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German Pages 261 Year 2015
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 35
Der Zufallsfund im Medizin- und Gendiagnostikrecht Ein rechtliches, medizinisches und moralisches Problem
Von Judith Begemann
Duncker & Humblot · Berlin
JUDITH BEGEMANN
Der Zufallsfund im Medizin- und Gendiagnostikrecht
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 35 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.
Der Zufallsfund im Medizin- und Gendiagnostikrecht Ein rechtliches, medizinisches und moralisches Problem
Von Judith Begemann
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Wintersemester 2013/2014 als Dissertation angenommen.
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D 19 Alle Rechte vorbehalten
© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig Druck: CPI buch.bücher.de, Birkach Printed in Germany ISSN 1614-1385 ISBN 978-3-428-14521-8 (Print) ISBN 978-3-428-54521-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84521-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Für Andreas und Clara
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2013/2014 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis Anfang Januar 2013 berücksichtigt werden. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Jens Kersten. Er hat die Bearbeitung dieses Themas vorgeschlagen und mir stets seine volle Unterstützung zukommen lassen. Ohne seine gute Betreuung und seine wertvollen Beiträge zur Arbeit hätte ich mein Dissertationsvorhaben niemals so zielgerichtet durchführen können. Herrn Professor Dr. Ulrich Schroth danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Auch Herrn Prof. Dr. Martin Burgi gilt mein Dank als Mitglied der Prüfungskommission der mündlichen Prüfung. Herzlich bedanken möchte ich mich zudem bei der Studienstiftung des deutschen Volkes für die finanzielle und ideelle Förderung während meiner Promotion. Danken möchte ich auch meinen Freunden, die mich während des Entstehungsprozesses dieser Arbeit durch ihre Diskussionsfreude und ihre seelisch-moralische Unterstützung in zahlreichen Telefonaten und Mittagspausen unterstützt haben. Ein herzlicher Dank gilt auch meinen Schwiegereltern Luzia und Hans-Dieter Biesdorf, Ersterer für die Unterstützung während der Vorbereitung der Disputation und Letzterem für die mühevolle Aufgabe der orthographischen Durchsicht. In besonderem Maße möchte ich meinen Eltern Verena und Dr. med. Martin Begemann danken, die mich während meiner gesamten Ausbildung stets vorbehaltlos und unermüdlich unterstützt haben. Sie haben mich stets zu dem Vorhaben meiner Dissertation motiviert und ebenfalls das mühevolle Korrekturlesen dieser Arbeit übernommen. Ganz besonders danken möchte ich schließlich meinem Ehemann Dr. Andreas Biesdorf. Sein motivierender Zuspruch, die zahlreichen Hinweise und seine Unterstützung haben erheblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Meinem Mann Andreas und meiner Tochter Clara sei diese Arbeit gewidmet. Judith Begemann
Inhaltsverzeichnis 21
Einleitung A. Das Zeitalter der Gendiagnostik . . . . . . . . I. Gendiagnostikgesetz (GenDG) . . . . . . II. Normalisierung genetischer Analysen . . B. Neue Möglichkeiten – Neue Probleme . . . . . I. Konflikt „Zufallsfund“ . . . . . . . . . . II. Klassische Medizin versus Gendiagnostik III. Alte Probleme in neuem Gewand . . . . . C. Zentrale Fragen und Gang der Untersuchung . .
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Kapitel 1 Grundlagen der Gendiagnostik A. Zufallsfunde – Eine Einführung . . . . . . . . . . . I. Einführendes Beispiel Chorea Huntington . . II. Begrifflichkeit des Zufallsfundes . . . . . . . III. Einführung in die Problematik . . . . . . . . 1. In der „Normalmedizin“ . . . . . . . . . . 2. In der Gendiagnostik . . . . . . . . . . . . B. Methoden und Möglichkeiten der Gendiagnostik . . I. Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gendiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . 2. Genetische Vererbung . . . . . . . . . . . a) Dominante und rezessive Erbgänge . . b) Bedeutung für Verwandte . . . . . . . II. Genanalysemethoden . . . . . . . . . . . . . 1. Phänotypanalyse . . . . . . . . . . . . . . 2. Zytogenetische Analyse . . . . . . . . . . 3. Molekulargenetische Analyse . . . . . . . 4. Genproduktanalyse . . . . . . . . . . . . III. Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . 1. Diagnostische genetische Untersuchungen 2. Prädiktive genetische Untersuchungen . . a) Prädiktiv-deterministisch . . . . . . . b) Prädiktiv-probabilistisch . . . . . . . . c) Aussagekraft genetischer Analysen . . 3. Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fortpflanzungsmedizin . . . . . . . . . . IV. Personalisierte Medizin . . . . . . . . . . . . 1. Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erwartungen und Entwicklungen . . . . . a) Präventivmedizin . . . . . . . . . . . . b) Pharmakogenetik . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
c) Totalsequenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) DTC-Gentests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Arzt-Patienten-Beziehung unter dem Einfluss der modernen Medizin . . . . . . . . . . I. Arzt-Patienten-Beziehung im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Alte Fragen in neuem Gewand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom Patienten zum Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Klassische Medizin: Der Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prädiktive Medizin: Der Klient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wandel des Gesundheits- und Krankheitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Genetische Mutation als Krankheit? – Gesellschaftlicher Einfluss auf unser Gesundheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) „Gesunde Kranke“ als Verantwortungsadressat . . . . . . . . . . . . 2. Vom Patienten zum Verbraucher und Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Empowerment des Patienten und Gesund-Erhaltungspflicht . . . . . . . . b) Verbraucherschutz: Privatisierung und Verantwortung . . . . . . . . . . . 3. Erweiterung der Verantwortungsbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Von der bilateralen zur multilateralen Beziehung . . . . . . . . . . . . . . b) Konfliktgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vom „Heiler“ zum Berater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 2 Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung A. Pflichten des Arztes, Rechte des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ärztliche Aufklärungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Selbstbestimmungsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sicherungsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ärztliche Schweigepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normative und ethische Einbettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Offenbarungsbefugnis des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzliche Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Selbstbestimmungsrecht des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geltung in der Arzt-Patienten-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. „Eindimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“ und Gendiagnostik . . . I. Im „normalen“ Behandlungsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pflicht zur Zufalls(be)funderhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufklärung über Zufallsfunde oder Recht auf Nichtwissen? . . . . . . . . II. In der Gendiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine Regelung des „eindimensionalen“ Zufallsfundes im GenDG . . . . 2. Exkurs: Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erweiterung des informed consent auf die Möglichkeit von Zufallsfunden . 4. Aktuelle Leitlinien im Umgang mit eindimensionalen Zufallsfunden . . . III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. „Mehrdimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“ . . . . . . . . . . I. Offenbarungsbefugnisse im Medizinstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . 1. „Zwangsaufklärung“ gegenüber Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einbeziehung Dritter in die Diagnoseaufklärung . . . . . . . . . b) Einbeziehung in die Sicherungsaufklärung . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Offenbarungsrecht zum Schutz des Patienten . . . . . . d) Zwischenergebnis: Verantwortungsverteilung . . . . . . . . . . . 2. Parallele im Bereich der Gendiagnostik? . . . . . . . . . . . . . . . a) Amerikanische Rechtsprechung: „duty to warn“ . . . . . . . . . b) Exkurs: Drittinteressen in der Genforschung . . . . . . . . . . . c) Offenbarung genetischer Testergebnisse gegenüber Dritten . . . aa) Mehrdimensionale Zufallsfunde als Notstandssituation . . . (1) Vorliegen einer Notstandssituation . . . . . . . . . . . (2) Rechtsgüterabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anwendbarkeit neben dem Gendiagnostikgesetz . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Offenbarungspflicht im Medizinzivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter . . . . . . . . . . . . . a) Behandlungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einbeziehung in den Schutzbereich des Vertrages . . . . . . . . . aa) Allgemeine Voraussetzungen der Einbeziehung . . . . . . . bb) Einbeziehung in den medizinischen Behandlungsvertrag . . cc) Einbeziehung in den gendiagnostischen Behandlungsvertrag (1) Humangenetischer Behandlungsvertrag . . . . . . . . (2) Anwendbarkeit des Rechtsinstituts . . . . . . . . . . . (3) Einbeziehung Verwandter in den Schutzbereich . . . . 2. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3 Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik A. Verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtspositionen des Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtlicher Bewertungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom Allgemeinen Persönlichkeitsrecht zum Recht auf „geninformationelle Selbstbestimmung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutsamkeit des Rechts: Ambivalenz des Wissens . . . . . . . . . . b) Recht auf „eninformationelle Selbstbestimmung“ . . . . . . . . . . . . aa) Recht auf Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Recht auf Nichtwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtspositionen des Verwandten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gefährdung des Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung . . . . . a) Recht auf Nichtwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Recht auf Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gefährdung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit . . . . . . . . . . . III. Achtung durch den Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Drittwirkung der Grundrechte in der Arzt-Patienten-Beziehung . . . . . . a) Geltung der Schweigepflicht bei Zufallsfunden . . . . . . . . . . . . . aa) Drittgeheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Genetische Daten als „Drittgeheimnisse“ . . . . . . . . . . . . .
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b) Aufklärungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Drittwirkung der Grundrechte in der Arzt-Patient-Verwandten-Beziehung . . . . IV. Problem des effektiven Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Aktivierung“ der Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Intrapersonelle“ Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Interpersonelle“ Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgleichsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechtskollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Klienten – Recht auf Wissen des Verwandten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Recht auf Wissen des Klienten – Recht auf Nichtwissen des Verwandten (1) Kein Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Abwägung: Überwiegen des Rechts auf Wissen . . . . . . . . . . (3) Geringstmöglicher Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Recht auf Wissen und informationelle Selbstbestimmung des Klienten – Recht auf Wissensweitergabe und Schweigen des Verwandten . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gendiagnostikgesetz: Einfachgesetzliche Regelung des Zufallsfundes . . . . . . . . . . I. Regelung des Zufallsfundes im GenDG: Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . 1. Vorarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Professionsinterne Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesetzgeberischer Meinungsbildungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Stellungnahmen und Gesetzesvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wissenschaftliches Meinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorrangregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abwägungslösung und Kombinationslösung . . . . . . . . . . . . . . . cc) Genetische Daten als gemeinsames Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . dd) Entscheidung einer externen Instanz/Ethik-Kommission . . . . . . . . ee) Antizipierte Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Regelung des Zufallsfundes im GenDG: Lösungskonzept . . . . . . . . . . . . . . 1. Kommunikationsmodell in der Gendiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Maßgebliche ethische Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nichtaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nichtdirektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzliche Regelung des mehrdimensionalen Zufallsfundes . . . . . . . . . . . a) Regelungskonzept des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Mikroebene“ der innerfamiliären Kommunikation . . . . . . . . . . . bb) Erweiterung der „Mikroebene“ auf die Arzt-Klient-VerwandtenBeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Empfehlung zur Empfehlung“ bei behandelbaren Zufallsfunden . . . . . . aa) Rolle des Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rolle des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nicht behandelbare Zufallsfunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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d) Exkurs: Abweichende ausländische Regelungen . . . . . . . . . . . . . aa) Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesetzliche Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vergleich mit der Regelung des GenDG . . . . . . . . . . . . (3) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesetzliche Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vergleich mit der Regelung des GenDG . . . . . . . . . . . . (3) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Bewertung der „Empfehlung zur Empfehlung“ Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . I. „Empfehlung zur Empfehlung erster Teil“: Rechte des Klienten . . . . . . . . . 1. Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vom Paternalismus zum informed consent . . . . . . . . . . . . . . . . b) Paternalismusformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Starker und schwacher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Liberaler Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Moralisch liberaler Paternalismus des GenDG . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Empfehlung zur Empfehlung zweiter Teil“: Rechte des Verwandten . . . . . . 1. „Unsolicited disclosure“ als Verletzung des Rechts auf Nichtwissen . . . . . a) Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Unsolicited disclosure“ als Form starken Paternalismus . . . . . . . . . c) Keine Rechtfertigung der Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fehlende Lösung im Fall des Nichtwissens des Klienten . . . . . . . . . . . D. Schutz des Rechts auf Nichtwissen in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . I. Haftung des Arztes bei Nichtaufklärung und Aufklärung über genetische Zufallsfunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftung gegenüber dem Patienten oder Dritten bei unterlassener Aufklärung 2. Haftung bei Aufklärung über genetische Zufallsfunde . . . . . . . . . . . . a) In der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entschiedene Fallkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Folgerung des Gerichts: Einwilligungserfordernis des Dritten in die Mitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rolle des GenDG in der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entscheidungsanmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Deliktische Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Reichweite der Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Keine Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftung des Betroffenen bei „unsolicited disclosure“ . . . . . . . . . . . . . . E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 4 Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen A. Vom Ausnahme- zum Regelfall: Normalisierung der Gendiagnostik I. Aktuelle medizinische und gesellschaftliche Verbreitung . . . II. Gesellschaftlicher Rezeptionsgrad . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aktuelle Zahlen und Entwicklungspotenzial . . . . . . . . 2. „Normative Kraft des Faktischen“ . . . . . . . . . . . . . . III. Individualisierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesundheitsverantwortung statt „genetisches Schicksal“ . . 2. Individualisierung der Medizin . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Neue Leitwerte: Gesundheit und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wechselseitiger Einfluss der Genomanalyse auf das Gesundheits- und Verantwortungsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verschiebung der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Genetische“ Verantwortung des Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Informationsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Pflicht zu wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitteilungspflicht gegenüber Verwandten oder Redeverbot? . . . . . . aa) Moralische Mitteilungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verletzung des Rechts auf Nichtwissen der Verwandten durch eine Mitteilungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gesellschaftliche Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Befürworter einer Pflicht zu wissen . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Zwang“ in der klassischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Möglicher Trend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eigenverantwortung – „freiwilliger Zwang“ . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eigenverantwortung im Recht der Krankenversicherung . . . . . . . . c) Individualisierung der Gesundheitsverantwortung . . . . . . . . . . . 3. Informationsverantwortung des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einfluss der personalisierten Medizin auf die Arzt-Patienten-Beziehung b) Neuausrichtung der Verantwortungsverteilung im GenDG . . . . . . . aa) Im Verhältnis zum Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Im Verhältnis zu Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grenzen einer sich wandelnden Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . III. Bedeutung für Zufallsfunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zufallsfund als Regelfall: Vom Zufallsfund zum Zusatzfund . . . . . . . . 2. Abgrenzung von Verantwortungsbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grenzen gesetzlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stärkung des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mündiges Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 5 Zusammenfassung und Schlussbetrachtung A. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . B. Bewertung und Empfehlungen . . . . . . I. Stimmen der Literatur zum GenDG 1. Zustimmende Meinungen . . . . 2. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . II. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . 1. Eindimensionale Zufallsfunde . . a) Kritik . . . . . . . . . . . . . b) Empfehlung . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
2. Mehrdimensionale Zufallsfunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Empfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einbeziehung Dritter – Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Handlungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zwischen community consensus und informed consent . . . . . (3) Einbeziehung Dritter vor der Untersuchung . . . . . . . . . . . bb) Einbeziehung mit Zustimmung des Klienten . . . . . . . . . . . . . . cc) Einbeziehung ohne Zustimmung des Klienten? . . . . . . . . . . . . (1) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kommunikationseinbeziehung im Wege des § 34 StGB . . . . . dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Versteckter Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gegenüber dem Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Empfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gegenüber Verwandten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Empfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere Kritikpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Neue Rahmenbedingungen des informed consent . . . . . . . . . . . . . . . . a) Reichweite der Beweggründe des Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Negative“ Wirkungen des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anpassung des Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Exkurs: Gezielte Nutzung von Zufallsfunden . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Wandel der Arzt-Klienten-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kritik: Grenzen tragender Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Arzt als Berater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Hilfe zur Selbsthilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beratung Dritter contra Zwangsaufklärung: sanfter Paternalismus bb) Grenzen der Verantwortung des Klienten . . . . . . . . . . . . . . . C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
258
Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. ACMG Am J Med Genet Art. ASHG BÄK BAnz. BDSG Behav Sci Law Beschl. BGB BGBl. BGH BGHZ BMG BMJ BR-Drs. BT-Drs. BVerfG BVerfGE bzw. ca. Clin Biochem Rev DÄBl. DER ders. DFG d. h. DKFZ DLF DNA DNS DÖV Drs. DTC Dtsch. med. Wschr. Ents. et al.
andere Ansicht Absatz American College of Medical Genetics and Genomics American Journal of Medical Genetics Artikel American Society of Human Genetics Bundesärztekammer Bundesanzeiger Bundesdatenschutzgesetz Behavioral Sciences & the Law Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesministerium für Gesundheit British Medical Journal Drucksachen des Bundesrates Drucksachen des Bundestages Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise circa The Clinical Biochemist Reviews Deutsches Ärzteblatt Deutscher Ethikrat derselbe Deutsche Forschungsgemeinschaft das heißt Deutsches Krebsforschungszentrum Deutschlandfunk Deoxyribonucleic acid Desoxyribonukleinsäure Die öffentliche Verwaltung Drucksache Direct-to-consumer Deutsche medizinische Wochenschrift Entscheidung et alia
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etc. EuGH EURAT FAZ f./ff. Fn. GEKO gem. GenDG Genet Med GfH GG ggf. GTG GUMG HGP HIV Hrsg. HUGO Hum Mol Genet ICD
i. d. R. IF i. K. Inserm i. S. d. i. V. m. JB and B J Genet Genomics J Law Med Ethics JR JZ LK MBO m. E. medgen Med Law MedR MüKo n°
Abkürzungsverzeichnis
et cetera Europäischer Gerichtshof Ethische und rechtliche Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende/fortfolgende Fußnote Gendiagnostik-Kommission gemäß Gendiagnostikgesetz Genetics in Medicine Deutsche Gesellschaft für Humangenetik Grundgesetz gegebenenfalls Gentechnikgesetz (Schweizerisches) Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (englisch) Human Genome Project Humane Immundefizienz-Virus (englisch human immunodeficiency virus) Herausgeber Human Genome Organisation Human Molecular Genetics Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) in der Regel (englisch) Incidental Finding in Kraft Institut national de la santé et de la recherche médicale im Sinne des in Verbindung mit Journal of Biolaw and Business Journal of Genetics and Genomics Journal of Law, Medicine & Ethics Juristische Rundschau Juristen Zeitung Leipziger Kommentar Musterberufsordnung meines Erachtens Medizinische Genetik Medical Law Review Medizinrecht Münchener Kommentar (französisch) numéro
Abkürzungsverzeichnis
Nat Rev Genet NGS NJW Nr. NS OLG PersV Phg foundation PID PND PräimG RL Rn./Rdnr. RNA RNS Rz. S. SGB V SNP StGB u. a. UK Urt. v. USA USD v. Chr. VersR VG VGH vgl. WGS WHO z. B. ZEE ZEFQ Ziff. ZME z. T.
Nature Reviews Genetics (englisch) Next Generation Sequencing Neue Juristische Wochenschrift Nummer Nationalsozialismus Oberlandesgericht Personalvertretung Foundation for Genomics and Population Health Präimplantationsdiagnostik Pränataldiagnostik Präimplantationsdiagnostikgesetz Richtlinie Randnummer/Randnummern (englisch) ribonucleic acid Ribonukleinsäure Randzeichen Seite Sozialgesetzbuch, fünftes Buch (englisch) Single Nucleotide Polymorphisms Strafgesetzbuch und andere Englisch United Kingdom Urteil vom (englisch) United States of America (englisch) United States Dollar vor Christus Versicherungsrecht Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche (englisch) whole genome sequencing (englisch) World Health Organization zum Beispiel Zeitschrift für Evangelische Ethik Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen Ziffer Zeitschrift für medizinische Ethik zum Teil
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Einleitung Die Gendiagnostik ist bereits aus naturwissenschaftlicher Sicht ein spannendes und viel beachtetes Thema. Auch auf gesellschaftlicher Ebene bietet es reichlich Diskussionsstoff und wird unter verschiedenen Vorzeichen interdisziplinär erörtert. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Pränataldiagnostik, bei der die Konfliktträchtigkeit und der öffentliche Diskurs besonders hervortreten. Auch die Berührungspunkte mit der Rechtswissenschaft werden zunehmend relevant, je mehr die Gendiagnostik Einzug in die praktische medizinische Anwendung hält, z. B. im Bereich prädiktiver oder diagnostischer Gentests. Das Anfang 2010, nach langjährigen interdisziplinären Diskussionen erlassene Gendiagnostikgesetz, sollte hier auf die zunehmend aufkommenden rechtlichen Anwendungsund Rechtsschutzfragen reagieren. Zusammengeführt wurden in diesem Gesetz rechtliche und medizinische Fragen und Entwicklungslinien. Diese Verbindung medizinischer und rechtlicher Fragen und Probleme soll auch in der vorliegenden Arbeit fortgesetzt werden. Der Fokus auf die rechtliche Komponente darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass diese Fragen erhebliche medizin-ethische und gesellschaftliche Implikationen nach sich ziehen. Eine Betrachtung der Gendiagnostik aus juristischer Sicht ist daher zwangsläufig auch eine interdisziplinäre und gesellschaftliche Fragestellung. Die humangenetische Forschung führt zu einer Vermehrung unseres Wissens über uns selbst und eröffnet neue Handlungsoptionen aber auch Konflikte. Mit diesem Wissen muss man „lernen“ umzugehen, da in kaum einem Bereich Nutzen und Risiken so nahe beieinander liegen wie im Bereich der Gendiagnostik.
A. Das Zeitalter der Gendiagnostik I. Gendiagnostikgesetz (GenDG) Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und einer angestrebten gesellschaftlichen Rezeption der Gendiagnostik wurden Forderungen nach einer gesetzlichen Regulierung laut, um auf mit der Etablierung der Gendiagnostik einhergehenden rechtlichen Herausforderungen zu reagieren. Das am 01.02.2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz sollte eine lang schwelende Diskussion beenden. Aufgrund des besonders sensiblen und konfliktreichen Charakters der Materie sowie den laufend neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist die Diskussion auch mit dem neuen Gesetz jedoch nicht beendet, sondern erweitert sich laufend um neue Erkenntnisse und neue bzw. erneut aufgegriffene Problembereiche der Gendiagnostik. Einer dieser wichtigen und auf gesetzgeberischen Ebene bisher nur sehr rudimentär beachteten Problembereiche ist der des Zufallsfundes. Dem Titel der Arbeit entsprechend soll der medizinische Zufallsfund im Allgemeinen, und im Besonderen der Zufallsfund
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Einleitung
im Bereich der Gendiagnostik sowie dessen Regelung im GenDG im Fokus stehen. Dabei wird hier nicht auf Probleme und Konflikte der Gendiagnostik insgesamt eingegangen, sondern lediglich die mit den genannten Implikationen entstehenden rechtlichen Herausforderungen werden am Phänomen des Zufallsfundes herausgearbeitet. Der Zufallsfund umschreibt dabei den Umstand, dass im Rahmen einer klinischen oder gendiagnostischen Untersuchung Erkenntnisse gewonnen werden, die über das eigentliche Untersuchungsziel hinausgehen. Unterschieden werden sollen dabei zwischen zufälligen Erkenntnissen den Patienten betreffend und solchen, die Wissen in Bezug auf Dritte offenbaren. Das GenDG hat die hier im Zentrum stehende Problematik des Zufallsfundes recht versteckt in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG aufgegriffen und dabei eine diskussionswürdige Regelung geschaffen. Auf diesen Aspekt soll sich die Analyse des GenDG beschränken.
