CL, Bd. 2, S. 98. • Bilder-Conversations-Lexikon (1837-1841)

Vorwort. In: BCL, Bd. 1, S. V-VI. [Art.] Ästhetik. In: BCL, Bd. 1, S. 133. [Art.] Cloake. In: BCL, Bd. 1, S. 440. [Art.] Conversation. In: BCL, Bd. 1, S. 468-469. [Art.] Diät. In. BCL, Bd. 1, S. 563. [Art.] Florenz. In: BCL, Bd. 2, S. 60. [Art.] Forum. In: BCL, Bd. 2, S. 73. [Art.] Genua. In: BCL, Bd. 2, S. 184-185. [Art.] Halle. In: BCL, Bd. 2, S. 315. [Art.] Hottentotten. In: BCL, Bd. 2, S. 417. [Art.] Italien. In: BCL, Bd. 2, S. 468. [Art.] Johann Gottfried von Herder. In: CL, Bd. 7, S. 444. [Art.] Konstantinopel. In: BCL, Bd. 2, S. 643. [Art.] Krakau. In: BCL, Bd. 2, S. 657. [Art.] Kretinen. In: BCL, Bd. 2, S. 664. [Art.] Kunst. In: BCL, Bd. 2, S. 679. [Art.] Mainz. In: BCL, Bd. 3, S. 27. [Art.] Plautus. In: BCL, Bd. 3, S. 513. [Art.] Polen. In: BCL, Bd. 3, S. 516. [Art.] Rosenblüt. In: BCL, Bd. 3, S. 746. [Art.] Schauspiel. In: BCL, Bd. 4, S. 62. [Art.] Schön. In: BCL, Bd. 4, S. 102. [Art.] Shakspeare (William). In: BCL, Bd. 4, S. 177. [Art.] Warschau. In: BCL, Bd. 4, S. 655. Schlußwort. In: BCL, Bd. 4, S. IV. • Damen Conversations Lexikon (1834-1838)

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416 | Die Verschmutzung der Literatur

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Anhang: Informationen und Tabellen zu den analysierten Populärenzyklopädien (Kap. 3.3.1)

• Conversations-Lexikon

Sigle: CL Erscheinungsorte: Amsterdam (Bd. 1-7) u. Leipzig (Bd. 8) Verlag: Kunst- und Industrie-Comptoir Erscheinungszeitraum: 1809-1811 Bandanzahl: 8 Artikelanzahl: 7.099 Seitenumfang (Buch): ~ 3.800 Seitenumfang (digital): 10.738

• Damen Conversations Lexikon

Sigle: DCL Erscheinungsorte: Leipzig (Bd. 1-2) u. Adorf (Bd. 3-10) Verlage: Fr. Volckmar (Bd. 1-2) u. Verlags-Buero (Bd. 3-10) Erscheinungszeitraum: 1834-1838 Bandanzahl: 10 Artikelanzahl: 7.099 Seitenumfang (Buch): ~ 5.000 Seitenumfang (digital): 11.700

• Bilder-Conversations-Lexikon

Sigle: BCL Erscheinungsort: Leipzig Verlag: F. A. Brockhaus Erscheinungszeitraum: 1837-1841 Bandanzahl: 4 Artikelanzahl: 7.049 Seitenumfang (Buch): ~ 3.150 Seitenumfang (digital): 17.207

452 | Die Verschmutzung der Literatur

• Herders Conversations-Lexikon

Sigle: HCL Erscheinungsort: Freiburg im Breisgau Verlag: Herder´sche Verlagsbuchhandlung Erscheinungszeitraum: 1854-1857 Bandanzahl: 5 Artikelanzahl: 39.815 Seitenumfang (Buch): ~ 4.000 Seitenumfang (digital): 43.216

• Pierer´s Universal-Lexikon, 4. Aufl.

Sigle: PUL 4 Erscheinungsort: Altenburg Verlag: Verlagsbuchhandlung von H. A. Pierer Erscheinungszeitraum: 1857-1865 Bandanzahl: 19 Artikelanzahl: 213.701 Seitenumfang (Buch): ~ 17.000 Seitenumfang (digital): 262.828

• Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl.

