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German Pages 182 [184] Year 2021
Die Klassifikation der Staatenwelt im langen achtzehnten Jahrhundert
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung
Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Herausgegeben von Thomas Bremer, Daniel Cyranka, Elisabeth Décultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Ottfried Fraisse, Daniel Fulda, Frank Grunert, Wolfgang Hirschmann, Heiner F. Klemme, Till Kössler, Andreas Pečar, Jürgen Stolzenberg, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat Anke Berghaus-Sprengel, Albrecht Beutel, Ann M. Blair, Michel Delon, Avi Lifschitz, Robert Louden, Laurenz Lütteken, Brigitte Mang, Steffen Martus, Laura Stevens
Band 67
Die Klassifikation der Staatenwelt im langen achtzehnten Jahrhundert Herausgegeben von Andreas Pečar und Thomas Biskup
Redaktion: Andrea Thiele Druckvorlage: Celine Fiedler
ISBN 978-3-11-073863-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073573-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073574-1 ISSN 0948-6070 Library of Congress Control Number: 2021939098 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Andreas Pečar und Thomas Biskup Die Klassifikation der Staatenwelt im langen 18. Jahrhundert | 1 André Krischer Rang und Zeremoniell in diplomatischer Praxis und Theorie der Sattelzeit | 17 Hamish Scott The resilience of diplomatic culture and the Sattelzeit | 45 Volker Bauer Globale Beurteilungskriterien für politische Herrschaft im frühen 18. Jahrhundert? Die Staatenkunden des Verlages Renger (1704–1718) | 75 Lars Behrisch Patriotische Zahlen: Statistik als Messlatte staatlichen Erfolgs im 18. Jahrhundert | 117 Andreas Pečar Avantgarde statt Präzedenz? Der Beitrag der Aufklärung zur Neu-Hierarchisierung der Völker Europas | 133 Damien Tricoire Von der Sinophilie zur Sinophobie? Aufklärerische Geltungsansprüche und Chinabilder im 18. Jahrhundert | 151 Abbildungsverzeichnis | 173 Personenregister | 175
Andreas Pečar (Halle) und Thomas Biskup (Hull, GB)
Die Klassifikation der Staatenwelt im langen 18. Jahrhundert 1 Die „Welt der Staaten“ in Historiographie und frühneuzeitlicher Literatur Im „langen 18. Jahrhundert“ bildete sich ein neuer, die Staatenwelt beobachtender Diskurs heraus. Dieser Diskurs etablierte neue analytische Kategorien der Staatsbeobachtung, zugleich wirkte er mit diesen Kategorien auf die politischen Prozesse selbst ein. In diesem Band wird von der „Welt der Staaten“ gesprochen, um eine Perspektive auf das vorwiegend außenpolitische Handeln politischer Akteure in der europäischen Fürstengesellschaft in der Zeit zwischen dem Spanischen Erbfolgekrieg und dem Ende der Sattelzeit, also bis in das nachrevolutionäre 19. Jahrhundert, zu beschreiben, eine Zeitspanne, die eine Epoche politischer wie begrifflicher Transformation darstellt.1 Eine solche staatszentrierte Perspektive wird zum einen in neueren Standardwerken zur Diplomatiegeschichte eingenommen. Konsultiert man in dieser Sache das gängige Handbuch der internationalen Beziehungen mit dem sprechenden Titel „Balance of Power und Pentarchie“,2 so befinde sich Europa im 18. Jahrhundert „auf der Suche nach einem neuen System“, um die Staatenbeziehungen in Europa zu regeln.3 Das Handbuch will die „Prinzipien der Staatenpolitik“ in den Blick nehmen.4 Als „Akteure des Systems“ benennt das Handbuch „Staaten, die in dieser oder jener Form die Staatenpolitik“ mitgestalteten oder zumindest davon betroffen waren.5 Zum anderen findet sich eine solche Perspektive auf die Welt der Staaten und deren Handeln bereits in der Literatur des 18. Jahrhunderts selbst, insbesondere in der „Staatsklugheitslehre“. Historiker und Juristen des 18. Jahrhun-
|| 1 Vgl. zur Sattelzeit neuerdings Elisabeth Décultot u. Daniel Fulda (Hg.): Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen. Berlin u. Boston 2016. 2 Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785. Paderborn u.a. 1997 (= Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen Bd. 4). 3 Ebd., S. XIII. 4 Ebd., S. XV. 5 Ebd., S. XVI. https://doi.org/10.1515/9783110735734-001
2 | Andreas Pečar und Thomas Biskup derts benutzten den Begriff des Staates als Deutungs- und Klassifikationsbegriff, um die zeitgenössische Politik zu erklären und ihre rationalen Grundlagen offenzulegen. In diesen Werken über den politischen Zustand Europas und dessen historische Entwicklung wird der Versuch erkennbar, die Abfolge von Kriegen und Konflikten dadurch zu rationalisieren, also verstehbar und auch für die Zukunft vorhersehbar zu machen, dass man sie entpersonalisierte und auf abstrakte Größen zurückführte: vor allem auf Fragen der geografischen Lage, der politischen Verfassung und Gesetze eines Landes, der Bevölkerungsgröße und wirtschaftlichen Situation, der internationalen Verträge in Europa, der historischen Entwicklung. Aus diesen Kriterien wurde dann das vermeintlich objektive Interesse der Staaten und Mächte abgeleitet und damit nicht nur deren Außenpolitik der Vergangenheit erklärt, sondern auch jene der Zukunft prognostiziert. Von Staatensystem ist im 18. Jahrhundert also vorwiegend in einem Diskurs die Rede, der sich der Politica Prudentia, der Staatsklugheitslehre, zurechnen lässt: einer Verhaltenslehre, in der die Fähigkeit zu klugen politischen Entscheidungen für die Zukunft anhand von Erfahrungen und Kenntnissen aus der Vergangenheit und der Gegenwart vermittelt werden soll.6 Die Entpersonalisierung der Politik im Prudentismus – weg von den einzelnen Akteuren hin zu einer überschaubaren Zahl von europäischen Mächten oder Staaten – trug vor allem dazu bei, die Komplexität des politisch erwartbaren Handelns drastisch zu reduzieren und damit Vorhersagen möglich zu machen. Es bedurfte keiner Psychogramme der Mitglieder aller europäischen Dynastien und deren jeweiliger Ratgeber mehr, um die Leitlinien der zukünftigen Politik in Europa zu erahnen, sondern nur eines Überblicks über einige wenige, statistisch erfassbare Kennzahlen, die das Interesse der Staaten erkennen lassen, um damit, so die Logik des Prudentismus, auch die Politik dieser Staaten vorhersagbar zu machen.7 Der hallische Professor für Geschichte (und später für Natur- und Völkerrecht) Nikolaus Hieronymus Gundling lieferte mit seinem
|| 6 Vgl. Harm Klueting: Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der „politischen Wissenschaft“ und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert. Berlin 1986. 7 Vgl. zu unterschiedlichen Spielarten politischer Abstraktionsbemühungen Lars Behrisch: Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2006; Justus Nipperdey: Die Erfindung der Bevölkerungspolitik. Staat, politische Theorie und Population in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2012. Ders.: „Intelligenz“ und „Staatsbrille“: Das Ideal der vollkommenen Information in ökonomischen Traktaten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. In: Arndt Brendecke, Markus Friedrich u. Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Münster 2008, S. 277– 299.
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„Collegium über den jetzigen Zustand von Europa“ von 1712 ein typisches Beispiel für diese Art der Staats- und Politikbetrachtung.8 Hier wird somit jene Verlagerung der Akteursanalyse von handelnden Personen auf staatliche Entitäten fassbar, welche die Geschichte der internationalen Beziehungen bis in die Gegenwart prägt. Nun lässt sich mit guten Gründen kritisieren, dass man die sozialen und politischen Beziehungen zwischen den Herrschern und den Dynastien Europas im Ancien Régime als Staatenbeziehungen benennt.9 Zum einen war der „moderne Staat“, wie er von Georg Jellinek und in der neueren Forschung auch von Wolfgang Reinhard definiert wurde als „Einheit von Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet“, im Europa des 17. und 18. Jahrhundert allenfalls im Entstehen begriffen, aber keineswegs bereits Realität.10 Zum anderen ist der Staat auch in unserer heutigen Gegenwart ein Abstraktum, aber kein handelnder Akteur. Handeln können stets nur Personen, die sich auf den Staat berufen, ihre Kompetenzen von dessen Existenz ableiten und daraus Legitimation für eigenes Handeln beziehen. Und schließlich wird in der modernen Diplomatiegeschichte zu Recht betont, dass die Akteure auf der diplomatischen Bühne, also insbesondere die Gesandten der europäischen Monarchen, keineswegs unseren Vorstellungen von Diplomaten entsprechen, wie wir sie aus dem 19. und 20. Jahrhundert kennen.11 Im vorliegenden Sammelband geht es uns nicht darum, die Kategorien Staat und Staatensystem als analytische Kategorien zu diskutieren. Vielmehr wollen wir danach fragen, inwiefern diese Kategorien im gelehrten wie im öffentlichen Diskurs im 18. Jahrhundert aufgekommen sind, und welche spezifische Wahrnehmung und Bewertung politischen Handelns mit diesen Begriffen jeweils korrespondierte.
|| 8 Nikolaus Hieronymus Gundling: Ein Collegium über den jetzigen Zustand von Europa […]. Halle (Saale) 1712. 9 Vgl. hierzu Andreas Pečar: Der Westfälische Frieden als Beginn der modernen europäischen Staatenordnung? In: Wolfgang Behringer, Wolfgang Kraus u. Heinrich Schlange-Schöningen (Hg.): Der Friedensauftrag Europas. Münster 2017, S. 115–138. 10 Vgl. Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, S. 16; Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre. [3. Aufl. ND Darmstadt 1959], S. 394–434; Zu Staatlichkeit im 18. Jahrhundert weiterhin wichtig: John Brewer u. Eckhart Hellmuth (Hg.): Rethinking Leviathan. The eighteenth-century state in Britain and Germany. Oxford 1999. 11 Hillard von Thiessen: Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens. In: Hillard von Thiessen u. Christian Windler (Hg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln 2010, S. 471–503.
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2 „Aufstieg“ und „Fall“: „Naturgesetze“ der Staatenwelt? Am aufkommenden Diskurs von einer Welt miteinander konkurrierender Staaten und Mächte im 18. Jahrhundert beteiligten sich neben Universitätsgelehrten der Fächer Geschichte und Staats- und Völkerrecht zahlreiche weitere Autoren, von denen sich viele auch als „Aufklärer“ einen Namen machten. Diese Autoren verband ein gemeinsames Interesse daran, über die Erfassung der Konjunkturen der europäischen Politik und der Beobachtung einzelner Staaten in Europa ebenso wie in der außereuropäischen Welt die Ursachen für politischen Erfolg oder Scheitern zu ergründen. Der kategoriale Unterschied zwischen der neu aufkommenden Staatsklugheitslehre und damit korrespondierender Schriften und den traditionellen Fürstenspiegeln bestand erstens in einer Entmoralisierung des politischen Diskurses und zweitens in einer Verschiebung der Analyseebene von individuellem Handeln zu universalen Gesetzmäßigkeiten. Zum einen zeigten die Autoren des 18. Jahrhunderts, dass über Erfolg oder Misserfolg nicht mehr ausschließlich oder auch nur vorwiegend das Handeln einzelner Herrscher und ihre Übereinstimmung mit moralischen Normen entschied. Zum anderen zielte das Interesse der Autoren weniger auf Handlungsmaximen für einzelne Akteure, z.B. die jeweiligen Herrscher oder deren Amtsträger, als vielmehr auf verallgemeinerbare Grundsätze, auf Gesetzmäßigkeiten, die für Erfolg oder Misserfolg als Ursache benannt werden konnten. Die Geschichte bot eine Vielzahl von Untersuchungsbeispielen, um daraus allgemeine „Naturgesetze“ des Auf- bzw. des Abstiegs von Staaten abzuleiten. Wenn sich Autoren wie Montesquieu und Gibbon mit großem Aufwand dem Aufstieg und Fall der römischen Republik bzw. des Römischen Reiches zuwandten, dann taten sie dies nicht als Historiker, um spezifische zeit- und kontextgebundene Ursachen herauszustellen, sondern sie taten dies in der Hoffnung, anhand des römischen Beispiels allgemeingültige Aussagen über die Kriterien von „Aufstieg“ und „Niedergang“ von Staaten und Reichen zu gewinnen.12 Hier zeigt sich die Nähe der aufgeklärten Historiographie zur Naturgeschichte. Dem Versuch der Naturgeschichte, die gesamte be-
|| 12 Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et Montesquieu: Größe und Niedergang Roms. Übersetzt und herausgegeben von Lothar Schuckert. Frankfurt a.M. 1980; Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. 6 Bde. London 1776–88; vgl. hierzu auch John G. A. Pocock: Barbarism and Religion. 4 Bde. Cambridge 2005, hier Bd. 4, S. 331–339.
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lebte Welt in immer neuen Taxonomien zu erfassen und zu systematisieren, entsprach das Bemühen der Staatenkunde, die politische Welt über immer weiter ausgreifende Ordnungsmuster in ihrer Komplexität zu durchdringen und Daten zu ihrer Reflexion und „rationalen“ Neugestaltung bereitzustellen.13 Bemerkenswerterweise ist auch diese spezifische Perspektive von Autoren des 18. Jahrhunderts auf die Welt der Staaten bis in die Gegenwart lebendig geblieben. 1987 veröffentlichte Paul Kennedy seinen internationalen (und auch ins Deutsche übersetzten) Bestseller „The Rise and Fall of the Great Powers“.14 Darin stellt er die Geschichte der internationalen Beziehungen zwischen 1500 und 2000 als eine Abfolge von Hegelmonialmachtbildungen dar, die stets demselben Muster folgten, gleich, ob es sich um das Haus Habsburg im 16. Jahrhundert oder die USA im 20. Jahrhundert handelte: Aufgrund ökonomischer Potenz und militärischer Infrastruktur gelingt zunächst ein Aufstieg, der zu Überdehnung und Erschöpfung führt, deren Folge der Niedergang sei. Die bis ins 18. Jahrhundert selbst zurückzuverfolgenden Begriffe „Rise and Fall“ bilden bis heute in der Geschichte der internationalen Beziehungen in der Frühen Neuzeit gängige Größen der Kategorisierung und Beschreibung, obwohl – oder vielleicht weil? – das dieser Begrifflichkeit zugrundeliegende organische Prinzip einen gleichsam natürlichen Prozess suggeriert, der genauerer Erklärung gar nicht bedarf. Ein neueres Übersichtswerk zur Geschichte der internationalen Beziehungen etwa ordnet die Akteure der Außenpolitik im 18. Jahrhundert kapitelweise den Kategorien Großmächte und „Aufsteiger“, „Absteiger“, Schwellenländer und Randfiguren im europäischen Staatensystem zu.15 Die Kriterien dieser und ähnlicher Aufstellungen werden zwar nicht diskutiert, impliziert wird jedoch wie in vielen ähnlich gelagerten Publikationen, dass das politische Gewicht der Staaten vorwiegend von ihrer militärischen Schlagkraft und politischen Hegemonie abhing. Seit Leopold von Rankes klassischem Aufsatz von 1833 über „Die Großmächte“ hat das 18. Jahrhundert im Mittelpunkt der Diskussionen um den „Aufstieg“ neuer Staaten gestanden.16 Die Geschichte der inter-
|| 13 Peter Hanns Reill: Die Historisierung von Natur und Mensch. Der Zusammenhang von Naturwissenschaften und historischem Denken im Entstehungsprozess der modernen Naturwissenschaften. In: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen u. Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs. 5 Bde. Frankfurt a.M. 1993–99, Bd. 2: Anfänge des modernen historischen Denkens, S. 48–61. 14 Paul Kennedy: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 2005. 15 Duchhardt: Balance of Power (wie Anm. 2). 16 Leopold von Ranke: Die großen Mächte. Politisches Gespräch. Hg. von Ulrich Muhlack. Frankfurt a.M. 1988; Zu Ranke als Vertreter des „klassischen“ Historismus: Daniel Fulda:
6 | Andreas Pečar und Thomas Biskup nationalen Beziehungen im 18. Jahrhundert wird bis in die Gegenwart dominiert von der Herausbildung der von Frankreich, Österreich, Großbritannien, Preußen und Russland gebildeten „Pentarchie“ und den sie begleitenden Konflikten.17 So gilt die Politik der „großen Mächte“ geradezu als Inbegriff jener traditionellen Historiographie, welche seit den 1960er Jahren von unterschiedlicher Seite angegriffen und zum beträchtlichen Teil abgelöst worden ist.
3 Klassifikationen der Staatenwelt im 18. Jahrhundert Versteht man die Konjunkturen der Staatenwelt nicht als Folge von epochenübergreifend gültigen, gleichsam naturgegebenen Kausalursachen, sondern die Bewertungen selbst als zeitspezifische, soziale Konstruktionen zur Beschreibung und Bewertung von politischem Handeln, so ergibt sich eine Reihe weiterer Fragen. Zunächst wäre zu fragen, welche Kriterien in den Schriften des 18. Jahrhunderts herangezogen wurden, um den Erfolg bzw. Misserfolg der europäischen Fürsten und ihrer Territorien zu bestimmen. Fünf Kriterien scheinen uns dabei besonders bedeutsam zu sein: Erstens spielte auch im 18. Jahrhundert der Rang eines Fürsten bzw. einer Dynastie innerhalb der Fürstengesellschaft eine besonders herausgehobene Rolle. Neben den Jahren um 1700, als eine Reihe deutscher und italienischer Häuser ihren Souveränitätsanspruch mit dem Erwerb von Königskronen zu untermauern suchten, lassen sich die anderthalb Jahrzehnte napeoleonischer Dominanz nach 1800 als eine zweite Phase besonderer rangpolitischer Dynamik fassen, in denen auch alte deutsche Dynastien ihre Ansprüche auf Rangerhöhung einlösten.18 Zweitens wäre das Alter einer Dynastie zu nennen, ihre durch biologische Reproduktion (und deren mediale Vermittlung) gesicherte Kontinuität, die in Vergangenheit und Gegenwart ermöglichten Heiratsverbindungen sowie die || Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760– 1860. Berlin u. New York 1996, S. 344–410. 17 Paul Schroeder: The Transformation of European politics, 1787–1848. Oxford 1994. 18 Die „Jagd nach Kronen“ um 1700 ist in der jüngeren Forschung ausführlich untersucht worden. Siehe u.a. jüngst: Karin Friedrich u. Sara Smart: The cultivation of monarchy and the rise of Berlin. Farnham 2010; Zu Napoleons europäischer Monarchiepolitik: Philip Dwyer (Hg.): Napoleon and Europe. Harlow 2001; Zum paradigmatischen Fall Bayern siehe: Alois Schmid (Hg.): 1806. Bayern wird Königreich. Vorgeschichte, Inszenierung, europäischer Rahmen. Regensburg 2006.
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Herrschaftstitel, die die Familie bzw. deren Mitglieder in zurückliegenden Generationen innegehabt hatten.19 Dank des Anciennitätsprinzips konnte sich etwa die Wolfenbütteler Linie des Hauses Braunschweig-Lüneburg immer wieder als Partner für Heiratsverbindungen mit Königs- und Kaiserhäusern ins Spiel bringen, obwohl sie rang- und machtpolitisch gesehen zu den Verlierern des dynastischen Wettlaufs im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert gehörte.20 Umgekehrt konnten Familien durch Ämterbesitz auch einen höheren Adelsrang erlangen, so etwa die Schönborns, die durch das Besetzen reichskirchlicher Ämter innerhalb weniger Jahrzehnte von Reichsrittern zu Reichsgrafen wurden (und 1716 beinahe auch gleich zu Reichsfürsten).21 Drittens war auch die Attraktivität und Integrationskraft des Hofes für das Prestige innerhalb der Fürstengesellschaft wichtig. Die Attraktivität eines Hofes für auswärtigen Adel hing dabei sowohl vom auch von Zeitgenossen häufig erwähnten, aber schwer messbaren „Glanz“ eines Hofes ab, der sich in dessen „Solennitäten“ niederschlug, im Opern- und Musikbetrieb, in Jagden und in Festen, sowie in dessen Attraktivität für Familien des hohen Adels, dort Karriere zu machen, Ämter zu bekleiden und in sichtbare Positionen zu gelangen. Gemessen an diesen Kriterien blieb der Kaiserhof in Wien im gesamten 18. Jahrhundert gegenüber dem Berliner Hof im Vorteil.22 Jenseits dynastischer Traditionen und höfischer Strukturen spielten viertens auch die „Images“ individueller Herrscher eine bedeutende Rolle für deren Sichtbarkeit und damit auch für deren Erfolg. Diese wurden nicht nur von anderen Höfen, sondern von einer Vielzahl von Akteuren beobachtet und in Medien kommuniziert, die von diplomatischen Berichten bis zu den im Lauf des 18. Jahrhunderts ihre Anzahl, Reichweite und Auflage stets vergrößernden Peri-
|| 19 Zur hiermit eng verbundenen Genealogie siehe: Volker Bauer: Wurzel, Stamm, Krone. Fürstliche Genealogie in frühneuzeitlichen Druckwerken, Ausstellung der Herzog-AugustBibliothek Wolfenbüttel vom 1. September 2013 bis zum 23. Februar 2014. Wiesbaden 2013. 20 Christof Römer: Braunschweig-Bevern. Ein Fürstenhaus als europäische Dynastie 1667– 1884. Braunschweig 1997. 21 Sylvia Schraut: Das Haus Schönborn. Eine Familienbiographie. Katholischer Reichsadel 1640–1840. Paderborn 2005. 22 Andreas Pečar: Der Berliner Hof im Kontext der europäischen Fürstenhöfe. Überlegungen zur Funktionalität fürstlicher Hofhaltung. In: 450 Jahre Staatskapelle Berlin – eine Bestandsaufnahme. Hg. v. Lena van der Hoven (2016) Link: https://www.perspectivia.net/ publikationen/kultgep-colloquien/3/pecar_fuerstenhoefe (zuletzt abgerufen am 26.12.2018).
8 | Andreas Pečar und Thomas Biskup odika reichten (die vielzitierte quantitative Ausdehnung und qualitative Veränderung „der Öffentlichkeit“).23 Fünftens schließlich ist die militärische Schlagkraft zu nennen. Im „langen“ 18. Jahrhundert, das mit den Kriegen Ludwigs XIV. begann, durch Erbfolgekriege, Siebenjährigen Krieg und koloniale Konflikte strukturiert wurde und mit Revolutions- und napoleonischen Kriegen endete, entschied die Fähigkeit eines Staates, Truppenkontingente in entscheidungsrelevanter Zahl aufzustellen und auszubilden, nicht zuletzt über seine Allianzfähigkeit und konnte sich für Herrscherhäuser finanziell wie in rangpolitischer Münze auszahlen. Die Verbindung von preußischem Kronerwerb und militärischer Unterstützung der antifranzösischen Allianz im Spanischen Erbfolgekrieg ist bekannt, während eine Reihe deutscher Reichsstände über Subsidienverträge mit größeren Mächten finanziellen Gewinn (und ggf. politischen Einfluss) erstrebten.24 Insbesondere die vier erstgenannten Kategorien zur Feststellung von Größe, Prestige und Erfolg waren in der europäischen Fürstengesellschaft bereits seit langer Zeit etabliert. Die auch über zahlenmäßige Erfassung immer genauer definierte Messung der militärischen Schlagkraft deutet an, dass neben diese Kriterien im Laufe des 18. Jahrhunderts weitere traten: die Einwohnerzahl und die Bevölkerungsdichte etwa, die damit eng verknüpfte Wirtschaftsleistung eines Landes, die Finanz- und Steuerkraft, das Regierungssystem und der damit verbundene Grad an Freiheit der Untertanen oder die Förderung, die die Landesherrn den Wissenschaften und Künsten angedeihen ließen – all diese Kriterien wurden in der öffentlichen Debatte darüber angeführt, welche Länder als besonders lebenswert galten, welche Herrscher als fortschrittlich und aufgeklärt gepriesen werden sollten und welche Staaten als rückständig ausgemacht wurden. An dieser keineswegs vollständigen Auflistung der vielfältigen Kriterien, anhand derer der Erfolg bzw. der Misserfolg von Herrschern und Territorien bestimmt wurde, zeigt sich bereits, dass sich für das 18. Jahrhundert eine ausge-
|| 23 Dazu jüngst: Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie. 3. Aufl. München 2017. Systematisch untersucht für das England des 16. und 17. Jahrhundert hat dies Kevin Sharpe: Selling the Tudor Monarchy. Authority and Image in Sixteenth-Century England. New Haven u. London 2009; Ders.: Image Wars. Promoting Kings and Commonwealths in England, 1603–1660. New Haven u. London 2010; Ders.: Rebranding Rule. The Restoration and Revolution Monarchy, 1660–1714. New Haven u. London 2013; Klassisch immer noch Peter Burke: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Berlin 1993. 24 Peter Wilson: The German “Soldier Trade” of the Seventeenth and Eighteenth Centuries. A Reassessment. In: International History Review 18 (1996), S. 757–792.
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sprochene Normenpluralität, aber auch eine damit einhergehende Normenkonkurrenz feststellen lässt.25 Es gab nicht nur keine Einigkeit darüber, welche Staaten bzw. Herrscher als besonders erfolgreich und vorbildlich zu gelten hatten und welche nicht, man war sich auch nicht einig darüber, welche Kriterien man zur Beurteilung dieser Frage überhaupt verwenden sollte. In Geschichtsschreibung, Kameralwissenschaft, Zeremonialwissenschaft, Staatsrecht und Völkerrecht, in politischer Klugheitsliteratur und in den Gazetten und Journalen wurde darüber räsoniert, nach welchen Kriterien sich politischer Erfolg messen und klassifizieren lässt und welche Handlungsempfehlungen sich für die Akteure daraus ergeben. Gerade diese Vielstimmigkeit der Urteilskriterien macht in unseren Augen die öffentliche Debatte über Erfolg und Misserfolg von Staaten und Herrschern im 18. Jahrhundert aus. Dieser Pluralität der Positionen gilt es in diesem Sammelband Rechnung zu tragen und exemplarisch darzulegen, welche Personen sich an dieser Debatte beteiligten, welche Positionen dabei jeweils eingenommen wurden und welche Geltungsansprüche und Strategien mit diesen Urteilen jeweils verknüpft waren. In den Beiträgen des Bandes geht es darum, Begrifflichkeiten zu untersuchen, in denen politischer Erfolg gefasst, und „Leitwährungen“ herauszuarbeiten, an denen er gemessen wurde. Ältere wie neuere Kategorien waren dabei nicht unveränderbare Einheiten, deren Verhältnis zueinander nur neu gewichtet wurde, sondern sie unterlagen stets selbst diskursiven und performativen Veränderungen. Ziel ist es, erstens die Vielgestaltigkeit der Kategorien zur Bestimmung bzw. zur Behauptung von Größe und Erfolg exemplarisch aufzuzeigen und danach zu fragen, welche Akteure jeweils solche Bewertungen vornahmen und welcher Medien sie sich dabei jeweils bedienten. Zweitens wird der Wandel der Bewertungsmaßstäbe im 18. Jahrhundert Gegenstand der Diskussion sein und gefragt werden, welche Aspekte bei der Taxonomie von Größe und Erfolg hinzukamen, welche an Bedeutung verloren und welche bedeutsam blieben. Drittens wird nach den Anlässen und Medien gefragt, in denen die Frage von „Erfolg“ verhandelt wird.
|| 25 Zum Begriff vgl. Hillard von Thiessen u. Arne Karsten (Hg.): Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. Berlin 2015.
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4 Die Beiträge des Bandes André Krischer widmet sich für das ausgehende 18. und das frühe 19. Jahrhundert der Frage, inwiefern in dieser Zeit Rangstreitigkeiten ihre Bedeutung einbüßten und Fragen des Zeremoniells als rein äußerliche Nichtigkeiten eingestuft wurden. Krischer führt sowohl anhand von Beispielen des englischen KöKönigshofs zur Zeit Georgs III. als auch anhand der Verhandlungen auf dem Wiener Kongress anschaulich vor, wie die Rangfolge unter den Souveränen bzw. auf dem Wiener Kongress unter den Fürsten strittig blieb und Diskussionen auslöste. Es wird auch ersichtlich, wie in dieser Zeit neue ranggenerierende Kriterien wie die Größe eines Territoriums bzw. dessen Bevölkerungszahl Einzug hielten, zugleich aber unklar blieb, wie sich diese neuen Kriterien zu den älteren Rangkriterien verhielten. Auch in Handbüchern zur Statistik bzw. zum Völkerrecht lässt sich für das 19. Jahrhundert kein Verschwinden rangpolitischer Kriterien feststellen, sondern vielmehr ein Nebeneinander von älteren und neueren Kriterien konstatieren. Hamish Scott schließt an Krischers Fragestellung an mit einem Beitrag über „The resilience of diplomatic culture and the ‚Sattelzeit‘“. Scott nimmt insbesondere die diplomatischen Akteure selbst in den Blick, also die Gesandten der europäischen Monarchen. Für das 18. Jahrhundert konstatiert er die Herausbildung einer bemerkenswert einheitlich sozialisierten Gruppe von Gesandten, die untereinander auf Französisch kommunizierten, dieselbe höfische Sozialisation durchliefen, aus zumeist adeligen Familien stammten und demselben Milieu zugehörig waren, unabhängig davon, für welchen Monarchen und welches Land sie ihren diplomatischen Dienst verrichteten. Selbst die Französische Revolution stellte für die Erfolgsgeschichte dieses Gesandtentypus einen nur kurzzeitigen Bruch dar. Betont man für das 18. Jahrhundert das Aufkommen neuer Kategorien zur Beurteilung politischen Erfolgs und staatlicher Größe, so blieb das Personal, das die Größe des eigenen Landesherrn auf der diplomatischen Bühne zu repräsentieren hatte, von solchen Debatten und Neuerungen weitgehend unberührt, ebenso wie auch die Praxis des diplomatischen Austauschs. Volker Bauer widmet sich dem neuen Interesse an einer vergleichenden Staatenkunde anhand eines verlegerischen Mammutunternehmens: der Staatenkunden des Verlagshauses Renger in Halle. In insgesamt 40 Bänden über die Staaten in Europa und weiteren 15 Bänden über außereuropäische Staaten erhält der Leser Einblicke in deren geografische Lage, Bevölkerungsstruktur, Regierungsweise sowie weitere politische und ökonomische Besonderheiten. Treibende Kraft hinter dieser Serie an Staatenbeschreibungen war nicht ein einzelner Autor, sondern ein Verleger, der auf diesem Feld offenbar großes
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Interesse seitens einer breiteren Leserschaft und damit Verkaufschancen witterte – und dafür Personen aus dem Umfeld der Universität Halle als anonyme Autoren anheuerte. Dass in den Einzelbänden der Staat als eine eigenständige politische Größe neben dem jeweils regierenden Herrscher gedacht wird, zeigt sich insbesondere an denjenigen Bänden beispielsweise zu Bayern oder zu Frankreich, in denen den Herrschern – Maximilian Emanuel von Bayern bzw. Ludwig XIV. – jeweils vorgeworfen wird, die Staatsräson zugunsten ihres „Privatinteresses“ verletzt zu haben. Zugleich absorbierte die Darstellung der dynastischen Verhältnisse sowie der regierenden Fürsten fast die gesamte Aufmerksamkeit, blieb der Fokus noch beinahe gänzlich gerichtet auf die Spitze der ständischen Gesellschaft der dargestellten Länder. Lars Behrisch lässt in seinem Beitrag erkennen, wie sich die Beschreibungskategorien im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend verschoben. Ökonomische Parameter spielten bei der Beschreibung wie der Bewertung des Erfolgs von Staaten und Ländern eine immer größere Rolle – die Steigerung staatlicher Ressourcen und der Effizienz seiner Institutionen (vor allem der Rechtsprechung) ebenso wie demographisches Wachstum galten als Schlüsselkategorien, um die Glückseligkeit der Untertanen zu vermessen. In allgemein zugänglichen Veröffentlichungen hielten nun Zahlen Einzug, in denen sich die Leistungskraft der Staaten abbildete. Diese Zahlen dienten den Herrschern zum einen als Legitimation ihres vorausschauenden Handelns zum Wohle der Untertanen. Zum anderen konnten sie nun aber auch in der öffentlichen Meinung an diesen Zahlen gemessen werden. Vor allem die Frage des Bevölkerungswachstums – oder der Verdacht einer schrumpfenden Bevölkerung – galt als Parameter für erfolgreiche oder aber misslingende Politik. Andreas Pečar nimmt insbesondere die französischen philosophes des 18. Jahrhunderts in den Blick und geht der Frage nach, welche Kriterien diese Autoren an die europäischen Staaten und Herrscher anlegten, um über deren Erfolg bzw. Misserfolg Urteile zu fällen. Dabei spielte, wie er darlegen kann, insbesondere die Vorstellung einer Fortschrittsgeschichte der Menschheit eine zentrale Rolle. Dieser Fortschritt verdanke sich, so die philosophes, insbesondere dem Zuwachs an Kenntnissen und Fertigkeiten, sei also vor allem eine Folge der Förderung der Wissenschaften und Künste. Als erfolgreich werden also diejenigen Herrscher und Staaten herausgestellt, denen die philosophes eine Blüte der Wissenschaften und Künste attestierten, wie dies beispielsweise Voltaire insbesondere für Frankreich unter dem Regiment Ludwigs XIV. herausstellte. Das Ranking der europäischen Mächte auf einer Fortschrittsskala der Menschheitsgeschichte seitens aufgeklärter Autoren fand europaweit Aufmerksamkeit und führte insbesondere für Länder, die darin schlecht abschnitten
12 | Andreas Pečar und Thomas Biskup (wie z.B. Spanien), durchaus zu politischen Anstrengungen, um das eigene Image in der politischen Öffentlichkeit zu korrigieren. In einem letzten Abschnitt zeigt Pečar dann am Beispiel der Propagierung der ersten Teilung Polens die politischen Folgen auf, die der Fortschrittsdiskurs für die Souveränität und die politische Selbstbestimmung derjenigen Länder haben konnte, die im Fortschrittsranking als rückständig und als unaufgeklärt klassifiziert wurden, wie das bei Polen im ausgehenden 18. Jahrhundert oft der Fall war. Die Eroberung von rückständigen Staaten wie Polen war für Aufklärer wie Voltaire dann zu begrüßen, wenn diese Eroberung gewissermaßen als ‚Zivilisierungsmission‘ verstanden werden konnte. Genau in diesem Sinne versuchte Friedrich II. von Preußen die Einverleibung Westpreußens denn auch in seinen Schriften an die französischen philosophes zu verkaufen, und erhielt von dieser Adressatengruppe dafür den Applaus, den er gleichsam eingefordert hatte. Damien Tricoire untersucht mit einem argumentationsgeschichtlichen Ansatz den Diskurs über China in Schriften des 18. Jahrhunderts. Dabei greift er eine Debatte auf, die im Rahmen der Postcolonial Studies angestoßen wurde und diskutiert, inwiefern das Interesse von Aufklärern an der außereuropäischen Welt gleichsam den Weg geebnet habe zum Kolonialismus im 19. Jahrhundert. Jürgen Osterhammel etwa verneint, dass der politischen Aneignung eine geistige Aneignung vorausgegangen sei, und verweist darauf, dass nach einer lange Zeit kosmopolitischen Offenheit gegenüber China sich erst um 1800 eine hegemoniale Sichtweise durchzusetzen begonnen habe, welche China als fortschrittlose Despotie abqualifizierte. Ob sich von einer Entwicklung von der Sinophilie zur Sinophobie sprechen lässt, prüft Tricoire anhand einer exemplarischen Untersuchung von Schriften über China aus den Federn von Christian Wolff, Charles Secondat de Montesquieu, Voltaire, Cornelius de Pauws, Pierre Poivre und Denis Diderot, die er jeweils in ihre Entstehungskontexte einordnet. Dadurch vermag Tricoire zu zeigen, dass man im Chinadiskurs mitnichten einen klaren Trend ausmachen kann, sondern dass China bei den meisten Autoren nur als Argument genutzt wurde, um jeweils ganz unterschiedliche Ziele zu verfolgen. China selbst stand nicht im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses, vielmehr lieferten die Chinabilder nur geeignete Munition für unterschiedliche Debattenfelder. Auch wenn sich aus der Instrumentalisierung Chinas als Argument daher weder gültige Aussagen über den Kosmopolitismus noch über protoimperialistische Qualitäten der Aufklärung treffen lassen, wird deutlich, dass in den Debatten über Kategorisierungen und Hierarchisierungen von Staaten und Völkern auch China zur – positiven wie negativen – Referenz wurde.
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5 Die Staatenwelt im 18. Jahrhundert: Transformationen und Differenzierungen im Jahrhundert der Taxonomien Vergleicht man die europäische Staatenwelt und die jeweils zeitgenössischen Kategorien zu deren Beschreibung, Klassifizierung und Beurteilung für die Jahre 1648 und 1848, so treten die Unterschiede markant vor Augen. Die Beiträge dieses Sammelbandes bestreiten nicht den Wandel in der Klassifikation der Staatenwelt im Lauf des 18. Jahrhunderts und argumentieren auch nicht dafür, die Frühe Neuzeit einfach bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu verlängern. Vielmehr ist es Ziel des Bandes, allzu einfache Entwicklungsgeschichten von der Vormoderne in die Moderne zu hinterfragen und für eine differenziertere Betrachtung der Entwicklung der Staatenwelt und deren Klassifikation zu plädieren. So erweist Scotts Beitrag die Resilienz eines höfisch-adligen Milieus, aus dem sich das diplomatische Personal im 18. wie im 19. Jahrhundert rekrutierte, und dessen rechtliche Parameter wie soziale Regeln auch weiterhin in klassischen Handbüchern zu Diplomatie und Zeremoniell vermittelt wurden, die bereits aus der Zeit Ludwigs XIV. stammten. Ähnlich zeigt Krischers Aufsatz über die bis ins 19. Jahrhundert fassbare Rangproblematik in den zwischenstaatlichen Beziehungen, dass es trotz der neuen völkerrechtlichen Parität aller souveränen Staaten auf dem Wiener Kongress ein wichtiges Anliegen blieb, den Rang eines Monarchen in der Auflistung der Mitglieder des Deutschen Bundes angemessen zu repräsentieren. Zwar wurden hierfür nun auch neue statistische Beurteilungskriterien wie die Größe des Territoriums und die Einwohnerzahl herangezogen, aber ältere Kriterien wirkten fort – und zwar nicht nur bei den Diplomaten selbst, sondern ebenso auch bei jenen Völkerrechtlern und Staatswissenschaftlern des 19. Jahrhunderts, deren Werke gern als Beleg zur endgültigen Überwindung „vormoderner“ Normen herangezogen werden. Tricoire schließlich weist in seinem Beitrag eine weitere teleologische Entwicklungsgeschichte zurück, indem er nachweist, dass sich das Chinabild im 18. Jahrhunderts keineswegs einfach von Sinophilie zu Sinophobie entwickelte. Vielmehr standen als positiv und negativ gewertete Aspekte in den meisten Beiträgen über China unverbunden nebeneinander, und an dieser Pluralität änderte sich wenig im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Von der Skepsis gegenüber leicht greifbaren Entwicklungsgeschichten unbenommen ist die Tatsache, dass im Laufe des 18. Jahrhunderts neue Klassifika-
14 | Andreas Pečar und Thomas Biskup tionskategorien an Gewicht gewannen: neben territorialer Größe, finanziellen Ressourcen und militärischer Truppenstärke ging es auch um „Ökonomie“ im weiteren Sinne, um „Gemeinwohl“, um die „Fortschrittlichkeit“ von Staaten und Herrschern, die nun auch anhand von statistischen Größen wie der Bevölkerungszahl und -dichte gemessen wurde. Gerade die neuen statistischen Methoden wurden von den Regierungen im Sinne einer systematischen Ressourcenerfassung zur Effizienzsteigerung und Steuermaximierung eingesetzt. Zugleich boten die neuen Kategorien den handelnden Akteuren – Monarchen und Fürsten ebenso wie Amtsträgern – Anreize, ihr Handeln den neuen Kriterien gegenüber anzupassen und zu modifizieren, um so neue Legitimationsstrategien zu entwickeln. Die Rezeption von sich „aufgeklärt“ gebenden Fürsten in der Öffentlichkeit und ihr Bild in aufgeklärten Journalen zeigt, dass ein neuer Habitus, die Aktualisierung monarchischer Patronagepraktiken im Zeitalter der Aufklärung und eine offen gezeigte Reformbereitschaft eine zunehmende Rolle für die öffentliche Bewertung staatlichen Handelns spielten. Die Normenvielfalt des 18. Jahrhunderts scheint dabei gerade auch den „mindermächtigen“ Fürsten neue Möglichkeiten eröffnet zu haben. Lars Behrisch betont im Zusammenhang mit der Genese der Statistik und der mit ihr einhergehenden politischen Maßnahmen zur „Landesverbesserung“, dass sich hier insbesondere einige kleinere Reichsstände auszuzeichnen und als Vorreiter in neue Fortschrittsdiskurse einzuschreiben versuchten. Aber auch die jüngst wieder vermehrt diskutierte „Kulturpolitik“ etwa des Weimarer Hofes oder die Bemühungen des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau im Zusammenhang mit dem Ausbau seines Landschaftsgartens in Wörlitz stellten Maßnahmen dar, um im Gefüge von höfischer Politik und gedruckter öffentlicher Meinung Sichtbarkeit auf der politischen Bühne zu erlangen.26 Für die Epoche des „langen 18. Jahrhunderts“ ist daher in Bezug auf die Klassifizierung von Staaten nicht von klaren, eindeutig verlaufenden Entwicklungslinien auszugehen, sondern von einer besonderen Vielstimmigkeit von Kriterien und Argumenten, mit denen Staaten und deren Regierungen jeweils beurteilt wurden, mit einem Nebeneinander von traditionellen Kategorien wie zeremoniellem Rang, Vornehmheit und Alter der Dynastie etc. und neuen Urteilskriterien wie Fortschrittlichkeit oder der Bevölkerungszahl, deren Verhältnis zueinander weitgehend unbestimmt blieb und die daher immer wieder neu
|| 26 Stefanie Freyer: Der Weimarer Hof um 1800. Eine Sozialgeschichte jenseits des Mythos. München 2013; Andreas Pečar u. Holger Zaunstöck (Hg.): Politische Gartenkunst? Landschaftsgestaltung und Herrschaftsrepräsentation des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau in vergleichender Perspektive – Wörlitz, Sanssouci und Schwetzingen. Halle (Saale) 2015.
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in Bezug zueinander gesetzt werden konnten – bei diplomatischen Verhandlungen auf dem Wiener Kongress, von Gelehrten der Staatswissenschaften oder des Natur- und Völkerrechts, bei Herrschern wie Friedrich II. von Preußen, der sich die neuen Urteilsmaßstäbe der Aufklärer kreativ zunutze machte, um seine territoriale Expansion als wertegebundene Politik und nicht als Verstoß gegen das Völkerrecht zu verkaufen. Um diese Vielstimmigkeit angemessen zu beschreiben, sollte man sich daher in Studien zum 18. Jahrhundert nicht einfach auf den Nachvollzug des „Aufstiegs“ neuer Bewertungsmaßstäbe konzentrieren, und man sollte Vorsicht walten lassen, für das 18. Jahrhundert einfach die Ablösung älterer Kategorien zu postulieren.27 Nicht nur bestehen wesentliche Normen des vermeintlich nach 1789 untergegangenen „Alteuropa“ bis weit ins 19. Jahrhundert hinein weiter. Mehr noch ist neben dem Blick auf Kontinuitäten Vorsicht geboten, einen strukturellen Gegensatz zwischen „alten“ und „neuen“ Kriterien zu konstruieren und damit einen Kontrast zwischen Vormoderne und „rationaler“ Moderne, der wenigstens zum Teil auf das 18. Jahrhundert selbst zurückgeht. Denn ältere Kriterien wie Rang wurden eben nicht einfach von neueren wie statistisch begründeter (und damit vermeintlich „vernünftiger“) Machtbasis abgelöst. Die Forschung hat beispielsweise längst gezeigt, dass das Zeremoniell einer ganz eigenen Ratio folgte und ebenfalls von Statistik und quantifizierenden Methoden geprägt war, die in der Zeremonialwissenschaft auch einen eigenen wissenschaftlichen Niederschlag fanden: Die Souveränität des Monarchen und der Rang des Fürsten wurden ausgedrückt in der Zahl der zu erklimmenden Stufen, in der Zahl der Pferde bei der Bespannung einer Kutsche, in der Größe des zu durchmessenden Raumes, und so weiter.28 Es geht also um Taxonomien der „Würde“, die in unterschiedlichen Bereichen angewandt werden und im Laufe des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt in einer bemerkenswerten Analogie von Staatenund Naturgeschichte weiterentwickelt und ausdifferenziert werden.29 Die von der Wissenschaftsgeschichte herausgestellte zentrale Bedeutung von Klassifikationssystemen in politischen wie historischen, naturhistorischen wie ästheti|| 27 Vgl. zu einer solchen skeptischen Perspektive auch Daniel Fulda: Sattelzeit. Karriere und Problematik eines kulturwissenschaftlichen Zentralbegriffs. In: Décultot u. Fulda: Sattelzeit (wie Anm. 1), S. 1–16, hier S. 7–11. 28 Miloš Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. Frankfurt a.M. 1998. 29 Vgl. zu Linnés umfassender naturhistorischer Taxonomie Staffan Müller-Wille: Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707–78). Berlin 1999.
16 | Andreas Pečar und Thomas Biskup schen Diskursen lässt das 18. Jahrhundert als Säkulum der Taxonomie erscheinen, in dem immer wieder neue Versuche zur „Ordnung“ der Welt unternommen wurden. Die „Berechnung“ der Welt wurde dementsprechend auch auf Kulturwertung und literarische Kritik ausgedehnt, für die neue Methoden der „Rechnungsführung“ entwickelt wurden, etwa in der Frage der Zeitalterbegriffe und Fortschrittskonzepte. So überwand d’Alembert das letztlich an Herrscherpersonen gebundene Zeitaltermodell Voltaires, das im 17. Jahrhundert wurzelte, durch eine homogene Fortschrittskonzeption, derzufolge etwa der „Niedergang“ des klassischen französischen Dramas im 18. Jahrhundert durch den Aufschwung der Prosadichtung kompensiert wurde – die Bilanz für das Zeitalter der Aufklärung fiel dadurch positiv aus.30 In der Beobachtung der Staatenwelt konnte sich jedoch ebensowenig wie in Naturgeschichte oder Ästhetik ein einziges Klassifikationssystem durchsetzen. Vielmehr führte die Vielzahl der Taxonomien und Kriterien, die im Zeitalter der Aufklärung entwickelt wurden, nebeneinander traten und miteinander konkurrierten, bei allen Ansprüchen auf systematische Erfassung, Komplexitätsreduktion und letztgültige Wertigkeit zu einer Pluralisierung der Kriterien, die Beobachtern und Akteuren im politischen Bereich nicht zuletzt ein erweitertes Argumentationspotential in diplomatischen Verhandlungen wie öffentlichen Debatten zur Verfügung stellten. Nimmt man die zahlreichen verschiedenen Argumente insgesamt zur Kenntnis, mit denen im 18. Jahrhundert über die Bedeutung, den Rang, den Erfolg und die Fortschrittlichkeit von Staaten und Herrschern geurteilt und gestritten wurde, dann wird deutlich, dass die neuen Kategorien neben die traditionellen traten, diese modifizierten, und für alle beteiligten Akteure die Möglichkeiten vergrößerten, Stellung zu beziehen zu Erfolg und Misserfolg, Aufstieg und Niedergang, Fortschritt oder Rückschritt von Staaten und Herrschern.
|| 30 Heinz Thoma: Das französische Kulturmodell um 1800 im Spiegel der Querelle des Anciens et des Modernes. In: Lothar Ehrlich u. Georg Schmidt (Hg.): Ereignis Weimar – Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext. Köln, Weimar u. Wien 2008, S. 195–216, hier S. 204.
André Krischer (Münster)
Rang und Zeremoniell in diplomatischer Praxis und Theorie der Sattelzeit Die Beiträge dieses Bandes befassen sich mit jenen Medien, durch die in den Jahrzehnten vor und nach 1800 dynastisch-staatlicher Aufstieg und Abstieg beobachtet wurde, oder besser gesagt: mit denen die Vorstellungen hierarchischer Bewegungen für hochkomplexe politisch-soziale Gebilde diskursiv überhaupt erst darstellbar gemacht wurden. Gegenstand dieses Beitrags ist dabei die Evaluation von symbolischer Kommunikation, genauer die Frage, wie wichtig die Darstellung von staatlich-dynastischem Rang durch Ritual und Zeremoniell in dieser Zeit eigentlich noch war.1 In der Forschung herrscht die Annahme vor, dass sowohl die Kategorie Rang als auch ihre symbolischen Ausdrucksformen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts immer bedeutungsloser geworden waren.2 Entsprechend gibt es zu diesem Thema nur wenige systematische Vorarbeiten, und es sind daher auch nur Einzelbeobachtungen, die ich hier vorführen kann. Neuere Forschungen haben immerhin gezeigt, dass von einem pauschalen Bedeutungsverlust symbolischer Kommunikation in der Sattelzeit nicht die Rede sein kann. Monarchische Rituale wurden vielmehr so umcodiert, dass sie auch noch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts bestimmte Funktionen erfüllen konnten.3 Anstelle einer allgemeinen Krise des Zeremoniells oder einer linearen Bedeutungsabnahme symbolischer Kommuni-
|| 1 Zur Kultur des Rangs in der frühneuzeitlichen Gesellschaft grundlegend Thomas Weller: Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt: Leipzig 1500–1800. Darmstadt 2006; Barbara Stollberg-Rilinger: Logik und Semantik des Ranges in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt a.M. u. New York 2014, S. 97– 22. 2 Vgl. etwa Matthias Schnettger: Rang, Zeremoniell, Lehnssysteme. Hierarchische Elemente im europäischen Staatensystem der Frühen Neuzeit. In: Ronald G. Asch (Hg.): Die frühneuzeitliche Monarchie und ihr Erbe. Festschrift für Heinz Duchhardt zum 60. Geburtstag. Münster 2003, S. 179–195. 3 Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg. Paderborn 2000; Hubertus Büschel: Untertanenliebe. Der Kult um deutsche Monarchen 1770–1830. Göttingen 2006; Matthias Schwengelbeck: Die Politik des Zeremoniells. Huldigungsfeiern im langen 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2007; Verena Steller: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Handlungsformen in den deutsch-französischen Beziehungen 1870–1919. Paderborn 2011. https://doi.org/10.1515/9783110735734-002
18 | André Krischer kation kann man nach Thomas Biskup deswegen eher von einer „zeremoniellen Sattelzeit“ sprechen, einer Zeit der Um- und Neudeutung.4 Tatsächlich lassen sich für diese Zeit auch einige Indizien dafür zusammentragen, dass weiterhin mit der Kategorie des Rangs staatliche Auf- und Abwärtsbewegungen bzw. das „Halten“ erreichter Positionen konstruiert im Medium des Zeremoniells beobachtet wurden. Gleichzeitig kam aber in dieser Zeit auch ein neues Medium auf, vielleicht sogar eine neue politische Sprache: Die Statistik versprach, eine präzisere Messlatte zu sein. Ob damit allerdings schlicht eine Rationalisierung und Präzisierung der Beschreibungsmedien für staatlichen Erfolg verbunden war, ob man damit aus dem Reich der Symbole in das der Fakten tritt, bleibt zu diskutieren – wenn auch nicht in diesem Beitrag. Dieser wird zunächst Bedeutung und Funktion des diplomatischen Zeremoniells nach 1648 skizzieren. Der zweite Abschnitt trägt dann Beispiele für diplomatische Rangkonflikte aus dem späten 18. Jahrhundert zusammen, der dritte diskutiert den Wiener Kongress als Scharnier zwischen älteren und neueren Rangvorstellungen. Der vierte Abschnitt schließlich wirft ein Schlaglicht auf die Kategorie Rang in der völkerrechtlichen Literatur des 19. Jahrhunderts. Mit der Fokussierung von völkerrechtlichem Rang und diplomatischem Zeremoniell werden in diesem Beitrag andere Felder symbolischer Kommunikation notwendiger Weise außer Acht gelassen. Bekanntlich blieb Prachtentfaltung in der Sattelzeit (und letztlich bis heute) ein global verbreitetes Mittel, um staatlichen Erfolg und „Größe“ zu inszenieren. Im 19. Jahrhundert standen dafür nicht mehr allein höfische Medien zur Verfügung wie Theater, Feste oder Bälle,5 sondern auch Spektakel wie Weltausstellungen, die Einweihung von Eisenbahnverbindungen und Denkmälern oder die feierliche Eröffnung von Regierungsgebäuden und wissenschaftlichen Institutionen – und gewiss waren diese Spektakel selbst materialisierte Geltungsansprüche.6 Formen der Prachtentfal-
|| 4 Thomas Biskup: Zeremonielle Sattelzeit? Überlegungen zu einer Neuverortung der symbolischen Kommunikation am Ende der Frühen Neuzeit. In: Öffentliche Tagung des Interdisziplinären Zentrums zur Erforschung der Europäischen Aufklärung an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg und der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten BerlinBrandenburg im Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte vom 28.–29. September 2012. Hg. v. Jürgen Luh u. Andreas Pečar (Friedrich300–Colloquien, 8). URL: https:// perspectivia.net/publikationen/friedrich300-colloquien/friedrich_repraesentation/biskup_ sattelzeit 5 Thomas Biskup: Friedrichs Größe. Inszenierungen des Preußenkönigs in Fest und Zeremoniell 1740–1815. Frankfurt a.M. 2012. 6 Vgl. die Beiträge in Christine Vogel, Herbert Schneider u. Horst Carl (Hg.): Medienereignisse im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge einer interdisziplinären Tagung aus Anlass des 65. Ge-
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tung gehörten allerdings zu einer anderen Symbolsprache als Rang und Rangkonflikte. Schließlich wird es hier auch nicht um (stadt-)gesellschaftliche Rangverhältnisse und -konflikte gehen, deren Bedeutungsverlust Thomas Weller auf den Strukturwandel zur modernen Gesellschaft zurückgeführt hat.7
1 Das Zeremoniell als Indikator von Souveränität nach dem Westfälischen Frieden Der Diplomatie-Experte Abraham de Wicquefort erklärte 1682 in seinem Traktat über den Botschafter mustergültig, dass es kein vortrefflicheres Zeichen der Souveränität gebe, als Botschafter zu entsenden und zu empfangen. Auch in der Praxis war es im Laufe des 17. Jahrhunderts für bestimmte Fürsten zu einem erstrangigen politischen Ziel geworden, genau das zu tun. Es handelte sich dabei um jene Akteure, die zwar die notwendigen materiellen, territorialen und militärischen Ressourcen für einen souveränen Status mitbrachten, denen aber letztlich das entscheidende soziale Kriterium dafür fehlte, nämlich die Königskrone. Der Versuch, am Botschafterverkehr zu partizipieren, war im Falle der Fürsten aus dem Hause Lothringen8, Savoyen9, Hohenzollern10 oder Wittelsbach das Mittel der Wahl, um diese Souveränitätsansprüche anzumelden – mit (situativen) Erfolgen, aber ebenso auch mit Misserfolgen. Dabei kam es vor allem darauf an, Botschafter am eigenen Hof zu empfangen. Nach der preußischen Königskrönung war das Eintreffen von Botschaftern in Berlin daher geradezu der zeremonielle Schlussstein des Aufstiegs von der Kurfürsten- zur Königswürde.11 Allerdings unterschied sich der Botschafter von den niederrangigen Diplomatenklassen allein durch die zeremonielle Behandlung: Er sollte mit den glei-
|| burtstages von Rolf Reichardt. München 2009; Frank Bösch u. Patrick Schmidt (Hg.): Medialisierte Ereignisse. Performanz, Inszenierung und Medien seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2010. 7 Weller: Theatrum (wie Anm. 1), S. 392–398. 8 Zuletzt Charles T. Lipp: Noble strategies in an early modern small State. The Mahuet of Lorraine. Rochester (NY) 2011. 9 Toby Osborne: Dynasty and diplomacy in the court of Savoy. Political culture and the Thirty Years’ War. Cambridge 2007. 10 Barbara Stollberg-Rilinger: Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum. In: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N.F. 7 (1997), S. 145–176. 11 Ebd.
20 | André Krischer chen Ehren behandelt werden, als ob sein Prinzipal selbst zugegen wäre.12 Eben deswegen gestaltete sich der Botschafterverkehr aber auch als heikel: Ebenso selten wie Monarchenbegegnungen13 wurde auch das Auftreten von Botschaftern, weil dies immer wieder in Präzedenzkonflikte mündete. Denn anders als in der vernunftrechtlichen Theorie erachteten sich die souveränen Monarchien und Republiken des 17. und 18. Jahrhunderts nicht als gleichrangig. Die Vorstellung, dass es eine Rangfolge der Fürsten gab und der König von Frankreich dem König von Spanien und dieser dem von England und dieser dem von Polen voranging (wenn man sich denn persönlich getroffen hätte), prägte auch noch das Denken im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert.14 Das egalitäre Souveränitätsprinzip wurde also von der älteren Vorstellung durchkreuzt, wonach die Potentaten von unterschiedlicher sozialer Würdigkeit waren. Es war daher vor allem eine Frage der politischen Klugheit, seit dem Friedenskongress von Utrecht 1714 auf die Entsendung von Botschaftern und damit auf alle Verwirrung im Ceremoniel zu verzichten.15 Wenn die mit dem diplomatischen Geschäft beauftragten Gesandten zweiter und dritter Klasse (Envoyés und bevollmächtige Minister) in irgendeiner Weise brüskiert wurden, dann fiel dies, anders als beim Botschafter, nicht auf den jeweiligen Prinzipalen zurück. Ein zeitgenössischer Kupferstich zeigt, wie man in Utrecht immer noch mögliche Rangkonflikte dadurch zu vermeiden versuchte, dass man an runden Tischen verhandelte, die Symbolisierungen von Hierarchie kaum noch zuließen.16 Auf solche Weisen konnte man das Zeremoniell weitgehend beiseitesetzen, gerade weil man es für so wichtig hielt.
|| 12 Gottfried Stieve: Europäisches Hof-Ceremoniel […]. Leipzig 1723, S. 260; Miloš Vec: „Technische“ gegen „symbolische“ Verfahrensformen? Die Normierung und Ausdifferenzierung der Gesandtenränge nach der juristischen und politischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Vormoderne politische Verfahren. Berlin 2001, S. 559–588, hier S. 567. 13 Paulmann: Pomp und Politik (wie Anm. 3), S. 54 f. 14 Barbara Stollberg-Rilinger: Die Wissenschaft der feinen Unterschiede. Das Präzedenzrecht und die europäischen Monarchien vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Majestas 10 (2002), S. 125–150. 15 Johann Christian Lünig: Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum […]. Bd. 1. Leipzig 1719, S. 960. 16 Cornelia Manegold: Der Frieden von Rijswijk 1697. Zur medialen Präsenz und Performanz der Diplomatie in Friedensbildern des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Heinz Duchhardt (Hg.): Frieden übersetzen in der Vormoderne. Translationsleistungen in Diplomatie, Medien und Wissenschaft. Göttingen 2012, S. 157–193, S. 189 f.