II. Normalisierung genetischer Analysen Die erfolgreiche Entschlüsselung des menschlichen Genoms war der Meilenstein der Gendiagnostik. Das hierfür federführende sogenannte Humangenomprojekt (HGP, engl. Human Genome Project) war ein internationales Forschungsprojekt, das im Herbst 1990 mit dem Ziel gegründet wurde, das Genom des Menschen vollständig zu entschlüsseln. Es wurde im Jahr 2003 erfolgreich abgeschlossen. Dieser Erfolg war der Anstoß für weitere Entwicklungen und heraufbeschworene Leitbilder: Schlagworte wie das „1000-Dollar Genome“ kündigen plakativ die Möglichkeit und Perspektive an, die Genomsequenzierung praxistauglich zu machen. Die stetig neuen und immer schneller werdenden technischen Möglichkeiten ermöglichen eine Totalsequenzierung des menschlichen Genoms1 , und die fallenden Preise führen zu einer zunehmenden Anwendung und Verbreitung der Genomanalyse in der Praxis. Diese Entwicklung soll es in Zukunft jedem Patienten und behandelnden Arzt ermöglichen, auf diese Methode zurückgreifen zu können, ohne erhebliche Kosten und lange Zeiten der Ungewissheit in Kauf nehmen zu müssen. Ein Indiz für diese Entwicklung ist die stetig zunehmende Zahl der Einrichtungen, die Gentests durchführen, wie auch die zunehmende Zahl der identifizierten Gene, die überwiegend monogenen Krankheiten zugrunde liegen.2 Bereits im Jahr 2004 lag die Zahl der durchgeführten Genanalysen bei 300.000, Tendenz steigend.3 Des Weiteren etabliert sich auf Basis dieser Entwicklung, bisher jedoch primär im angloamerikanischen Raum, ein neuer Markt, der das Potenzial hat, die Gendiagnostik „gesellschaftstauglich“ zu machen. Sogenannte Direct-To-Consumer Tests wie 23andMe, bei denen jeder Testwillige online ein Testkit bestellen und auf gleichem Weg eine genetische Analyse auf bestimmte Genmutationen für rund 200 US-Dollar in Auftrag geben kann, führen die Gendiagnostik potenziell flächendeckend ein. Solche Tests haben aufgrund der geringen Kosten und des leichten Zugangs das Potenzial, sich auf dem freien Markt zu etablieren und dementsprechende gesellschaftliche Wirkungen zu entfalten. Sie sprechen den Patienten als Verbraucher direkt an und werben damit, die Gendiagnostik als neues Angebot am Markt abzufra1
Siehe dazu Kapitel 1, B. IV. 2. c). Vgl. zweiter Gentechnologiebericht Kurzfassung, S. 15: Die Zahl der Einrichtungen sind von 1998 bis 2008 von 66 auf 169 gestiegen. Und von 2000 bis 2009 hat sich die Zahl der identifizierten Gene mehr als verdoppelt. 3 Vgl. BT-Drs. 16/10532, S. 16. 2
B. Neue Möglichkeiten – Neue Probleme
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gen. Auch „Social Media Portale“ wie PatientsLikeMe4 , auf denen sich die Verbraucher über die Ergebnisse austauschen und Wissen erwerben können, illustrieren diesen Trend. Ein weiterer treibender Faktor auf gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene ist das Leitbild der personalisierten Medizin, die auf Basis der Kenntnisse des jeweiligen Genprofils eine kostengünstigere aber auch effektivere Gesundheitsversorgung und Medikation verspricht. Hier soll sich eine Präventivmedizin auf Basis der Prädiktion gesundheitlicher Risiken entwickeln, und mit Hilfe eines mündigen, informierten und „verantwortungsvoll“ handelnden Patienten bzw. Klienten und Verbraucher einen weiteren medizinischen Meilenstein darstellen. Wagt man auf dieser Grundlage einen Ausblick in die Zukunft, so wird die Gendiagnostik zunehmend ihre Sonderrolle verlieren und genbasierte Diagnoseverfahren medizinischer Alltag werden. Wird etwas alltäglich, ja gewöhnlich, so wird dies auch zunehmend unseren Blick darauf verändern: „Trotz aller Neugier scheuen Menschen immer vor dem Neuen auch zurück, nähern sich dem Unbekannten mit ängstlicher Vorsicht; nur die Mutigeren lassen sich als erste darauf ein. Aber unsere Kinder werden schon damit als selbstverständlich aufwachsen.“5 Der wissenschaftliche Fortschritt bringt damit mehr Wissen, aber auch eine Veränderung dessen, was wir als normal und bekannt empfinden. Das Wissen verändert damit uns, unsere Verhaltensweisen und Einstellungen und potenziell unsere moralische (und auch rechtliche?) Verantwortung.
B. Neue Möglichkeiten – Neue Probleme Mit den neuen technischen und medizinischen Möglichkeiten sind die bereits angerissenen neuen Herausforderungen verbunden. Ein Kernproblem ist hier der besondere Charakter des generierten Wissens. Genetische Daten der jeweiligen untersuchten Person besitzen dabei verschiedene Besonderheiten: Sie weisen sich dadurch aus, dass „sie ihre Bedeutung über lange Zeiträume behalten. Sie können daher als persönlich identitätsrelevante Gesundheitsdaten mit hohem prädiktiven Potenzial verbunden sein und gegebenenfalls auch Informationen über Dritte (Verwandte) offenbaren.“6 Mit anderen Worten sind genetische Daten jeder Person eigen und unveränderlich und besitzen damit in medizinischer Hinsicht einen prädiktiven Charakter für potenziell zukünftig auftretende Erkrankungen. In persönlicher Hinsicht kann dieses Wissen daher auch Einfluss auf die Lebensplanung und die Persönlichkeitsbildung nehmen. Dieses von Menschen nicht beeinflussbare Wissen hat zudem aufgrund des Charakters als Wahrscheinlichkeitsaussage eine nur variable Aussagekraft und mangels Gleichlaufs zwischen Diagnose und Therapiemöglichkeiten der überwiegenden Zahl genetischer Diagnosen einen nur variablen Nutzen. Das „Wissen“ kann daher eine ambivalente Wirkung entfalten, potenziell Handlungsoptionen eröffnen, aber auch potenziell (psychisch) schädigen. 4 Vgl. hierzu Prainsack, Personalisierte Medizin aus Sicht des Patienten, in: DER, Personalisierte Medizin, S. 23, 27 f.: Diese Plattformen ermöglicht den Mitglieder u. a. Daten und Informationen auszutauschen, Gruppen zu bilden und andere Menschen ausfindig zu machen, wie an der selben Krankheit leiden. 5 Eberbach, MedR 2010, S. 155, 162. 6 BT-Drs. 16/10532, S. 16.
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Einleitung
Von besonderer Relevanz ist jedoch die Drittwirkung der genetischen Erkenntnisse. Aufgrund der Vererbungslehre kann das gewonnene Wissen auch eine Aussagekraft für Dritte und damit mehrdimensionale Wirkung entfalten. Je mehr Krankheiten als genetisch bedingt diagnostiziert werden und je mehr genetische Analysen durchgeführt werden, desto eher gewinnen Drittinteressen an Bedeutung, da es nicht nur zu zusätzlichen Erkenntnissen, den Klienten betreffend, kommen kann, sondern zu erheblichen, bisher nicht möglichen Rückschlüssen auf Dritte. Der Zufallsfund illustriert damit sehr gut die durch diese Besonderheiten genetischer Daten hervorgerufenen Implikationen moderner medizinischer Errungenschaften für zahlreiche Lebensbereiche: für den Einzelnen, die Familie, die Arzt-Patienten-Beziehungen und die Gesellschaft.
I. Konflikt „Zufallsfund“ Die durch Zufallsfunde generierten Konflikte sind vielfältig: In medizinischer Hinsicht bedeutet „Zufallsfund“, dass insbesondere im Fall der mittlerweile möglichen Totalsequenzierung des menschlichen Genoms eine Flut an genetischen und potenziell gesundheitsrelevanten Daten generiert wird. Dies lässt die Wahrscheinlichkeit zusätzlicher medizinisch relevanter Erkenntnisse, den Patienten betreffend, signifikant steigen („eindimensionaler“ Zufallsfund). Zusätzlich bedeutet die Generierung von Zufallsfunden, dass die Feststellung einer genetisch bedingten Krankheit immer zugleich die Information beinhaltet, dass Verwandte mit einer je nach Penetranz des Gens differierenden Wahrscheinlichkeit dieselbe Disposition aufweisen können („mehrdimensionaler“ Zufallsfund).7 Für den Arzt beinhaltet die Diagnose einer genetischen Erkrankung daher zugleich potenziell zwei Informationen, die seine Schweigepflicht, aber auch seine Fürsorgepflicht betreffen. Rechtlich wirft die Erzeugung von Zufallsfunden die Frage auf, wie mit ihnen unter dem Gesichtspunkt der ärztlichen Aufklärung zu verfahren ist. Im Bereich der Genforschung fanden schon breite Diskussionen zur Frage des Umgangs mit den Probanden betreffenden zufälligen Erkenntnissen statt. Der Bereich der klinischen Anwendung hingegen, der für die Allgemeinheit von mehr Interesse sein dürfte, wurde bisher weniger beachtet. Dies hat auch das American College of Medical Genetics and Genomics festgestellt, und sich, zumindest dem Fall des eindimensionalen Zufallsfundes, aus amerikanischer Perspektive angenommen. In Bezug auf den Patienten stellt sich die Frage der vorherigen Information und gegebenenfalls Einwilligung in diese umfassende Datenerhebung und -mitteilung. In Bezug auf Dritte bedeutet die Mitbetroffenheit im Fall mehrdimensionaler Zufallsfunde, dass der Schutz der Rechte Dritter gleichfalls neben denen des Klienten in Frage stehen kann. Die Beachtung ihrer Rechte ist besonders problematisch, da sie in die Untersuchung im Grundsatz nicht einbezogen werden und das Wissen sie folglich unvorbereitet treffen kann bzw. erst gar nicht erreicht. Das Zusammentreffen verschiedener Rechte und Pflichten, insbesondere des sogenannten Rechts auf Wissen und Nichtwissen beider Betroffenen, der Schweigepflicht und Fürsorgepflicht des Arztes führt daher zu Spannungsverhältnissen und rechtlich schwer zu fassenden Konflikten. Im Kern 7 Vgl. Simitis, Allgemeine Aspekte des Schutzes genetischer Daten, in: Analyse génétique humaine et protection de la personnalité, S. 122; Henn, ZME 2002, S. 343.
B. Neue Möglichkeiten – Neue Probleme
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geht es damit um die Identifizierung und Differenzierung der Eigeninteressen von Patienten bzw. Klienten einerseits und Verwandteninteressen andererseits. Verwoben hiermit ist die Rolle des Arztes und damit die Frage der Konfliktlösung in der bisher allein bilateral ausgerichteten Arzt-Patienten-Beziehung. Zu lösen sind dabei rechtliche und moralische Konflikte im Verhältnis Arzt-Betroffener-Verwandter.8
II. Klassische Medizin versus Gendiagnostik Genähert werden soll sich den beschriebenen Problemkreisen zunächst aus dem bekannteren Gebiet der „normalen“ Medizin. Im Bereich der Infektionskrankheiten wurde bereits eine breite Diskussion zum Verhältnis der ärztlichen Schweigepflicht und kollidierenden Gesundheitsinteressen Dritter geführt. Um die Interessen und Rechte im Rahmen der Arzt-Patienten-Beziehung in einen angemessenen Ausgleich zu bringen, soll daher zunächst auf allgemeine straf- und zivilrechtliche Grundsätze zurück gegriffen werden. Zu betrachten sind hier die Einwilligung in die Weitergabe genetischer Daten wie auch der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB. In zivilrechtlicher Hinsicht kann der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter bemüht werden. Die Besonderheiten der Gendiagnostik führen jedoch zu neuen Konflikten sowie zu schützenden Rechtspositionen und zu einem vermehrten Auftreten der Problematik. Konzepte der „Normalmedizin“ stoßen folglich an ihre Grenzen. In allen Bereichen in denen die Genomanalyse eingesetzt wird und werden soll, besteht das Potenzial, zufällige Erkenntnisse den Patienten, aber auch genetisch Verwandter betreffend, zu generieren. Es wird sich folglich in Zukunft nicht mehr um einen Ausnahmefall handeln. Auch hängt der effektive Schutz der betroffenen Rechtsgüter nicht nur vom Recht, sondern auch in entscheidendem Maße von den gesellschaftlichen Gegebenheiten ab, „wobei das sich immer mehr verselbstständigende Diktat der Normativität des Faktischen nicht unterschätzt werden darf.“9 Moderne Erkenntnisse entwickeln potenziell eine Eigendynamik.
III. Alte Probleme in neuem Gewand In technischer Hinsicht dürfte der praktischen Anwendung der Gendiagnostik in Zukunft kaum noch etwas entgegenstehen. Damit stellt sich die Frage, welche Entwicklungsrichtung sich gesellschaftlich abzeichnet und wünschenswert ist und welchen Einfluss die Gendiagnostik auf unser Verständnis von Gesundheit/Krankheit und gesundheitlicher Verantwortung zeitigt. Das Recht kann hier nur eine lenkende und leitende Wirkung entfalten, gesellschaftliche Ansichten und Forderungen jedoch nicht unterbinden. Damit sind auch die zukünftige gesellschaftliche Rezeption der Gendiagnostik und die Auswirkungen derselben auf gesellschaftliche Ansichten bei der Bearbeitung dieser Fragen von Relevanz. Hier werden zunehmend ein Wandel der Verantwortung, ausgelöst durch ein expandierendes Gesundheitsverständnis, moralische Pflichten des Klienten gegenüber Verwandten und der Gesellschaft thematisiert. Der Klient kann in einen ethischen 8
Vgl. Damm, Ethik Med 2002, S. 110, 117. Höchst, Recht auf Nichtwissen, in: Beckmann, Humangenetik, S. 143, 152; „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“ (Aristoteles Metaphysik I 1, 980 a 21). 9
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Einleitung
Konflikt geraten, wenn er sich für die Durchführung eines Tests entscheidet, der Implikationen für seine Angehörigen haben kann. Im innerfamiliären Verhältnis wird oft von einer moralischen Aufklärungspflicht der Betroffenen gegenüber betroffenen Verwandten unter Verzicht auf sein Recht auf Privatheit gesprochen.10 Mit der Entwicklung der Gendiagnostik, deren Verbreitung und Analysemöglichkeiten des menschlichen Körpers, verbunden sind daher zentrale ethische Herausforderungen, die von moralischen Prinzipien und gesellschaftlichen Sichtweisen beeinflusst werden. Diese ethischen Fragestellungen sind nicht neu, jedoch stellen sie sich mit den neuen technischen Möglichkeiten in einem anderen Licht und mit zunehmender Präsenz. Ausgangspunkt der sich stellenden Herausforderungen ist ein sich abzeichnender oder befürchteter Wandel des Krankheits- und Gesundheitsverständnisses. Auf Basis der genetischen Analyse und ihres prädiktiven Potenzials wird eine zunehmende Einflussmöglichkeit auf den eigenen Gesundheitszustand propagiert und Gesundheit nicht mehr als Schicksal empfunden.11 Die Abgrenzung gesund-krank unterliegt dabei der gesellschaftlichen Interpretation und ist damit der Gefahr der Auflösung ausgesetzt. Deutlich wird dies im Fall prädiktiver Gentests, die eine Erkrankungswahrscheinlichkeit voraussagen sollen. Mit dieser Vorhersage wird eine Art neuer Zwischenzustand des „gesunden Kranken“12 geschaffen, eine Person, die obwohl körperlich gesund, aufgrund einer genetischen Disposition jedoch als krank angesehen wird oder sich selbst so wahrnimmt. Die Reflexion über diese Begrifflichkeit ist in ihren Auswirkungen nicht zu unterschätzen. Ob ein Zustand als krankhaft angesehen wird hat erheblichen Einfluss auf den Umgang mit diesem. Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle vor allem der Einfluss auf die mit der „Expansion des Gesundheitsbegriffs“ verbundene „Expansion der Verantwortung“13 für den Erhalt seines Gesundheitszustands und gegebenenfalls auch den von Dritten. Der Schutz von Autonomie und Selbstbestimmung des Einzelnen, vor allem die Reichweite des Rechts auf Nichtwissen, sind daher von besonderer Bedeutung, um möglichen „freiwilligen Zwängen“, einer „Pflicht zu wissen“, mit entsprechender Mitteilungspflicht vorzubeugen.
C. Zentrale Fragen und Gang der Untersuchung Die wesentlichen Leitfragen der folgenden Untersuchungen sind daher wie folgt zusammenzufassen: 1. Die erste Frage betrifft die Offenbarung der gesundheitsrelevanten Erkenntnisse gegenüber dem Patienten selber (Konstellation des eindimensionalen Zufallsfundes). Hier 10 So auch Berberich, Zur Zulässigkeit genetischer Tests in der Lebens- und privaten Krankenversicherung, S. 246; Jaeger, VersR 2012, S. 861, 862; missachtet wird hier jedoch das Recht auf Nichtwissen des Verwandten, dass bei einer moralischen Mitteilungspflicht verletzt werden könnte; Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 252. 11 Vgl. Beck-Gernsheim, Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beck/Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten, S. 316, 323. 12 Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 132; Kersten, ZEE 2013, S. 23, 25. 13 Beck-Gernsheim, Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beck/Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten, S. 316, 322, 325.
C. Zentrale Fragen und Gang der Untersuchung
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stellt sich die Frage des Umfangs der ärztlichen Diagnoseaufklärung und des Erfordernisses einer vorherigen Einwilligung in die Offenbarung von Zufallsfunden. 2. In der mehrdimensionalen Konstellation geht es um die Offenbarung des Wissens gegenüber den potenziell betroffenen Verwandten durch den Arzt: darf ein Zufallsfund den Verwandten trotz Schweigepflicht mitgeteilt werden oder muss es sogar aus Fürsorgegesichtspunkten erfolgen? Die nächste Frage schließt sich daran an: Wenn die Erkenntnisse den Verwandten mitgeteilt werden können, müssen ihre Rechte beachtet werden. Muss das Ergebnis bei Beachtung des Rechts auf Nichtwissen verschwiegen werden beziehungsweise wie sind die Verwandten in Kenntnis zu setzen? 3. In diesem Zusammenhang entstehen auch Konflikte zwischen dem Recht auf Privatheit des Klienten und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung beider Betroffenen. Wie ist diese Grundrechtskollision zu lösen? 4. Welche Pflichten treffen den Betroffenen, ist er moralisch gegenüber seinen Verwandten zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet? Hier werden Fragen des Moralsystems deutlich. Aber auch gesellschaftliche Ansichten und Entwicklungen haben Einfluss auf diese Fragestellung. Die aufgeworfenen Fragen illustrieren, dass ein komplexes rechts-ethisches Dilemma zwischen den Rechten der untersuchten Person auf Privatheit, Vertraulichkeit und Autonomie, den Rechten der Verwandten, die ein vitales Interesse daran haben können, Kenntnis von den Ergebnissen zu erhalten, entsteht. Dagegen ist jedoch auch das Recht auf Nichtwissen der Verwandten zu achten. Zwischen diesem Konflikt steht der behandelnde und beratende Arzt mit den ihn treffenden rechtlichen und ethischen Pflichten, insbesondere die ärztliche Schweigepflicht und der zumindest ethischen Fürsorge- und Hilfeleistungspflicht gegenüber Drittbetroffenen.14 Im Einzelnen soll nun nach einer Einführung in die Grundlagen sowie die Besonderheiten und Auswirkungen der Gendiagnostik, auf die bekannte Arzt-Patienten-Beziehung, auf den Zufallsfund näher eingegangen werden. Grundlagen der Problematik werden dabei zunächst im Rahmen der Darstellung der bekannten bilateralen Struktur und den mehr bekannten Fällen des Medizinstrafrechts und Medizinzivilrechts erläutert. Vertieft werden soll die Problematik für den Bereich der Gendiagnostik. Im Zentrum stehen hier verfassungsrechtliche Fragen, das GenDG und die Regelung des Zufallsfundes betreffend, und Fragen der effektiven Umsetzung anlässlich erster Gerichtsentscheidungen. Abrunden soll die Bewertung ein in die Zukunft gerichteter Ausblick. Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht absehbar, inwieweit durch die technischen Errungenschaften sich unsere gesellschaftliche Einstellung und unsere Wertvorstellungen ändern werden. Nachzugehen ist daher den sich abzeichnenden Wirkungen, unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses, dem Einfluss der Gendiagnostik auf unser Verständnis von Krankheit, Gesundheit und Verantwortung und einer sich potenziell entwickelnden „genetischen Verantwortung“. Den Abschluss bildet eine Bewertung der gesetzlichen „Lösung“ des GenDG zum Umgang mit dem Zufallsfund.
14
Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 237.
Kapitel 1
Grundlagen der Gendiagnostik Zur Einführung in die Thematik sollen nach einer ersten Beschreibung der Problematik des Zufallsfundes (A.) die medizinischen Grundlagen gelegt werden (B.). Exemplarisch für die Arzt-Patienten-Beziehung werden im Anschluss die Einflüsse der modernen Gendiagnostik auf bekannte Beziehungen und Prinzipien verdeutlicht (C.), um einen ersten Eindruck des Entwicklungspotenzials zu geben.
A. Zufallsfunde – Eine Einführung Die Problematik des Zufallsfundes – die hier im Zentrum der Bearbeitung stehen soll – war bereits in der Vergangenheit ein in der Medizin, vor allem im Bereich der Infektionskrankheiten existierendes Problem. Durch die Entwicklung der Gendiagnostik nimmt deren Relevanz, aber auch Brisanz erheblich zu. An dieser Stelle soll einführend das „Phänomen“ und die damit verbundenen Fragestellungen erläutert werden, um an späterer Stelle im Kontext des GenDG vertieft auf die Problematik in Kenntnis der medizinischen Grundlagen einzugehen.