Sigle: MKL 6 Erscheinungsorte: Leipzig u. Wien Verlag: Bibliographisches Institut Erscheinungszeitraum: 1905-1909 Bandanzahl: 20 Artikelanzahl: 156.319 Seitenumfang (Buch): ~ 23.000 Seitenumfang (digital): 222.290

A nhang | 453

Tabelle 1: Verwendungshäufigkeit einzelner Begriffe aus dem Komplex der Schmutzsemantik CL

DCL

BCL

HCL

PUL 4

MKL 6

*dreck*

(3) 0

(0) 0

(3) 0

(3) 0

(24) 5

(16) 0

*schmut*/*schmuz*

(19) 19

(46) 44

(106) 85

(55) 53

(451) 348

(391) 297

*schund*

(2) 0

(1) 0

(1) 0

(4) 0

(19) 4

(12) 2

*unfla*/*unflä*

(1) 1

(0) 0

(1) 1

(4) 4

(11) 9

(13) 11

*unrat*

(2) 2

(2) 1

(8) 8

(5) 4

(59) 56

(33) 25

*unrein*

(20) 20

(53) 53

(134) 134

(43) 43

(612) 608

(655) 655

*unsaub*

(1) 1

(3) 3

(12) 12

(6) 6

(6) 6

(36) 36

Summe, absolut

43

101

240

110

1036

1026

4,0

8,6

13,9

2,5

3,9

4,6

Summe, relativ Häufigkeit des Auftauchens der Schmutzsemantik á 1.000 digitaler Normseiten

454 | Die Verschmutzung der Literatur

Tabelle 2: Verwendung der Schmutzsemantik in unterschiedlichen Themenfeldern (absolute Häufigkeit) CL

DCL

BCL

HCL

PUL 4

MKL 6

10

22

109

28

572

523

Krankheiten

4

11

37

8

91

95

Diätetik, Hygiene

-

5

3

-

49

166

10

40

56

14

109

122

12

7

5

7

14

14

4

3

9

31

44

36

3

13

21

22

157

70

Naturwissenschaft, Technik, Gewerbe

Städte, Nationen, Volksgruppen Historische Persönlichkeiten, Soziale Gruppen Sprache, Ästhetik, Künste Sonstiges (Recht, Moral, Religion, Mythologie etc.)

A nhang | 455

Tabelle 3: Verwendung der Schmutzsemantik in unterschiedlichen Themenfeldern (relative Häufigkeit á 1.000 digitaler Normseiten) CL

DCL

BCL

HCL

PUL 4

MKL 6

10

22

109

28

572

523

Krankheiten

4

11

37

8

91

95

Diätetik, Hygiene

-

5

3

-

49

166

10

40

56

14

109

122

12

7

5

7

14

14

4

3

9

31

44

36

3

13

21

22

157

70

Naturwissenschaft, Technik, Gewerbe

Städte, Nationen, Volksgruppen Historische Persönlichkeiten, Soziale Gruppen Sprache, Ästhetik, Künste Sonstiges (Recht, Moral, Religion, Mythologie etc.)

Danksagung

Allen, die mich auf dem Weg zur Promotion begleitet, mich beraten, unterstützt und bestärkt haben, danke ich an dieser Stelle ganz herzlich. Holger Dainat und Walter Erhart danke ich für eine ausgezeichnete fachliche und wissenschaftliche Betreuung. Die Einbindung in das von beiden angeleitete Forschungskolloquium hat mir stets interessante Perspektiven aufgezeigt und meiner Arbeit wichtige Impulse verliehen. Besonders Holger Dainat bin ich für viele Gespräche, Ideen und Hinweise dankbar. Mit seinen engagierten Feedbacks hat er mir immer wieder bedeutet, auf der richtigen Spur zu sein. Auch Meinolf Schumacher möchte ich für sein Interesse an meiner Studie Dank aussprechen. Für viele Gespräche und so manchen Ratschlag danke ich außerdem DavidChristopher Assmann, Angela Bandeili, Jonas Damian, Mareike Gronich, Karima Lanius, Philipp Mußgnug, Patricia Pasic, Nicole Pasuch und Konstanze Rosenbaum. Meinen Eltern danke ich für das in mich gesetzte Vertrauen und die Unterstützung, die sie mir in allen Phasen der Promotion zuteilwerden ließen. Doris ReineckeNiemeier danke ich für das zur Verfügung gestellte Turmzimmer und die freundlichen Worte in der Zeit des Fertigschreibens. Konstanze und Jasper danke ich für die Geduld, diese Arbeit begleitet und auch in schwierigen Zeiten gleichsam getragen und ertragen zu haben.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Michael Basseler

An Organon of Life Knowledge Genres and Functions of the Short Story in North America February 2019, 276 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4642-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4642-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Rebecca Haar

Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6

Laura Bieger

Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de