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2 Zur Logik diplomatischer Rangkonflikte im späten 18. Jahrhundert Der weitgehende Verzicht auf die Entsendung von Botschaftern, deren Herabsetzung in Rang und Zeremoniell die europäischen Souveräne vermeiden wollten, scheint vor allem bei den Friedenskongressen üblich geworden zu sein (Soissons 1728/29, Aachen 1748),17 nicht aber im zwischenhöfischen Verkehr. Auf jeden Fall stößt man am Londoner Hof Georgs III. nicht nur auf Botschafter unterschiedlicher Herrscher, sondern findet diese 1769 auch in einen kuriosen Rangstreit verwickelt: Bei einem Hofball waren Bankreihen für die Botschafter hergerichtet worden. In der ersten Reihe nahmen die Botschafter des Kaisers und der Zarin Platz, die Grafen von Seilern und Černyčёv. Als der französische Botschafter, der Comte du Châtelet-Lomont, etwas verspätet dazu kam, drängte er sich, von hinten über die Bank steigend, mit einiger Gewalt zwischen die beiden Sitzenden, so dass er nun auch neben dem kaiserlichen Botschafter saß. Daraus entstand dann ein hitziger Streit, bei dem some very warm words gewechselt wurden, bevor beide dann den Ball verließen. Am Tag darauf entschuldigte sich Châtelet-Lomont bei Černyčёv, der diese Entschuldigung zwar persönlich annahm, aber auch erklärte, sein Hof sei durch diese Sache zutiefst beleidigt worden, die Sache sei noch nicht aus der Welt.18 Die beiden Diplomaten duellierten sich einige Tage später, Černyčёv wurde dabei leicht verletzt.19
|| 17 Der Verzicht auf Botschafter bedeutete allerdings nicht den Verzicht auf die Entsendung von hochadligen Personen als Diplomaten zweiter oder dritter Klasse, die aber jederzeit auch zum Botschafter erklärt werden konnten. Schon in Utrecht sollten aus den Bevollmächtigten für den Akt der Unterschriftenleistung auf den Verträgen vorübergehend Botschafter werden. Nach Soissons reisten für die europäischen Könige ebenfalls ausschließlich Mitglieder des Hochadels. Obwohl auch hier das Ceremoniel eine allgemeine Gleichheit bestimmte, wurde dem Vertreter des Kaisers, Philip Ludwig von Sinzendorf, dadurch ein Vorrang zugestanden, indem er mit seiner Begleitung am spätesten eintraf; er wurde am Fuße der Treppe von dem Intendanten des Schlosses und von den französischen Bevollmächtigten empfangen. Auch wenn an einem runden Tisch getagt wurde, so wurde Sinzendorf wiederum dadurch einen Ehrenvorzug zu teil, indem er – und kein französischer Vertreter – den Kongress eröffnete; Friedrich Christian Förster: Die Höfe und Cabinette Europa’s im achtzehnten Jahrhundert. Erster Band. Potsdam 1836, S. 77 f; Zu Aachen vgl. Georg Friedrich von Martens: Grundriss einer diplomatischen Geschichte der europäischen Staatshändel und Friedensschlüsse seit dem Ende des 15ten Jahrhunderts bis zum Frieden zu Amiens. Berlin 1807, § 271. 18 The National Archives, State Papers 78/278/147 f. 19 Ernest Satow: A guide to diplomatic practice. London 1932, S. 19.
22 | André Krischer Ging es bei dieser Episode vielleicht nur um die persönlichen Geltungsansprüche von Adligen, von Diplomaten vom type ancien,20 die damit ihren eigenen Status in der höfischen Gesellschaft verteidigen wollten? Vielleicht. Allerdings handelten Châtelet-Lomont und Černyčёv auftragsgemäß, insofern beiden Botschaftern in ihren Instruktionen angewiesen worden war, nur dem kaiserlichen Botschafter, aber sonst niemandem den Vortritt zu lassen. Den französischen Gesandten wurde seit den 1760er Jahren sogar generell eingeschärft, gegenüber den russischen Botschaftern ihren Vorrang zu verteidigen, par toutes les voies possibles.21 Diese Devise war wiederum die Antwort auf Katharinas Anweisung, dass ihr Kaisertitel für ihre Diplomaten zu Folge habe, ebenfalls allein den Botschaftern des römisch-deutschen Kaisers den Vortritt zu lassen.22 Dabei wurde einkalkuliert, dass die Durchsetzung der Präzedenz auch auf handfeste Maßnahmen hinauslaufen konnte. Châtelet-Lomonts Handeln wurde in französischen Diplomatenkreisen als durchaus angemessen erachtet.23 Der Londoner Rangstreit zeigt, wie sehr gerade auch die Vertreter schon damals sogenannter „Großer Mächte“ noch in den Kategorien von Rang und seinen zeremoniellen Ausdrucksformen dachten und wie wichtig es den Pariser Außenpolitikern war, sich von dem als „Aufsteiger“ wahrgenommenen Russland unter Katharina II. („der Großen“) nicht auf die Plätze verweisen zu lassen.24 Es war die „Emergence of the Eastern Powers“ (Hamish Scott), die zeremonielle Rang- und Geltungsansprüche wieder hatten wichtiger werden lassen.25 Um diese Ansprüche zum Ausdruck zu bringen, mußte man eben doch Botschafter entsenden und keine Envoyés, die bei den Londoner Hofbällen prinzipiell auf den hinteren Bänken Platz zu nehmen hatten. Dieser Botschaf|| 20 Im Sinne von Hillard von Thiessen: Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605–1621 in akteurszentrierter Perspektive. Epfendorf (Neckar) 2010; Ders.: Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens. In: Hillard von Thiessen u. Christian Windler (Hg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln 2010, S. 471–503. 21 Gaëtan de Raxis de Flassan: Histoire générale et raisonnée de la diplomatie française. Ou de la politique de la France, depuis la fondation de la monarchie, jusqu’à la fin du règne de Louis XVI; avec des tables chronologiques de tous les traités conclus par la France. Bd. 7. Paris 1811, S. 26–28. 22 Ebd., S. 27. 23 Ebd. 24 Google Books ermöglicht den Nachweis dieser Semantik bereits für die Mitte des 18. Jahrhunderts. 25 Über die zeremonielle Integration Russlands in die europäische Fürstengesellschaft nach 1648 vgl. Jan Hennings: Russia and Courtly Europe. Ritual and Diplomatic Culture, 1648–1725. Cambridge 2016.
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terverkehr war aber nach wie vor anfällig für Rangkonflikte.26 Zwischen russischen und französischen Diplomaten gab es fast jedes Mal Streit, wenn diese in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts aufeinandertrafen. 1784 weigerte sich der französische Botschafter in Wien, Emmanuel Louis de Noailles, überhaupt an den Hof zu kommen, solange nicht klar sei, ob er dort dem russischen Botschafter vorgezogen werden würde. Das von Graf Kaunitz vorgeschlagene pêlê mêlê bei den öffentlichen Anlässen, also das bewusste Durchkreuzen von Rangverhältnissen, etwa durch eine zufällige Sitzordnung bei Tisch, stellte aber für beide Seiten keine Lösung dar. Die russischen Botschafter hatten mittlerweile die Anweisung bekommen, im Rang keinesfalls bereits eroberte Positionen wieder zu räumen. So blieben schließlich beide Botschafter dem Hof fern.27 Im Frieden von Tilsit (1807) haben sich dann beide zwar wechselseitig zur absoluten Gleichheit (égalité parfaites) im Zeremoniell verpflichtet. Der Passus zeigt aber wie andere vergleichbare Regelungen in diesen Übergangsjahren auch, für wie wichtig man diese Sache tatsächlich noch hielt. Von König Georg III. kam übrigens kurz nach dem Eklat die Anweisung, bei den Hofbällen in Zukunft keine Rangordnung mehr zu beachten.28 Ein Indiz für britischen Pragmatismus in scheinbar unwichtigen Fragen? Im Gegenteil, eine lächerliche und impraktikable Anordnung, kommentierte Horace Walpole in einem Brief, weil es doch gerade der Sinn dieser Hofbälle sei, Rang zur Schau zu stellen.29 Dass es auch dem König von Großbritannien überhaupt nicht gleichgültig war, wie seine Botschafter behandelt wurden, zeigen die Anweisungen an den Viscount Stormont, der 1775 als Botschafter der Krönung Ludwigs XVI. beiwohnen sollte. Tatsächlich war es schon seit langem Londoner Praxis, nur anlassbezogen Sonderbotschafter zu ernennen und die ständigen Vertretungen rangniederen Diplomaten zu überlassen. Womöglich geschah dies nicht nur aus
|| 26 Aus diesem Grund stufte der schwedische König Gustav III. den Rang seines Botschafters in Kopenhagen zu einem Envoyé herab, nachdem dieser in einen Rangstreit mit Karl von HessenKassel geraten war. Der nachgeborene Sohn des Landgrafen von Hessen-Kassel fungierte in dänischen Diensten als Statthalter Herzogtümer Schleswig und Holstein; vgl. Friedrich August von Moshamm: Ueber den Rang der europäischen Mächte und ihrer diplomatischen Agenten. Ein kleiner Kommentar über das auf dem Wiener Kongreß verfaßte Règlement sur le rang entre les agens diplomatiques (19. Mars 1815). Sulzbach 1819, S. 74. 27 Satow: Diplomatic practice (wie Anm. 19), S. 19 f. 28 The National Archives, State Papers 78/278/59: Brief des Staatssekretärs Weymouth an Walpole vom 13. Juni 1769. 29 Richard Bentley: Letters of Horace Walpole, Earl of Orford, to Sir Horace Mann: His Britannic Majesty’s Resident at the Court of Florence, from 1760 to 1785. Bd. 2. London 1843, S. 42.
24 | André Krischer Gründen der Kostenersparnis. Jedenfalls wurde Stormont von Staatssekretär James Rochford instruiert: „The Character of The King’s Ambassador may not lose in any degree the Regard and Attention so justly due to it“.30 Der französische Hof sei aber für die Unart bekannt, bestimmten Botschaftern, auch solchen nicht gekrönter Häupter, unter Berufung auf familiäre Bande zeremonielle Vorzüge einzuräumen. Damit gemeint waren in diesem Fall der Botschafter des Herzogs von Parma, der zu dieser Zeit auch aus dem Hause Bourbon stammte, und natürlich der spanische Botschafter. Stormont dürfe auf keinen Fall hinnehmen, dass ein britischer Botschafter hinter diesen zurückstehen müsse. Notfalls solle er sich sofort von der Szenerie entfernen. Dahinter stand also offenkundig die Absicht, den „Aufstieg“ Großbritanniens zu einer Großmacht nach dem Siebenjährigen Krieg auch im diplomatischen Zeremoniell visualisiert zu sehen, zumindest so, dass man nicht von südeuropäischen „Absteigern“ hintangestellt wurde. In seiner Antwort bestärkte Stormont den Außenstaatssekretär Rochford nicht nur in seinen Befürchtungen über zeremonielle Unannehmlichkeiten. Er gab zudem zu bedenken, dass englische bzw. britische Botschafter auch nicht an den sacres Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. teilgenommen hätten. Gemäß dem ihm vorliegenden Ceremonial du Sacre des Rois des France würde dabei nicht nur der Botschafter Spaniens, sondern auch der Nuntius den Vorrang vor ihm besitzen – letzteres sei für protestantische Briten eine nach wie vor inakzeptable Privilegierung, wegen der man lange Zeit auch keine Botschafter nach Wien entsandt hätte, wo ein ähnliches Zeremoniell gepflegt werde.31 Es sei daher besser, überhaupt kein Risiko einzugehen und den Krönungsfeierlichkeiten gänzlich fernzubleiben – nicht zuletzt auch deshalb, weil dabei „the French King takes, in the most solemn manner, the title of the King of France“, den er damit dem britischen König streitig mache.32 Als Entschuldigung könne man anführen, dass er im Parlament sitzen müsse. Wenn er zeitig genug deswegen aus Paris abreise, „it would not raise the least suspicion of any secret view, but on the contrary, would appear the most natural thing in the world“.33 So wurde es dann auch gemacht. Wie sehr die britischen Diplomaten die Vorstellung verinnerlicht hatten, dass die britische Machtfülle auch eines ungeschmälerten zeremoniellen Ausdrucks bedürfe, zeigt ein Vorkommnis genau zu jenem Zeitpunkt, als Großbri-
|| 30 The National Archives, State Papers 78/278/70. 31 The National Archives, State Papers 78/278/110. 32 Ebd., S. 108 f; Erst 1801 verzichtete König Georg III. offiziell auf den Anspruch, auch König von Frankreich zu sein. 33 Ebd., S. 111.
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tannien durch den Verlust der amerikanischen Kolonien tatsächlich wie ein Verlierer dastand. Die folgende Szene spielt in Marokko im Mai 1783. Der in Gibraltar stationierte Marineoffizier Sir Roger Curtis (1746–1816) war zum Sonderbotschafter ernannt worden, um mit dem Sultan Mulai Muhammad III. einen Freundschaftsvertrag zu erneuern. Dies war nötig geworden, nachdem der Sultan 1777 als einer der ersten Potentaten überhaupt die Vereinigten Staaten de facto als einen unabhängigen Staat anerkannt hatte.34 Es ging bei Curtis’ Mission allerdings nicht nur darum, den Umgang mit den von Korsaren gefangenen britischen Seeleuten und Handelsabkommen neu zu verhandeln. Das hätten auch die seit längerem in Marokko akkreditierten Konsuln regeln können.35 Es ging vielmehr darum, ein „perfect good understanding“ wiederherzustellen, das sich in der sichtbaren Bevorzugung der Briten vor anderen in Marokko ebenfalls präsenten europäischen Mächten darstellte (und bald darauf sollte es dort auch amerikanische Diplomaten geben). Auch wenn man sich in London darüber im Klaren war, dass man die faktische Anerkennung von Unabhängigkeit, Souveränität und Völkerrechtssubjektivität der Vereinigten Staaten durch den marokkanischen Sultan nicht rückgängig machen konnte – 1786 schlossen beide Seiten darüber einen förmlichen Vertrag –, so wollte man doch nicht auf die gewohnten Privilegien verzichten. Die zur Inszenierung der guten Beziehungen nötige zeremonielle Interaktion mit dem Sultan und andern hohen Amtsträgern wollte man nicht dem britischen Generalkonsul Charles Logie überlassen, der sich wiederholt daneben benommen hatte, sondern einem in Fragen der interkulturellen höfischen Etikette etwas versierteren Akteur wie dem Vizeadmiral Curtis, der sich in London für diese Aufgabe selbst ins Spiel gebracht hatte. In einem Memorandum für das Foreign Office erklärte er: „the reason why our negociations with such sovereigns as the Emperor of Morocco are so often abortive, is owing to the want of a sufficient, respectful and ceremonius conduct towards them, arising from a very false idea of them being Savages, when generally speaking they differ from us mere in custom, than in sentiments of honour“.36 In dieser Einschätzung stimmte ihm nicht nur der Außenstaatssekretär Fox zu, sondern auch der König selbst.
|| 34 Und zwar, indem die Vereinigten Staaten in einer den in Marokko akkreditierten Konsuln (u.a. aus Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Schweden, Dänemark und Ragusa) ausgehändigten Liste jener Staaten genannt wurde, die das Recht hatten, marokkanische Häfen anzulaufen, dazu Priscilla H. Roberts u. Richard S. Roberts: Thomas Barclay (1728–1793). Consul in France, diplomat in Barbary. Bethlehem (Penn.) 2008, S. 197–199. 35 P. G. Rogers: A History of Anglo-Moroccan Relations to 1900. London 1970, S. 104–106. 36 The National Archives, Foreign Office 52/5, 4v.
26 | André Krischer Tanger, wo Curtis nach seiner Ankunft zunächst residierte, war zu dieser Zeit ein Treffpunkt europäischer Diplomaten. Das war für Curtis zunächst eine angenehme Erfahrung: „The Spanish Commandant of the Marine who resides here, the consul of that nation, the Swedish consul, the Venetian, the Dutch, Portugese and Ragusan all came to pay their respects to me“.37 Das änderte sich allerdings zwei Wochen später. Als der britische Botschafter nämlich am 1. Mai beim spanischen Kommandanten zum Dinner eingeladen war und an der eckigen Tafel einen Platz nach dem schwedischen Botschafter angeboten bekam, verließ er aufgebracht den Ort.38 Am nächsten Tag schrieb der dem Kommandanten: The English Ambassador thinks it necessary to acquaint the Spanish Commandante that the reason he left his Company was because the Commandante did not treat him with that respect which is due to his Publick Character. If the Spanish Commandante was uninformed of the place given to a British Ambassador in all the Courts of Europe, yet he must know that the Ambassador from an Empire sufficiently powerful to carry on a long and effectual war against the United Forces of France, Spain, Holland & America might not to have been offered a seat at his Table inferior to that given to an Ambassador from the Kingdom of Sweden.39
Marokko war für die europäischen Gesandten nicht nur ein Raum für Kulturkontakte und Fremderfahrungen, sondern vor allem auch ein diplomatisches Parkett, auf dem eine Zurücksetzung ebenso viel zählte wie an den europäischen Höfen auch. Das galt aber nicht nur für die Interaktion der europäischen Diplomaten untereinander, sondern auch mit den lokalen Akteuren. Curtis verbuchte in seinem Gesandtschaftsdiarium jede zeremonielle Ehrerweisung durch die Marokkaner. Der Sultan hatte immerhin einen seiner (vielen) Söhne nach Tanger entsandt, um den britischen Botschafter in Empfang zu nehmen und zur Audienz nach Salé zu begleiten. Erfreut nahm Curtis aber auch zur Kenntnis, dass der Gouverneur von Tanger – dessen Ruinen aus englischer Zeit (1661–84) er sentimental in Augenschein nahm – die britische Fahne hisste, Salut schießen ließ und ihn mit Viktualiengeschenken überschüttete – auch wenn er nicht
|| 37 Curtis hat seine Erfahrungen in Marokko nicht nur den offiziellen, an das Foreign Office adressierten Briefen anvertraut, sondern auch einem Diarium mit eher privatem Charakter, das im Archiv des National Maritime Museum (NMM), London, aufbewahrt wird (JOD/157/3, Eintrag vom 17. April 1783). 38 Zur schwedischen Mittelmeerdiplomatie im 18. Jahrhundert vgl. Leos Müller: Consuls, corsairs, and commerce. The Swedish consular service and long-distance shipping, 1720–1815. Uppsala 2004. 39 NMM, JOD/157/3, Eintrag vom 17. April 1783.
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genau wusste, was er mit einem lebendigen Ochsen anstellen sollte. Prinz Sidi Mulai Abdelmalik schmeichelte dem Botschafter bei einem Empfang wiederum mit der Bemerkung, dass die Amerikaner sicher sehr bald schon wieder England gehorsam sein werden. Als Curtis Tage darauf per Schiff nach Salé aufbrach, registrierte er erneut höchst zufrieden die Ehrensalven: „I was saluted with 21 guns as I left the shore – honours never before shown to an Ambassador […]. I left Tangier beloved by every body“.40 Genauso wichtig erachtete es Curtis, dass ihm auch Salut geschossen wurde, als sein Schiff in den Hafen von Salé einlief, wo er am übernächsten Tag vom Sultan empfangen wurde. Bei der Audienz wurde ihm versichert, dass der Mulai Muhammad. keinen Herrscher so hoch schätze wie König Georg III.: „the English were esteemed and respected above all other nations“.41 Den Wettstreit um die Gunst des Sultans lieferten sich die europäischen Diplomaten aber nicht nur auf dem Feld der zeremoniellen Interaktion, sondern auch auf dem der Geschenke; die im Verständnis der Beteiligten ebenfalls zu den ceremonies gehörten. Die Gaben waren nicht nur ein probates Schmiermittel bei Vertragsverhandlungen, sondern Bestandteil nationaler Selbstdarstellung.42 Wenn die Briten dem Sultan Taschenuhren, Kanonen oder ganze Fregatten schenkten, dann sollte dies immer auch die Vertreter anderer Höfe beeindrucken. Der Resonanzraum dieser Gabenpraxis wurde wiederum dadurch erweitert, dass in den britischen Gazetten darüber berichtet wurde. Georg III. billigte die kostspieligen Geschenke seines Botschafters als Symbole britischer Vortrefflichkeit im Übrigen ausdrücklich.43
|| 40 Ebd., Eintrag vom 2. Mai 1783. 41 Ebd. 42 So schon Christian Windler: Tribut und Gabe. Eine Anthropologie des Schenkens in der mediterranen Diplomatie. In: Saeculum 51 (2000), S. 24–56, in Bezug auf die europäische Diplomatie in Tunis, hier v.a. S. 41–43. 43 John Fortescue: The Correspondence of King George the Third. From 1760 to December 1783. Bd. 3. London 1967, S. 419 f.
28 | André Krischer
3 Der Wiener Kongress zwischen älteren und neuen Rangvorstellungen Rangstreitigkeiten prägten auch noch den Wiener Kongress, zumindest jenen Teil, der mit der Einrichtung des Deutschen Bundes beschäftigt war. Die in der Bundesakte vom Juni 1815 gezeigte Liste der Mitglieder und ihrer Stimmen (Abb. 1) war zugleich eine Rangordnung, der zum Teil sehr kontroverse Verhandlungen vorausgegangen waren.44
Abb. 1: Liste der Mitglieder des Wiener Kongresses 1815
|| 44 Abb. aus der Bundesakte, gedruckt in: Gesetz-Sammlung für die Königlich-Preußischen Staaten. Berlin 1818, Anhang Nr. 23, S. 123–155, hier S. 147.
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Um den Rang gestritten hatten z.B. Württemberg45 mit Hannover, Kurhessen mit dem Großherzogtum Hessen und dieses wiederum mit den nunmehr auch großherzoglichen Häusern aus Sachsen-Weimar, Holstein und Luxemburg. Die Titelerhöhungen in der Umbruchphase zwischen Altem Reich und Deutschem Bund waren ja nichts anderes als Ansprüche auf einen höheren Rang, und der Wiener Kongress bot die Bühne dafür, um diese neuen Geltungsansprüche der Probe auszusetzen. Um gegenüber dem ab 1806 als Königreich firmierenden Württemberg rangmäßig nicht ins Hintertreffen zu geraten, hatte sich Hannover während des laufenden Kongresses ebenfalls zum Königreich erklärt. In den Meistererzählungen der Diplomatiegeschichte steht der Wiener Kongress dafür, dass dort die Rangproblematik durch abstrakte Regeln (Anciennität) endlich und ein für alle Mal gelöst werden konnte. Tatsächlich waren die Kontrahenten, kaum dass sie einen Rangkonflikt identifiziert hatten, damit beschäftigt zu versichern, aus Gründen der „Vernunft“, der „Mäßigung“, ja der „Gleichgültigkeit“ darauf zu verzichten, ihre Rangansprüche durchzusetzen. In den nicht-öffentlichen Sitzungen und Konferenzen zur Errichtung des Bundes wurden sie dann aber doch ziemlich oft zum beherrschenden Thema. Rangprätentionen wurden auf dem Wiener Kongress aber weder vor noch hinter den Türen so brachial durchgesetzt wie beim Londoner Hofball. In Wien gehörte es praktisch zum Verhaltensstil aller Beteiligten, sich möglichst unzeremoniös aufzuführen, besonders bei allen öffentlichen Auftritten, aber auch bei Sitzungen: In unseren Tagen […] suchen die europäischen Herrscher und ihre Bevollmächtigten durch Anspruchslosigkeit, Mässigung und kluges Betragen sich auszuzeichnen und alle Veranlassungen zu entfernen, wodurch neuerdings Rangstreitigkeiten unter ihnen entstehen könnten […] Sichtbar war insbesondere auf dem Wiener Kongresse die Einwirkung der anwesenden gekrönten Häupter, welche in Einfacheit und Anspruchslosigkeit zu wetteifern46
schienen, kommentierte ein zeitgenössischer Beobachter. Man hat es hier mit einer Inszenierung zeremonieller Gleichgültigkeit zu tun, die nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass es auch auf dem Wiener Kongress Rangkonflikte gab. Entsprechend wurde dieses Phänomen immer wieder zum Thema in den zeitnah erschienenen Akteneditionen und Gesamtdarstellungen des Kongresses
|| 45 Der Einfachheit halber bediene ich mit im Folgenden dieser deagentivierenden Semantik der zeitgenössischen Akten, genauer müsste es natürlich heißen: der Vertreter Württembergs etc. 46 Moshamm: Rang (wie Anm. 26), S. 6.
30 | André Krischer – oder auch in Spezialabhandlungen wie jener „Ueber den Rang der europäischen Mächte und ihrer diplomatischen Vertreter“ des bayerischen Juristen Friedrich August von Moshamm. Genauso wie die Akteure selbst bemerkten auch die Verfasser solcher Publikationen, dass es sich bei Rangkonflikten um seltsam anmutende Überbleibsel aus den „verflossenen Jahrhunderten“ handele, um „anmassende Rangsucht“.47 Doch genauso wie die Praktiker achteten auch die Theoretiker auf den Rang und dokumentierten daraus erwachsene Konflikte teilweise recht ausführlich. Schließlich: Auch wenn die Akteure so etwas wie „offensive Formlosigkeit“ (Stollberg-Rilinger) praktizierten, dann nur deswegen, weil sie die Rangproblematik im Vorfeld bereits an wichtigen Stellen entschärft hatten, etwa durch das von Talleyrand vorbereitete Réglement sur le Rang entre les agens diplomatiques. Nicht etwa aus aufgeklärter Geringschätzung, sondern aus der nach wie vor vorhandenen Hochschätzung der symbolischen Handlungen und des Rangdenkens hatten sich die Vertreter der europäischen Großmächte auf Modalitäten geeinigt, um Präzedenzkonflikte so weit wie möglich zu unterdrücken. Die Regelungen betrafen ohnehin nur die Agenten, also Diplomaten ohne einen repräsentativen Charakter, deren konkrete zeremonielle Behandlung nicht völkerrechtlich auf den jeweiligen Prinzipalen zurückfiel.48 Sich tatsächlich über eine „Rangordnung der Mächte zu vereinigen“, lag auch nach dem Ende des Ancien Régimes außerhalb des Möglichen. Dafür war diese Symbolik noch zu wichtig. Die im Vorfeld gefundenen „Auswege zur Vermeidung von Rangstreitigkeiten der Herrscher und ihrer Gesandten“ lagen bekanntlich darin, Rangordnungen entweder auf die Zufälligkeit des Alphabets oder des Ankunftsdatums zu gründen, im Übrigen aber bewusst ein Anti-Zeremoniell zu praktizieren: Ein […] Geist der Anspruchslosigkeit, Mässigung und Humanität herrschte auf dem […] Kongresse in Wien, wo die gekrönten Häupter und andere Souveraine sich durch die feinste Politik und Anspruchslosigkeit auszeichneten und durch ihr erhabenes Beispiel auch die aus ganz Europa herbeiströmenden Bevollmächtigten aufmunterten, jedem Zwange, jeder Forderung auszuweichen […].49
Die mit der Institutionalisierung des Deutschen Bundes befassten Gesandten der ehemaligen Reichsfürsten waren von diesem „Geist der Anspruchslosigkeit“
|| 47 Ebd., S. 13. 48 Dazu Erich H. Markel: Die Entwicklung der diplomatischen Rangstufen. Erlangen 1951, S. 35–40. 49 Moshamm: Rang (wie Anm. 26), S. 77.
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allerdings noch nicht völlig durchdrungen, das jahrhundertealten Rangdenken des Alten Reiches ließ sich so einfach nicht beiseitesetzen.50 Allerdings verlagerten sich in Wien die Konflikte von der Ebene der Interaktion auf die der Texte: Verhandelt und punktuell auch gestritten wurde nicht um den Vortritt beim Ball, sondern um die Reihenfolge der Staatsnamen und Unterschriften in den Protokollen und Verträgen.51 Der Hannoversche Gesandte Ernst Graf von Hardenberg beispielsweise machte seine Rangansprüche auf die Weise deutlich, dass er im Herbst 1814 die Sitzungsprotokolle stets so dicht unter Bayern unterschrieb, dass der Freiherr von Linden, der Württembergische Gesandte, keine Chance hatte, seine Unterschrift noch einzufügen. Linden unterschrieb daher vorübergehend überhaupt nicht. Der Ausweg war hier das alte Mittel, die Reihenfolge alternieren zu lassen: Einmal unterschrieb Hannover, ein anders Mal Württemberg direkt unter Bayern.52 Ein Alternat wurde auch bei den beiden Hessen praktiziert: Nach dieser Ansicht wurde die Note der vereinigten Fürsten und freien Städte vom 16. November 1814, in dem Exemplare für Oesterreich von Cassel zuerst, hingegen in dem für Preussen bestimmten Exemplare von Darmstadt zuerst unterschrieben.53
Das ging so lange gut, bis es um die Bundesakte selbst ging, hier fiel die Möglichkeit des Alternats fort, weil es nicht nur um Unterschriften ging, sondern um die Frage, wer bei der gedruckten Auflistung der Stimmen vor wem rangierte. Entsprechend verlagerten sich die Diskussionen auf die vermeintlich entscheidenden Rangkriterien: Sollte als Kriterium das Alter der Monarchie oder das Alter des regierenden Monarchen gelten? Was zählten die neu erworbenen Titel und Titelerhöhungen? War im Fall Hannovers die Personalunion mit Großbritannien, also eine weitere Krone, das Zünglein an der Waage? Sollte man sich an der Rangordnung des alten Reichstags orientieren, sollte man gar losen?54
|| 50 Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags. In: Johannes Kunisch (Hg.): Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. Berlin 1997, S. 91–132. 51 Tatsächlich aber sorgten sich auch die Vertreter der übrigen europäischen Mächte um die Rangfolge bei den Unterschriften. Hier kam man, ganz ähnlich wie die deutschen Fürsten, zu der Lösung, die Reihen- und Rangfolge der Unterschriften alternieren zu lassen, vgl. Satow: Diplomatic practice (wie Anm. 19), S. 22. 52 Johann Ludwig Klüber: Uebersicht der diplomatischen Verhandlungen des Wiener Congresses. Überhaupt und insonderheit über wichtige Angelegenheiten des teutschen Bundes. Erste Abtheilung. Frankfurt a.M. 1816, S. 506–508. 53 Moshamm: Rang (wie Anm. 26), S. 18 f. 54 Klüber: Uebersicht (wie Anm. 52), S. 509 f.
32 | André Krischer Fertigstellen und unterzeichnen ließ sich die Bundesakte jedenfalls nur, wenn zuvor die Reihenfolge geklärt war, und Regelungsbedarf sowie unerledigte Ansprüche gab es bis zum Schluss noch genug. Braunschweig beanspruchte am Ende erfolgreich den Rang vor Mecklenburg, Lippe setzte sich gegenüber Schaumburg-Lippe durch, Oldenburg beharrte auf dem Vorzug gegenüber Nassau usf.55 Schon die Verfasser zeitnah erschienener Abhandlungen über den Wiener Kongress meinten, ihre Leser mit den weitläufigen Gründen, „durch welche diese Ordnung beliebt wurde“, besser zu verschonen.56 Das können wir hier so stehen lassen. Aber es wird auch so deutlich, dass es immer mehr Flächenmaß und Bevölkerungszahl waren, die anstelle älterer Würdigkeits- und Vorzugsargumente als Rangkriterien zählten.57 Anfang Juni 1815 hatte man sich dann in der Tat darauf geeinigt, Bevölkerungszahl und die Fläche in Quadratmeilen als entscheidendes Kriterium für die Liste in der Bundesakte zu akzeptieren. Gleichwohl behielten auch ältere Kategorien mitunter ihre Geltung. Sachsen hatte durchgesetzt, dass es in der Bundesakte vor (dem in der Sprache der Statistik eigentlich viel größeren) Bayern rangierte – die Argumente waren hier die älteren Kur- und Königswürden gewesen. Hannover versuchte seine Präzedenzansprüche gegenüber dem „größeren“ Württemberg ebenfalls mit dem Argument durchzusetzen, die Kurwürde besessen zu haben und die Königskrone zu besitzen. Den Ausschlag gab aber vor allem die Unterstützung der welfischen Prätentionen durch Preußen, während das Argument der größeren Bevölkerung Württembergs bei diesen Diskussionen erstaunlich wenig zählte.58 Im Grunde „stimmte“ die Liste der Bundesakte erst ab dem siebten Platz für Baden. Interessant ist nicht nur, dass die Liste der Bundesakte doch von älteren Rangkriterien durchkreuzt und auf diese Weise im Fall von Sachsen und Hannover „alte Größe“ in der, wie man sagte, „neue[n] Ordnung der Dinge“ symbo-
|| 55 Johann Ludwig Klüber (Hg.): Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815. 8 Bde. Erlangen 1815–18, hier Bd. 2, S. 333. 56 Den Gang der Verhandlungen schildert knapp Klüber: Uebersicht (wie Anm. 52), S. 509– 546. 57 Klüber: Uebersicht (wie Anm. 52), S. 126; zur älteren Tradition der Präzedenzargumente Stollberg-Rilinger: Wissenschaft (wie Anm. 14); Dies.: Rang vor Gericht. Zur Verrechtlichung sozialer Rangkonflikte in der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001), S. 385–418. Den Beteiligten war klar, dass es einen Bruch gegeben hatte, so dass der sonst entscheidende Hinweis auf Herkommen und Observanz hier nicht weiterhalf. Die Rangverhältnisse des Reichstags waren für die von den Beteiligten so genannte neue Ordnung kein Maßstab mehr. 58 Klüber: Uebersicht (wie Anm. 52), S. 506.
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lisierte und konserviert wurde.59 Interessant ist auch, dass solche Rangtraditionen in die Listen der neuen Staatswissenschaften eingingen, die ihrer Selbstbeschreibung nach streng auf der „Theorie der Statistik“ beruhte, also auf den scheinbar objektiven Kriterien von Maß und Zahl.60 In den Listen – das folgende Beispiel stammt aus Karl Heinrich Pölitz’ Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit (1828) (Abb. 2) – wurden zwar die Positionen Sachsens und Bayerns „korrigiert“, und das von einem sächsischen Professor.61 Doch Sachsen rangierte weiterhin vor Hannover und Württemberg. Aber auch wenn nunmehr statistische, also zählbare Kriterien über die Classificierung der einzelnen europäischen Staaten entschieden, so blieb doch die Faszination der Listen und Rangfolgen und die damit verbundene Inszenierung staatlicher Größenverhältnisse erhalten. Interessant ist auch, dass die Statistiker, wie der Österreicher Bisinger 1823, den Flächeninhalt und nicht die Bevölkerung als entscheidendes Kriterium behandelten – nur in dieser Hinsicht war Hannover größer als Württemberg.62 Die Quadratmeilen hatten auch Kurhessen größer erscheinen lassen als das Großherzogtum, allerdings nur bei einer Berechnung, die die sogenannten Brachzahlen außer Acht ließ. So hatte man es bereits auf dem Wiener Kongress ausgehandelt, und aufgrund dieser Berechnung wurde „Churhessen“ auch in Pölitzens Liste vor dem Großherzogtum platziert (Abb. 2).
|| 59 Ebd., 506. 60 Karl Heinrich Ludwig Pölitz: Die Staatswissenschaften im Lichte unsrer Zeit. Verfassungsrecht. Leipzig 1828, S. 1. Grundlegend zur Sprache der Statistik Lars Behrisch: Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime. Ostfildern 2016. 61 Pölitz (1772–1838) war Professor der Rechte in Dresden, Wittenberg und Leipzig. 62 Abb. aus Joseph C. Bisinger: Vergleichende Darstellung der Grund-Macht oder der Staatskräfte aller europäischen Monarchien und Republiken. Budapest u. Wien 1823, S. 8.
34 | André Krischer
Abb. 2: Rangliste aus Karl Heinrich Pölitz’ Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit (1828)
Bisingers Liste lagen jedoch andere Zahlen zugrunde, nach denen das Großherzogtum auch flächenmäßig leicht größer war als das Kurfürstentum. Dennoch änderte er an der (von der Statistik nicht gedeckten) Rangfolge nichts. Sachsen blieb hier ebenfalls auf dem vierten Rang. Bisinger privilegierte zudem, entgegen der mühsam ausgehandelten Reihenfolge in der Bundesakte, die Könige vor anderen Fürstenwürden. Die Folge war, dass in dieser Liste nunmehr Holstein und Luxemburg wegen der Personalunionen mit den Königreichen Dänemark und Niederlande auf Rang sieben und acht standen und somit vor den rangniederen, aber flächen- und bevölkerungszahlenmäßig größeren Großherzogtümern. In der Bundesakte wurden Holstein und Luxemburg auf den Plätzen zehn und elf geführt. Diese veränderte Reihenfolge war möglicherweise die Folge von Bisingers österreichischem Souveränitätsdenken, demnach Großherzöge nicht Königen vorangestellt werden konnten.63 Allerdings wurden die Listen auch
|| 63 Ich danke Thomas Biskup für diesen Hinweis.
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anderer Statistiker von nicht quantitativ begründbaren Reihungen durchkreuzt. Das Handbuch einer Statistik der deutschen Bundesstaaten des bayerischen Regierungsrats und Kameralisten Johann Daniel Höck (1763–1839) orientierte sich an der Rangfolge der Bundesakte, wenn es die Einwohnerzahlen oder die Anzahl der Städte der Bundesstaaten auflistete. Allein Bayern wurde hier wie in anderen Publikationen Sachsen vorgezogen.64
Abb. 3: Rangliste aus Joseph C. Bisinger: Vergleichende Darstellung der Grund-Macht oder der Staatskräfte aller europäischen Monarchien und Republiken, S. 8
|| 64 Johann Daniel Albrecht Höck: Handbuch einer Statistik der deutschen Bundesstaaten. Leipzig 1821, S. 28, 32.
36 | André Krischer Kurzum, nicht die Sprache des Rangs verschwand am Ende des 18. Jahrhunderts, sondern nur ihre bis dahin vorherrschende Semantik der politischsozialen Würdigkeiten und Ehrtraditionen. Sie wurde verdrängt von der Semantik und dem Zeichensystem der modernen Statistik, wie auch aus Lars Behrischs Beitrag zu diesem Band hervorgeht. Allerdings vollzog sich dieser semantische Wandel von den Qualitäten zu den Quantitäten nicht abrupt. Auch die Listen der Statistiker tradierten Logiken politisch-sozialer Würde fort, wenn Königreiche rangniederen, aber zahlenmäßig größeren Fürstentümern vorgezogen wurden. Vor allem aber blieb Rangfolge selbst ein offenbar nicht zu ersetzendes Darstellungsmittel.65 Bis heute sind Listen der größten Länder, Städte oder Wirtschaftsleistungen beliebt und ein nicht unwichtiges Element von Vergleichspraktiken im globalen Maßstab.66
4 Rang im Völkerrecht des 19. Jahrhunderts Grundsätzlich gingen die Völkerrechtler des 19. Jahrhunderts von einer Rechtsund damit Ranggleichheit der souveränen Staaten aus: „Jeder Stat ist als Rechtsperson dem anderen State gleich“, hieß es 1869 etwa bei Johann Caspar Bluntschli in dessen weitrezipiertem Modernen Völkerrecht der Civilisierten Staten.67 „This natural, Equality of States is the necessary companion of their Independence – that primitive cardinal right, upon which the science of International Law is mainly built“, hieß es analog auch bei dem englischen Juristen
|| 65 Zur Transformation des Rangs zum Rating vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Rating – Ranking – Rangkonflikte. Was macht akademische Exzellenz aus? In: Helwig Schmidt-Glintzer (Hg.): Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810. Vorträge zur Ausstellung „Das Athen der Welfen“. Wiesbaden 2011, S. 9–23; Carlos Spoerhase: Das Maß der Potsdamer Garde. Die ästhetische Vorgeschichte des Rankings in der europäischen Literatur- und Kunstkritik des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 58 (2014), S. 90–126. 66 Stollberg-Rilinger: Rating (wie Anm. 65); Bettina Heintz: Numerische Differenz. Überlegungen zu einer Soziologie des (quantitativen) Vergleichs. In: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), S. 162–181; Dies.: Welterzeugung durch Zahlen. Modelle politischer Differenzierung in internationalen Statistiken, 1948–2010. In: Soziale Systeme 18 (2012), S. 7–39; Vgl. Franz Arlinghaus u. Peter Schuster (Hg.): Rang oder Ranking? Dynamiken und Grenzen des Vergleichs in der Vormoderne. Konstanz 2016; sowie weitere Forschungen aus dem Bielefelder SFB 1288. 67 Johann Caspar Bluntschli: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten als Rechtsbuch dargestellt. Nördlingen 1868, § 81.
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und Politiker Sir Robert Philimore (1810–1885).68 Dementsprechend ändere „ein Unterschied der Größe“ oder der Macht […] nichts „an der wesentlichen Gleichheit“.69 „Namen, Wappen, Fahne, Flagge“ waren für Bluntschli arbiträre Zeichen, die im völkerrechtlichen Sinne jeder souveräne Staat selbst wählen dürfe, sofern diese Zeichen nicht bereits von einem anderen Staat geführt wurden. Ganz blind für die gewachsene Bedeutung der Staatszeichen war Bluntschlis Völkerrecht allerdings nicht: So begründe die Rechtsgleichheit der Staaten kein Recht darauf, sich einen beliebigen hohen Titel anzueignen. Als „Gipfel der Lächerlichkeit“ bezeichnete Bluntschli in diesem Zusammenhang die Annahme des Kaisertitels eines „Negerhäuptling[s] auf Haiti“, wobei es unklar ist, ob er damit Jean-Jacques Dessalines (1804–1806) oder Faustin Soulouque (1849– 1859) meinte – beide hatten sich vorübergehend zu Kaisern proklamiert.70 Ein „kaiserlicher Rang und Titel“ stehe „lediglich jenen Staaten zu, die nicht eine bloße nationale, sondern eine universale Bedeutung haben für die Welt oder mindestens einen Welttheil und insofern Weltmächte sind […]“. Vollkommen passend erschienen Bluntschli die Träger von Kaisertiteln in den 1860er Jahren gleichwohl nicht, insofern sowohl Frankreich als auch Österreich eine „weniger universelle, aber doch nicht eine bloß nationale oder einzelstaatliche Bedeutung“ besäßen. Dem Namen nach ein Königreich, dem Rang nach aber tatsächlich kaiserlich war für Bluntschli hingegen Großbritannien, während er davon ausging, dass sich die „Bundesrepublik der Vereinigten Staaten von Nordamerika“ in naher Zukunft einen „kaiserlichen Rang“ beilegen werde, „wenn sie sich als Weltmacht darstellen will“.71 Bluntschli kritisierte nicht nur die inadäquate Aneignung von Kaisertiteln. Auch die Titelerhöhungen der deutschen Fürsten in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hielt er für problematisch, weil auf diese Weise Zeichen und Bezeichnetes zu weit auseinanderklafften. Immerhin hätten die fünf Großmächte auf dem Aachener Kongress 1818 dem bereits zum Kurfürsten erhobenen Hessen die nun noch begehrte Königswürde verweigert, und in Zukunft, so sei es in Aachen beschlossen worden, sollte bei anvisierten Titelerhöhungen stets der Konsens der anderen Staaten eingeholt werden.72 || 68 Robert Phillimore: Commentaries upon International Law. London 1855, Bd. 2, § 27; vgl. zu Person und Werkkontext Michael Lobban: English Approaches to International Law in the Nineteenth Century. In: Matthew C. R. Craven, M. Fitzmaurice u. Maria Vogiatzi (Hg.): Time, history and international law. Leiden u. Boston 2007, S. 65–90. 69 Bluntschli: Das moderne Völkerrecht (wie Anm. 67), § 81. 70 Ebd., § 84. 71 Ebd., § 85 f. 72 Ebd., § 84.
38 | André Krischer Kurzum: Sowohl in der politischen Praxis als auch in der Völkerrechtslehre waren Staatszeichen doch nicht völlig arbiträr, sollte zumindest der Kaisertitel auf große und global bedeutsame Machtfülle verweisen. Abgesehen von den Titulaturen sahen die Völkerrechtler aber keine Möglichkeiten, ungleiche Machtverhältnisse im Zeremoniell zu symbolisieren: Ob im Gesandtenzeremoniell oder dem im 19. Jahrhundert wichtigen Seezeremoniell: Bei allen diesen Staatsritualen standen den souveränen Staaten die gleichen, exakt normierten Ehrenbezeugungen zu. Aus diesem Grund war es auch nicht mehr möglich, ungleiche Rangverhältnisse im Zeremoniell erst herzustellen, so wie dies beispielsweise König Ludwig XIV. beim Empfang einer eidgenössischen Gesandtschaft 1663 gelungen war. Hier hatten die französischen Zeremonienmeister listenreich eine Inszenierung entworfen, die die bürgerlichen Botschafter wie Bittsteller vor dem König erscheinen ließen, was als Herabwürdigung der republikanischen Staatsform gedacht war.73 Im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert war das Zeremoniell nicht nur ein Spiegel von Statusverhältnissen, sondern vielmehr statuskonstituierend. Auch deswegen nahmen die Eidgenossen nach der Pariser Brüskierung lange davon Abstand, bei zeremoniellen Anlässen wie den Friedenskongressen vor Ort präsent zu sein.74 Zu groß war die Gefahr, dass die reklamierte Souveränität durch protokollarische Sticheleien in Zweifel gezogen wurde. Doch auch bei der Interaktion mit französischen Botschaftern in der Eidgenossenschaft (Solothurn) war man vor Ungleichbehandlungen und Kränkungen im Zeremoniell nicht sicher.75 Dagegen ließen die protokollarischen Vorschriften des 19. Jahrhunderts keine Nuancierungen mehr zu. So galten Abweichungen zwischen souveränen Staaten als Normverstöße, die nicht hinzunehmen waren und die einen berechtigten Anlass für Proteste boten. Die Völkerrechtler gingen sogar von einem „Recht auf Ehre und äußere Achtung“ aus.76 Dass zeremonielle Abweichungen gleichwohl noch vorkamen, zeigt eine Warnung Philimores: Wenn die Ehre der Nation nichts weniger als „an outwork of the citadel of its independence“ sei, dann müssten gerade die Diplomaten darauf achten, dass sie nicht verletzt werde. Philimore meinte damit nicht nur zeremonielle Kränkungen, sondern auch jedwede Beleidigung von „Head or
|| 73 Thomas Maissen: Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Göttingen 2006, S. 230–242. 74 Dazu Andreas Affolter: Verhandeln mit Republiken. Die Ambassade des Marquis d’Avaray und die französisch-eidgenössischen Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert. Köln, Weimar u. Wien 2016. 75 Ebd. 76 E.H.T. Huhn: Völkerrecht. Volksthümliche Darstellung. Leipzig 1865, S. 77.
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Executive Power of a State“ durch andere Staaten oder deren Bürger.77 Es handelt sich dabei um eine Auffassung staatlicher Ehre, die auch modernen Despoten geläufig ist.78 Zwar gingen sowohl Bluntschli als auch Philimore davon aus, dass zwischen Königreichen und Republiken kein Rangunterschied mehr bestehe. Interessanterweise erklärte man sich die Parität der Würde aber damit, dass es sich bei den souveränen Republiken (und hier dachten Philimore und Bluntschli primär an die Vereinigten Staaten) um solche von „königlichem Rang“ handele.79 In einem politischen System, das weiterhin auf einer Adels- und Fürstengesellschaft beruhte, war es nicht verwunderlich, dass man sich Souveränität immer noch als einen sozialen Status vorstellte. Entsprechend erklärte sich das Völkerrecht die Ranggleichheit zwischen Republik und Monarchie dadurch, dass beide die gleichen Rechte dazu hätten „Botschafter zu senden und zu empfangen, königliche Embleme in Krone, Scepter, Wappen aufzunehmen und zu führen, im Ceremoniel und bei der Unterzeichnung der Verträge auf dem Fuße der Gleichheit behandelt zu werden“.80 Tatsächlich aber fügte sich auch mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die Welt nicht der Binarität der Naturrechtslehre, wonach es nur Souveräne und Untertanen und nichts dazwischen gab. Dass die Welt weiterhin voller Schattierungen war, zeigt die Bedeutung, die die Kategorie der „Halbsouveränität“ in den Völkerrechtslehren spielte, und zwar nicht nur im deutschen, sondern auch im anglo-amerikanischen oder französischen Diskurs.81 Der Begriff war 1777 von dem Reichspublizisten Johann Jacob Moser eingeführt worden, um damit die mindermächtigen Kur- und Reichsfürsten, Prälaten und Reichsstädte, aber auch osteuropäische Fürstentümer und Republiken mit weitreichender Autonomie (Moldau, Walachei, Siebenbürgen, Ragusa) zu erfassen.82 Moser versuchte damit jene Staatswesen zu kategorisieren, die trotz lehnsrechtlicher Abhängigkeiten oder tributpflichtiger Vasallität faktisch aktiv an den Außenbeziehungen parti-
|| 77 Phillimore: Commentaries (wie Anm. 68), § 35. 78 Michael Hanfeld: Erdowahn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.03.2016, Nr. 74, S. 13. 79 Bluntschli: Das moderne Völkerrecht (wie Anm. 67), § 88. 80 Ebd., § 89. 81 Vgl. etwa Henry Wheaton: Elements of international law. Philadelphia 1836, S. 212; Pasquale Fiore: Nouveau droit international public suivant les besoins de la civilisation moderne. Paris 1885, S. 333, hier sprach man von suzerainty bzw. suzerainté. 82 Dazu M. Boghitchévitch: Halbsouveränität: Administrative und politische Autonomie seit dem Pariser Vertrage (1856). Berlin 1903, S. 105–107.
40 | André Krischer zipierten.83 Akteuren wie diesen waren in der diplomatischen Praxis des 17. und 18. Jahrhunderts üblicherweise gewisse zeremonielle Ehren zuteilgeworden, allerdings nur solche, die klar unterhalb dessen lagen, was Souveränen und ihren Botschaftern zustand.84 Während die Juristen des 20. Jahrhunderts (Carl Schmitt, Helmut Quaritsch) den Begriff Halbsouveränität für einen Widerspruch in sich hielten, begründete er bei Bluntschli eine Art Völkerrechtssubjektivität mit Rangabstufungen bei Vasallenstaaten, Schutzstaaten und abhängigen Einzelstaaten (der Vereinigten Staaten oder des Deutschen Bundes).85 Der Begriff war auch noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts unumgänglich, um etwa das Zeremoniell beim Empfang des serbischen Fürsten Milan I. Obrenović bei der Wiener Weltausstellung 1873 einordnen zu können. Der Fürst des damals noch unter osmanischer Oberhoheit stehenden Serbiens wurde nicht, wie andere souveräne Herrscher, vom Kaiser empfangen, sondern lediglich durch dessen Generäle. Auch die spätere Audienz bei Franz Joseph I. gestaltete sich eher geschäftsmäßig.86 Ganz ähnlich, also mit herabgestuftem Zeremoniell, wurde auch mit den bulgarischen Fürsten in Wien und St. Petersburg verfahren. Einen Anspruch auf „Staatshöflichkeiten“ hatten „halbsouveräne“ Potentaten nicht, wenn sie praktiziert wurden, dann als politische Geste. Das konnte für diese Akteure auf dem diplomatischen Parkett aber auch Vorteile haben, insofern dann auch die Souveräne nicht auf zeremonielle Verpflichtungen pochen konnten. So ließ sich der Aufstieg aus der Halb- zur Vollsouveränität auch durch das allmähliche Abstreifen von unvorteilhaften Ritualen symbolisieren. Die bulgarischen, siebenbürgischen und serbischen Fürsten verweigerten seit den 1830er Jahren bei der persönlichen Huldigung vor dem Sultan den früher üblichen Kuss seines Gewandes. Dabei trugen sie „ihre eigene Uniform, waren von Offizieren ihres eigenen Heeres begleitet, kamen auf Schiffen mit eigener Flagge“.87
|| 83 Für das Alte Reich vgl. André Krischer: Ein nothwendig Stück der Ambassaden. Zur politischen Rationalität des diplomatischen Zeremoniells bei Kurfürst Clemens August. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 205 (2002), S. 161–200; für die Verhältnisse in Osteuropa Gábor Kármán: Sovereignty and Representation. Tributary States in the Seventeenth-century Diplomatic System of the Ottoman Empire. In: Gábor Kármán u. Lovro Kuncevic (Hg.): The European Tributary States of the Ottoman Empire in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Leiden 2013, S. 155–185. 84 André Krischer: Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Kauz (Hg.): Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit. Wien 2009, S. 1–32. 85 Bluntschli: Das moderne Völkerrecht (wie Anm. 67), § 95. 86 Boghitchévitch: Halbsouveränität (wie Anm. 82), S. 239, FN 26. 87 Ebd., S. 99 f.
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Ganz ähnlich hatten die Fürsten des Alten Reiches ihre zeremoniellen Pflichten gegenüber dem Kaiser schrittweise zu minimieren versucht.88
5 Ergebnisse In meinem Beitrag habe ich anhand von drei Themenfeldern versucht, die Meistererzählung über den Bedeutungsverlust von Rang und Zeremoniell in der Diplomatie der Sattelzeit auf den Prüfstand zu stellen. Zunächst wurden schlaglichtartig Rangkonflikte aus der Zeit und am Hof Georgs III. beleuchtet. Gerade am britischen Fall sollte sich zeigen, ob symbolische Kommunikation noch eine Rolle spielte oder von anderen Mittel der „Realpolitik“ verdrängt worden war. Zunächst konnte beobachtet werden, dass die am Hof präsenten Botschafter alles andere als rangunsensibel geworden waren. Vor allem die Präsenz russischer Diplomaten sorgte für das Wiederaufleben längst überwunden geglaubter Konfliktmuster, die nach 1700 auch den Botschafterverkehr eingeschränkt hatten: Die von Russland unter Katharina reklamierte „Größe“ erlaubte es nicht, den französischen Vertretern den Vortritt zu lassen, die darauf aber ebenso unversöhnlich reagierten. Die Briten waren allerdings auch selbst in Rangkonflikte involviert, auf die sie durchaus nicht mit Geringschätzung reagierten: So nutzte der britische Botschafter in Paris vor der Krönung Ludwigs XVI. 1774 eine Ausrede, um heimreisen zu können: Auf diese Weise wollte er Rangkonflikten mit dem spanischen und sardischen Botschafter entgehen. Dass es sich dabei nicht nur um die individuelle Auffassung eines Diplomaten vom type ancien (Hillard von Thiessen) handelte, der damit seine persönliche Ehre zu wahren versuchte, zeigt der Umstand, dass er vom zuständigen Staatssekretär in London nicht nur in seiner Auffassung bestätigt wurde, sondern zuvor bereits vor Rangkonflikten gewarnt worden war. Ebenfalls nicht nur auf eigene Rechnung zur Wahrung seines symbolischen Kapitals agierte auch der zum Sonderbotschafter ernannte Vizeadmiral Sir Roger Curtis in Marokko. Dabei zeigt sich, dass das nordafrikanische Reich und vor allem die Hafenstadt Tanger Bestandteil diplomatischer Öffentlichkeit waren, auf dem Privilegierungen und Zurücksetzungen eben so viel zählten wie an europäischen Höfen auch. Entsprechend empfindlich reagierte Curtis auf einen Rangkonflikt mit dem schwedischen Botschafter: Er verließ die Szenerie. Aufschlussreich ist die Begründung für
|| 88 Barbara Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. 2. Aufl. München 2013, S. 217–220.
42 | André Krischer seine harsche Reaktion: Als Vertreter einer Macht, die immerhin gegen halb Europa erfolgreich Krieg geführt habe, lasse er sich von einem Schweden nicht auf die Plätze verweisen. In einem Moment, in dem die britische Macht durch den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nachhaltig in Frage gestellt wurde, kam es für die britischen Diplomaten darauf an, bei den Geltungsbehauptungen im Zeremoniell kein Stück nachzugeben. Auch hier war sich der Botschafter mit dem Außenstaatssekretär, dem Whig-Politiker Charles James Fox, einig. Von einer britischen Geringschätzung symbolischer Kommunikation kann hier keine Rede sein. Im nächsten Abschnitt wurden Schlaglichter auf den Wiener Kongress geworfen. Während dieser Kongress in der Diplomatiegeschichte als Meilenstein bei der Überwindung hinderlicher Zeremonialstreitigkeiten gilt, indem man sich auf abstrakte Rangkriterien verständigte, so zeigte sich, dass ein Modus der Indifferenz eher das Ergebnis und nicht schon die Ausgangsbedingung für die Verhandlungen gewesen war. Vor allem die mit der Einrichtung des Deutschen Bundes befassten Fürsten waren nach wie vor anfällig für Rangkonflikte. Mehr noch: Der Wiener Kongress war eine der ersten Gelegenheiten, um die am Ende des Alten Reiches und während der Napoleonischen Kriege errungenen Titelerhöhungen der Probe aufs Exempel auszusetzen. Wie verhielt sich die Würde eines Großherzogs zur Kurfürstenwürde? Woran bemaß sich die Rangfolge neuer Könige? Die Kongressdiplomaten waren mit solchen Fragen 1814 und 1815 immer wieder beschäftigt, auch wenn sie nach außen den Eindruck vermitteln wollten, das Zeremoniell nicht mehr ernst zu nehmen. Entsprechend fielen handfeste Versuche der Durchsetzung von Rangansprüchen fort. Die Frage, wer vor wem auf Unterschriften- und anderen Listen rangierte, musste auf diskursive Weise gelöst werden. Dabei etablierten sich zunehmend neue Kriterien für die Bemessung von Rangverhältnissen. Es ging nicht mehr nur um traditionelle Würdigkeitsargumente (Alter der Monarchie, Höherwertigkeit der Kur- gegenüber der Herzogswürde), sondern auch um Merkmale, die aus einem anderen, nämlich dem statistischen Diskurs stammten wie Flächenmaß und Bevölkerungsmenge. Allerdings beruhten auch die Listen der Statistiker des frühen 19. Jahrhunderts nicht allein auf quantitativen Maßgaben, sondern tradierten an verschiedenen Stellen die Logiken politisch-sozialer Würdigkeiten und damit ältere Vorstellungen von „Größe“ weiter. Ob solche hybriden Listen später zugunsten einer strikten Orientierung an Maß und Zahl aufgegeben wurden, bleibt zu überprüfen. Wichtig scheint mir aber zu sein, dass in der Sattelzeit nicht etwa die Sprache des Rangs an Bedeutung verlor, sondern vielmehr ihre Semantik einen Wandel durchlief. Es lässt sich – darauf haben verschiedene Forschungen bereits hingewiesen – eine Genealogie vom Rang zu modernen Ran-
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kings nachzeichnen. Gerade auch Größe, Aufstieg und Niedergang von Staaten wurden und werden weiterhin durch solche Rankings symbolisiert. Die Sprache des Rangs wurde durch eine Semantik der Zähl- und Berechenbarkeit modernisiert. Man wird sich davor hüten müssen, dies schlicht als Rationalisierung zu deuten. Zahlen sind auch nur ein weiteres Symbolsystem, und ob alles das, was derzeit bei der Anfertigung von Rankings gezählt und korreliert wird, wirklich zählbar ist (oder nicht vielmehr zählbar gemacht wird), sei dahingestellt. Schließlich richtete sich der Blick noch auf die Behandlung des Themas Rang in der völkerrechtlichen Literatur des 19. Jahrhunderts. Hier findet man nicht nur eine gewisse Zählebigkeit von Rangvorstellungen, sondern auch das Paradox, dass völkerrechtlich gleiche Souveräne eben doch nicht ganz gleich sein sollten. Das lässt sich mit Verweis darauf erklären, dass das „politische System“ des 19. Jahrhunderts weiterhin von einer Adelsgesellschaft dominiert wurde. Dies drückte sich auch darin aus, dass man sich die Parität von Republiken mit Monarchien damit erklärte, dass diese auch „königlichen Rang“ besäßen. Aber Rang war nicht nur ein Traditionsrest, sondern blieb im völkerrechtlichen Diskurs auch deswegen wichtig, weil sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im globalen Maßstab das wiederholte, was in Westeuropa um 1800 bereits weitgehend abgeschlossen war, nämlich die Herausbildung eines Kreises souveräner Staaten, bei dem auch wieder die Frage auftauchte, wer dazu gehörte und wer nicht. Tatsächlich schien das „internationale“ Feld in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts derart unübersichtlich zu sein, dass der von Johann Jacob Moser 1777 eingeführte Begriff der „Halbsouveränität“ unverzichtbar erschien. Man hatte es jetzt freilich nicht mehr mit rheinischen Kurfürsten zu tun, die Moser bei seiner Begriffsprägung im Auge hatte, sondern mit Kolonial- und Vasallenstaaten, unter anderem im Osten Europas. Vollkommen überlebt hatten sich Rangkategorien also noch nicht einmal in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Blieb also alles so wie früher? Natürlich nicht. Die hohe Bedeutung von symbolischer Kommunikation und Rangdenken in der Frühneuzeit reflektierte die enge Verzahnung, die Unausdifferenziertheit von gesellschaftlicher Struktur und dem Politischen. Wir haben es zumindest bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nicht einfach mit „Staaten“ und einem „internationalen Staatensystem“ zu tun, sondern eher mit einer auf traditionellen Wert- und Hierarchievorstellungen basierenden Fürstengesellschaft. Deren allmähliche Transformation zu einer Welt der Staaten lässt sich gerade auch anhand der symbolischen Kommunikationen beobachten, insofern etwa im Medium des Zeremoniells darum gerungen wurde, wer nun eigentlich in den Kreis der Souveräne aufstieg und wer nicht – und damit zu einem Mediatisierungskandidaten wurde. Dieser Prozess war
44 | André Krischer zumindest für Mittel- und Westeuropa um 1800 weitgehend abgeschlossen, einhergehend mit einer weitgehenden Ausdifferenzierung des Politischen. Das zeigt sich daran, dass ältere, aus der Logik der Ständegesellschaft stammende Vorstellungen ungleicher sozialer Würde verblassten und allmählich durch Vorstellungen ungleicher Machtressourcen ersetzt wurden. Diese neue Vorstellung ließ sich nicht nur wiederum auch durch Ranglisten visualisieren, sondern implizierte auch die Idee, dass Rang souveräne Gleichheit vertikal durchkreuzte. Der wesentliche Unterschied zu früher war, dass sich die Beteiligten zunehmend mehr darauf einließen, Rangkonflikte durch statistische Kriterien zu entscheiden, dass also in ihrer Wahrnehmung mit den Zahlen Maßstäbe von absoluter Eindeutigkeit vorlagen, die die älteren Rangkriterien aus den nicht selten widersprüchlichen Würdigkeitskatalogen eben nicht besessen hatten. Nachdem die Reihen- und Rangfolge in der Bundesakte einmal geklärt worden war, gab es auch keine Unterschriftskonflikte mehr. Trotzdem lässt sich nicht bestreiten, dass sich der Prozess der Ablösung und Umformung von Bemessungskriterien staatlichen Erfolgs zumindest langsamer und letztlich auch interessanter vollzog als gemeinhin angenommen und dass der Bedarf an symbolischer Kommunikation nicht einfach gleichmäßig abgenommen hatte, sondern eher durch neue Vokabeln modernisiert wurde. Eben diesen nicht linear verlaufenden Strukturwandel der Darstellungsweisen staatlicher Macht und „Größe“ bringt Thomas Biskups Begriff von der „zeremoniellen Sattelzeit“ gut auf den Punkt. Durch diesen Begriff verändert sich auch für die HistorikerInnen die Erwartungshaltung an das frühe 19. Jahrhundert, bei dem noch viele ältere, frühneuzeitliche „Strukturprobleme“ erhalten blieben oder sich zumindest in veränderter Weise reproduzierten.