I. Einführendes Beispiel Chorea Huntington Am weitesten zurück gehen die Erfahrungen mit der Problematik zufälliger Erkenntnisse im Rahmen der prädiktiven Gendiagnostik für die autosomal dominante, sowie nicht therapierbare und tödlich verlaufende Krankheit Chorea Huntington. Diese Erkrankung (älterer Name: Veitstanz) illustriert, aufgrund ihrer hohen Dominanz der Vererbung und damit hohen Wahrscheinlichkeit betroffener Dritter, exemplarisch, die mit der prädiktiven Gendiagnostik in Zusammenhang gebrachten Probleme und insbesondere die Konstellation des mehrdimensionalen Zufallsfundes als besonderes Problem.1 Aufgrund des schweren Verlaufs, der relativen Häufigkeit (ca. 1:11000 Menschen) und der hohen Penetranz hat der Umgang mit dieser Erkrankung in der Gendiagnostik bisher oft maßstabbildende Wirkung.2 In einer Familie, in der die Erkrankungen aufgetreten sind, besteht aufgrund des autosomal-dominanten Vererbungsmodus3 eine 50%ige Wahrscheinlichkeit, dass Nachkommen diese Anlage geerbt haben. Besonders akut ist hier die Problematik, da die ersten 1
Vgl. Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 39. Vgl. zu dieser Thematik: Krahnen, Chorea Huntington. Das Recht auf Wissen versus das Recht auf Nicht-Wissen, in: Schröder-Kurth, Medizinische Genetik in der BRD, S. 66 ff.; Cullen/Neumaier/ Fuchs, Ethik Med 2011, S. 237, 238. 3 Siehe unten Kapitel 1, B. I. 2. a). 2
A. Zufallsfunde – Eine Einführung
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Symptome erst sehr spät auftreten und die Betroffenen schon meist Nachkommen haben und damit ihre Lebens- und Familienplanung nicht mehr auf dieses neu erlangte Wissen einstellen können. Die Krankheit endet im Durchschnitt nach etwa 15–20 Jahren schwerer Krankheit mit dem Tod.4 Dabei entstehen zwei mögliche Konfliktsituationen: lässt sich ein Elternteil auf die Anlagenträgerschaft hin positiv testen, so erfahren Nachkommen zugleich, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls Träger sind, ohne dass sie in die Untersuchung eingewilligt haben oder gar am Entscheidungsprozess beteiligt wurden. Lässt sich ein Nachkomme positiv testen, so trifft ein Elternteil die Erkenntnis, dass er mit 100%iger Wahrscheinlichkeit Träger ist. Auch hier entscheidet der Test einer Person zugleich über die Erkenntnisse des Dritten, da nach Mitteilung der Testergebnisse diese sich i. d. R. innerfamiliär kaum verbergen lassen dürften. Dieser Fall einer monogenen Erbkrankheit illustriert, dass durch genetische Analysen und damit verbundenen Erkenntnissen nicht nur das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen, sondern auch Verwandter berührt sein kann. Sie können mit unerwarteten evtl. auch ungewollten Erkenntnissen belastet werden. Werden die Verwandten unmittelbar mit den Erkenntnissen konfrontiert, so droht eine Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechts in seiner besonderen Ausprägung des Rechts auf Nichtwissen5 und damit der Verlust ihrer „genetischen Unschuld“,6 wenn sie nicht an der Untersuchung beteiligt waren. Dies gilt erst recht, wenn sie die Untersuchung sogar ausdrücklich abgelehnt haben, um nicht in Kenntnis einer (möglichen) Erkrankung leben zu müssen. In letztgenannter Konstellation ergibt sich deutlich der Konflikt, dass für den Untersuchungswilligen sein Recht auf Wissen im Gegensatz stehen kann zum Recht auf Nichtwissen eines Blutsverwandten. Entscheidet sich jedoch ein Untersuchungswilliger für eine Gendiagnose, so wird im Fall widerstreitender Interessen und Ansichten der Autonomie der untersuchungswilligen Person Vorrang vor derjenigen eventuell Betroffener eingeräumt.7 Trotz dieser Grundentscheidung stellt sich für den Handelnden jedoch die Frage der Implikationen für seine Familie und des Umgangs mit diesem Autonomiekonflikt.8 Richtlinien zum Umgang mit prädiktiven Tests auf Chorea Huntington sehen aus diesem Grund eine umfassende Beratung vor und nach Durchführung des Tests vor. Diese Beratung umfasst auch den Hinweis auf die Konsequenzen für die Familie.9 Diese sind jedoch aufgrund des unheilbaren Charakters und schweren Verlaufs der Krankheit besonders problematisch, da sich für den Verwandten durch das Wissen keine neuen Handlungsoptionen eröffnen.10 4 Vgl. Bartram, Die Individualisierung des Krankheitsbegriffs, in: Hofmeister, Der Mensch als Subjekt und Objekt der Medizin, S. 67; Kamps/Laufs, Arzt- und Kassenarztrecht im Wandel, S. 29; siehe ausführlicher zu der Erkrankung oben Kapitel 1, A. I. 5 Siehe dazu unten Kapitel 3, A. I. 2. b) bb). 6 Leopoldina et al., Stellungnahme 2010, S. 49. 7 Vgl. Leopoldina et al., Stellungnahme 2010, S. 50; vgl. ausführlich unten Kapitel 3, A. IV. 3. 8 Vgl. Bartram, Wie viel Wissen verträgt der Mensch?, in: Hillenkamp, Medizinrechtliche Probleme der Humangenetik, S. 89, 99. 9 Vgl. Went, J Med Genet 1994, S. 555; ausführlich zu der Problematik: Krahnen, Chorea Huntington. Das Recht auf Wissen versus das Recht auf Nicht-Wissen, in: Schroeder-Kurth, Medizinische Genetik in der BRD, S. 66 ff. 10 Aus diesem Grund differenzieren die einschlägigen Regelungen zwischen heilbaren/behandelbaren und nicht-heilbaren Erkrankungen.
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
Allein das Beispiel der Erkrankung Chorea Huntington als Fall einer prädiktiven Gendiagnostik ohne Präventionsmöglichkeiten gibt daher kein vollständiges Bild der Problematik des Zufallsfundes in der Gendiagnostik. Ist es doch das Ziel der Präventivmedizin, vorbeugend tätig zu werden, so soll der Vollständigkeit halber daher ergänzend ein Beispiel der „Prädiktion mit Präventionsmöglichkeit“11 dargestellt werden. Hier ergeben sich für Verwandte aus dem Wissen um eine genetische Veranlagung mögliche Reaktionen auf diese Disposition und gegebenenfalls sogar die Möglichkeit Gesundheitsschäden abzuwenden. Als Beispiel soll hier die sogenannte Hämochromatose dienen: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:400 ist man Träger der autosomal rezessiv vererbbaren Hämochromatose, einer Eisenspeicherkrankheit. Bei dieser wird überzähliges Eisen nicht ausgeschieden, sondern wird in den Organgeweben resorbiert, vor allem in der Leber, was zu einer Zirrhose führen kann. Die Symptome dieser Erkrankung treten erst im Erwachsenenalter auf. Wird die Erkrankung nicht frühzeitig erkannt, sind die Organschäden irreversibel. Eine Prävention ist durch Aderlass, i. d. R. nur bei Männern erforderlich, möglich.12 Erfahren die Betroffenen – auch in diesem Fall lässt der Test Rückschlüsse auf Verwandte zu – somit rechtzeitig von ihrer Erkrankung, so können sie Präventionsmaßnahmen ergreifen und damit Organschäden vorbeugen. Aufgrund möglicher Gesundheitsmaßnahmen kommt dem Wissen jedoch gegebenenfalls ein anderer Wert zu. Spontan würde man sich an dieser Stelle daher für die Weiterleitung des Wissens entscheiden. Im Folgenden wird jedoch gezeigt, dass diese Antwort nicht so einfach gegeben werden kann, nimmt man das Selbstbestimmungsrecht auf beiden Seiten ernst. Auch sind nicht alle Fälle genetisch bedingter Erkrankung so eindeutig wie der beschriebene Fall.
II. Begrifflichkeit des Zufallsfundes Der Begriff des Zufallsfundes wird in der Forschung aber auch in der kurativen Medizin verwendet. Im Bereich der Forschung bezeichnet der Begriff „Zufalls(be)fund“ einen zufälligen Fund betreffend den Studienteilnehmer, der potenzielle Effekte auf die Gesundheit hat und im Rahmen der Studie entdeckt wurde, ohne Gegenstand der Studie zu sein“.13 Im Bereich der klinischen Anwendung ist parallel dazu ein Zufalls(be)fund ein Befund, der außerhalb des unmittelbaren Gegenstands der klinischen Untersuchung, der diagnostischen Fragestellung liegt, mit dem nicht gerechnet werden konnte und damit „bei Gelegenheit“ der Untersuchung ermittelt wurde (nicht-intendierte Befunde).14 Die Begrifflichkeit zur Beschreibung dieser Problematik im Bereich der Humangenetik ist nicht konsistent. Das GenDG verwendet den Begriff selber nicht, sondern spricht in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG allgemein von einer anzunehmenden Trägerschaft. Die Richt11
Beispiel nach Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 16, 17. Schröder weist hier darauf hin, dass der Test nicht aufwendig und sehr kostengünstig sei. Durch ein Screening könnten der Solidargemeinschaft Kosten, insbesondere für Organtransplantationen erspart werden. 13 Wolf et al., J Law Med Ethics 2008, S. 2 (Autorenmanuskript); Heinemann et al., DÄBl. 2007, A 1982–7. 14 Vgl. Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 39; Phg-foundation, Next steps in the sequence, S. 94; Stockter, Das Verbot genetischer Diskriminierung und das Recht auf Achtung der Individualität, S. 506. 12
A. Zufallsfunde – Eine Einführung
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linie der Gendiagnostik-Kommission (GEKO)15 spricht in diesem Kontext von „Nebenbefunden“16 und die Gesetzesbegründung in Bezug auf den Patienten von „Überschussinformationen“, „unerwarteten Untersuchungsergebnissen“ oder „Nebenbefunden“.17 In Anlehnung an die englischsprachige Literatur wird hier der Begriff des „Zufallsfundes“ gewählt (englisch: Incidental Findings).18 Dieser Begriff erfasst anders als der des Nebenbefunds beide möglichen Fallkonstellationen der Problematik des Zufallsfunds: zufällige Funde beim Betroffenen (im Folgenden als eindimensionaler Zufallsfund bezeichnet) und beim genetisch verwandten Dritten (im Folgenden als mehrdimensionaler Zufallsfund bezeichnet). Der Zusatz „Neben“ zum ursprünglichen Befund würde den zusätzlichen Befund nur auf den Patienten selber beziehen. Durch die Betonung des „Zufalls“ wird deutlich, dass die genetische Untersuchung diesen Aspekt, insbesondere die dadurch berührten Interessen, im Vorfeld nicht berücksichtigt hat. Nach diesen Erkenntnissen, den Patienten oder Verwandten betreffend, wurde nicht gesucht und sind daher als „zufällig“ erhoben zu bewerten. Bei der Gendiagnostik ist die Diagnose genetisch bedingter Krankheiten für Verwandte damit immer eine zufällige Erkenntnis, da sie nicht Klient und ihre Disposition nicht Untersuchungsgegenstand war.19 Gleiches gilt für den Patienten, wenn im Rahmen einer genetischen Analyse neben dem eigentlichen Untersuchungsziel eine andere Krankheitsveranlagung entdeckt wird. Teilweise ist auch von einem Zufallsbefund die Rede.20 Anders als ein Befund, d. h. das nach einer Untersuchung festgestellte Ergebnis oder der festgestellte Zustand,21 liegt im Fall eines Fundes nur eine Entdeckung ohne ein bereits festgestelltes Ergebnis vor. Dieser Begriff wird dem Charakter der genetischen Erkenntnisse, die nur Wahrscheinlichkeitsaussagen beinhalten, gerechter. Inwieweit dieser Begriff die Problematik auch in Zukunft, bei zunehmender Durchführung genetischer Analysen und einer Analyse des ganzen Genoms, noch zutreffend beschreibt, soll an gegebener Stelle unter dem Stichwort „Zusatz(be)fund“ nachgegangen werden. Deutlich wird jedoch schon hier an dem Begriffswandel vom „Zufall“ zum „Zusatz“, dass sich die Frage der „Erwartbarkeit“ solcher Funde stellt.22 15 Gem. § 23 Abs. 1 GenDG wird beim Robert Koch-Institut eine interdisziplinär zusammengesetzte, unabhängige Gendiagnostik-Kommission eingerichtet, die gem. § 23 Abs. 2 GenDG Richtlinien erstellt: Z. B. Richtlinie der Gendiagnostik-Kommission (GEKO) über die Anforderungen an die Qualifikation zur und Inhalte der genetischen Beratung gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2a und § 23 Abs. 2 Nr. 3 GenDG, i. K. 11.07.2011; RL für die Anforderungen an die Inhalte der Aufklärung bei genetischen Untersuchungen zu medizinischen Zwecken gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 3 GenDG, i. K. 25.05.2012; RL für die Beurteilung genetischer Eigenschaften hinsichtlich ihrer Bedeutung für Erkrankungen oder gesundheitliche Störungen sowie für die Möglichkeiten, sie zu vermeiden, ihnen vorzubeugen oder sie zu behandeln gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 1a GenDG, i. K. 26.07.2012; RL für die Anforderungen an die Qualitätssicherung genetischer Analysen zu medizinischen Zwecken gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 4 GenDG, i. K. 26.07.2012. (abrufbar unter http://www.bvdh.de). 16 GEKO, Richtlinie, VII.3; ebenso Hauschild/Claussen, medgen 1998, S. 316. 17 BT-Drs. 16/10532, S. 27; den Begriff Überschussinformation verwendet auch Kienle, Die prädiktive Medizin und gentechnische Methoden, S. 84. 18 Wolf et al., J Law Med Ethics 2008, S. 2 (Autorenmanuskript): im englischen als „IFs“ bezeichnet (Incidental Findings); Cho, J Law Med Ethics 2008, S. 280, 283. 19 Vgl. BT-Drs. 16/10532, S. 27. 20 Vgl. Heinemann et al., DÄBl. 2007, A 1982. 21 Duden Schlagwort Befund. 22 Siehe dazu unten Kapitel 4, B. III. 1.; Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 39.
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
III. Einführung in die Problematik Bekannt ist die beschriebene Problematik bereits in der klinischen Medizin in zwei Fallgruppen: zum einen in Bezug auf den Patienten selber, zum anderen in Bezug auf Gesundheitsgefährdungen oder -schäden Dritter. In der Gendiagnostik gewinnen beide Fallgruppen an Relevanz, im Besonderen jedoch die Drittwirkung zufälliger Erkenntnisse. Kurz gefasst besteht das Problem im Umgang mit letzterer Konstellation des Zufallsfundes, wie am Beispiel der Erkrankung Chorea Huntington deutlich werden sollte, in den verschiedenen betroffenen Rechten, Pflichten und Interessen. Auf der einen Seite steht der Patient „eingebettet“ in die bekannte Arzt-Patienten-Beziehung, mit seinem Recht auf Selbstbestimmung. Hinzu kommen aber möglicherweise auch für ihn schwer zu meisternde moralische Pflichten gegenüber Dritten, vor allem der Familie. Sozusagen außerhalb der Beziehung stehen in der Konstellation infektiöser aber vor allem genetischer Zufallsfunde potenziell betroffene genetisch Verwandte. Sie können ein Interesse an den Erkenntnissen haben, aber auch den Wunsch vom Wissen verschont zu bleiben. Zwischen diesen beiden Gruppen steht der Arzt mit den ihn treffenden rechtlichen und ethischen Pflichten, der jedoch primär seinem Patienten verpflichtet ist. Etwas weniger konfliktträchtig ist die Konstellation des eindimensionalen Zufallsfundes. Hier geht es im Kern um den Schutz der Selbstbestimmung des Patienten und damit um die Frage, ob in die Offenbarung der Zufallsfunde vorab eingewilligt werden muss und eine Aufklärung den Umstand der möglichen Zufallsfunde folglich umfassen muss, oder ob der Arzt über zumindest behandelbare Zufallsfunde grundsätzlich aufklären soll oder gar muss. 1. In der „Normalmedizin“ Das Ergebnis vorweg nehmend, wird im Bereich der klinischen Medizin für die Fälle „eindimensionaler“ aber auch „mehrdimensionaler“ Zufallsfunde primär der Weg der Aufklärung gewählt und diese Rolle dem Arzt übertragen. Zu eindimensionalen Zufallsfunden kommt es vor allem in der bildgebenden Medizin, wie der Computertomographie, wenn im Rahmen der Bildanalyse beispielhaft ein Tumor entdeckt wird. In diesem Fall liegt ein sogenannter Zufallsfund oder Zufallsbefund im Verhältnis zum Patienten vor. Das Problem des Umgangs mit diesen Erkenntnissen „verlässt“ die bilaterale Beziehung hier noch nicht. Im Grundsatz wird der betroffene Patient über dieses Zusatzergebnis vom Arzt informiert, und Fragen der Patientenautonomie zurückgestellt.23 Etwas komplizierter liegt der Fall in der Konstellation von Zufallsfunden im Bereich der Infektionskrankheiten, insbesondere im Fall der Diagnose einer HIV-Infektion beim Patienten. Eine Aufsehen erregende Entscheidung24 , die später im Detail besprochen werden soll25 , beschäftigte sich mit der Problematik, dass der Arzt, wenn er eine HIV-Infektion feststellt, zugleich auch zumindest das Risiko diagnostiziert, dass sich der Intimpartner 23 24 25
Siehe dazu Kapitel 2, B. I. OLG Frankfurt, Beschl. v. 8.7.1999 – 8 U 67/99. Siehe dazu Kapitel 2, C. I. 1.
A. Zufallsfunde – Eine Einführung
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angesteckt hat oder anstecken wird. Der Gesundheitszustand dieses Partners war jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung und der Partner nicht zwingend Patient des behandelnden Arztes. Hier tritt eine weitere personelle Dimension der medizinischen Diagnose hinzu. Zeigt sich der Patient bezüglich seiner moralischen Aufklärungspflicht gegenüber seinem Partner uneinsichtig, so wird dem Arzt ein Aufklärungsrecht über § 34 StGB zugestanden. Von Relevanz sind hier folglich Fragen in Bezug auf Umfang und Reichweite der Schweigepflicht, die den Arzt treffende allgemein ethische Pflicht der Fürsorge und mögliche Aufklärungspflichten. Für den Patienten spielen spiegelbildlich das Recht auf Verschwiegenheit, Privatheit und informationelle Selbstbestimmung eine Rolle. Das Konfliktpotenzial gewinnt an Relevanz, wenn Informationsinteressen, positive wie auch negative, möglicherweise betroffener Dritter mit einzubeziehen sind. Diese Fallkonstellationen sollen im Folgenden Grundlage und Ausgangspunkt der Diskussion im Bereich der Gendiagnostik darstellen. 2. In der Gendiagnostik Handelt es sich in der kurativen Medizin eher um eine Ausnahmeproblematik, so erhält die Problematik des Zufallsfundes durch die Fortentwicklung der Gendiagnostik zusätzlich an Gewicht. Die zunehmenden wissenschaftlichen Möglichkeiten und der zu erwartende technische Fortschritt, insbesondere vor dem Hintergrund der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms, haben die Kapazität eine Flut persönlichkeitsrelevanter Daten zu generieren und damit auch das Potenzial die Anzahl von zufälligen Erkenntnissen erheblich zu steigern. Man kann erahnen, dass es in Zukunft kein Ausnahmefall sein wird, dass im Rahmen der genetischen Analyse des Klienten sozusagen als „Nebenprodukt“26 Erkenntnisse über Erkrankungen der untersuchten Person, aber auch Verwandter, gewonnen werden, nach denen gar nicht gesucht wurde. Die Gendiagnostik ist „ganzkörperbezogen“, so dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zunehmend zu solchen Funden kommen wird.27 Die Besonderheit genetischer Daten, ihre Aussagekraft im Vergleich zu anderen medizinischen Daten, verschärft zusätzlich die Problematik: In Bezug auf das jeweilige Individuum beschreiben die Gene unabänderliche Eigenschaften einer Person.28 Ihnen wird aus diesem Grund der Charakter von persönlich identitätsrelevanten Gesundheitsdaten zugeschrieben. Hinzu tritt der prädiktive Charakter der Daten, der für das Ziel einer Präventivmedizin eingesetzt werden soll, jedoch auch die Gefahr der Stigmatisierung und Diskriminierung birgt.29 Zudem ist die DNA einer Person nur dieser zuordenbar, so dass ihr Identifikationswirkung zukommt („genetischer Fin26
Eberbach, MedR 2011, S. 757, 762. Vgl. Retzko, Prädiktive Medizin versus ein (Grund-)Recht auf Nichtwissen, S. 141: „(. . . ) jede Körperzelle ist gewissermaßen eine von Natur aus zur Verfügung gestellte Datenbank, was die Gefahr (. . . ) versehentlich gewonnener Überschussinformationen erhöht.“ 28 „Seine Gene hat man nicht, seine Gene ist man“ Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 338. 29 Vgl. Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 296 f. 27
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
gerabdruck“).30 All diese Besonderheiten führen auch zu neuen rechtlichen Herausforderungen. Im Vordergrund steht hier die Etablierung eines Rechts auf „geninformationelle Selbstbestimmung“31 und damit einhergehend die Erkenntnis, dass die bisher beschrittenen rechtlichen Wege im Umgang mit Zufallsfunden sich nicht ohne Weiteres fortsetzen lassen. Die besondere rechtliche Herausforderung besteht jedoch in den Fällen mehrdimensionaler Zufallsfunde darin, dass genetische Informationen auch Aussagen über Dritte (Verwandte) offenbaren und damit soziale Zusammenhänge tangieren.32 Zusammengefasst meint dies: „Meine Anlagen sind auch deine Anlagen“33 . Für die Gendiagnostik sind multipolare Rechtsbeziehungen daher charakteristisch.34 Wird eine genetische Mutation festgestellt, so erlaubt dies aufgrund der Vererbungsgänge je nach Mutation und Penetranz einen Rückschluss auf mögliche genetische Veranlagungen eines Verwandten. Neben den bereits genannten rechtlichen Herausforderungen gewinnen hier moralische Fragen in der innerfamiliären Kommunikation und gesellschaftliche Entwicklungen zunehmend an Bedeutung. Der Drittbezug genetischer Daten wird aus diesem Grund als „Basisproblematik der humangenetischen Praxis“ bezeichnet.35 Nach Lemke36 verwandelt sich eine Krankheit in dem Moment, in dem sie als genetisch bedingt diagnostiziert wurde, in eine „soziale Angelegenheit“. Diese lässt sich allein mit dem Konstrukt der Selbstbestimmung des Patienten nicht bewältigen, da sie dem „multipersonellen“ Charakter nicht gerecht wird.37 Der Drittbezug gendiagnostischer Erkenntnisse ist daher unter verschiedenen Gesichtspunkten, medizinischen, rechtlichen, aber auch gesellschaftlichen, zu beleuchten.38 Diese 30 BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2000 – 2 BvR 1741/99, 2 BvR 276/00, 2 BvR 2061/00 – BVerfGE 103, 21; aus diesen Gründen wird teilweise eine Diskussion über den Status genetischer Daten geführt, insbesondere darüber, ob diese Daten im Vergleich zu anderen medizinischen Daten einen Sonderstatus haben, oder sogar von einem „genetischen Exzeptionalismus“ auszugehen ist; hierzu Damm, MedR 2011, S. 7, 15; Der Gesetzgeber ist mit dem GenDG dem Konzept eines genetischen Exzeptionalismus gefolgt: Heyers, MedR 2009, S. 507, 508. 31 Sternberg-Lieben, NJW 1987, S. 1242, 1246; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 94; teilweise wird auch vom „Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung“ gesprochen: dazu Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, S. 87. 32 Vgl. Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 35; Gesetzesentwurf der Bundesregierung v. 13.10.2008, BT-Drs. 16/10532 S. 1; Damm, MedR 2004, 1, 2; Lemke, Die Polizei der Gene, S. 122. 33 Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 153 als Motto der humangenetischen Praxis. 34 Vgl. DER, Stellungnahme 2013, S. 74. 35 Damm, MedR 1999, S. 437, 440; vgl. Kersten, ZEE 2013, S. 23, 24 der informationelle Drittbezug genetischer Daten ist der „neuralgische Punkt“ der Gendiagnostik; Wollenschläger, AöR 2013, S. 161,163. 36 Lemke, Veranlagung und Verantwortung, S. 88. 37 Vgl. Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Wolfgang, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 316: In diesem Drittbezug zeigt sich „die Multipersonalität, die der auf Individualität ausgerichteten Selbstbestimmung“ nicht immer entsprechen muss. 38 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 100; Aufgrund dieser „vielen Gesichter“ der Erforschung des menschlichen Genoms, sein Nutzen, sein Schaden und die damit verbundenen Erwartungen, wurde die Erforschung des menschlichen Genoms von einem interdisziplinären Forschungsprogramm begleitet, das die ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen berücksichtigen sollte: siehe z. B. das ELSI-Programm als
B. Methoden und Möglichkeiten der Gendiagnostik
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Vielschichtigkeit macht den interdisziplinären komplexen Charakter der Thematik deutlich.
B. Methoden und Möglichkeiten der Gendiagnostik Das juristische Verständnis von (drittwirksamen) Zufallsfunden in der Gendiagnostik setzt die Kenntnis ihrer Grundlagen, der Gene und Vererbungsvorgänge, aber auch ihrer aktuellen Einsatzbereiche voraus. Auf dieser Grundlage lassen sich die Besonderheiten genetischer Daten und damit die Problematik des Zufallsfundes besser darstellen.
I. Grundbegriffe In der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion werden verschiedene Begriffe teilweise synonym verwendet, so dass sich zunächst eine begriffliche Klarstellung des Begriffs der „Gendiagnostik“ und im Folgenden einige Erläuterungen anbieten. 1. Gendiagnostik Die Gendiagnostik zählt zur Humangenetik, die sich mit der Entstehung, Vererbung und Diagnostik erblich bedingter Krankheiten und den Therapiemöglichkeiten befasst.39 Die Humangenetik ist damit die Wissenschaft von der „genetisch bedingten Variabilität des Menschen“.40 Der Begriff der Gendiagnostik wird in der Praxis, Wissenschaft und Literatur der genetischen Analyse nicht einheitlich verwendet. Teilweise wird diese als „Genomanalyse“, „Gentest“ oder wie hier als „Gendiagnostik“ bezeichnet.41 In Anlehnung an die Begriffswahl des Gesetzgebers im Gendiagnostikgesetz soll hier der Klarheit und Einheitlichkeit halber der Begriff der Gendiagnostik verwendet werden. 2. Genetische Vererbung Für die Gendiagnostik und im Besonderen für die Behandlung des Zufallsfundes von besonderer Relevanz ist die genetische Vererbung. Ihre Kenntnis ist Voraussetzung für das Verständnis der Implikationen für Verwandte. a) Dominante und rezessive Erbgänge Die Gendiagnostik basiert auf einer Analyse der Gene und Vererbungsvorgänge. Ein Genom, unser Erbgut, ist die Gesamtheit aller genetischen Informationen eines Organisintegraler Bestandteil des Humangenomprojekt in den USA: Ethical, Legal, and Social Issues, Internet: http://www.genome.gov/10001618 (abgerufen 24.10.2012); siehe zu diesen Fragen auch DFG, Stellungnahme 2002, S. 14 ff.: Sie betont unter den ethischen und rechtlichen Aspekten die Würde und das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, und unter sozialen Fragen die Aufklärung der Gesellschaft über Nutzen und Risiken der Forschung. 39 Vgl. Kauch, Gentechnikrecht, Rn. 20. 40 GfH, Positionspapier 2007, S. 1. 41 Vgl. Hasskarl/Ostertag, MedR 2005, S. 640, 642.
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
mus.42 Ein Gen umschreibt dabei einen aus DNA43 bestehenden Abschnitt44 eines Chromosoms.45 Die Gesamtmenge des menschlichen Erbgutes wird mit ca. 3 Milliarden DNA Basen angegeben und kodiert für ca. 20 bis 25.000 Gene.46 Die Gene sind für unser äußeres Erscheinungsbild (Phänotyp) „verantwortlich“. Dabei bestimmt die sogenannte Penetranz eines Gens dessen Durchsetzungskraft und gibt damit an, mit welcher Häufigkeit eine genetische Veranlagung sich im Phänotyp des Trägers manifestiert.47 Je nach Weitergabe des Gens treten daher unterschiedliche Geno- und Phänotypen auf. Die Vererbung des Gens richtet sich nach der unterschiedlichen Dominanz der Gene (dominant und rezessiv). Ob sich ein Gendefekt auswirkt, hängt von dieser Dominanz ab. Eine so genannte kodominante Vererbung besteht im Falle des Aufeinandertreffens von zwei dominanten Allelen, wobei ein Allel eine mögliche Ausprägung eines Genlocus (der Ort des Gens auf einem Chromosom) bezeichnet.48 Reicht für die Vererbung bereits dessen Existenz auf einem Allel aus, so nennt man dies dominante Vererbung.49 Im Falle eines sogenannten autosomal-dominanten Erbgangs besitzt eine Person ein dominantes Allel betreffend eines Merkmals, das das sogenannte rezessive Merkmal überlagert. Nach außen in Erscheinung tritt daher nur das dominante Merkmal. Aufgrund der Dominanz besteht eine 50%ige Wahrscheinlichkeit für eine Weitergabe des Gens an die nächste Generation. Autosomal bedeutet dabei, dass die Vererbung geschlechtsunabhängig erfolgt.50 Ein typisches Beispiel einer solch autosomal-dominanten Erkrankung ist Chorea Huntington. Kommt es erst zu einer Manifestation wenn beide Allele durch ein defektes Gen besetzt sind, so nennt man dies rezessive Vererbung. Bei autosomal-rezessiven Erbgängen kommt es nur im Falle des gleichzeitigen Vorhandenseins zweier rezessiver Allele zur Ausprägung des Merkmals im Phänotyp. Ansonsten wird das rezessive Gen durch das unveränderte überdeckt.51 In der Regel werden die Chromosomen und die auf ihnen lokalisierten Gene unverändert vererbt.52 Eine Veränderung dieses Erbguts (Mutation) kann somit zur nächsten Generation weitergegeben werden, aber auch neu entstehen, da Gene auch die Fähigkeit zu 42
Vgl. Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 245. Englisch DNA: deoxyribonucleic acid; deutsch Desoxyribonukleinsäure: Die DNS ist ein in allen Lebewesen vorkommendes Biomolekül in Form einer Doppelhelix und die Trägerin der Erbinformation. Sie ist Träger der Gene. 44 Vgl. Kauch, Gentechnikrecht, Rn. 5 f. 45 Ein Chromosom beschreibt die Strukturen innerhalb eines Zellkerns, die die Erbanlagen tragen: Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 17. 46 Vgl. Buselmaier/Tariverdian, Humangenetik, S. 4: Die genaue Sequenzierung von 99,99% des gesamten menschlichen Genoms mit 3,2 Milliarden Basen wurde am 14. April 2003 als Abschluss des Humangenomprojekts bekannt gegeben. Zu diesem Zeitpunkt schätzt man, dass das menschliche Genom ca. 30 000 bis 35 000 Gene umfasst. Diese Werte wurden später auf 3,08 Milliarden Basen und 20 000 bis 25 000 Gene korrigiert. 47 Vgl. Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 15. 48 Vgl. Stumper, Informationelle Selbstbestimmung und DNA-Analysen, S. 34. 49 Vgl. Stumper, Informationelle Selbstbestimmung und DNA-Analysen, S. 35. 50 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 10. 51 Vgl. Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 17. 52 Vgl. Buselmaier/Tariverdian, Humangenetik, S. 64. 43
B. Methoden und Möglichkeiten der Gendiagnostik
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gelegentlichen Änderungen besitzen.53 Die Diagnostik dieser Mutationen ist Gegenstand der Gendiagnostik. b) Bedeutung für Verwandte Für Verwandte eines Untersuchungswilligen oder Untersuchten folgt aus diesen wissenschaftlichen Grundaussagen, dass im Fall autosomal dominanter Erbgänge, wie die monogene Erbkrankheit Chorea Huntington, die Aussagekraft für Verwandte besonders hoch ist. Rückschlüsse sind dabei sowohl von Eltern auf Nachkommen als auch umgekehrt möglich. Bei monogenen Erkrankungen besteht eine Wahrscheinlichkeit von 50%, dass Verwandte betroffen sind. Bei rezessiven Erbgängen ist die Aussagekraft entsprechend geringer. Verfügt der Verwandte über das entsprechende Wissen, in heutiger Zeit ist die Gendiagnostik ein durchaus in der Öffentlichkeit breit diskutiertes Thema, oder informiert sich entsprechend, so erlangt er das entsprechende Wissen ohne Untersuchung und damit zwingend ohne ärztliche Betreuung. Dies folgt vor allem aus dem Umstand, dass Erkrankungen und der Umgang mit diesen in Familienbeziehungen häufig diskutiert werden und damit das Wissen weitergegeben wird. Auch für den Arzt und ebenso für den Betroffenen ergibt sich aus der Untersuchung die Möglichkeit, zumindest über die Wahrscheinlichkeit einer genetischen Krankheitsdisposition des Verwandten, Wissen zu erlangen. Dritte können daher potenziell ohne die Beteiligung oder gar das Wissen Verwandter Kenntnis über deren genetische Merkmale erhalten. Aufgrund der beschriebenen Vererbungsgänge kann eine Gendiagnostik jedoch keine sichere Aussage sondern nur Wahrscheinlichkeitsaussagen liefern. Da die genetischen Prozesse keine hundertprozentige Verknüpfung zwischen Geno- und Phänotyp aufweisen und viele Faktoren innerhalb des Genoms, aber auch der Einfluss der Umwelt wie auch der Lebensgewohnheiten und der sozialökonomische Status54 , eine (wenn auch noch nicht vollständig geklärte) Rolle spielen, können Individuen trotz gleichen Genotyps einen anderen Phänotyp aufweisen. Dieser Grad der Ausprägung im Phänotyp wird durch die Expressivität eines Gens beschrieben.55 Umgekehrt ist es jedoch auch möglich, dass bei gleichem Phänotyp, aufgrund verschiedener Dominanz der Gene, ein unterschiedlicher Genotyp auftritt. Die Manifestation einer genetischen Mutation kann daher nicht sicher vorhergesagt, sondern nur in Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt werden.56
53 Vgl. Buselmaier/Tariverdian, Humangenetik, S. 64: die Fähigkeit der spontanen Änderung, der Mutation, ist Voraussetzung der Evolution. 54 Vgl. GfH, Positionspapier 2007, S. 3; Kiehntopf/Pagel, MedR 2008, S. 344, 347; BT-Drs. 16/12000, S. 6. 55 Vgl. Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 15. 56 Die Frage ist, ob diese wissenschaftlichen Feinheiten der breiten Öffentlichkeit bekannt sind. Es besteht daher die Gefahr, dass entsprechende Erkenntnisse fehlinterpretiert und überbewertet werden.
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
II. Genanalysemethoden Die Besonderheit der Gendiagnostik im Vergleich zur klinischen Diagnostik besteht darin, dass die Diagnose nicht mehr am Symptom ansetzt und auf dieses reagiert, sondern an der Ursache des Symptoms selber anzusetzen versucht.57 Erkenntnisse über die genetischen Eigenschaften eines Menschen können hier unter Heranziehung verschiedener Analyseansätze gewonnen werden. Differenziert wird dabei innerhalb der Gendiagnostik zwischen unterschiedlichen Untersuchungsebenen und Untersuchungszwecken. In der Regel werden vier verschiedene medizinische Ansätze unterschieden58 (vgl. § 3 Nr. 2 GenDG): Die Phänotypanalyse auf der Ebene des äußeren Erscheinungsbildes, die zytogenetische auf der Ebene der Chromosomen, die molekulargenetische und die Genproduktanalyse. 1. Phänotypanalyse Der Phänotyp beschreibt das äußere Erscheinungsbild des Untersuchten, wie z. B. Haut, Haarfarbe etc. Die Diagnose einer genetischen Erkrankung ist daher über diesen Weg nur möglich, wenn die Folgen der genetischen Veränderung sich bereits äußerlich manifestiert haben,59 was nur selten der Fall ist. Sie kann jedoch Hinweise auf eine Erkrankung geben, z. B. beim Down-Syndrom.60 Eine häufig angewendete Analysemethode ist dabei die Ultraschalluntersuchung während der Schwangerschaft, um genetisch bedingte Entwicklungsstörungen frühzeitig zu erkennen.61 Dieser Ansatz war es auch, der es ermöglichte, das AB0-Blutgruppensystem genetisch zu deuten.62 Gegenstand der Analyse ist hier das Ergebnis der Gene und nicht diese selbst, so dass es sich nicht um eine Genanalyse im eigentlichen Sinn handelt. Es ist vielmehr im Unterschied zu den folgenden Methoden eine herkömmliche Untersuchung, die auf der optischen Wahrnehmung des äußeren Erscheinungsbildes beruht. Diese Art der Analyse ist vom Anwendungsbereich des GenDG nicht erfasst.63 Gleiches gilt für die Familienanamnese.64
57 Vgl. Schmidtke, Gentests, in: Honnefelder, Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 169. 58 Vgl. Winter/Fenger/Schreiber, Genmedizin und Recht, Rn. 9 ff; zu den jeweiligen Testverfahren vgl. Schmidtke, in: Winter/Fenger/Schreiber, Genmedizin und Recht, Rn. 1032 ff.; Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 126; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 28 f. 59 Vgl. Schmidtke, Genetische Tests, in: Raem, Gen-Medizin, S. 227. 60 Das äußere Erscheinungsbild ist unter anderem durch einen rundlichen Kopf, Minderwuchs, meist offener Mund etc. charakterisiert. Pschyrembel, Stichwort Down-Syndrom. 61 Vgl. Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 72. 62 Vgl. Schmidtke, Genetische Tests, in: Raem, Gen-Medizin, S. 227. 63 Dies ist nicht unumstritten, vgl. zur Kritik Bundesärztekammer, Stellungnahme zum Entwurf des GenDG, S. 3. 64 Anamnese beschreibt die Krankheitsgeschichte des Patienten: Beginn und Verlauf der Beschwerden, die im persönlichen Gespräch erfragt werden (Pschyrembel, Stichwort Anamnese). Bei der Familienanamnese werden zusätzlich Angaben über Erkrankungen erfragt, die bei Verwandten aufgetreten sind. Gerade ein Fall einer Familienanamnese lag der Entscheidung des VG Darmstadt, Urteil v. 24.06.2004 – 1 E 470/04, NVwZ-RR 2006, S. 566, zugrunde. Gegenstand war die Weigerung einer Verbeamtung auf Probe, weil bei Anwärterin anamnestisch die Huntington Krankheit ihres Vaters bekannt war.
B. Methoden und Möglichkeiten der Gendiagnostik
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2. Zytogenetische Analyse Gem. § 3 Nr. 2 a) GenDG versteht man unter zytogenetischer Analyse, auch als Chromosomenanalyse bezeichnet, die auf die Feststellung genetischer Eigenschaften gerichtete Analyse der Zahl und Struktur der Chromosomen. Im Rahmen der Zytogenetik werden die Chromosomen in der Zelle untersucht. In dieser befindet sich ein doppelter Chromosomensatz von 23. Eine solche Untersuchung erlaubt jedoch meist nur begrenzte Aussagen über den voraussichtlichen Ausprägungsgrad einer auf einer solchen Veränderung basierenden Erkrankung.65 Zu solchen Veränderungen zählen Chromosomenverluste, Stückaustausche oder überzählige Chromosomen. Bestimmte Chromosomenveränderungen werden mit Krankheiten oder Behinderungen in Verbindung gebracht, wie z. B. das Down-Syndrom, auch als Trisomie 21 bezeichnet, bei der das Chromosom drei- statt zweimal vorhanden ist und als erste menschliche Chromosomenstörung identifiziert wurde.66 Zytogenetische Untersuchungen spielen daher seit Jahren in der pränatalen Diagnostik eine Rolle.67 3. Molekulargenetische Analyse § 3 Nr. 2 b) GenDG definiert die molekulargenetische Analyse als Analyse der molekularen Struktur der DNA oder der Ribonukleinsäure (RNS, englisch RNA), daher auch DNA-Analyse genannt. Bei dieser Art der Analyse werden genetische Merkmale auf der Ebene der Erbsubstanz DNA analysiert. Dies erlaubt, anders als die Chromosomenanalyse, die Untersuchung einzelner Gene und deren Beitrag bei der Entstehung von Krankheiten68 , und damit ist man in der Lage mehr erblich bedingte Erkrankungen zu analysieren als mit der vorgenannten Analyseart.69 Dieses Diagnoseverfahren setzt voraus, dass eine Vorstellung von Lage und Größe der Gene auf den Chromosomen existiert. Zu diesem Zweck werden Genkarten erstellt, die die Anordnung und Lage von Genen zueinander auf den Chromosomen angibt.70 Ist danach der molekulare Aufbau des Gens bekannt, so kann es direkt untersucht werden. Sind krankhafte Gene nicht identifiziert, behilft sich die Analyse mit sogenannten Markern.71 Bei dieser Art der Untersuchung lassen sich folglich direkte und indirekte Gentests unterscheiden, je nachdem ob der für die Pathologie verantwortliche Genabschnitt bekannt ist oder nicht.72
65 Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 134. 66 Vgl. Schmidtke, Genetische Tests, in: Raem, Gen-Medizin, S. 227, 228. 67 Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 119. 68 Vgl. Schmidtke, Genetische Tests, in: Raem, Gen-Medizin, S. 227, 230. 69 Siehe auch Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 116. 70 Vgl. Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 30; Diese Kartierung von Genen ist wichtiger Bestandteil der Gendiagnostik, jedoch lediglich die Vorbereitung der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms. Diese war Gegenstand des Humangenomprojekts. 71 Vgl. Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 31. 72 Vgl. Stumper, Informationelle Selbstbestimmung und DNA-Analysen , S. 40.
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Ein direkter Gentest setzt voraus, dass das für eine bestimmte Krankheit ursächliche Gen bekannt ist und dementsprechend direkt untersucht werden kann.73 Für eine Vielzahl monogener Erbkrankheiten, d. h. solche Krankheiten die vorwiegend oder ausschließlich durch ein mutiertes Gen verursacht werden74 , ist eine solche direkte Mutationsanalyse heute möglich.75 Sie eröffnet jedem eine Genanalyse ohne Beteiligung und Kenntnis von Blutsverwandten und ist aus diesem Grund für die Problematik des Zufallsfundes von besonderer Relevanz. Die Anwendung eines indirekten Gentests, auch Kopplungsanalyse genannt,76 setzt immer die Untersuchung mehrerer Familienmitglieder voraus, denn nur auf diesem Weg kann herausgefunden werden, ob in dieser Familie der spezifische „Marker“ vorliegt. Gendefekte treten häufig mit einem bestimmten DNA-Polymorphismus77 gemeinsam auf und werden dann weitervererbt. Beide liegen auf dem DNA-Strang im Chromosom relativ dicht nebeneinander und können daher als genetischer „Marker“ für den gesuchten Gendefekt genutzt werden. Der Nachweis gelingt umso sicherer, je dichter der Marker am Gendefekt liegt.78 Ein „Marker“ ist somit die DNA Sequenz, deren chromosomaler Abstand zu einem krankheitsverursachenden Gen bekannt ist und dieses daher „markiert“. Beim indirekten Gentest werden diese Marker an Stelle des Gens gesucht. Daher müssen bei dieser Form der Analyse mehrere Blutsverwandte untersucht werden, um diejenigen Marker isolieren zu können, die mit einer familiär gehäuft aufgetretenen Krankheit vererbt wurden.79 Eine Information und offene Einstellung der betroffenen Familienmitglieder bzgl. der Genanalyse ist damit unabdingbar, eine Interessenkollision daher wohl auszuschließen. 4. Genproduktanalyse Zu guter Letzt soll kurz auf die dritte gesetzliche Analyseform hingewiesen werden. Die Genproduktanalyse ist gem. § 3 Nr. 2 c) GenDG die Analyse der Produkte der Nukleinsäuren (DNA, RNA und Proteine). Der Vorteil dieser Methode ist, dass weder das Gen noch seine Position auf dem Chromosom bekannt sein müssen. Mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs auf diese, an sich von dem Begriff der Genanalyse nicht erfassten, Fälle der Genproduktanalyse soll einer Umgehung des GenDG vorgebeugt werden.80 73
Vgl. Schmidtke, in: Winter/Fenger/Schreiber, Genmedizin und Recht, Rn. 1045. Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 9. 75 Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 119, 121; Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 138. 76 Vgl. Schmidtke, in: Winter/Fenger/Schreiber, Genmedizin und Recht, Rn. 1045. 77 Über das menschliche Genom verteilt liegen Sequenzabschnitte, in denen sich die beiden homologen Chromosomen unterscheiden können. Diese Sequenzunterschiede werden als Polymorphismen bezeichnet. Wurde gezeigt, dass ein Polymorphismus an einen krankheitsverursachenden Gen lokalisiert ist, kann es als Marker verwendet werden: Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 76. 78 Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 119; Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 34; Buselmaier/Tariverdian, Humangenetik, S. 40: allerdings muss bei dieser Analyse die Möglichkeit eines „Crossing-overs“ berücksichtigt werden, so dass diese Analyse immer eine Wahrscheinlichkeitsrechnung sei. 79 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 30. 80 Vgl. Schillhorn/Heidemann, GenDG, § 3 Rn. 13; Kern, GenDG, § 3 Rn. 13. 74
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III. Anwendungsbereiche Neben einer Strukturierung genetischer Tests nach dem Zeitpunkt seiner Vornahme (präkonzeptionell, pränatal bzw. präimplantativ, neonatal, postnatal und postmortal) wird die Gendiagnostik meist näher über den Zweck der Gendiagnostik charakterisiert. Das GenDG unterscheidet in § 3 Nr. 6 bei genetischen Untersuchungen zu medizinischen Zwecken zwischen diagnostischen und prädiktiven genetischen Untersuchungen. An diese Differenzierung knüpfen sich auch unterschiedliche Anforderungen an die genetische Beratung.81 1. Diagnostische genetische Untersuchungen Der Anwendungsbereich der diagnostischen genetischen Untersuchungen besteht überwiegend in der Diagnosesicherung bei einer bereits klinisch manifestierten Krankheit. Diese sogenannte Differential-Diagnostik soll eine Diagnose bestätigen, Symptom und Krankheit zusammenführen82 , oder eine gezielte Therapie ermöglichen.83 Klinisch gestellte Diagnosen sind nicht immer sicher und werden daher durch andere klinische Untersuchungen und bildgebende Verfahren ergänzt (Ultraschall, Computertomographie, etc.).84 Die Gendiagnostik zählt mittlerweile ebenfalls zu diesem diagnostischen Spektrum und ist bereits medizinischer Alltag.85 Sie bildet damit hier nur eine Variante der klassischen medizinischen Diagnostik.86 Teilweise ist es jedoch nur mittels einer solchen genetischen Analyse möglich, die Ursache des Symptoms zu finden.87 Die DifferentialDiagnostik stellt den größten und wohl heute nicht mehr wegzudenkenden Anwendungsbereich der Gendiagnostik dar, und ist insbesondere in der Pädiatrie und Neurologie verbreitet.88 81
Vgl. BT-Drs. 16/10532, S. 17. Vgl. Kiehntopf/Pagel, MedR 2008, S. 344, 345; Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 18 f.; zu der Unterscheidung diagnostische versus prädiktive Tests: Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 120. 83 § 3 Nr. 7 GenDG definiert diagnostische Tests dahingehend, dass sie mit dem Ziel a) der Abklärung einer bereits bestehenden Erkrankung oder gesundheitlichen Störung, b) der Abklärung, ob genetische Eigenschaften vorliegen, die zusammen mit der Einwirkung bestimmter äußerer Faktoren oder Fremdstoffe eine Erkrankung oder gesundheitliche Störung auslösen können, c) der Abklärung, ob genetische Eigenschaften vorliegen, die die Wirkung eines Arzneimittels beeinflussen können, oder d) der Abklärung, ob genetische Eigenschaften vorliegen, die den Eintritt einer möglichen Erkrankung oder gesundheitlichen Störung ganz oder teilweise verhindern können (sogenannte Resistenzen, BT-Drs. 16/10532, S. 22), erfolgen. Die gesetzliche Definition ist damit weiter. Genau genommen weist die Variante b) auch einen prädiktiven Charakter auf (Kern, GenDG, § 3 Rn. 34). Unter c) fallen die sogenannten pharmakogenetischen Untersuchungen zur Optimierung der Arzneimitteltherapie (BT-Drs. 16/10532, S. 22,) auf die später eingegangen werden soll; siehe unten Kapitel 1, B. IV. 2. b). 84 Vgl. Schmidtke, Gentests, in: das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, Honnefelder, S. 169; Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 120. 85 Vgl. Schmidtke, Wo stehen wir in der Gendiagnostik heute?, in: Dierks, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 27; Schroeder-Kurth, medgen 2000, S. 461 ff. 86 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 33. 87 Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 120. 88 Vgl. Schroeder-Kurth, medgen 2000, S. 461 ff.; Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 137. 82
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
2. Prädiktive genetische Untersuchungen Prädiktive Gentests erweitern die diagnostischen Möglichkeiten im Vergleich zur klinischen Diagnostik nach sich manifestierenden Symptomen erheblich, sozusagen „nach vorne“, da sie bereits in einem dem Symptom vorgelagerten Stadium Anwendung finden. Das Ziel der Prädiktion ist es, bei einem symptomatisch gesunden Menschen präsymptomatisch genetische Veränderungen zu identifizieren, die zu einem späteren Zeitpunkt mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu einer Erkrankung führen werden.89 Eine besondere Problematik dieser Tests ist, dass die Wahrscheinlichkeitsaussagen teilweise sehr vage sein können, d. h. nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob die Erkrankung im späteren Leben überhaupt auftreten wird bzw. wann und mit welchem Schweregrad.90 Ein linearkausaler Zusammenhang zwischen einer genetischen Mutation und ihrer späteren Manifestation wird durchaus bestritten bzw. bei multifaktoriellen Erkrankungen abgelehnt.91 Aus diesem Grund sind die Anforderungen an die genetische Beratung nach dem GenDG für prädiktive genetische Untersuchungen höher als für diagnostische (Facharztvorbehalt nach § 7 Abs. 1 GenDG, Beratungspflicht nach § 10 Abs. 2 GenDG).92 Trotz dieser Unsicherheiten stellt das Potenzial der prädiktiven Gentests durch die Möglichkeit des Blicks in die Zukunft, und damit die Eröffnung von Präventionsmöglichkeiten, eine neuartige Dimension in der Diagnostik und dem grundlegenden medizinischen Verständnis dar. Dabei wird je nach ihrer Aussagekraft zwischen prädiktiv-deterministisch und prädiktiv-probabilistisch unterschieden.93 a) Prädiktiv-deterministisch Prädiktiv-deterministisch werden Untersuchungen genannt, anhand derer solche Genveränderung diagnostiziert werden können, die sich mit annähernder Sicherheit in Zukunft in einer Erkrankung manifestieren.94 Nur in wenigen Fällen besteht jedoch eine solch hohe Penetranz. Ein Beispiel für eine Erbkrankheit mit einer solchen Wahrscheinlichkeit ist die monogene Huntington Krankheit.95 Diese Krankheit kann anhand eines molekulargenetischen Tests mit einer Manifestationswahrscheinlichkeit von annähernd 100% diagnostiziert werden.