Hamish Scott (Oxford)
The resilience of diplomatic culture and the Sattelzeit 1 Karl von Martens (1790–1863) was one of the best-known diplomatic theorists of the nineteenth century.1 Born into a celebrated family of Göttingen professors, he was the nephew of Georg Friedrich von Martens (1756–1821), who had compiled an influential series of handbooks of international law and diplomacy. Karl followed in his uncle’s footsteps, publishing in 1822 a treatise with a title which made clear its exemplary nature: Manuel diplomatique, ou précis des droits et des fonctions des agens diplomatiques; suivi d’un recueil d’actes et d’offices pour servir de guide aux personnes qui se destinent à la carrière politique.2 Two-thirds of this work consisted of samples of the kind of written communications – both formal and semi-formal – which a diplomat would regularly have to compose as part of his official duties. The remainder was dominated by the extensive protocol surrounding embassies, and outlined the changes institutionalized and, in some cases, introduced at the end of the wars of 1792–1815. Though Martens incorporated the significant agreements made both by the Congress of Vienna and in 1818, which consolidated and slightly extended ancien régime practice over issues such as rank and precedence, the first third of his handbook was dominated by the extensive and important continuities from the pre-revolutionary era. Significantly, Martens did not devote very much space to the actual conduct of diplomatic negotiations, instead referring his readers to the established treatises which had appeared long before the great watershed of the French Revolu-
|| 1 This article incorporates material from two previous publications: (1) Diplomatic culture in old regime Europe. In: Hamish Scott u. Brendan Simms (Hg.): Cultures of Power in Europe during the Long Eighteenth Century. Cambridge 2007, S. 58–85; and (2) Art. Diplomacy. In: William Doyle (Hg.): The Oxford Handbook of the Ancien Régime. Oxford 2012, S. 39–58. I am grateful to the publishers and editors of these two volumes for generous permission to re-use that material here. 2 Karl von Martens: Manuel diplomatique, ou précis des droits et des fonctions des agens diplomatiques; suivi d’un recueil d’actes et d’offices pour servir de guide aux personnes qui se destinent à la carrière politique. Paris 1822. https://doi.org/10.1515/9783110735734-003
46 | Hamish Scott tion and which, he declared, remained the best guides. He particularly recommended those by Abraham de Wicquefort, L’ambassadeur et ses fonctions (1681), François de Callières, De la manière de négocier avec les souverains (1716), and Antoine Pecquet, Discours sur l’art de négocier (1737), three works which had collectively defined the craft of diplomacy during the ancien régime. This emphasis highlighted the extensive and important continuities from the eighteenth-century political world. Yet Martens’ own life also demonstrated the exact opposite: the profound disruption caused by the French Revolution and the new ideological tone it had imparted to international relations. Two years before the publication of the Manuel diplomatique, he had been appointed Prussian ambassador to the Savoyard state.3 Its strongly reactionary King refused to receive him, however, and his diplomatic début was over even before it had begun. The explanation was simple. Martens’ wife was the daughter of a regicide: his father-in-law had voted for Louis XVI’s execution in January 1793 and, even a generation later, this remained an insuperable obstacle to a posting to Turin. In the event, he was able to pursue a diplomatic career, serving Restoration France and becoming Baron Charles de Martens. His writings and life encapsulate the central theme of this article: the crucial continuities from the world of ancien régime diplomacy which proved remarkably resilient, though these came to be overlaid – if never superseded – by important discontinuities which emerged during the Revolutionary and Napoleonic era and principally by the new significance of ideology. This approach has not always been the scholarly orthodoxy. The first important Francophone study, by the great diplomatic historian Albert Sorel (1842–1906), devoted eight bulky volumes to the struggle between Europe and the French Revolution.4 On the basis of extensive archival research, particularly on the years before 1795, Sorel focused on the continuities between the eighteenth century and the revolutionaries, and even asserted that there was little or nothing novel about France’s foreign policy during the 1790s. Finding the key in the impact of geography, he asserted that at least since the sixteenth century, and perhaps since the twelfth, France had aimed to push forward to its natural boundaries. These
|| 3 The duchy of Savoy-Piedmont presents an obvious problem of nomenclature after it secured the royal title it had long craved through its acquisition of first Sicily (1714–20) and then Sardinia (1720 onwards). It is referred to in this article as ‘the Savoyard state’. 4 Albert Sorel: L’Europe et la Révolution Française. 8 Bde. Paris 1885–1904; there is an English translation of the first volume: Albert Sorel: Europe and the French Revolution. The political traditions of the Old Régime. Trans. by Alfred Cobban and J. W. Hunt. London 1969.
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‘ancient, natural frontiers [according to Lazare Carnot in February 1793] are the Rhine, the Alps and the Pyrenees’.5 Sorel’s first proposition can be endorsed with only minor qualifications, but the second is far more controversial and would now be questioned, if not rejected by most specialists. Later historians have insisted upon the ideological tone of diplomacy created by the struggle with the Revolution, together with the importance of a new concept of the balance of power, introduced by the Vienna settlement and based upon rational self-interest rather than simple fear.6 Sorel’s importance was and is to be found in his demonstration of the important continuities from the ancien régime into the 1790s and 1800s.7 There were, however, even more important continuities into the nineteenth century and beyond both from the eighteenth century and from the long years of fighting between 1792 and 1815. The diplomatic ancien régime – exactly like its social, political and economic counterparts – was modified but not supplanted during the Sattelzeit. It was to prove remarkably persistent and enduring, surviving until the earlier twentieth century. This undoubted continuity did not preclude an important linguistic change of exactly the kind which Reinhart Koselleck identified as occurring at this time.8 The modern meanings of ‘diplomatic’ and then ‘diplomacy’ become established in the political lexicon during the era of the French Revolution. The adjective ‘diplomatic’ appeared for the first time only in the fifth edition of the Dictionnaire of the French Academy, published in 1798.9 A century before, when the Maurist monk Jean Mabillon wrote De re diplomatica (1681), his masterpiece devoted to the science of documents and the historical method, the term had retained its traditional meaning: relating to the study and verification of diplomas or other documents. In the fourth edition of the French Academy’s Diction-
|| 5 Daniel Nordman: Des limites d’état aux frontières nationales. In: Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire. 3 Bde. Paris 1986, here Bd. 2, S. 27–55, quotation S. 50 f. 6 The classic statement of this is Paul W. Schroeder: The Transformation of European Politics 1763–1848. Oxford 1994. 7 For a further example of this continuity, see Hamish Scott: A model of conduct from the age of chivalry? Honour, international decline and the end of the Bourbon monarchy. In: Julian Swann u. Joël Félix (Hg.): The Crisis of the Absolute Monarchy. France from Old Regime to Revolution. Oxford 2013, S. 181–204. 8 Cf. Christian Windler: Afterword: From social status to sovereignty – practices of foreign relations from the Renaissance to the ‘Sattelzeit’. In: Tracey A. Sowerby u. Jan Hennings (Hg.): Practices of Diplomacy in the Early Modern World, c.1410–1800. London 2017, S. 254–265, v.a. S. 254–256. 9 Windler: Afterword (wie Anm. 8), S. 254.
48 | Hamish Scott naire in 1762, ‘diplomatic’ appeared in this established sense.10At this period the peaceful conduct of relations between states was known as ‘negotiations’ (négociations), a term which long continued to be employed. During the later eighteenth century, however, the words ‘diplomatic’ and ‘diplomacy’ took on their present-day meaning both in French and in English, and subsequently became established in other European languages. The Irish political journalist and British Member of Parliament, Edmund Burke, was primarily responsible for introducing the term to Anglophone readers. In the Annual Register for 1787 he wrote of ‘civil, diplomatique [sic] and military affairs’, while a decade later, in one of his celebrated Letters on a Regicide Peace, he spoke of the French regime’s ‘double diplomacy’.11 By shortly after 1800, the term was becoming established. When, two years later, a collection of the treaties concluded by the new French Republic during its first decade of existence was published, the word ‘diplomatic’ was assumed to be in common usage.12 This linguistic shift occurred at the end of a century during which there had been fundamental and enduring changes in the way in which relations between states were conducted, creating Europe’s distinctive diplomatic culture. The principal innovations can be indicated at the outset. Diplomats from every country came to behave in similar and even identical ways; to speak the same language – French – and even to correspond with their superiors in it, rather than their own native tongues; to be drawn overwhelmingly from the same social group, the nobility and especially its higher echelons; to spend a larger proportion of their time attending the royal court of the country to which they were accredited; and to identify with fellow diplomats with whom they shared the same lifestyle, mores and socio-cultural values. In this way they became a distinct ‘independent society’, identified as such by the French foreign office functionary Antoine Pecquet in a work first published in 1737.13
|| 10 Windler: Afterword (wie Anm. 8), S. 254. 11 See Abraham de Wicquefort: The Embassador [sic] and his Functions. Hg. v. Maurice Keens-Soper. Leicester 1997, S. VII, Anm. 2; and Art. ‘diplomacy’. In: The Oxford English Dictionary. Burke’s sources here, as in so many of his writings, appear to be French: see Encyclopédie méthodique: économie politique et diplomatique. Paris u. Liège 1784–88, Bd. IV., S. 814, 837; Lucien Bély: L’invention de la diplomatie. In: Ders. (Hg.): L’invention de la diplomatie. Moyen âge, temps modernes. Paris 1998, S. 11–23, here S. 11, Anm. 1. 12 Code Diplomatique. Hg. Portiez [de l’Oise]. 4 Bde. Paris 1802, here Bd. 1, S. V. 13 De l’Art de Négocier avec les Souverains. 2. Aufl. The Hague 1738, S. 104.
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2 The most satisfactory starting point for any exploration of political culture is Lynn Hunt’s celebrated definition: ‘the values, expectations, and implicit rules that expressed and shaped collective intentions and actions’.14 A broadly similar definition, from a more anthropological perspective, is provided by Clifford Geertz: ‘[…] the structures of meaning through which men [sic] give shape to their experience[…][P]olitics is[…]one of the principal arenas in which such structures publicly unfold.’15 The study of political culture is concerned, in other words, with identifying and analyzing norms of conduct and behaviour, exploring the infrastructure of assumptions and shared beliefs which shaped actions and in this way identifying structural changes, rather than focussing on the surface events, the actions themselves, as earlier generations of historians have usually done. The study of international relations is particularly suited to such an approach. Sources exist, above all abundant surviving correspondence and numerous treatises produced at the time, which reveal the shared assumptions and convictions of individual agents within international society and the common mentalities which resulted, and even help to explain how norms became established. During the past generation German and French historians have begun to apply the methodology and techniques of social and cultural history and of anthropology, such as a concern with symbols and semiotics, to diplomatic history, with important results.16 This present article differs from such approaches, both in its methodology and in its focus upon the diplomatic corps, though it is certainly analogous to them. It rests upon the conviction that the actor-centered approach which predominates in German-language scholarship || 14 Quoted by T. C. W. Blanning: The Culture of Power and the Power of Culture. Old Regime Europe 1660–1789. Oxford 2002, S. 4; From Lynn Hunt: Politics, Culture and Class in the French Revolution. London 1986, S. 10; For a more elaborate and linguistically-rooted, though broadly comparable definition, see Keith Michael Baker: Introduction. In: Ders. (Hg.): The Political Culture of the Old Regime. Oxford 1987, S. XII. 15 Clifford Geertz: The Politics of Meaning. In: Geertz: The Interpretation of Cultures. New York 1973, S. 312. 16 See Ursula Lehmkuhl: Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte: Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und soziologischen Institutionalismus. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 394–423; Karina Urbach: Diplomatic History since the Cultural Turn. In: Historical Journal 46 (2003), S. 991– 997; Peter Jackson: Pierre Bourdieu, the “cultural turn” and the practice of international history. In: Review of International Studies 34 (2008), S. 155–181.
50 | Hamish Scott – valuable though it has been for its focus upon the importance of diplomats – needs to be accompanied by an investigation of longer-term changes which operated at the structural level.17 An actor-centered emphasis comes with evident dangers, which have not always been fully recognised. It can reduce the history of diplomacy to a series of micro-narratives, illuminating in themselves but militating against efforts to analyse the longer-term evolution. The emphasis upon the contingent which is intrinsic to an actor-centered approach, can even appear to deny, at least implicitly, the existence of important longer-term trends, which also require to be identified and investigated. Two distinct considerations facilitate such an enquiry. The first is the enclosed nature of the diplomatic world and the international system of which it formed part. Its reciprocal, precedent-conscious and self-perpetuating nature not merely facilitated but actually demanded the adoption of the norms of conduct and the unspoken assumptions which lie at the heart of any approach rooted in political culture. External influences, what can loosely if not altogether accurately be styled ‘public opinion’ and even the nascent ‘public sphere’, exerted increasing influence, from the eighteenth century onwards. This was particularly true in western Europe, where newspapers and journals were being published on an increasing scale and where political debate and even participation were growing. Yet before the French Revolution, and to some degree until the generation before the First World War, the impact of such external influences upon policymakers and diplomats proved slight. To a surprising extent, the world of diplomacy was sealed off from the rest of society. Throughout the old regime, ambassadors and envoys were selected overwhelmingly from the social and political elite, and their actions were directed by other members of that elite. They interacted predominantly with members of their own caste, albeit from another country in most cases. Their world was also enclosed geographically and culturally. During the later seventeenth and earlier eighteenth century, French-style diplomacy spread to many other countries, which embraced its assumptions, practices and structures. This created a distinctive and prescriptive diplomatic culture, which by the 1720s existed across much of southern and western Europe, with an exten-
|| 17 Hillard von Thiessen u. Christian Windler (Hg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln, Weimar u. Wien 2010, is the key work for the ‘actor-centred’ approach.
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sion into central Europe.18 Resident diplomacy and the states-system in which it played a key function were interactive in nature, ensuring that the dominant Francophone culture spread rapidly during the decades which followed. As countries rose in political importance (for example, the Savoyard state or Brandenburg-Prussia) or assumed an enlarged international role (Russia), they embraced this culture, with its foundations in Louis XIV’s France, to a greater or lesser extent.19 A corollary of its enclosed nature is that this world facilitates the study of how a diplomatic culture became established and was transmitted. Though it has not always been acknowledged or, if acknowledged, faced directly, one fundamental problem is how prevailing norms were created. Where diplomatic culture is concerned, however, the process by which the transmission of these shared assumptions took place can be identified. They were spread in three overlapping ways. The first was by immersion in the court societies in which many noble ambassadors grew up and lived, as diplomacy itself assumed many of the characteristics of the aristocratic-courtly and cosmopolitan culture of the period.20 Diplomats studied it before setting off on their first embassy and, more importantly, were immersed in it as they encountered members of the host government and other ambassadors or envoys in the course of their duties. Finally, diplomatic culture was set down, usually by diplomats or officials who brought an insider’s understanding to their subject, in a series of treatises published at intervals during the long eighteenth century, and these were widely studied by ambassadors and envoys.21 Though such writings had appeared intermittently since the fifteenth century, the publication of Abraham de Wicquefort’s influential and long-lived L’Ambassadeur et ses fonctions in 1681 established a new standard and an ex-
|| 18 Russia and Poland-Lithuania would appear to be exceptions at this period: see the outstanding study by Jan Hennings: Russia and Courtly Europe. Ritual and the Culture of Diplomacy, 1648–1725. Cambridge 2016. 19 The only important exception was the Ottoman Empire, which did not fully embrace European-style reciprocal diplomacy until the second half of the nineteenth century. 20 See below, S. 58-64. 21 There is a useful introduction, extending across the entire early modern period, by Maurizio Bazzoli: Ragion di stato e interesse degli stati: La trattatistica sull’ambasciatore dal XV al XVIII secolo In: Nuova Rivista Storica 86 (2002), S. 283–328; Two particularly interesting examples, both written by diplomats, are: Embajada Española: An anonymous contemporary Spanish guide to diplomatic procedure in the last quarter of the seventeenth century. Ed. and transl. by H. J. Chaytor. In: Camden Miscellany. Bd. XIV. London 1926; Louis Rousseau de Chamoy: L’Idée du Parfait Ambassadeur. Hg. v. L. Delavaud. Paris 1912, completed in 1697.
52 | Hamish Scott panded subject-matter.22 It was reprinted frequently during the next halfcentury and was to prove remarkably influential; a copy was to be found in every single eighteenth-century French ambassador’s library for which an inventory has survived.23 Its enduring importance reflected the significant continuities in diplomacy. These were even more apparent in the contribution of international law to eighteenth-century diplomatic theory and culture. This was apparent in the continuing attention paid to two foundational works in international law, Hugo Grotius, De jure belli ac pacis (1625) and Samuel von Pufendorf, De jure naturae et gentium (1672), both of which long remained central to the diplomatic canon.24 Yet it is the innovatory nature of the eighteenth-century treatises which is more striking. This is especially true of two works by functionaries in the French foreign office: François de Callières’ celebrated De la manière de négocier avec les souverains of 171625 and the treatise published in 1737 by Antoine Pecquet fils, Discours sur l’art de négocier, though this may have incorporated sections from a manuscript composed by his father, Antoine Pecquet, who had also been a premier commis (the equivalent of an Under-Secretary) and around 1720 seems to have drafted a manual which contained a section entitled ‘De l’art de négocier’.26 The writings of Callières and Pecquet differed from their most famous predecessor. Whereas Wicquefort – as his title made clear – had focused upon the role and especially the legal privileges of an ambassador, the two Frenchmen examined the functions of a diplomat and particularly the negotiations he would be called upon to transact. This reflected wider changes in the decades around 1700. There were many imitators and numerous paraphrases of these || 22 Abraham de Wicquefort: L’Ambassadeur et ses fonctions. 2 Bde. The Hague 1681; Ders.: Mémoires touchant les ambassadeurs et les ministres publics. The Hague 1677, which was reworked to produce the more famous treatise. 23 E.g. the comments of Jacob Friedrich Freiherr von Bielfeld: Institutions Politiques. 2 Bde. The Hague 1760, Bd. 2, S. 143, Claire Béchu-Bénazet: La formation d’un ambassadeur au XVIIIe siècle: Vergennes. In: Revue d’histoire diplomatique 101 (1987), S. 215–225, here S. 219. 24 The importance of what he styled ‘Droit public’ was emphasized by J. de La Sarraz du Franquesnay: Le Ministre Public dans les cours étrangères. Ses functions et ses prerogatives. Amsterdam 1731, ‘Preface’ and passim. 25 There is a new edition, with an important introduction, by Jean-Claude Waquet: François de Callières: L’Art de négocier en France sous Louis XIV. Paris 2005. 26 Further research is needed to clarify the question of authorship. For basic biographical information on the father and son, see Jean-Pierre Samoyault: Les bureaux du secrétariat d’état des affaires étrangères sous Louis XV. Paris 1971, S. 301 f; And Camille Piccioni: Les premiers commis des affaires étrangères au XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 1928, S. 179–183 and 206–212.
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treatises; two of the most influential were the Prussian cameralist Jacob Friedrich Freiherr von Bielfeld’s Institutions Politiques (1760), the second volume of which contains an informative though highly-derivative study of mid-century diplomacy, and Martens’ Manuel diplomatique.27 The influence of these manuals was immense and enduring.28 When, in 1811, the director of France’s foreign office archives, Comte Alexandre d’Hauterive, produced a guide for would-be ambassadors admitted to study there as the preparation for a diplomatic career, he prescribed Wicquefort (for the information it contained), Callières and Pecquet as the essential texts for the novice.29 At around the same time, Russia’s apprentice diplomats were expected to read Callières and, when it appeared, Martens’ Manuel diplomatique.30 A century earlier Russia’s full entry into European diplomacy under Peter the Great had been accompanied by efforts to acquire and even to study European writings: not merely Grotius and Pufendorf, but also Wicquefort and Callières. A Russian translation of L’ambassadeur et ses fonctions seems to have been completed, though it remained in manuscript, while the library of the key adviser, P. P. Šafirov, contained a copy of De la manière de négocier avec les souverains. Peter himself sponsored a Russian translation of Callières, though it had not been completed by the time of his death in 1725. The task was resumed only under Catherine II. (1762–96)
|| 27 Bielfeld was first published in two volumes at The Hague in 1760; it was republished in three volumes (Leiden 1767–72) incorporating the ‘Political Gazetteer’ anticipated in the first edition. Wicquefort, Callières and Pecquet were the main and acknowledged sources for his discussion of ‘négociation’; Bielfeld: Institutions Politiques (wie Anm. 23), Bd. 2, S. 143. 28 Martens: Manuel diplomatique (wie Anm. 2), S. VI. In the libraries of almost all eighteenthcentury French diplomats which can be reconstituted, five key texts can always be found: Wicquefort, Callières, Grotius, De jure belli, Pufendorf, De jure naturae, and Emer de Vattel, Le droit de gens. Vgl. Claire Béchu-Bénazet: Les ambassadeurs français au XVIIIe siècle: Formation et carrière. In: Bély: L’invention (wie Anm. 11), S. 331–346, here S. 338–340. 29 Alexandre d’Hauterive: L’éducation d’un diplomate. In: Revue d’histoire diplomatique 15 (1901), S. 161–224, here S. 215, 217. This fascinating manuscript was written by d’Hauterive (1754–1830), who had begun his diplomatic career during the old regime and was a foreign office commis, subsequently becoming director of the archives 1807–30. He also was responsible for the École Diplomatique, which provided a severely practical training largely through the study of previous diplomatic correspondence: see Alain Meininger: D’Hauterive et la formation des diplomates. In: Revue d’histoire diplomatique 89 (1975), S. 25–69. 30 Patricia K. Grimsted: The Foreign Ministers of Alexander I. Political attitudes and the conduct of Russian diplomacy 1801–1825. Berkeley u. Los Angeles 1969, S. 16.
54 | Hamish Scott when Russia again played an enlarged international role, and a Russian version was published in 1772, based upon the revised French edition of 1757.31 The Russian translation underlined the extraordinary and continuing influence of Callières’ treatise. First published in 1716, it was translated into English that same year, into German the next year and into Italian by 1726.32 Reprinted or revised French editions appeared in 1750 (London), 1757 (Ryswick) and 1766 (Brussels), while Pecquet was reprinted in 1764 and 1769.33 Wicquefort had earlier been translated into English in 1716.34 Though the establishment of French as the language of diplomacy par excellence reduced the need for translations, it did not remove it: Martens’ Manuel diplomatique would be translated into Russian as late as 1828.35 These and similar treatises were crucial in establishing of a relatively uniform diplomatic culture; they also enable its distinguishing characteristics to be identified.
3 The establishment of French as the principal language of diplomacy constituted the first of these.36 It formed part of a wider linguistic and cultural change: the final if gradual eclipse of Latin during the long eighteenth century and its replacement by French as the dominant language of Europe’s educated elites.37 French became the language of the court, the salon and the academy during and immediately after Louis XIV’s reign (1661–1715), when France’s cultural and || 31 V. E. Grabar: The History of International Law in Russia 1647–1917. A Bio-Bibliographical Study. Translated by W.E. Butler. Oxford 1990, S. 40, 47, 51, 133–135 and passim. 32 The English edition was published in London in 1716; the German in Leipzig in 1717, and the Italian at Parma in 1726: François de Callières: De la manière de négocier avec les souverains. Ed. Alain P. Lempereur. Geneva 2002, S. 211 f. 33 Ebd., S. 211; Antoine Pecquet: Discourse on the Art of Negotiation. Translated by Aleksandra Gruzinska u. Murray D. Sirkis. New York 2004, S. XXI. 34 Abraham de Wicquefort: The Embassador and his Functions. Republished with an introduction by Maurice Keens-Soper. Leicester 1997. 35 Grabar: History (wie Anm. 31), S. 291. 36 See Marc Fumaroli: Quand l’Europe parlait français. Paris 2001, esp. S. 9–22. There is still much of interest in Ferdinand Brunot: Histoire de la langue française. 13 Bde. Paris 1966–73; On the much narrower question of French in diplomacy, see Alexander Ostrower: Language, Law and Diplomacy. A study of linguistic diversity in official international relations and international law. 2 Bde. Philadelphia 1965, S. 267–319. 37 Françoise Waquet: Latin or the Empire of a Sign. From the sixteenth to the twentieth century. London 2001, S. 97–99.
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political prestige reached new heights, and its spread was advanced by its central place in the intellectual world of the eighteenth century. It became the second language of the continent’s nobles and sometimes their first. Its expansion added a new element to the established linguistic cocktail. Exactly at mid century the indefatigable Friedrich Carl Moser drew up his great compilation on the languages of public and courtly Europe.38 Distinguishing between ‘state’ and ‘court’, he made clear that in every capital each category would normally have two tongues, which were recognised and employed, and that increasingly French was likely to be one of these. Though it might be dominant at court and in the chancellery, bilingualism and sometimes even linguistic pluralism was an important characteristic of Europe’s ancien régime. The most obvious change was that French had replaced Latin as the principal international language.39 Its expansion was crucial for Europe’s new diplomatic culture, both facilitating and accelerating its spread and defining its geographical limits. When Jean Dumont began to publish his famous collection of treaties in 1726, he adopted French as its language, since as he said ‘at present it is the most widely used across Europe’.40 A decade later Pecquet noted rather complacently that ‘our language has become in some manner that of all Europe’, though he went to acknowledge that a knowledge of other languages was necessary, since this broke down barriers and contributed to good relations.41 There || 38 Friedrich Carl von Moser: Abhandlung von den Europäischen Hof- und Staatssprachen, nach deren Gebrauch im Reden und Schreiben. Frankfurt a.M. 1750, esp. S. 1–40; Guido Braun: Frédéric-Charles Moser et les langues de la diplomatie européenne (1648–1750). In: Revue d’histoire diplomatique 113 (1999), S. 261–278, for a useful introduction. There is now an important detailed study by Guido Braun, La connaissance du Saint-Empire en France du Baroque aux Lumières, 1643–1756. München 2010, S. 187–375; see also Braun: Une tour de Babel? Les langues de la négociation et les problèmes de traduction au Congrès de la paix de Westphalie (1643–1649). In: Rainer Babel (Hg.): Le diplomate au travail. Entscheidungsprozesse, Information und Kommunikation im Umkreis des Westfälischen Friedenskongresses. München 2005, S. 139–172. 39 As late as 1697 Chamoy had deemed a knowledge of Latin “absolutely necessary since it was spoken almost everywhere”; Chamoy: L’Idée (wie Anm. 21), S. 23 f. 40 Quoted by Brunot: Histoire (wie Anm. 36), Bd. 5, S. 430. The first edition of Jean Dumont’s celebrated treaty collection, Jean Dumont: Corps universel diplomatique du droit des gens. 8 Bde. Amsterdam u. The Hague 1726–31. 41 Pecquet: Discourse (wie Anm. 33), S. XXVII f. This was in itself novel; Louis XIV’s ambassadors might have known some Latin, but usually learned the language of their post only when they arrived, if at all: William J. Roosen: The True Ambassador. Occupational and personal characteristics of French Ambassadors under Louis XIV. In: European Studies Review 3 (1973), S. 121–139, esp. S. 129 f.
56 | Hamish Scott was also a significant gain in confidentiality if an ambassador did not have to employ an interpreter. In some states the continuing employment of nonnatives also encouraged the adoption of French, though by mid-century more and more diplomats were coming from the country they represented. By the early 1780s, when Wenck was composing the preface to the second edition of his collection of Latin treaties, he somberly testified to the eclipse of that language, writing that in all instances French versions were provided because of the way in which it was established as the ‘preponderant’ language for diplomatic negotiations.42 There were of course significant exceptions, extensive regions where the penetration of French was incomplete and sometimes very limited indeed. In the area of south-eastern and Mediterranean Europe which was still under Ottoman influence, if no longer Ottoman sway, a form of pidgin Italian was in use until the 1830s. Within the Holy Roman Empire German, rather than French, was the dominant political language and would remain so after 1815, while Latin long remained important. All the states of the Reich normally employed German in imperial affairs. More problematical is the extent and the time scale of the incorporation of Europe’s geographical periphery into this Francophone world: Sweden in the north, Russia in the east, Spain, Naples and Sicily in the south, the British Isles in the west. Detailed studies are lacking, and satisfactory generalisations difficult, but in general it was less complete than elsewhere. Diplomacy’s Francophone idiom strengthened as time passed. Since a great deal of an ambassador’s duties would be conducted in that language, it became quite common to require him to report in French and also to send his formal orders in it.43 This would sharpen his linguistic skills and might increase his superiors’ control over him; it would also advance indirectly the training which governments sought to achieve through correspondence with their representatives abroad. By the mid-eighteenth century French had been adopted by several national foreign services, in preference to their native tongues. It became the language of Prussian diplomacy from Frederick the Great’s accession in early summer 1740, while by mid-century Denmark’s diplomatic correspondence was largely in French, as was that of the Savoyard state. Its adoption could be incomplete: Dutch statesmen employed it in their private correspondence and in negotiations, though not when writing officially to the Republic’s ambassadors.44 There were also important exceptions, above all the Austrian Habsburgs || 42 Brunot: Histoire (wie Anm. 36), Bd. 8, S. 834. 43 Brunot: Histoire (wie Anm. 36), Bd. 8, S. 819–823. 44 Brunot: Histoire (wie Anm. 36), Bd. 8, S. 190.
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who long favoured German, not least because of the amount of material concerning the Reich which had to be transacted. Even in this case, however, French became more important after mid-century. Wenzel Anton von Kaunitz, Habsburg foreign minister for four decades after 1753, employed it in private correspondence, and occasionally drew up formal instructions in that language.45 By the 1820s, according to Martens, at Vienna only the affairs of the German Confederation were not transacted in French.46
4 The French language did more than any other single factor to unify Europe’s diplomatic world and to provide a conduit for its distinctive culture. Its spread largely resulted from a second and better-known change: the establishment of resident diplomacy.47 Within half a century - broadly the 1670s to the 1720s most European states apart from the Ottoman Empire began to maintain continuous and reciprocal diplomatic relations with each other.48 Diplomatic corps emerged in most capitals, where they constituted exactly the kind of ‘independent society’ identified by Pecquet.49 Involvement in coalitions against Louis XIV’s France encouraged the adoption of French style-diplomacy, which most states had experienced at first hand, either as allies or targets.50 In this way they || 45 E.g. those for Gottfried Freiherr van Swieten, sent as envoy to Berlin in late 1770; Sorel: Europe and the French Revolution (wie Anm. 4), S. 182. This was explicitly declared to be because only French could be spoken in the Prussian capital. 46 Martens: Manuel diplomatique (wie Anm. 2), S. 162. 47 See M. S. Anderson: The Rise of Modern Diplomacy 1450–1919. London 1993, Kap. 2; Linda S. and Marsha L. Frey: The History of Diplomatic Immunity. Columbus (OH.) 1999, Kap. 6; And Lucien Bély: L’art de la paix en Europe. Naissance de la diplomatie modern XVIe-XVIIIe siècle. Paris 2007; Ders. (Hg.): L’invention (wie Anm. 11); Ders. (Hg.): L’Europe des traités de Westphalie. Esprit de la diplomatie et diplomatie de l’esprit. Paris 2000. 48 Bielfeld: Institutions Politiques (wie Anm. 17), Bd. 2, S. 144, 147, for a contemporary view of its significance. 49 See above, S. 48. 50 This has been studied for the Austrian Habsburgs by Klaus Müller: Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden 1648–1740. Bonn 1976; And Erwin Matsch: Geschichte des auswärtigen Dienstes von Österreich(-Ungarn) 1720–1920. 2. Aufl. Wien 1986, S. 13–164; for Sweden by Heiko Droste: Im Dienst der Krone. Schwedische Diplomaten im 17. Jahrhundert. Berlin 2006; And the chapters in Sven Tunberg et al.: Histoire de l’Administration des Affaires Etrangères de Suède. Upsala 1940, S. 73–363; and for the Savoyard state by Daniela Frigo: Principe, Ambasciatore e “Jus Gentium”. L’amministrazione
58 | Hamish Scott came to admire and soon to emulate the supple, polished, more creative diplomacy which they encountered. Louis XIV’s diplomatic service - exactly like the court at Versailles and the domestic administration, headed by the intendants - came to enjoy enormous prestige, while its sustained success ensured that it was copied by his rivals, who modified their existing structures and practices to take account of French developments. These decades also saw a series of peace conferences at the end of major wars, following on the great congress which had produced the settlement at Westaphlia in 1648: Nijmegen at the end of the Dutch War, Ryswick at the close of the Nine Years War and, above all, the extended discussions at Utrecht which concluded the War of the Spanish Succession. These meetings fostered the development of diplomacy as well as increasing admiration for the skill of French diplomats.51 Such gatherings continued during the first half of the eighteenth century, with unsuccessful congresses at Cambrai (1724) and Soissons (1728–29) and meetings at Breda and Aix-la-Chapelle (1746–48) which ended the War of the Austrian Succession. The experience of extended political discussions – and the accompanying social interaction – both with representatives of opposing states and with allies led to closer and more regular contacts, with important consequences. Though resident diplomacy had a long history, the scale and nature of the contacts which evolved during the reign of Louis XIV were quite novel. The reciprocal nature of diplomatic representation ensured this network would spread across Europe, and by the mid-eighteenth century the continent’s capitals were coming to be linked by permanent embassies.52 The diplomacy which resulted was both more continuous and usually conducted by representatives of a much higher social standing than hitherto. Though noblemen and even great aristocrats had acted as diplomats in the past, they had headed short, often ‘glamour’ missions which had a specific purpose: to arrange a dynastic mar-
|| della politica estera nel Piemonte del settecento. Rome 1991, which covers a slightly later period; The best study of the model itself is still C.-G. Picavet: La Diplomatie Française au temps de Louis XIV (1661–1715). Institutions, moeurs et coutumes. Paris 1930. 51 The importance of these gatherings has been illuminated by the seminal work of Lucien Bély: Méthodes et perspectives dans l’étude des négociations internationales à l’époque moderne. In: Rainer Babel (Hg.): Frankreich im europäischen Staatensystem der Frühen Neuzeit. Paris 1995, S. 219–234; Ders.: Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV. Paris 1990, esp. Kap. 4. For contemporary testimony, see La Sarraz: Le Ministre Public (wie Anm. 24), S. 218. 52 The great work of Enlightenment international law, makes clear how well-established this was; Emer de Vattel: Le droit de gens. 3 Bde. Washington 1916, Bd. 4, Kap. 5–9, S. 362–398, setting out its rules and conventions.
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riage, to conclude an alliance, to negotiate a peace settlement. Resident diplomats had usually been individuals of much lower social status or non-natives of the country they represented. By the later seventeenth century, however, the employment of foreigners was becoming less common. Traditionally a diplomat’s main task had been to acquire the information which lubricated the wheels of government, and this long remained his principal function, together with representing his sovereign.53 In the decades around 1700, however, the established distinction between reporting of this kind and handling actual negotiations – identified as the central functions by authors such as Callières – was gradually eroded.54 Noblemen continued to head special missions, but also began to serve in large numbers as resident diplomats.55 The result was that European diplomacy acquired the noble ethos it would retain until the First World War.
5 This was the new diplomatic culture’s third dimension: the growing dominance of the social elite, evident from the later seventeenth century onwards, and linked to it, the enhanced importance of the monarchical court. Earlier generations had emphasized the value of the Humanist culture of the Renaissance for ambassadors, but this was now replaced by a concern with social origins and particular skills. It is striking that Wicquefort, in by far the best-known and most influential handbook of the age of Louis XIV, had set his face firmly against sending noblemen. His emphasis upon professionalism made him sceptical about the value of birth alone. Except for purely ceremonial missions, Wicquefort did not think that nobles made good diplomats. On the contrary: they were too fond of war, and too full of their own importance and so given to private initiatives, rather than following their instructions in the way he deemed essential.56
|| 53 In the later seventeenth century the “Embajada Española” had regarded actual negotiations as a minor part of an ambassador’s duties; Embajada Española (wie Anm. 21), S. 27 and passim. 54 François de Callières: The Art of Diplomacy. Hg. v. H. M. A. Keens-Soper u. Karl W. Schweizer. Leicester u. New York 1983, S. 110. 55 See also Chamoy: L’Idée (wie Anm. 21), S. 20; Embajada Española (wie Anm. 21), S. 3. 56 Wicquefort: L’Ambassadeur (wie Anm. 22), Bd. 1, S. 154–159, and Bd. 2, S. 7, 98.
60 | Hamish Scott The diplomatic world described by Callières and Pecquet four decades later was very different.57 Both authors assumed that only noblemen could head missions, and that the world of diplomacy would be dominated by the social elite. Pecquet was quite explicit, declaring that only members of the nobility would make good ambassadors or envoys because they alone would have the appropriate education and, more importantly, would be familiar with the kind of court society in which diplomats now operated.58 They possessed the connections and the social poise to open doors, while the titles many possessed were intended to impress the courts to which they were sent, where these were viewed as additional marks of favour. This was linked to a wider evolution, as the notable development during the long seventeenth century of the aristocratic ‘Grand Tour’ had advanced the internationalization of the social elite in many countries and helped to break down the barriers between one national nobility and another. A diplomat’s primary task was still to represent his ruler, and it was universally believed that a nobleman could best do this. These arguments were reinforced by two additional considerations: the absence, in most European countries, of a sizeable alternative social group from which ambassadors could be drawn, particularly as fewer and fewer Churchmen were sent as diplomats except (in Catholic monarchies) to Rome, and the assumption that noble diplomats would expend their own resources on their missions, which they viewed as strengthening their links with the ruler, as part of the service which their families had always provided and which validated their own privileged status. Within an overwhelmingly agrarian economy, the nobility still controlled by far the greatest proportion of Europe’s wealth, and a diplomatic mission required substantial private means.59 This change is borne out by studies of Europe’s diplomatic corps, which were becoming more blue-blooded.60 There were significant exceptions: above all the Dutch Republic and the British state, with their distinctive social structures, yet even Britain’s diplomatic service contained a significant number of peers, who usually held the most important embassies.61 The ranks of Prussia’s diplomats contained an unusual number of non-Prussians and non-nobles,
|| 57 Chamoy: L’Idée (wie Anm. 21), S. 18, 22; La Sarraz: Le Ministre Public (wie Anm. 24), S. 28, 91–96, passim. 58 De l’Art de Négocier (wie Anm. 13), S. 46 f., 65, 102, 107–109, and passim. 59 La Sarraz: Le Ministre Public (wie Anm. 24), S. 180–185. 60 Bély: Espions et ambassadeurs (wie Anm. 51), S. 291–301 and 307–311. 61 D. B. Horn: The British Diplomatic Service, 1689–1789. Oxford 1961, Kap. 5.
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reflecting the complete primacy of military service for the elite after the reign of Frederick William I, while it took several decades for the numbers of native Russian noblemen serving as ambassadors and envoys to reach the level found in other countries. But elsewhere the general trend is clear. Nobles dominated the embassies and other missions of the European powers.62 As in so much else, France took the lead. In the later-seventeenth century members of the traditional military nobility [noblesse d’épée], often with army service behind them, began to predominate.63 Between 1648 and 1789 almost one third of French diplomats - 104 out of around 350 - came from such lineages. By contrast less than one in eight - 40 in total - came from a legal or administrative background in the noblesse de robe. The diplomatic services of most eighteenth-century states were dominated by long-established lineages, while any non-nobles sent as diplomats were swiftly ennobled.64 In the Savoyard state, out of 54 diplomatic appointments during these decades, 36 went to members of established noble families, fifteen to lineages of more recent creation, while only three went to commoners and they were ennobled during their careers.65 Spain’s diplomatic service was a noble redoubt: out of 167 ambassadors, envoys or chargé d’affaires who headed missions between 1700 and 1808, around 30 were grandees, in other words members of the aristocratic elite, who inevitably dominated the most prestigious embassies, while the remainder were drawn predominantly from longestablished noble families.66 The contrast with France is immediate and instructive. Relatively few ducs et pairs, the aristocratic apex of the French nobility, became diplomats in the period 1648–1789, and those who did were usually sent to Rome. The extended absence from court involved made diplomacy unat-
|| 62 This pattern is confirmed by the standard, if incomplete, list of diplomatic representatives for the period 1648–1815: Ludwig Bittner u. Lothar Gross (Hg.): Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder. 3 Bde. Berlin, Zürich u. Graz 1936–65. 63 Jean Baillou (Hg.): Les Affaires étrangères et le corps diplomatique français. 2 Bde. Paris 1984, here Bd. 1, S. 184–186, 189; Picavet: La Diplomatie Française (wie Anm. 50), S. 73–119; Claire Béchu-Bénazet: Les ambassadeurs français (wie Anm. 28), S. 333. 64 Müller: Das kaiserliche Gesandtschaftswesen (wie Anm. 50), S. 180–215. 65 Christopher Storrs: Savoyard Diplomacy in the eighteenth century, 1684–1798. In: Daniela Frigo (Hg.): Politics and Diplomacy in early modern Italy. The Structure of Diplomatic Practice, 1450–1800. Cambridge 2000, S. 210–253, here S. 245; Frigo: Principe (wie Anm. 50), S. 119–152. 66 Didier Ozanam: Les diplomates espagnols du xviiie siècle. Introduction et répertoire biographique (1700–1808). Madrid u. Bordeaux 1998, S. 9–125, the fullest and most systematic study of any single country; Bély: Espions et ambassadeurs (wie Anm. 51), S. 294 f.; Baillou: Les Affaires étrangères (wie Anm. 63), Bd. 1, S. 184 f.
62 | Hamish Scott tractive to French aristocrats, who were inclined to view an embassy as an exile.67 The grip of the traditional nobility on Spanish diplomatic posts actually strengthened during the eighteenth century. In the period 1700–59 it provided 76% of all diplomats; this figure rose to almost 86% for the period after Charles III’s accession. These men overwhelmingly had served previously either in the army or central government. Even the Spanish secretaries of embassies came from the numerous lesser nobility.68 One corollary, in Spain as elsewhere, was that a clear majority of these men lacked any relevant experience or training and took only one mission, which was likely to be short: over 60% in the Spanish case, with almost half of all posts being held for less than four years. This inevitably militated against the development of professionalism or a career structure.69 The trend was reinforced by its corollary: in most countries the nobility also dominated the most important posts in the new and larger agencies established to handle foreign policy at this period.70 The growing volume of negotiations, as resident diplomacy became established, made such specialization desirable; it also reflected a wider development, as governments evolved from their traditional judicial mode into more modern administrative structures. Once again France led the way, with the elaboration of a large and well-organised foreign office containing many more specialised personnel during the second half of Louis XIV’s reign, and it served as the model for several European states.71 Bourbon Spain’s new rulers lost no time in creating a French-style Secretariat of State for Foreign Affairs in 1714, which by the later-eighteenth century had evolved into a specialised ministry of foreign affairs. The growing international ambitions of Russia and Prussia were evident in similar changes. In 1719 Peter the Great replaced the old Department of Embassies [Posol’skii Prikaz] with a College of Foreign Affairs, which expanded rapidly. In Prussia Frederick William I’s extensive administrative reforms involved the setting up of a Department of External Affairs (Auswärtiges Amt) in 1728; five || 67 Baillou: Les Affaires étrangères (wie Anm. 63), Bd. 1, S. 184 f. 68 Ozanam: Les diplomates espagnols (wie Anm. 66), esp. S. 31–33, 35–37, 75, 123. 69 Ozanam: Les diplomates espagnols (wie Anm. 66), S 38, 47, 123. 70 This is a central theme of Frigo: Principe (wie Anm. 50). 71 The best short introduction remains John C. Rule: Colbert de Torcy, an Emergent Bureaucracy, and the Formulation of French Foreign Policy, 1698–1715. In: Ragnhild Hatton (Hg.): Louis XIV. and Europe. London 1976, S. 261–288; see now John C. Rule u. Ben S. Trotter: A World of Paper. Louis XIV, Colbert de Torcy and the Rise of the Information State. Montreal u. Kingston 2014.
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years later (1733) it became known as the Kabinettsministerium. In some countries such initiatives were delayed: in the Habsburg Monarchy reforms introduced in 1742 and 1753 created a more modern State Chancellery (Staatskanzlei). These new ministries were dominated by men drawn from the nobility, whether from the traditional military lineages, or the more recently elevated families who had risen through administrative service. This reinforced the noble ethos, apparent in the selection of personnel at every turn. Europe’s diplomacy was becoming more aristocratic in a second sense, as it came to be suffused by the elite’s social and cultural assumptions, due to the increasing and unprecedented role of courts in diplomacy.72 At one level this resulted from the nobility’s dominance of resident diplomacy. Noble diplomats, now often accompanied by their wives, were accustomed to living at court in their own countries and expected to do so during their missions, which might last for several years rather than a few months. The long eighteenth century saw diplomats become a permanent feature of Europe’s courts and the aristocratic societies which underpinned them. Though they were not admitted to every court gathering, they were permitted entrance to a significant number. At most courts, moreover, diplomatic receptions and audiences were among the most frequent ceremonies. Courts played a central role in diplomacy as the location where ambassadors and envoys could mingle with native aristocrats, ministers and even members of the ruling dynasty. Regular attendance at the ruler’s court was an essential dimension of their duties as well as a welcome social diversion. This strengthened the aristocratic tone of diplomacy. When Callières and Pecquet recommended the selection of noblemen, they were merely reflecting a widespread assumption that they would have to inhabit the same world in which they themselves had been educated and lived their lives. In this way resident diplomacy came to be an aggregate of all Europe’s court societies.73 The ‘perfect ambassador’ - who existed only in the minds of the more optimistic diplomatic theorists - was in this perspective the latter-day equivalent of Baldassare Castiglione’s famous Courtier and was assumed to possess very similar qualities. Pecquet's celebrated ‘society’ of diplomats was an extension of the court society found in virtually all European monarchies, now transposed onto the world of international relations.74 He, like Callières, modelled the ‘art of
|| 72 Jeroen Duindam: Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s dynastic rivals. Cambridge 2003, Kap. 6, esp. S. 183, 199 f., 215. 73 Bély: Espions et ambassadeurs (wie Anm. 51), S. 374. 74 Marc Belissa: Fraternité Universelle et Intérêt National (1713–1795). Les cosmopolitiques du droit des gens. Paris 1998, S. 103, 106 f.
64 | Hamish Scott negotiation’ on the psychological art of the courtier to manage men, control passions and (where necessary) dissemble. This completed an outlook, which was not the product of professional training but of acculturation and habitus. Diplomats, who had undergone the socialisation which was part of the upbringing of every aristocratic child, completed their formation at court, where the norms of conduct assumed final form. These important changes were set out in Dumont’s celebrated collection of international treaties and diplomatic protocol, the bulky fourth and fifth volumes of which were intended to guide working diplomats about the crucial topic of ceremonial.75 The documents it contained were very largely in French, and the whole compilation provides the best guide to the diplomatic culture spreading across Europe. That culture assumed continuous political relations, and was Francophone, hierarchical in both its assumptions and personnel, aristocratic - or at least dominated by the ethos of the nobility - and located at court, as much as and perhaps more than in the chancellery. It was informal as well as formal and had come to be concessive in tone, proceeding by negotiation. The ambassador or envoy spent much of his time on an extended ‘social round’ of dinners, receptions, musical and theatrical performances of all kinds, many of which took place at court or in the aristocratic society which surrounded this. These occasions were crucial to a diplomat’s mission, and provided an opportunity to acquire information, to observe his rivals and the host government, and to insinuate ideas to the ministers of the court to which he was accredited and even to the ruler. Though these decades saw continuous negotiations of the modern kind become part of a diplomat’s duties, such discussions always consumed far less time than informal contacts and social gatherings, and could be less important for the outcome of his mission. The political function of the social round was to permit the exchange of information: diplomats traded scraps of intelligence as commodities and in this way secured much of the news which filled their despatches.76
|| 75 [Jean Dumont]: Supplement au Corps Universel Diplomatique du Droit de Gens. 5 Bde. Amsterdam u. The Hague 1739. After the publication of the first edition (1726–31) its compiler determined to produce an enlarged and up-dated second edition, which would give full attention to ceremonial, but he died before the work was very far advanced. It was completed by another well-known publicist, Rousset de Missy. The “Avertissement de l’Editeur du Supplement” printed at the beginning of volume one makes clear the circumstances of the republication. 76 Significantly, Martens: Manuel diplomatique (wie Anm. 2), S. 106, spoke of the need for an “échange” of information, while La Sarraz: Le Ministre Public (wie Anm. 24), S. 201 f., talked of the value of a “Commerce” with fellow diplomats.
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6 The diplomatic culture of old regime Europe emerged and flourished during the century from the 1680s to the 1780s: from the world described by Wicquefort to that disrupted by the French Revolution. Yet, like other aspects of the old order, it proved surprisingly resilient, continuing long into the nineteenth century and, in some measure, until the First World War. That is not to deny the important changes which resulted from the struggle between monarchical Europe and the French Revolution. Its outbreak in 1789 soon imparted a new, more ideological tone to international relations, created first by the dramatic upheavals within France itself and then by the external policies pursued by successive revolutionary governments. In autumn 1792 the Bourbon monarchy was overthrown, and France became a republic. This dramatic change, and the violent way it was brought about, created problems within the hierarchical and deeply monarchical world of later eighteenth-century diplomacy, within which republics were both few in number and politically negligible. Rulers and elites throughout Europe were further alienated by the trial and execution of the King, Louis XVI (1774–93) and his wife Marie Antoinette. The only precedent had been the overthrow of Charles I’s Stuart monarchy a century and a half earlier, with the execution of another King and a short-lived republic headed by Oliver Cromwell. The obstacles faced by Cromwellian England in securing international recognition and acceptance, indicated the problems which a deeply monarchical international community had in accepting a dramatic change of political system in one of its most prominent members, involving the trial and execution of a divinely-ordained King, and these sentiments were to be even more evident during the 1790s. The increasingly radical nature of political régimes in Paris, particularly before the Directory’s establishment in 1795, together with the apparent determination of the revolutionaries to export political change, if necessary by armed force, raised the ideological temperature still further. The ‘Fraternity and Assistance’ decrees of November and December 1792 proclaimed support for any people who tried to imitate the French and overthrow its oppressors, while the initial and substantial territorial gains made in 1792–93 highlighted France’s aggressive and ambitious aims. By early 1793 the regicide, expansionist régime in Paris challenged monarchical Europe, and the threat increased throughout the next two decades. France’s role in sponsoring a series of ‘satellite republics’ intensified anxieties, while the scale of its military successes and territorial gains, particularly under the dynamic leadership of Napoleon Bonaparte, overturned Europe’s political geography and seemed to threaten the foundations of
66 | Hamish Scott established authority everywhere. These developments transformed the political objectives of the conservative powers and influenced the conduct of diplomacy. The older dynastic and territorial motives behind foreign policy remained significant throughout the wars of 1792–1815, but they were soon accompanied by the new ideological tone: on both sides the conflict quickly came to be seen as a struggle between competing views of society and politics. There were significant sources of continuity even within revolutionary France. One was the foreign ministry itself, at least until the end of the 1790s.77 These years did see the evolution of a more powerful central secretariat, but with this exception the administrative mechanisms which existed before 1789, continued to operate even into the Napoleonic period. There was also surprising continuity in personnel: foreign ministers came and went with great rapidity, as the roulette wheel of revolutionary politics spun round and round, but many clerks and specialist advisers remained in post during the 1790s and even the 1800s. These figures were frequently not noblemen, unlike their superiors, and so benefited from the more meritocratic career structure which now prevailed. Continuity was also provided by the political culture of French diplomacy and revolutionary politics. Foreign policy before 1789, and the debates which had surrounded it, provided a repertoire of arguments and propaganda which the revolutionaries in turn could deploy.78 Ancien régime diplomacy became an immediate target for the revolutionaries.79 Its monarchical and aristocratic nature clashed with the assumptions of the new French régime and soon created friction. The abolition of the status of nobility in June 1790 was a particular source of difficulties, since most diplomats accredited to Louis XVI’s court were themselves noble, yet in theory they could now not use their titles, nor dress their servants in livery, nor display either their ruler’s coats of arms or their own, on the portals of their embassy
|| 77 Frédéric Masson: Le Département des Affaires Etrangères pendant la Révolution 1787–1804. Paris 1877, remains an invaluable source of information; see also Baillou: Les Affaires étrangères (wie Anm. 63). 78 This has been illuminated by the researches of Gary Savage: Favier’s Heirs. The French Revolution and the ‘secret du roi’. In: Historical Journal 41 (1998), S. 225–258; And Ders.: Foreign Policy and Political Culture in later eighteenth-century France. In: Scott u. Simms (Hg.): Cultures of Power in Europe (wie Anm. 1), S. 304–325. 79 See the important article by Linda Frey u. Marsha Frey: “The Reign of the Charlatans Is Over”. The French Revolutionary Attack on Diplomatic Practice. In: Journal of Modern History 65 (1993); S. 706–744, together with the overlapping account in Frey u. Frey: The History of Diplomatic Immunity (wie Anm. 41), Kap. 8; See now: Linda Frey u. Marsha Frey: The Culture of French Revolutionary Diplomacy. In the Face of Europe. Basingstoke 2019.
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buildings or residences. Before long a revolutionary mob insulted the wives of Spanish and Savoyard diplomats because of their servants’ noble livery, exemplifying the way in which popular and official resentment was directed against the representatives of ancien régime states. Throughout the 1790s there were a handful of incidents involving the remaining members of the diplomatic community in Paris, itself reduced in size due to the open hostilities after 1792-93 and the widespread revulsion at the execution of the royal couple, which led some states to break off relations. As late as 1798 the Papal and Portuguese ambassadors were both detained by over-zealous revolutionary officials, though they were soon released. All of these issues came to be points of friction, causing a series of minor disputes, but – surprisingly – did not in themselves generate real international tension. The French Revolution’s strongly legalistic culture, together with a degree of political necessity, ensured that the persons and property of foreign diplomats were largely protected in France during the 1790s. The actions of French diplomats in foreign courts produced significantly more tension. During the 1790s the representatives sent to neutral and client states ignored many of the established rules and conventions governing the conduct of diplomats. There were numerous points of friction, and these increased as the government in Paris became increasingly radical. The wholly novel scale of involvement by French diplomats in the domestic politics of countries to which they were accredited, together with the fact that they represented a régime which was feared and hated, very quickly isolated these individuals and cut them off from the society of other diplomats. What were, to emissaries of the new French Republic, simple and necessary actions, inevitably appeared provocative to their hosts. The planting of liberty trees in embassy courtyards and even more the decoration of official residences with the distinctive red-white-and-blue flags of the Revolution, were the kind of actions which highlighted the gulf separating the new order from the old and, at times, caused major clashes. When the first ambassador from the French Republic to the Habsburg court, General Bernadotte, displayed a four-foot long tricolour outside his embassy on an Austrian national holiday, a crowd attacked the building and tore the flag down, leading to his temporary departure from Vienna. Envoys from France were murdered by mobs in Rome in 1793 and again in 1797, while – even more seriously – two French representatives at the conference at Rastatt, were killed by Austrian hussars as the meeting broke up in spring 1799. These and similar episodes were in themselves relatively minor, but they caused bad feeling on both sides and, more importantly, highlighted the increasing gulf between republican France and monarchical Europe.
68 | Hamish Scott Distinctive dress and speech were one dimension of the formality of ancien régime diplomacy, and here too the behaviour of French representatives emphasized both the new political world being established by the Revolution and its potent challenge to the old order. Ambassadors from the established monarchies all wore what had become standard dress by the second half of the eighteenth century: silk coats, ornate waistcoats, breeches and stockings, the clothing – of course – of an aristocrat. Their French counterparts shunned such finery and appeared in simple coats and trousers, the established dress of revolutionary politicians and citizens of the new republic. Old regime diplomats paced their steps in a choreographed manner, but the representatives of the new Republic strode purposefully into conferences, rejecting the established diplomatic pas-de-deux. Their notably blunt forms of speech and, before long, refusal to genuflect before the monarchs to whom they were accredited, as was customary at the start of an audience, or to utter words such as ‘majesty’ or even ‘monsieur’ (which designated a nobleman) further highlighted the chasm which had developed. Eventually, in August 1796, the term ‘excellence’ was prohibited by the Directory, and ‘citoyen’ was insisted upon as the only acceptable designation for a diplomat, whether French or foreign. The disappearance of the social events, which had been integral to ancien régime diplomacy, where political objectives could be pursued informally and valuable information gathered, proved significant, as discussions were now confined entirely to formal conferences. But it was the negotiating style adopted by French representatives which did most to separate the old and new political worlds. Hitherto diplomacy had been characterized by give-and-take, by the reaching of agreements through discussion and compromise by ambassadors who believed themselves to be members of a common European community. By contrast France’s representatives were much blunter and far less flexible, seeing themselves as adversaries of the old order rather than participants in international society, while before long the scale of France’s military victories enabled them to insist upon their demands in a way which would reach its peak under Napoleon Bonaparte’s rule. France’s negotiators set out their terms and stuck to them, refusing the established forms of compromise and being quite prepared to shout and hector when needed: at the Rastatt conference the Directory’s representative screamed and banged the table to underline his demands, actions which would have been quite unthinkable before 1789, but which were emblematic of the chasm now existing. The sea change was particularly evident to someone like James Harris, Earl of Malmesbury, the leading British diplomat of the later eighteenth century. In the mid 1790s he was plucked from semi-retirement and sent to negotiate with
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the Directory, notably at Lille in the summer and autumn of 1797. Harris, the polished, subtle ambassador of the old order, was acutely conscious of encountering a quite new political world. He identified two particular differences. The first was the disappearance of social events at which negotiations could be pursued by other means, the kind of gatherings which had been integral to the diplomatic world of eighteenth-century Europe with which he was familiar. Instead Harris met the French representatives in isolated, intermittent and always formal conferences. Secondly, he found a notable lack of give-and-take in his discussions: his French counterparts, he reluctantly concluded, were actually his adversaries who stated and then held to their demands, whether political or territorial. The growing military success of Revolutionary France was part of the explanation for this, and Harris’s mission - the success of which was always improbable - was ended by the even more intransigent approach adopted by the Directory after the Fructidor coup. But its failure also was testimony to the breakdown of the old diplomatic order. The concessive world of eighteenthcentury diplomacy had collapsed, to be replaced by a much more confrontational and grasping approach.80 The changed social composition and political outlook of France’s own diplomatic corps contributed to this.81 Both the constitutional monarchy and the Republic which replaced it after August 1792, continued to maintain a network of embassies and consulates, though its size was inevitably reduced by the military struggle. Many noble émigrés, from the very beginning of the Revolution, were either former diplomats or potential future ambassadors, and each more radical lurch during the first half of the 1790s thinned the pool of available talent still further. The oath required to the ‘Nation, Law and King’ had always been a problem for noble diplomats, accustomed to serve the Bourbon monarch alone: loyalty to the ruler’s person and an established sense of duty to serve the dynasty had been important foundations of the elite’s willingness to become ambassadors, and this had been compromised. A number of aristocratic diplomats either resigned or were recalled in 1790-92. The fall of the Bourbon monarchy and, even more, the execution of the royal couple, convinced many noblemen that their position had become untenable, and so helped to de-stabilise French diplomacy: here the diplomatic corps exactly mirrored developments in
|| 80 Earl of Malmesbury (Hg.): Diaries and Correspondence of James Harris, First Earl of Malmesbury. 4 Bde. London 1844, here Bd. 3, S. 309, 506, 556, 563 f. 81 See Linda Frey u. Marsha Frey: “Proven Patriots”. The French Diplomatic Corps 1789–1799. St Andrews 2011.