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Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 120. Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 120; Bartram, Die Individualisierung des Krankheitsbegriffs, in: Hofmeister, Der Mensch als Subjekt und Objekt der Medizin, S. 66 f. 91 Vgl. Wolf, Hum Genet 1997, S. 305 ff.; dazu Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 120. 92 Vgl. BT-Drs. 16/10532, S. 17: Die Schere zwischen Chancen und Risiken für diese Untersuchungen sei am größten. 93 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 32 f. 94 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 10. 95 Vgl. Bartram, Die Individualisierung des Krankheitsbegriffs, in: Hofmeister, Der Mensch als Subjekt und Objekt der Medizin, S. 66 f.; Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 121. 90
B. Methoden und Möglichkeiten der Gendiagnostik
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b) Prädiktiv-probabilistisch Genetische Veränderungen mit geringerer Penetranz werden durch sogenannte prädiktiv-probalistische Tests beschrieben.96 Die überwiegende Anzahl genetischer Erkrankungen treten jedoch nicht mit Gewissheit auf, sondern das Testergebnis gibt nur eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der Erkrankung an. Dies ist der Fall bei den sogenannten Krankheiten mit multifaktoriellen Ursachen.97 Von „multifaktoriellen“ Krankheitsursachen spricht man, wenn ein Zusammenwirken von mehreren Genen mit z. B. Umweltfaktoren für das Auftreten einer Krankheit als ursächlich angenommen werden kann.98 Die genetische Veranlagung allein führt damit nicht zur Manifestation, sondern es bestehen Einflüsse durch andere genetische Faktoren und Umwelteinflüsse sowie die Lebensweise des Betroffenen.99 Nur die Minderheit der bisher identifizierten Krankheiten wird vorwiegend oder ausschließlich durch genetische Störungen, d. h. durch ein mutiertes Gen, hervorgerufen. In diesem Fall spricht man von „monogenen“ Krankheiten,100 von „polygen“ vererbten Krankheitsursachen dagegen, wenn mehrere Gene ursächlich sind.101 Nur etwa 3–5% der Bevölkerung leiden an einer monogenen Erbkrankheit, die überwiegende Zahl sind den multifaktoriellen Erkrankungen zuzuordnen.102 Hier bestehen erhebliche Unsicherheitsfaktoren bezüglich der späteren Manifestation einer Mutation, da es bisher nicht möglich ist, die Rolle der externen Faktoren wie Umwelt genauer zu spezifizieren.103 c) Aussagekraft genetischer Analysen Einleitend zu der Frage und Problematik der Aussagekraft genetischer Diagnoseergebnisse soll ein Beispiel dienen. Eine wichtige Rolle spielt die prädiktive Gendiagnostik mittlerweile im Bereich der Onkologie.104 Insbesondere für Krebserkrankung, sie bilden die zweithäufigste Todesursache, werden genetische Ursachen genannt.105 Als Beispiel wird meist der Fall des erblichen Brustkrebses angeführt. Der Brustkrebs (nicht immer genetisch bedingt) ist der am häufigsten auftretende Tumor bei der Frau (ca. jede zehnte Frau erkrankt). Bzgl. des genetisch bedingten Karzinoms schwankt die Risikoangabe in Abhängigkeit der spezifischen Mutation BRAC1- oder BRAC2-Gen zwischen 30% 96
Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 121. Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 33; Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 11. 98 Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 121; Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 9. 99 Vgl. Hoehe, Individuelle Genanalyse als Basis neuer Therapiekonzepte, in: Honnefelder, Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 301, 305. 100 Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 138; Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020 S. 121. 101 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 9. 102 Vgl. Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 121. 103 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 9. 104 Vgl. Winter/Fenger/Schreiber, Genmedizin und Recht, Rn. 22 ff.; Bundesärztekammer, Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen, DÄBl. 1998, A-1396 ff.; 2011 wurde das „DKFZ Heidelberg Center for Personalized Oncology“ (DKFZ-HIPO) geschaffen, Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 2. 105 Vgl. Winter/Fenger/Schreiber, Genmedizin und Recht, Rn. 22 f. 97
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
und 85%.106 Das Wahrscheinlichkeitsspektrum ist folglich sehr weit. Die klinische Bedeutung der Genmedizin nimmt jedoch trotzdem laufend zu. Prädiktive Gentests können damit, wie die Unterscheidung zwischen deterministischen und probabilistischen Untersuchungen zeigt, eine sehr unterschiedliche Aussage haben, je nachdem, ob sie eine spätere Erkrankung sicher voraussagen können oder sie nur eine Risikoaussage bzgl. eines möglichen späteren Ausbruchs einer Krankheit treffen.107 Nicht abschließend geklärt ist hier das Zusammenwirken mit anderen Genen, wie auch der bereits erwähnte Einfluss der Umwelt, die Lebensweise etc., die als Faktoren für den Ausbruch einer Krankheit identifiziert wurden.108 In der weit überwiegenden Zahl geben genetische Analysen daher nur eine Risikoaussage in Bezug auf eine mögliche spätere Erkrankung. Verbunden mit solchen Wahrscheinlichkeitsbestimmungen ist damit auch die Gefahr falscher, d. h. sich in Zukunft nicht verwirklichender Aussagen. Eine „falsch positive Voraussage“ erfolgt, wenn eine Erkrankung trotz entsprechendem Risikostatus später nicht eintritt. Hier kann ein Test folglich dazu führen, dass „unnötigerweise“ die Lebensplanung beeinflusst oder schädigende Entscheidungen getroffen werden. Von einer „falsch negativen Voraussage“ spricht man, wenn eine nicht vorausgesagte Erkrankung dennoch später eintritt und dem Betroffenen damit die Möglichkeit präventiver Maßnahmen nicht eröffnet hat.109 Die Aussagekraft dieser Gentests ist daher kritisch zu hinterfragen und eine Interpretation fachkundig vorzunehmen.110 An dieses Ergebnis knüpft sich die weitere, für den Umgang mit dem Ergebnis elementare Frage an, ob für die diagnostizierte Krankheit überhaupt eine Therapiemöglichkeit besteht, bzw. ob der Ausbruch der Krankheit durch Präventionsmaßnahmen verhindert oder hinausgezögert werden kann. Menschen treffen, allein aufgrund der Wahrscheinlichkeit später zu erkranken, teilweise irreversible und wichtige Entscheidungen. Ein besonders eindrückliches Beispiel welche Wirkungen ein solch prädiktiv-probabilistischer Test haben kann, ist auch hier jenes der Brustkrebsveranlagung. Frauen mit einer genetischen Disposition zu dieser Krebsart haben sich statistisch ab dem dreißigsten Lebensjahr für eine Brustentfernung entschieden.111 Ein sehr prominentes Beispiel ist jüngst das der Schauspielerin Angelina Jolie, die sich aufgrund ihrer genetischen Veranlagung – nach Aussage eines Gentests liegt für sie die Wahrscheinlichkeit einer späteren Erkrankung bei ca. 85% – für die Brustamputation entschieden hat und das Thema damit in die Tagespresse brachte. Dies zeigt, welche Folgen eine Gendiagnostik haben kann. Es ist daher gefährlich, wenn in der Öffentlichkeit die Vorstellung zu einfacherer Kausalbeziehungen besteht. Diese Gefahren müssen bei der Frage des Umgangs mit der Gendiagnostik und der Aufklärung Beachtung finden. 106 Vgl. Bartram, Die Individualisierung des Krankheitsbegriffs, in: Hofmeister, Der Mensch als Subjekt und Objekt der Medizin, S. 66 f. 107 Vgl. Regenbogen/Henn, MedR 2003, S. 152, 153; Kersten, JZ 2011, S. 161, 162; Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 120; Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 10. 108 Vgl. Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 298 f. 109 Vgl. DER, Stellungnahme 2013, S. 53 f. 110 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 10. 111 Vgl. Kersten, JZ 2011, S. 161, 162; ausführlich zu der Problematik des Brustkrebs Bartens, Die Tyrannei der Gene, S. 36 ff.; Nowotny/Testa, S. 135 bezeichnet dies als Ausdruck des Phänomens der „präsymptomatischen Patientin“.
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3. Forschung Auch der Bereich der Forschung mittels genetischer Untersuchungen spielt eine gewichtige Rolle. Soweit jedoch genetische Untersuchungen und Analysen zu Forschungszwecken erfolgen, besteht gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 GenDG eine Bereichsausnahme. Der Gesetzesentwurf des Bündnisses 90/Die Grünen112 enthielt noch eine eigene Bestimmung zu der Frage des Umgangs mit Erkenntnissen, die die Gesundheit des Probanden einer Forschungsstudie betreffen und im Rahmen der Studie zu erwarten waren. Auch der Bundesrat bat in den Beratungen darum, Regelungen betreffend genetische Untersuchungen zu Forschungszwecken aufzunehmen, da die Bedeutung und die Zahl der genetischen Forschungsdaten ständig wüchse.113 Die Bundesregierung dagegen sah „keine Notwendigkeit gesetzliche Initiativen im Bereich der Forschung zu ergreifen. Bei der genetischen Forschung geht es um die allgemeine Erforschung von Ursachenfaktoren menschlicher Eigenschaften. Sie zielt nicht auf konkrete Maßnahmen gegenüber einzelnen Personen. In diesem Bereich gewährleistet die geltende Rechtsordnung, hier insbesondere durch die Datenschutzgesetze von Bund und Ländern sowie die vorherige Befassung von Ethikkommissionen einen umfangreichen Schutz vor möglichen Gefahren.“114 Ob eine Einbeziehung der Forschung in den Anwendungsbereich des GenDG erfolgen sollte oder nicht, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch, dass es auch im Bereich der Forschung zu Erkenntnissen über die genetische Disposition des Einzelnen und damit auch zu Zufallsfunden kommen kann. Dies belegt schon die intensiv geführte Diskussion über den Umgang mit den zufälligen Erkenntnissen in der medizinischen Wissenschaft.115 Der sogenannte genetische „microarray research“ umfasst mehr und mehr eine Totalsequenzierung des menschlichen Genoms, die folglich einen kompletten individuellen Genotyp enthält. Dies hat ein enormes Potenzial für die Enthüllung unerwarteter Informationen bzgl. individueller genetischer Dispositionen.116 4. Fortpflanzungsmedizin An dieser Stelle soll der Vollständigkeit halber der Bereich der Fortpflanzungsmedizin kurz dargestellt werden. Auch dieser Bereich, darunter fallen die präkonzeptionell, die pränatale und Präimplantationsdiagnostik,117 spielt eine gewichtige Rolle in der Gendiagnostik. Dieser gerecht zu werden, würde den Umfang der Bearbeitung sprengen. Anders als bei der prädiktiven Gendiagnostik werden im Fall der präkonzeptionellen Untersuchung keine Aussagen getroffen über die mögliche Manifestation von Krankheiten, sondern sie beziehen sich auf die Anlagenträgerschaften, die sich erst bei Nachkommen manifestie112
Vgl. BT-Drs. 16/3233. Beschluss v. 10.10.2008, BR-Drs. 633/08, Nr. 1a). 114 BT-Drs. 16/10532, S. 1; kritisch Eberbach, MedR 2010, 155: die genetischen Daten werden konkret beim Einzelnen erhoben, so dass diese auch in ihren Rechten betroffen seien. Regelungen zur Einwilligungen wären hilfreich gewesen. 115 Vgl. z. B. Wolf et al., Genet Med 2012, S. 1; Wolf et al., J Law Med Ethics 2008, S. 1 (Autorenmanuskript). 116 Vgl. Wolf et al., J Law Med Ethics 2008, S. 4 (Autorenmanuskript). 117 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 36 ff.; Schmidtke, Genetische Tests in der Humangenetik, in: Raem, Gen-Medizin, S. 227. 113
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ren können. Werden im Rahmen einer pränatalen Diagnostik genetische Untersuchungen am Embryo selber durchgeführt, haben sie jedoch prädiktiven Charakter. Dieser Bereich hat hohe Praxis- und gesellschaftliche Relevanz im Zusammenhang mit dem straffreien Schwangerschaftsabbruch. Von besonderer auch politischer Brisanz118 ist die sogenannte PID (Präimplantationsdiagnostik).119 Hier wird der Embryo in vitro auf genetische Defekte die zu schweren Erkrankungen oder einer Fehlgeburt führen könnten, hin untersucht, und ein nicht betroffener Embryo eingepflanzt. Der Einsatzbereich zeigt die Bedeutung, aber auch Sensibilität dieses Bereichs der Gendiagnostik.
IV. Personalisierte Medizin Das Ziel der Gendiagnostik erschöpft sich nicht in der „bloßen“ Analyse der jeweiligen genetischen Eigenschaften, sondern sie verfolgt ein übergeordnetes Ziel. In der Ära der „Postgenomik“ dient die Gendiagnostik der Entwicklung und Etablierung einer sogenannten „personalisierten Medizin“. Postgenomik beschreibt dabei wörtlich übersetzt nichts anderes als die „Zeit nach der Genomik“, und Genomik dabei die wissenschaftliche Klärung des menschlichen Genoms, der menschlichen Sequenz.120 Die Personalisierte Medizin hat sich noch nicht etabliert, sondern ist vielmehr noch Zukunftsmusik. Dies soll sich jedoch nach Ansicht zahlreicher Wissenschaftler und Politiker ändern. Ein Indiz für einen entsprechenden Trend und der für dieses Konzept vorausgesetzten Akzeptanz genetischer Test in der Gesellschaft liefern die steigende Anzahl von Einrichtungen die genetische Analysen durchführen. Diese stiegen von 1998 bis 2008 von 66 auf 169.121 Zum besseren Verständnis ist an dieser Stelle eine einleitende Vorbemerkung zum Begriff und den Erwartungen an eine Personalisierte Medizin angebracht. 1. Begrifflichkeit Die Begrifflichkeiten zur Beschreibung des Einsatzes der Gendiagnostik im Gesundheitswesen sind vielfältig. In der Diskussion finden sich die Begriffe „personalisierte“ ebenso wie „individualisierte“, „stratifizierte“ Medizin oder „Präzisionsmedizin“.122 Unter personalisierter Medizin, oder meist synonym verwendet individualisierter Medizin, versteht man eine auf die individuelle genetische Disposition eines Menschen abgestimmte medizinische Behandlung und Vorsorge. Individualisierung bedeutet primär, dass die Medizin auf individuelle biologische Merkmale abstellt, jedoch nicht, wie der Begriff suggeriert, eine an den Bedürfnissen des Individuums ausgerichtete Medizin.123 118 Entwurf eines Gesetzes zur begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG), Beschlussempfehlung und Bericht BT-Drs. 17/6400 als Abschluss der Debatte. 119 Zu dieser Thematik wurde das spezielle Präimplantationsdiagnostikgesetz (PräimpG) erlassen, BGBl. Nr. 58/2011, 8.12.11 in Kraft. 120 Vgl. Müller-Wille/Rheinberger, Das Gen im Zeitalter der Postgenomik, S. 9. 121 Vgl. Zweiter Gentechnologiebericht, 2009, S. 15. 122 Vgl. Prainsack, Personalisierte Medizin aus Sicht des Patienten, in: DER, Personalisierte Medizin, S. 23 f. 123 Vgl. Paul, in: Deutscher Ethikrat, Niederschrift über das Forum Bioethik, S. 8; Damm, MedR 2011, S. 7, 8.
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Es stehen hier vielmehr die Gruppierung des Einzelnen nach standardisierten Werten zur Vermeidung und Verminderung von Krankheiten als die spezifischen Besonderheiten des Einzelnen im Mittelpunkt.124 Aus diesem Grund wird auch häufig der Begriff der stratifizierten Medizin gewählt. Dieser beschreibt, wie der Begriff vermuten lässt, die Stratifizierung von Patienten, d. h. die Bildung von Gruppen genetisch ähnlicher Patienten, welche besonders gut auf bestimmte Therapien ansprechen. Neben signifikanten Verbesserungen in der medizinischen Versorgung des Einzelnen verspricht man sich auf diesem Weg auch große gesundheitsökonomische Einsparungspotenziale, da eine Gabe unwirksamer oder gar mit Nebenwirkung verbundener Medikamente vermieden werden soll. Der Satz: „Wir erleben derzeit eine Individualisierung der Medizin auf molekularer Grundlage; pointiert ausgedrückt: jeder Patient leidet an seiner eigenen Krankheit“125 , stellt daher eine Vereinfachung der Thematik dar und verleitet den Klienten zu dem Fehlschluss, dass seine Person und individuelles Bedürfnis im Mittelpunkt der Entwicklung stehen. Die Begriffe sind in ihrer Bedeutung für den Laien teilweise irreführend und daher Kritik ausgesetzt.126 „Dieses, was (. . . ) als personalisierte Medizin ausgegeben werden soll, ist ja nun gerade das Gegenteil. Es geht überhaupt nicht mehr um die Person des Kranken, es geht wahrscheinlich noch nicht einmal um Individualisierung, sondern (. . . ) um Stratifizierung, das heißt um die Bestimmung von bestimmten Patientengruppen, die über bestimmte Rezeptoren verfügen. Das hat aber nun mit Personalität, mit Person nicht das Geringste zu tun.“127 Aus diesem Grund wird daher vorgeschlagen den Begriff personalisierter oder präzisere Medizin zu verwenden, da diese wertfreier seien.128 Diese haben sich jedoch bisher nicht in der Wissenschaft durchsetzen können, so dass aus Verständnisgründen es bei der überkommenen Begrifflichkeit bleiben soll, ohne dass die Kritik als unbegründet abgetan werden soll. 2. Erwartungen und Entwicklungen Das sogenannte „Humangenomprojekt“129 wurde im Jahre 2003130 abgeschlossen.131 Die schnell voranschreitende Entwicklung der Gendiagnostik illustriert der „Online Men-
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Vgl. Lemke, Veranlagung und Verantwortung, S. 84 f. Bartram, Humangenetische Diagnostik, S. 55. 126 Siehe z. B. Bartens, Personalisierte Medizin Die Mogelpackung, SZ vom 19.07.2011 (abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/wissen/personalisierte-medizin-die-mogelpackung-1. 1121890 (letzter Abruf am 06.11.2013)). 127 Baur, in: DER, Niederschrift über das Forum Bioethik „Die Medizin nimmt’s persönlich, S. 23 (Klammerzusatz durch den Bearbeiter); vgl. Trojan/Kuhn, Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin, Leitbegriffe der Gesundheitsförderung (http://www.leitbegriffe.bzga.de/bot_angebote_ idx-160.html (letzter Abruf am 06.11.2013)): „Der häufig synonym gebrauchte Begriff „personalisierte Medizin“ ist in diesem Bedeutungskontext insofern irreführend, als die personale Seite des Menschen, also seine Fähigkeit zur Reflexion und Selbstbestimmung, zunächst gar nicht gemeint ist, sondern auf fundamentale biologische Strukturen und Prozesse abgehoben wird.“ 128 Damm, MedR 2011, S. 7, 8. 129 Das Humangenomprojekt (HGP, engl. Human Genome Project) war ein internationales Forschungsprojekt. Es wurde im Herbst 1990 mit dem Ziel gegründet, das Genom des Menschen vollständig zu entschlüsseln, d. h. die Abfolge der Basenpaare der menschlichen DNA auf ihren einzelnen Chromosomen durch Sequenzieren zu identifizieren; vgl. www.genome.gov (Abruf 29.04.2012). 125
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
delian Inheritance in Man“ Katalog, in dem seit 1966 alle entzifferten äußerlich erkennbaren humangenetischen Eigenschaften erfasst werden. Lag die Zahl Mitte 2004 noch bei über 15000132 , liegt sie Anfang des Jahres 2013 bereits bei 21565.133 Die Erwartungen – gestützt auf diese rasante Entwicklung – sind groß: Durch individuell auf das Genom abgestimmte Therapien verspricht man sich eine Verbesserung der medizinischen Behandlung, insbesondere bei komplexen und nur schwer behandelbaren Krankheiten, wie z. B. Krebs.134 Dieser Ansatz ist kein völlig neues Phänomen. Er wird bereits im Bereich der sogenannten Differentialdiagnostik praktiziert, nach der z. B. auch Personen mit Diabetes auf ihren persönlichen Bedarf hin „medikamentös eingestellt“ werden. Das Ziel ist das gleiche, nur dass der Präzisierungsgrad hier erhöht werden soll.135 Durch die Vermeidung uneffektiver oder gar falscher Behandlungen verspricht man sich zudem erhebliche Einsparungen im kostenintensiven Gesundheitswesen. Von einer Personalisierung verspricht man sich entgegen mancher Kritiker136 auch, dass der Patient stärker in den Mittelpunkt rückt. Dies bedeutet einerseits, dass er aktiv mitwirken kann, andererseits jedoch, dass er in Bezug auf seine Eigenverantwortung stärker in die Pflicht genommen werden soll.137 Dieser Aspekt der Individualisierung ist für die zukünftige Rolle der Gendiagnostik nicht zu unterschätzen.138 Ein besonderer Akzent in diesem Konzept der modernen Medizin liegt auf dem Begriff der Präventionsmedizin.139 Die Erwartung ist, dass aufgrund der Kenntnis der genetischen Daten ein Wandel der Medizin hin zur vorhersagenden und damit präventiv handelnden Medizin erfolgt. Es sei effektiver und kostengünstiger Krankheiten zu vermeiden als Krankheiten zu heilen.140 Diese Art der Medizin verlangt, dass die Klienten bereit sind, das Angebot wahrzunehmen und erhebliche Informationen von sich preiszugeben. Nur im Falle einer flächendeckenden Umsetzung sind die Einsparungsziele erreichbar und der wissenschaftliche Einsatz rentabel. 130 Die WHO, 2003, Review of Ethical Issues in Medical Genetics. Report of Consultants to WHO) sagte zu dieser Zeit voraus: „The International Human Genome Project (HGP) will rapidly make genetic information available on a worldwide scale previously impossible to imagine. All adults have a right, if they so choose, to know their genetic makeup and implications for the health of their potential offspring, to be educated about their own genetics, and to have the services available to act upon their knowledge.“ 131 On April 14, 2003 the National Human Genome Research Institute (NHGRI), the Department of Energy (DOE) and their partners in the International Human Genome Sequencing Consortium announced the successful completion of the Human Genome Project, http://www.genome.gov/ 11006943 (Abruf 29.04.2012); Soini, J Community Genet 2012, S. 143. 132 Angaben zitiert nach Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 131. 133 Stand vom 07.01.2013; abrufbar unter http://ncbi.nlm.nih.gov/Omim/mimstats.html (letzter Abruf am 06.11.2013). 134 Vgl. den „Biotech Cluster Munich m4“ in dem Medikamente zu 46% gegen Krebs entwickelt werden (http://www.m4.de/fileadmin/user_upload/m4_Seite/Graphiken/Munich_Indications. jpg (letzter Abruf am 06.11.2013)). 135 Vgl. Damm, MedR 2011, S. 7, 8. 136 Siehe oben Kapitel 1, B. IV. 1. 137 Problem der Entsolidarisierung und Abweichungen vom Solidaritätsprinzip: Karger/Hüsing, Personalisierte Medizin im Gesundheitssystem der Zukunft, S. 3. 138 Siehe dazu unten Kapitel 4, B. II. 139 Vgl. Kersten, ZEE 2013, S. 23, 25. 140 Zukunftsreport Individualisierte Medizin & Gesundheitssystem, 2009, BT-Drs. 16/12000.