70 | Hamish Scott the royal army during these years, with its effectiveness being reduced by a significant haemorrhage of noblemen. The actions of successive revolutionary governments worsened this situation. An initial cull of diplomats who had served the ancien régime monarchy had been carried out during the spring and early summer of 1792, but this created a serious problem over replacements, with a shortage of experienced and appropriate candidates, and in many cases the level of representation had to be reduced to that of chargé d’affaires. Subsequent political events further weakened the experienced, professional, but noble element in the diplomatic service, as a slow weeding out of suspected aristocrats was carried out by governments searching for ideological purity. It accelerated during the second half of the decade under the Directory. In the aftermath of the Fructidor coup (September 1797) anyone who had been born into the nobility or who had served the monarchy before 1789 was summarily dismissed. The impact of this concern with revolutionary orthodoxy and political reliability was evident by the next year, when no fewer than ten regicides were serving in important embassies. One of these was Emmanuel Joseph Sieyès, former abbé, celebrated revolutionary demagogue and notable political survivor, who was ambassador in Berlin. In July 1798, at the ceremony of homage (Huldigungsfeier) for the new Prussian King, Frederick William III (1797–1840), Sieyès provided a graphic illustration of the distance separating monarchical Europe and the French republic. Its standard diplomatic uniform – intended to highlight the regime and not the individual – was now a Roman toga in the revolutionary colours of redwhite-and-blue. Sieyès’ appearance at a deeply monarchical rite clad in republican dress startled onlookers and provided a dramatic visual tableau which encapsulated the struggle under way.82
7 Diplomacy contributed to the final defeat of French imperialism, as successive coalitions saw an enhanced level of political and military co-ordination between the allies. These years saw the completion of the network of embassies and other missions which linked the belligerents and even some neutrals beyond the reach of French dominance, while the later phase of the wars saw intensive
|| 82 Brendan Simms: The Impact of Napoleon. Prussian High Politics, Foreign Policy and the Crisis of the Executive, 1797–1806. Cambridge 1997, S. 90.
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negotiations, culminating in extensive co-operation during the Final Coalition. The experience of fighting and defeating France brought the four allied powers much more closely together than hitherto: once again the real threat of a hegemonic power dominating Europe submerged established rivalries, at least temporarily. The importance of the prolonged military struggle for the relations of the leading states became fully apparent during the Congress of Vienna (1814– 15), which fashioned a general peace settlement for the continent. The congress which met in the Austrian capital was consciously an eighteenth-century diplomatic occasion, with its glittering social round, extensive informal discussions and intermittent formal conferences.83 It was novel primarily in its scale and in the presence in Vienna of so many rulers and foreign ministers, as well as their ambassadors and other representatives. The Congress was a deliberate return to the monarchical, dynastic world which many feared had been destroyed forever by the hated Bonaparte. The rulers and diplomats who assembled in Vienna, representatives of the established monarchies which had finally defeated French imperialism, embraced the traditional style of diplomacy which had prevailed during the ancien régime. It was slow-moving, achieved through extended formal and informal discussions and frequent compromises, and involved numerous and large-scale social events of the kind that France had disdained after the mid 1790s. Exactly as, a century earlier, the gathering at Utrecht had accelerated the development of a European diplomatic culture, the congress in Vienna fostered a restoration of that same culture, as part of wider efforts to restore the political and social world which had been lost, to the extent that this was compatible with the need for security against any future revival of French military imperialism. This was why an eighteenth-century aristocrat like the Prince de Ligne was so comfortable attending its gatherings.84 It was a self-conscious return to a dynastic world which, at times during the two previous decades, many of its participants feared had been lost forever. One undervalued achievement of the 1815 settlement and the so-called ‘Congress System’ (1815–23) which followed, was a codification of protocol which perpetuated many eighteenth-century practices. Two established problems were definitively regulated. All diplomats were divided into three classes,
|| 83 There is a valuable recent account by Brian E. Vick: The Congress of Vienna. Power and politics after Napoleon. Cambridge (Mass.) 2014; While the wider significance of the settlement is made clear by Schroeder: Transformation (wie Anm. 6). 84 Philip Mansel: Le charmeur de l’Europe. Charles-Joseph de Ligne (1735–1814). Paris 1992, S. 259–270. Ligne of course died in Dec. 1814, worn out by the social demands of the Congress.
72 | Hamish Scott later increased to four at the Congress of Aix-la-Chapelle (Aachen) in 1818.85 A rudimentary hierarchy of ranks had emerged during the hundred years before the French Revolution, and this was now formalised and made permanent. Diplomats were divided into four categories: ambassadors; envoys and ministers plenipotentiary; ministers resident; and chargé d’affaires. A second agreement resolved an issue which had been a source of numerous and, at times, acrimonious disputes. The notoriously complex question of precedence between diplomats had previously been decided primarily by the hierarchy of a secular ruler’s title; the representative of a King was outranked only by that of the Emperor, for example. It was now definitively resolved by an agreement that, within each of these four classes, the date at which a representative had arrived in a particular capital would determine the precedence which he would enjoy on formal occasions. Together with a series of agreements on minor issues, these protocols simplified diplomacy in the future. The agreements of 1815 and 1818 were part of a wider trend, the importance of which students of diplomacy have been slow to recognize: the parallel developments in the field of international law and, specifically, the growth of a legal framework which regulated the activities of diplomats and of states too.86 The key transition was from a law of nations derived from custom and from natural law (a system which prevailed at least until the end of the seventeenth century and to some extent beyond), to one of international law (which did not fully exist before the nineteenth century) which was normative, based upon treaties, and which consolidated and therefore perpetuated the practices of Europe’s ancien régime diplomacy.87 Once again, the Sattelzeit saw an important linguistic shift, as the ‘law of nations’ (jus gentium) was supplanted by what has become the established modern term, ‘international law’, first advanced by the English polymath Jeremy Bentham (1748–1832). Much about how diplomacy should be conducted was customary and widely accepted at the time: the invio-
|| 85 By the “Règlement on the Precedence of Diplomatic Agents”, concluded on 19 March 1815, and an additional agreement dated 21 November 1818: these are printed in Clive Parry (Hg.): The Consolidated Treaty Series. 231 Bde. Dobbs Ferry (NY) 1969–86, here Bd. 64, S. 1–3 and S. 385 f. 86 An important recent work, which straddles the fields of international history and law, is Edward James Kolla: Sovereignty, International Law, and the French Revolution. Cambridge 2017. 87 There are up-to-date surveys of the period 1648–1919 by Heinz Duchhardt and Miloš Vec in Bardo Fassbender u. Anne Peters (Hg.): The Oxford Handbook of the History of International Law. Oxford 2012, S. 628–653, 654–678; while Wilhelm G. Grewe: The Epochs of International Law. Berlin u. New York 2000 is a solid and comprehensive study.
The resilience of diplomatic culture and the Sattelzeit | 73
lability of ambassadors, for example, had long been observed. During the eighteenth and especially the nineteenth century these practices had come to be written down, initially in the Swiss international lawyer Emer de Vattel’s seminal Le droit de gens of 1758, which has a long and important section on the conventions governing the conduct of reciprocal diplomacy and then incorporated into treaties which had the force of law. This emphasis upon continuity needs to be qualified by a recognition of the significant changes which took place during the nineteenth century. The adoption of the telegraph vastly speeded up communications and with it the pace of international politics, reducing the degree of personal initiative exercised by individual ambassadors; the network of embassies and consulates extended far beyond Europe; the size of embassies increased with the addition of more and more specialist personnel, such as military attachés; while economic and commercial issues became a more important dimension of a diplomat’s duties. But these modified established practice, rather than overturning it and the extent of the continuities remained striking. At least down to the 1880s and 1890s, the diplomatic world remained essentially that of ancien régime Europe: concessive, negotiatory, francophone, monarchical, dynastic, focused on the court as much as the chancellery, dominated by nobles who were expected almost everywhere to possess a private income to supplement their meagre official salaries.88 Between 1871 and 1914, 84% of all German diplomats were noblemen, and for European capitals the figure was even higher; non-nobles were to be found primarily in overseas’ legations. No fewer than 36 out of 38 heads of AustroHungarian missions were noblemen on the eve of the First World War.89 Indeed the British radical M.P., John Bright, speaking in 1858, characterized diplomacy as ‘neither more nor less than a gigantic system of outdoor relief for the aristocracy’.90 Family ties and the exercise of patronage remained crucial for both appointment and advancement, while traditional attitudes were encouraged and perpetuated by the small size and restricted social composition of most foreign services. Such obvious continuities were the principal reason why Karl von Martens’ celebrated handbook, frequently reprinted but remaining deeply eighteenth-
|| 88 There are some informative essays in Markus Mösslang u. Torsten Riotte (Hg.): The Diplomats’ World. A cultural history of diplomacy 1815–1914. Oxford 2008. 89 There is a valuable study by William D. Godsey, Jr.: Aristocratic Redoubt. The AustroHungarian Foreign Office on the eve of the First World War. West Lafayette (Ind.) 1998. 90 Cf. T. G. Otte: “Outdoor Relief for the Aristocracy”? European nobility and diplomacy. In: Mösslang / Riotte: The Diplomats’ World (wie Anm. 88), S. 23–59.
74 | Hamish Scott century in its contents and assumptions, continued to be the political lexicon of diplomats well into the second half of the nineteenth century. The reprints and new editions of the Manuel diplomatique, or the Guide diplomatique as it was renamed, underlined its immense practical utility for ambassadors and the profound continuities within their world. The ‘old diplomacy’, as it came to be known in its twilight decades before 1914, had deep roots in the European past: roots which were social, cultural, institutional and ideological in nature. Though the generation before the First World War did see some limited changes, the real end of the diplomatic ancien régime would not come until the peace conference at Versailles in 1919 and the significant innovations it introduced. The diplomatic culture embedded in the practice of international relations, proved appreciably stronger than the innovations evident during the era of the French Revolution and the Sattelzeit.
Volker Bauer (Wolfenbüttel)
Globale Beurteilungskriterien für politische Herrschaft im frühen 18. Jahrhundert? Die Staatenkunden des Verlages Renger (1704–1718) Das im Jahr 1708 in Halle an der Saale beim Verlag Renger herausgekommene Oktavbändchen Einleitung zu den Europäischen Staaten hebt mit einem Kapitel an, das „[v]on der einem ieden nöthigen / und dienlichen Erkänntniß eines Staats“ handelt. Im „sehr curieusen“ 18. Jahrhundert nämlich seien staatenkundliche Kenntnisse nicht nur für jeden „Regenten“ und für seine „zur Verwaltung“ bestallten „Diener“ unabdingbar, sondern auch jeglichem „Mitglied in einer wohl eingerichteten Republique“ unentbehrlich, worunter ausdrücklich auch die „wohlerzogenen Frauenzimmer“ zu rechnen sind.1 Im vierten und letzten Kapitel geht es dann um die Wissensgebiete, die zur „accuraten Erkänntniß eines Staats“ beitragen. Dabei spielen stets die Nachbarschaftsbeziehungen eine Rolle, so dass etwa das Alte Reich nur adäquat erfasst werden könne, wenn man bis Persien ausgreife.2 Die „Geographische Beschreibung“ umfasst neben der Lage und geopolitischen Situation eines Landes außerdem seine Bevölkerungsdichte, später werden zudem noch seine Finanzmittel und ansatzweise auch Wirtschaftsstruktur genannt. Zur „politischen Notitz“ gehören seine „Regierungs=Form“, der Bereich Hof, Herrscherhaus und Zeremoniell, die außenpolitischen Beziehungen, Militärverfassung, Einrichtung des Justiz- und Finanzwesens, religiösen Verhältnisse und Bildungseinrichtungen, darüber hinaus auch seine grundsätzliche strategische Ausrichtung („scopus Reipublicae“ und „Ratio Status Imperantis“). Schließlich ist auch seine historische Entwicklung einzubeziehen.3 Dieser Katalog scheint zunächst nur der reinen staatenkundlichen Bestandsaufnahme zu dienen, doch wird in aller Vorsicht auch die Möglichkeit einer Bewertung angedeutet. So heißt es etwa, man müsse auch ermitteln, „was
|| 1 Einleitung zu den Europäischen Staaten Und Derselben Beschluß. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1708, S. 2–4. Im Folgenden werden sämtliche zu den Rengerschen Serien zählende Werke nur per Kurztitel zitiert. Die vollständigen bibliographischen Daten finden sich im bibliographischen Anhang zu diesem Aufsatz. Die Autoren können ebenso wie die exakten Erscheinungsjahre meist nur erschlossen werden. 2 Ebd., S. 65 f. 3 Ebd., S. 67–71. https://doi.org/10.1515/9783110735734-004
76 | Volker Bauer kluge Leute von der gegenwärtigen Staats=Verfassung vor Urtheile fällen“, und späterhin ist die Rede von der „Hoffnung / daß derjenige mit iudicio alles wohl zu unterscheiden weiß“.4 Damit mutieren die oben aufgeführten Punkte, die kumulativ zur möglichst vollständigen Kenntnis eines Staates führen sollen, unter der Hand zu Kriterien, anhand derer seine Funktions- und Leistungsfähigkeit, kurz: sein Erfolg, bestimmt werden können. Die in der Einleitung genannten Aspekte umfassen vereinzelt messbare und statistisch auszählbare Ressourcen, beziehen sich mehrheitlich jedoch auf unterschiedliche Formen der Herrschaftsausübung. Zum einen wird die fürstlichdynastisch-höfische Herrschaftsordnung greifbar, die auf Interaktion beruhte und durch den gesellschaftlichen Rang der dazu Zugelassenen determiniert wurde (also etwa durch Standeszugehörigkeit, Verwandtschaftsverhältnisse, Amt, Patronagenetzwerke etc.). Diese persönlich-ständische Dimension macht Fragen relevant wie die nach dem Charakter („Humeur“) des Fürsten, etwaigen Favoriten, dem Aufwand der „Hoffhaltung“, den Angehörigen des Herrscherhauses, den „Solennitäten“, „Divertissements“ und Präzedenzkonflikten sowie dem Gesandtschaftszeremoniell. Zum anderen scheint aber auch bereits der Anstaltsstaat auf, in welchem bestimmte Behörden spezifische Zuständigkeiten haben und diese nach festgelegten Verfahren bearbeiten. Thematisiert werden eben auch die „Grund Gesetze des Staats“ und die Frage, „auff was vor Art und Weise alles administriret werde“, etwa im Bereich der Justiz- und Finanzverwaltung.5 Auch die Erwähnung der Staatsräson kann als Anhaltspunkt für eine solche versachlichte Auffassung gedeutet werden. Insofern markiert dieser Text eine wichtige Etappe im Transformationsprozess von der vormodernen Fürstenherrschaft zur Institutionenstaatlichkeit, in welcher das Wahrnehmungsraster und die Bewertungsmaßstäbe der zeitgenössischen Beobachter politischer Systeme noch beiden Ausprägungen verhaftet waren. In diesem Übergangscharakter liegt die Aussagekraft des vorgestellten Werks. Freilich sollte man die Tragweite dieses schmalen Einzeltitels von gerade einmal 72 Seiten nicht überschätzen. Seine eigentliche Bedeutung liegt darin, dass er die Programmschrift für gleich mehrere die ganze Welt in den Blick nehmende staatenkundliche Serien zu sein scheint, die im Zeitraum von 1704 bis 1718 von Renger verlegt wurden, mehr als 70 Bändchen hervorbrachten und damit politisch relevante Sachverhalte in das marktförmige Mediensystem einspeisten. Dieses Korpus6 – dessen Relevanz durch seine also über die Herr|| 4 Ebd., S. 70 f. 5 Ebd., S. 68 f. 6 Vgl. dazu den bibliographischen Anhang.
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schafts- und Verwaltungseliten hinausreichende Öffentlichkeit gesteigert wird – bietet die Chance, den im frühen 18. Jahrhundert sich vollziehenden grundlegenden Wandel in der Beschreibung und Beurteilung politischer Einheiten und Systeme zu analysieren und dabei überdies zwischen der Behandlung europäischer und nicht-europäischer Fälle zu differenzieren. Zu diesem Zweck wird im Folgenden (1.) das Material, also die einschlägigen Publikationen, vorgestellt und dabei in den wissens- und mediengeschichtlichen Kontext eingeordnet. In einem nächsten Schritt (2.) wird die sich mit den europäischen Reichen und Territorien befassende Reihe im Hinblick auf den jeweiligen Stellenwert interaktionsbasierter bzw. behördlich organisierter Herrschaft, auf die Berücksichtigung quantitativer Daten und die Formulierung eines übergreifenden Staatsinteresses durchmustert. Daran schließt sich (3.) eine vergleichende Untersuchung der die außereuropäischen Länder darstellenden Serie an. Der Aufsatz mündet in folgende Thesen: Die Rengerischen Staatenkunden weisen statistischem Datenmaterial nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu. Im Vordergrund steht dagegen die Unterscheidung zwischen den beiden skizzierten Herrschaftsmodellen, die konzeptionell mit der Trennung zwischen europäischen und außereuropäischen Herrschaftsgebieten verknüpft wird. Dabei werden die Zugehörigkeit zu Europa und eine beschränkte, eingehegte Staatlichkeit tendenziell miteinander verklammert und positiv konnotiert, was umgekehrt eine Abwertung der außereuropäischen Herrschaftssysteme impliziert. Für diese wird ein drückendes Übergewicht persönlicher Machtausübung durch die jeweiligen Monarchen diagnostiziert, was im Begriff des Despotismus gefasst wird. Sichtbar wird eine versachlichte, entpersonalisierte Auffassung von Staatlichkeit insbesondere in jenen Passagen, in denen das Interesse eines Landes objektiviert und ins Verhältnis zu der jeweils verfolgten Politik der Eliten gesetzt wird.
1 Globale Staatenkunde als Ware auf dem Buchmarkt: Das Programm des Verlags Renger Die Einleitung zu den Europäischen Staaten enthält eine knappe Selbstbeschreibung des Rengerischen Serienprojekts, die dessen Entstehung skizzenhaft schildert: Den Anstoß habe der Hallenser Professor Johann Peter Ludewig
78 | Volker Bauer (1668–1743) mit seinem anonym erschienenen Buch Germania Princeps (Erstausgabe 1700)7 gegeben. „[A]uff Antrieb des berühmten Autoris“ sowie auf der Grundlage einer „Entschliessung des Veregers [sic] Joh. Gottfried Rengers wegen Unkosten des Verlags“ habe sich ein weiterer, ungenannt bleibender „Gelehrter / und in denen Europäischen Sprachen wohl versirter Mann“ entschieden, „die Beschreibung aller und ieder Europäischen Staaten den curieusen Leser in möglichster Kürtze / und so accurat als es nur immer seyn können / zu liefern.“8 Eine ebenfalls bei Renger erschienene Publikation lüftet das Geheimnis dieser Anonymität. Der Abschnitt über die „Staats=Wissenschafft“ in Jacob Friderich Reimmanns Versuch einer Einleitung In die Historiam Literariam von 1710 nennt den Holsteiner Heinrich Ludwig Gude († 1707) als hauptsächlichen Verfasser der Staaten-Bände.9 Er hatte sich nach einigen Verwaltungsposten und einem früheren Aufenthalt in Halle ab 1705 an der dortigen Universität immatrikuliert.10 Eine Verbindung zu Ludewig ist daher wahrscheinlich. Die Nachschlagewerke des 18. Jahrhunderts bescheinigen Gude eine verhängnisvolle „Liebe zu einer ungebundenen Lebens=Art“ und „zu hitzigen Getränken“,11 was ihn offenbar von einer regulären Universitätskarriere abhielt und ihn zwang, als Lohnschreiber sein Auskommen zu suchen. Die vom Hamburger Publizisten Johann Hübner (1668–1731) besorgte Rezensionszeitschrift Hamburgische BIBLIOTHECA HISTORICA zeichnet 1716 ein anderes Bild von der Gründung der Serie. Ausgangspunkt war demnach ein 1700 auf Englisch verfasstes, 1702 ins Französische übersetztes Werk des englischen Publizisten John Colbatch (1664–1748) über Portugal.12 Der Hallenser Student Gude habe „aus diesem Buche, mit Zuziehung anderer Noticen, einen Tractat“ gemacht, der im Jahr 1702 als Staat von Portugall bei Renger erschienen || 7 Johann Peter Ludewig: GERMANIA PRINCEPS. Halle (Saale) 1700. 8 Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 59. 9 Jacob Friderich Reimmann: Versuch einer Einleitung In die Historiam Literariam Derer Teutschen Und zwar Des dritten und letzten Theils Drittes Hauptstück Darinnen Die Historia Politices, und Historiae so wohl insgemein / als auch insonderheit der Historiae Civilis und derer dazu gehörigen Neben-Wissenschafften […]. Halle (Saale) 1710, S. 279 f. 10 Georg Swart u. Jens Kirchhoff: Stammreihe der Familie Gude zu Rendsburg. Manuskript im Landesarchiv Schleswig Abt. 400.1, Nr. 532a,b und Abt. SHF C 97.1 URL: http://www.ndgen.de/wordpress/wp-content/uploads/2013/12/gude_sr.pdf; [19.03.2015], S. 8. 11 Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Bd. 2: Leipzig 1750, Sp. 1242 f. So auch schon der Zeitgenosse Reimmann: Versuch (wie Anm. 9), S. 279. 12 John Colbatch: AN ACCOUNT OF THE Court of Portugal, under the Reign of the present King Dom PEDRO II. […]. London 1700; Ders.: RELATION DE LA COUR DE PORTUGAL SOUS D. PEDRE II. A PRESENT REGNANT […]. Amsterdam 1702.
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sei und die gesamte Serie inauguriert habe.13 In der Tat weisen die Vorlage und ihre Weiterverarbeitung weitgehend dieselbe Strukur auf.14 Das angegebene Erscheinungsjahr ist freilich nicht zutreffend; ausweislich genealogischer Informationen ist der Staat von Portugall 1704 herausgekommen.15 Trotz dieser vergleichsweise kargen Angaben lässt sich aus ihnen die wissens- und mediengeschichtliche Konstellation ableiten, welcher sich die hier untersuchte Buchreihe verdankt. Dabei ist natürlich zunächst an die Universität Halle zu denken und insbesondere an den dort 1703 zum Professor der Geschichte berufenen Johann Peter Ludewig, der im Jahr darauf zum Königlichen Hofhistoriographen ernannt und zum Doktor der Rechte promoviert wurde. Denn schließlich war dieser Gelehrte ausdrücklich als Ideengeber für das Rengerische Projekt in Anspruch genommen worden. Ludewig vertrat eine historisch argumentierende Auffassung des ius publicum, die auf ein Primat der aus den ursprünglichen Stammesherzogtümern hervorgegangenen weltlichen Landesherrschaften gegenüber Kaiser und Reich hinauslief und dies auch für das traditionelle Hauptterritorium der Hohenzollern, die Mark Brandenburg, in Anspruch nahm.16 Spuren dieser Konstruktion lassen sich jedoch im Rahmen der nüchternen, faktenorientierten Rengerischen Staaten allenfalls im 1704 erschienenen Bändchen zu Preußen finden.17 Der eigentliche Beitrag der Universität Halle zu den untersuchten Serien liegt also woanders, nämlich in dem durch sie geschaffenen sozio-kulturellen Milieu von Absolventen, Privatdozenten, Studienabbrechern und akademischem Prekariat, dessen Angehörige als im Auftrag und auf Kosten des Verlags Renger tätige Autoren der Einzeltitel in Betracht kamen. Tatsächlich standen deren Verfasser, soweit sie sich dingfest machen lassen, sämtlich in Kontakt mit der dortigen Hochschule. Dies gilt schon für Heinrich Ludwig Gude, der ja schon vor seiner Immatrikulation in Halle der dortigen Hochschule verbunden
|| 13 Johann Hübner: Hamburgische BIBLIOTHECA HISTORICA, Der Studierenden Jugend Zum Besten zusammen getragen. 2. Centuria. Leipzig 1716, S. 100. Artickel, S. 335–372, hier S. 335 f. 14 Vgl. Colbatch: RELATION (wie Anm. 12), TABLE DES CHAPITRES; u. Staat von Portugall, Innhalt [sämtliche Zitate aus diesem Titel beziehen sich auf die Ausgabe mit 62 paginierten Seiten]. 15 Vgl. Colbatch: ACCOUNT (wie Anm. 12), S. 160; Ders.: RELATION (wie Anm. 12), S. 230; Staat von Portugall, S. 47. 16 Axel Rüdiger: Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2005, S. 249–255; Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Göttingen 1972, bes. S. 182–190. 17 Staat von Preussen, S. 83; vgl. auch Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 56.
80 | Volker Bauer gewesen war und den Staat von Portugall verfasst hatte. Aufgrund seiner europaweiten Reisen und der dadurch erworbenen Sprachkenntnisse schien er offenbar dem Verlag der geeignete Mann, nun auch die meisten anderen Bände der Europäischen Staaten inklusive der dazugehörigen Einleitung zu besorgen. Diese Aufgabe endete erst mit seinem Tod im November 1707.18 Eine ähnliche Rolle spielte Caspar Gottschling (1679–1739) im Falle der außereuropäischen (ausländischen) Staaten. Er hatte in Halle und Leipzig studiert und war nach dem Scheitern seiner Karriere als Leiter der Ritterakademie in Brandenburg a.d. Havel wieder nach Halle zurückkehrt, um dort im Haushalt Ludewigs als Privatdozent die Fächer Geographie, Geschichte und Rhetorik zu unterrichten.19 Die Mehrzahl der 15 Einzelbände über die außereuropäischen Länder dürfte in der Tat auf sein Konto gehen; belegt ist das für sämtliche sechs Titel über die afrikanischen Länder, die Bände über Amerika und die asiatischen Reiche Siam und Japan. Auch der parodistische Staat Von Schlaraffen=Land ist ihm zuzurechnen, ebenso die Nachricht Von der Stadt Franckfurt Am Mayn und die komplette dreiteilige Reihe über die Universitätsstädte.20 Andere Beiträger entstammten ebenfalls dem Beziehungsgeflecht der Universität Halle, so der Historiker und Jurist Johann Jacob Schmauß (1690–1757), der während seiner Zeit als Privatdozent in Halle ab 1712 die europäische Serie ergänzte,21 dessen akademischer Lehrer Nicolaus Hieronymus Gundling (1671– 1729) und wiederum dessen berüchtigter Bruder Jacob Paul (1673–1731), denen beiden jeweils ein Band zugeschrieben wird.22 Verbindungen zu Halle und Gottschling besaß auch der Rechtsgelehrte Dietrich Hermann Kemmerich (1677– 1745), der nach 1707 die Bände über China, das Mogulreich und die Tartarei verfasste und wohl auch zur Serie über die Reichsstädte beitrug.23 Es ist also die für Universitätsstädte typische Gruppe der akademisch gebildeten Hofmeister und Privatdozenten, die zu Beginn ihres Gelehrtenlebens oder eben dauerhaft für die ortsansässigen Verlage schreiben und dabei insbesonde-
|| 18 So Reimmann: Versuch (wie Anm. 9), S. 279; Hübner: Bibliotheca (wie Anm. 13), S. 335. 19 Lothar Noack u. Jürgen Splett (Hg.): Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Mark Brandenburg 1640–1713. Berlin 2001, S. 213–221. 20 Vgl. Caspar Gottschling: Der Staat Von Schlaraffen-Land. Mit Kommentar, Nachwort und Bibliographie. Hg. v. Nikola Roßbach. Hannover 2007, S. 99–114. 21 Gabriel Wilhelm Götten: Das Jetzt lebende Gelehrte Europa […]. 2. Aufl. Braunschweig 1735, Teil 1, S. 614–617. 22 Georg Wilhelm Zapf: Augsburgische Bibliothek […]. Bd. 1. Augsburg 1795, S. 22 f; Martin Sabrow: Herr und Hanswurst. Das tragische Schicksal des Hofgelehrten Jacob Paul von Gunten. Stuttgart u. München 2001, S. 34 f. 23 Johann Christoph Mylius: Das in dem Jahre 1743 Blühende Jena […]. Jena 1743, S. 90–97.
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re Nachschlage- und Kompilationswerke erstellen. Bisweilen handelt es sich dabei um Personen, die regelrecht zu den verkrachten Existenzen gezählt oder stilisiert wurden, so wie es Heinrich Ludwig Gude widerfuhr.24 Damit weist Halle in verkleinertem Maßstab eine ähnliche Autorenlandschaft auf wie das benachbarte Leipzig, dessen ungleich größeres Buchgewerbe ebenfalls ganz wesentlich von den Angehörigen und Absolventen der lokalen Universität gespeist wurde.25 Die in diesen Kreisen und unter diesen Bedingungen entstandenen Beiträge sind nur bedingt der gelehrten Literatur im strengen Sinne zuzurechnen. Dies zeigt schon der durchgängige Gebrauch der deutschen Sprache. Überdies sind die Staaten in aller Regel das Ergebnis einer kompilierenden, epitomisierenden, plagiierenden und popularisierenden Weiterverarbeitung bereits publizierten Materials. Anders war die überwiegend von Gude verantwortete Massenproduktion (40 Bände über Europa innerhalb von fünf Jahren!) ebensowenig praktikabel wie Gottschlings Verfasserschaft der immerhin zehn ihm verlässlich anzurechnenden Titel über außereuropäische Länder in den Jahren 1709 bis 1716. Dort wo überhaupt Quellen angegeben werden, liegt der kompilatorische Charakter des jeweiligen Titels klar zutage. Mit besonderem Freimut gibt insbesondere Kemmerich in den vermutlich von ihm verantworteten Bänden die verwendeten Vorlagen an, im Wesentlichen sind das natürlich Reiseberichte. Im Staat Des Grossen Mogol wird gar offensiv der Vorteil eines bloßen Auszugs aus diesen Werken betont, werde doch von den meisten Lesern häufig „nichts als eine kurtze und doch zulängliche Nachricht verlanget“.26 Nicht zuletzt ihre Eigenschaft als Kompilationen läßt deutlich werden, dass die Rengerischen Serien und ihre Einzelwerke weniger von den Autoren als durch den Verlag geprägt wurden. Es war das Haus Renger,27 das diese Reihen ins Leben gerufen, geeignete Verfasser beauftragt und die Publikationen ein|| 24 Vgl. Johann Hübner: BIBLIOTHECA GENEALOGICA […]. Hamburg 1729, S. 501. 25 Vgl. Detlef Döring: Anfänge der modernen Wissenschaften. Die Universität Leipzig vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Universitätsreform 1650–1830/31. In: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31. Hg. v. Enno Bünz, Manfred Rudersdorf u. Detlef Döring. Leipzig 2009, S. 519–771, hier S. 548 f. 26 Staat Des Grossen Mogol, S. 4; ähnlich auch: Staat Von America, Vorrede („Geneigter Leser“). 27 Über das Verlagshaus Renger und seine Aktivitäten im Halle des frühen 18. Jahrhunderts liegen nur wenige Informationen vor; vgl. David. L. Paisey: Deutsche Buchdrucker, Buchhändler und Verleger 1701–1750. Wiesbaden 1988, S. 205; Rudolf Schmidt (Hg.): Deutsche Buchhändler. Deutsche Buchdrucker. Beiträge zu einer Firmengeschichte des deutschen Buchgewerbes, Bd. 5. Eberswalde 1908, S. 812–814; Wilhelm Stieda: Der Büchermarkt an den Hochschulen Erfurt, Wittenberg und Halle in der Vergangenheit. Köln 1934, S. 135 f. u. S. 138– 140.
82 | Volker Bauer zeln oder en bloc beworben und vermarktet hat. Dies wird besonders augenfällig durch die Anonymität der Schriften. Die Verfasser werden in keinem Fall benannt, und das Titelblatt der einschlägigen Bände weist nur ganz ausnahmsweise ein Impressum auf, etwa die Einleitung zu den Europäischen Staaten, für welche die Erscheinungsorte Frankfurt a.M. und Leipzig, die Verlagsangabe „Zu finden in Rengerischer Buchhandlung“ und das Erscheinungsjahr 1708 angegeben sind. In der Regel aber findet sich auf dem schmucklosen Titelblatt allein der einzelne Bandtitel in einer vereinheitlichten Typographie, was zusammen mit dem weitgehend identischen Oktavformat eine veritable corporate identity der Serien ergibt.28 Obwohl es keinen expliziten Reihentitel gibt, wird so ein hoher Grad von Wiedererkennbarkeit gewährleistet. Darüber hinaus betont der Verlag stets die Geschlossenheit seines seriellen Angebots. Die Einleitung zu den Europäischen Staaten bringt nicht nur eine Liste aller 40 bis dahin herausgekommenen Einzelbände, sondern verspricht auch deren kontinuierliche Aktualisierung und versichert darüber hinaus, sämtliche Einzelstücke im Verlagsangebot zu halten, und zwar sowohl für den Einzel- als auch den Kompletterwerb. Außerdem wird noch eine Bindeanleitung gegeben, welche die einzelnen Staaten in fünf oder sechs Bänden bündelt und damit nicht nur auf den Vervollständigungsdrang der Leser und Sammler setzt, sondern auch die äußerliche Einheitlichkeit der Reihe unterstreicht.29 Die Präsentation der Serie in den Messkatalogen erfolgt gleichfalls zumeist als ganzer Block.30 Der offensichtliche kommerzielle Erfolg der Reihe, die mit der Einleitung von 1708 zunächst abgeschlossen schien, führte zu einigen Neuauflagen und Ergänzungen.31 Zuletzt erschienen in den Jahren 1717 und 1718 im Braunschweiger Zweigverlag Simon Jacob Rengers noch zwei Titel über die mindermächtigen Territorien Oettingen und Ostfriesland bzw. Mansfeld und Hanau. Offensichtlich war schon am Ende der Lebenszeit Johann Gottfried Rengers, der im Jahr
|| 28 Abbildungen der meisten Titelblätter in: Thomas Bürger (Bearb.): Deutsche Drucke des Barock 1600–1720. Katalog der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Abteilung B: Mittlere Aufstellung, München u. a. 1990, Bd. 9, S. 256–262, u. Bd. 10, S. 296–325. 29 Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 59–64. 30 Vgl. das Auftreten der hier behandelten Rengerschen Serienwerke in den Messkatalogen vom Herbst 1704 bis zum Frühjahr 1718, also vom CATALOGUS UNIVERSALIS, Sive DESIGNATIO OMNIUM LIBRORUM, Qvi hisce Nundinis Autumnalibus FRANCOFURTENSIS & LIPSIENSIBUS Anni 1704 […]. Leipzig 1704, fol. F2v, bis zum CATALOGUS UNIVERSALIS, SIVE DESIGNATIO EORUM LIBRORUM, Qui HISCE NUNDINIS VERNALIBUS FRANCOFURTENSIS ET LIPSIENSIBUS ANNI M DCC XVIII […]. Leipzig 1718, fol. G3v. 31 Vgl. hierzu und zum folgenden den bibliographischen Anhang.
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1718 verstarb und unter dem der Verlag gewaltig expandiert hatte, das Geschäft zurückgefahren worden, und mit seinem Tod liefen auch dessen staats- und städtekundlichen Reihen aus. Zuvor aber hatte die kommerziell erfolgreiche europäische Reihe mehrere Ableger hervorgebracht. Schon vor deren Auslaufen wurde offenbar eine die ausländischen Staaten auf den anderen Kontinenten umfassende Serie geplant, deren erster Band über Persien 1707 oder 1708 erschien. Den Abschluss bildete 1716 der Titel über Japan, der überdies ein Verzeichnis der außereuropäischen Staaten enthält und damit diese zweite Reihe als ein abgeschlossenes Angebot charakterisiert.32 Zeitgleich warf das Verlagshaus Renger noch zwei weitere verwandte Serien auf den Markt. Von 1707 bis 1709 erschienen insgesamt neun Titel, welche die wichtigeren Reichsstädte darstellen, darunter ein einführender Band. Das dabei verwendete Beschreibungsmodell entspricht weitgehend dem für die Staaten Europas.33 Darüber hinaus gab es noch den Plan, eine ähnlich umfassende Buchreihe zu den Universitätsstädten im Reich herauszugeben, doch brachte diese es lediglich auf einen allgemeinen Band und zwei Einzelstücke über die benachbarten Hochschulen in Halle und Leipzig, die sämtlich 1709 herauskamen. Dass das gesamte Korpus von Renger gemeinsam vermarktet wurde, zeigt etwa das Beispiel der in ebenjenem Verlag erschienenen Rezensionszeitschrift Neue Bibliothec, deren erste Ausgabe von 1709 mit einer „Nachricht von denen bekandten Staaten / Reichs=Städten / Academien und Universitäten“ schließt und bei allen noch unvollständigen Serien verspricht: „Die übrigen folgen nechstens auch.“34 Ähnlich verfährt die gleichfalls von Renger verlegte politische Zeitschrift Curieuses Bücher=Cabinet im Jahr 1714, die das komplette bis dahin herausgekommene Angebot aufführt.35 In einem etwa auf dasselbe Jahr zu datierenden Verlagsverzeichnis werden diese Titel überdies mit Paketpreisen versehen. So kosten die 40 Staaten Europas zusammen 5 Taler, 12 Groschen und die 15 außereuropäischen Titel 2 Taler.36
|| 32 Staat Der Japanischen Und der übrigen Vornehmsten Insuln In Ost=Indien, Verzeichniß Aller ausländischen Staaten. 33 Vgl. etwa folgende Inhaltsverzeichnisse: Staat Der Hertzoge von Meclenburg, fol. A3r, u. Nachricht von der Stadt Augspurg, fol. A3v. 34 Neue Bibliothec Oder Nachricht und Urtheile von neuen Büchern Und allerhand zur Gelehrsamkeit dienenden Sachen, 1. Stück (1709), S. 89 f. 35 Curieuses Bücher=Cabinet […], 20. Eingang (1714), Anhang am Schluss. 36 CATALOGVS Einiger Nützlichen Bücher, So in der Rengerischen Buchhandlung Zu Franckfurt am Mayn und Leipzig In Denen Messen Zu finden. s.l. ca. 1716 (fälschlich auf 1735 datiert);
84 | Volker Bauer Daneben gibt es noch eine weitere Publikation des Hauses Renger, die ebenfalls die eigenen europäischen Staatenkunden aufführt und bewertet, nämlich Jacob Friderich Reimmanns bereits erwähnte Historia Literaria von 1710. Dort findet sich ein Abschnitt, der den Beitrag der „Teutschen“ auf dem Gebiet der „Politica“ umreißt und der – wie das gesamte Werk – seinen Stoff in der chronologischen Reihenfolge einschlägiger Autoren organisiert. Die gelehrten Verfasser werden in ihr jeweiliges akademisches Netzwerk eingeordnet und ihre Schriften den Urteilen der Kollegen unterworfen. Zwischen den Einträgen Christian Weise und Christian Thomasius werden die Rengerischen Staaten eingeordnet, und zwar unter dem Rubrum „Autor der Rengerischen Staaten“. In diesem Abschnitt wird versucht, der Serienpublikation den im Rahmen der wissensgeschichtlichen Programmatik notwendigen Verfasser zu verschaffen, indem die meisten Einzelbände Heinrich Ludwig Gude zugeschrieben und damit gleich doppelt persönlich beglaubigt werden: erstens durch den genannten Gelehrten und seine Reisen, Sprachkenntnisse und Verwaltungsposten, zweitens durch seine ausdrücklich erwähnte Verwandtschaft mit dem ungleich berühmteren Marquard Gude (1635–1689), dessen Reputation als Sammler, Fürstendiener und Gelehrter gleichsam auf seinen Neffen Heinrich Ludwig abstrahlte. Dessen Vorzüge und Qualifikationen aber bilden buchstäblich nur eine Fußnote zur Erörterung der staatenkundlichen Serien, die ansonsten die „Vorsorge“ des Verlegers rühmt, der die Reihe nach dem Tode Gudes fortgesetzt und vervollständigt hat.37 Somit wird auch in der autorfixierten Historia Literaria Reimmanns – die ja bei Renger erschienen war – dem Verleger die entscheidende Rolle bei der Autorisierung der staats- und städtekundlichen Serienwerke und des darin vermittelten Wissens zugeschrieben.38 Für die sachliche Richtigkeit („accuratesse“) der darin gebotenen Informationen bürgte nicht primär der Verfasser, der ja auf den einzelnen Titelblättern ohnehin ungenannt bleibt, sondern die Zugehörigkeit zu einer Reihe mit festgelegter Aufmachung, die durch ihre generische Bezeichnung auf den Verlag Renger verweist.
|| vgl. auch die einzelnen Stückpreise in Theophil Georgi: Allgemeines Europäisches Bücher=LEXICON […]. Leipzig 1742, 4. Teil, S. 129–131. 37 Reimmann: Versuch (wie Anm. 9), S. 69, 279 f. 38 Vgl. Ebd., S. 69 u. S. 166–173 über den vergleichbaren Fall der Elzevirischen Republiquen; dazu auch Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 25–47; aus der Forschungsliteratur s. zuletzt Sina Rauschenbach: Elzevirian Republics, wise merchants, and new perspectives on Spain and Portugal in the seventeenth-century Dutch Republic. In: De Zeventiende Eeuw 29 (2013), S. 81–100.
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Damit aber war ein profitorientiertes Unternehmen angesprochen, dessen Produkte zuallererst Warencharakter besaßen. Die Hauptinstanz für Erfolg oder Misserfolg der hier behandelten Serien waren daher weniger die Kritiken und Kommentare aus der Gelehrtenschaft, sondern der Buchmarkt. Offensichtlich haben die Rengerischen Publikationen dort reüssiert, brachten sie doch sogar eine Parodie und wenigstens ein glasklares Plagiat hervor.39 Da diese Staatenkunden, für die die Merkmale Serialität, Kommerzialität, Aktualität und Anonymität prägend waren, in einem marktförmigen Mediensystem zirkulierten, waren sie im Prinzip jedem Käufer zugänglich und konnten somit einer standesübergreifenden Öffentlichkeit politisch relevante Hintergrundinformationen vermitteln. Sie gehörten also nicht der im engeren Sinne akademischen Literatur an, zählten aber ebensowenig zur obrigkeitlich gesteuerten und finanzierten Herrschaftspublizistik. Damit ist der medien- und wissensgeschichtliche Ort dieser Werke bestimmt,40 die sich über den für politiknahe Gegenstände wie Staatsrecht und Staatskunde bis ins 18. Jahrhundert hinein gültigen Arkanvorbehalt hinwegsetzten41 und ganz selbstbewusst das Programm formulierten, zur „einem ieden nöthigen / und dienlichen Erkänntniß eines Staats“ beizutragen.42 Im Rahmen der hier behandelten Fragestellung ist diese beanspruchte Entgrenzung des Publikums über die Herrschafts- und Funktionseliten hinaus deshalb von Bedeutung, weil sie den anhand der Hallenser Serien gemachten Beobachtungen und den daraus gezogenen Schlüssen eine besondere Breitenwirkung verleiht.
|| 39 Der Staat Von Schlaraffen=Land bzw. Staat Des Hoch=Fürstlichen Sächszischen Hauses Eisenach. 40 Vgl. dazu etwa Johannes Arndt: Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750. Göttingen 2013; Volker Bauer: Strukturwandel der höfischen Öffentlichkeit. Zur Medialisierung des Hoflebens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Historische Forschung 38 (2011), S. 585–620, hier S. 607–610. 41 Dazu Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994, bes. S. 54–62 u. 103–107. 42 Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 1.
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2 Die „besten und wohlbesteltesten Regierungs=Arten“ der Welt: Herrschaft in den Europäischen Staaten Die Einleitung zu den Europäischen Staaten erschien 1708 als „Beschluß“ der bis dahin 40 Einzelbände über die europäischen Reiche und Territorien. Schon in der Vorrede wird die Überlegenheit Europas über die anderen Erdteile Asien, Afrika und Amerika bildhaft beschworen. So wird es als gekrönte, unter einem Baldachin thronende Jungfrau vorgestellt, der die drei genannten Kontinente als ihrer Beherrscherin huldigen, was auch das Frontispiz zeigt (Abb. 1).43
Abb. 1: Einleitung zu den Europäischen Staaten, Frankfurt a.M. / Leipzig 1708, Frontispiz (HAB: Gb 298:1) || 43 Ebd., Vorrede („Hochgeneigter Leser“) u. Frontispiz.
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Diese Suprematie durchzieht auch die naturrechtliche Ableitung der Staatsentstehung, die in folgende normative Definition mündet: „Das rechte Wesen eines Staates bestehet darinn / daß eine genungsahme Anzahl freyer Leute / die Gewalt über sich und ihr Vermögen andern aufftragen / und ihren Willen denselben unterwerffen / doch also : daß sie vor ihre Person freye Leute bleiben / und nur mehr Sicherheit / Schutz und Schirm / den sie sich bedingen / haben mögen.“44 Gerade in Europa sind die Reservatrechte der einzelnen „Hauß=Väter“ – im diametralen Gegensatz zu den „despotischen Herrschafften“ Asiens45 – erhalten geblieben. Daher finden sich dort „die besten und wohlbesteltesten Regierungs=Arten […] / und seine Staaten sind am klügsten angeordnet.“ Es ist nicht zuletzt die Pluralität seiner Herrschaftsformen und die Beschränkung der „Regenten Gewalt“, welche das kleine Europa in den Stand versetzten, große Teile der anderen Kontinente unter seine „Bothmäßigkeit“ zu bringen.46 Eng damit verknüpft ist die Tatsache, dass dieser „schönste Theil der Welt“ eben nicht von einer Universalmonarchie regiert wird, sondern in zahlreiche mehr oder weniger selbständige politische Einheiten unterteilt ist.47 Die einzelnen Reiche und Länder bilden zusammen eine hierarchisch gestufte Fürstengesellschaft.48 Das wird schon in der Einleitung zu den Europäischen Staaten gleich doppelt sichtbar: zum einen in Form einer Auflistung der europäischen Herrschaftsgebiete und zum anderen in der damit korrespondierenden Buchbinderempfehlung, welche die 40 Stücke in bis zu sechs Bänden bündeln soll: Es beginnt mit dem Reichsverband, konkret dem Kaiser, der den ersten „Rang vor allen Potentaten“ hat, und den Kur- und Reichsfürsten, „welche ihre Länder gantz souverain regieren“, obwohl sie durch Lehnsbeziehungen gebunden sind; danach folgen die europäischen Königreiche inklusive des russischen Zars; daraufhin die italienischen Fürstentümer und schließlich die Republiken.49 Gleichzeitig mit dieser traditionellen Vorstellung einer auf der Basis von Titel, Rang und dem sich daraus ergebenden Zeremoniell differenzierten, vom
|| 44 Ebd., S. 7. 45 Ebd., S. 8 f. 46 Ebd., S. 52. 47 Ebd., S. 55 f. 48 Zum Konzept Lucien Bély: La société des princes, XVle-XVe siècle. Paris 1999; vgl. außerdem André Krischer: Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Kauz, Giorgio Rota u. Jan Paul Niederkorn (Hg.): Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit. Wien 2009, S. 1–32. 49 Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 56–58 u. 61–64.
88 | Volker Bauer Normalfall monarchischer Herrschaft ausgehenden politischen Ordnung enthalten die Rengerischen Staaten auch das Konzept eines sich durch übereinstimmende oder konfligierende Interessen strukturierenden internationalen Systems,50 dessen souveräne Teilnehmer grundsätzlich das gleiche Recht haben, ihre Belange durchzusetzen.51 Der darauf aufbauende Gleichgewichtsgedanke52 ist in den Bändchen zu Großbritannien, Venedig und Modena präsent.53 Bisweilen wird das außenpolitische Interesse eines Landes durch seine geographische Lage gegenüber seinen Nachbarn geradezu determiniert, so etwa im Falle des Alten Reiches und Russlands.54 Diese Janusköpfigkeit bestimmt auch die Darstellung der internen politischen Verhältnisse. Auf der einen Seite bleibt in der Rengerischen Serie stets jene Auffassung bestimmend, die die Ausübung von Herrschaft auf die Interaktion der Herrschafts- und Funktionseliten gründet. Diese hochgradig formalisierte Anwesenheitskommunikation fand – zumindest im Normalfall der Erbmonarchie – überwiegend an den jeweiligen Höfen statt, und an ihr nahmen der regierende Fürst, die Angehörigen seines Hauses, der Hofadel, Vertreter der Stände, gelehrte Räte und etwaige auswärtige Besucher teil. Nur insoweit diese Vergesellschaftung auch die lokalen Eliten, insbesondere den Landadel, einband, gelang die nachhaltige Integration einzelner Landesteile zu einem Territorium oder Reich, was nicht zuletzt mithilfe von Klientelbeziehungen erreicht wurde.55 Teilhabe an Herrschaft war somit stets personen-, präsenz- und zeremoniellgebunden. Auf der anderen Seite begegnen in den Europäischen Staaten auch jene institutionenstaatlichen Elemente, welche Herrschaft als überpersönliches Han|| 50 Vgl. auch Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785. Paderborn u. a. 1997, S. 1, wonach die Europäischen Staaten das im frühen 18. Jahrhundert feststellbare „Gefühl für die staatlichen Interdependenzen“ belegen. 51 Klaus Malettke: Hegemonie – multipolares System – Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1648/1659–1713/1714. Paderborn u. a. 2012, z.B. S. XVI f., S. 5, 11, 525. 52 Vgl. dazu etwa ebd., S. 27–30. 53 Staat Von Groß=Britannien, 88; Staat Der REPUBLIQUE VENEDIG Und RAGUSA, S. 121 f; Staat Von Florentz / Modena / und Reggio, Teil 2, S. 22. 54 Staat Des Heil. Römischen Reichs Teutscher Nation, S. 94; Staat von Moscau, bes. S. 76 f. 55 Vgl. Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, S. 46 f., 196 u. 205–209; außerdem die Hinweise in Joachim Bahlcke: Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit. München 2012, S. 99; Volker Bauer: Informalität als Problem der frühneuzeitlichen Geschichte. Überlegungen vornehmlich anhand der deutschsprachigen Hofforschung. In: Reinhard Butz u. Jan Hirschbiegel (Hg.): Informelle Strukturen bei Hof. Dresdner Gespräche III zur Theorie des Hofes. Berlin u. Münster 2009, S. 41–56, hier S. 43.
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deln von Regierungs- und Verwaltungsbehörden in Form „einer festen Organisation mit Sitzungsterminen, Verfahrensvorschriften und ständigen Mitgliedern“ etablierten.56 Das darin tätige administrative Personal verfügte über spezifische Qualifikationen und machte sich über seine zunehmende Professionalisierung als Funktionselite so weit unentbehrlich,57 dass es die ihm eigene Sachlogik und Zuständigkeit auch inmitten der höfischen Interaktion der Herrschaftselite behaupten konnte.58 Schließlich ließen sich sogar Begriff und Konzeption der Staatsräson und des Staatsinteresses gegenüber den „persönlichen Wünschen und Interessen des Fürsten“ in Stellung bringen.59 In der Einleitung zu den Europäischen Staaten freilich scheint vorsichtshalber beides als Leitkategorie auf: der den „Staat als Selbstzweck“60 bezeichnende „scopus Reipublicae“ wie die herrscherzentrierte „Ratio Status Imperantis“.61 Daneben ist auch die Formulierung vom „Interesse eines ieden Staats“ zu finden.62 Der allererste Band der Rengerischen Serien, der Staat von Portugall (1704), sieht dieses Königreich offenbar in erster Linie als dynastischen Verband, denn er widmet allein fünf seiner neun Kapitel den Angehörigen des regierenden Hauses.63 Am ausführlichsten wird natürlich die Rolle des Königs Peter II. (1683–1706) thematisiert, darunter sein Charakter, seine Neigungen, Erziehung und Bildung. Er wird als „souverainer Herr“ bezeichnet, der „nach seinem Wohlgefallen regieret“, aber wenigstens bei etwaigen Änderungen der Sukzessionsordnung und der Besteuerung der Untertanen auf den Konsens der drei Stände angewiesen ist.64 Die eigentliche Regierung und Verwaltung wird anhand der beklagenswert ineffizienten Staatsminister abgehandelt, die ausnahmslos der portugiesischen Aristokratie entstammten und im Zweifel ihr jeweiliges Familien- über das Staatsinteresse stellten.65 Auch der einflussreiche || 56 Reinhard: Staatsgewalt (wie Anm. 55), S. 171; vgl. auch Rudolf Schlögl: Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung. In: Frank Becker (Hg.): Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien. Frankfurt a.M. u. New York 2004, S. 185–225, hier S. 192. 57 Reinhard: Staatsgewalt (wie Anm. 55), bes. S. 193–195. 58 Vgl. Schlögl: Kommunikationsraum (wie Anm. 56), bes. S. 204–214. 59 Malettke: Hegemonie (wie Anm. 51), S. 2 f; vgl. auch Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1987, S. 242– 246. 60 Reinhard: Staatsgewalt (wie Anm. 55), S. 108. 61 Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 70. 62 Ebd., S. 61. 63 Staat von Portugall, S. 4. 64 Ebd., S. 25. 65 Ebd., S. 49.
90 | Volker Bauer nicht-adelige Sekretär des Staatsrats ist als „Creatur“ des Hauses Arronches offenbar in das Klientelnetzwerk des höheren Adels eingebunden.66 Das Kapitel über das „Interesse der Cron Portugall mit andern Potentaten“ dreht sich im Kern um die Aufrechterhaltung und Anerkennung der Unabhängigkeit von Spanien, was nicht nur für die Beziehungen zu diesem Nachbarland, sondern auch zu Frankreich, dem Kaiser und dem Papsttum bestimmend war. Letzteres war überdies relevant, weil für die Ausstellung von Bullen und Pfründen „jährlich ein unsäglich Geld aus Portugall nach Rom geschleppet“ werde, während England vor allem als Wirtschaftspartner ein nützlicher und beliebter Partner Portugals sei.67 Diese Ausführungen weisen bereits darauf hin, dass der Staat von Portugall sein Augenmerk auch auf die zahlenmäßigen Machtmittel und Ressourcen dieser Monarchie legt. Angegeben wird die Höhe von Einfuhrzöllen und Verkaufssteuern sowie der Ertrag von Monopolen, der sich etwa im Falle des Tabaks auf jährlich 600.000 Reichstaler belaufe.68 Das damit unterhaltene stehende Heer umfasse insgesamt 25.000 Mann Infanterie und Kavallerie, während die Kriegsflotte von 25 Schiffen aufgrund eines Mangels erfahrener Seeleute nicht voll einsatzfähig sei. Überhaupt leide die Verteidigungsfähigkeit des Reiches unter dem Mangel staatlicher Finanzmittel und der allgemeinen Armut des Landes.69 Im Wesentlichen zeichnet also das Bändchen die politische Ordnung Portugals als einen Herrschaftsverband des regierenden Hauses und der hohen Aristokratie. Eine sachorientierte, behördlich organisierte Verwaltung ist kaum sichtbar. Determiniert wird die Politik des Landes durch zwei Faktoren: Zum einen zwingen die historische Verflechtung mit Spanien und seine geopolitische Lage das Land zur permanenten Selbstbehauptung gegenüber dem großen Nachbarn, und zum anderen schränkt seine schlechte wirtschaftliche Situation die Handlungsmöglichkeiten stark ein. Als eigenständiges und relevantes Glied des europäischen Mächtesystems kann Portugal daher nur eingeschränkt angesehen werden. Ganz anders fällt die Bewertung natürlich für Frankreich aus, die beherrschende Macht Europas seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Der wohl im Jahr 1705 erschienene Staat von Franckreich beginnt mit einem Kapitel über den das gesamte Werk dominierenden Ludwig XIV. (1643/51–1715), und insgesamt beschäftigen sich sieben der zwölf Kapitel mit dem dynastisch-höfischen, in erster
|| 66 Ebd., S. 52. 67 Ebd., S. 58–62. 68 Ebd., S. 15–18. 69 Ebd., S. 24–27.
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Linie aufgrund seiner Standeszugehörigkeit relevanten Herrschaftspersonal (Königshaus, Adel, Ritterorden, Hofdienerschaft). Im Abschnitt über die „Regierung=Form“ und „des Königs Conseils“ werden zwar zahlreiche einzelne Ratsgremien, Gerichte und Kollegialbehörden mit rudimentären Angaben zu ihren Zuständigkeiten aufgeführt,70 die zentrale Aussage lautet dort aber: „Die Regierungs=Form ist heute zu Tage in Franckreich gar pur despotisch und Souverän, also daß der König in allen Sachen nach seinem eigenen Gefallen ohne jemands Einrede verfährt.“ Gleichwohl muss es Regierungsämter geben, weil der Monarch damit überfordert wäre, „alle Sachen in eigner Persohn abzuthun“.71 Das Kapitel über die Militär- und Finanzmacht verzeichnet zunächst über Seiten hinweg die Regimenter der Landstreitkräfte und die Kriegsmarine (freilich ohne Mannschaftsstärken) und macht dann die „Schluß=Rechnung“ auf, „daß unter Europeischen Königen keiner mehr einzunehmen habe / als eben der von Franckreich / welcher von aller seiner Unterthanen Güter nach seinem eignen Gefallen disponirt.“ Recht pauschal werden „etliche 100. Millionen von Einkünfften“ unterstellt.72 Zum Problem wird die alles entscheidende Rolle Ludwigs XIV. in jenem Kapitel, das von dem „Frantzösischen Interesse“ handelt. Er wird als „ehrgeitziger Monarch“ bezeichnet, der „das Staats-Interesse als seinen Abgott verehret“ und es dahingehend ausrichtet, dass „er zu einer Universal Monarchie gelangen möge. Zu solchem Endzweck musten alle / so wohl einheimische / als auch ausländische Hindernüße aus dem Wege geräumet werden.“73 Zu den innenpolitischen Faktoren, die seiner Machtvollkommenheit entgegenstanden, gehörten die Hugenotten, deren Widerstand also „nicht zusehr aus einem ReligionsEyfer / […] sondern aus einer nachdencklichen Staats=Vorsorge“ gebrochen wurde.74 Der Autor des Bändchens bezweifelt – wenigstens indirekt – die politische Klugheit der Aufhebung des Edikts von Nantes und konstatiert einen großen wirtschaftlichen Schaden, den Ludwig wohl in Kauf genommen habe, „umb zu seinen vorgesetzten Endzweck zugelangen.“75 Hier wird also eine Bruchlinie sichtbar, welche das wohlverstandene Gesamtinteresse Frankreichs als eines prosperierenden Landes absetzt vom Partikularinteresse seines ehrgeizigen
|| 70 Staat von Franckreich, S. 64–69 [sämtliche Zitate aus diesem Titel beziehen sich auf die Ausgabe mit 110 paginierten Seiten]. 71 Ebd., S. 63 f. 72 Ebd., S. 61. 73 Ebd., S. 96 f. 74 Ebd., S. 99; s. auch S. 13. 75 Ebd., S. 99 f.