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Gefördert wird diese Verbreitung prädiktiver Gentests durch die sich noch in der Entwicklung befindliche DNA-Chip-Technologie. Der DNA-Chip bietet die Möglichkeit, auf Grundlage eines vollautomatischen Verfahrens Mutationen zu analysieren. Diese Technik basiert auf sogenannten Mikroarrays und kann gleichzeitig alle Gene eines Organismus analysieren.141 Die Erwartung an diese neue Technologie ist es, die genetische Diagnostik kostengünstiger und damit praxistauglich zu gestalten und es damit zu ermöglichen, jeden Menschen auf Krankheiten beziehungsweise Dispositionen hin testen zu können. Diese Entwicklung erlaubt damit eine weitere Ausbreitung des Einsatzes von Gentests, da sie in schneller und mit geringeren Kosten eine parallele Analyse einer Vielzahl genetischer Parameter ermöglicht und damit auch breit angelegte Screenings erlaubt.142 a) Präventivmedizin Die prädiktive präventive Medizin ist der Kernbereich der personalisierten Medizin.143 Die Prävention von Krankheiten verfolgt dabei zwei Ziele: zum einen die Einsparung von Kosten im Gesundheitswesen, zum anderen die Gesundheit des Klienten als Selbstzweck.144 Das Ziel einer Präventivmedizin basiert darauf, dass auf Grundlage des technischen Fortschritts (DNA-Chip, Totalsequenzierung, etc.) eine genetische Veranlagung zunehmend einfacherer und kostengünstiger nachweisbar wird. Dies wird den Trend, bisher nur im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen praktiziert, dass nicht der Kranke, sondern der Gesunde untersucht wird,145 mit dem daraus folgenden Schwerpunkt auf medizinische Aufklärung und Beratung statt Heilung verstärken.146 In Anbetracht der Möglichkeit der prädiktiven Gendiagnostik, Krankheiten lange vor den ersten Symptomen vorhersagen zu können oder entsprechende Risiken zu benennen, soll der Schwerpunkt der Medizin zunehmend in der langfristigen Gesundheitsvorsorge liegen. Für den Arzt und Klienten tritt im Rahmen einer auf Vorsorge ausgerichteten Medizin in Zukunft daher neben die Frage der richtigen Therapie bzw. Präventionsmaßnahmen auch die Frage des Umgangs mit den diagnostizierten Risiken.147 Insbesondere bei nicht therapierbaren zu erwartenden Erkrankungen steht nicht primär die Gesundheit im Mittelpunkt, sondern Fragen der Lebensplanung und des Selbstverständnisses des Klienten. Zu berücksichtigen gilt es somit als eines der zentralen Probleme der Gendiagnostik, dass der Nutzen und die Aussagekraft genetischer Daten sehr variieren. Die Aussagen sind 141 Im Falle eines Microarrays werden viele Nukleinsäurefragmente mittels Spottingroboter auf einem miniaturisierten Membranfilter aufgebracht. Die Sequenzen werden idR mit Fluorochromen markiert. Auf diesem Weg ist es möglich Genome auf eine Vielzahl von Mutationen in verschiedenen Genen zu untersuchen. Buselmaier/Tariverdian, Humangenetik, S. 48. 142 Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 202; In diesen Kontext gehört daher auch das genetische Screening als systematische Untersuchung einer definierten Population. Diese werden daraufhin untersucht, ob sie eine bestimmte genetische Disposition aufweisen; dazu Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 22. 143 Vgl. Trojan/Kuhn, Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin, Leitbegriffe der Gesundheitsförderung (http://www.leitbegriffe.bzga.de/bot_angebote_idx-160.html (letzter Abruf 06.11.2013). 144 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 37. 145 Siehe oben zum Begriff des Klienten Kapitel 1, A. C. II. 1. 146 Vgl. Sperling, Das humane Genomprojekt, in: Niemitz/Niemitz, Genforschung und Gentechnik Ängste und Hoffnungen, S. 109, 129. 147 Vgl. Hildt, JCSW 2004, S. 37, 46.
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meist keine definitiven Aussagen und für den medizinischen Laien schwer einzuschätzen. Aus diesem Grund und der Betonung der Kommunikationskomponente in der modernen Arzt-Klienten-Beziehung wird teilweise die Rolle des Arztes mehr als die eines Beraters beschrieben, der Informationen übermittelt und Hilfestellung bei der eigenverantwortlichen Entscheidungsfindung bietet (attentive surveillance).148 b) Pharmakogenetik Eine in Zukunft wichtige Rolle wird neben dem Einsatz der Gendiagnostik zur Identifizierung persönlicher Krankheitsveranlagungen auch die Rolle der prädiktiven Gentests in Form der Pharmakogenetik spielen. Dieser Bereich beschreibt den Forschungsbereich, der sich mit der individuellen Reaktion des Menschen auf Medikamente beschäftigt.149 Untersuchungsgegenstand der Pharmakogenetik ist der Unterschied des individuellen Ansprechens auf Arzneimittel aufgrund erblich bedingter Faktoren. Kurz zusammengefasst besteht damit die Erwartung an die Pharmakogenetik in der Erstellung genetischer Dispositionsprofile und einer patientengerechten Medikation, da viele Arzneimittel große individuelle Unterschiede bzgl. Wirksamkeit und Toxizität aufweisen. Die genetischen Dispositionsprofile, die Auskunft über die Aufnahme, Wirksamkeit und den Abbau von Wirkstoffen beim Menschen geben sollen, werden durch verschiedene genetische Verfahren wie Genkarten und Familienstammbäume ermittelt. Vor allem Suchverfahren, die auf sog. SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms) beruhen, werden eingesetzt. Bei SNPs handelt es sich um eine häufige Veränderung einer Base.150 Die auf diesem Wege gewonnene Erkenntnis der genetischen Dispositionen des Klienten ermöglicht im Anschluss die Stratifizierung von Patienten, welche besonders gut auf bestimmte Therapien ansprechen. Zudem kann auch, auf den Einzelnen bezogen, die Verträglichkeit und Effizienz des jeweiligen Medikaments bestimmt werden.151 Ziel dieser Anwendung ist damit eine auf den einzelnen Patienten abgestimmte Medikation und folglich eine bessere Behandlung zu erreichen (Verhinderung von Nebenwirkungen und adäquate Dosierung, Verhinderung tödlicher Komplikationen). Damit in Hand gehend sollen Kosten für ineffektive Behandlungen eingespart werden. Zur Zeit ist der Einfluss der Pharmakogenetik für die Therapie in Deutschland noch eher gering und noch keine Routinehandlung.152 Dies soll sich jedoch nach Ansicht der Wissenschaftler in Zukunft ändern. Die Bedeutung der Pharmakogenetik wird deutlich, wenn man sich die möglichen Folgen einer „falschen“ Medikation vor Augen führt. Nebenwirkungen bilden in den USA die fünfthäufigste Todesursache und auch in Deutschland sterben ca. 20 000 Menschen
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Vgl. Hildt, JCSW 2004, S. 37, 47; siehe dazu unten Kapitel 5, B. II. 6. b) aa). Vgl. Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 126; Feuerstein et al., Ethik Med 2003, S. 77; Schmidtke, Wo stehen wir in der Gendiagnostik heute?, in: Dierks, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 28. 150 Vgl. Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 127. 151 Vgl. Hoehe, Individuelle Genanalyse als Basis neuer Therapiekonzepte, in: Honnefelder, Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 301, 303; Schmidtke, Gentests. Entwicklung, Leistungsfähigkeit, Interpretation, in: Honnefelder, Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 169, 171. 152 Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 21. 149
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pro Jahr an ihren Folgen.153 Als Beispiel einer individuellen Nebenwirkung wird häufig die maligne Hyperthermie, die sich unter anderem in einer (durchaus lebensbedrohlichen) Erhöhung der Körpertemperatur als Folge der Verabreichung eines Narkosemittels manifestiert,154 aber auch ein vollkommenes Fehlen einer therapeutischen Wirkung genannt. Ein bekanntes Beispiel für Letzteres ist das gegen Brustkrebs verschriebene Medikament Herceptin. Nur 25% der Frauen reagieren auf dieses Medikament, bei den anderen zeigt es wenn, dann nur Nebenwirkungen.155 Das Potenzial der Einheit von Diagnose und Therapie auf Basis der genetischen Ursachen wird teilweise als das entscheidende neue Gesamtkonzept beschrieben.156 Ziel bei der Arzneitherapie sei es, „das richtige Medikament in der richtigen Dosierung dem richtigen Patienten zu verabreichen“157 und damit die Behandlung individuell zu gestalten, derzeit insbesondere für Krebserkrankungen, Autoimmunerkrankungen und Erkrankungen des zentralen Nervensystems.158 Eingebettet in den thematischen Zusammenhang des Zufallsfundes ist die Pharmakogenetik ebenfalls nicht konfliktfrei. Auch mit der pharmakogenetischen Untersuchung kann die Entdeckung assoziierter Erkrankungen verbunden sein.159 Meyer et al. weisen daher zu Recht darauf hin, dass der Arzt aufgrund der erhöhten Anzahl der Entdeckung von erblich bedingten Krankheiten im Rahmen der Aufklärung vor einem ethischen Dilemma stehe: zum einen muss er eine Empfehlung zur Medikation und diesbezüglichen Behandlung geben, zum anderen den Patienten mit der Möglichkeit zusätzlicher Entdeckungen konfrontieren. Der Patient wird damit über sein eigenes Behandlungsziel hinaus über seinen Gesundheitszustand aufgeklärt.160 „Während der Arzt die genotypische Testung als ein Instrument zur Optimierung der medikamentösen Therapie einsetzt, erlebt der Patient deren Durchführung zunächst als einen diagnostischen Eingriff im Sinne einer partiellen Dekodierung von Teilen seiner genetischen Struktur.“161 Auch an dieser Stelle muss man folglich die Frage beachten, wann und in welchem Umfang eine genetische Analyse und entsprechende Aufklärung Sinn macht. c) Totalsequenzierung In den letzten Jahren werden die Verfahren der genetischen Analyse zunehmend leistungsfähiger. Sie ermöglichen eine immer schnellere und das gesamte Genom betreffende Sequenzierung. Herausgegriffen werden soll hier die Totalsequenzierung des menschlichen Genoms als eine Errungenschaft des sogenannten next generation sequencing.162 153 Vgl. Bartram, Wie viel Vorhersage verträgt der Mensch?, in: Hillenkamp, Medizinrechtliche Probleme der Humangenetik, S. 89, 94; Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 28. 154 Vgl. Schmidtke, Gentests. Entwicklung, Leistungsfähigkeit, Interpretation, in: Honnefelder, Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 169, 171. 155 Beispiel aus Eberbach, MedR 10, S. 760. 156 Vgl. Hoehe, Individuelle Genanalyse als Basis neuer Therapiekonzepte, in: Honnefelder, das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 301, 304. 157 Eberbach, MedR 2010, S. 760. 158 Vgl. BT-Drs. 16/12000, S. 10. 159 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 32. 160 Vgl. Meyer/Vinkemeier/Meyer, Ethik Med 2002, S. 3, 8. 161 Meyer/Vinkemeier/Meyer, Ethik Med 2002, S. 3, 9. 162 Dazu DER, Stellungnahme 2013, S. 32 f.; Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 2.
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
Diese Hochdurchsatz- und Hochleistungssequenzierung stellt einen weiten Sprung in der Gendiagnostik und das Gesamtkonzept des GenDG herausfordernden Schritt dar. Sie bildete den Abschluss des Humangenomprojekts durch eine vollständige Bestimmung der Reihenfolge der genetischen Bausteine und ermöglicht durch die moderne Analysemethode einen Einsatz der Technik im klinischen Alltag.163 Sie findet im GenDG keine ausdrückliche Erwähnung. Die Totalsequenzierung164 ist ein Auswertungsprozess, der die vollständige DNASequenz des Genoms eines Organismus gleichzeitig bestimmt.165 Die Besonderheit der Totalsequenzierung ist die Masse der produzierten Daten. Zwar treten komplexe Situationen wie z. B. Zufallsfunde auch im Rahmen anderer medizinischer Tests auf, im Falle der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms kann man jedoch annähernd sicher sein, dass es zu solchen zusätzlichen zufälligen Funden kommen wird.166 Das ist ein neues zu lösendes Problem. Die Totalsequenzierung findet im Zukunftsreport Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem anders als im GenDG besondere Erwähnung: „Zurzeit findet eine sehr dynamische Technologieentwicklung bei den Verfahren zur DNASequenzierung statt mit dem Ziel, komplette Genome einzelner Organismen zu einem Bruchteil der bislang erforderlichen Kosten und des Zeitaufwandes zu sequenzieren. (. . . ) Diese Verfahren bergen große Potenziale für neuartige Forschungsansätze und -fragen in den Lebenswissenschaften, die weit über die Sequenzierung menschlicher Genome und humanmedizinische Anwendungen hinausreichen. (. . . ) Zugleich zeichnet sich ab, dass ethische und rechtliche Prinzipien, die bislang für den Umgang mit genetischen Informationen wegleitend sind, in der bisher praktizierten Form nicht mehr anwendbar bzw. gewährleistbar sein könnten (. . . ).“167
Dieses Zitat bestätigt, dass sich die Totalsequenzierung von traditionellen Gentests u. a. wegen des enormen Volumens und der Komplexität der erzeugten Daten unterscheidet. Obwohl neues Wissen auf diesem Weg sich rasant entwickelt, hält die Interpretation der Testergebnisse mit dieser Entwicklung nicht mit, da die medizinische Auswirkungen und Erkenntnisse dieser genetischen Varianten überwiegend unbekannt sind.168 Es stellt sich – wie im Zukunftsreport deutlich wird – insbesondere die Frage, ob und wie die überkommenen rechtlichen und ethischen Grundsätze auf diese neuen Formen der Wissensgenerierung angewendet werden können.169 Diese neuen technischen Möglichkeiten wurden vom GenDG nicht konkret bedacht und die Totalsequenzierung nicht explizit berücksich163 Vgl. Sperling, Das Genomprojekt, in: Schöne-Seifert, Humangenetik, S. 175; Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 2. 164 Oder auch unter die Begriffe Gesamtgenomsequenzierung, bzw. im englischen WGS für „whole genome sequencing“ „next generation sequencing of genomes“ zusammengefasst, vgl. Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 2. 165 Vgl. Kiehntopf/Pagel, The Right to Know an the Right not to know – Ten years on, in: Rehmann-Sutter/Müller, Disclosure dilemmas, S. 9, 15. 166 In dem Sinne sind die Befunde nicht mehr zufällig, da mit ihrem Auftreten gerechnet wird. 167 BT-Drs. 16/12000, S. 153 (Klammerzusatz durch den Bearbeiter). 168 Vgl. Phg-foundation, summary, S. 2. 169 Dass diese Frage von besonderer Bedeutung ist, zeigt auch das 2010 in Leben gerufene Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg mit dem Titel „Ethische und rechtliche Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms (EURAT)“ http://www.uni-heidelberg.de/ totalsequenzierung/ (Abruf 12.07.2012).
B. Methoden und Möglichkeiten der Gendiagnostik
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tigt. Dies wird daran deutlich, dass der Patient über die Möglichkeit von Überschussinformationen (jedoch nur seine Person betreffend) aufgeklärt werden soll, „wenn es nach dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft und Technik möglich ist, dass bei der Abklärung der mit der vorgesehenen genetischen Untersuchung abzuklärenden genetischen Eigenschaften bestimmte unerwartete genetische Eigenschaften festgestellt werden, die nicht vom Untersuchungszweck umfasst sind“170 . Dies wäre jedoch bei der Totalsequenzierung immer der Fall.171 Nicht zu übersehen sind auch die steigenden Implikationen für Dritte mit der vermeintlich zunehmenden Fallzahl von Zufallsfunden bei einer Totalsequenzierung. Dieser Frage angenommen hat sich auch die aktuelle Stellungnahme des Deutschen Ethikrats Die Zukunft der genetischen Diagnostik – von der Forschung in die klinische Anwendung. Die Totalsequenzierung ist nach aktuellen Zahlen innerhalb weniger Tage für ca. 10.000 USD zu erhalten. Erwartet wird jedoch ein enormer Kostenverfall auf ca. 1.000 USD in den nächsten 5 bis 10 Jahren.172 Werde daher die Totalsequenzierung zu einer Standarduntersuchungen, wobei nach dem derzeitigen Wissensstand nicht absehbar ist, ob und wann die Totalsequenzierung zu einer Routineuntersuchung sich entwickelt173 , so sei zu klären wie mit den anfallenden „Überschussinformationen“ und „Nebenbefunden“ zu verfahren sei.174 d) DTC-Gentests Eine weitere Ausbreitung genetischer Testverfahren unter der Voraussetzung gesellschaftlicher Akzeptanz wird durch sogenannte Direct-to-Consumer (DTC) Gentests erwartet. Unter dem Schlagwort DTC wird zusammenfassend die Etablierung eines Markts für genetische Tests anhand von DTC-Gentests verstanden.175 Im Ausland, insbesondere den USA und Großbritannien, entwickelt sich mit diesen Tests ein Markt für frei verkäufliche und i. d. R. profitorientierte Gentests, die meist über das Internet und damit auch von Nichtärzten angeboten werden. Die US-Firma „23 and Me“ z. B. offeriert für 207 USDollar einen Genom-Check.176 Der Kunde schließt mit dem Anbieter via Internet einen Vertrag, gibt an auf welche Krankheiten bzw. Mutationen er hin getestet werden möchte und sendet eine Speichelprobe ein. Das Ergebnis kann der Kunde passwortgeschützt 170
BT-Drs. 16/10532 S. 27. In diesen Zusammenhang gehört auch das so genannte Next Generation Sequencing (NGS); dazu Zhang et al., J Genet Genomics 2011, S. 95 ff. Dieses wird als eines der wichtigsten technologischen Fortschritte der letzten 30 Jahre bezeichnen. Es habe den Punkt erreicht, dass dieses Diagnoseverfahren in die klinische Praxis eingeführt werden könne, da es die nötige Zuverlässigkeit, Geschwindigkeit und reduzierten Kosten miteinander verbinde, Meldrum/Doyle/Tothill, Clin Biochem Rev 2011, S. 177. 172 Vgl. DER, Stellungnahme 2013, S. 33. 173 Vgl. Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 2. 174 Vgl. DER, Stellungnahme 2013, S. 170 Punkt 1, 173 A7. 175 Vgl. Kersten, ZEE 2013, S. 23 „Consumer Driven Genomic Age“; Hüsing, Individualisierte Medizin, EbM-Kongress 2011, EbM und individualisierte Medizin. 176 Diese analysiert innerhalb von 6–8 Wochen sogenannte SNPs (Single Nucleotide Polymorphism), d. h. Variationen einzelner Basenpaare in einem DNA-Strang; weitere Beispiel sind DNAdirect (http://www.dnadirect.com (letzter Abruf 06.11.2013)) oder gar bekannte IT-Firmen wie Samsung durch Samsunggenome (https://www.samsunggenome.com/index.do (letzter Abruf 06.11.2013)). 171
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
später abrufen.177 Ein Kontakt mit einem Arzt und damit eine ärztliche Aufklärung und Beratung findet nicht statt. Die vom GenDG vorgegebenen Standards könnten damit nicht eingehalten werden. DTC-Tests sind daher in Deutschland aufgrund des in § 7 GenDG enthaltenen Arztvorbehalts nicht zulässig. Ein Beispiel für die Integration von Gentests in den gesellschaftlichen Bereich lieferte die Kosmetikkette Body Shop. Diese bot von Dezember 2001 bis März 2002 in ihren Filialen Genanalysen für „Jeden“ an. „You & Your Genes“ hieß das Verfahren der Firma Sconia, mit dem neun Gene auf Mutationen hin untersucht werden konnten. Diese Angebote nahmen rund 300 Menschen für sich in Anspruch178 mit dem Ziel, Lebens- und Ernährungsverhalten daran auszurichten. Dieser Test war nicht lange auf dem Markt, da er nach heftiger Kritik von GeneWatch UK und anderen Wissenschaftlern aufgrund der nur vagen Kausalbeziehung zwischen den getesteten Genen und der Krankheitsveranlagung vom Markt genommen wurde. Allerdings zeigt dies einen Entwicklungstrend, der sich abzeichnet: Gentests werden „gesellschaftsfähig“. Inwieweit sich ein DTC-Markt etabliert, bleibt jedoch noch abzuwarten.179
C. Arzt-Patienten-Beziehung unter dem Einfluss der modernen Medizin Die besonderen mit der Entwicklung der Gendiagnostik einhergehenden ethischen Herausforderungen wurden einleitend bereits angesprochen: Das sich wandelnde Gesundheits- und Krankheitsverständnis und darüber hinaus der davon beeinflusste Wandel der (Gesundheits)Verantwortung für sich selbst, gegenüber Dritten und der Solidargemeinschaft.180 Dieser Wandel bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die einzelnen Akteure der Arzt-Patienten-Beziehung als (zunächst) maßgeblicher Handlungsrahmen für den Umgang mit Zufallsfunden. Er illustriert sehr gut den Einfluss der modernen Medizin auf bekannte Konzepte und den dadurch hervorgerufenen Anpassungsbedarf. Die Rolle des Patienten als Klient, des Arztes als Berater wie auch die Erweiterung der Beziehung in personeller und interessenbezogener Hinsicht auf Dritte wird an verschiedenen Stellen deutlich und soll daher einleitend an dieser Stelle beschrieben werden.