92 | Volker Bauer Herrschers mit universalmonarchischen Ambitionen. Der hier behandelte Staat von Frankreich hat seine ureigene Räson. Im Staat der vereinigten Niderländer, ebenfalls wahrscheinlich 1705 erschienen, wird sozusagen der Kontrastfall geschildert. Die „Regierungs=Form“ der Niederlande zeichne sich dadurch aus, dass diese „nicht von einem eintzigen Oberhaupt / sondern von vielen in Democratischer Form regieret“ würden.76 Daher werden in den drei einschlägigen Kapiteln die wesentlichen Glieder dieses politischen Verbundes geschildert. Das beginnt mit den gemeinsamen Organen der sieben Provinzen, insbesondere den Generalstaaten. Bei jeder Einrichtung werden nicht nur die Zuständigkeiten, sondern auch Verfahrensregeln umrissen. Der nächste Abschnitt widmet sich den „vornehmsten Estats=Bedienten“, und ganz im Vordergrund steht dabei der Statthalter, später wird auch der holländische bzw. westfriesische Ratspensionär erwähnt.77 Daneben gibt es auch in diesem Werk ein eigenständiges Ressourcenkapitel, in dem die militärische Stärke und das lückenlose und hocheffiziente Steuersystem der Niederlande hervorgehoben werden.78 Als Handelsrepublik besteht das „Interesse“ der Niederlande „nicht in der Grandeur, und etendue, sondern in dem Reichthum“, und so bildet die „Freyheit der Commercien“ ihre wesentliche Richtschnur. Im Inneren bedarf der störungsfreie Handel der „Erhaltung der Einigkeit zwischen den Confoederirten Gliedmassen“,79 während nach außen möglichst Friede herrschen soll, der bisweilen mit Waffengewalt durchgesetzt wird.80 Die wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit bleibt selbst gegenüber dem aktuellen Kriegsgegner Frankreich bestehen, und daher „leidet beeder Interesse nicht, daß einer völlig ruiniret werde“.81 Auch die Beziehungen zu den „Orientalischen Potentaten“ bis hin zu China stehen unter dem Imperativ der Handelsfreiheit.82 Im Falle der Vereinigten Niederlande entwirft die Rengerische Serie also ein Modell von Staatlichkeit, das auf einem austarierten Gleichgewicht verschiedener Institutionen beruht, deren gemeinsames Interesse die Erhaltung der Prosperität des Landes ist. Unter dieser Prämisse erweisen sich die Betonung geordneter Verfahren und Zuständigkeiten ebenso wie der hohe Stellenwert quantitativer Daten als direkter Ausfluss der föderativ-republikanischen Ordnung. Militärische und politische || 76 Staat der vereinigten Niderländer, S. 58. 77 Ebd., S. 58–72. 78 Ebd., S. 88–94. 79 Ebd., S. 95 f. 80 Ebd., S. 98 f. 81 Ebd., S. 101. 82 Ebd., S. 105.
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Durchsetzungskraft sind dagegen kein strategisches Ziel per se, sondern eher Mittel zum Zweck. Rund die Hälfte der zu den Europäischen Staaten gehörenden Einzeltitel schildert einen oder mehrere Reichsstände. Der übergreifende Staat Des. Heil. Römischen Reichs Teutscher Nation schildert vor allem die Reichsverfassung, während das sozusagen übliche staatenkundliche Programm auf der Territorialebene angewendet wird. Dazu gehört auch im Staat Von Oesterreich / Steyermarck / Kärnthen / Crain und Tyrol, dass die Leistungen der Landesherren im Vordergrund stehen, während der Verwaltungsapparat nur eine knappe Skizze erhält und die Ressourcen allenfalls zurückhaltend quantifiziert werden. Dennoch wird diesen zwei Gesichtspunkten – und darin bildet der Band eine Ausnahme – eine eminent hohe Bedeutung zugebilligt. Denn das „wahre und beständige Interesse“ Österreichs und der sonstigen Erbländer erfordere eine kameralistische Wirtschaftspolitik, also die „Auffrichtung und Verbesserung der Manufacturen / Beförderung der Commercien“, und eine effektive Verwaltung, um die „Erhaltung und Vermehrung einer wohl exercirten und beständigen Armee“ zu gewährleisten.83 Mit diesen Aussagen gewinnen ökonomische Faktoren für die hier behandelten Länder außerordentlich an Gewicht gegenüber den üblicherweise angestellten eher geopolitischen Erwägungen. Im Staat von Chur=Bäyern (wahrscheinliches Erscheinungsdatum um die Jahreswende 1704/1705) spielt – aufgrund der desaströsen Folgen seiner Politik wenig überraschend – die Person des Kurfürsten Max Emanuel (1679–1726) die Hauptrolle. Im Verhältnis zu den sehr langen herrscher- und dynastieorientierten Abschnitten fällt die extreme Kürze (von zusammen drei Seiten) der Kapitel über die Verwaltung und über die militärischen und finanziellen Mittel Kurbayerns auf.84 Ein eigenständiger Abschnitt über die Interessen Bayerns und seines regierenden Fürsten fehlt, allerdings gibt es deutlich kritische Bemerkungen zu den politischen Zielen Max Emanuels, insbesondere zu seinem Bemühen um die Königswürde.85 Habe er zu Beginn seiner Regentschaft als Generalstatthalter der spanischen Niederlande „die Wohlfahrt der ihm anvertrauten Länder allem privat-interesse“ vorangestellt, so müsse man ihm nun vorwerfen, er opfere „Land und Leute“ seiner Heimat Bayern bloßen „privat-Regungen“.86 Analog zum Falle Frankreichs unter Ludwig XIV. scheint hier die Rangerhöhungspolitik im Widerspruch zur bayerischen Staatsräson zu stehen.
|| 83 Staat Von Oesterreich / Steyermarck / Kärnthen / Crain und Tyrol, S. 84 f. 84 Staat Von Chur=Bäyern, S. 66–68. 85 Ebd., S. 13 u. 36. 86 Vgl. ebd., S. 12 u. 3.
94 | Volker Bauer Die von den kleineren Reichsständen handelnden Bände konzentrieren sich noch deutlicher auf die Geschichte, das Personal und die traditionellen Herrschaftsrechte des jeweiligen regierenden Hauses. Im Staat Der Fürsten Zu Anhalt etwa wird nach einem umfangreichen genealogischen Teil ausführlich die Frage der Lehnsabhängigkeit einzelner Landesteile vom Erzstift bzw. später Herzogtum Magdeburg erörtert,87 dessen 1681 erfolgte Ablösung die enge Anlehnung an Brandenburg-Preußen noch verstärkte.88 Einkünfte und Militär werden nur summarisch abgehandelt;89 Verwaltungsstrukturen und Regierungsgremien gar nicht thematisiert. Dasselbe gilt auch für die im Rahmen der Rengerischen Staaten berücksichtigten geistlichen Reichsstände. Die Erzstifte Mainz, Trier, Köln, Salzburg und Besancon werden sämtlich (inklusive der ihnen in Personalunion verbundenen Nebenländer) in einem Band mit dem angemessen umständlichen Titel Staat Der Fünff Teutschen Ertz Bischöffe Als Des ErtzBischoffen / und Chur=Fürsten zu Mayntz / Trier / und Cölln Dann des ErtzBischoffen zu Saltzburg und Besancon. Ingleichen Des Hoch Meisters Teutschen Ordens abgehandelt, der wohl 1705 erschienen ist. Alle diese Fürstentümer erscheinen als Herrschaftsverband von Personen, die ihren Status zum einen ihrer Verflechtung in die universale Hierarchie der katholischen Kirche verdanken und zum anderen ihrer Zugehörigkeit zum domkapitularischen Adel. Regierungskollegien und Verwaltungsbehörden werden dagegen nicht aufgeführt. Dies ändert sich bezeichnenderweise auch kaum in der ausführlichen Darstellung des Erzstifts Salzburg von 1712, die lapidar notiert: „Die Regierung der Saltzburgischen Lande ist wie in Bäyern eingerichtet“ und danach eine Liste der lokalen Ämter abdruckt.90 Der Staat Der Fünff Teutschen Ertz Bischöffe reflektiert auch über deren „allgemeine[s] Interesse“. In diesem Zusammenhang wird behauptet, ein „Haupt=Interesse“ der Erzbischöfe ziele darauf ab, „weil sie keine Leibes=Erben hinterlassen / ihre Familie zu bedencken“, also einem Verwandten zur Nachfolge oder zu einträglichen Pfründen zu verhelfen.91 Die wahlmonarchische Verfassung der geistlichen Fürstentümer intensiviert also den personengebundenen Charakter der Herrschaft und verhindert so erst recht die Formulierung eines darüber hinausweisenden Staatsinteresses.
|| 87 Staat Der Fürsten Zu Anhalt, S. 69–72. 88 Ebd., S. 110–112. 89 Ebd., S. 89. 90 Der allerneueste Staat des Ertz=Bisthums Saltzburg, S. 160 f. 91 Staat Der Fünff Teutschen Ertz Bischöffe, S. 57–59.
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Mit dem letzten Beispiel, dem 1704 herausgekommenen Staat von Moscau, begeben wir uns wieder auf die europäische Ebene. Bereits die Vorrede setzt den Ton, indem sie ausführt, dass „primum movens, und die Seele eines jedes Estats ist dessen Oberhaupt“, was dann konkret auf den „großen Czar“ Peter I. (1682–1725) gemünzt wird.92 Dessen kompromisslos persönliches Regiment prägt auch die Ausführungen zur russischen „Regierungs=Form“. Sie behaupten, dass der Zar „alles en Souverain nach seinem eigenen Gefallen disponirt / und die jura majestatis plenissimo modo exerciret / und über aller seiner Unterthanen Leben und Güter absoluter Herr ist / mit denen Er nach eigener Fantasie verfähret.“93 Bemerkenswert ist diese Feststellung, weil sie eindeutig gegen das in der Einleitung zu den Europäischen Staaten definierte „rechte Wesen eines Staates“ verstößt, der seinen Angehörigen zwar „Sicherheit / Schutz und Schirm“ gewähren, diese aber „vor ihre Person freye Leute bleiben“ lassen muss.94 Indem der Zar auch ausdrücklich über das Leben seiner Untertanen disponieren darf, verlässt seine Herrschaft diesen gemeinsamen normativen Grund des europäischen Regiments. Stattdessen stellt ihn die zitierte Aussage an die Seite jener in der Rengerischen Serie berücksichtigten außereuropäischen Reiche, für die ebenfalls der unbeschränkte obrigkeitliche Zugriff auf Leib und Leben der Untertanen konstatiert wird, also etwa der Türkei und Persiens.95 Diese Einzelbefunde zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Autoren der Europäischen Staaten ausweislich der weitgehend in allen Einzeltiteln einheitlichen Kapiteleinteilung (und den dabei gewählten Überschriften) die Erbmonarchie als den Normalfall ansahen und dementsprechend die traditionellen Elemente der fürstlich-dynastisch-höfischen Herrschaftsordnung unabsehbar in den Vordergrund stellen. Die Mehrzahl der Seiten ist gefüllt mit den genealogischen Daten der Herrscherhäuser, den Angehörigen und Abstufungen der jeweiligen Adelsgesellschaften, den Inhabern höfischer Ämter und Mitgliedern der Ritterorden. Die ständischen Privilegien dieser Personengruppen werden in aller Breite dargestellt, etwa das gesamte ranganzeigende und verhaltenssteuernde Zeichenarsenal von den Wappen bis hin zur im einzelnen beanspruchten zeremoniellen Behandlung. Dabei steht stets der betreffende regierende Fürst im Mittelpunkt, und so halten die Rengerischen Publikationen daran fest, dass die Mitgliedschaft eines Landesherrn in der europäischen Fürs-
|| 92 Staat von Moscau, S. 3. 93 Ebd., S. 18. 94 Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 7. 95 Staat von Türckey, S. 72; Staat Von Persien, S. 25.
96 | Volker Bauer tengesellschaft überhaupt und der darin von ihm beanspruchte und ihm zugebilligte Rang ein entscheidender Bestandteil jeglicher Staatsbeschreibung zu sein hat. Tatsächlich wird die Untergrenze, bis zu jener die ursprüngliche Serie einen (weltlichen) Reichsstand berücksichtigt, von solch einem ständischen Kriterium markiert, nämlich der Zugehörigkeit der jeweiligen Dynastie zu den altfürstlichen Häusern. In den Wahlmonarchien und Republiken gilt es in besonderem Maße, die innere Einigkeit und Handlungsfähigkeit zu sichern, „weil es ungleich mehr Fürsichtigkeit braucht / einen Democratisch oder Aristocratisch / als Monarchisch=gubernirten Staat im Wohlwesen zu erhalten“. Deshalb wird die in den Niederlanden und der Schweiz erreichte „guldene Einigkeit“ den Reichsstädten als Vorbild empfohlen,96 und auch das Alte Reich müsse „eine parfaite harmonie zwischen dem Haupt und den Glidern / als auch den Glidern unter sich selbst“ anstreben.97 Im Falle der Niederlande werden als geeignete Verfahren zur Lösung von Konflikten zwischen den Provinzen Schiedsgerichte und Mehrheitsentscheidungen angeführt.98 Auffällig ist jedenfalls die ausführliche Schilderung etwa jener Gremien und Regeln, die es den Reichsständen und den Provinzen ermöglichen, auf gesamtreichischer bzw. gesamtniederländischer Ebene eingreifen zu können.99 Dagegen ist der Bereich des im engeren Sinne behördlich organisierten Regierungs- und Verwaltungshandelns zwar in fast allen Bänden präsent, doch wird er nur kursorisch abgehandelt und dient nicht als eigenständiges und relevantes Kriterium, nach dem Herrschaftsstrukturen qualifiziert werden. Überdies scheint die Existenzberechtigung administrativer Einrichtungen ohnehin nur in der mangelnden Steuerungsfähigkeit selbst des tüchtigsten Alleinherrschers zu liegen: Nur „weil aber einem Herrn allein ohnmöglich fält alles zu verwalten / also hat er […] seine Gubernatores.“100 Jeder Einzeltitel der Europäischen Staaten geht auch auf die Militärmacht und die finanziellen Mittel der jeweils behandelten politischen Einheit ein. Wenn konkrete Zahlen genannt werden, betreffen sie meist die Truppenstärke || 96 Einleitung zur Nachricht von Städten des Heil. Röm. Reichs Teutscher Nation, S. 156 u. 158; vgl. etwa auch Nachricht von der Stadt Hamburg, S. 316; Nachricht von der Stadt Rothenburg an der Tauber / Windsheim, Schweinfurth / und Weißenburg am Nordgau, Teil 1, S. 72, Teil 2, S. 45, 76 u. 101. 97 Staat Des. Heil. Römischen Reichs Teutscher Nation, S. 94. 98 Staat der vereinigten Niderländer, S. 97. 99 Staat Des. Heil. Römischen Reichs Teutscher Nation, S. 53–67; Staat der vereinigten Niderländer, S. 58–62 u. 72–76. 100 Staat Von Savoyen, S. 42; vgl. auch Staat von Franckreich, S. 64 f.
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der Landstreitkräfte. Angaben über die Höhe staatlicher Einkünfte sind häufig sehr summarisch und werden ganz bewusst als bloße Schätzungen behandelt. Es gibt also ein Bewusstsein für die Aussagekraft quantitativer und daher für einen Ressourcenvergleich geeigneter Daten, doch treten sie gegenüber den Herrschafts- und Standesrechten der Herrschaftsträger in den Hintergrund.101 Am besten aber lässt sich die Leitfrage, inwieweit die Rengerischen Publikationen ein gleichsam versachlichtes Staatskonzept vertreten, das von der Person des regierenden Fürsten und von seinen dynastischen Beziehungen absieht, mit einem Blick auf jenes Kapitel beantworten, das explizit die Staatsräson der betreffenden politischen Einheit behandelt, was als deren „Interesse“ und bisweilen „Maximen“ bezeichnet wird.102 Einen solchen Abschnitt weisen mit einigen Ausnahmen103 sämtliche Bände der Europäischen Staaten und alle Titel über die Reichsstädte auf, und in der Regel stehen darin die Außenbeziehungen gegenüber den inneren Verhältnissen im Vordergrund. Freilich belegt eine Thematisierung der Staatsräson allein noch keine Abkehr von einem Modell personalisierter, interaktionsbasierter Herrschaft von Fürst, Dynastie und Hof. Das in den Rengerischen Serien niedergelegte Grundprinzip lautet, „eines jeglichen Stats wahres Interesse“ bestehe „erstlich in dessen Erhaltung / zweytens in dessen Zuwachs und Auffnehmen“,104 doch wird diese Aussage in den Einzeltiteln modifiziert und differenziert. Letztlich gilt die Orientierung am Machtzuwachs primär für die größeren erbmonarchisch regierten Mächte. Dagegen vermag etwa die Wahlmonarchie Polen aufgrund ihrer dysfunktionalen „Regierungs=Form“ ein kohärentes Interesse nicht einmal festzulegen, und das Alte Reich besitzt „höchstes Interesse […] sich vielmehr bey jtzigem Zustand zu erhalten / als auf neues aggrandissement zu gedencken“.105 Eine solche defensive, ja im Wortsinne konservative Zielsetzung gilt auch für die meisten, insbesondere die kleineren Reichsstände.106 Im Falle der Handelsrepubliken geht es
|| 101 Es kann also keine Rede davon sein, dass die Rengerischen Staaten vornehmlich das „Potential“ oder den „Reichtum“ der behandelten Länder thematisieren; so Paul-Ludwig Weinacht: Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert. Berlin 1968, S. 109–111. 102 Vgl. etwa Staat von Franckreich, S. 93. 103 Dabei handelt es sich um: Staat von Chur=Bäyern; Staat von Preussen; Staat Von Savoyen. 104 Einleitung zur Nachricht von Städten des Heil. Röm. Reichs Teutscher Nation, S. 155 f. 105 Staat von Pohlen, bes. S. 75 u. 79 f.; Staat Des. Heil. Römischen Reichs Teutscher Nation, S. 94. 106 Vgl. etwa Staat Der Marck=Graffen von Baden=Baden und Baden=Durlach, S. 82; Staat Von Hessen=Cassel Und Darmstadt, S. 132.
98 | Volker Bauer ebenfalls weniger um politische Expansion als um Erhaltung der Selbständigkeit und eine Sicherung des freien Handels.107 Gerade im Falle größerer oder machtpolitisch ambitionierter Erbmonarchien aber lässt sich eine inhärente Spannung zwischen den Interessen des regierenden Fürsten und Hauses einerseits und denen des Gesamtstaates konstatieren. Erkennbar wird sie aus naheliegenden Gründen allerdings nur in gravierenden Krisensituationen, deren Entstehung, Dauer und Ernsthaftigkeit man auf die politischen Entscheidungen besagter Herrschaftsträger zurückführen kann. Das zeigt das französische Beispiel unter Ludwig XIV., dessen „gantze StaatsMaximen und Interesse“ auf die Errichtung einer Universalmonarchie hinauslaufen und diesem „Endzweck“ die wirtschaftliche Prosperität Frankreichs opfern.108 Ist es hier der Herrscher selbst, der dieses einmal gewählte, gleichsam partikulare Ziel über die wohlverstandene Staatsräson seines Reiches stellt, so bildet im Fall des Staats Der Chur= Und Fürstlichen Häuser Braunschweig Lüneburg gleich die ganze Dynastie einen Hemmschuh für „Wohlfahrt und Aufnehmen dieses Estats“, da die Uneinigkeit zwischen den Linien des Hauses bis zu kriegerischen Handlungen geführt und den möglichen Machtzuwachs behindert habe.109 Die ursprünglich 40 Europäischen Staaten erschienen in den Jahren 1704 bis 1708, also zu einem Zeitpunkt, als wirkmächtige Herrscherpersönlichkeiten wie Ludwig XIV., Kaiser Leopold I. (1654/58–1705), Peter der Große oder auch der Wolfenbütteler Herzog Anton Ulrich (1685/1704–1714) das Geschick ihrer Reiche und Länder weitgehend bestimmten. Bedenkt man dazu noch, dass der gleichzeitige Spanische Erbfolgekrieg (1701–1713/14) die Dominanz einer dynastisch geprägten Politik auf der europäischen Ebene bezeugte, so kann es wenig überraschen, dass das individuelle Regiment der Fürsten und Könige zum bestimmenden Faktor der staatenkundlichen Beschreibung und im Ansatz auch Beurteilung der einzelnen Herrschaftsgebiete avancierte. In den Rengerischen Publikationen geschah dies aber bereits vor dem Hintergrund einer Konzeption von Staatsräson, die ein Eigengewicht besaß und nicht automatisch und rückstandslos in den Interessen der Herrscher aufging. Ein letztes Indiz unterstreicht diesen Befund. Denn schon die Titelblätter der einschlägigen Werke sind sprechend – dies umso mehr, als sie weder einen
|| 107 Vgl. etwa Staat der vereinigten Niderländer, S. 95; Nachricht von der Stadt Hamburg, S. 315 f; etwas nunancierter aber auch Staat Der REPUBLIQUE VENEDIG Und RAGUSA, S. 117 f. u. 122 f. 108 Staat von Franckreich, S. 97 u. 99 f. 109 Staat Der Chur= Und Fürstlichen Häuser Braunschweig Lüneburg, S. 140 f.
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Verfasser oder Verlagsnamen noch Erscheinungsort oder -jahr aufweisen. Dabei lassen sich im Bereich der europäischen Staaten- und Städtekunden drei Formulierungsvarianten unterscheiden: Erstens gibt es namentlich im Falle der großen west-, nord- und osteuropäischen Königreiche die simple Variante „[Der] Staat von“, konkret etwa Staat von Franckreich, Der Staat von Schweden oder Der Staat von Pohlen. Damit ist wenigstens angedeutet, dass diese Länder staatsförmig organisiert sind, und zwar ohne Bezug auf und Umweg über deren Herrscher. Solche Formulierungen findet man auch für Reichsglieder, so heißt ein Bändchen einfach Staat Von Hessen=Cassel Und Darmstadt, ein anderes Der Staat von Preussen. Einige einen Reichsstand betreffenden Einzelstücke rekurrieren dagegen direkt auf den jeweiligen Herrschertitel oder das örtliche Herrschergeschlecht. Bezeichnungen wie Staat Der Marck=Graffen von Baden=Baden und Baden=Durlach, Staat Der Hertzoge von Meclenburg, Staat Der Chur= Und Fürstlichen Häuser Braunschweig Lüneburg oder Staat Der Hoch=Fürstlichen Sächsischen Häußer Ernestinischer Linie weisen darauf hin, dass die Eigenschaft der Staatlichkeit sich erst aus dem Fürstenrang der Territorialherren ableitet. Aus dieser Sicht wäre es nur konsequent, dass die Titel der reichsstädtischen Bändchen völlig auf den Begriff Staat verzichten. Und in der Tat operieren sie mit dem Ausdruck „Nachricht von“, so die Nachricht von der Stadt Ulm oder die Kurtze Nachricht Von der Stadt Franckfurt Am Mayn. Hier wird also das Signal von Staatlichkeit auf den Titelblättern bewusst vermieden. Man wird die Tragweite dieser Titelgestaltungen nicht übertreiben dürfen, steckte die frühneuzeitliche Verwendung des Staatsbegriffs doch ein weites, unübersichtliches Bedeutungsfeld ab.110 Aber die Wahl dieser Buchtitel demonstriert ein weiteres Mal, dass die Rengerischen Serien Teil einer semantischen und konzeptionellen Umstellung waren, in deren Verlauf die herkömmliche Verknüpfung von fürstlicher und dynastischer Herrschaft mit dem Terminus Staat sich aufzulösen begann. Staat konnte nunmehr gerade jene behördliche, institutionelle Seite politischer Herrschaft benennen, die den Machtanspruch der traditionellen Herrschaftselite im Namen einer überpersönlichen, versachlichten Staatsräson begrenzte. Genau darin aber liegt, so drückt es die Einleitung zu den Europäischen Staaten aus, der Vorzug der in Europa vorzufindenden „Regierungs=Arten“: In diesem Erdteil „giebts freye Republiquen, so entweder
|| 110 Reinhart Koselleck, Werner Conze, Görg Haverkate et. al.: Staat und Souveranität. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 16. Stuttgart 1990, S. 1–154, hier bes. S. 5–25; die einzige Nennung der Rengerischen Staaten in der begriffsgeschichtlichen Literatur bei Weinacht: Staat (wie Anm. 174), S. 110.
100 | Volker Bauer Democratisch oder Aristocratisch regieret werden. Es giebt Monarchien / da der Regenten Gewalt auf allerhand Art und Weise umschrencken.“111 Insofern ist (um es zugespitzt zu sagen) in der europäischen Selbstdeutung der Europäischen Staaten eine Fürstenherrschaft nur insofern europäisch, als sie staatlich domestiziert ist.
3 „Polizey / Gesetze / Ordnung“ oder „Barbarey“? Herrschaft in den ausländischen Staaten Anders als die Serie über die europäischen hat die über die außereuropäischen Herrschaftsgebiete keine explizite Programmschrift wie die Einleitung zu den Europäischen Staaten hervorgebracht. Allerdings besitzt der erste Band der ausländischen Staaten über Persien (1707 oder 1708) eine Vorrede, welche eine komplementäre Funktion erfüllt, freilich indem dort der Suprematieanspruch Europas zurückgewiesen wird. Gerade die welterfahrenen Europäer werden einer „übermäßigen Hochachtung“ ihrer selbst und „unbilliger Verachtung aller andern“ geziehen. Denn sie hätten „unrecht vielen Völckern in Asia, Africa, und America das praedicat Barbarn beygeleget / die ohne Polizey / Gesetze / Ordnung und Gottesfurcht […] in den Tag leben“. Der Staat Von Persien aber wird dem europäischen Leser vor Augen führen, dass besagtes Reich eben kein „Stück der Barbarey“ darstelle. „Vor diesmahl“, so heißt es außerdem, geht es nur um Persien, so dass zugleich auch die anderen künftig behandelten Länder Außereuropas in diesen Akt der Rehabilitation einbezogen scheinen.112 Insgesamt umfasst die Reihe 15 Bände. Dazu gehören mit der Türkei, Persien, dem Mogulreich, Siam, China und Japan alle Großreiche des asiatischen Küstensaums, daneben auch die Herrschaftsgebiete der Tartaren. An afrikanischen Beispielen werden mit Ägypten, Tripoli und Barkan in Libyen, Tunis und Algier die vier Tributarländer der Osmanen abgehandelt; dazu kommen noch Marokko, Abessinien sowie Guinea und Kongo. Die neue Welt wird pauschal und separat im Staat Von America thematisiert.113 Dabei werden drei Niveaus von Herrschaftsintensität und Eigenständigkeit unterschieden: zum einen die
|| 111 Einleitung zu den Europäischen Staaten (wie Anm. 1), S. 52. 112 Staat Von Persien, S. 2 f. 113 Vgl. den bibliographischen Anhang am Ende des Beitrages.
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sechs erwähnten Imperien Asiens sowie Marokko und Abessinien, die weitgehend mithilfe der bereits in den Europäischen Staaten gebrauchten Kriterien beschrieben und analysiert werden; zum anderen die vier dem Osmanischen Reich tributpflichtigen Gebiete an der nordafrikanischen Küste, die in erster Linie in Form historiographisch orientierter Landeskunden behandelt werden, welche die Frage nach eigenständigen politischen Interessen gar nicht erst formulieren; und zum dritten die tartarischen Gebiete, die west- und zentralafrikanischen Küstenländer („Gvinea und Congo“) sowie der Kontinent Amerika, die eben sämtlich keine politische Einheit bilden und deshalb auch nur in Ansätzen staatenkundliche Inhalte aufweisen. Der Staat Von Persien bezeugt beispielhaft, wie sehr sich die die traditionellen asiatischen Reiche schildernden Titel an dem für Europa entwickelten Untersuchungsraster orientieren. Auch in diesem Werk steht in Person von Schah Sultan Hosein (1694–1722 und hier Solyman IV. genannt) der regierende Monarch eindeutig im Mittelpunkt. Das gesamte erste Kapitel befasst sich mit seinem Titel, seinem Palast und Hof, dem ihm zustehenden Zeremoniell und seiner Abstammung.114 Er ist auch der dominante Faktor im Abschnitt „Von der Regierungs=Form“, wo unumwunden festgestellt wird, „im gantzen Orient“, also auch in Persien, seien die „Unterthanen gleichsam natura servi” und der König ihres „blinden Gehorsams“ sicher. Der Schah „disponirt von ihren Gütern und Leben nach eignem Gefallen mit unumbschrenckter Macht“.115 Selbstverständlich verfügt auch der persische Monarch über einen umfangreichen Apparat von geistlichen, Verwaltungs- und Hofbedienten, zu denen auch Angehörige jener lokalen Eliten gezählt werden, die über ehedem selbständige Länder geherrscht hatten, diese nunmehr aber im Namen des Schahs regieren.116 Quantitative Angaben finden sich wie gewohnt in den Kapiteln zur „Kriegs Macht“ und den „Einkünfften“. Insgesamt stünden in Persien mehr als 150.000 Mann unter Waffen, und die jährlichen Einkünfte des Monarchen beliefen sich „ohne die Cron=Ländereyen auff 20. Millionen“ Reichstaler.117 Mit über 30 Seiten fällt das im Rengerischen Untersuchungsrahmen übliche Kapitel „Von den Persischen Interesse, Staats=Maximen, und Zuneigung gegen andere Puissances“ außergewöhnlich weitläufig aus. Ausschlaggebend sind die persönlichen Interessen des Schahs an der Erhaltung seiner uneingeschränkten Herrschermacht und an seinem Reichtum, aus denen der Imperativ der Frie-
|| 114 Staat Von Persien, S. 5–18. 115 Ebd., S. 24 f. 116 Vgl. ebd., S. 38. 117 Ebd., S. 41–46 bzw. 46–54.
102 | Volker Bauer denswahrung, religiösen Toleranz und Förderung des Handels entspringt.118 Das außenpolitische Hauptziel ist das Ausbalancieren der militärischen Überlegenheit der Osmanen, etwa durch gute Beziehungen zu den europäischen Mächten.119 Während im Staat Von Persien und im Prinzip auch bei den anderen asiatischen Reichen sowie bei Marokko und Äthiopien in der Tat kein wesentlicher Unterschied zu den in den Europäischen Staaten formulierten Beschreibungskriterien zu erkennen ist, konzentrieren sich die vier Bände über die tributpflichtigen, unter osmanischer Oberherrschaft stehenden Gebiete in Nordafrika vor allem auf landeskundliche und historische Sachverhalte.120 Das jeweilige Herrschaftssystem bekommt nicht einmal ein separates Kapitel zugebilligt,121 und von Staatsinteressen oder der Staatsraison dieser Gebiete ist nur ein einziges Mal in der Negation die Rede, wo es heißt, die Algerier hätten den Janitscharen „wieder alle Staats-Raison“ die Herrschaft übergeben.122 Offensichtlich werden die osmanischen Tributarländer in der Rengerischen Serie nur sehr eingeschränkt als eigenständige, politisch relevante Akteure qualifiziert. Die übrigen drei Titel behandeln jeweils eher geographisch definierte Gebiete als Herrschaftseinheiten. Zumindest beim Staat Von America wird man wohl davon ausgehen können, dass er aus der Sicht des Verlages Renger unerlässlich war, um durch die Einbeziehung der Neuen Welt den wahrhaft globalen Charakter seiner staatenkundlichen Serien zu gewährleisten. Er berichtet vor allem von der Entdeckungs- und Kolonialisierungsgeschichte, der Tier- und Pflanzenwelt und den indigenen Einwohnern.123 Cum grano salis gilt dasselbe auch für den die subsaharische Region behandelnden Staat Von Gvinea und Congo in Africa, der gleichfalls eher geographische, ethnographische, aber auch zoologische Beobachtungen als politisch relevantes Wissen enthält. Der den Löwenanteil der eurasischen Landmasse betreffende Staat von der Kleinen und Grossen Tartarey „dienet“ in erster Linie „zur Vollkommenheit der Geographie“, d.h. ganz ausdrücklich zur Komplettierung der Rengerischen Reihen.124 Der Verzicht auf im engeren Sinne staatenkundliche Informationen wird mit dem unverän|| 118 Ebd., S. 64–66. 119 Ebd., S. 86–88. 120 Vgl. etwa nur Staat von Egypten, Innhalt; Staat Von denen Königreichen Tripoli und Barcan, S. 3; Staat von dem Königreiche Thunis, S. 3; Staat von dem Königreiche Algier, S. 3. 121 Vgl. etwa Staat Von denen Königreichen Tripoli und Barcan, S. 36 f; Staat von dem Königreiche Thunis, bes. S. 71–86. 122 Staat von dem Königreiche Algier, S. 41. 123 Staat Von America, Innhalt. 124 Staat von der Kleinen und Grossen Tartarey, S. 4.
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derlich barbarischen Wesen der Tartaren begründet, das zumindest für die Zeit nach den großen Eroberungen auf eine Art Geschichtslosigkeit und die Abwesenheit von Politik hinausläuft: „Gleichwie sich nun diese Völcker in den folgenden Zeiten durch keine andere grosse Thaten / als stetige Einfälle […] und erbärmliche Verheerung vielen Provintzen bekannt gemachet; also werden wir keine sonderlichen Staats=Veränderungen bey ihnen weiter zu mercken haben“.125 Nur in diesem Fall wird innerhalb der ausländischen Staaten einem ganzen Herrschaftsbereich explizit das Attribut barbarisch zugesprochen.126 Die Bände über die Tartaren, Guinea und Kongo und Amerika enthalten also nur rudimentäre Aussagen über die dortigen Herrschaftsstrukturen und dementieren damit gewissermaßen, dass es sich bei den darin erfassten Ethnien und Gebieten überhaupt um staatliche Gebilde handelt. Dies gilt so nicht für die vier unter osmanischer Oberhoheit stehenden nordafrikanischen Länder Algier, Tunis, Tripolis und Ägypten, denen aber in den untersuchten Publikationen gleichfalls kein eigenständiges, genuines Staatsinteresse zugestanden wird. Ein solches wird nur den Angehörigen jener Gruppe unterstellt, die aus den asiatischen Großreichen sowie Marokko und Abessinien besteht und damit die in besonderem Maße historisch und herrschaftsstrukturell stabilen unter den ausländischen Staaten versammelt. Unter diesen weisen neben dem Band über Persien der Staat von Türckey und insbesondere der Staat von Sina die ausgefeiltesten Kapitel über das jeweilige Interesse auf.127 Die Darstellungen der außereuropäischen Staaten im Verlag Renger sind also nicht nur in kommerzieller Hinsicht auf die ihnen vorausgehenden europäischen Bände bezogen, deren Erfolg auf dem Buchmarkt sie gewissermaßen verlängern sollen. Sie sind auch inhaltlich, in ihrem Aufbau und konzeptionell auf Europa bezogen. Relevant ist das in ihnen zu findende Wissen, weil es – so die Vorrede im Staat des Grossen Mogol – innerhalb einer galanten Konversation vorausgesetzt wird, zumal im Falle enger Handelsbeziehungen zwischen dem betreffenden Land und Europa.128 Beide Gesichtspunkte aber bezeugen einen hohen Grad interkontinentaler Verflechtung im frühen 18. Jahrhundert. Doch geht es um mehr als lediglich die Kenntnis dieser Reiche. Die die ausländischen Staaten inaugurierende und legitimierende Vorrede im ersten einschlägigen Werk über Persien wehrt ja eine voreingenommene, eurozentrische Sichtweise auf Afrika, Amerika und Asien insgesamt ab, und so wird hier eine
|| 125 Ebd., S. 30 f. 126 Ebd., z.B. S. 3, 13, 21; vgl. aber auch Staat von Moscau, S. 76. 127 Staat von Türckey, S. 115–119; Staat von Sina, S. 332–342. 128 Staat Des Grossen Mogol, S. 3.
104 | Volker Bauer gerechte Beurteilung der entsprechenden Herrschaftsgebiete und -strukturen eingefordert. Freilich bleibt im Rahmen der Rengerischen Serien immer auch ein Gefälle zwischen den Staaten in Europa und denen der anderen Kontinente bestehen. Davon sind selbst Persien und China nicht ausgenommen, obwohl die Vorreden in den jeweiligen Bänden diesen zwei Reichen ausdrücklich ein hohes kulturelles Niveau bescheinigen – und dadurch allgemeine Tendenzen in der Wahrnehmung beider Länder im 17. und frühen 18. Jahrhundert bestätigen.129 Die grundsätzliche Überlegenheit Europas zeigt sich schon bei der scheinbar marginalen Frage nach der militärischen Kampfkraft der „Völcker“, die nämlich – so der Staat Von Persien – generell von West nach Ost abnehme: Die „Krieges Tapfferkeit“ der „Christenheit“ sei den Türken, diese den Persern, diese wiederum den Truppen des Mogulreichs und letztere denen des Sultanats Golconda überlegen. Dahinter steckt die Vorstellung vom weichlichen „wollüstigen Morgenland“, das „dem harten West und Nord“ entgegenzusetzen ist.130 Von politischer Bedeutung sind diese Charakterdispositionen, weil sie die Anfälligkeit für die Despotie beeinflussen, wie schon die Einleitung zu den Europäischen Staaten 1708 ausgeführt hatte: Eine „absolute monarchische Regierung“ setze voraus, dass „die Gemüther eines Volck / durch die Wollust und allzugroße Liebe zur bequemligkeit […] Weibisch und Sclavisch“ geworden seien. Daher sei Asien, „da man eher sich in allen Wollüsten zu weltzen vor sein größtes Glück gehalten“, die Heimat der „despotischen Herrschaften“.131 Mustert man die Einzelbände über die außereuropäischen Länder durch, so findet man bei den Passagen zur persönlichen Machtfülle der Herrscher fast durchgängig Formulierungen, die die Unbegrenztheit des fürstlichen Handlungsspielraums betonen. Der Staat von Türckey nennt dies „die despotische Regierungs=Form / vermöge welcher der Türckische Groß=Sultan eine gantz unumschränckte Gewalt und Herrschafft hat“, wobei er als „der Groß=Herr über aller seiner Unterthanen Ehre / Gut und Leben ohn Ausnahm zu gebieten hat“ und diese „als seine Leibeigene und Sclaven“ behandelt. Er sei nicht an Gesetze
|| 129 Zu Persien Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 278–284; vgl. zum positiven Chinabild der frühen Aufklärung Willy Richard Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung. Köln u. Wien 1990, bes. S. 294–298. Die Rengerschen Staaten werden in beiden Werken leider nicht berücksichtigt. Vgl. ferner den Beitrag von Damien Tricoire in diesem Band. 130 Staat Von Persien, S. 71. 131 Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 8 f ; vgl. zu den Vorstellungen von der asiatischen Despotie Osterhammel: Entzauberung (wie Anm. 129), bes. S. 271–309.
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gebunden und übe daher „absolute Macht“ aus.132 Hier wird also ebenfalls explizit der Begriff der Despotie verwendet und semantisch an das Konzept absoluter Herrschaft gekoppelt.133 Auch in den Büchern über Persien, das Mogulreich, Siam, Japan, Abessinien und über China (dort mit Einschränkungen) wird die Verknüpfung von absoluter politischer Herrschaft und uneingeschränkter Verfügung über das Leben und das Eigentum der Untertanen zum Kernmerkmal der außereuropäischen Monarchien.134 Nach demselben Muster exekutiert der Herrscher Marokkos seine „Despotische Gewalt“, wobei er „sich öfters mit dem Könige von Franckreich [vergleicht] / von welchem er zu sagen pfleget / daß Er unter den Europaeischen Potentaten der eintzige sey / welcher wie Er / zu regieren wisse.“ Offenbar soll diese kolportierte Behauptung ebenso sehr den marokkanischen wie den französischen Monarchen desavouieren.135 Tatsächlich hatte ja der Staat von Franckreich konstatiert, die dortige „Regierungs Form“ sei „pur despotisch“, doch bezieht sich diese in der Wortwahl wohl bewusst polemische Aussage im wesentlichen auf die Entmachtung der Stände und Parlamente zugunsten des Königs und nicht auf dessen Zugriff auf Leib, Leben und Eigentum der Untertanen.136 Somit bildet Russland das einzige europäische Reich, dessen Oberhaupt nach dem Zeugnis der Rengerischen Staatskunde eine den außereuropäischen, als Despoten bezeichneten Monarchen vergleichbare Machtstellung besaß. Denn der russische Zar ist, so steht es dort, „über aller seiner Unterthanen Leben und Güter absoluter Herr“, und er verfügt darüber „nach eigener Fantasie“.137 Angesichts der despotischen Handlungsvollmachten der außereuropäischen Monarchen spielen Verwaltungs- und Justizbehörden mit ihren festgelegten Kompetenzen und Instanzenzügen nur eine untergeordnete Rolle. Auch unter diesem Blickwinkel bildet freilich China eine Ausnahme, wird doch der dortige zentrale und regionale Beamtenapparat ausführlich geschildert.138 Dabei wird auch die zweckmäßige Einrichtung der Justiz und die Einfachheit der Gesetze betont, die es ermöglichen, dass der Kaiser selbst schnell und effektiv || 132 Staat von Türckey, S. 72 f. 133 Vgl. Osterhammel: Entzauberung (wie Anm. 129), S. 276. 134 Staat Von Persien, S. 25; Staat Des Grossen Mogol, S. 72; Staat von Siam, S. 40 f; Staat Der Japanischen Und der übrigen Vornehmsten Insuln In Ost=Indien, S. 32; Staat von Habeßinien, S. 52 f; Staat von Sina, S. 196 u. 201 f; Vgl. außerdem Staat Von Gvinea und Congo, S. 80. 135 Staat Von dem König=Reiche FEZ und MAROCCO, S. 38–40. 136 Staat von Franckreich, S. 63 f. 137 Staat von Moscau, S. 18. 138 Staat von Sina, S. 226–263.
106 | Volker Bauer Recht sprechen kann.139 Vergleicht man diesen Zuschnitt etwa mit der Beschreibung des Mogulreichs, so erkennt man, um wieviel niedriger beispielsweise dort die Bedeutung des administrativen Personals eingeschätzt wird, genügen dazu doch gerade einmal vier Seiten.140 Dagegen gibt es hinsichtlich der Berücksichtigung und der Relevanz von Ressourcen keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen außereuropäischen und europäischen Staaten. Hier wie dort sind die entscheidenden und mit Zahlen unterlegten Kennziffern die jeweils zur Verfügung stehenden Truppenstärken und Finanzmittel. Im Falle der größeren Reiche Asiens bewegen sich die mitgeteilten, in ihrer Verlässlichkeit allerdings relativierten Quantitäten in nachgerade fabelhaften Dimensionen.141 Die in den Rengerischen Bänden aufscheinende, in höchstem Maße konzentrierte und personalisierte, kurz: despotische Herrschaft in den Ländern außerhalb Europas lässt nicht nur die behördliche Erledigung von Regierungsund Verwaltungsgeschäften in den Hintergrund treten, sie verstärkt auch das Gewicht der direkten Interaktion mit dem Alleinherrscher – und damit die Rolle des Zeremoniells, das die Präsenz des Monarchen und den Zugang zu ihm reguliert. Dieser Sachverhalt erklärt den Befund, dass sich unter den zahlreichen in den Serienstücken vorhandenen Frontispizes ausgesprochene Zeremonielldarstellungen nur bei einigen ausländischen Staaten finden: Im Band über Marokko wird eine Audienzszene, in dem über Abessinien das königliche Speisezeremoniell, in dem über das Mogulreich die Reverenz eines Hofdieners, in dem über Siam der Ausritt des Königs auf einem Elefanten (Abb. 2) und in dem über Japan erneut eine Audienz wiedergegeben.142 All diese Kupferstiche zeigen zeremonielle Situationen, die an den europäischen Höfen ihre Entsprechung hatten, nun aber durch die Abbildung exotischer Kleidung und Raumaustattung (und eines Elefanten!) in einen als fremdartig markierten Kontext überführt werden. Offensichtlich sah der Verlag diese bildlichen Einblicke in das außereuropäische Hofzeremoniell als attraktives Sujet an, das geeignet war, das Interesse der Käufer und Leser zu wecken.
|| 139 Ebd., S. 262. 140 Staat Des Grossen Mogol, S. 74–78. 141 Staat von Sina, S. 263–272 u. 274–276; Staat Des Grossen Mogol, S. 96–108 u. 121 f. 142 Staat Von dem König=Reiche FEZ und MAROCCO, Frontispiz; Staat von Habeßinien, Frontispiz u. S. 57; Staat Des Grossen Mogol, Frontispiz u. S. 78; Staat Von Siam, Frontispiz u. S. 44; Staat Der Japanischen Und der übrigen Vornehmsten Insuln In Ost=Indien, Frontispiz u. Erklärung des Kupffer=Titels.
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Abb. 2: Staat Von Siam, s.l. 1715, Frontispiz (HAB: Gb 298: 13)
Doch hat die Koppelung von Zeremoniell und Exotik im Rahmen der Rengerischen Serien darüber hinausgehende Konsequenzen, funktioniert sie doch in beiderlei Richtungen. Zum einen wird das abgebildete, fremd anmutende Verhalten durch den Bezug auf das vertraute europäische Zeremoniell, den die Bildlegenden und Erläuterungen im Buchtext herstellen, les- und erklärbar. Aber dieser Interpretationshilfe steht zum anderen (überspitzt ausgedrückt) die Exotisierung des Zeremoniells gegenüber. Denn ins Bild gesetzt wird letzteres nur in einer überdeutlich als nicht-europäisch gekennzeichneten Umgebung. Dieses Vorgehen kann man als Distanzierung vom gängigen, im Europa des frühen 18. Jahrhunderts praktizierten Herrschaftszeremoniell deuten. Und in der Tat finden sich im Rahmen der ausländischen Staaten vereinzelte zeremoniellkritische Passagen. Der Staat Von Siam berichtet, dass die thailändischen Könige im Oktober, am Ende der Überschwemmungsphase, den Fluss Menam mit einem Dolch zu züchtigen und ihm zu befehlen pflegten, sich zurückzuziehen. Als jedoch der 1685 regierende Herrscher erfahren musste, „daß dennoch das Wasser / seines Befehls ungeachtet / bißweilen aufschwelle : so setzte er damals diese lächerliche Ceremonie bey seite“.143 Diese Abqualifizierung verdankt sich wohl der Erkenntnis, dass eine Zeremonie, deren Wirksam-
|| 143 Staat Von Siam, S. 48.
108 | Volker Bauer keit umstandslos falsifiziert werden kann, politisch unklug ist.144 Im Band über die Länder Guineas und Kongos heißt es vom König des westafrikanischen Reiches Fida, er setze sich nur den Blicken der höchsten Hofdiener, nicht aber der Untertanen aus, da er „dem gemeinen Mann die Einbildung beybringen will; Könige wären etwas mehrers als Menschen / und sie müsten als Götter geehret werden.“145 Damit wird hier bereits 1714 ein Kernargument des aufgeklärten Zeremonielldiskurses formuliert, das später, nämlich erst in den 1720er Jahren, über Christian Wolff146 Eingang in die einschlägigen Werke finden wird und als implizite Zeremoniellkritik gedeutet werden muss.147 Es rechtfertigt die höfischen Zeremonien als sinnlich erfassbare Zeichen für die Legitimät fürstlicher Herrschaft, die aber nur der „gemeine Mann“, also der einfache, ungebildete Untertan, benötige.148 Grundsätzlich ist bei den in den ausländischen Staaten vorgenommenen Beschreibungen und Bewertungen der Bezug zu den europäischen Pendants allgegenwärtig. Und auch hier ist das Verhältnis ein wechselseitiges. Ganz offensichtlich bilden die Staaten Europas das Modell für die Darstellungen der politischen Einheiten auf den anderen Kontinenten. Auch bei diesen gibt es ein Überwiegen derjenigen Aspekte, die zu einer personalen, interaktionsbasierten Ausübung von Herrschaft gehören, während behördliche Regierungs- und Verwaltungseinrichtungen mit ihren formalisierten Verfahren in den Hintergrund treten. Die quantitativen Angaben zu den Ressourcen folgen ebenso dem von Europa abgeleiteten Muster wie die Passagen zu den jeweiligen Staatsinteressen. Die Beurteilung eines nicht-europäischen Landes hängt im Wesentlichen davon ab, inwieweit es diesen Maßstäben gerecht wird. Am ehesten gelingt das noch den großen asiatischen Reichen von der Türkei im Westen bis zu Japan im Osten, unter denen China am meisten geschätzt wird. In gewisser Weise weichen sie auf den genannten Feldern nur graduell von den europäischen Monarchien ab, und insofern kann die im Persienband beschworene, politisch grund-
|| 144 Vgl. zu diesem Punkt etwa auch Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Laßen […]. Halle (Saale) 1720, bes. S. 106. 145 Staat Von Gvinea und Congo, S. 92. 146 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen […]. Halle (Saale) 1720, S. 499–502. 147 Volker Bauer: Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus. Wien, Köln u. Weimar 1997, bes. S. 117 f; Miloš Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. Frankfurt a.M. 1998, bes. S. 150–157. 148 Wolff: Gedancken (wie Anm. 240), S. 500 f.
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legende Trias „Polizey / Gesetze / Ordnung“149 auch auf sie angewendet werden. Einen kategorialen Unterschied zwischen diesen Imperien und den Monarchien Europas mit ihren Checks and Balances und intermediären Instanzen aber bildet der Despotismus, der in den Rengerischen Publikationen mal als orientalisch,150 mal als asiatisch151 apostrophiert wird. Dieser Übertragungs- und Projektionsprozess von Europa auf die anderen Kontinente ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Denn die an den außereuropäischen Herrschaftsformen konstatierten, als Differenz zur europäischen Norm wahrgenommenen Defekte kehrten wiederum als Anleitung zur Kritik an den dortigen politischen Verhältnissen nach Europa zurück. Das hat etwa der Staat von Franckreich gezeigt, in dem König Ludwig XIV. nachgesagt wird, er regiere „pur despotisch“. Zum harten Vorwurf wird diese Feststellung eben erst, sobald der Despotismus im Rahmen der ausländischen Staaten als im Grunde uneuropäisch erscheint.152 Die in kritischer Absicht erfolgte Rückspiegelung einzelner Elemente des politischen Lebens von den außereuropäischen zu den europäischen Staaten hat den Despotismus, also die unbeschränkte monarchische Machtausübung, und das Zeremoniell zum Gegenstand. Damit trifft sie genau die personalen, interaktionsförmigen, herrscherzentrierten, nicht-institutionellen Elemente des frühneuzeitlichen Herrschaftssystems. Dahinter steckt erneut die im Rahmen des Rengerischen Publikationsprojekts grundlegende Vorstellung einer Staatlichkeit, welche die persönliche Freiheit der Untertanen bewahrt und den obrigkeitlichen Zugriff auf deren Leib, Leben und Eigentum einschränkt, formalisiert und berechenbar macht – und welche eben nur in Europa echte Realisierungschancen besaß.
4 Fazit Die Rengerischen Staaten- und Reichsstädtekunden folgen weder einem kohärenten, vorgängigen Beschreibungsprogramm noch verfügen sie über einen festen Kanon von Kriterien, anhand dessen die Leistungen, Stärken und Schwächen eines Herrschaftssystems überprüft und mit anderen Fällen abgeglichen || 149 Staat Von Persien, S. 3. 150 Staat Von Persien, S. 24 f; Staat Des Grossen Mogol, S. 72. 151 Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 9. 152 Staat von Franckreich, S. 63 f; Staat Von dem König=Reiche FEZ und MAROCCO, S. 24 u. 39 f.
110 | Volker Bauer werden können. Immerhin aber hat sich über die 15 Jahre, in denen die einschlägigen Serien existierten, ein Bündel von Merkmalen konsolidiert, nach denen die einzelnen Länder, Territorien und Städte abgehandelt werden. Dabei sind drei Ebenen zu unterscheiden. Deren erste bilden die allgemeinen Einführungstexte. Die erst ex post herausgekommene Einleitung zu den Europäischen Staaten von 1708 führt einen umfangreichen, allerdings nur grob in die Felder Geographie, Politik und Geschichte gegliederten staatenkundlichen Fragenkatalog auf, formuliert darüber hinaus aber auch den normativen Horizont des gesamten Unternehmens. Das „rechte Wesen eines Staates“ erweise sich darin, dass jene „freye[n] Leute“, die sich um der „Sicherheit / Schutz und Schirm“ willen der Herrschaft anderer unterwerfen, „vor ihre Person freye Leute bleiben“.153 Mit brutaler Nüchternheit umschreibt hingegen die Einleitung zur Nachricht von Städten des Heil. Röm. Reichs (1707/08) den Selbstzweck aller Staaten: Ihr „wahres Interesse“ bestehe primär in ihrer „Erhaltung“.154 Auf der zweiten Ebene werden diese angesprochenen Gesichtspunkte anhand der einzelnen politischen Einheiten in Europa gleichsam ausbuchstabiert. Im Rahmen der europäischen Staaten erscheinen sie in erster Linie als Gebilde, in denen die herrschaftsständischen Eliten, vor allem Hochadel und Adel, bestimmend sind. Nach außen müssen sie sich innerhalb einer Fürstengesellschaft behaupten, ihre innere Ordnung kann als Adelsgesellschaft bezeichnet werden. Behördlich verfasste Regierungs- und Verwaltungseinrichtungen und deren Amtsträger werden zwar aufgeführt, aber die entsprechenden Funktionseliten nicht als politisch relevant aufgefasst. Auch quantitative Ressourcen werden in Gestalt der Staatseinnahmen und der Heeresgröße immerhin berücksichtigt, aber nicht systematisch als Machtfaktoren gewichtet. Das wenigstens ab der Mitte des 17. Jahrhunderts spürbare „neuzeitliche Gesetz von Fläche und Zahl“,155 das größere Gemeinwesen favorisierte und sich in einem brutalen Ausleseprozess äußerte, der die Anzahl unabhängiger Herrschaftseinheiten im frühneuzeitlichen Europa und im Alten Reich sukzessive verringerte,156 fand in den Rengerischen Staatenkunden keine Resonanz. Sind damit Fürstenregiment und Fürstenrang als die zentralen Elemente einer auf personale Beziehungen und Interaktionen gestützten Herrschaftsord-
|| 153 Einleitung zu den Europäischen Staaten, S. 7. 154 Einleitung zur Nachricht von Städten des Heil. Röm. Reichs Teutscher Nation, S. 155 f. 155 Heinz Schilling: Höfe und Allianzen, Deutschland 1648–1763. Berlin 1989, S. 194–197; Vgl. auch S. 47 f. 156 Charles Tilly: Coercion, Capital, and European States, AD 990–1992. Cambridge (Mass.) 1994, S. 41–47.
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nung etabliert, so gibt es in den Europäischen Staaten dennoch einen systematischen Ort, an dem die Belange des als autonomes funktionales Gefüge (jenseits der traditionalen, ständischen Eliten) verstandenen Anstaltstaates wenigstens thematisiert werden können. Fast ausnahmslos besitzen die einschlägigen Titel – und dies gilt auch für die Bände über die Reichsstädte – ein eigenständiges Kapitel über die Staatsräson oder das Staatswohl des betreffenden Landes, was als dessen „Interessen“ und „Maximen“ formuliert wird. Wenigstens in zwei Punkten sind diese nicht disponibel, sondern scheinen von universeller Gültigkeit zu sein: Das elementare Ziel jeden Staates ist seine Selbsterhaltung, und dazu bedarf es innerer Stabilität und Einigkeit. Gefährden sie diesen Zustand, dann sind auch die Interessen des jeweiligen Herrschers nurmehr schädliche Partikularinteressen. Daher können politische Krisen als Ergebnis einer Diskrepanz von Herrscherinteressen und abstraktem Staatszweck gedeutet werden. Die außenpolitischen Interessen eines Staates ergeben sich weitgehend aus geopolitischen Konstellationen, d.h. aus seiner konkreten Lage im Verhältnis zu seinen direkten und indirekten Nachbarn, und sind insoweit von objektivierbaren Gegebenheiten abhängig.157 Im Prinzip sollten die strategischen Erwägungen eines Fürsten oder Fürstenhauses diesen beiden Faktoren nachgeordnet sein, und insofern bildet ihre Berücksichtigung die Grundlage für andauernden politischen Erfolg. Auf der dritten Ebene wird das anhand der europäischen Staaten entwickelte Beschreibungsmuster und der damit verbundene normative Maßstab einer die persönliche Freiheit und das Privateigentum der Untertanen respektierenden Herrschaftsform auf außereuropäische Länder übertragen. Implizit werden die politischen Einheiten auf den anderen Kontinenten umso positiver bewertet, je mehr sie den europäischen Standards zu entsprechen scheinen. Ironischerweise sind aber ausgerechnet jene asiatischen Reiche, die über einen den europäischen Mächten vergleichbaren, effizienten, auf „Polizey / Gesetze / Ordnung“ basierenden Regierungs- und Verwaltungsapparat verfügen, in besonderer Weise durch die „gantz unumschränckte Gewalt und Herrschafft“ ihrer Monarchen gekennzeichnet.158 Und dieser Despotismus markiert dann wieder ihren Abstand zu den europäischen Herrschaftssystemen. Damit werden auch die Zugehörigkeit zu Europa und dessen Grenzen verhandelt, und dabei überlagern sich geographische, kulturelle und politische Konzepte. Die „Europäische Tartarey“ wird trotz ihrer geographischen Lage im Staat von der Kleinen und Grossen Tartarey und damit in der Reihe der „Asiati|| 157 Vgl. beispielsweise Staat von Pohlen, S. 74–88. 158 Staat Von Persien, S. 3; Staat von Türckey, S. 72.
112 | Volker Bauer schen Staaten“ abgehandelt. Diese Ausbürgerung entspricht der kulturellen Abqualifizierung aller Tartaren als „das wilde Barbarische Volck”.159 Zwiespältig ist die Stellung Russlands: Es firmiert unter den europäischen Staaten, doch wird im Staat von Moscau ebenfalls von dem dortigen „barbarischen […] Volcke“ gesprochen. Und dass der Zar Peter I. „über aller seiner Unterthanen Leben und Güter absoluter Herr ist“,160 macht ihn zu einem Herrscher nach dem asiatischen Modell des Despotismus, auch wenn dieser Ausdruck hier nicht fällt. Gleichwohl steht mit diesem explizit auf asiatische Reiche und auf Marokko applizierten, eindeutig pejorativen Begriff ein Terminus bereit, der dann auf Europa zurückprojiziert und als Werkzeug zur Einordnung und Bewertung der auch dort gepflegten Herrschaftsausübung gebraucht werden kann. Vergleichbares geschieht auch im Bereich des Zeremoniells, so dass man die ausländischen Staaten als eine Art Labor betrachten kann, in welchem mit einer Kritik experimentiert wird, die ganz fundamentale Züge des politischen Systems im frühneuzeitlichem Europa in Frage zu stellen vermag. Der Verlag Renger betrieb aus kommerziellen Gründen die Globalisierung seiner Staatenkunden, allerdings basierten diese im normativen wie im konzeptionellen Sinne auf einem europäischen Modell. Die geschilderten Rückkoppelungen belegen aber auch, dass diese Beziehung keine Einbahnstraße war. Ihr volles kritisches Potential entfalteten diese Werke erst in der wechselseitigen Spiegelung europäischer und nicht-europäischer Verhältnisse. Dies alles vollzog sich in aggressiv vermarkteten Büchern und damit im Rahmen einer grundsätzlich unbegrenzten Öffentlichkeit. Damit dienten die Rengerischen Staaten der politischen Unterrichtung eines breiten Publikums, das in ihnen zwar kein entwickeltes Programm aufgeklärter Herrschaftskritik vorfand, aber doch die Bedingung der Möglichkeit des Vergleichs und damit der Beurteilung unterschiedlicher „Regierungs=Arten“.
|| 159 Staat von der Kleinen und Grossen Tartarey, S. 3 f. 160 Staat von Moscau, S. 18.
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5 Bibliographischer Anhang: Die Rengerischen Staaten und verwandte Serien 5.1 Serie: Die Europäischen Staaten Einleitung zu den Europäischen Staaten Und Derselben Beschluß, Frankfurt a.M. / Leipzig: Rengerische Buchhandlung 1708 [Der] Staat – Des Heil. Römischen Reichs Teutscher Nation – Der Käyserl. Und Ertzhertzogl. Erbländer – Von Oesterreich / Steyermarck / Kärnthen / Crain und Tyrol – Von Böhmen – von Schlesien – Von Mähren – von Preussen – Von Chur=Bäyern – Von Chur=Pfaltz – Von Chur=Sachsen – Der Hoch=Fürstlichen Sächsischen Häußer Ernestinischer Linie – Der Chur= Und Fürstlichen Häuser Braunschweig Lüneburg – Der Fünff Teutschen Ertz Bischöffe Als Des ErtzBischoffen / und Chur=Fürsten zu Mayntz / Trier / und Cölln Dann des ErtzBischoffen zu Saltzburg und Besancon. Ingleichen Des Hoch Meisters Teutschen Ordens – Der Hertzoge von Meclenburg – Der Hertzoge von Würtenberg – Von Hessen=Cassel Und Darmstadt – Der Marck=Graffen von Baden=Baden und Baden=Durlach – Der Fürsten Zu Anhalt. Sambt Einem Anhang Vom Hertzogthumb Sachsen=Lawenburg – der Hertzogthümer Schleswig Holstein und des Bischoffthums Lübeck – von Franckreich – Von Spanien – von Portugall – Von Groß=Britannien – von Dännemarck – von Schweden – von Moscau – von Pohlen – Von Hungarn
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– – –
– – – – – – – –
Von Siebenbürgen Wallachey Und Moldau Des Römischen Päbstlichen Hoffes Der Spanischen Provincien in Italien Als 1. Des Hertzogthums MILANO 2. Des Königreichs NAPOLI samt dem Stato delli praesidii. 3. Des Königreichs SICILIEN. 4. Des Königreichs SARDINIEN; Von Savoyen Von Florentz / Modena / und Reggio Von Mantua Und Montferrat Von Parma und Piacenza. Mirandula und Concordia. Massa und Carrara. Monaco Doria St. Piedro. Sesto St. Angelo und dei FIESCHI des Malteser Oder Johanniter=Ordens Der REPUBLIQUE VENEDIG Und RAGUSA Der REPUBLIQUE Von GENOUA LUCCA Und MARINO Der Schweitzerschen Eidgenossen Und Ihrer Verbundeten Worunter auch Die Republique GENEVE Der vereinigten Niderländer [alle Bde. Halle a.d.Saale: Rengerische Buchhandlung 1704–1708]
spätere Ergänzungen: Staat Von Bäyern. Halle a.d.S. 1706 Der Staat von Meiland / Napoli / Sicilien / und Sardinien, Halle a.d.S.: Renger 1709 [2. Auflage der Spanischen Provincien in Italien] Der allerneueste Staat des Ertz=Bisthums Saltzburg, und der darunter gehörigen Vier Mediat=Stiffter Gurck, Chiemsee, Seckau, Lavant, Halle a.d.S.: Renge rische Buchhandlung 1712 Der neueste Staat Des Königreichs Portugall, und der darzu gehörigen Laender inn= und außerhalb EUROPA, Halle a.d.Saale: Rengerische Buchhandlung 1714 Einleitung Zum Begriff Des Staats Von Portugall, Halle a.d.S.: Rengerisch Buchhandlung 1714 Einleitung Zum Begriff Des Staats Von Spanien, Halle a.d.S.: Rengerische Buchhandlung 1714 Staat Der Fürsten und Grafen Zu Oettingen Und Ost=Frießland, Braunschweig: Simon Jacob Renger 1717 Staat der Grafen von Mansfeld Und Hanau, Braunschweig: Simon Jacob Renger 1718
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5.2 Serie: Die ausländischen Staaten [Der] Staat – Von Persien – von Türckey – von Sina – von der Kleinen und Grossen Tartarey – Von dem König=Reiche FEZ und MAROCCO in Africa – Des Grossen Mogol – von Habeßinien – von dem Königreiche Algier In AFRICA – von dem Königreiche Thunis In AFRICA – Von denen Königreichen Tripoli und Barcan in Africa – Von Gvinea und Congo in Africa – von Egypten – Von America – Von Siam, In Ost=Indien – Der Japanischen Und der übrigen Vornehmsten Insuln In Ost=Indien. Als ein Beschluß aller ausländischen Staaten / nebst einer ordentlichen Verzeichniß derselben / wie sie nach und nach im Druck erschienen [alle Bde. Halle a.d.Saale: Rengerische Buchhandlung 1707/08–1716]
5.3 Serie: Reichsstädte Einleitung zur Nachricht von Städten des Heil. Röm. Reichs Teutscher Nation Nachricht – von der Stadt Augspurg – von der Stadt Bremen – von der Stadt Hamburg – von der Stadt Lübeck – von der Stadt Rothenburg an der Tauber / Windsheim / Schweinfurth / und Weißenburg am Nordgau – von der Stadt Ulm. Kurtze Nachricht Von der Stadt Franckfurt Am Mayn Des Heil. Römischen Reichs Freye Stadt Nürnberg [alle Bde. Halle a.d.Saale: Rengerische Buchhandlung 1707–1709]
116 | Volker Bauer
5.4 Serie: Universitätsstädte Kurtze Nachricht – Von denen Academien und Universitäten Uberhaupt – Von der Stadt Halle, Und absonderlich Von der Vniuersität daselbst – Von der Stadt Leipzig/ Und absonderlich Von der Vniuersität daselbst [alle Bde. Halle a.d.Saale: Rengerische Buchhandlung 1709]
5.5 Parodie Der Staat Von Schlaraffen=Land, Halle a.d.S.: Rengerische Buchhandlung zwischen 1708 u. 1715
5.6 Plagiat Christian Juncker, Staat Des Hoch=Fürstlichen Sächszischen Hauses Eisenach / und darzu gehöriger Lande, Eisenach: Joh. Adolph Boetius 1710.
Lars Behrisch (Utrecht)
Patriotische Zahlen: Statistik als Messlatte staatlichen Erfolgs im 18. Jahrhundert In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfuhr die zahlenmäßige Bemessung von Staaten und ihrer Politik – also das, was wir heute als „Statistik“ bezeichnen – eine plötzliche Konjunktur. Dies war vor allem der gesteigerten Aufmerksamkeit für demographische, agrarische und gewerbliche Ressourcen, für Mechanismen ihres Zusammenspiels und daraus resultierende Wachstumspotentiale geschuldet – eine Aufmerksamkeit, die durch ihre statistische Bemessung und Abbildung weiter gefördert wurde. Im Spiegel von Zahlen und Berechnungen bemaßen und verglichen Regierungen die Erfolge, die sie in ihrer Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik erzielt zu haben glaubten, und präsentierten sich auf diese Weise als vernünftige, vorausschauende, auf das Wohl ihrer Untertanen bedachte Landesväter. Allerdings wurden sie nun auch von einer lesenden und schreibenden Öffentlichkeit an solchen Zahlen gemessen. Die Folge war eine zunehmende Bemessung politischen ‚Erfolgs‘ an den quantifizierbaren Kriterien materiellen Wachstums und funktionaler Effizienz.1
1 Statistik als politisches Instrument Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich ein allmählicher Paradigmenwechsel beobachten – weg von qualitativen, auf traditionelle Werte orientierten Vergleichsparametern, ebenso wie vom Parameter bloßen militärischen Erfolgs und territorialer Größe, hin zum Parameter wirtschaftlichen (und womöglich demographischen) Wachstums, das der möglichst nachhaltigen Steigerung der staatlichen Ressourcen und damit auch der irdischen „Glückseligkeit“ der Untertanen dienen sollte. Insbesondere die Agrarwirtschaft, Ernährungsquelle wie Grundlage verschiedener protoindustrieller Gewerbe, namentlich der Textilherstellung, und die vielfältigen Möglichkeiten ihrer systematischen Förderung rückte nun allenthalben in den Fokus staatlichen Interesses. Es wurden von der agrarökonomischen Literatur ebenso wie von den
|| 1 Dazu und zum Folgenden: Lars Behrisch: Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime. Ostfildern 2016. https://doi.org/10.1515/9783110735734-005
118 | Lars Behrisch verwaltungs- und wirtschaftstheoretischen Schriften der Kameralisten in Deutschland und der Physiokraten in Frankreich genährt und weiterentwickelt.2 Gespiegelt und zugleich ungeheuer befördert wurde die neuartige politökonomische Agenda durch ihre Verknüpfung mit dem Medium der Statistik – im heutigen Sinn.3 Sie schuf in gewisser Weise erst solche quantitative Größen und Zusammenhänge wie ‚Produktion‘ und ‚Konsumtion‘ – oder machte sie jedenfalls erst sichtbar und greifbar – und richtete den Blick auf deren Veränderung in der Zeit, das heißt auf deren Wachstum. Natürlich gab es schon vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diverse tabellarische Erfassungen. Sie hatten aber fast immer rein fiskalische Zwecke (Steuerlisten, Kataster) oder andere unmittelbar administrative Funktionen (Konskriptionslisten, Kirchenbücher). Sie dienten der Auflistung einzelner Orte, Haushalte oder Personen und ihrer jeweils konkreten Pflichten und Verpflichtungen, nicht aber der Aggregierung solcher Einzeldaten zum Zweck der Generalisierung, Abstraktion und übergrei|| 2 Zum Kameralismus: Johann Heinrich Gottlob von Justi: Staatswirthschaft oder Systematische Abhandlung aller Oeconomischen und Cameral-Wissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfordert werden. 2 Bde. Leipzig 1755; Guillaume Garner: État, économie, territoire en Allemagne. L’espace dans le caméralisme et l’économie politique 1740–1820. Paris 2005; Thomas Simon: „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2004, v. a. S. 440–442; Marcus Sandl: Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert. Köln 1999 ; Zur Physiokratie: François Quesnay: Œuvres économiques complètes et autres textes. Hg. v. Christine Théré, Loic Charles u. Jean-Claude Perrot, 2 Bde. Paris 2005; Georges Weulersse: Le mouvement physiocratique en France (de 1756 à 1770). 2 Bde. Paris 1910 [ND 1968]; Jean-Claude Perrot: Une histoire intellectuelle de l’économie politique, XVIIe–XVIIIe siècle. Paris 1992; Birger J. Priddat: Le concert universel. Die Physiokratie: Eine Transformationsphilosophie des 18. Jahrhunderts. Marburg 2001; Agrarwissenschaft: André J. Bourde: Agronomie et agronomes en France au XVIIIe siècle. 3 Bde. Paris 1967; Gérard Béaur: Histoire agraire de la France au XVIIIe siècle. Inerties et changements dans les campagnes françaises entre 1715 et 1815. Paris 2000, S. 168–170; Stefan Brakensiek u. Gunter Mahlerwein: Art. „Agrarreformen“. In: Enzyklopädie der Neuzeit 1 (2005), Sp. 122–131. 3 Zur sogenannten deutschen ‚Universitätsstatistik‘ des 18. Jahrhunderts, die Staatsbeschreibung vor allem in Textform vornahm: Johan van der Zande: Statistik and History in the German Enlightenment. In: Journal of the History of Ideas 71/3 (2010), S. 411–432; Garner: État, économie, territoire (wie Anm. 2), S. 82–84; Ders.: Politische Ökonomie und Statistik an der Universität Göttingen (1760–1820). In: Hans Erich Bödeker, Philippe Büttgen u. Michel Espagne (Hg.): Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Wissenschaftliche Praktiken, institutionelle Geographie, europäische Netzwerke. Göttingen 2008, S. 371–390; Karl Heinrich Kaufhold u. Wieland Sachse: Die Göttinger „Universitätsstatistik“ und ihre Bedeutung für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte. In: Hans-Georg Herrlitz u. Horst Kern (Hg.): Anfänge Göttinger Sozialwissenschaft. Göttingen 1987, S. 72–95. Zur Entwicklung des Begriffs „Statistik“ s. den letzten Abschnitt.
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fenden Erkenntnisgewinnung. Der wesentliche Unterschied lässt sich im Bild der Tabelle deutlich machen: In fiskalischen und sonstigen administrativen Tabellen interessierten allein die Reihen, also die Einzeleinträge, nicht deren Summe. Im Rahmen der neuen, aggregierenden Statistik dagegen interessierten nur noch die Spalten, in denen die an sich nun irrelevanten Einzeleinträge zu Gesamtgrößen summiert werden. Das Konzept quantitativ-statistischer Weltaneignung war bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, vor allem in England, unter dem Begriff „Politische Arithmetik“ entstanden, wurde zunächst aber fast ausschließlich im privatgelehrten, vor allem versicherungs- und medizinalstatistischen Bereich angewandt und weiterentwickelt.4 Erst im Anschluss an den Siebenjährigen Krieg, seit dem Beginn der 1760er Jahre, wurde es von der Politik aufgegriffen und fruchtbar gemacht. Dies geschah vor allem in den deutschen Territorien und in Frankreich: Hier gab es stärkere staatsinterventionistische Traditionen als etwa in England, hier wurde zudem die chronische Überlastung der Budgets durch regelmäßige Kriegsführung sowie die Wahrnehmung ökonomischer Rückständigkeit gegenüber den jeweiligen Kontrahenten durch den Siebenjährigen Krieg nochmals erheblich verschärft.5 Vor diesem Hintergrund fielen die Konzepte nachhaltiger ökonomischer (und damit fiskalischer) Leistungssteigerung, die seit den 1750er Jahren ventiliert wurden – nicht nur, aber am prominentesten von Kameralisten und Physiokraten – auf fruchtbaren Boden. Damit zum Teil eng verknüpft war eine zunehmende Orientierung an ‚aufgeklärten‘, also mindestens säkular-utilitaristisch, oft aber auch philanthropisch ausgerichteten politischen Zielvorstellungen.6 Damit verbunden war zugleich auch das Konzept der quantifizierenden Bemessung und Analyse der ökonomischen Ressourcen, wie es die „Politische Arithmetik“ bereitgestellt hatte.7
|| 4 Eine hervorragende Übersicht dazu bietet Andrea A. Rusnock: Vital Accounts. Quantifying Health and Population in Eighteenth-Century England and France. Cambridge 2002. 5 Die Rückständigkeitswahrnehmung war besonders ausgeprägt gegenüber Großbritannien im Falle Frankreichs, worauf noch zurückzukommen sein wird. In Deutschland war die Rückständigkeitswahrnehmung weniger einheitlich; sie konnte sich, namentlich im Nordwesten, auf die Niederlande und Großbritannien richten, galt aber mindestens ebenso oft benachbarten deutschen Territorien – im Fall Österreichs vor allem Brandenburg-Preußen. 6 Barbara Stollberg-Rilinger: Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats. Berlin 1986, S. 19, 188 u.ö.; Dies.: Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2011, S. 199–201 u.ö.; Simon: „Gute Policey“ (wie Anm. 2), S. 431–433, 455–457, 539–541; Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), S. 57–59. 7 Sie war ihrerseits unmittelbar verknüpft mit der Entstehung der „Politischen Ökonomie“, deren Größen und Parameter sie vermessen sollte; besonders deutlich wird dies bei William
120 | Lars Behrisch Als Regierungen von nun an zunehmend statistische Erhebungen und Argumentationen nutzten, begann die quantitativ-statistische Wirklichkeitswahrnehmung auch Nachhall innerhalb einer breiteren – ‚aufgeklärten‘, oder kurz: lesenden – Öffentlichkeit zu finden. Diskussionen mit und über Zahlen wurden aus Gelehrtenkreisen ebenso wie aus Verwaltung und Politik, durch Gesetzestexte und durch die offiziösen „Intelligenzblätter“ in die Massenpublizistik getragen. So wurde die quantitative Wahrnehmung, der ‚Diskurs der Zahl‘, immer mehr zu einer gültigen, ja imperativen Form der Wirklichkeitsaneignung. Diese Entwicklung lässt sich am deutlichsten in den kleineren Staaten erkennen, also im ‚dritten Deutschland‘ jenseits der Machtstaaten Österreich und Brandenburg-Preußen, und war hier wiederum in Kleinststaaten wie etwa der Grafschaft Lippe ausgeprägter als in Flächenstaaten wie Bayern.8 Für dieses Gefälle gab es zwei Gründe: Erstens war es spätestens um die Mitte des 18. Jahrhunderts klar, dass der Wettlauf um herkömmliche Prestigeressourcen – Militär, Repräsentationsbauten – für diese kleinen Staaten aussichtslos war und sie sich mit einem Platz im zweiten Rang begnügen mussten. Der Siebenjährige Krieg hatte dies nochmals verdeutlicht; zugleich ließen die durch ihn erheblich verschärften Finanz-, Wirtschafts- und Subsistenzprobleme neue Strategien der Ressourcenintensivierung notwendig erscheinen. Wie bald deutlich wurde, ließ sich auf diesem Feld allerdings auch erfolgreich mit den größeren Staaten konkurrieren: Denn, zweitens, ließen sich in kleineren, damit homogeneren und administrativ besser erschlossenen Staatsgebilden wirtschaftliche Steuerungsmaßnahmen – und die ihnen dienenden und sie dokumentierenden statistischen Datenerhebungen – leichter umsetzen als in größeren und komplexeren Staaten. Das Beispiel des Kurfürstentums Bayern zeigt, dass hier zwar dieselben Ansätze zu agrarwirtschaftlicher Reform und damit einhergehenden statistischen Erfassungen und Analysen verfolgt wurden wie in Kleinststaaten à la Lippe. Abgesehen von der naturräumlichen und administrativen Heterogenität, insbesondere in Gestalt der Exemtionsprivilegien des landsässigen Adels, waren hier aber die militärischen und – damit verbunden – die unmittelbar fiskali|| Petty, ist aber nicht weniger offensichtlich bei John Graunt. Vgl. zusammenfassend Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), S. 34, 36 f. 8 Detailliert dazu Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), Teil II, III. Eine gewisse Ausnahme von diesem Muster macht Brandenburg-Preußen, das bereits in den 1720er Jahren erhebliche Anstrengungen zur systematischen Quantifizierung demographischer und (land-)wirtschaftlicher Ressourcen unternahm; sie blieben allerdings auf einem wenig entwickelten, schwer aggregierbaren Niveau und wurden zudem weitgehend unter Verschluss gehalten (s. ebd., S. 45 f.). Auch in Schweden gab es frühe Ansätze, die aber kaum weiterentwickelt wurden (ebd., S. 43 f.).
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schen Ambitionen gerade noch stark genug, um eine Konzentration auf nachhaltige wirtschaftliche Ressourcenentfaltung zu verhindern. Dies spiegelte sich in den statistischen Erhebungen, die noch auf Jahrzehnte durch fiskalisch und auch konskriptionstechnisch nutzbare Rubriken ‚kontaminiert‘ waren, was sowohl die Datenerhebung erheblich erschwerte als auch dazu führte, dass die erhobenen Zahlen unter Verschluss gehalten und nur punktuell und wenig zielführend ausgewertet wurden.9 Dies änderte sich schlagartig um die Jahrhundertwende: Angesichts des Macht- und Prestigeverlusts durch die Koalitionskriege stellten auch die größeren deutschen Staaten nun die ökonomischutilitaristischen Erfolgsparameter obenan. Sie waren seit Jahrzehnten von den kleineren Staaten kultiviert worden und hatten eine neue Form des Prestigewettbewerbs hervorgebracht – um eine nachhaltige und für breite Bevölkerungskreise nutzbringende Wirtschaftspolitik, die sich in Zahlen ebenso messen wie zur Schau stellen ließ.
2 Statistik und zwischenstaatlicher Vergleich Statistik oder „Politische Arithmetik“ war von Anfang an nicht nur ein Instrument der Messung von Ressourcen und Entwicklungspotentialen, der Entscheidungsfindung und Entscheidungslegitimation, sondern auch ein Medium des Vergleichs. Beide Dimensionen hängen eng zusammen, ja sind intrinsisch gekoppelt: Erst der Vergleich einzelner Größen – etwa von Produktion und Konsumtion – ermöglicht überhaupt statistische Aussagen, erst der zeitliche Vergleich lässt Entwicklungen beziffern, und erst der Vergleich verschiedener ökonomischer, administrativer und/oder politischer Räume erlaubt Urteile über die Auswirkung spezifischer Gegebenheiten oder den relativen ‚Erfolg‘ (wirtschafts-)politischer Herangehensweisen. All diese Vergleichsebenen waren der Statistik notwendig und folglich von Anfang an inhärent. Schon von den ersten englischen „politischen Arithmetikern“ wurden auch Vergleiche zwischen Staaten angestellt:10 William Petty und, etwas später, Charles Davenant und Gregory King, verglichen ihr Heimatland mit den kommerziellen und politischen Haupt|| 9 Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), S. 236–238, 278–280. 10 William Petty: Political Arithmetick, or a Discourse Concerning the Extent and Value of Lands, People, Buildings; Husbandry, Manufacture, Commerce, Fishery, Artizans, Seamen, Soldiers […]. London 1690; Joanna Innes: Power and Happiness. Empirical Social Enquiry in Britain, from „Political Arithmetic“ to „Moral Statistics“. In: Dies.: Inferior Politics. Social Problems and Social Policies in Eighteenth-Century Britain. Oxford 2009, S. 109–175.
122 | Lars Behrisch konkurrenten Niederlande und Frankreich anhand von Zahlen zur Flächengröße und Bevölkerung, zum Handels- und Produktionsvolumen und zum Verhältnis dieser Größen, so etwa zur Bevölkerungsdichte oder zur jährlichen Schiffstonnage pro Kopf. Solche Vergleiche dienten als Ausweis der eigenen Überlegenheit, aber auch dazu, eigene Schwächen und Verbesserungsmöglichkeiten auszuloten und aufzuzeigen. Auch der zwischenstaatliche Vergleich diente somit von vornherein nicht nur Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung, sondern auch der kritischen Analyse und der Suche nach weiterer Optimierung. Noch ein weiterer Effekt der ‚Erfolgsbemessung‘ von Staaten lässt sich schon seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert beobachten: Trotz ihres eigentlich antagonistischen Charakters trug die politische Arithmetik maßgeblich dazu bei, statistische Daten ebenso wie Erhebungs- und Auswertungsmethoden international auszutauschen – und wiederum zu vergleichen – und so rasch zu verbessern und damit Statistik überhaupt erst zu professionalisieren. Knotenpunkte dafür waren die neuen wissenschaftlichen Akademien in London, Paris und schließlich Berlin. Noch bevor die Akademie der Wissenschaften in Berlin gegründet wurde, übermittelte Gottfried Wilhelm Leibniz, Mitglied der Akademien in Paris und London, eine bislang einzigartige Kompilation demographischer Daten aus Breslau an den Astronomen Edmond Halley, der daraus die Lebenserwartung einzelner Bevölkerungsgruppen errechnete und so die Grundlage der Lebensversicherungsstatistik schuf.11 Ein halbes Jahrhundert später hatte der Brandenburger Johann Peter Süßmilch das letzte Wort in einer seit Jahrzehnten mit zunehmend komplexen Zahlenargumenten geführten internationalen Debatte darüber, ob London oder Paris die größere Stadt sei.12 Je länger solche Zahlenvergleiche, der Streit über ihre Grundlagen und der Austausch über die richtigen Auswertungsmethoden dauerte, desto mehr galten Zahlen als entscheidende Messlatte politischen und ökonomischen ‚Erfolgs‘ – wenn auch vorderhand nur innerhalb eines kleinen Kreises von Gelehrten und || 11 Leibniz erhielt die Daten im Jahr 1689 von Kaspar Neumann, einem Breslauer Pfarrer und Konsistorialratsmitglied, der seinerseits durch eigene, (physiko-)theologisch motivierte Berechnungen zu dieser Pionierleistung motiviert worden war. Vgl. Rusnock: Vital Accounts (wie Anm. 4), S. 186; Otto Behre: Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus. Berlin 1905, S. 134. 12 Jacques Dupâquier: Londres ou Paris? Un grand débat dans le petit monde des arithméticiens politiques (1662–1759). In: Population 1/2 (1998), S. 311–326; Süßmilchs Analyse fiel salomonisch aus: Zu Beginn der Debatte, im späten 17. Jahrhundert, sei noch Paris größer gewesen, doch sei es seither durch London überholt worden.
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Interessierten. Nur durch Zahlen ließen sich Staaten jenseits traditionellqualitativer Kriterien vergleichen, die – wie Alter und Status einer regierenden Dynastie – heterogen und letztlich inkommensurabel waren. Sie ermöglichten dabei nicht nur den Vergleich herkömmlicher Leistungs- und Erfolgskriterien wie militärische Macht und territoriale Expansion, die durch einfache Zahlenwerte darstellbar waren und daher auch früher schon beziffert wurden, sondern auch des Erfolgs auf dem Feld ökonomischer Effizienz und ökonomischen Wachstums, die sich nur durch relationale Zahlenwerte – also durch „Politische Arithmetik“ – bemessen und ausdrücken ließen. Mit der plötzlichen Konjunktur der Statistik seit den frühen 1760er Jahren erhielt auch das Moment des zwischenstaatlichen ‚Leistungsvergleichs‘ einen neuen Stellenwert in der politischen und der sie begleitenden publizistischen Debatte. So war der Vergleich sowohl mit der eigenen Vergangenheit – namentlich mit dem vermeintlichen Goldenen Zeitalter Heinrichs IV. und Sullys – als auch mit dem ebenso bewunderten wie verhassten England ein argumentativer Kern der physiokratischen Doktrin. Die von ihnen diagnostizierten agrarökonomischen Ursachen des säkularen Verfalls Frankreichs und seines entsprechenden Rückstands gegenüber England verwiesen spiegelbildlich auf die Mittel zu seiner Wiederbelebung und Stärkung; die mit dieser Diagnose einhergehenden Zahlen machten sie ebenso evident, ja unabweisbar, wie sie das zukünftige Wachstumspotential präzise beziffern ließen.13 Neben diese allgemeine statistische Grundierung ihrer Theorie traten spezifische Themenfelder, die die Physiokraten ebenfalls durch Zahlen zu belegen versuchten. Dies galt insbesondere für die als einzige ihrer Kernforderungen zeitweise realisierte Getreidehandelsfreiheit, die nicht zuletzt auf der Behauptung beruhte, dass Frankreich einen Überschuß an Getreide produziere. Angesichts der desaströsen ökonomischen und sozialen Folgen wurde dieses wie weitere Argumente der Physiokraten politisch und publizistisch erbittert debattiert – nicht nur, aber doch stets auch unter Zuhilfenahme kontroverser Zahlen und Zahlenargumente.14 Wenn nicht mehr quantitative Argumente ins Feld geführt wurden, so lag dies allein daran, dass es kaum verlässliche Daten gab – zur Getreideproduktion || 13 François Quesnay: Art. “Fermiers” [Encyclopédie 6 (1756)], in: Ders.: Œuvres économiques complètes (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 127–159; Ders.: Art. “Grains” [Encyclopédie 7 (1757)], in: Ders. : Œuvres économiques complètes (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 161–212. Vgl. auch die in Anm. 2 angeführte Literatur zur Physiokratie. 14 Vgl. dazu die brilliante Studie von Steven L. Kaplan: Bread, Politics and Political Economy in the Reign of Louis XV. 2 Bde. Den Haag 1976. Zu Zahlenangaben zum Getreideüberschuss oder -defizit vgl. a. Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), S. 357 f.
124 | Lars Behrisch ebenso wenig wie zur Bevölkerungszahl oder anderen zentralen Größen. Die Weitläufigkeit und Heterogenität des Landes erwiesen sich als unüberwindliche Hindernisse für flächendeckende Datenerhebungen; auch Bemühungen um ein landesweites Kataster erwiesen sich – im vermeintlich absolutistischen Königreich – als völlig utopisch.15 Um Zahlen zu gewinnen, rekurrierte man daher auf Techniken der Hochrechnung lokal gewonnener Daten, die Vauban bereits um die Jahrhundertwende erprobt hatte und die sowohl Physiokraten als auch staatliche Datensammler nun übernahmen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Debatte um den Getreidehandel, die je länger, desto mehr nach plausiblen Grundlagen Ausschau halten ließ, bemühte sich die Administration um flächendeckende und jährlich aktualisierte agrarstatistische Daten – eine Bemühung, die in einzelnen Regionen erstaunliche Resultate zeitigte, aber auch über die Revolution hinaus keine landesweit aggregierbaren Zahlen hervorbrachte.16 Eine andere Debatte hingegen wurde in der Tat durch Statistik beendet: die Debatte um eine langfristige ‚Entvölkerung‘ Frankreichs, die Montesquieu lanciert hatte und die unter anderen von Rousseau weiter aufgeheizt wurde: Mit der Entwicklung der Bevölkerung, so verkündete er, stehe und falle der Erfolg einer Regierung.17 Herausgefordert von solchen Bemerkungen und der wachsenden – und mit Zahlenbelegen gestützten – Überzeugung, Frankreichs Bevölkerung nehme seit Jahrzehnten, ja womöglich seit einem Jahrhundert ab und werde dereinst ganz aufhören zu existieren, organisierte Finanzminister Terray im Jahr 1772 eine systematische landesweite Sammlung demographischer Daten. Sie bewies ebenso schlüssig wie publikumswirksam, dass die Bevölkerung
|| 15 Antonella Alimento: Le rêve de l’uniformité face à l’impôt: Le projet du premier cadastre général en France. In: Histoire et mesure 8 (1993), S. 387–416; Joël Félix : Finances et politique au siècle des Lumières. Le ministère L’Averdy, 1763-1768. Paris 1999, S. 267–269, 272–274; Mireille Touzery: Entre taille réelle et taille personelle. La monarchie française et le cadastre au XVIIIe siècle. In: Luca Mannori (Hg.): Cadastre et État moderne en Italie, Espagne et France, XVIIIe siècle. Baden-Baden 2001, S. 217–246. 16 Dazu Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit, S. 392–394. 17 Jean-Jacques Rousseau: Du contract social [Amsterdam 1762]. Paris 1962, S. 294: „Le gouvernement sous lequel […] les citoyens peuplent et multiplient davantage, est infailliblement le meilleur. Celui sous lequel un peuple diminue et dépérit est le pire. Calculateurs, c’est maintenant votre affaire; comptez, mesurez, comparez“; Ähnlich Jean-Baptiste Moheau: Recherches et considérations sur la population de la France [1778]. Hg. v. Eric Vilquin, Paris 1994, S. 178: Die Frage der Bevölkerungsentwicklung Frankreichs sei „réellement intéressante, parce qu’il en résulte une induction ou même une preuve de la bonté ou des vices du Gouvernement […] l’augmentation des habitans, qui est un indice et une suite presque nécessaire de la félicité publique, forme un monument qui dépose contre le Gouvernement, ou en sa faveur“.
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Frankreichs zunehme.18 Obwohl auch sie sich auf Hochrechnungen stützten, dienten die Daten in den folgenden Jahren als Grundlage für eine Reihe weiterer, immer raffinierterer Auswertungen, so etwa zur Bevölkerungsdichte – und damit ökonomischen Leistungsfähigkeit – einzelner Regionen.19
3 Deutsche Territorialstaaten im Wettbewerb Nicht von pessimistischen Niedergangsszenarien, vielmehr von Fortschrittsoptimismus geprägt war der zwischenstaatliche Vergleich im Alten Reich. Wie schon angedeutet, wetteiferten hier gerade die Klein- und Kleinststaaten um die beste ökonomische Leistungsbilanz. Enge Nachbarschaft und entsprechend große Gemeinsamkeiten, ein territorienübergreifendes publizistisches und akademisches Milieu sowie – damit zusammenhängend – der Wechsel von Beamten zwischen verschiedenen Territorialstaaten nährten einen ständigen Austausch von theoretischen und praktischen Kompetenzen ebenso wie eine ausgeprägte ökonomische und ideelle Konkurrenzsituation. Die im ‚dritten Deutschland‘ ohnehin bestehenden größeren Anreize und besseren Möglichkeiten zur Durchführung utilitaristischer und womöglich auch philanthropischer, kurz ‚aufgeklärt-absolutistischer‘ Reformprojekte – und der damit einhergehenden Statistiken – erhielten durch das Wechselspiel von Vergleich, Austausch und Konkurrenz eine zusätzliche und nachhaltige Dynamik. Der Impuls der Statistik und statistischer Vergleiche für systematische ökonomische Leistungssteigerung wird auch in jenen Territorien greifbar, die – wie Bayern – den neuen utilitaristischen (und auch den kameralistischen) Diskurs vorläufig nur in eingeschränktem Maße umsetzten. Der Beamte und Publizist Franz Seraph von Kohlbrenner schrieb im Jahr 1768 programmatisch: „Einer guten Policey kommet es zu, das ganze Verhältnis über eine Provinz genau || 18 Zur „Enquête Terray“ s. Edmond Esmonin: Statistiques du mouvement de la population en France de 1770 à 1789. In: Ders.: Études et chronique de démographie historique. Paris 1964, S. 27–130. Die Resultate lagen bei bis zu 25 Millionen; nach neueren Berechnungen wuchs die Bevölkerung bis zur Revolution sogar auf über 28 Millionen an (was allerdings verschiedene Gebietserweiterungen einschließt). 19 Éric Brian: La mesure de l’État. Administrateurs et géomètres au XVIIIe siècle. Paris 1994, S. 19 f., 262 ff. u.ö.; Rusnock: Vital Accounts (wie Anm. 4), S. 117–119, 126–128, 161–163. Die Zahlen der Enquête wurden auch bei der Einberufung der Generalstände verwendet und später bei der Schaffung der départements. Zum „Multiplikator“, mit dem man die den Kirchenbüchern entnommenen Geburtsziffern auf die Bevölkerungszahl hochrechnete, vgl. Esmonin: Statistiques (wie Anm. 18), S. 30; Brian: Mesure de l’État (wie Anm. 19), v.a. S. 169 f., 262–264.
126 | Lars Behrisch einzusehen: um aus den Landsberechnungen zu ermäßigen, ob die Städte und Märkte; die Populace, ab- oder zunehmen? Ob sich das Nahrungsgeschäft verbessere, oder leide; und was die Nothdurft für den Staat, und das gemeine Beste erfordere.“20 Wie er sich dies konkret vorstellte, machte er in einer Reihe von Artikeln deutlich. So forderte er eine Verringerung der vielen Feiertage in Bayern – und stützte dies mit der Berechnung, dass sich der wirtschaftliche Schaden daraus allein im Schusterhandwerk auf bis zu 225.000 Paar Schuhe oder 112.500 Gulden im Jahr belief. Die Bedeutung des Problems unterstrichen zudem „neueste Nachrichten“, denen zufolge in England 40 Tage im Jahr mehr gearbeitet werde als in Frankreich. Durch den Verzicht auf freie Tage glichen die Engländer so ihre negative Bevölkerungsbilanz gegenüber Frankreich um ein gutes Stück aus.21 In Bayern entstand den Berechnungen Kohlbrenners zufolge ein jährliches Minus zwischen fünf und sieben Millionen Gulden durch feiertagsbedingtes „Versäumnis der Zeit“. Bei solchen Berechnungen und der aus ihnen abzuleitenden Maßnahmen,22 so betonte Kohlbrenner wiederholt, gehe es nicht um die Realisierung fiskalischer Gewinnmargen, sondern um die langfristige Leistungssteigerung der Landesökonomie – um, wie er es ausdrückte, eine „höhere Speculation“ als bloß eine fiskalische: „Der Cameralist muß aber über derley Berechnungen der Menschen […] nicht mit dem rohen Gedanken daher kommen: das taugt für eine Kopfsteur. Nein! seine Kunst […] muß in einer höhern Speculation bestehen, welche das allgemeine Lands-Capital vermehren machet“.23
|| 20 Churbaierisches Intelligenzblatt 1768, S. 25. Als Aufhänger und Illustration dient eine Berechnung, die den (vermeintlichen) Bevölkerungsrückgang in England und eine ungeachtet dessen (vermeintlich) zu beobachtende Getreideverknappung erklären sollte: Eine innerhalb von 200 Jahren um das 50fache angestiegene Zahl der Pferde verbrauche demnach beinahe ebenso viel Getreide wie die Einwohner selbst. 21 Churbaierisches Intelligenzblatt 1769, S. 14 (auch das folgende Zitat). 22 Im Jahr 1774 wollte Kohlbrenner die Regierung dazu bewegen, die Friedhöfe vor die Stadtmauern zu verlagern. Zu diesem Zweck berechnete er die „Ausdünstungen“ der Münchner und „schilderte die Menge und den Grad der ungesunden Ausdünstungen der starken Volksmenge in hohen Häusern und engen Gassen [und] der erstaunlichen Menge des […] Unrathes mit der größten Genauigkeit, indem er sogar, vermöge eines Calculs, 730.000 Centner dicker, faulender Luft herausbrachte.“ Lorenz von Westenrieder: Leben des Johann Franz Seraph Edlen von Kohlbrenner […] [1783]. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Erste vollständige Originalausgabe. Bd. 14. Kempten 1833, S. 3–125, hier S. 47. 23 Churbaierisches Intelligenzblatt 1768, S. 208. Ähnlich ebd., S. 25: „Man muß aber derley Tabellen nicht bloß als eine Regel für die Abgaben betrachten; sondern [dafür], wie die Anzahl der Unterthanen zu vermehren, das öde Erdreich zu bauen, die Lebensbedürfniße wohlfeil zu machen, und wie der Unterthan […] reicher zu machen seye?“.
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Das wichtigste Bemessungskriterium sowohl der eigenen Leistungspotentiale als auch – damit verknüpft – des Vergleichs zwischen einzelnen Landesteilen und verschiedenen Staaten wurde bald die Bevölkerungsdichte, das Verhältnis zwischen Einwohnerzahl und Flächengröße. Je mehr Menschen auf einer gegebenen Fläche leben konnten, so die Überzeugung, desto besser war die wirtschaftliche Leistungskraft – und entsprechend die Regierung eines Landes. Die Bevölkerungsdichte, so August Friedrich Wilhelm Crome in seinem einschlägigen Werk über die europäischen „Staatenverhältnisse“ aus dem Jahr 1785, war überhaupt der „einzig wahre Maaßstab der Cultur aller Nationen“.24 In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verglichen deutsche Territorialstaaten daher eifrig ihre Bevölkerungsdichte.25 Im Jahr 1781 etwa wurden im lippischen Intelligenzblatt Überlegungen zur „verhältnismäßigen Volksmenge“ angestellt. Angeregt waren sie von einem Eintrag in Schlözers ‚Briefwechsel‘, der seinerseits aus der hohen Einwohnerdichte des Herzogtums Württemberg auf dessen gute Wirtschaftspolitik schloß: Württemberg, so das Lippische Intelligenzblatt, sei demnach mit 2.500 Einwohnern pro Quadratmeile eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt; folglich sei es ausgezeichnet regiert und „voller Industrie, wenigstens was den Landbau betrifft“.26 Diese Beobachtung habe, so der lippische Autor, seine „ganze Wisbegierde“ erregt: „Wie stehet es um die Volksmenge in deinem Vaterlande?“ Mit Hilfe der jüngsten Volkszählungsdaten errechnete er daher – „gewis zu eines jeden patriotischen Lippers Freude“ – eine noch größere Bevölkerungsdichte als in Württemberg: „Es ist folglich unser liebes Vaterland über 1/3 volkreicher, als das Würtenbergische. Es ist zugleich der stärkste Beweis von seiner innern guten Beschaffenheit und Regierungsverfassung“. Leider sollten sich die Zahlen als deutlich zu hoch gegriffen erweisen – wie in anderen zeitgenössischen Berech-
|| 24 August Friedrich Wilhelm Crome: Über die Größe und Bevölkerung der sämtlichen europäischen Staaten. Ein Beytrag zur Kenntnis der Staatenverhältnisse, und zur Erklärung der neuen Größen-Karte von Europa. Leipzig 1785, Vorrede (unpaginiert). Crome listete in dieser epochemachenden und breit rezipierten Arbeit die Flächen- und Einwohnerzahlen aller europäischen Staaten tabellarisch auf und diskutierte auch jeweils deren Quellen. 25 S. dazu Lars Behrisch u. Christian Fieseler: Les cartes chiffrées. L’argument de la superficie à la fin de l’Ancien Régime en Allemagne. In: Genèses 68/3 (2007), S. 4–24; Justus Nipperdey: Ehre durch Zahlen. Publizistische Rangstreitigkeiten und die Evidenz der Zahl im späten 18. Jahrhundert. In: Gunhild Berg, Borbála Zsuzsanna Török u. Marcus Twellmann (Hg.): Berechnen/Beschreiben. Praktiken statistischen (Nicht-)Wissens 1750–1850. Berlin 2015, S. 43–59. 26 Lippische Intelligenzblätter 1781, Nr. 4, S. 13 (auch das folgende Zitat). Zu dem (anonymen) Artikel und der Diskussion seiner Zahlenangaben vgl. Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), S. 178–180, 181–183.
128 | Lars Behrisch nungen dieser Art war die Flächengröße (bewusst?) unter-, die Bevölkerungsdichte damit überschätzt worden. Patriotisch rechnete auch der bayerische Gelehrte und Publizist Lorenz von Westenrieder.27 Nachdem er um 1780 noch den Aufholbedarf Bayerns bei der Bevölkerungsentwicklung wie bei der Erschließung seiner landwirtschaftlichen Ressourcen in den Vordergrund gestellt hatte,28 änderte sich seine Argumentation ein Jahrzehnt später vor dem Hintergrund einer immer erbitterter geführten Abwehrschlacht der bayerischen Gelehrten gegen Kritik aus dem Norden, die neben der unterstellten geistig-kulturellen Provinzialität Bayerns auch auf dessen (land-)wirtschaftliche Rückständigkeit abzielte.29 Im Jahr 1790 stellte sich Westenrieder die Frage, „ob man allerley Religionen begünstigen müsse, wenn man die Bevölkerung eines Landes bevördern will?“ Selbstverständlich lautete die Antwort: nein. Ein zentrales Argument war, dass die österreichischen Niederlande eine durchschnittliche Bevölkerungsdichte von 4.264 Einwohnern pro Quadratmeile aufwiesen – „lauter Katholiken“ – und dies in ähnlicher Weise auch für einige katholische Kantone der Schweiz gelte.30 Da Bayern in dieser Hinsicht dennoch schlecht abschnitt, nutzte Westenrieder nun anstelle der Gesamtfläche Bayerns nur die (von ihm schon früher errechnete) anbaubare Fläche als Berechnungsgrundlage, was die Bevölkerungsdichte ein wenig ansehnlicher machte.31 Überdies versicherte er, dass in Bayern bei sinnvoller Nut|| 27 Er wird gerne zum ‚Vater der bayerischen Statistik‘ stilisiert, doch kommt ein solcher Titel viel eher dem oben erwähnten Franz Seraph von Kohlbrenner zu (wie Lorenz von Westenrieder in seinem Nachruf 1783 selbst nahelegte). Zu beiden detailliert Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), S. 209–211, 284–286. 28 Dabei führte er neben der Pfalz auch Sachsen als vorbildlich an: Lorenz von Westenrieder: VolksMenge und Landbau in Baiern [1779]. In: August Ludwig von Schlözer (Hg.): Briefwechsel, meist historischen und politischen Inhalts. Bd. 8. Göttingen 1781, S. 175–187, hier S. 177. 29 Dazu Michael Schaich: Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung. München 2002, S. 98–100. Viele Elemente der antibayerischen Propaganda gingen in die 1785 veröffentlichte „Reisebeschreibung“ Friedrich Nicolais ein (Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. Bd. 6. Berlin 1785), deren Material der Verfasser aber nur zu einem geringen Teil aus eigener Anschauung gewonnen hatte (Schaich: Öffentlichkeit, S. 115, 123). Einige seiner negativen Befunde stammten sogar von Westenrieder, etwa die Feststellung, „es liegt ja der dritte Theil des Landes unbebaut“ (Nicolai: Beschreibung einer Reise, S. 596). 30 Lorenz von Westenrieder: Ob man allerley Religionen begünstigen müsse, wenn man die Bevölkerung eines Landes bevördern will? In: Ders. (Hg.): Beyträge zur vaterländischen Historie. Bd. 3 (1790), S. 390–409, hier S. 394. 31 Anstelle einer Gesamtfläche von 576 Quadratmeilen (ohne die Oberpfalz) legte er zwei Drittel oder 378 Quadratmeilen kultivierbare Fläche zugrunde (beide Zahlen zuerst in Lorenz von Westenrieder: Erdbeschreibung der baierisch-pfälzischen Staaten […]. München 1784,
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zung dieser Anbauflächen doppelt so viele Menschen ernährt werden könnten – ohne die Duldung fremder Konfessionen.32 Das unausgeschöpfte Potential des Landes, zehn Jahre zuvor noch Teil der eigenen Kritik an der relativen Rückständigkeit Bayerns – gemessen unter anderem an der Bevölkerungsdichte – diente jetzt dazu, eben diese Rückständigkeit zu relativieren. In Ermangelung besserer Zahlenargumente hieß es ein weiteres Jahrzehnt später trotzig: „Baiern ist ohne Vergleich beßer cultivirt, als das Zettergeschrey, welches gewöhnlich von Leuten erhoben wird, welche den Weitzen von der Gerste nicht unterscheiden können, in die Welt hinausplaudert. Baiern ärntet auf dem zur Cultur vorhandnen Land von etwa 375 Quadratmeilen so vieles Getraid, zieht so vieles Vieh, treibt so vielen Handel, als unter gleichen Umständen kaum ein anders deutsches Land […] Auch die Bevölkerung von Baiern ist in Hinsicht auf seinen Umfang […] schon größer als mittelmäßig“.33 Diese Behauptung wirtschaftlicher Leistungskraft stand dem Augenschein ebenso wie Westenrieders ursprünglicher Argumentation und den ihr zugrundeliegenden, niemals revidierten Zahlen entgegen.34 Um 1800 begann allerdings auch erstmals eine Diskussion von Westenrieders Zahlenangaben – und damit sogleich ihre Diskreditierung. Sie seien, so das Verdikt eines Aufsatzes im Intelligenzblatt, „zur gründlichen Beurtheilung des Zustandes der Landskultur nicht hinlänglich“, ja nicht einmal „hinreichend, um eine förmliche Berechnung darauf zu gründen“.35 Der Autor forderte, „nicht mehr scheinen [zu] wollen, als man würklich ist“: Vielmehr müsse man wissen, „wo man steht, um bestimmen zu können, welchen Weg man noch zurück zu legen habe“.36 Er berechnete sodann die landwirtschaftlich genutzte Fläche auf der Grundlage des Bedarfs, der Ein- und Ausfuhr an Getreide und des durch|| S. 253). Bei einer Bevölkerung von 800.000 bedeutet dies eine durchschnittliche Dichte von 2.000 Einwohnern pro Quadratmeile (Westenrieder: Religionen, S. 392). Da auch dieser Wert vergleichsweise niedrig war, gab Westenrieder ferner in wenig überzeugender Weise bekannt, „daß man beim Calcul der möglichsten Bevölkerung stets auf die Localbeschaffenheit des Landes Rücksicht nehmen müsse“ (ebd.). 32 Ebd., S. 392. Zum weiteren Vergleich führte Westenrieder noch die (den bayerischen grob vergleichbaren) Werte für Österreich aus dem Jahr 1776 an. 33 Lorenz von Westenrieder: Ueber die Bayern. In: Ders. (Hg.): Beyträge zur vaterländischen Historie. Bd. 6 (1800), S. 256–290, hier S. 262. 34 Auch die genannte Größe der zur Verfügung stehenden Anbaufläche – die hier ohnehin keine Aussagekraft besitzt – hatte Westenrieder zwei Jahrzehnte zuvor als Argument der Rückständigkeit gedient; sie beruhte zudem auf bloßer Schätzung und erwies sich bald als haltlos. 35 [Anonym]: Ueber die Landeskultur in Bayern. In: Churpfalzbaierisches Regierungs- und Intelligenzblatt 1800, Sp. 449 f., 453–464, hier Sp. 454. 36 Ebd., Sp. 463 f.
130 | Lars Behrisch schnittlichen Bodenertrags. Das Resultat lag weit unter Westenrieders Zahlen: „Wie niederschlagend ist es für den Patrioten“, so der Autor, dass „nicht einmahl der zehnte Theil des Landes kultivirt sey!“37 In gewisser Weise war dieser Patriot somit wieder an dem Punkt angelangt, von dem Westenrieder selbst zwanzig Jahre zuvor ausgegangen war: Die quantitative Analyse der eigenen Rückständigkeit – auch und gerade auf dem Gebiet der Landwirtschaft – mit dem Ziel, entsprechende Aufholmaßnahmen einleiten zu können. Da mit dem Regierungsantritt Maximilians IV. Joseph und seines Ministers Montgelas nicht nur eine tiefgreifende Reformpolitik, sondern auch eine lebhafte Diskussion über statistische Daten und ihre Auswertung begann, stand einer solchen Analyse nun nichts mehr im Wege.38
4 Epilog: Der Begriff „Statistik“ Um dieselbe Zeit, als Statistik zum bevorzugten Mittel der Leistungsbemessung und des Leistungsvergleichs wurde, wandelte sich auch der Begriff, der bislang noch auf die überwiegend textbezogenen Staatsbeschreibungen zielte, die im Rahmen der universitären „Statistik“ gepflegt wurden:39 In den 1780er Jahren wurde der Begriff wiederholt im heutigen Sinne quantifizierender Verfahren genutzt.40 Aus Deutschland wanderte der Begriff in der Mitte desselben Jahrzehnts nach Frankreich und England. So lobte der Arzt Nicolas-Gabriel Le Clerc, der sich während des Siebenjährigen Krieges in Deutschland aufgehalten hatte, im Jahr 1786 die deutsche Kunst der „statistique“ als Berechnung des Leistungsvermögens von Staaten – des gegenwärtigen wie des potentiellen, zukünf-
|| 37 Ebd., Sp. 459. Zu dieser Diskussion ausführlicher Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), S. 297–299. 38 Vgl. Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), S. 296–298. 39 Die Ursprünge des Begriffs finden sich im 17. Jahrhundert; etwa der „Statist“ als ein „Kundiger des status rerum politicarum“ bei Johann Michael Moscherosch, alias Philander von Sittewald, nach Behre: Geschichte (wie Anm. 11), S. 163, Anm. 3. Geprägt wurde diese Begriffsverwendung vor allem durch Gottfried Achenwall, der das Fach seit 1748 in Göttingen lehrte und im gleichen Jahr seine einflussreiche „Vorbereitung zur Staatswissenschaft“ publizierte. Zur ‚Universitätsstatistik‘ s.o. Anm. 3. 40 Für Beispiele vgl. Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), S. 25, Anm. 7. Parallel entstanden im selben Jahrzehnt – in Anlehnung an „Politische Arithmetik“ – Begriffsschöpfungen wie „politische Berechnungen“, „politische Zahlen“, „politische“ oder auch „Stats(-)Rechenkunst“, vgl. ebd., S. 26.
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tigen.41 Ganz in diesem Sinne unterbreitete er in einem „Tableau der natürlichen Reichtümer und Ressourcen Frankreichs“ konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Landwirtschaft auf Grundlage von Zahlenangaben zu agrarischen Flächen und Erträgen und betonte die Notwendigkeit staatlicher Datenerhebungen, um die Landwirtschaft gezielt verbessern zu können. Der Begriff wurde in Frankreich somit von Anfang an im Sinne zahlenmäßiger Erfassungen und Analysen rezipiert.42 Auch in einer 1788 verfassten und im folgenden Jahr veröffentlichten Political Geography oder Introduction to the Statistical Tables of the Principal […] States in Europe wurde das Potential europäischer Staaten unter anderem quantitativ bemessen und verglichen – nicht zuletzt in Gestalt von Zahlen zur Bevölkerungsdichte (Abb. 1).43
Abb. 1: [Anonym]: Political Geography. Introduction to the Statistical Tables of the Principal Empires, Kingdoms and States in Europe. London 1789
|| 41 „Les Allemands ont poussé très-loin cette partie de l’économie politique, dont ils ont fait une science sous le nom de statistique, qui est l’art d’évaluer les rapports annuels, par un calcul moyen, & de peser les forces, la prospérité & la puissance d’un État par ses ressources actuelles, & par celles qu’il peut se procurer“, Nicolas-Gabriel Le Clerc: Tableau des richesses naturelles et des ressources de la France. In: Ders.: Atlas du commerce. Paris 1786, S. 1–156, hier S. 34 (Hervorhebung im Original). 42 Eine ganz ähnliche Begriffsdefinition – offensichtlich aus der gleichen Quelle geschöpft – aus demselben Jahr 1786 zitiert Perrot: Histoire intellectuelle (wie Anm. 2), S. 41, Anm. 110; s. a. ebd., S. 132. Dagegen war das Werk von Louis de Beaufort: Tableau statistique de l’Europe. Paris 1787 noch weitgehend textbezogen. 43 [Anonym]: Political Geography. Introduction to the Statistical Tables of the Principal Empires, Kingdoms and States in Europe. London 1789.
132 | Lars Behrisch Gleichwohl wird der Begriff hier noch nicht in einem rein quantitativen Sinn verwandt und begegnet auch sonst im englischsprachigen Kontext vorläufig noch eher in der ursprünglichen, primär textbezogenen Bedeutung.44 Erst um die Jahrhundertwende setzte er sich dann hier wie in Frankreich und Deutschland endgültig in der heutigen Bedeutung durch. Bereits in der Political Geography von 1788/9 hieß es aber, künftig beruhe auch der Vergleich der kolonialen Besitzungen nicht mehr auf „an imaginary picture traced by the pencil of fancy in all the glare of false colouring, but [will be] exhibited in the sober garb of exact statement, backed with the irresistible force of arithmetical demonstration“.45 Statistik als die Messlatte staatlichen Erfolgs trat ihren globalen Siegeszug an, nachdem sie erst kurz zuvor von der Politik entdeckt worden war. Sie galt seither als quantitativ inkommensurablen – qualitativen, individuellen – Kriterien überlegen. Sie ging zugleich über die schlichte Bezifferung machtpolitischer Stärke in den absoluten Zahlen von Territorialfläche, Heeresstärke oder Steueraufkommen hinaus: Sie erlaubt – mittels relationaler Zahlen – ökonomische Leistungskraft, Leistungspotentiale, Wachstumsdynamik zu messen. Mit dem globalen Siegeszug der Statistik begann sich entsprechend ein Bewertungs- und Vergleichsdenken durchzusetzen, das immer ausschließlicher auf den messbaren Kriterien funktionaler, materieller Effizienz beruht und immer weniger auf Kriterien individueller Qualität.46
|| 44 Bereits ein Jahr zuvor führte Eberhard August Wilhelm von Zimmermann: A Political Survey of the Present State of Europe. Dublin 1788 (verfasst 1787) den (noch eher konventionell gefassten) Begriff in England ein; dessen Definition übernahm der anonyme Autor (Political Geography (wie Anm. 43), S. 3, ohne Nennung Zimmermanns, der aber auf S. 5 erwähnt wird). Er betonte die Überlegenheit von Zahlen gegenüber vagen Schätzungen (ebd., S. 7), zog daraus aber keine definitorischen oder methodischen Konsequenzen, sondern übernahm das Tabellenschema von Beauforts „Tableau statistique de l’Europe“ (wie Anm. 42). – Die bisherige Forschung verweist für die englische Erstverwendung des Begriffs auf John Sinclair, der in den 1790er Jahren einen „Statistical Account of Scotland“ verfasste (der ebenfalls noch überwiegend textbezogen war) und für die Entdeckung des Begriffs auf eine Deutschlandreise zu Ende der 1780er Jahre hinwies; Vgl. Innes: Power and Happiness (wie Anm. 10), S. 169; sie erwähnt zudem (S. 150, Anm. 153) „A Statistical View of Germany“ (1790) und „A Statistical View of Europe“ (1791) von Thomas Brooke Clarke, der in Göttingen studiert hatte. 45 [Anonym]: Political Geography (wie Anm. 43), S. 7. 46 Zu den epistemologischen Implikationen der statistischen Weltwahrnehmung vgl. Behrisch: Berechnung der Glückseligkeit (wie Anm. 1), S. 68–70, 78–80, 493–495.
Andreas Pečar (Halle)
Avantgarde statt Präzedenz? Der Beitrag der Aufklärung zur Neu-Hierarchisierung der Völker Europas Versteht man unter Aufklärung auch eine besondere politische Sprache, die im 18. Jahrhundert Konjunktur hatte, dann war der Begriff Fortschritt eine ihrer wichtigsten Vokabeln. Die Geschichte der Menschheit wurde als Entwicklungsprozess, als Bildungsgeschichte verstanden, die Durchsetzung der Vernunft galt als Telos der Weltgeschichte. Die Fortschrittsidee hatte auch für die Staatenkunde unmittelbare Auswirkungen. Der Aufstieg und der Abstieg von Staaten und Kulturen standen in der Perspektive der Aufklärer in einem direkten Wechselverhältnis mit deren Fortschrittlichkeit bzw. Rückschrittlichkeit. Auch und gerade bei aufgeklärten Autoren des 18. Jahrhunderts waren die Kategorien des ‚Rise and Fall‘ oft gebrauchte Größen. Der Aufstieg und der Fall vergangener Großmächte faszinierte zahlreiche Gelehrte und philosophes, da sie hier nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten suchten, um die Zukunftsfähigkeit eines Landes zu bestimmen. Der Fortschritt der Menschheit etablierte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in unterschiedlichen literarischen Gattungen als zentrale Beurteilungskategorie von Staaten und Völkern – gefragt wurde jeweils danach, was diese zur fortschreitenden Verbesserung des Lebens der Menschheit beigesteuert hätten, welche Länder sich als Motoren dieses Fortschrittes hervortaten und welche diesem unaufhaltsamen Prozess hinterherhinkten.1 Um diesen Zusammenhang zwischen einer universal gedachten Fortschrittsidee einerseits und der damit einhergehenden Hierarchisierung von Staaten andererseits soll es in diesem Beitrag gehen. Im Rahmen der Debatte um den Fortschritt der Menschheit spielte der Begriff der Zivilisation eine zentrale Rolle.2 Darunter subsumierten die Autoren bestimmte Regeln des Zusammenlebens und Formen gesellschaftlicher Verständigung ebenso wie das Vorhandensein materieller Güter und geistiger Errungenschaften. Die allgemeine, grenzenlose Durchsetzung der Zivilisation war
|| 1 Vgl. hierzu allg. Johannes Rohbeck: Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. u. New York 1987. 2 Vgl. hierzu Reinhart Koselleck: Art. „Fortschritt“. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Stuttgart 1975, S. 351–423. https://doi.org/10.1515/9783110735734-006
134 | Andreas Pečar im Rahmen des Fortschrittsparadigmas ebenso wie die allgemeine Durchsetzung der Vernunft das Telos der Weltgeschichte. Dagegen beschreibt der Begriff der Barbarei eine frühe Entwicklungsstufe der Menschheitsgeschichte, eine Entwicklungsstufe allerdings, in der nach wie vor viele Völker der Welt – den aufgeklärten Autoren zufolge – weiterhin verharrten. Der schottische Juraprofessor John Millar kann hier exemplarisch herangezogen werden, um den Zusammenhang zwischen der Konzeption des Fortschritts einerseits und der Hierarchisierung von Staaten und Kulturen andererseits zu verdeutlichen: Es gibt also in der menschlichen Gesellschaft einen natürlichen Fortschritt vom Nichtwissen zum Wissen, von rohen Gebräuchen zu kultivierten Sitten, und verschiedene Stationen dieser Entwicklung sind gewöhnlich auch durch besondere Gesetze und Gebräuche gekennzeichnet. Allerdings haben zahlreiche Zufallsursachen dazu beigetragen, einen solchen Fortschritt in verschiedenen Ländern entweder voranzutreiben oder aufzuhalten. So ist es auch gekommen, dass einzelne Völker durch die Ungunst ihrer Verhältnisse auf der Entwicklungsstufe einer bestimmten Epoche so lange stehengeblieben sind, dass die für diese Epoche eigentümlichen Lebensgewohnheiten so festgefügt waren, dass sich starke Spuren davon durch alle späteren Umwandlungen hindurch erhalten haben.3
Millar definiert den Fortschritt einerseits als natürlichen Prozess der gesamten Menschheit, andererseits läuft dieser Prozess Millar zufolge in den unterschiedlichen Ländern in unterschiedlichem Tempo und auf unterschiedliche Art und Weise ab. Der Fortschritt potenziert daher in Millars Augen die Unterschiede zwischen den Ländern in Bezug auf Kenntnisstand und Sitten, oder zwischen Zivilisation und Barbarei. Der Zusammenhang zwischen dem Zivilisationsbegriff und seinen politischen Implikationen, z.B. die europäische Expansion und der Kolonialismus, ist insbesondere für die außereuropäische Welt bereits intensiv untersucht worden.4 Was bislang weniger Beachtung fand, waren die Konsequenzen des Fortschritts- und des Zivilisationsparadigmas für die zeitgenössischen Vorstellungen von den Staaten und Völkern Europas. Mein Beitrag wird sich daher auf diesen Aspekt beschränken.5 Drei Fragen werden hier vor allem von Interesse sein. Erstens: Was genau wurde von den Autoren betrachtet und gemessen, wenn sie über Zukunftsfähigkeit, über Fortschritt und Zivilisation verschiedener Völker und Staaten ur-
|| 3 John Millar: Vom Ursprung des Rangunterschieds in den Rangordnungen und Ständen der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1985, S. 112. 4 Vgl. hierzu Damien Tricoire (Hg.): Enlightened Colonialism. Civilization Narratives and Imperial Politics in the Age of Reason. Basingstoke 2017. 5 Vgl. in diesem Band den Beitrag von Damien Tricoire über die Chinabilder der Aufklärungszeit.