I. Arzt-Patienten-Beziehung im Wandel In den letzten Jahrzehnten hat sich die Arzt-Patienten-Beziehung laufend gewandelt, vor allem durch die Abkehr vom medizinischen Paternalismus.181 Die Emanzipation des Patienten gegenüber dem Arzt und die Errungenschaften der modernen Medizin nehmen dabei Einfluss auf unser Verständnis der ärztlichen Beziehung und die Umsetzung der 177
Vgl. Leopoldina et al., Stellungnahme 2010, S. 36. Vgl. Lemke, Die Polizei der Gene, S. 81. 179 Nach Angaben des DER, Stellungnahme 2013, S. 71, haben sich die ursprünglichen Erwartungen eines expandierenden DTC-Marktes bisher nicht erfüllt. Pionierfirmen wie DeCode Genetics haben das Geschäft 2012 eingestellt, andere bieten den Test nur noch über Ärzte an. 180 Siehe dazu Einleitung sowie ausführlicher zur „genetischen Verantwortung“ Kapitel 4. 181 Siehe dazu unten Kapitel 3, C. I. 1. a). 178
C. Arzt-Patienten-Beziehung unter dem Einfluss der modernen Medizin
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grundlegenden ethischen Prinzipien der Medizin.182 Mit Entwicklung und Anwendung der Gendiagnostik hat dieser Wandel einen neuen Schub erhalten. Die Entwicklungen der Gendiagnostik und die mit ihr generierten Erkenntnisse können nicht nur die subjektive Wahrnehmung des Einzelnen, sondern auch zahlreiche soziale Lebensbereiche beeinflussen. Tiefgreifende Veränderungen wichtiger Rahmenbedingungen, die für den Umgang mit den durch die Gendiagnostik generierten Probleme relevant sind, sind insbesondere auch im medizinischen Bereich zu erwarten, vor allem für die Arzt-Patienten-Beziehung, auf die sich im Folgenden die Bearbeitung beschränken soll.183
II. Alte Fragen in neuem Gewand Zur Verdeutlichung soll hier beispielhaft auf wichtige Aspekte in dieser Beziehung eingegangen werden: erstens die Rolle und das Verständnis von Patient und Arzt in dieser Beziehung, und zweitens die personelle Reichweite dieser Beziehung. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Verständnis von Krankheit und Gesundheit, da es eine wichtige, auch normative Leitlinie des medizinischen Handelns darstellt. Für den Umgang mit den durch die Gendiagnostik aufgeworfenen, vor allem ethischen Problemen, kommt dem Krankheitsbegriff und der Beeinflussung dieses Begriffs durch die Gendiagnostik eine zentrale Rolle zu.184 1. Vom Patienten zum Klienten Die Arzt-Patienten-Beziehung leitende Partei ist der Patient. Seine Rolle unterliegt durch die modernen Entwicklungen einem erheblichen Wandlungsprozess, nicht zuletzt aufgrund der Unterschiede zwischen einer kurativ ausgerichteten und einer prädiktiven Medizin. a) Klassische Medizin: Der Patient Unter dem Begriff „Patient“ versteht man im Allgemeinen einen Kranken, und im engeren Sinn „einen an Leib und/oder Seele erkrankten Menschen, der sich in ärztlicher Behandlung befindet“. Unter den Begriff fallen jedoch von der Definition her auch gesunde Personen, die Einrichtungen des Gesundheitswesens zwecks Diagnose oder Therapie in Anspruch nehmen.185 Das Behandlungsverhältnis bzw. die sogenannte „Patientenkarriere“ unterteilt sich i. d. R. in das klassische Schema Symptom – Diagnose – Therapie – Gesundung: Der Patient sucht bei Krankheitssymptomen den Arzt auf. Dieser empfiehlt und führt eine Untersuchung durch und stellt die Diagnose. Auf dieser Basis schlägt er eine Therapie vor. Im Idealfall liegt am Ende die Genesung. Im Zentrum der herkömmlichen Arzt-Patienten-Beziehung steht folglich der Schutz von Leben und Gesundheit des jeweiligen individuellen Patienten als maßgebliche Handlungsdirektive seitens des Arztes, 182
Vgl. Leopoldina et al., Stellungnahme 2010, S. 49. Daneben ist die Familie der maßgebliche Handlungsrahmen. 184 Vgl. Lanzerath/Honnefelder, Krankheitsbegriff und ärztliche Anwendung der Humangenetik, in: Düwell/Mieth, Ethik in der Humangenetik, S. 51. 185 Pschyrembel, Stichwort Patient; Fröhlich/Wang/Peters, Schweigepflicht oder Aufklärungspflicht?, in: Sass, Patientenaufklärung bei genetischem Risiko, S. 95. 183
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
die ärztliche Fürsorgepflicht.186 Im Kern geht es damit um das Verständnis von Krankheit und Gesundheit als leitende Direktive. b) Prädiktive Medizin: Der Klient Im Bereich der prädiktiven und präventiven Medizin ist Partei des Behandlungsvertrags nunmehr nicht der Patient in seinem überkommenen Verständnis. Prädiktive Gentests indizieren keine Krankheit, sondern lediglich Dispositionen für eine solche.187 In der prädiktiven genetischen Diagnostik sind daher mangels entsprechender Symptomatik (mit Ausnahme diagnostischer Gentests, bei denen bestehende Symptome abgeklärt werden sollen) keine „Kranken“, sondern bisher nicht erkrankte Risikoträger betroffen.188 In der Terminologie der Gendiagnostik werden diese Personen teilweise als „Patient im weiteren Sinne“189 , in der Praxis der Humangenetik als „Ratsuchender“190 oder „Klient“191 bezeichnet. Steht der Einzelne in der Rolle des Empfängers der humangenetischen Leistung und Beratung192 im Zentrum, so bietet sich die Bezeichnung als Klient oder Ratsuchender an. Besteht der Anlass der Gendiagnostik jedoch z. B. in der Differentialdiagnostik und damit mit Bezug zu einer Krankheit, findet sich meist auch hier der Begriff des Patienten. c) Wandel des Gesundheits- und Krankheitsbegriffs Der Begriff der Krankheit wie auch der der Gesundheit sind Grundbegriffe der Medizin. Mit dem Wandel des Patienten zu einem Klienten oder Ratsuchenden eng verknüpft ist der Wandel des Verständnisses dieses Gesundheits- und Krankheitsbegriffs. Für die Rolle des Patienten, vor allem für die Frage einer „genetischen Verantwortung“ und Gesundheitsverantwortung193 , kommt daher immer häufiger eine Diskussion darüber auf, ob Klienten, Ratsuchende oder Patienten im weiteren Sinn als „krank“ zu bezeichnen sind mit daraus den sich ergebenden Folgen. Bereits beim „bekannten“ Krankheitsbegriff wird jedoch deutlich, wie wenig sich die mit diesem Begriff umschriebenen objektiven
186 Hinzu kommen der Schutz von Selbstbestimmung und Patientenautonomie, die sich in den Aspekten der Beratung, Aufklärung und Schweigepflicht des Arztes wiederfinden; siehe dazu unten Kapitel 2, A. 187 Vgl. Bartram, Humangenetische Diagnostik, S. 129. 188 Vgl. Damm, MedR 2011, S. 7, 9. 189 Fröhlich/Wang/Peters, Schweigepflicht oder Aufklärungspflicht?, in: Sass, Patientenaufklärung bei genetischem Risiko, S. 95. 190 Berufsverband Medizinische Genetik, Leitlinien zur Erbringung humangenetischer Leistungen, medizinischegenetik Sonderdruck 2001, S. 56; Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung in der Praxis, S. 40. 191 Damm, MedR 1999, S. 437, 441; Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 341, 344; Schroeder-Kurth, MedR 1991, S. 128, 129; Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung in der Praxis, S. 40. 192 Duden Stichwort Klient: jemand, der [gegen Bezahlung] Rat, Hilfe bei jemandem sucht, der jemanden beauftragt, seine Interessen wahrzunehmen; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 53; Aufgrund der Rolle des Empfängers hat der Begriff des Klienten einen ökonomischen Klang. 193 Siehe dazu unten Kapitel 4, B. II.
C. Arzt-Patienten-Beziehung unter dem Einfluss der modernen Medizin
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und subjektiven Sachverhalte abstrakt definieren lassen.194 Diese begriffliche Ohnmacht wird durch die von der Humangenetik aufgeworfenen Fragen verschärft. aa) Allgemeine Definition Eine allgemein verbindliche Abgrenzung zwischen dem Zustand „gesund“ und „krank“ gibt es nicht. Bei der Suche nach einer Definition wird meist danach differenziert, ob der Begriff der Krankheit anhand objektiver, subjektiver195 oder anhand beider Kriterien definiert werden sollte.196 Im Bereich der Medizin wird unter Krankheit „ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand“ verstanden. „Es muss sich um Abweichungen von natürlichen Funktionen körperlicher oder physischer Art“197 handeln. Diese Begrifflichkeit ist objektiv geprägt. Dies führt jedoch zu der Ansicht, dass Personen allein aufgrund ihrer Regelwidrigkeit als krank angesehen werden können, ohne sich so zu fühlen. Die WHO dagegen betont tendenziell die subjektive Komponente, indem sie Gesundheit als „umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden“198 versteht. Diese Definition ist aufgrund des fehlenden objektiven Merkmals sehr weit. Um das eine oder andere Extrem zu vermeiden, wird daher meist eine „gemischte“ Begriffswahl befürwortet. Im Pschyrembel heißt es daher, dass es sich bei einer Krankheit um eine „Störung der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen bzw. objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen bzw. seelischen Veränderungen“199 handelt. bb) Genetische Mutation als Krankheit? – Gesellschaftlicher Einfluss auf unser Gesundheitsverständnis Im Rahmen der prädiktiven Gendiagnostik ist der Krankheitsbegriff ebenfalls nicht leicht zu erfassen. Prädiktive Gentests finden an symptomatisch Gesunden statt. Auch nach der genetischen Analyse und gegebenenfalls erkannten Gendefekten, sind die jeweiligen Klienten symptomatisch nicht krank, sondern weisen lediglich eine Disposition für eine spätere genetisch bedingte Erkrankung auf. Es kann, muss jedoch nicht zu einer Manifestation aufgrund der genetischen Disposition kommen. Aber wird eine Person sich trotz dieser Veranlagung weiter als gesund ansehen (subjektive Komponente)? Genügt die genetische Disposition, um einen Zustand als regelwidrig einzustufen (objektive Komponente)? Hier schließt sich die Frage an, was „regel194 Vgl. Irrgang, Der Krankheitsbegriff der prädiktiven Medizin und humangenetische Beratung, in: Raem et al., Gen-Medizin eine Bestandsaufnahme, S. 652; die im englischen bekannte Unterscheidung zwischen „disease“ als biomedizinisch feststellbare und „illness“ als subjektiv empfundene Beeinträchtigung der Körperfunktionen gibt es in der deutschen Sprache nicht. 195 Nach Honnefelder bestimmt der Krankheitsbegriff die Bewertung des subjektiven Zustands durch den Patienten wie durch den Arzt, Honnefelder, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 1997, S. 121, 122. 196 Vgl. Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 23. 197 Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 42 Rn. 4; vgl. ausführlich zum Krankheitsbegriff Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 23 f. 198 Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung 1986 der WHO, S. 1 (abrufbar unter http://www.euro. who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf, letzter Abruf 06.11.2013)). 199 Pschyrembel, unter dem Stichwort Krankheit.
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
widrig“ ist? Versteht man unter der Regel das „Normale“, dann würde jede Abweichung bei einem rein objektiven Verständnis eine Krankheit darstellen. Aber was ist genetisch „normal“?200 Wer wäre dann in Anbetracht der zahlreichen genetischen Variationen noch „gesund“?201 Dieser Fragenkatalog könnte noch weiter fortgesetzt werden. Eine rein objektive, an einer Norm gemessene Ausrichtung kann der Komplexität der Natur nicht gerecht werden und neigt dazu, wegen einer genetischen Veranlagung objektiv von einer Krankheit auszugehen. Eine rein objektive Herangehensweise, eine Bestimmung einer „genetischen Normalität“, ist daher nicht möglich.202 Hinzu kommt, dass die Reaktionen auf eine Diagnose, wie auch der Wunsch, diese wissen zu wollen, sehr unterschiedlich ausfallen können. Der subjektiven Komponente kommt insbesondere wegen des Fehlens von Symptomen im Rahmen der Gendiagnostik daher ein besonderes Gewicht zu.203 Des Weiteren werden genetische Dispositionen und das damit verbundene „Schicksal“ aufgrund ihres Charakters als unveränderlich, oft als „genetischer Determinismus“ beschrieben, und damit dem Betroffenen das Gefühl des ausgeliefert sein vermittelt.204 Ein solcher Determinismus blendet andere für die Manifestation relevante Einflussfaktoren aus und reduziert die Erkrankung allein auf die genetische Disposition. Hier besteht die Gefahr, allein aufgrund dieser Gegebenheiten ein anderes Krankheitsempfinden zu etablieren und Gesunde als „Noch-Nicht-Kranke“ zu behandeln,205 da eine solche Diagnose trotz des vagen Charakters bereits als Krankheit empfunden wird. Er ist nunmehr ein Gesunder mit einem durch Gentest bekannten Erkrankungsrisiko ein Gesunder „at known risk“.206 Befürchtet und kritisiert wird damit die Etablierung einer Art „Zwischenstadium“ zwischen Gesundheit und Krankheit, das sich in dem Phänomen des „gesunden Kranken“ bzw. „präsymptomatischen Patienten“207 niederschlägt. Dieser soll aufgefordert werden durch die prädiktive und präventive Medizin gerade den Eintritt einer Krankheit zu verhindern. Dieser Prozess würde zu der abstrusen Konstellation führen, dass man durch die prädiktive und präventive Medizin Krankheiten vermeiden will, den Betroffenen jedoch zu einem Kranken hochstilisiert. Äußere Einflüsse würden zu einem subjektiven Krankheitsgefühl führen. Eine Person, die keinerlei krankheitsbedingte Symptome aufweist und bei der allein die mehr oder weniger geringe Wahrscheinlichkeit einer später sich manifestierenden Erkrankung besteht, ist schwerlich (objektiv) als krank im Sinne von im körper200 Vgl. Lanzerath/Honnefelder, Krankheitsbegriff und ärztliche Anwendung der Humangenetik, in: Düwell/Mieth, Ethik in der Humangenetik, S. 65. 201 Siehe dazu Henn, Universitas 2001, S. 266 ff. 202 „Weder lässt sich Normalität an einem Durchschnittswert ablesen, noch von einem utopischen Ideal her ableiten. Vielmehr ist es die individuelle Variabilität der Natur, die eine je eigene Norm des Subjekts hervorbringt (. . . ).“ Lanzerath/Honnefelder, Krankheitsbegriff und ärztliche Anwendung der Humangenetik, in: Düwell/Mieth, Ethik in der Humangenetik, S. 51, 65, 67 (Klammerzusatz durch den Verfasser). 203 Vgl. ausführlich dazu Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 25 f. 204 Vgl. Damm/König, MedR 2008, S. 62, 63; kritisch Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 27, 32; dazu auch DER, Stellungnahme 2013, S. 116. 205 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 54. 206 Bartram, Humangenetische Diagnostik, S. 129. 207 Nowotny/Testa, Die gläsernen Gene, S. 135.