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teilten? Auf welcher Art von Empirie fußten solche Urteile? Zweitens: Wer tat sich damit hervor, über den Zivilisationsgrad europäischer Staaten und Völker und deren Fortschrittsfähigkeit zu urteilen, und welche Geltungsansprüche waren mit dieser Urteilsbildung verbunden? Und drittens: Welche politischen Folgen konnten solche Urteile über die Fortschrittlichkeit bzw. die Rückständigkeit von Staaten in Europa nach sich ziehen? Um diese Fragen zu diskutieren, werde ich mich insbesondere auf französische Autoren stützen. Diese Auswahl beeinflusst das Ergebnis der Untersuchung insofern, als die Aufklärung in Frankreich stärker als in anderen Ländern von einer Gruppe von Autoren propagiert wurde, die sich als philosophes bezeichneten und deren Sprecherrolle und Autorität in der Öffentlichkeit sich ihrer zumindest dem Augenschein nach freien und unabhängigen Autorenschaft verdankte.6 Die Fortschrittserzählung war aber auch in anderen europäischen Ländern prominent, in Deutschland beispielsweise ebenso wie insbesondere auch in Schottland.7 Hier waren es insbesondere Universitätsgelehrte, die sich als Verfechter dieses Begriffes hervorgetan hatten. Inwiefern die Einbettung des Fortschrittsdiskurses in den akademischen Raum Folgen zeitigte für die damit einhergehende Bewertung und Klassifikation von Staaten, müsste an anderer Stelle noch diskutiert werden.
1 Die Fortschrittsidee und ihre Protagonisten Zunächst sollen drei französische Autoren zur Sprache kommen, die sich in besonderer Weise als Apologeten des Fortschritts hervorgetan haben: Charles Perrault (1628–1703), Voltaire (1694–1778) und Condorcet (1743–1794). Dabei werde ich die chronologische Reihenfolge umdrehen, also mit Condorcet beginnen.
|| 6 Man kann davon ausgehen, dass die philosophes im 18. Jahrhundert alle in Klientelbeziehungen zur politischen Elite Frankreichs standen, da nur so Protektion und Auskommen verfügbar waren. Vgl. hierzu Edward G. Andrew: Patrons of Enlightenment. Toronto 2006; Peter Campbell: Voltaire and the Parlement de Paris. In: Jean Dagen u. Anne-Sophie Barrovecchio (Hg.): Voltaire et la Grand Siècle. Oxford 2006, S. 301–314; Damien Tricoire: Raynal’s and Diderot’s Patriotic History of the two Indies, or The Problem of Anticolonialism in the Eighteenth Century. In: The Eighteenth Century: Theory and Interpretation 59 (2018), S. 429–448. 7 Vgl. zu Schottland Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008.
136 | Andreas Pečar Marie Jean Antoine de Condorcet ist geradezu eine idealtypische Verkörperung des philosophe, eines Rollenmusters, das für die öffentliche Meinung im Laufe des 18. Jahrhunderts eine immer bestimmendere Rolle spielte.8 Zu dieser Rolle des philosophe gehörte der Glaube an die Wirksamkeit des eigenen Tuns und damit fast zwangsläufig das Bekenntnis zum Fortschritt, also zur Verbesserungsfähigkeit der Menschheit. Condorcet machte sich zunächst vor allem als Mathematiker einen Namen und war Mitglied gleich in mehreren Akademien der Wissenschaften. 1791 wurde er dann zum Mitglied der französischen Nationalversammlung gewählt und gesellte sich dort zum Kreis der Girondisten. Mit dem Beginn der Verfolgung prominenter Girondisten tauchte Condorcet unter und schrieb in dieser Zeit eine Art Bekenntnisschrift mit dem Titel Der Fortschritt des menschlichen Geistes.9 Darin heißt es: Was wir uns für den künftigen Zustand des Menschengeschlechts erhoffen, läßt sich auf folgende drei Punkte zurückführen: die Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Nationen; die Fortschritte in der Gleichheit bei einem und demselben Volke; endlich die wirkliche Vervollkommnung des Menschen. Müssen sich alle Nationen eines Tages dem Zustand der Zivilisation nähern, den die aufgeklärtesten, freiesten und vorurteilslosesten Völker, wie die Franzosen und die Anglo-Amerikaner, erreicht haben? Muß der gewaltige Abstand nach und nach verschwinden, der diese Völker von der Knechtschaft der von Königen beherrschten Nationen trennt; der zwischen ihnen und der Barbarei der afrikanischen Stämme, der Unwissenheit der Wilden klafft? Gibt es Gegenden auf unserem Planeten, deren Bewohner von Natur dazu verurteilt sind, niemals der Freiheit sich zu erfreuen, niemals ihre Vernunft zu gebrauchen?10
Mit diesen Worten nimmt Condorcet zum einen eine Zukunftsbeschreibung vor, zum anderen eine Gegenwartsanalyse. Für die Zukunft gilt: Wenn alle Völker in Freiheit und Gleichheit leben und unter den Völkern Gleichheit herrscht, dann
|| 8 Vgl. hierzu Andreas Pečar: Der Intellektuelle seit der Aufklärung. Rolle und/oder Kulturmuster? In: Das achtzehnte Jahrhundert 35 (2011), S. 187–203; Daniel Brewer: Constructing Philosophers. In: Daniel Brewer u. Julie Candler Hayes (Hg.): Using the Encyclopédie: Ways of Knowing, Ways of Reading. Oxford 2002, S. 21–36; Hans Ulrich Gumbrecht u. Rolf Reichardt: Art. Philosophe, Philosophie. In: Rolf Reichardt u. Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. 20 Bde. München 1985–2000, hier Bd. 3, S. 7–88; Roger Chartier: Der Gelehrte. In: Michel Vovelle (Hg.): Der Mensch der Aufklärung. Frankfurt a.M. u. New York 1996, S. 122–168. 9 Zu Condorcet vgl. Elisabeth Badinter u. Robert Badinter: Condorcet (1743–1794). Un intellectuel en politique. Paris 1988; Jean-Pierre Schandeler: Les Interprétations de Condorcet. Symboles et concepts. Oxford 2000. 10 Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Hg. v. Wilhelm Alff. Frankfurt a.M. 1963, S. 345 f.
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ist das Ende der Geschichte gekommen und die Menschheit hat ihr Ziel erreicht. Die Gegenwart sei von diesem Ziel nicht mehr weit entfernt, so Condorcet. Allerdings seien zwei Nationen – Frankreich und Amerika – voranmarschiert und hätten mit ihren glorreichen Revolutionen der Welt ein Beispiel der Freiheit und der Zivilisation gegeben. Damit seien diese beiden Nationen dem anvisierten Endziel bereits näher gekommen als alle übrigen Nationen. Die restlichen Staaten hätten sich an dieser revolutionären Avantgarde zu orientieren und es ihnen gleichzutun, um den universalen Fortschrittsprozess der Menschheit zu befördern. Condorcet weiß auch, welcher Personengruppe die Fortschritte in Frankreich und Amerika zu verdanken seien: den philosophes, denen er sich selbst zurechnet. Sie haben die Revolution ermöglicht in ihrem Kampf gegen die „Gewalttaten und Verführungskünste der Regierungen, die Unduldsamkeit der Priester und selbst die nationalen Vorurteile“.11 Der Avantgarde bestimmter Nationen entspricht also innerhalb dieser fortschrittlichen Nationen die Avantgarde der philosophes, denen der Fortschrittsprozess der Menschheit maßgeblich zu verdanken sei. Die Forderung nach einer Politik, die sich wesentlich an wissenschaftlichen Methoden orientiere, benennt ausdrücklich die den philosophes zugeschriebene gesellschaftliche Führungsrolle.12 Die politischen Leitbegriffe der philosophes liefern Condorcet daher auch die Kriterien, nach denen er die Staaten in fortschrittliche und in rückständige Staaten einteilen konnte. Bei ihm spielten die traditionellen Bewertungskriterien dynastischen Erfolgs keine Rolle mehr. Stattdessen nutzte er die Kriterien Aufgeklärtheit, Vorurteilslosigkeit und Freiheit der Nationen. So ließ sich in seinen Augen der von den einzelnen Nationen jeweils erreichte Zivilisationsgrad und damit die Wegstrecke bestimmen, die die Menschen bis zur Vervollkommnung noch vor sich haben, sie sich emanzipiert hätten von despotischen Regierungen, der Einflussnahme der Kirche und des Klerus sowie von überkommenen Vorurteilen. Die Fortschrittsidee hält für die Zukunft ein allen gemeinsames Ziel bereit. In der Gegenwart bestimmen jedoch zahlreiche Grenzlinien das Bild: zwischen aufgeklärten und nicht aufgeklärten Nationen, zwischen freien und unfreien Völkern.
|| 11 Ebd., S. 293 f. 12 Vgl. dazu auch Andreas Pečar u. Damien Tricore: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt a.M. u. New York 2015, S. 47–49; Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. 6. Aufl. Berlin, Köln u. Mainz 1973, S. 88–91.
138 | Andreas Pečar Man sollte nicht ganz aus dem Auge verlieren, dass sich Frankreich im Krieg befand, als Condorcet diese Vision einer allgemeinen Verbesserung der Menschheit zu Papier brachte. Er war Teil des politischen Netzwerks Brissots, des entschiedensten Verfechters eines revolutionären Kriegskurses gegen die Feudalmächte im Inneren wie im Äußeren, um die revolutionären Prinzipien in einem Kreuzzug für die Freiheit möglichst universal durchzusetzen.13 Von einer solchen militärischen Sendung Frankreichs gegenüber dem übrigen Europa schreibt Condorcet in seinem Traktat Der Fortschritt des menschlichen Geistes zwar nichts. Er lässt aber keinerlei Zweifel daran, dass Frankreich durch die Revolution den übrigen Staaten vorangeeilt sei und diese den französischen Ereignissen nacheifern müssten, um den Fortschritt der Menschheit nicht aufzuhalten, sondern zu befördern. Viele Elemente von Condorcets revolutionärer Zukunftsvision finden sich bereits in Schriften, die lange vor der Revolution entstanden waren. Blickt man auf die Personen, über die Condorcet bereits im Ancien Régime Biographien verfasste – Turgot und Voltaire –, so wird deutlich, wen er zu seinen geistigen Ahnherren erkoren hatte.14 Sowohl Turgot als auch Voltaire waren beide entschiedene Anhänger eines Fortschrittsprozesses der Menschheit, auch wenn sie über den Ablauf dieses Prozesses und insbesondere über die Rolle der Kirche hierbei unterschiedlich urteilten.15 Condorcet wandelte vor allem in Voltaires Spuren. In dessen historiographischen Schriften äußerte er vergleichbare Vorstellungen einer historischen Fortschrittsentwicklung, einer allmählichen, schrittweisen Emanzipation der Menschheit von den Fesseln der Bevormundung, der Vorurteile und des religiösen Fanatismus. Das Mittelalter ist für Voltaire eine dunkle Epoche, nicht der Erwähnung wert, es sei denn zur Mahnung und Abschreckung für die zeitgenössischen Leser. Schließlich haben das Mittelalter und die Herrschaft der Kirche und des Aberglaubens dafür gesorgt, dass die erste Blütephase des menschlichen Geistes, die griechische und römische Antike, für lange Zeit verschüttet worden sei. Danach habe man sich aber im Denken und Handeln schrittweise || 13 Vgl. nur Marisa Linton: Choosing Terror. Virtue, Friendship and Authenticity in the French Revolution. Oxford 2013, S. 107 f. 14 Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet: Vie de Voltaire. In: Louis Moland (Hg.): Œuvres complète de Voltaire. Paris 1883, Bd. 1, S. 187–291; Ders.: Vie de M. Turgot. In: A. Condorcet O’Connor u. F. Arago (Hg.): Œuvres. Paris 1847–49 [ND der Ausg. Bad Cannstatt 1968], Bd. 5, S. 206–208. 15 Vgl. nur Anne Robert Jacques Turgot: Philosophische Darstellung der allmählichen Fortschritte des menschlichen Geistes. In: Johannes Rohbeck u. Lieselotte Steinbrügge (Hg.): Turgot: Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Frankfurt a. M. 1990, S. 140–163.
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wieder der Vernunft zugewandt und von der kirchlichen Bevormundung emanzipiert: zunächst in den italienischen Stadtstaaten der Renaissance, dann auf geradezu triumphale Weise in Frankreich unter Ludwig XIV.16 Auch bei Voltaire geht die Fortschrittsutopie mit einer Hierarchisierung der Kulturen und der Völker einher, abhängig vom Grad ihrer geistigen und politischen Emanzipation. Die Blüte der Wissenschaften und der Künste sind für Voltaire die entscheidende Messlatte, um abzuschätzen, wie stark man sich von der Bevormundung durch Kirche und Klerus gelöst habe. Das Zeitalter Ludwigs XIV. erscheint Voltaire daher nicht so sehr aufgrund des regierenden Königs als Apotheose der Menschheitsgeschichte, sondern da unter seiner Herrschaft die Philosophie und die Künste in Frankreich in größter Blüte standen und sich diese Blüte auch in den anderen europäischen Ländern verbreitet habe – von Frankreich ausgehend – kam es dann zu einer Konjunktur philosophischen Denkens in ganz Europa, und damit zu einem Abbau der Vorurteile und der Unwissenheit.17 Auch bei Voltaire sind die eigentlichen Triebkräfte des Fortschritts nicht die Könige und Herrscher, sondern die philosophes, die zur Verbreitung von Vernunft und Aufklärung beitrugen. Den Königen erkennt Voltaire aber gleichwohl eine wichtige Rolle zu, da sie diesen Fortschrittsprozess als Förderer der Wissenschaften und der Künste positiv beeinflussen könnten: darin sah Voltaire die große Leistung Ludwigs XIV.18 Frankreich gebührt bei Voltaire daher der Ehrentitel unter den Nationen, da sich das Land und deren Könige um den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit verdient gemacht und den Künsten und der Wissenschaft zu einer neuen Blüte verholfen hätten.
|| 16 Diese Geschichtsdeutung findet sich insbesondere in Voltaires Essay sur les meurs et l’esprit des nations. In: Ders.: M. Beuchot (Hg.): Œuvres de Voltaire. Bd. 15. Paris 1829; Vgl. ferner Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, S. 154–156 und S. 245 f. 17 Vgl. hierzu François-Marie Voltaire: Das Zeitalter Ludwigs XIV. Leipzig 1887, S. 6: „Die wahre Philosophie ist erst in dieser Epoche bekannt geworden, und man darf in Wahrheit behaupten, dass sich in dem Zeitraum zwischen den letzten Jahren des Kardinals von Richelieu bis zu den ersten Jahren nach dem Tod Ludwigs XIV. in unseren Künsten, unseren Ansichten, unseren Sitten und unserer Regierung eine Umwälzung vollzogen hat, die als ein ewiges Denkmal der wahrhaften Größe unseres Vaterlandes dastehen wird. Und dieser segensreiche Einfluß ist nicht auf Frankreich beschränkt geblieben – er verbreitete sich nach England und machte dort den Wetteifer rege, dessen dieses geistreiche, unternehmende Volk damals bedurfte; er brachte den Geschmack nach Deutschland und die Wissenschaften nach Rußland; er hat sogar dem dahinsiechenden Italien neues Leben eingehaucht, und Europa verdankt seinen Anstand und seinen geselligen Sinn dem Hof Ludwigs XIV.“ 18 Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 16), S. 118–122.
140 | Andreas Pečar Voltaire war in seiner Lobpreisung Ludwigs XIV. als Förderer der Wissenschaften und Künste und damit als Wegbereiter des Fortschritts der Menschheit wenig originell. Letztlich hatte er mit seinem Werk Das Zeitalter Ludwigs XIV. nur dem Plädoyer von Charles Perrault erneut Nachdruck verliehen. Perrault hatte 1687 in der Académie française sein Versepos mit dem gleichnamigen Titel – Das Zeitalter Ludwigs des Großen – vorgetragen und dabei aufgelistet, was die Menschheit alles dem großen König zu verdanken habe: dessen Jahrhundert war groß zu nennen und übertraf die Antike, da es sich durch besondere Leistungen und Erkenntnisse in den Wissenschaften (Bacon) und in der Philosophie (Descartes) auszeichnete, aber auch in den Schönen Künsten, in denen er seiner Gegenwart ebenfalls den Vorrang zusprach über die Leistungen der Antike.19 Perrault hatte dieses panegyrische Versepos wohl aus Karrieregründen zu diesem Zeitpunkt in der Akademie verlesen lassen. Nachdem sein großer Förderer Colbert gestorben war, suchte Perrault mit seinem Epos eine Chance, sich für weitere Aufträge in Diensten der Monarchie zu empfehlen.20 Auch wenn er damit keinen Erfolg hatte und sogar aufgrund seines Versepos aus der Akademie geworfen wurde – bestimmte Aspekte seines Gedichts setzten Maßstäbe und wurden im 18. Jahrhundert immer wieder artikuliert: Die Idee von einem Fortschritt der Menschheit, ausgelöst durch Erkenntnisse in der Wissenschaft, die damit einhergehende zentrale Rolle derjenigen, die diese Erkenntnisse zutage gefördert hatten, der philosophes, und die Bewertung der Länder und Kulturen danach, wie viel sie zu diesem Fortschrittsprozess jeweils beisteuerten.21 Hier liegen auch die Gemeinsamkeiten der sonst so unterschiedlichen Autoren. Was Condorcet ansonsten von Perrault und Voltaire trennt, ist zum einen die Rolle, die den Monarchen im Fortschrittsprozess zugeschrieben wurde: waren die Könige, sofern sie ihr Amt zur Förderung der Wissenschaften und der Künste nutzten, für Perrault und Voltaire Triebkräfte des Fortschritts, waren sie für Condorcet ein Hemmschuh, dessen man sich entledigen musste, um die Gesellschaften zu Freiheit und Gleichheit zu führen. Zum anderen war die Zielbestimmung der Menschheit – ein Leben in universaler Freiheit und Gleichheit – bei Condorcet ungleich ambitionierter als bei Perrault und Voltaire, die beide ihren Fokus wesentlich auf die Entwicklung der Wissenschaften und der Künste
|| 19 Anne-Marie Lecoq (Hg.): La querelle des Anciens et des Modernes. XVIIe–XVIIIe siècles. Paris 2001, S. 256–273. 20 Dan Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy. Chicago 2010, S. 37–41. 21 Vgl. hierzu mit weiterer Literatur Heinz Thoma: Querelle des Anciens et des Modernes. In: Ders. (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung. Stuttgart u. Weimar 2015, S. 407–418.
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reduzierten, obwohl beide zugleich postulierten, dass diese Fortschritte der Menschheit insgesamt zugutekamen. Der Zusammenhang zwischen der Fortschrittsidee einerseits und dem Geltungsanspruch und Sendungsbewusstsein von deren Verfechtern andererseits war nicht nur bei französischen Autoren gegeben, sondern findet sich ebenso auch in anderen europäischen Ländern. Stets waren diejenigen Autoren, die den Entwicklungsstand der Wissenschaften und Künste als zentralen Gradmesser für den Status eines Landes ausmachten, wohl nicht ganz zufällig auch selbst im Bereich der Wissenschaften und Künste tätig.22 Ihre Förderung und Protektion war daher das beste Mittel, so die implizite Botschaft, um den Fortschritt des eigenen Landes zu befördern. Die untrennbare Verknüpfung des Bewertungsmaßstabs für die Fortschrittlichkeit von Staaten mit den eigenen Geltungsansprüchen mag bei den französischen philosophes besonders deutlich zu Tage treten. Ein Alleinstellungsmerkmal ist dies aber nicht. Auch bei den Universitätsgelehrten waren die Urteilsmaßstäbe über die Fortschrittlichkeit mit der Betonung der eigenen, herausgehobenen Sprecherrolle und Expertise verknüpft. So argumentierte der Professor für Staatswissenschaften an der Universität Göttingen, Gottfried Achenwall, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, auf vergleichbar interessegeleitete Art und Weise. Achenwall schrieb den Regierungen ins Stammbuch, dass nur Länder florieren könnten, die sich in ihrer Regierungspraxis nach wissenschaftlichen Grundsätzen der Staatsklugheitslehre richteten – andernfalls würden sie im Wettlauf um den Fortschritt zunächst zurückfallen und schließlich gänzlich verfallen: weil […] die darüber in neuern Zeiten hauptsächlich entdeckten Grundsätze und erfundene künstliche Einrichtungen gewisse Staaten in solches Aufnehmen, Flor und Ansehen gebracht, daß alle andere Staaten, wenn sie nicht zu viel debey verlieren, und im Verhältniß mit jenen immer schwächer werden, und nach und nach in größeren Verfall gerathen wollen, eben diese Maximen und Einrichtungen, so viel eines jeden besondere Verfassung zuläßt, annehmen und nachahmen müssen.23
Hier ist es also nicht die Förderung der Wissenschaften allein, die man den Regierungen und Herrschern abverlangt. Vielmehr habe sich die Herrschaftspraxis den Lehren der Philosophen bzw. der Gelehrten unterzuordnen und deren Erkenntnissen zu folgen. Achenwall erhob mit dieser Forderung stellvertre-
|| 22 Über diesen Zusammenhang vgl. jetzt Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 12), S. 27–45. 23 Gottfried Achenwall: Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen. Göttingen 1761, S. 13 f. (über Axiome der Staatswirtschaft).
142 | Andreas Pečar tend für die deutschen Universitätsgelehrten denselben Geltungsanspruch wie die französischen philosophes seiner Zeit: als Lehrer der Regierungen und der Menschheit zu dienen und damit den Fortschritt voranzutreiben.24
2 Das Blame-Game oder die Einteilung der Nationen nach ihrer Fortschrittlichkeit Nun ist es eine Sache, wenn französische Autoren und deutsche Universitätslehrer sich selbst zu Richtern über die Fortschrittlichkeit bzw. Rückschrittlichkeit der europäischen Staaten ernennen. Eine andere ist es, wie diese Urteile im politischen Raum aufgegriffen wurden und welche Folgen diese Urteile nach sich zogen. Wie es Ländern erging, denen die aufgeklärten Autoren jede Fortschrittlichkeit absprachen, läßt sich beispielsweise an Länderartikeln in Enzyklopädien sehr schön nachvollziehen. So ritt Nicolas Masson de Morvilliers in seinem Artikel für die Encyclopédie Méthodique unter dem sprechenden Titel: „Was verdankt man Spanien?“ eine bemerkenswerte Philippika: Der Spanier ist begabt für die Wissenschaften, er hat viele Bücher, und doch ist Spanien vielleicht die unwissendste Nation Europas. Was kann man von einem Volk erhoffen, das von einem Mönch die Freiheit erwartet, lesen und denken zu dürfen? […] Heute glühen Dänemark, Schweden, Rußland, selbst Polen, Deutschland, Italien, England und Frankreich, all diese Völker, Feinde, Freunde, Rivalen, in edlem Wetteifer um den Fortschritt der Wissenschaften und Künste. Jedes arbeitet an Errungenschaften, die es mit den anderen Nationen teilen wird. Jede dieser Nationen hat bis heute irgendeine nützliche Entdeckung gemacht, die der Menschheit zum Fortschritt gereichte. Aber was verdankt man Spanien? Und was hat Spanien seit zwei, seit vier, seit zehn Jahrhunderten für Europa geleistet?25
|| 24 Vgl. zur akademischen Disziplin der Staatswissenschaft Axel Rüdiger: Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2005; ferner Paul Streidl: Naturrecht, Staatswissenschaften und Politisierung bei Gottfried Achenwall (1719–1772). Studien zur Gelehrtengeschichte Göttingens in der Aufklärung. München 2003. 25 Nicolas Masson de Morvilliers: Art. „Espagne“. In: Charles Panckoucke (Hg.): Encyclopédie Méthodique. 206 Bde. Paris u. Liège 1782–1832, Abt. Geographie Moderne. 3 Bde. 1783–88, hier Bd. 1, S. 554–568, hier S. 565; Übersetzung zit. n. Nicolaus Masson de Morvilliers: Was verdankt man Spanien? In: Hans Hinterhäuser (Hg.): Spanien und Europa. Stimmen zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. München 1979, S. 63–68, hier S. 67.
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Spanien wird geschildert als unaufgeklärte Nation, unwissend, ohne jegliche geistige Dynamik. Als Grund dafür wird der sklavische Gehorsam gegenüber dem Klerus angeführt, der das Land in geistiger Unselbständigkeit halte. Daher könne Spanien mit dem europäischen Fortschrittsprozess nicht mithalten, der mittlerweile ganz Europa erfasst habe, so der Autor. Der Spanienartikel in der berühmten Encyclopédie, herausgegeben von Diderot und d’Alembert, schlug bereits ein Jahrzehnt zuvor in dieselbe Kerbe.26 Spanien sei zwar ein von der Natur gesegnetes Land. Dessen Einwohner seien gleichwohl träge, stolz und unwissend und zählten in Europa zu den rückständigsten Nationen.27 Nun gilt das 18. Jahrhundert in den Handbüchern zur Philosophie- und Geistesgeschichte als diejenige Zeit, in der der Empirismus seinen Siegeszug gefeiert habe – welche Art von Erfahrung und Beobachtung, wieviel Empirie steckt in den Verdammungsurteilen französischer Enzyklopädien über Spanien? Die Negativurteile speisten sich vor allem aus folgenden Quellen: Zunächst gibt es Aussagen antiker Autoren über Spanien (reiches Land, aber träge Einwohner etc.), die ohne weitere Kommentierung und Einordnung weitertradiert werden.28 Dann kommt die legenda negra hinzu: ein Text von Miguel Serveto y Reves, den meisten besser bekannt unter dem französischen Namen Michel Servet, den dieser vor seiner Hinrichtung in Genf als Ketzer über Spanien verfasst hatte, wurde von Sebastian Münster in seine Cosmographia aufgenommen und fand dann schnell weitere Verbreitung; 29 nicht nur in den protestantischen Ländern, sondern auch in Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert. Auch für zahlreiche französische antiklerikale Aufklärer war Spanien ein abschreckendes Beispiel eines vom Klerus und der Kirche beherrschten Landes. Zugespitzt gesagt, wurden in den aufgeklärten Enzyklopädien altbekannte Vorurteile tradiert, die im Gedächtnishaushalt in Frankreich vor allem deswegen einen festen Platz hatten, da sie sich gut zur politischen Propaganda gegen
|| 26 Louis de Jaucourt: Art. Espagne. In: Denis Diderot u. Jean-Baptiste Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 5. Paris 1751, S. 953 f. 27 Zu diesem Artikel und seiner Rezeption jetzt Clorinda Donato u. Ricardo López: Enlightenment Spain and the ‘Encyclopédie méthodique’. Oxford 2015. 28 Debora Gerstenberger: Iberien im Spiegel frühneuzeitlicher enzyklopädischer Lexika Europas. Diskursgeschichtliche Untersuchung spanischer und portugiesischer Nationalstereotypen des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 2007. 29 Für diesen Hinweis danke ich Arndt Brendecke (München). Vgl. Hierzu Jocelyn N. Hillgarth: The Mirror of Spain, 1500–1700. The Formation of a Myth. Ann Arbor 2000, S. 250 f.; Ulrike Hönsch: Wege des Spanienbildes im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Von der schwarzen Legende zum „Hesperischen Zaubergarten“. Tübingen 2000, S. 18–20.
144 | Andreas Pečar einen Kriegsgegner eigneten.30 Zwar wurde Spanien mittlerweile von den Bourbonen regiert und nicht von den verhassten Habsburgern, zwar förderte sowohl der spanische Königshof als auch die spanische Regierung die Aufklärung ebenso sehr wie ihre französischen Vettern auf dem Thron;31 dem Spanienbild konnten diese Tatsachen gleichwohl wenig anhaben. Dabei zeigen die diplomatischen Verstimmungen, die Masson de Morvilliers Ausfälle gegen Spanien in der Encyclopédie Méthodique hervorriefen, dass solche Urteile bzw. Verdammungsurteile aufgeklärter Autoren im politischen Raum wahrgenommen und ernstgenommen wurden. Die Königliche Spanische Akademie sah sich dazu veranlasst, einen Preis für die beste Entgegnung auszuloben.32 Masson de Morvilliers Spanienpolemik erhielt auch dadurch eine ganz besondere Spitze, dass er Polen im Gegensatz zu Spanien als ein Land des Fortschritts charakterisierte. Dieser Vergleich bezieht seine Polemik aus der Tatsache, dass Polen bei allen Fortschrittsapologeten der Zeit als hoffnungslos rückständig charakterisiert wurde. Auch hier ist der Encyclopédie-Artikel wieder ein aussagekräftiger Beleg.33 Dort urteilte Louis Chevalier de Jaucourt über Polen, dass das Land bis in die Gegenwart nicht über den Zivilisationsstand der alten Sarmaten hinausgekommen sei, zugleich aber deren ursprüngliche, positive Eigenschaften eingebüßt habe. Nicht die natürlichen Sitten der Sarmaten seien heute in Polen vorherrschend, so Jaucourt, sondern eine Mischung aus europäischen Moden und asiatischem Pomp, wie man es beispielsweise bei Krönungen polnischer Könige erleben könne. Des Weiteren beklagte Jaucourt den religiösen Fanatismus in Polen, ihren blinden Gehorsam gegenüber Papst und katholischer Kirche. Daher sei in Polen weiterhin die Unwissenheit und der Aberglaube vorherrschend, ginge der anderswo in Europa erzielte geistige Fortschritt an Polen vorbei. Dies habe auch Folgen für den Wohlstand des Landes. Zwar sei der Boden fruchtbar und das Klima günstig, doch aufgrund der Unwissenheit und der Unfreiheit der Bevölkerung nehme das Land an ökonomischen Entwicklungen in Europa nicht teil. Polen verharre länger im Zustand der Barbarei, so Jaucourts Fazit, als Spanien, Frankreich, England und Deutschland. Jaucourts Ausführungen sind gänzlich frei von eigener Anschauung oder von Empirie, und dementsprechend voller falscher Angaben über die Bevölke-
|| 30 Vgl. hierzu Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 12), S. 56 f. 31 Vgl. nur Hinterhäuser: Spanien und Europa (wie Anm. 25); Gabriel B. Paquette: Enlightenment, Governance, and Reform in Spain and Its Empire, 1759–1808. Houndmills 2011. 32 Gerstenberger: Iberien (wie Anm. 28), S. 12. 33 Louis de Jacourt: Art. Pologne. In: Diderot u. d’Alembert: Encyclopédie (wie Anm. 26), Bd. 12, S. 924–934.
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rungszahl ebenso wie über die Geographie.34 Dies wird nirgends so deutlich wie in seiner Schätzung der Einwohnerzahl Polens. In seinem Polen-Artikel gibt er die Bevölkerung des Landes mit fünf Millionen Einwohnern an, und das bei einem Land, das größer sei als Frankreich, wie er nicht ohne Vorwurf bemerkt. Nun war die Einwohnerzahl in der Zeit der Aufklärung keine rein statistische Größe neben anderen, sondern insbesondere in den Augen der Physiokraten der entscheidende Maßstab für den Fortschritt, ja für die Glückseligkeit eines Landes schlechthin. Die Bevölkerungsdichte eines Landes gab den Wohlstand eines Landes und dessen Produktivität an – und war so ein geradezu idealer Gradmesser für dessen Entwicklungsstand.35 Wenn Polen also bei der Größe Frankreichs nur fünf Millionen Einwohner ernährte, während in Frankreich fast 25 Millionen Menschen lebten, so ist dieser Vergleich gleichsam eine quantitative Beschreibung der Fortschrittlichkeit bzw. der Rückschrittlichkeit beider Staaten. Allerdings hantiert Jaucourt mit falschen Zahlen. In Wirklichkeit dürfte es sich um mehr als zwölf Millionen Polen gehandelt haben.36 Jaucourt hatte Zeit seines Lebens nie polnischen Boden betreten. Seine „Kenntnisse“ über Polen dürfte er wohl von Voltaire bezogen haben – einem weiteren intimen Kenner des Landes, der nie einen Fuß auf polnischen Boden setzte – und der seine abfälligen Urteile über Polen in seiner Geschichte Karls XII. niederschrieb.37
3 Politische Folgen des Fortschrittsrankings Das Fortschritts-Ranking der europäischen Staatenwelt war nicht nur eine geistige Spielerei von Autoren der Aufklärung, es bot den politischen Akteuren auch neue Chancen auf Profilierung. Um dies zumindest kurz anzudeuten, eignet sich wohl kaum eine Person besser als Friedrich II. von Preußen, der sich ja seinerseits immer wieder als philosophe inszenierte.38 Friedrich war mit dem
|| 34 Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994, S. 184–189. 35 Vgl. hierzu den Beitrag von Lars Behrisch in diesem Band. 36 Vgl. hierzu Wolff: Inventing (wie Anm. 34), S. 189. 37 Voltaire: Geschichte Karls XII. Aus dem Französischen von Theodora von der Mühll. Frankfurt a.M. 1963, S. 44–49. 38 Vgl. nur Andreas Pečar: Die Masken des Königs. Friedrich II. von Preußen als Schriftsteller. Frankfurt a.M. u. New York 2016; Ders.: Wie wird man als König zum Philosophen? Überlegungen zur Autorschaft Friedrichs des Großen. In: Friederisiko – Friedrich der Große. Die Essays. München 2012, S. 12–27.
146 | Andreas Pečar Fortschrittskonzept bestens vertraut und nutzte es selbst zur Herstellung von Distinktionsgewinnen. So schrieb er im Jahr 1766 an Voltaire, dass der Aberglauben – gemeint hatte er damit vor allem das Bekenntnis zur katholischen Religion – fast überall in Europa auf dem Rückzug sei: „Von diesem weiten Reich des Fanatismus bleiben kaum mehr als Polen, Portugal, Spanien und Bayern übrig, wo die schiere Ignoranz und der Winterschlaf des Geistes den Aberglauben noch am Leben erhalten“. Mit einem Sinn für Distinktion betonte er außerdem: „In unseren protestantischen Ländern geht es schneller voran.“39 Die Idee des Fortschritts bot Friedrich aber auch Möglichkeiten, die vermeintliche Rückständigkeit Polens zum Argument zu machen, um damit die erste Teilung Polens gegenüber den französischen philosophes zu rechtfertigen und als Zivilisierungsmission zu verkaufen.40 Die Klassifizierung Polens als rückständig, barbarisch und fanatisiert prägte nämlich zumindest zum Teil die Wahrnehmung der politischen Ereignisse zu Beginn der 1770er Jahre in der aufgeklärten Öffentlichkeit. Die politische Einflussnahme Russlands in Polen etwa wurde nicht als Einmischung in die politischen Angelegenheiten eines freien Staates aufgefasst, sondern als Beitrag zur Unterstützung der Religionsfreiheit und damit der Aufklärung in Polen. Der politische Druck Russlands bescherte Polen im Jahr 1764 Stanisław August Poniatowski als König, einen ehemaligen Favoriten Katharinas II. Von russischer Seite wurde Poniatowski als König dazu verpflichtet, die Religionsbestimmungen in Polen außer Kraft zu setzen, damit den Orthodoxen in Polen die gleichen Rechte gewährt werden konnten wie Katholiken. Preußen kämpfte seinerseits für die Gleichberechtigung der Protestanten in Polen. Diese fortgesetzte politische Intervention seitens Russlands und Preußens wurde 1767 durch den Einsatz von russischen Truppen verstärkt. Nachdem der polnische Reichstag nicht bereit war, den russisch-preußischen Forderungen nachzukommen, kam es zur Festnahme mehrerer ranghoher Sejmmitglieder, die nach Zentralrussland deportiert wurden – unter ihnen die Bischöfe von Krakau und Kiew. Erst diese Gewaltakte brachten den Reichstag dazu, einem Gesetz zuzustimmen, dass fortan auch Nichtkatholiken alle politischen Ämter in Polen bekleiden konnten.41 Mit diesem Gesetz war || 39 Brief von Friedrich II. an Voltaire (8. Januar 1766). In: Friedrich II. u. Voltaire: Aus dem Briefwechsel Voltaire – Friedrich der Große. Hg. v. Hans Pleschinski. Zürich 1992, S. 429. 40 Vgl. hierzu Hans-Jürgen Bömelburg: Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen. Eine Ereignis- und Erinnerungsgeschichte. Stuttgart 2011, S. 82–84. 41 Zu den Ereignissen vgl. Bömelburg: Friedrich II. (wie Anm. 40), S. 60–70; Michael G. Müller: Die Teilungen Polens: 1772, 1793, 1795. München 1984, S. 34 f.; Frank Althoff: Untersuchungen zum Gleichgewicht der Mächte in der Außenpolitik Friedrichs des Großen nach dem Siebenjährigen Krieg (1763–1786). Berlin 1995, S. 50–55 und 72–74.
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es fortan für die auswärtigen Monarchen in Russland und Preußen noch leichter als vorher, eigene Klienten in politisch einflussreiche Ämter zu hieven und damit die politische Entscheidungsfindung in Polen zu beeinflussen. In Polen schlossen sich dagegen jedoch katholische Adelskreise zusammen – die Barer Konföderierten –, die gegen das Gesetz zur Religionsfreiheit und gegen König Stanisław August Poniatowski opponierten und mit einem Aufstand versuchten, die politische Eigenständigkeit Polens wiederherzustellen. Daraus sollte sich dann ein Krieg entwickeln, in dem bald auch das Osmanische Reich mit beteiligt war. Nimmt man Voltaire als Maßstab, so war die aggressive Einmischungspolitik Russlands und Preußens in Polen für den philosophe kein Grund zur Aufregung, diese Seite des Konflikts schien er gar nicht wahrgenommen zu haben – ganz im Gegensatz zu Rousseau, der den Aufstand der Barer Konföderierten als Verteidigung der polnischen Freiheit wertete, als tugendhaften, patriotischen Kampf gegen die (russische) Despotie, als Chance auf eine neue Staatsgründung, aufbauend auf antiken Tugenden und Idealen.42 Voltaire hingegen verdammte die Konföderierten, da sie sich der Idee einer Religionsfreiheit in Polen verweigerten. Für Voltaire ging es in dem Konflikt nicht um Fremdbestimmung oder Selbstbestimmung, sondern um Aufklärung und Religionsfreiheit gegen katholischen Fanatismus. Die Barer Konföderierten setzte er gleich mit Königsmördern in Frankreich und Portugal, die aus religiösen Motiven zu Attentätern wurden.43 Katharina II. von Russland hingegen erstrahlte in Voltaires Kommentaren als Vorkämpferin für Aufklärung und Religionsfreiheit.44 Angesichts der militärischen Erfolge der russischen Truppen in diesem Konflikt sandte er der Zarin den Entwurf einer Medaille zu, die folgende Inschrift trug: „Triomphatrice de l’empire ottoman, et pacificatrice de la Pologne“.45 Für Voltaire stand fest: in der Auseinandersetzung um die Barer Konföderierten standen die Fürsprecher des Fortschritts (Katharina II.) den Anwälten des Fanatismus und der Finsternis gegenüber (katholischer Klerus und Osmanisches Reich). Das Fortschrittsparadigma prägte die Wahrnehmung zahlreicher Fürsprecher der Aufklärung – in || 42 Vgl. hierzu Karsten Holste: (Über-)Setzungen von Institutionen politischer Freiheit. Entstehung und Rezeption von Rousseaus Considérations sur le gouvernement de Pologne. In: Konstanze Baron u. Harald Bluhm (Hg.): Jean-Jacques Rousseau. Im Bann der Institutionen. Berlin 2016, S. 183–201. 43 Friedrich II. u. Voltaire: Briefwechsel (wie Anm. 39), S. 440 (Brief von Oktober 1769). 44 Vgl. hierzu Wolff: Inventing (wie Anm. 34), S. 211–215. 45 Katharina II. von Russland u. Voltaire: Monsieur – Madame. Der Briefwechsel zwischen der Zarin und dem Philosophen. Übersetzt, hg. und mit einer Einführung von Hans Schumann. Zürich 1991, S. 75 (Brief vom 27. Mai 1769).
148 | Andreas Pečar deren Augen Europa unterteilt war in Zonen des Fortschritts und in Zonen der Rückständigkeit – in Zonen der Rückständigkeit war politische Selbstbestimmung offenkundig für Voltaire und seine Gesinnungsgenossen kein Wert an sich. Sofern grundsätzliche Prinzipien auf dem Spiel standen wie die Idee der Religionsfreiheit, war politische Einmischung allemal geboten, ja sogar begrüßenswert als legitimes Mittel zur Durchsetzung aufgeklärter Vernunftprinzipien. Friedrich II. verstand es meisterhaft, sich dieser Kategorien zu bedienen, um damit territoriale Expansionsgelüste Preußens auf Kosten Polens in der aufgeklärten Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Er versäumte keine Gelegenheit, in seiner Korrespondenz Polen als „Huronen“ und als „Irokesen“ Europas zu beschreiben und damit als zivilisatorisch rückständig und barbarisch zu charakterisieren.46 Er schrieb eigens ein Spottgedicht über die Barer Konföderierten – Der Krieg der Konföderierten – und sandte es an Katharina II., aber auch an Voltaire und an d’Alembert.47 Hier übernahm er Voltaires Stereotype über den Fanatismus des Klerus und die Rückständigkeit Polens und sah die Rolle Katharinas II. als Anwältin aufgeklärter Vernunftprinzipien. Um diesen Prinzipien Geltung zu verschaffen, so auch der Tenor des Spottgedichts, sei Einmischung geboten und legitim. Während in den diplomatischen offiziellen Rechtfertigungstexten die Teilung Polens als notwendige Maßnahme zur Friedenssicherung zwischen den drei Großmächten Russland, Habsburg und Preußen dargestellt wurde, spielte in Friedrichs Korrespondenz mit aufgeklärten Geistesgrößen das Fortschrittsparadigma und die Zivilisierungsmission eine weitaus größere Rolle – wohl da er hoffte, mit diesem Argument auf Zustimmung zu stoßen. D’Alembert teilte er nach der Teilung Polens mit, die Preußen „werden den armen Irokesen [also den Polen] die europäische Zivilisation bringen“.48
4 Schlussbetrachtung Der Beitrag einzelner Staaten und Völker zum Fortschritt der Menschheit war eine im Laufe des 18. Jahrhundert zunehmend prominente Kategorie, um Länder miteinander in Beziehung zu setzen und zu vergleichen. Diese Messgröße ist ursprünglich von Charles Perrault dazu genutzt worden, um dem Zeitalter Lud-
|| 46 Bömelburg: Friedrich II. (wie Anm. 40), S. XIX. 47 Ebd. S. 82–84; Vgl. ferner Pečar: Masken (wie Anm. 38), S. 112–120. 48 Bömelburg: Friedrich II. (wie Anm. 40), S. 91.
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wigs des Großen [XIV.] vor allem auf den Feldern Kunst und Wissenschaft größere Bedeutung zuzuschreiben als der Antike. Die Idee einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit hatte also von Beginn an ein kompetitives Element – wenn auch zunächst gedacht als diachroner Vergleich zweier Epochen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts fand die Idee eines Fortschritts der Menschheit dann unter aufgeklärten Autoren immer mehr Anhänger. Neben dem diachronen Vergleich erwies sich die Fortschrittskategorie auch als geeignet, um die zeitgenössische Staatenwelt miteinander zu vergleichen. Vor allem französische Aufklärer machten sich diesen Bewertungsmaßstab zu Eigen und bewerteten die europäischen Herrscher und Staaten vor allem danach, welche Autorität diese bereit waren, ihnen zuzubilligen. Je enthusiastischer die Fürsten den philosophes begegneten, desto größer waren ihre Chancen, von den Aufklärern unter die fortschrittlichen Länder gezählt zu werden, weitgehend ungeachtet der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse dort. Dies war der Grund, weshalb Russland unter Katharina II. weit bessere Bewertungen erzielte als Polen oder Spanien, dies war auch der Grund für die meist positive Berichterstattung über das Preußen Friedrichs II. Die Fortschrittlichkeit bzw. die Rückschrittlichkeit einzelner Staaten war nicht gebunden an ein Kategoriensystem, es blieb bis zum Ende des 18. Jahrhunderts den Vorlieben einzelner Autoren überlassen, nach welchen Kriterien sie Urteile über Fortschrittlichkeit und Rückschrittlichkeit jeweils fällten. Die Artikel über europäische Länder in der Encyclopédie, die meist von Jaucourt verfasst wurden und stets kategorische Wertungen über die Qualitäten dieser Länder enthielten, machen hinreichend deutlich, dass empirisches Wissen für diese Bewertungen keine Rolle spielte. Für apodiktische Aussagen über die Fortschrittlichkeit oder Rückschrittlichkeit einzelner Staaten bedurfte es in der Zeit der Aufklärung keiner besonderen Sprachkenntnisse, ja nicht einmal eines Besuchs der beschriebenen Länder. Das Wissen schöpfte man aus wenigen Büchern und aus Reiseberichten, die Werturteile fußten zumeist auf Stereotypen, die deutlich älter waren als die nun damit verknüpfte Fortschrittsidee. Wenn die Expertise über die Länder und die Regierungen, über die man urteilte, eine bestenfalls untergeordnete Rolle spielte, um was ging es dann? Die Urteile über Fortschrittlichkeit und Rückschrittlichkeit erwuchsen zumeist aus Konflikten, in denen die urteilenden philosophes selbst involviert waren, und verdankten sich Kontexten, in denen die philosophes agierten. Der Antiklerikalismus bestimmter Autoren wie Voltaire bestimmte dann auch ihr Verdikt über Polen und Spanien, die Mitwirkung Condorcets in der französischen Nationalversammlung veranlasste ihn dazu, die französischen politischen Ereignisse zum politischen Maßstab der Menschheit zu erheben. Der Fortschrittsdiskurs
150 | Andreas Pečar kreiste weitgehend selbstreferenziell um die Geltungsansprüche der philosophes: zum einen waren sie diejenigen, die über Fortschritt und Rückschritt das Urteil fällten, zum anderen war ein wesentliches Urteilskriterium dabei, welche Rolle man ihnen selbst zubilligte – Stand der Wissenschaft und Kunst –, die über ihr Urteil entschied. Der Fortschrittsdiskurs der philosophes war selbstreferentiell, er bot aber Herrschern ein vergleichsweise einfaches Mittel, um in diesem Diskurs Punkte zugeschrieben zu bekommen. Wer sich um ein gutes Verhältnis zu den philosophes bemühte und deren bedeutsame Rolle in der Öffentlichkeit unterstrich, hatte damit automatisch seine Liebe zu den Wissenschaften und Künsten dokumentiert und damit einen Beweis für seine eigene Fortschrittlichkeit geliefert. Und wer wie Friedrich II. von Preußen sogar als Autor in Erscheinung trat und sich selbst als roi philosophe – und damit als Gleichgesinnter – präsentierte, konnte sogar selbst den Fortschrittsdiskurs dazu nutzen, eigene koloniale Bestrebungen im Rahmen der ersten Teilung Polens zu legitimieren und im Kreis der philosophes erfolgreich dafür zu werben. Eroberungen und Annektionen, die gemeinhin in Kreisen der Aufklärer verpönt waren,49 wurden unter dem Mantel der Zivilisierungsmission zu einer durchaus vertretbaren Angelegenheit – nicht nur in Übersee, sondern auch in Europa. Für den Fortschritt war eben kein Preis zu hoch, insbesondere wenn andere ihn erbringen mussten.
|| 49 Vgl. hierzu Merio Scattola: Art. Friede u. Krieg. In: Thoma: Handbuch (wie Anm. 21), S. 232– 241; Claudius R. Fischbach: Krieg und Frieden in der französischen Aufklärung. Münster 1990.
Damien Tricoire (Trier)
Von der Sinophilie zur Sinophobie? Aufklärerische Geltungsansprüche und Chinabilder im 18. Jahrhundert Den europäischen Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts wird gemeinhin ein gesteigertes Interesse an der außereuropäischen Welt zugeschrieben. Gewissermaßen stellvertretend für diesen geweiteten Blick gilt die Neugier China gegenüber, die sich auf vielfältige Art und Weise dokumentierte, sei es in den zahlreichen Chinoiserien in den Palästen der Fürsten und des Adels, sei es in den Veröffentlichungen, in denen China mitunter als Vorbild für eine ebenso effiziente wie tugendhafte Regierungsweise angepriesen wurde.1 Galt die Neugier gegenüber China wie gegenüber der außereuropäischen Welt insgesamt in der Aufklärungsforschung lange Zeit als Indiz für eine an Empirie und Wissenserweiterung orientierten Grundhaltung, die der europäischen Aufklärung attestiert wurde, so interpretierte die postkoloniale Kritik an der Aufklärung die Neugier auf die außereuropäische Welt als ein Zeichen kolonialistischer Aneignung und Inbesitznahme. Dieser Vorwurf, Aufklärer hätten mit ihren orientalistischen Diskursen einen protoimperialistischen Blick auf Asien geworfen, ist seitdem unter Historikern, die sich dem 18. Jahrhundert zuwenden, Gegenstand der Debatte. In der Entzauberung Asiens, einer frühen Entgegnung auf die postkoloniale Kritik, bekräftigte Jürgen Osterhammel die ältere These, wonach die Aufklärung kosmopolitisch eingestellt gewesen sei. Es sei zwischen 1750 und 1820 selbstverständlicher als jemals zuvor und danach gewesen, sich über Zustände und Entwicklungen in Übersee zu informieren. Die Aufklärung habe zu einer globalen Konvergenz zwischen den Erfahrungen der Völker geführt. Sie habe ein realitätsnäheres Asien entdeckt, diesen Kontinent wie die übrigen Weltregionen „entzaubert“, die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Zivilisationen und Religionen anerkannt, sowie den Kolonialismus kritisiert.2 Insbesondere könnten die || 1 Vgl. Susan Richter: Pflug und Steuerruder. Zur Verflechtung von Herrschaft und Landwirtschaft in der Aufklärung. Köln, Weimar u. Wien 2015; Dies.: Pater patriae sinensis. The Discovery of Patriarchal Rule in China and Its Significance for German Theories of State in the Eighteenth Century. In: Antje Flüchter u. Dies. (Hg.): Structures on the move. Technologies of Governance in transcultural Encounters. Heidelberg 2012, S. 61–86. 2 Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998, insbesondere S. 18 f., 75, 143 f., 401. https://doi.org/10.1515/9783110735734-007
152 | Damien Tricoire zahlreichen Schriften über China aus dem 18. Jahrhundert als Paradebeispiele eines neugierigen und positiven Blicks auf Asien bar jeder Arroganz gelten.3 Dennoch konzediert Osterhammel, dass die normative Aufladung des Zivilisationsbegriffs im 18. Jahrhundert zunehmend zu einem pauschalen Urteil über Asien als unbeweglicher Kontinent und zu einem Silencing der Asiaten – das heißt zum Verschwinden asiatischer Stimmen aus europäischen Texten – geführt habe.4 Insbesondere China hätten zahlreiche französische Aufklärer im späten 18. Jahrhundert als eine typische orientalische Despotie angesehen, von der man allenfalls wenig, wenn überhaupt, lernen könne. Am Ende des Aufklärungszeitalters seien sich die europäischen Intellektuellen weitgehend darüber einig gewesen, dass das Reich der Mitte in seiner Entwicklung weit hinter Europa zurückgeblieben sei.5 Somit steht das Ende von Osterhammels Erzählung in einer merkwürdigen Spannung zur Hauptthese des Buches, das doch die Aufklärung vor den Orientalismusvorwürfen in den Schutz nehmen will. Denn schließlich scheint die Geschichte der Chinabilder zu zeigen: Gerade das, was die Aufklärung zur Aufklärung machte, nämlich die Vorstellung vom Fortschritt der lumières und der Zivilisation, führte zu einer protoimperialistischen arroganten Geisteshaltung. Das Urteil postkolonialer Autoren über das Zeitalter Voltaires und Kants liest sich nicht wesentlich anders.6 In der Forschung gilt heute als unumstritten, dass sich unter den Intellektuellen des späten 18. Jahrhunderts eine wahrhafte Sinophobie breitmachte, die gewöhnlich als Vorbote der Kanonaden des 19. Jahrhunderts aufgefasst wird. Die Historiker haben zudem herausgearbeitet, dass diese Sinophobie insbesondere in den Schriften von „Radikalen“ wie Diderot und Condorcet sichtbar sei. Die Geschichte der Chinabilder in der Aufklärung wird somit als die eines Übergangs „von der Sinophilie zur Sinophobie“, wie der Titel des Klassikers von René Etiemble lautet, erzählt.7 Diese Entwicklung bedauern die meisten For-
|| 3 Osterhammel: Entzauberung (wie Anm. 2), S. 54, 72, 78, 112 f., 168 f. 4 Ebd., S. 375–401. 5 Ebd., S. 302. 6 Vgl. z.B. Nicholas B. Dirks: Colonialism and Culture. In: Ders. (Hg.): Colonialism and Culture. Ann Arbor 1992, S. 1–25, hier S. 7; Daniel Carey u. Lynn Festa: Introduction. Some Answers to the Question: “What is Postcolonial Enlightenment?” In: Daniel Carey u. Lynn Festa (Hg.): Postcolonial Enlightenment. Eighteenth-century Colonialism and Postcolonial Theory. Oxford 2009, S. 1–33, hier S. 1. 7 René Etiemble: L’Europe chinoise. Bd. 2: De la sinophilie à la sinophobie. Paris 1989, S. 13; Guido Abbattista: At the roots of the „Great divergence“. Europe and China in an Eighteenthcentury Debate. In: Matthias Middell (Hg.): Cultural Transfers, Encounters and Connections in
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scher, und doch können diese auch die spätaufklärerische Asien- und insbesondere Chinakritik mit der klassischen Erzählung von der Aufklärung als Geburtsstunde der Freiheits- und Menschenrechte kombinieren, wie Jonathan Israels Democratic Enlightenment zeigt. Diesem berühmten Kritiker der postkolonialen Studien zufolge sei die zunehmende Chinakritik ein Zeichen der zu begrüßenden Etablierung einer radikalen Aufklärung in Frankreich gewesen. Gerade weil Radikale wie Diderot nicht mehr bereit gewesen seien, despotische Zustände hinzunehmen, sei ihr Chinabild negativ ausgefallen.8 Israel scheint damit zu suggerieren, dass die Aufklärer den wahren – tyrannischen – Charakter der fernöstlichen kaiserlichen Herrschaft erblickt und verurteilt hätten. Jedenfalls wirkt in seinem Buch der Urteilsmaßstab der radikalen Aufklärer ganz und gar modern und steht der heutigen liberaldemokratischen Chinakritik nahe. Jenseits all ihrer Differenzen haben die postkolonialen Studien und die Schriften der Verteidiger von klassischen Aufklärungsbildern eines gemeinsam: Sie suchen im 18. Jahrhundert nach den Ursprüngen moderner Ideologien.9 Somit fügen sie ihre Erzählung in das Meisternarrativ über die Geburt der Moderne in der Aufklärung ein. Erst vor dem Hintergrund dieser normativen Haltung erklärt sich der Sinn der Einteilung aufklärerischer Schriften über China in „sinophil“ oder „sinophob“. Vielen Forschern scheint es um ein (positives oder negatives) Urteil über die Texte des 18. Jahrhunderts zu gehen. Sie suchen deshalb nach Arroganz oder Weltoffenheit, protoimperialistischem Orientalismus oder legitimer Despotiekritik. Dennoch stellt sich die Frage, ob die Geschichte des sich verändernden Chinadiskurses im 18. Jahrhundert sich nicht auch jenseits des Meisternarrativs von der Geburt der Moderne erzählen lässt. Dieser Artikel möchte anhand einiger Schriften des 18. Jahrhunderts an Überlegungen anknüpfen, denen zufolge die Aufklärung als eine polemische Selbstinszenierung von Intellektuellen auf der Grundlage eines bestimmten Geschichtsnarrativs zu betrachten ist.10 Dieser
|| the Global 18th Century. Leipzig 2014, S. 113–162; David Emil Mungello: The Great Encounter of China and the West, 1500–1800. Plymouth 2013, S. 140; Walter W. Davis: China, the Confucian Ideal, and the European Age of Enlightenment. In: Journal of the History of Ideas 44 (1983), S. 523–548. 8 Jonathan Israel: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790. Oxford 2011, S. 558–572. 9 Eine Kritik an dieser Perspektive findet sich jetzt bei Andreas Pečar u. Damien Tricoire: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt a.M. 2015. 10 Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 9), insbesondere S. 11–35.
154 | Damien Tricoire Ansatz stellt die Tendenz der Historiker infrage, die Texte über China in „sinophil“ oder „sinophob“ einzuteilen und somit die Geschichte der Chinabilder im 18. Jahrhundert als einen Übergang von der Sinophilie zur Sinophobie zu schreiben. Zwar fällten aufklärerische Schriften durchaus positive oder negative normative Urteile über China. Rückt man jedoch die Sprecherrollen und Geltungsansprüche der Autoren des 18. Jahrhunderts in den Vordergrund, verkünden die Chinabilder nicht mehr in erster Linie Urteile über das Reich der Mitte, sondern entpuppen sich als diskursive Instrumente in der Polemik um die gesellschaftliche Position der Autoren. Zudem scheinen die Chinabilder weit weniger kohärent, als das Narrativ des Übergangs von Sinophilie zur Sinophobie nahelegen möchte. Schließlich können sie diesem Ansatz zufolge nicht mehr als Vorwegnahmen des Imperialismus beziehungsweise der liberaldemokratischen Werte des 19. und 20. Jahrhunderts betrachtet werden.
1 Mathematiker und Tugendlehrer Unter den Autoren, die im frühen 18. Jahrhundert „sinophile“ Bilder verbreiteten, nimmt Christian Wolff einen herausragenden Platz ein. In der Tat gehört Wolffs Vertreibung aus Halle 1723 – auch – aufgrund seiner Äußerungen über die Moralphilosophie der Chinesen zu den berühmtesten Kapiteln der frühaufklärerischen Geschichte. Die Grundzüge der Geschichte sind wohlbekannt: 1721 hielt der Mathematik- und Philosophieprofessor Wolff eine Rede anlässlich der Übergabe des Prorektorats an seinen Nachfolger, den Theologen Joachim Lange. Darin verteidigte Wolff die These, die alten Chinesen seien aufgrund ihrer praktischen Philosophie tugendhaft gewesen. Diese Moralprinzipien hätten Kaiserphilosophen und ihre Untertanen gleichermaßen geleitet. Ihre Weisheit sei „echt“ gewesen, weil sie „mit der Natur des menschlichen Geistes“ übereingestimmt habe.11 Dabei hätten sie nicht einmal eine diffuse Ahnung von Gott und der natürlichen Religion gehabt, ganz zu schweigen von der Offenbarung. Nur auf der Grundlage ihres Verstandes hätten sie zwischen Gut und Böse unterscheiden können.12 Der Theologe Lange sah darin eine Missachtung der offenbarten Religion. Er zeigte sich empört und agitierte in den folgenden Jahren gegen Wolff. Schließlich gaben die guten Beziehungen August Hermann
|| 11 Christian Wolff: Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Übers., eingel. und hg. v. Michael Albrecht. Hamburg 1985, S. 23. 12 Ebd., S. 21–31.
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Franckes zum preußischen König, Friedrich Wilhelm I., den Ausschlag: Wolff wurde 1723 angewiesen, binnen 48 Stunden Brandenburg-Preußen zu verlassen. Der vertriebene Philosoph gab jedoch den Kampf nicht auf: Als ordentlicher Professor in Marburg berühmt und erfolgreich veröffentlichte er 1726 die Prorektoratsrede. Schließlich konnte er 1740 seine Rehabilitierung in Brandenburg-Preußen erreichen.13 In der Geschichte der Chinabilder erscheint diese Episode als eine Fortsetzung der sinophilen Aussagen Leibniz’, die wiederum auf Schriften von jesuitischen Missionaren zurückgingen. Leibniz hatte im späten 17. Jahrhundert in seinem Werk Novissima Sinica eine Überlegenheit der Chinesen auf dem Gebiet der Ethik und Politik postuliert. Dem Hofbibliothekar des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg zufolge habe Europa viel von den Anhängern der Lehre Konfuzius’ zu lernen, sodass man sich die Entsendung von chinesischen Philosophen nach Europa wünschen sollte. Im Einklang mit dem jesuitischen Konfuzianismusbild sah Leibniz in der Lehre des Kǒng Fūzǐ, des „Lehrmeisters Kong“, keine Religion, sondern nur eine praktische Philosophie. Außerdem folgte er, anders als Pierre Bayle, dem jesuitischen Grundsatz, wonach die Chinesen wie jede Nation auf der Welt Gott in alten Zeiten gekannt hätten. Seitdem sei diese Gottesfurcht in eine nur diffuse Ahnung vom Allmächtigen degeneriert, und so sei es an der Zeit, die offenbarte Religion in den fernen Osten zu tragen. Somit engagierte sich Leibniz in Berlin für die Entsendung protestantischer Missionare nach China.14 Allerdings ist unklar, ob Wolff Leibniz’ Texte über China überhaupt gelesen 15 hat. Zudem fallen die Unterschiede zwischen seinem Chinesenbild und dem des inzwischen verstorbenen ersten Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften auf. Zwar zeichnen beide ihren jesuitischen Quellen folgend das Bild einer bewundernswerten praktischen Philosophie der Chinesen. Allerdings kannten die Chinesen, so der Hallenser, nicht einmal die natürliche Reli-
|| 13 Einleitung von Michael Albrecht zu: Wolff: Rede (wie Anm. 11), S. IL–LII. 14 Einleitung von Michael Albrecht zu: Wolff: Rede (wie Anm. 11), S. XIX–XXII; Tilemann Grimm: China und das Chinabild von Leibniz. In: Udo Wilhelm Bargenda u. Jürgen Blühdorn (Hg.): Systemprinzip und Vielheit der Wissenschaften. Wiesbaden 1969, S. 38–61; David E. Mungello: Leibniz and Confucianism. The Search for an Accord. Honolulu 1977; Davis: China (wie Anm. 7), S. 534 f; Joy Charnley: Near and Far East in the Works of Pierre Bayle. In: The Seventeenth Century 5/2 (1990), S. 173–183, hier S. 176; Anthony Pagden: The Immobility of China. Orientalism and Occidentalism in the Enlightenment. In: Larry Wolff u. Marco Cipolloni (Hg.): The Anthropology of the Enlightenment. Stanford 2007, S. 50–64, hier S. 57. 15 Einleitung von Michael Albrecht zu: Wolff: Rede (wie Anm. 11), S. XXII.
156 | Damien Tricoire gion.16 Auch interessierte sich Wolff nicht für die Entsendung protestantischer Missionare in den Fernen Osten. Schließlich zeugte die chinesische Geschichte in seinen Augen keineswegs von einer ununterbrochenen Tugend der Herrscher und ihrer Untertanen. Vielmehr seien die Herrscher nach einer Frühphase des philosophischen Königtums vom Weg der Tugend abgewichen. Konfuzius habe zwar die alte Lehre wiederhergestellt, aber nicht erreicht, „dass eine gute Regierung und gute Sitten beständig in China blühten“.17 So sei die chinesische Geschichte wie jede andere von „Wechselfällen“ – Bürgerkriegen, Morden, Dynastiewechseln – beherrscht, mit denen Wolff sich jedoch nicht weiter beschäftigte.18 Wolff ging es nicht darum, ein positives Bild von China zu zeichnen. Er schätzte lediglich die Moralphilosophie der alten Chinesen. Dies wird deutlich, wenn man außer der Geschichtsschreibung zu Chinabildern auch den unmittelbaren Kontext von Wolffs Rede und die damit einhergehenden Geltungsansprüche des Autors berücksichtigt. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sieht man in dem Konflikt zwischen Wolff und Lange einen Kampf zwischen Aufklärung und religiöser Dogmatik.19 Zwar wurde in den letzten Jahrzehnten der Pietismus selbst oft als Teil der Aufklärung angesehen,20 doch die Vorstellung eines ideologischen Kampfes zwischen Wolff und Lange blieb bestehen. Dennoch lässt sich Wolffs provokatives Verhalten auch in der langen Tradition der universitätsinternen Machtkämpfe verstehen.21 Als Mitglied der philosophischen Fakultät stand Wolff im unteren Spektrum der Universitätshierarchie, obwohl seine Lehrveranstaltungen zahlreiche Studenten anzogen. Wie der in der Forschung kaum beachtete Schluss seiner Rede klarmacht, lag es Wolff bei der Übergabe des Prorektorats am Herzen, seine umstrittene universitätspolitische || 16 Ebd., S. 27. 17 Ebd., S. 19. 18 Ebd. 19 Heinrich Wuttke: Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung. Leipzig 1841, S. 14; Eduard Zeller: Wolffs Vertreibung aus Halle. Der Kampf des Pietismus mit der Philosophie. In: Vorträge und Abhandlungen geschichtlichen Inhalts. Leipzig 1865, S. 47–72; Carl Hinrichs: Preußen als historisches Problem. In: Gerhard Oestreich (Hg.): Carl Hinrichs: Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen. Berlin 1964, S. 15–38; Andreas Pečar, Holger Zaunstöck u. Thomas Müller-Bahlke (Hg.): Die Causa Christian Wolff. Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe. Halle (Saale) 2015. 20 Ian Hunter: Multiple Enlightenments: Rival Aufklärer at the University of Halle, 1690–1730. In: Martin Fitzpatrick, Christa Knellwolf u. Iain McCalman (Hg.): The Enlightenment Worlds. London 2004, S. 576–595. 21 Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, S. 191–205.
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Bilanz anhand einer Tugendlehre zu verteidigen. Wolff erachtete es scheinbar für nötig, sich in der Universitätsöffentlichkeit als so tugendhaft wie die alten Chinesen darzustellen, um zu behaupten, er könne unmöglich Tadelnswertes gemacht haben, so sehr missbilligte er das Laster: „Ich habe Ihnen, geehrte Zuhörer, die Grundsätze der Weisheit der ältesten Chinesen dargestellt; daß sie mit den meinigen übereinstimmen, habe ich sowohl an anderer Stelle öffentlich bekannt als auch vor dieser erlauchter Festversammlung annähernd gezeigt. Dieser Grundsätze habe ich mich auch im Amt des Prorektorats [...] als Leitstern bedient, soweit es möglich war [...]. Warum wäre es also nicht möglich, daß ich diejenigen meiner Handlungen, die einige mißbilligen, selbst mißbillige! Es ist aber auch nicht so, daß mich meine Regierung reuen würde [...].“22
In der Tat glaubte Wolff, Gründe für die Genugtuung zu haben: Der Universität sei unter seiner tugendhaften Regierung „Glück“ widerfahren, wie der Prorektor bei seinem Abschied betonte. Dies habe sich in einer Vermehrung der Studentenzahlen gezeigt, die Wolff als eine besondere Gnade Gottes für sich persönlich auffasste.23 Die alten Chinesen dienten somit dem Mathematik- und Philosophieprofessor dazu, um sich als ein von Gott und Natur auserwählter Tugendlehrer der Universität zu profilieren. Der Hallenser scheute nicht davor zurück, sich als einen Menschen darzustellen, der bereits „als ganz junger Mann“ „von Natur aus eine Zuneigung zur Glückseligkeit des Menschengeschlechts“ gehabt und in diesen jungen Jahren „nicht ganz ohne Geschick“ über „moralische Dinge“ sorgfältig nachgedacht habe.24 Als reifer Mann habe er diese Sache mit noch „größere[m] Scharfsinn untersucht“.25 Erst daraufhin habe er Parallelen zwischen seiner Philosophie und den chinesischen Schriften entdeckt, so dass er als Einziger imstande sei, diese richtig zu verstehen.26 Geht man vom Geltungsanspruch des Autors aus, wird nachvollziehbar, aus welchen Elementen sich Wolffs Bild von China, Konfuzius und der praktischen Philosophie zusammensetzte. Erstens scheint Wolff Parallelen zwischen sich und Konfuzius zu suggerieren. So wie Wolff seinen Verdienst darin sah, dass er viele Studenten nach Halle anzog, so schaffte es auch Konfuzius, zahlreiche Schüler um sich zu versam-
|| 22 Wolff: Rede (wie Anm. 11), S. 65–67. 23 Ebd., S. 67. 24 Ebd., S. 47. 25 Ebd., S. 49. 26 Ebd., S. 47–51.
158 | Damien Tricoire meln.27 So wie Wolff als Prorektor dank der göttlichen Gnade die Tugend walten ließ, ohne all seine Kollegen moralisch verbessern zu können, schenkte die göttliche Vorsehung dem fernöstlichen Reich Konfuzius als Tugendlehrer, ohne dass dieser seine Zeitgenossen in tugendhafte Menschen verwandelt hätte.28 In einem besonders provokativen Satz behauptet Wolff, Konfuzius bedeute den Chinesen soviel wie Moses den Juden, Mohammed den Muslimen und „sogar genau soviel wie Christus uns gilt, sofern wir ihn als Propheten oder Lehrer, der uns von Gott gegeben worden ist, verehren“.29 Dabei habe Konfuzius keine neue Ethik erfunden, sondern nur dank seinem Verstand die universal geltenden moralischen Prinzipien in einer eher konfusen Weise formuliert. Der Hallenser Professor beanspruchte dagegen für sich, als Erster diese immerwährenden Prinzipien der Moral in aller Klarheit dargestellt und somit den alten Meister bei all seiner herausragenden historischen Bedeutung für die Chinesen übertroffen zu haben.30 Zweitens benutzte Wolff das Bild Chinas dazu, die praktische Philosophie – und nicht die Theologie – als die eigentliche Lehrmeisterin der Tugend und als das einzig wichtige universitäre Fach überhaupt darzustellen. Dies machen Wolffs Ausführungen zum alten chinesischen Schulsystem klar. Dem Hallenser Professor zufolge hätten die alten Chinesen zwei Typen von Lehranstalten zur „Ausbildung der Sitten“ gehabt: eine niedere Schule für Kinder bis 15 Jahre, die durch Angsteinflößen den Zöglingen die Ehrfurcht vor den Eltern, den Alten und den Herren beibrachte; und eine Schule für Erwachsene, in der man „die Gründe der Dinge offenbart[e] und heilsame Regeln vermittelt[e], wie man sowohl sich als auch andere beherrschen kann“.31 Gerade weil die Erwachsenen es gelernt hätten, dank der praktischen Philosophie „dasjenige, wonach sie streben sollten, gut zu verstehen“, hätten sie es durch eigene Taten umsetzen können – und nicht weil sie sich wie Kinder vor einer Strafe im Dies- oder Jenseits gefürchtet hätten.32 Implizit stellt Wolff die Theologie als eine Lehre für Kinder dar, während seine Lehrveranstaltungen eine Schule der Tugend für Erwachsene seien. Das Bild eines tugendhaften alten Chinas diente Wolff dabei als erfolgreiche Bewährungsprobe für sein Projekt einer allgemeinen sittlichen Erneuerung unter dem Zeichen seiner praktischen Philosophie: Weil die alten
|| 27 Ebd., S. 19. 28 Ebd., S. 17. 29 Ebd., S. 19. 30 Ebd., S. 47–51. 31 Ebd., S. 39–41 (Zitat: S. 41). 32 Ebd., S. 39–43.
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Chinesen die „Einrichtung ihrer Studien“ auf den einzigen Zweck der Verbreitung der Tugend auf der Grundlage einer ähnlichen, wenn auch unklar formulierten praktischen Philosophie gerichtet hätten, strebten sie erfolgreich nach Tugend und kannten die Glückseligkeit.33 Drittens macht Wolff in der Vorrede zum 1726 veröffentlichten Text klar, dass man nur durch ein jahrelanges Studium der Mathematik imstande sei, die Prinzipien der praktischen Philosophie zu ergründen. Dies habe er bereits „in früher Jugend“ aufgrund seiner „Begierde [...], die Wahrheit auf einleuchtende Weise zu erkennen“, eingesehen, und deshalb die „Methode, derer sich die Mathematiker bedienen, genauer [erforscht] und diese Methode auf die philosophische Disziplin [übertragen]“.34 Zum Glück sei er „von der göttlichen Vorsehung dazu bestimmt“ gewesen, Mathematik zu lehren, und so habe er begonnen, „die gesamte Philosophie zu bearbeiten“.35 Das Ergebnis dieser Anstrengung sei die Überzeugung, „daß der erste Grundsatz nicht nur des Naturrechts, sondern auch der Anständigkeit selbst, die Ausrichtung der menschlichen Handlungen auf die Vollkommenheit des Mikrokosmos, folglich auch auf die des Makrokosmos selbst ist“.36 Mit der Behauptung, der Mathematiker sei der beste Philosoph, korrelieren Aussagen in den Fußnoten, wonach Konfuzius nur eine unvollendete Methode gehabt habe, um die Prinzipien der moralischen Philosophie zu entdecken. Zwar hebt Wolff auch in den Fußnoten hervor, die alten chinesischen Bücher zeigten, dass „alle Einzelheiten“, die [er] behauptet habe, „durch Versuche“ bestätigt worden seien.37 Doch zugleich hätten die alten Chinesen ihre Tugendlehre eben nur aus historischen und zeitgenössischen Erfahrungen gezogen. Wolff betonte dagegen, dass die Erkenntnis a priori – das heißt seine „mathematische“ Methode – der „erprobenden Methode des Konfuzius“ überlegen sei.38 Dieser Überlegenheitsanspruch zugunsten der eigenen Methode scheint nicht primär gegen die Theologen gerichtet gewesen zu sein. Vermutlich wandte sich der Mathematikprofessor in seiner Veröffentlichung gegen die empirisch arbeitenden Gelehrten, die gegen die neuscholastische Metaphysik Leibniz’ und seines Schülers Wolff kämpften. Mit dieser Kritik war Wolff sehr gut vertraut, hatte doch Christian Thomasius, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der
|| 33 Ebd., S. 43–45. 34 Ebd., S. 5. 35 Ebd., S. 7. 36 Ebd., S. 7. 37 Ebd., S. 227, 105, 107. 38 Ebd., S. 189, 251.
160 | Damien Tricoire Friedrichsuniversität,39 wiederholt seine „mathematische Methode“ in der Philosophie angegriffen.40 Wolff ließ also 1726 die Gelegenheit nicht aus, die alten Chinesen dazu zu benutzen, um auf alten hallischen Haupt- und Nebenkriegsschauplätzen weitere Kämpfe auszutragen. Von einer Sinophilie Wolffs zu sprechen, wäre unzutreffend, da niemals das Verhältnis zu China Gegenstand seines Interesses war und er nur für das alte China lobende Worte fand.
2 Der adlige Richter und die Monarchie Mitten im angeblich sinophilen 18. Jahrhundert erscheint die Chinakritik in Montesquieus De l’Esprit des lois (1748) wie eine Ausnahme.41 Etiemble hat dagegen zu Recht darauf hingewiesen, dass Montesquieus Chinabild widersprüchlich war. Um die Jesuiten anzugreifen und seine eigene Klassifizierung des politischen Systems zu erhalten, habe Montesquieu China als Tyrannei eingestuft. Doch zugleich habe er viele Aspekte der chinesischen Gesellschaft gelobt, so dass er dieses fernöstliche Reich an manchen Stellen eher wie eine Mischung aus wohlgeordneter Monarchie und Republik darstelle.42 In der Tat stimmen bei näherer Betrachtung viele Aussagen des Barons und Richters aus Bordeaux mit denen Wolffs überein. Auch Montesquieu hält am Mythos fest, dem zufolge das alte China von weisen Gesetzen und tugendhaften Kaisern regiert worden sei, was Stabilität, sozialen Frieden und Fleiß begründet und eine übermäßige Suche nach Luxus verhindert habe.43 So wie beim hallischen Professor liest man auch bei Montesquieu von chinesischen Lehrern, die dem Volk erfolgreich Tugend eingeprägt hätten und sogar noch heute einprägten.44 Der Unterschied zwischen Wolff und Montesquieu erscheint noch kleiner, || 39 Zur Gründung und Anfangszeit der Friedrichsuniversität in Halle und der Rolle Thomasius’: Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680– 1713). Berlin 2014; ferner Marianne Taatz-Jacobi u. Andreas Pečar: Die Universität Halle und der Berliner Hof. Eine höfisch-akademische Beziehungsgeschichte, Stuttgart 2021, Kap. 2.1. 40 Einleitung von Michael Albrecht zu: Wolff: Rede (wie Anm. 11), S. LXXII–LXXIII; Hunter: Multiple Enlightenments (wie Anm. 20), S. 576–595, hier S. 586 f. 41 Abbattista: At the roots (wie Anm. 7), S. 123 f. 42 Etiemble: L’Europe chinoise (wie Anm. 7), S. 50–72. Vgl. auch den Beitrag von Volker Bauer in diesem Band. 43 Charles Louis de Secondat de Montesquieu: De l’Esprit des lois. Paris 1995, Bd. 1, 240–242 (Buch VII, Kap. 6). 44 Montesquieu: De l’Esprit des lois (wie Anm. 43), S. 576 (Buch XIX, Kap. 13).
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wenn man bedenkt, dass Wolffs Bild der chinesischen Geschichte keineswegs eindeutig positiv war. Er hat niemals bestritten, dass die „jüngere“ chinesische Geschichte von zahlreichen politischen „Wechselfällen“ geprägt gewesen sei. Wenn also Montesquieu auf die Gründe für den moralischen und politischen Niedergang des fernöstlichen Reichs eingeht, geschieht dies nicht im Widerspruch zum wolff’schen Lob für die praktische Philosophie der alten Chinesen. Dennoch dominiert in Montesquieus Text das Urteil, China sei eine Despotie. Montesquieu legt dar, dass trotz des in seinen Augen warmen Klimas die alten Chinesen nicht wie alle anderen Asiaten eine Tyrannei errichtet hätten. Später sei das fernöstliche Reich doch zu einer Despotie verkommen, wenn auch zu einer „gezähmten“, die sinnvolle Gesetze aufweise und wo das Volk höflich und friedlich sei.45 Montesquieu interessiert sich im Gegensatz zu Wolff dabei nicht für die praktische Philosophie der alten Chinesen, sondern für den Einklang zwischen Gesetzen und „natürlichen“ Gegebenheiten. Ihm zufolge habe der Luxus die Sprösslinge von männlich gesinnten und republikanischtugendhaften Begründern von Dynastien stets nach einigen Generationen korrumpiert und verweichlicht.46 Auch habe das warme Klima, das die Bewohner ihrer männlichen Tatkraft beraubt habe, die Chinesen gegen die Einfälle der in der Kälte lebenden Tataren ohnmächtig gemacht.47 Zudem hätten sich aufgrund der Hungersnöte immer wieder kriminelle Banden gebildet, die dann den Thron erobert hätten.48 Schließlich habe die übertriebene Vergrößerung des Reichs, die von der physischen Geographie Asiens begünstigt worden sei, den Despotismus als Regierungsform unumgänglich gemacht.49 Offensichtlich war Montesquieu bei all diesen Erklärungen bestrebt, sein Bild eines auf natürlichen Ursachen beruhenden Despotismus, der ganz Asien beherrsche,50 trotz des jesuitischen Chinalobs zu erhalten. Denn ohne den Topos der asiatischen Despotie funktionierte die Hauptthese des gesamten Werkes nicht. Im Zentrum von De l’Esprit des lois stand in der Tat die Gegenüberstellung zwischen Europa und Asien, die der Gegenüberstellung zwischen unterschiedlichen Staatsformen entsprach: den drei moderaten Staatsformen Monarchie, Aristokratie, Republik und einer korrupten, der Despotie. Nur Letztere sei durch || 45 Zur „gezähmten“ Despotie: Montesquieu: De l’Esprit des lois (wie Anm. 43), S. 269, 282°f. (Buch VIII, Kap. 10 und 21), S. 412°f. (Buch XII, Kap. 29), S. 452 (Buch XIV, Kap. 5), S. 532 f. (Buch XVIII, Kap. 6), S. 567, 579°f. (Buch XIX, Kap. 4 und 16). 46 Ebd., S. 242 f. (Buch VII, Kap. 7). 47 Ebd., S. 517–524 (Buch XVII, Kap. 3–5). 48 Ebd., S. 283 (Buch VIII, Kap. 21). 49 Ebd., S. 280 (Buch VIII, Kap. 19), S. 321 (Buch X, Kap. 16), S. 524 f. (Buch XVII, Kap. 7). 50 Ebd., S. 180 (Buch V, Kap. 14).
162 | Damien Tricoire das Klima (qua-si-)determiniert, während den Bewohnern der gemäßigten Klimazonen wie Europa grundsätzlich die Wahl zwischen den moderaten Regierungsweisen offenstünde. Im Umkehrschluss hieß das, dass eine Tyrannei in Europa nicht gerechtfertigt werden könne. Insbesondere kontrastiert Montesquieu die Monarchie mit der Despotie, indem er sie nicht wie in der aristotelischen Tradition als Herrschaft eines Einzelnen, sondern im Gegenteil als eine Staatsform mit „pouvoirs intermédiaires“ definiert.51 Diese „Zwischengewalten“ seien notwendig, damit die Monarchie nicht zur Tyrannei verkomme, so Montesquieu.52 An welche sozialen oder politischen Institutionen mochte Montesquieu wohl denken, wenn er von „Zwischengewalten“ sprach? Ohne Zweifel an die Macht des Adels, seines Standes. Dies suggeriert unter anderem seine Aussage, wonach die „Gothen, als sie das Römische Reich eroberten, überall die Monarchie und die Freiheit begründeten“53 – ein Satz, der sich auf Boulainvilliers stützt. Spätestens seit Boulainvilliers Histoire de l’ancien gouvernement de la France (1727) war die Ansicht in der adligen Elite Frankreichs fest etabliert, wonach die mannhaften fränkischen Eroberer ein „freies“ Königreich errichtet hätten. Ein Ausdruck dieser Freiheit seien die Generalstände gewesen, in denen Boulainvilliers die alten „parlements“ Frankreichs sah. Doch die späteren französischen Könige hätten die Freiheit der Nachkommen der Franken, das heißt des französischen Adels, beschnitten und die Tyrannei eingeführt.54 Dabei zeigt Montesquieus Definition der Zwischengewalten, dass er, der ehemalige Präsident des parlement von Bordeaux, nicht an quasimythische Parlamente dachte, sondern ganz konkret an die parlements, die obersten Gerichtshöfe, die in seiner Zeit eine herausragende politische Rolle spielten: Ihm zufolge sei es in der Tat die Hauptaufgabe der Zwischengewalten, die Gesetze zu „wahren“.55 Genau diese Funktion beanspruchten die parlements für sich. Sie nahmen sich das Recht, neue Gesetze immer dann nicht in ihr Register zu übernehmen, wenn sie in ihren Augen nicht mit den „aufbewahrten“ alten Gesetzen des Königreichs übereinstimmten. Montesquieus Chinadarstellung stand also in einem direkten Zusammenhang mit den andauernden Konflikten zwischen der französischen Monarchie || 51 Ebd., S. 108–111 (Buch II, Kap. 4). 52 Zur Kohärenz zwischen den Kernaussagen Montesquieus siehe auch Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 9), S. 116–121. 53 Montesquieu: De l’Esprit des lois (wie Anm. 43), S. 523 (Buch XVII, Kap. 5). 54 Henri de Boulainvilliers: Histoire de l’ancien gouvernement de la France. Avec XIV lettres historiques sur les Parlements ou États-Généraux. La Haye 1727. 55 Montesquieu: De l’Esprit des lois (wie Anm. 43), S. 111 (Buch II, Kap. 4).
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und den parlementaires. Im 18. Jahrhundert stritten beide Seiten vor allem um die richtige Politik gegenüber dem Jansenismus, den die Richter gegen die Einmischungen aus Rom verteidigten.56 Dass Montesquieu bei allem Lob für das alte China das zeitgenössische fernöstliche Reich als eine Despotie darstellte, die nur wenig besser sei als der Rest von Asien, hatte also wenig mit seiner vermeintlichen Sinophobie, dafür viel mit den Ansprüchen seines Stands zu tun.57
3 Antikatholische Polemik Nicht nur der Konflikt zwischen Jansenisten- und Jesuitenanhängern, sondern auch die grundsätzliche Feindschaft von Protestanten wie mancher philosophes gegen die katholische Kirche animierten Mitte des 18. Jahrhunderts zur Produktion sowohl von chinafreundlichen als auch von chinakritischen Schriften. Am bekanntesten dürfte der Fall Voltaires sein, für den die Aufwertung der orientalischen Zivilisationen unschätzbare Munition im Kampf gegen „l’infâme“ – die katholische Kirche – lieferte. Ihm zufolge waren die Chinesen Deisten, die eine ideale Religion besaßen. Ihre guten Sitten kämen von den natürlichen Prinzipien ihres unverfälschten Glaubens an das Höchste Wesen.58 Voltaire verwendete zudem in seiner Geschichtsschreibung viel Energie darauf, die christliche Universalgeschichte des längst verstorbenen Hofpredigers Ludwigs XIV., Jacques-Bénigne Bossuets, zu demontieren. Der französische philosophe wollte dementsprechend in seiner Philosophie der Geschichte nach dem Abt Bazin (1765) zeigen, dass das alte Israel keineswegs eine Wiege der Menschheit und ihrer Weisheit war, und fand Argumente in Wolffs „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“. Die chinesischen Kalender, die bis auf die Zeit vor der Sintflut zurückgingen, die Kunde von der ausgezeichneten Tugend der alten Chinesen und ihr fehlender Glaube an personalisierte Gottheiten waren willkommenes Futter für seine Polemik. Voltaire konnte sich somit als derjenige in
|| 56 Dale Van Kley: Church, State, and the Ideological Origins of the French Revolution. The Debate over the General Assembly of the Gallican Clergy in 1765. In: Journal of Modern History 51/4 (1979), S. 629–665. 57 Erstaunlicherweise bleibt diese Funktion des Werks, die in unseren Augen die Architektur des Werks weitgehend bedingt, in der ideen- und philosophiehistorischen Forschung unerwähnt. Siehe z.B. Catherine Volpilhac-Auger u. Luigi Delia: (Re)lire L’Esprit des lois. Paris 2014. Dazu: Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 9), S. 116 –121. 58 Etiemble: L’Europe chinoise (wie Anm. 7), S. 253, 294–306; Davis: China (wie Anm. 7), S. 541, 543 f.
164 | Damien Tricoire Szene setzen, der die universale, einfache und vernünftige Lehre sowohl gegen den „Aberglauben“ der „Sekten“ als auch gegen Atheisten verteidigte.59 Dafür nahm der französische Deist in Kauf, dass diese Bilder von jesuitischen Missionaren stammten, gegen die er eigentlich auch den Kampf führte. Manche protestantischen Autoren wählten zur gleichen Zeit wie Voltaire einen anderen Weg, da für sie nicht der Angriff auf die offenbarte Religion und die Heilsgeschichte auf der Tagesordnung stand, sondern die Untergrabung der Legitimität einzig der katholischen Missionare. Die englischen Autoren einer Universalgeschichte mit dem Titel The Modern Part of an Universal History from the Earliest Account of Time (1759) bemühten sich sehr, ein Bild Chinas zu zeichnen, das dem jesuitischen entgegengesetzt war.60 Diese antijesuitische Strategie ist auch in dem Buch zu sehen, das der Historiographie zufolge die Wende zur Sinophobie einleitete: Cornelius de Pauws Recherches philosophiques sur les Égyptiens et les Chinois (1773). De Pauw war ein aus Amsterdam stammender Domherr Xantens, der zeitweise als Hofbibliothekar im Dienst Friedrichs II. stand. Er hatte sich bereits einige Jahre zuvor einen Namen mit der Schrift Recherches philosophiques sur les Américains gemacht, die die Eingeborenen Amerikas auf der Grundlage der Klimatheorie zu degenerierten, impotenten und verweiblichten Menschen erklärte. Dabei ging es De Pauw unter anderem darum, den Ruhm, den sich die Spanier bei der Eroberung Amerikas erworben hatten, zu schmälern und die Iberer der Lüge zu bezichtigen.61 Einen ähnlichen äußerst aggressiven Ansatz wählte De Pauw in seinem Vergleich zwischen den alten Ägyptern und den Chinesen. Der Niederländer wertete mit Invektiven alles ab, was an China gepriesen worden war. Gerade das hohe Alter ihrer Zivilisation, ihre alte Tugend und Philosophie hielt seinem prüfenden Blick nicht stand. Dabei polemisierte er nicht nur gegen die Jesuiten, sondern auch unmittelbar gegen Voltaire.62 Der Domherr und ehemalige preußische Bibliothekar reklamierte dabei für sich eine andere „philosophische“ Rolle und pflegte einen anderen „philosophischen“ Stil als Voltaire. De Pauw kündigte an, kein „ouvrag[e] de pur amusement“ mit einigen gut formulierten Sätzen zu schreiben, die den Erfolg des || 59 Voltaire: La Philosophie de l’histoire, par feu l’abbé Bazin. Amsterdam [eigentlich: Genêve] 1765, S. 101–109. Zur Verwendung chinesischer Kalender bei Voltaire siehe auch Etiemble: L’Europe chinoise (wie Anm. 7), 220–246. 60 Abbattista: At the roots (wie Anm. 7), S. 137–139. 61 Cornelius De Pauw: Recherches philosophiques sur les Américains ou Mémoires intéressants pour servir à l’histoire de l’espèce humaine. Berlin 1768. 62 Cornelius De Pauw: Recherches philosophiques sur les Égyptiens et les Chinois. Bd. 1. Berlin 1773, S. V, VIII, 7.
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Buchs ausmachten – was man durchaus als Spitze gegen den König der französischen philosophes verstehen konnte –, sondern eine „discussio[n] philosophiqu[e]“, die der langen Kette der Ursachen auf den Grund gehe.63 Um die Sitten der Nationen methodisch zu untersuchen, solle man erst solide Einblicke in den Zustand der Bevölkerung, die Fläche des bebauten Landes und die Natur des Klimas gewinnen. Dann könne man die Ernährungsweise, die Ressourcen und die wirtschaftlichen Erzeugnisse des Volkes betrachten. Erst wenn dies alles mit größter Präzision niedergeschrieben sei, dürfe man sich an das Studium der Religion und der Regierungsweise des Volkes herantrauen.64 De Pauws Kritik an seinen Vorgängern in der Gelehrtenrepublik machte dabei klar, dass er für sich beanspruchte, bei der Darstellung der Chinesen als Erster dieser wissenschaftlichen Methode gefolgt zu sein.
4 Philosoph in königlichem Dienste Trotz dieser verbalen Aggressivität gegen China ist die Frage angebracht, ob man wirklich von einer Wende von der Sinophilie zur Sinophobie sprechen kann, die De Pauw eingeleitet habe. Selbst wenn man die Tatsache beiseite lässt, dass diese Kategorien kaum zu einem besseren Verständnis der aufklärerischen Schriften führen, und wenn man davon absieht, dass die Chinabilder vor De Pauw keineswegs einheitlich positiv gewesen sind, muss man feststellen, dass die Schrift des Xantener Domherren keinen Wendepunkt darstellte. Im Gegenteil verschrieben sich manche seiner Zeitgenossen, weit davon entfernt, ein negatives Chinabild zu pflegen, sogar viel deutlicher als Wolff und Voltaire dem Lob Chinas. Diese neue Chinapanegyrik hatte mit dem Aufkommen neuer Ansprüche zu tun, die französische königliche Verwalter formulierten: die sogenannten Physiokraten, die die Idee verteidigten, Staaten sollten sich nach der natürlichen Ordnung richten, und behaupteten zu wissen, wie das geht.65 Weder Wolff noch Voltaire hatten mit ihren Chinabildern einen Anspruch formuliert, politische Macht auszuüben. Der hallische Professor strebte vor allem eine Förderung seiner akademischen Karriere an; der französische Deist wollte sicherlich als Orakel der Nation an die Stelle des Klerus treten. Weil sie sich aus || 63 Ebd., S. IV. 64 Ebd., S. III–IV. 65 Eugène Daire: Physiocrates: Quesnay, Dupont de Nemours, Mercier de La Rivière, l’abbé Baudeau, Le Trosne. Avec une introduction sur la doctrine des physiocrates, des commentaires et des notices historiques. Paris 1848.
166 | Damien Tricoire diesen Gründen vor allem für Moralphilosophie beziehungsweise für Religion interessierten, spielte in ihren Texten das zeitgenössische China eine nur untergeordnete Rolle. Die Physiokraten dagegen wandten ihre Aufmerksamkeit China zu, um Beispiele einer guten Regierung, wie sie sie sich vorstellten, dem Publikum vor Augen zu führen.66 Pierre Poivre verfolgte diese Zielrichtung, indem er die Bedeutung der empirischen Erkundung des fernöstlichen Reiches betonte. Poivre machte Karriere als Kolonialverwalter und wurde 1766 zum Intendanten der Maskarenen ernannt. Bereits davor hatte er sich bemüht, unter dem Schirm der französischen Compagnie des Indes Gewürzplantagen auf der Île de France (dem heutigen Mauritius) aufzubauen. Poivre gelang es unter anderem, einige Muskatnussbäume auf die Île de France zu bringen, doch die Pflanzen starben bald.67 Der Physiokrat erlangte außerdem als Autor von Voyages d’un philosophe (1768) einigen Ruhm. Dieses Buch war kein gewöhnlicher Reisebericht. Bereits der Titel suggerierte, dass Poivre als philosophe gereist war, also nicht für Geschäfte, nicht im Dienst einer Organisation und nicht für die eigene Belustigung, sondern als ein nach Wahrheit Suchender. Dass er als katholischer Missionar nach Kanton und Macao gekommen war und danach vor allem als Geschäftsmann und Agent für die Compagnie des Indes sein Glück versuchte,68 erwähnt Poivre nicht. Dabei war sein Interesse für die Botanik und die Landwirtschaft weitgehend kommerzieller Natur.69 Seine Reisen präsentiert der Kolonialverwalter dennoch als Forschungsreisen, dessen Ziel es gewesen sei, sich einen Begriff vom Zivilisationsgrad und der Glückseligkeit der Völker anhand des Zustands ihrer Landwirtschaft zu machen. Denn für Poivre wie für zahlreiche andere Physiokraten stand fest: Ein Blick auf die Felder, Wiesen und Märkte eines Landes genüge, um zu wissen, ob seine „Bewohner wohl zivilisiert und glücklich“, ihre „Sitten“ „sanft“ und ihre Regierung „mit den Prinzipien der Vernunft konform“ seien oder ob dieses Volk im Gegenteil „unglücklich, wild und versklavt“ sei.70
|| 66 Etiemble: L’Europe chinoise (wie Anm. 7), S. 322–333; Davis: China (wie Anm. 7), S. 539 f.; Pagden: The Immobility of China (wie Anm. 14), S. 50–64, hier S. 58. 67 Die Poivre freundlich gesinnte Forschung schreibt diesen Misserfolg dem Apotheker Aublet zu, der sich um die Pflanzen kümmerte: Louis Malleret: Pierre Poivre. Paris 1974, S. 207–213. 68 Ebd., S. 7–222. 69 Ebd., S. 91–116. 70 Pierre Poivre: Voyages d’un philosophe. In: Œuvres complètes de Pierre Poivre [...]. Paris 1797, S. 73–198, hier S. 73 f.
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Dieses retrospektiv festgesetzte Forschungsprogramm animierte Poivre dazu, sich als ein Empiriker zu inszenieren, der die Lage vor Ort systematisch analysiere, wie am Anfang seines Berichts über China gut zu sehen ist: „Ich komme in Kanton an; ein neues Schauspiel bietet sich meinen Augen: [...] Land wie Wasser sind von einer Vielzahl von Menschen bedeckt. Von einer solchen Menge überrascht, frage ich nach der Einwohnerzahl von Kanton nach. [...] Meine Überraschung wächst noch, als ich erfahre, dass fünf Meilen nördlich von Kanton ein Dorf namens Fachan eine Million Einwohner umfasst [...]. Mit welchen Methoden kann der Boden für die Ernährung einer so zahlreichen Bevölkerung sorgen? [...] Um mich von meiner Unsicherheit zu befreien, laufe ich durch das Land, gehe in die Häuser von Bauern hinein [...]. Ich untersuche, ich folge aufmerksam ihren Handlungen [...].“71
Poivre schreibt in der Ich-Form und lässt den Leser ihm auf seiner Forschungsreise gleichsam auf Schritt und Tritt folgen. Was ihn nach Kanton brachte, welche Aufgaben er dort zu erledigen hatte, erfährt der Leser dagegen nicht. Nach dieser Selbstinszenierung geht Poivre zu einer allgemeinen Beschreibung der chinesischen Gesellschaft über. Er zeichnet das Bild eines Landes, das vollkommen auf die Maximierung der ernährenden landwirtschaftlichen Produktion ausgerichtet ist. Die Chinesen verzichteten auf Pferde, die nur Futter wegnähmen, und auf Weinreben, da man an deren Stelle doch Reis anbauen könne. Sie seien das arbeitsamste Volk der Welt, da sie stets darauf achteten, Nahrungsmittel zu produzieren.72 Nachdem er zu dem Schluss gekommen ist, dass China die blühendste Nation der Erde ist, verrät Poivre den Grund für den chinesischen Wohlstand: Dieses Reich schulde sein Glück vor allem „seiner Regierungsweise, deren tiefe und unerschütterliche Grundlagen von der Vernunft zugleich mit denen der Welt festgesetzt worden [seien]“.73 Die chinesischen Gesetze seien diejenigen, die „die Natur den ersten Menschen diktiert [habe]“, und die „seit dem ersten Zeitalter der Menschheit von Generation zu Generation in den Herzen eines so zahlreichen Volkes“ bewahrt worden seien.74 Dieses Prinzip sei eine paternalistische Herrschaft, die unter dem väterlichen Auge des Königs keine Standesunterschiede zulasse – mit Ausnahme jener, die der Verdienst mit sich bringe. Von diesem Prinzip rührten das moralische Pflichtbewusstsein, alle menschliche Tugenden, die Union aller Herzen zum
|| 71 Ebd., S. 170 f. 72 Ebd., S. 175–181. 73 Ebd., S. 181 f. 74 Ebd.
168 | Damien Tricoire Glück der Republik und folglich die Liebe zur Arbeit und vor allem zur Landwirtschaft her.75 Die Chinabilder dienten also dem Kolonialverwalter Poivre dazu, seine Prinzipien und sich selbst der Regierung des Königs anzuempfehlen. Dafür trat er als reisender Philosoph, erfahrener Kenner der Landwirtschaft und Analytiker der guten Regierungsweise auf, der durchaus imstande sei, die gute paternalistische Regierung des Königs von Frankreich zu unterstützen und den Wohlstand zu mehren. Indem er für sich beanspruchte, die Naturgesetze erkundet zu haben, und das fernöstliche Reich als ein Musterland beschrieb, das diese Gesetze anwende, reklamierte er für sich, die einzig effizienten und sogar möglichen politischen Rezepte zu kennen.
5 Der unvergleichliche Beitrag der Genies Parallel zur Überhöhung Chinas durch physiokratische Autoren wie Poivre entwickelten manche französischen Intellektuellen, unter ihnen Denis Diderot, einen chinakritischen Diskurs. Wie oben erwähnt, ist diese Chinakritik in der Forschung als Triumph der Sinophobie und als ein Zeichen des Aufkommens eines liberaldemokratischen Bewusstseins interpretiert worden. Dabei betonen Historiker den Einfluss von De Pauws Recherches sur les Égyptiens et les Chinois.76 Doch ein näherer Blick auf Diderots Werk lädt zur Vorsicht ein: Es war keineswegs die Rezeption von De Pauws aggressivem Buch, das den Franzosen dazu brachte, sich abwertend über China zu äußern, sondern sein eigener Anspruch, der Herold einer „modernen Philosophie“ zu sein. Dies wird in den Bänden der Encyclopédie deutlich, die wesentlich früher als die Recherches sur les Égyptiens et les Chinois verfasst worden sind. In der Encyclopédie präsentierte Diderot sich und seine Koautoren als Avantgarde des Fortschritts, deren Aufgabe es sei, die zurückbleibenden Menschen an das eigene Niveau heranzuholen. Insbesondere galten ihm die in seinen Augen unübertrefflichen Leistungen der Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts als Beweis dafür, dass die fortschrittlichsten seiner Zeitgenossen – zu denen er sich zweifellos zählte – die antiken Autoren überragt hätten.77
|| 75 Ebd., S. 183 f. 76 Abbattista: At the roots (wie Anm. 7), S. 134 f., S. 148–151. 77 Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 9), S. 41–44.
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Im Artikel „Chinois“, den er im dritten Band und somit bereits 1753 veröffentlichte, erkannte Diderot genauso wie Wolff die Leistungen der alten Chinesen auf dem Gebiet der Philosophie an. Der Pariser war insbesondere davon beeindruckt, dass sich die abstrakten Systeme der chinesischen Antike als deistisch und sogar als atheistisch bezeichnen ließen, und sah eine Verwandtschaft mit dem Materialismus Spinozas. Dennoch behauptete der französische philosophe, die Chinesen hätten erst mit der Ankunft der Europäer in ihrem Land weitere Fortschritte gemacht, denn es seien die Europäer gewesen, die die „moderne Philosophie“ – die für Diderot vor allem aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen bestand – einführten. Obwohl die Chinesen eine alte Zivilisation besessen hätten, hätten sie im Laufe der Geschichte ihre Sprache und Schrift kaum verbessert. Diderot konnte bei ihnen weder große Redner noch große Dichter erkennen. Ihr Theater sei „sehr unvollkommen“ und das Volk unaufgeklärt.78 Die angebrachten Kritikpunkte zeigen, warum Diderot nicht auf De Pauws Buch warten musste, um Chinas Rolle in der Philosophiegeschichte herabzuwürdigen: Sie korrelierten mit dem Anspruch des philosophe, durch seine publizistische und schriftstellerische Tätigkeit in einer bisher ungekannten Weise zur Aufklärung beizutragen. Dabei rekurrierte Diderot durchaus auf bekannte Chinabilder: Es war seit Jahrzehnten auch bei „sinophilen“ Autoren der Gesellschaft Jesu oder auch bei Voltaire Konsens, dass die Chinesen kaum Fortschritte auf dem Gebiet der Naturwissenschaften gemacht hätten.79 Diderot war keineswegs sinophob, auch wenn er die Gültigkeit der Darstellungen Wolffs und Voltaires anzweifelte. Es war seine Selbstinszenierung als philosophe, die ihn dazu animierte, andere Aspekte desselben Chinabilds aufzugreifen, das Wolff und Voltaire teilten, um sich und seine Arbeit in ein möglichst günstiges Licht zu rücken. Eine ähnliche Strategie wählte er in der dritten Ausgabe der hauptsächlich von Raynal verfassten Geschichte beider Indien (1780). Die erste (1770) und zweite (1774) Edition zeichneten ein Bild Chinas, das wie ein Potpourri aus Voltaire und Poivre anmutet.80 Diderot fügte jedoch der Ausgabe von 1780 ein neues Kapitel hinzu, das er „Zustand von China nach seinen Feinden“ – das heißt seinen Feinden zufolge – betitelte. Gemäß dem enzyklopädischen Charakter
|| 78 Denis Diderot: Art. Chinois. In: Denis Diderot u. Jean-Baptiste Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 3. Paris 1753, S. 341–348. 79 Abbattista: At the roots (wie Anm. 7), S. 119–123; Etiemble: L’Europe chinoise (wie Anm. 7), S. 280 f. 80 Israel: Democratic Enlightenment (wie Anm. 8), S. 564–566.
170 | Damien Tricoire dieses Geschichtswerkes fasst Diderot an dieser Stelle die Argumente von De Pauw zusammen. Zugleich setzt er eigene Akzente. Dem Erzähler dieses Kapitels zufolge war die chinesische patriarchalische Herrschaft, egal ob wahr oder erdichtet, auf jeden Fall zu verurteilen, denn jeder König, der sich Vater nennen lässt, sei ein Despot. Auch erinnern manche Teile dieses Kapitels stark an den Artikel „Chinois“ von 1753, etwa wenn Diderot betont, China habe keinen Descartes, Locke oder Newton hervorgebracht; keine Werke, die denen der französischen Schriftsteller ebenbürtig seien; keine guten Abhandlungen über die Moral, die Staatskunst, die Finanzen, den Handel; keine hervorragenden Kunstwerke sowie keine Maschinen und „physikalischen Werkzeuge“. Konfuzius bedeute wenig gegen Montesquieu und Algernon Sidney.81 Dennoch muss betont werden, dass die Autoren der Geschichte beider Indien ganz bewusst gegensätzliche Chinabilder nebeneinander bestehen ließen. Es ist daher fraglich, inwieweit sich der Inhalt des Kapitels „Zustand von China nach seinen Feinden“ mit der Meinung Diderots gleichsetzen lässt, wie Jonathan Israel es tut.82 Die Geschichte beider Indien markierte nicht den Triumph der Sinophobie, sondern setzte unterschiedliche Meinungen nebeneinander und inszenierte dadurch eine Debatte. Sie machte den Leser mit der Vielfalt der Chinabilder vertraut, die im 18. Jahrhundert bestand und aus der Formulierung von diversen Geltungsansprüchen resultierte.
6 Fazit Zusammenfassend kann man Dreierlei gegen die Erzählung anführen, die in den Chinabildern des 18. Jahrhunderts eine Wende von der Sinophilie zur Sinophobie sieht: Erstens existierten positive und negative Urteile über China im 18. Jahrhundert stets parallel nebeneinander. Voltaire, De Pauw, Poivre, Diderot und die Autoren der englischen Universalgeschichte waren Zeitgenossen, die sich jeweils ihr eigenes China konstruierten. Weder eine klare Entwicklungslinie der Chinabilder noch ein deutlicher Wendepunkt lassen sich in der Aufklärung ausmachen. Zweitens zeichneten die vermeintlich sinophilen Texte und diejenigen, die als sinophob bezeichnet werden, oft ein ähnliches Bild Chinas. Die Autoren || 81 Guillaume Thomas François Raynal: Histoire politique et philosophique des établissements et du commerce des européens dans les deux Indes. 10 Bde. Genève 1781, Bd. 1, S. 186–210. 82 Vgl. Etiembles Darstellung mit der Israels; Etiemble: L’Europe chinoise (wie Anm. 7), S. 339; Israel: Democratic Enlightenment (wie Anm. 8), S. 558–572.
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griffen in der Regel nur unterschiedliche Aspekte ein und desselben Bilds auf, um je eigene Botschaften zu vermitteln. Wolff hat nie geschrieben, dass das zeitgenössische China ein Hort der Tugend sei, sondern interessierte sich nur für die alte Philosophie. Aus religiösen Gründen galt Voltaires Augenmerk ebenso der Antike. Dass die modernen Chinesen wenig Fortschritte in den Naturwissenschaften gemacht hätten, war Konsens. Diderot betrat also mit dieser Kritik kein Neuland. Ebenso bestritt kein Autor die hohe Produktivität der chinesischen Landwirtschaft. Als Einziger übte De Pauw eine allgemeine Kritik an den herkömmlichen (jesuitischen) Chinabildern. Drittens gehen die Begriffe Sinophilie und Sinophobie an der Substanz der untersuchten Schriften vorbei. Anders als in zahlreichen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts standen in ihnen nicht die Beziehungen Europas zu China im Mittelpunkt. Sie waren nicht Teil einer Chinapolitik und standen nicht einmal unter dem Zeichen einer Positionierung gegenüber China. Bei allen negativen Wertungen können die Texte Diderots und sogar De Pauws kaum als Ausdruck einer Sinophobie verstanden werden, so wie die lobenden Worte für die alten Chinesen bei Wolff und Voltaire nicht von Sinophilie zeugen. Stattdessen waren die Chinabilder bloße Spiegelbilder der Ansprüche und Selbstinszenierungen von Intellektuellen. Der Professor Wolff benutzte sie, um sein tugendhaftes Verhalten in der Universitätspolitik zu bekräftigen und seine Lehrveranstaltungen als die wichtigsten darzustellen. Montesquieu verteidigte anhand von China die politische Rolle des adligen Stands und vor allem des Justizadels der parlements. Voltaire eignete sich Chinabilder an, um die christliche Heilsgeschichte zu kritisieren; die Autoren der englischen Universalgeschichte und De Pauw, um die Jesuiten bzw. Voltaire anzugreifen. Diderot verteidigte seinen Status als Aufklärer, der die frohe Botschaft der „modernen Philosophie“ in die Welt trug. Poivre zeigte sich als unersetzlicher Kolonialverwalter, der das einzige effiziente politische Rezept für seinen König habe. Es gibt somit Gründe, sich auch im Falle der Chinabilder von der Meistererzählung der Aufklärung als Geburtsstunde der Moderne zu distanzieren. Die Chinabilder zeugen als Teil von Selbstinszenierungen und als Chiffre in Kämpfen um Geltungsansprüche weder von Kosmopolitismus noch von einer Wende zum Imperialismus im 18. Jahrhundert. Sie waren Nebenprodukte von innereuropäischen Konkurrenzkämpfen unter Intellektuellen. Da sie auch nicht von dem Willen zeugten, chinesische Sichtweisen zu verstehen, kann man auch nicht von einer Konvergenz zwischen den Erfahrungen der Völker sprechen. Weil schließlich China vornehmlich als polemisches Instrument konstruiert wurde, kann man trotz der Selbstinszenierung von Pierre Poivre als reisender philosophe kaum sinologische Bemühungen feststellen. Die empirische Grund-
172 | Damien Tricoire lage, auf die sich die Autoren stützten, war äußerst dünn. Die Geschichte der aufklärerischen Chinabilder ist nicht die einer Entzauberung Asiens.
Abbildungsverzeichnis Beitrag von André Krischer Abb. 1: Liste der Mitglieder des Wiener Kongresses 1815 aus: Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten, 1818, S. 147 (Ausschnitt), in: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Digitalisierte Sammlungen, Persistente URL: http://resolver. staatsbibliothek-berlin.de/SBB000155D000000000 (letzter Zugriff: 27.4.2021) | 28 Abb. 2: Rangliste aus: Karl Heinrich Pölitz: Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit, 1828, S. 49 (Ausschnitt), in: SUB Göttingen, URL: https://nl.sub.uni-goettingen.de/id/ 19012410A00104?page=68# (letzter Zugriff 27.4.2021) | 34 Abb. 3: Rangliste aus Joseph C. Bisinger: Vergleichende Darstellung der Grund-Macht, S. 8, in: Bayerische Staatsbibliothek, Digitale Sammlungen, URL: https://mdz-nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:bvb:12-bsb10687871-5 (letzter Zugriff: 27.4.2021) | 35
Beitrag von Volker Bauer Abb. 1: Einleitung zu den Europäischen Staaten (1708), Frontispiz, in: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Gb 298:1 | 86 Abb. 2: Staat von Siam (1715), Frontispiz, in: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Gb 298:13 | 107
Beitrag von Lars Behrisch Abb. 1: [Anonym]: Political Geography. Introduction to the Statistical Tables, London 1789, S. 8, in: SUB Göttingen, URL: https://nl.sub.uni-goettingen.de/id/0523401000? page=12# (letzter Zugriff 27.4.2021) | 131
https://doi.org/10.1515/9783110735734-008
Personenregister Kursive Seitenzahlen beziehen sich auf Nennungen in den Anmerkungen
Abdelmalik, Sidi Mulai, Prinz von Marokko 27 Achenwall, Gottfried 130, 141 Anton Ulrich, Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 98 Aublet, Jean Baptiste Christophe Fusée 166 Bacon, Francis 140 Bayle, Pierre 155 Beaufort, Louis de 131f. Bentham, Jeremy 72 Bernadotte, Jean-Baptiste 67 Bielfeld, Jacob Friedrich Freiherr von 53 Bisinger, Joseph Constantin 33–35 Bluntschli, Johann Caspar 36, 37, 39f. Boetius, Johann Adolph 116 Bossuet, Jacques Bénigne 163 Boulainvilliers, Henri de 162 Bright, John 73 Brissot, Jacques Pierre 138 Burke, Edmund 48 Callières, François de 46, 52–54, 59, 60, 63 Carnot, Lazare Nicolas Marguerite 47 Castiglione, Baldassare 63 Černyčёv, Ivan Grigor′evič 21f. Chamoy, Louis Rousseau de 55 Châtelet-Lomont, Louis Marie Florent de 21f. Clarke, Thomas Brooke 132 Colbatch, John 78 Colbert, Jean-Baptiste 140 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de 135–138, 140, 149, 152 Crome, August Friedrich Wilhelm 127 Cromwell, Oliver 65 Curtis, Roger 25–27, 41 Davenant, Charles 121
https://doi.org/10.1515/9783110735734-009
De Pauw, Cornelius 12, 164f., 168–171 Descartes, René 140, 170 Dessalines, Jean-Jacques, Kaiser von Haiti 37 Diderot, Denis 12, 143, 152f., 168–171 Dumont, Jean 55, 64 d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 15, 143, 148 d’Hauterive, Alexandre Maurice 53 Fox, Charles James 25, 42 Francke, August Hermann 154f. Franz Joseph I., Kaiser und König von Österreich-Ungarn 40 Friedrich II., König von Preußen 12, 14, 56, 145f., 148–150, 164 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 61f., 155 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 70 Georg III., König von Großbritannien und Irland 9, 21, 23, 24, 27, 41 Gibbon, Edward 4 Gottschling, Caspar 80f. Graunt, John 120 Grotius, Hugo 52f. Gude, Heinrich Ludwig 78f., 81, 84 Gude, Marquard 84 Gundling, Jacob Paul 80 Gundling, Nikolaus Hieronymus 2, 80 Gustav III., König von Schweden 23 Halley, Edmond 122 Hardenberg, Ernst Christian Georg August von 31 Harris, James Howard, 1. Earl of Malmesbury 68f. Heinrich IV., König von Frankreich 123 Höck, Johann Daniel 35 Hübner, Johann 78
176 | Personenregister
Jaucourt, Louis Chevalier de 144f., 149 Juncker, Christian 116 Kant, Immanuel 152 Karl I., König von England 65 Karl III., König von Spanien 62 Karl XII., König von Schweden 145 Katharina II., Kaiserin von Russland 22, 41, 53, 146–149 Karl, Landgraf von Hessen-Kassel 23 Kaunitz-Rietberg, Wenzel Anton von 23, 57 Kemmerich, Dietrich Hermann 80f. King, Gregory 121 Kohlbrenner, Franz Seraph von 125f., 128 Konfuzius 155–159, 170 Lange, Joachim 154, 156 La Sarraz du Franquesnay, Jean de 64 Le Clerc, Nicolas-Gabriel 130, 131 Leibniz, Gottfried Wilhelm 122, 155, 159 Leopold I., Römisch-Deutscher Kaiser 98 Leopold III. Friedrich Franz, Fürst von Anhalt-Dessau 14 Ligne, Charles-Joseph de 71 Linden, Franz Josef Ignaz von 31 Linné, Carl von 15 Locke, John 170 Logie, Charles 25 Ludewig, Johann Peter 77–80 Ludwig XIV., König von Frankreich 8, 10f., 13, 24, 38, 51, 54f., 57–59, 62, 90f., 93, 98, 105, 109, 139f., 148, 149, 163 Ludwig XV., König von Frankreich 24 Ludwig XVI., König von Frankreich 23, 41, 46, 65f. Mabillon, Jean 47 Marie-Antoinette, Königin von Frankreich 65 Martens, Georg Friedrich von 45 Martens, Karl von 45f., 53f., 57, 64, 73 Maximilian II. Emanuel, Kurfürst von Bayern 10, 93 Maximilian IV. Joseph, Kurfürst von Bayern 130 Milan I. Obrenović, Fürst von Serbien 40
Millar, John 134 Missy, Jean Rousset de 64 Mohammed (Prophet) 158 Moheau, Jean-Baptiste 124 Montesquieu, Charles de Secondat de 4, 12, 124, 160–163, 170f. Montgelas, Maximilian von 130 Morvilliers, Nicolas Masson de 142, 144 Moser, Friedrich Carl von 55 Moser, Johann Jacob 39, 43 Moses (bibl.) 158 Moscherosch, Johann Michael 130 Moshamm, Friedrich August von 30 Mulai Muhammad III., Sultan von Marokko 25–27 Münster, Sebastian 143 Murray, David, 7. Viscount of Stormont 23f. Napoleon I., Kaiser der Franzosen 6, 65, 68, 71 Neumann, Kaspar 122 Newton, Isaac 170 Nicolai, Christoph Friedrich 128 Noailles, Emmanuel Louis de 23 Pecquet, Antoine 46, 48, 52–55, 57, 60, 63 Perrault,Charles 135, 140 Peter I., Kaiser von Russland 53, 62, 95, 98, 105, 112 Peter II., König von Portugal 89 Petty, William 119f., 121 Philimore, Robert 37–39 Poivre, Pierre S. 12, 166–171 Pölitz, Karl Heinrich 33f. Poniatowski, Stanisław II. August, König von Polen-Litauen 146f. Pufendorf, Samuel von 52f. Ranke, Leopold von 5 Raynal, Guillaume Thomas François 169 Reimmann, Jacob Friderich 78, 84 Renger, Johann Gottfried 78, 82 Renger, Simon Jacob 82, 114 Richelieu, Armand-Jean du Plessis de 139 Rochford, James 24
Personenregister | 177
Rousseau, Jean-Jacques 124, 147 Šafirov, Peter Pavlovič 53 Schlözer, August Ludwig von 127 Schmauß, Johann Jacob 80 Seilern, Christian August von 21 Servet, Michel (=Miguel Serveto y Reves) 143 Sidney, Algernon 170 Sieyès, Emmanuel Joseph 70 Sinclair, John 132 Sinzendorf, Philip Ludwig von 21 Sorel, Albert 46f. Soulouque, Faustin, Kaiser von Haiti 37 Spinoza, Baruch de 169 Sully, Maximilien de Béthune de 123 Sultan Hosein (Schah von Persien) 101 Süßmilch, Johann Peter 122 Swieten, Gottfried Freiherr van 57 Terray, Joseph Marie 124 Thomasius, Christian 84, 159, 160 Turgot, Anne Robert Jacques 138 Vattel, Emer de 53, 73 Vauban, Sébastien Le Prestre de 124 Voltaire (François-Marie Arouet) 11f., 15, 135, 138–140, 145–149, 152, 163– 165, 169–171 Walpole, Horace 23 Weise, Christian 84 Wenck, Friedrich August Wilhelm 56 Westenrieder, Lorenz von 128–130 Wicquefort, Abraham de 19, 46, 51–54, 59, 65 Wolff, Christian 12, 108, 154–161, 163, 165, 169, 171 Zimmermann, Eberhard August Wilhelm von 132