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lichen oder geistigen Wohlbefinden beeinträchtigt anzusehen. Ohne dass man es allein aufgrund der genetischen Disposition ist, so macht jedoch möglicherweise bereits die Sorge um eine Erkrankung psychisch (subjektiv) krank.208 Das subjektive Empfinden unterliegt daher erheblichen externen Einflüssen. Wandelt sich das Krankheitsverständnis, so kann dies eine Krankheit suggerieren und damit faktisch ein bestimmtes Verhalten des Betroffenen einfordern. Im Zentrum steht hier die Forderung nach einer der „Krankheit“ entsprechenden Verantwortung. Der Krankheitsbegriff gibt eine wichtige Orientierung für das auf Krankheiten bezogene und eingeforderte Handeln. Das Begriffsverständnis hat daher eine normative und begrenzende Wirkung.209 Eine Definition von Krankheit und Gesundheit, eine klare Abgrenzung zwischen beiden Zuständen, kann es jedoch nicht geben. Der Begriff des Klienten, anders als der des Patienten, trägt dem Umstand des unbeeinträchtigten körperlichen Befindens und dem beratenden Charakter der Beziehung insoweit Rechnung.210 cc) „Gesunde Kranke“ als Verantwortungsadressat Für die Frage der gesundheitlichen Eigenverantwortung und des Umgangs mit genetischem Wissen, und damit auch mit Zufallsfunden, ist folglich das gesellschaftliche Verständnis von ‚krank‘ und ‚gesund‘ von Relevanz.211 „Die Redefinition von Gesunden als (genetische) „Risikopersonen“ dehnt den Imperativ der Krankheitsvermeidung auf Zustände aus, die bislang nicht als krankheitsrelevant gesehen wurden.“212 Ohne dass die Frage der Begrifflichkeit die Problematik des Zufallsfundes löst, so verdeutlicht sie dennoch die mit der Gendiagnostik einhergehenden Probleme, die „deskriptive und normative Wirkung des Krankheitsbegriffs“213 und die Wirkungen für den „Patienten“. Es geht – anders als bei der kurativen Medizin – nicht mehr allein um die Behandlung und Beratung von Patienten und damit kranken Personen, sondern um Klienten in einem sich auf eine präventive Medizin ausrichtenden Gesundheitssystems.214 Auch würde eine andere Bewertung dazu führen, dass wir uns annähernd alle als „erbkrank“ ansehen würden.215 Kommen wir zu der Erkenntnis, dass jeder von uns „erbkrank“ ist, so wird diese 208 Ein Grenzfall besteht, wenn eine autosomal dominante Erkrankung wie Chorea Huntington diagnostiziert wird und damit eine spätere Erkrankung sehr wahrscheinlich ist, bisher aber keine Krankheitssymptome vorliegen. 209 Vgl. Lanzerath/Honnefelder, Krankheitsbegriff und ärztliche Anwendung der Humangenetik, in: Düwell/Mieth, Ethik in der Humangenetik, S. 51, 66. 210 Vgl. Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 145. 211 Dies ist eine Frage der „Definitionsmacht von Krankheit und Gesundheit“: „Reflektiert der Krankheitsbegriff die gesellschaftliche Einstellung in dem Sinn, dass wenn eine genetische Mutation als Krankheit verstanden wird, die Gesellschaft einen entsprechenden Umgang einfordert?“ Mieth, Ethische Probleme der Erforschung des menschlichen Genoms, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 177, 183. 212 Lemke, Die Polizei der Gene, S. 132. 213 Lanzerath/Honnefelder, Krankheitsbegriff und ärztliche Anwendung der Humangenetik, in: Düwell/Mieth, Ethik in der Humangenetik , S. 51. 214 Vgl. Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 296 f. 215 Vgl. Henn, Universitas 2001, S. 268: „Angesichts der Tatsache, dass es mehrere tausend monogene Erbleiden gibt, ist wohl jeder Mensch mit hoher Wahrscheinlichkeit mischerbigiger Analganträger für eine oder mehrere Erbkrankheiten.“
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Erkenntnis jedoch dazu beitragen, genetische Mutationen als „normal“ einzustufen und nicht als Krankheit wahrzunehmen; was jeden in einem gewissen Grad betrifft, ist nicht abnorm. Dies ist jedoch eine Frage zukünftiger Entwicklungen. Die vertraute Arzt-Patienten-Beziehung hat sich somit dahingehend gewandelt, dass der Patient zunehmend die Rolle eines Klienten mit entsprechender Verantwortung wahrnimmt. Die Beziehung ist nunmehr unter diesen neuen Vorzeichen zu betrachten.216 Dieser Wandel wird dadurch weiter verstärkt, dass neben den Klienten möglicherweise Dritte, ebenfalls „gesunde Kranke“, treten, die von der gleichen „Krankheit“ betroffen sein können wie der Klient. An diesem Wandel und der Beeinflussbarkeit des Begriffsverständnisses werden zudem auch gesellschaftliche Einflüsse auf die Entwicklung schon hier deutlich. Dies ist für die mit der Gendiagnostik verbundenen Fragestellungen insgesamt von Bedeutung. 2. Vom Patienten zum Verbraucher und Kunden Wie sich aus der Definition des „Klienten“ ergibt, werden im Rahmen der Humangenetik Patienten auch zunehmend als „Verbraucher“ oder „Kunde“217 von Dienstleitungen verstanden. Der Begriff des „Verbrauchers im Gesundheitssystem“ wird im Medizinrecht zunehmend verwendet.218 Diese Begrifflichkeit liegt in einer Linie mit dem Ziel der Gesundheitspolitik, dass der einzelne Bürger Gesundheitsleistung eigenverantwortlich in Anspruch nimmt, selbstbestimmte und -verantwortliche Gesundheitsentscheidungen trifft (vgl. § 1 SGB V). a) Empowerment des Patienten und Gesund-Erhaltungspflicht Gewünscht und angestrebt ist das Bild des informierten und auf dieser Basis selbstbestimmt aktiv handelnden Patienten (Empowerment).219 Diese aktive Seite des Patienten als Kunde entspringt einer sich wandelnden gesellschaftlichen Einstellung zur Gesundheit in den letzten Jahrzehnten. Wurde Gesundheit früher eher passiv wahrgenommen und als Abwesenheit von Krankheit verstanden, hat sich diese Wahrnehmung in einen mehr dynamischen Prozess verwandelt.220 Der Einzelne versucht zunehmend seinen Gesundheitszustand zu beeinflussen. Er sieht Gesundheit nicht bloß als Schicksal sondern auch als eine beeinflussbare Größe an. Dies spiegelt das zunehmende Angebot von Gesundheitsratgebern, Vorsorgemaßnahmen, Fitnessangeboten etc. wieder. Wird Gesundheit jedoch als beeinflussbar angesehen, so wird dem Erkrankten auch eine Schuld an seinem Zustand gegeben, wenn er seine Gesundheit nicht positiv beeinflusst. Gesundheit wird so als
216
Vgl. Damm, MedR 1999, S. 437, 441. Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 122. 218 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 55 f. 219 Vgl. Prainsack, Personalisierte Medizin aus Sicht des Patienten, in: DER, Personalisierte Medizin, S. 23. 220 Zu dieser Entwicklung und vorliegender Darstellung Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 122 ff. 217
C. Arzt-Patienten-Beziehung unter dem Einfluss der modernen Medizin
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ein „moralisches Gut“221 angesehen, zu dessen Erhalt der Einzelne verpflichtet ist.222 In dieser Entwicklung spiegelt sich ein Trend zur „lifestyle correctness“223 mit einer Unterscheidung zwischen „verantwortlich“ und „unverantwortlich“ handelnden Individuen.224 Für die Rezeption der Gendiagnostik und das Maß an Eigenverantwortung spielt es eine wichtige Rolle wie Gesundheit und ihre Beeinflussbarkeit durch den Einzelnen verstanden wird, und welche Rolle der Gendiagnostik beim „Gesundheitskult“ zukommt. b) Verbraucherschutz: Privatisierung und Verantwortung Neben der meist positiven Konnotation des Verbrauchers mit der Betonung auf Patientenrechte, sind mit der Verbraucherstellung jedoch auch der Bedarf nach Verbraucherschutz zur Stärkung der Klientenposition sowie eine gewisse Kommerzialisierung verbunden. An dieser Stelle soll erneut daher kurz auf die Entwicklung sogenannter DTC-Tests (Direct-to-Consumer Tests) hingewiesen werden. Die Entwicklung von auf dem Markt der Gesundheitsleistungen frei abfragbaren Gentests fällt in unserer Informationsgesellschaft auf nährreichen Boden, da es ihr Grundprinzip ist, immer mehr Informationen anzusammeln.225 Wissen wird im Grundsatz als positiv und erstrebenswert angesehen. Eine der größten und bedeutendsten Schwierigkeiten der DTC-Tests ist jedoch, dass sie die Kontrolle über die genetischen Tests vom klinischen Bereich und den Ärzten in die Hände des Verbrauchers legen. Damit verbunden ist das entsprechende Risiko erheblicher Missverständnisse aufgrund fehlender fachmännischer Beratung.226 Dieser Nachteil wird z. T. in Kauf genommen, um dem Verbraucher neue Möglichkeiten zu bieten: Sie können mit ihrer Gesundheit präventiv umgehen und reproduktive Entscheidungen auf einer anderen Wissensgrundlage treffen. Der Verbraucher ist autonom und kann das Angebot auf dem Markt abfragen. Damit verbunden ist ein auch schon heute zu beobachtender Trend der Privatisierung gesundheitlicher Leistungen, der das Rollenverständnis des Konsumenten formt.227 Das Mehr an Freiheit und Wissensmöglichkeiten hat jedoch auch eine Kehrseite: ein Mehr an Verantwortung.228 Wer die Entscheidung trifft, trägt für diese die Verantwortung. Es stellt sich für den Verbraucher damit die Frage, wie mit der Möglichkeit des Wissens umzugehen ist, welche Schlussfolgerungen er aus diesem Wissen zieht und insbesondere, wie er mit diesem Wissen gegenüber anderen umgeht. In Parallele zum zivilrechtlichen Verbraucher muss daher ein gewisser Verbraucherschutz gewährleistet werden. 221
Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 122 f. Vgl. Beck-Gernsheim, Welche Gesundheit woll(t)en wir? Neue Diagnose- und Therapiemöglichkeiten bringen neue Kontrollen, Entscheidungszwänge und -konflikte, in: Schäfer et al., Gesundheitskonzepte im Wandel, S. 115, 116: „Gesundheit als Leistungserwartung der individualisierten Gesellschaft“: Gesundheit sei kein Geschenk Gottes mehr, sondern Aufgabe und Leistung des mündigen Bürgers. 223 Leichter, Lifestyle Correctness and the New Secular Morality, in: Brandt, Morality and health, S. 159, 172. 224 Vgl. Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 123; Leichter, Lifestyle Correctness and the New Secular Morality, in: Brandt, Morality and health, S. 159, 373 ff. 225 Vgl. Bartens, Die Tyrannei der Gene, S. 40. 226 Vgl. Kaye, Hum Mol Genet 2008, S. 2. 227 Vgl. DER, Stellungnahme 2013, S. 135. 228 Vgl. Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 127. 222
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
Dieser Gedanke liegt dem im GenDG vorgesehenen Arztvorbehalt und der umfassenden Aufklärung- und Beratungspflicht zu Grunde. Diese Schutzvorschrift befreit nicht von der mit dem Wissen verbundenen Verantwortung, ermöglicht jedoch einen aufgeklärten und betreuten Umgang mit diesem Wissen und der damit verbundenen Verantwortung. Aus diesem Grund sind genetische Untersuchungen in Deutschland nur durch einen Humangenetiker nach umfangreicher Aufklärung und nicht anonym und spontan über das Internet möglich. So soll sichergestellt werden, dass sich ein „genetisches Selbstbewusstsein“ beim Einzelnen wie auch bei der Gesellschaft entwickelt.229 Die Stellung des (gendiagnostischen) Konsumenten kann und sollte folglich durch einen Verbraucherschutz gestärkt werden.230 3. Erweiterung der Verantwortungsbeziehung Zentrales Element ärztlichen Handelns ist früher wie heute die Arzt-PatientenBeziehung. Bisher wie auch nach dem sogenannten Patientenrechtegesetz231 besteht das Behandlungsverhältnis in einer bilateralen Beziehung zwischen Arzt und Patient. Die Gendiagnostik hingegen ist durch eine „multipolare Rechtsbeziehung“232 geprägt. Dies wirft neue Fragen in der beschriebenen bilateralen Beziehung auf. a) Von der bilateralen zur multilateralen Beziehung Das Behandlungsverhältnis ist in seiner traditionellen Fassung geprägt durch die bilaterale Arzt-Patienten-Beziehung. Sie wird damit als eine Zwei-Personen-Beziehung aufgefasst, mit dem Ziel der Genesung des Patienten. Die vertragliche Beziehung hat nur eine sehr rudimentäre rechtliche Ausgestaltung erfahren. Geprägt ist die Beziehung vielmehr von den dargestellten rechtlichen und medizinethischen Leitprinzipien. Aufgrund der medizinischen und persönlichen Auswirkungen einer Diagnose auf Dritte ist auch eine Erweiterung des überkommenen bilateralen Arzt-Patienten-Verhältnisses zu erwägen. Im Rahmen der Gendiagnostik und der Problematik der Zufallsfunde stellt sich die Frage, wie Angehörige eines von einer Erbkrankheit Betroffenen in dieses bisher zweiseitig geprägte Verhältnis zu integrieren sind. Es kann aufgrund der Implikationen einer durchgeführten Genanalyse zu Konstellationen kommen, in denen nur ein multilaterales Verhältnis zwischen Arzt-Klient-Drittbetroffenem der Situation gerecht werden kann. Eine solche Eingliederung erscheint naheliegend, da die Angehörigen potenziell ebenfalls von der Krankheit betroffen sind. Betrachtet man das multilaterale Verhältnis, wenn alle Beteiligten der Beratung, Untersuchung und Aufklärung aufgeschlossen gegenüber stehen, so ist auch heute schon eine Einbeziehung Angehöriger in die Therapie nichts Außergewöhnliches. Im Bereich der humangenetischen Behandlung wird bereits propagiert, dass die medizinische Betreuung aufgrund der oft generationsübergreifenden Wirkung der Gendiagnostik auch auf eine 229 Steinmüller, DuD 1993, S. 6, 10: Wie beim Datenschutz habe es lange Zeit gedauert und viel Aufklärungsarbeit bedurft, ehe das zur Rechtsdurchsetzung notwenige Datenschutzbewusstsein entstand. Dies sei nötig damit der Einzelne verantwortlich mit den eigenen Genomdaten umgehe. 230 Vgl. DER, Stellungnahme 2013, S. 135. 231 BT-Drs. 17/10488. 232 DER, Stellungnahme 2013, S. 74.
C. Arzt-Patienten-Beziehung unter dem Einfluss der modernen Medizin
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generationsübergreifende medizinische Betreuung ausgerichtet werden müsste.233 Nach Ansicht der Befürworter könne nur auf diesem Wege ein angemessenes medizinisches Beratungsangebot erfolgen und von den Betroffenen in Anspruch genommen werden. Dieser Weg stelle sicher, dass der Verwandte, wenn er ebenfalls Interesse an den Ergebnissen der Analyse hat, wie der Klient in das medizinische Konzept eingebettet wird. Dabei sei folglich nicht allein der diagnostische und therapeutische Bereich der Arzt-PatientenBeziehung betroffen. Auch die kommunikative Komponente werde verändert und erweitert. Es handele sich daher nicht mehr um die übliche „duale Arzt-Patienten-Beziehung“ sondern gegebenenfalls um eine Klientengemeinschaft.234 b) Konfliktgemeinschaft Das Klientenverhältnis und insbesondere die genetische Beratung kann jedoch auch in einem komplexen sozialen und familiären Kontext stehen. Dies liegt darin begründet, dass durch die genetische Diagnose verschiedene Interessen tangiert werden und daher „der herkömmliche dialogische Schutzraum zwischen Arzt und Patient in der prädiktiven Gendiagnostik zu einem mehrpoligen Geflecht aus potenziellen Interessenkonflikten“235 wird. Inwieweit auch in Konfliktsituationen eine Klientengemeinschaft realisierbar ist, ist jedoch fraglich. Eine Klientengemeinschaft beruht auf der einvernehmlichen Einbeziehung externer Dritter. Das GenDG sieht ein solches Modell nicht ausdrücklich vor. Zwar ist eine gemeinsame Beratung auch nach dem GenDG im Wege des Einvernehmens selbstverständlich möglich, jedoch beinhaltet das Gesetz keine Beratung mit dem Ziel einer familienorientierten Vorgehensweise, um auch in Konfliktfällen eine Klientengemeinschaft zu etablieren. Auch wird es bei Meinungsverschiedenheiten oder einer gestörten Kommunikation schwer zu realisieren sein. Aufgrund der Geltung der Schweigepflicht auch in Bezug auf das Bestehen eines Beratungsverhältnisses236 ist die Etablierung einer Klientengemeinschaft aus einer Konfliktgemeinschaft auch nicht ohne weiteres möglich.237 Die Gendiagnostik ist folglich geeignet, das personelle, diagnostische und insbesondere aufgrund der Bedeutung der Beratung auch die kommunikative Komponente der Arzt-Patienten-Beziehung zu erweitern238 und zu tangieren. Es findet eine Erweiterung und Veränderung des ärztlichen Aufgaben- und Rollenverständnisses durch den informatorischen Aspekt der Gendiagnostik statt. Der durch Zufallsfunde hervorgerufene Problemkomplex betrifft damit „nicht nur die unmittelbare Beziehung von Arzt und Patient, sondern konturieren zugleich auch das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie, Verwandtschaft, Familie und Gesellschaft neu: Man geht nicht mehr „nur“ für sich selbst, sondern immer zugleich auch für seine genetische Verwandtschaft zum Arzt.“239 Diese 233
Bartram, Humangenetische Diagnostik, S. 59. Damm, MedR 1999, S. 437, 441. 235 Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 49; Bartram, Humangenetische Diagnostik, S. 129. 236 Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 145 Fn. 586; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 121 f. 237 Siehe dazu ausführlicher unten Kapitel 5, B II. 2. b). 238 Vgl. Bartram, Humangenetische Diagnostik, S. 130. 239 Kersten, ZEE 2013, S. 23, 25. 234
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Kap. 1: Grundlagen der Gendiagnostik
Konfliktgemeinschaft stellt den eigentlichen problematischen Fall für den Umgang mit Zufallsfunden dar. 4. Vom „Heiler“ zum Berater Parallel zum Wandel des Patienten zum Klienten und Verbraucher wandelt sich auch die Rolle des Arztes in der Beziehung. Einer ersten Veränderung unterlag die Rolle des Arztes durch die zunehmende Betonung der Patientenautonomie in Abgrenzung zum medizinischen Paternalismus.240 Der nunmehr mündige Patient ist vom Arzt über die medizinischen Maßnahmen umfassend aufzuklären und jegliches Handeln ist von dessen Einwilligung abhängig. Schon hier gewinnen kommunikative Aspekte zunehmend an Bedeutung. Eine Vertiefung dieses Prozesses vollzieht sich mit den sich weitenden medizinischen Möglichkeiten unter gleichzeitiger Technisierung der Medizin. Das Handeln des Arztes ist daher nicht mehr allein auf Heilung ausgerichtet, sondern die Beziehung erfährt eine Erweiterung, ohne die alte Rolle des Arztes gänzlich zu verdrängen.241 Der Schwerpunkt einer präventiven Medizin liegt nicht mehr allein auf der Heilung, sondern zunehmend auf vorbeugenden Maßnahmen. Stützt sich damit die Medizin zunehmend auf gendiagnostische Maßnahmen, so liegt der Fokus der ärztlichen Handlung auf der Beratung und Aufklärung, um dem Klienten eine Entscheidung und den Umgang mit dem potenziellen Wissen zu ermöglichen. Der Klient benötigt Hilfestellungen aufgrund der Bedeutung genetischer Daten für seine Lebensgestaltung und Wahrnehmung seiner selbst. Auch für eine Konfliktgemeinschaft in der Konstellation des Zufallsfundes ist die Beratung von besonderer Bedeutung. Der Kommunikation in der Beziehung kommt daher eine zentrale Rolle zu. Die Position des Arztes wird aus diesem Grund zunehmend als die eines Beraters beschrieben.242
D. Zusammenfassung Zufallsfunde sind ein bereits in der klassischen Medizin bekanntes Problem, dessen grundsätzliche Behandlung in der Wissenschaft jedoch bisher nur wenig Beachtung findet. In der Gendiagnostik entwickelt sich der Zufallsfund zu einer bisher nur unzureichend beachteten Grundproblematik der Datenerhebung. Verstärkt durch die Etablierung und Weiterentwicklung der Gendiagnostik sind Zufallsfunde mehr und mehr von Bedeutung und eine auch in der Arzt-Patienten-Beziehung zu beachtende Frage im Umgang mit medizinischen Daten. Bei einem Zufalls(be)fund handelt es sich um einen Fall der Generierung medizinischer Daten, ggf. eines Befundes, der außerhalb des unmittelbaren Gegenstands der klinischen Untersuchung liegt und damit „bei Gelegenheit“ der Untersuchung ermittelt wurde. Dabei sind im Ausgangspunkt zwei Fallgruppen zu unterscheiden: der Zufallsfund in der rein bi240
Siehe dazu ausführlich unten Kapitel 3, C. I. 1. Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 60; ausführlicher dazu unten Kapitel 5, B. II. 6. b) aa). 242 Ausführlicher dazu unten Kapitel 5, B. II. 6. b) aa). 241
D. Zusammenfassung
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lateralen Beziehung sowie der Zufallsfund in der multilateralen Beziehung aufgrund der Bedeutung für genetisch verwandte Dritte. Letztere Konstellation ist von zunehmender Relevanz, da aufgrund der Vererbungslehre je nach Mutation und Penetranz der genetischen Anlage die Daten auch für genetisch verwandte Dritte von Relevanz sein können. Dies ist vor allem der Fall bei der Diagnose monogener, dominanter Erbkrankheiten. In allen anderen Fällen folgt aus der Feststellung einer genetisch bedingten Krankheitsdisposition lediglich eine Wahrscheinlichkeitsaussage in Bezug auf eine später mögliche Manifestation der Erkrankung, da die meisten genetisch bedingten Krankheiten multifaktorielle Ursachen haben. Aufgrund der Reichweite des mehrdimensionalen Zufallsfundes stellt dieser Fall ein interdisziplinäres komplexes Problem für die beteiligten Parteien der ArztKlient-Verwandten-Beziehung dar, aus medizinischer, rechtlicher aber auch moralischer Perspektive. Dieser Prozess, der sich in Zukunft durch die sich in der Entwicklung befindliche personalisierte Medizin vermutlich weiter verstärken wird, bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die bekannten medizinischen Strukturen und Beziehungen. Insbesondere der informed consent und die Parteien der Arzt-Patienten-Beziehung werden sich hier neuen Herausforderungen stellen müssen. Der erste Bruch dieser traditionellen Arzt-Patienten-Beziehung kam mit der Betonung der Autonomie des Patienten. Die Rolle der Parteien wurde neu justiert.243 Die Einwirkungen der modernen Medizin kann man als einen weiteren Bruch des traditionellen Modells bewerten. Die Betroffenheit Dritter, die Unsicherheit und die Bedeutung der genetischen Diagnose für die Persönlichkeitsentwicklung und Lebensplanung des Einzelnen bringen weitere Änderungen der Beziehung mit sich. Der Patient wird zunehmend zum Klienten genetischer Beratung, der mit neuen Krankheits- und Gesundheitsmodellen konfrontiert und vom Arzt zu prädiktiven und präventiven Fragen beraten wird. „Früher ging man bekanntlich zum Arzt, wenn man krank war, und er machte eine Prognose, wann man wieder gesund sein würde. Morgen geht man zum Arzt solange man noch gesund ist und trifft eine Prädiktion (Vorhersage), ob (und vielleicht auch wann) man krank wird.“244 Der Patient entwickelt sich zu einem Klienten und Verbraucher, der Gesundheitsleistungen am Markt abfragt. Des Weiteren führt der mehrdimensionale Zufallsfund zu einer personellen Erweiterung der Arzt-Patienten-Beziehung; es entsteht eine Klienten- aber auch Konfliktgemeinschaft. Den Klienten wie auch den Arzt trifft die Frage des Umgangs mit dem genetischen Wissen gegenüber potenziell betroffenen Verwandten. Hier gilt es verschiedene Rechte, Pflichten und Interessen zu beachten. Von besonderer Relevanz für die zukünftige gesellschaftliche Rezeption der Gendiagnostik und der Frage des Umgangs mit dem gewonnen Wissen ist die Entwicklung des Gesundheits- und Krankheitsbegriffs. Wird eine genetische Disposition bereits als Krankheit empfunden oder gar angesehen, und damit der Klient zum „gesunden Kranken“, so besteht die Gefahr, dass sich hieran gesellschaftliche Erwartungen an ein bestimmtes Gesundheitsverhalten knüpfen.
243
Vgl. Inserm, Tests génétiques Questions scientifiques, médicales et sociéales, S. 207. Fischer, Die Expedition ans Ende der Anatomie, in: Dierks et al., Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 5, 20; dazu Kersten, PersV 2011, S. 4, 5. 244
Kapitel 2
Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung Trotz der gesellschaftlichen Relevanz der Thematik der Gendiagnostik und des genetischen Wissens bildet die Arzt-Patienten/Klienten-Beziehung den maßgeblichen Handlungsrahmen für den Umgang mit Zufallsfunden im Medizin- und Gendiagnostikrecht. Im Folgenden soll es daher nur am Rande um allgemeine Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung zu dieser Thematik gehen. Der Blick richtet sich vielmehr auf die Arzt-Patienten-Beziehung, in der das Wissen „entsteht“. Dabei weist die Problematik in den beiden Bereichen, der „normalen“ Medizin und der Gendiagnostik, erhebliche Unterschiede auf, die sich auch auf den Umgang mit derselben auswirkt. Beide Problembereiche existieren dennoch nebeneinander. Es sind die bekannten Grundsätze, die auch die Beziehung in der Humangenetik steuern, so dass durchaus Parallelen in der Problembehandlung denkbar sind, auch wenn sich die Unterschiede zwischen der klassischen kurativ ausgerichteten Medizin und der prädiktiv ausgerichteten humangenetischen Behandlung auf das überkommene Arzt-Patienten-Verhältnis und die diesem zugrunde liegenden Leitprinzipien auswirken. Im Folgenden sollen daher die (rechtlichen) Grundlagen des klassischen Behandlungsverhältnisses dargestellt werden (A.), die die Beziehung zwischen Arzt und Patient bestimmen, um im Folgenden auf die Problematik des Zufallsfundes, zunächst im Bereich der kurativen Medizin, einzugehen. Zu differenzieren ist dabei zwischen den „eindimensionalen“ (B.) und mehrdimensionalen (C.) Zufallsfunden.
A. Pflichten des Arztes, Rechte des Patienten Für Nichtjuristen mag es überraschend sein, dass nicht alle Grundlagen des ArztPatienten-Verhältnisses normativ geregelt wurden. Sie sind vielmehr teilweise im Rahmen des bürgerlich-rechtlichen Arzthaftungsrechts entwickelt worden und damit vor allem durch Richterrecht geprägt. Teilweise finden sie ihre Grundlage im Verfassungsrecht, vorwiegend in Art. 1 und 2 GG.1 Nicht zu vernachlässigen sind in diesem Zusammenhang auch medizinethische Bindungen. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Arzt und Patient für die Frage der Autonomie und der Selbstbestimmung. „Weit mehr als sonst in den sozialen Beziehungen des Menschen fließt im ärztlichen Berufsbereich das Ethische mit dem Rechtlichen zusammen“.2 An dieser Stelle soll das Thema Ethik und Recht und Ethik in der Medizin nicht umfassend behandelt werden, jedoch spielen diese Fra-
1 Vgl. Damm, Systembezüge individueller Patientenrechte, in: Brand et al., Individuelle Gesundheit versus public health?, S. 48, 51. 2 Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, in: Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, S. 2; BVerfG, Beschl. v. 25. 7. 1979 – 2 BvR 878/74, BVerfGE 52, 131, NJW 1979, 1925.
A. Pflichten des Arztes, Rechte des Patienten
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gen bei der Bewältigung medizinischer Probleme eine wichtige Rolle.3 Als Beispiel sei auf den Eid des Hippokrates verwiesen. Dieser wird heute von den Ärzten nicht mehr geleistet und stellt auch keine rechtlich verbindliche Norm dar. Dennoch ist er heute noch Bestandteil der ärztlichen Ethik und beeinflusst die ärztlichen, auch gesetzlichen, Pflichten (vgl. § 203 StGB).
I. Ärztliche Aufklärungspflicht Die ärztliche Aufklärungspflicht zählt zu den Hauptpflichten des Arztes. Ihren Ursprung findet die Aufklärungspflicht einerseits in dem ethischen Gebot „Salus et voluntas aegrotii suprema lex“ (Das Heil und der Wille des Kranken ist oberstes Gesetz), daneben ist sie auch rechtlich verankert.4 Nach diesem Gebot ist der Patient grundsätzlich vor dem geplanten Eingriff über Art und Risiko rechtzeitig aufzuklären5 , um eine selbstbestimmte Entscheidung über die medizinische Maßnahme treffen zu können. Innerhalb der Aufklärungspflicht werden verschiedene Fälle der Aufklärung unterschieden, die Selbstbestimmungsaufklärung mit ihren einzelnen Komponenten und die Sicherungsaufklärung. 1. Selbstbestimmungsaufklärung Zu nennen ist zunächst die Selbstbestimmungsaufklärung. Diese wird meist mit dem englischen Begriff „informed consent“ umschrieben. Das Erfordernis des informed consent gilt aufgrund des hohen Rangs der Patientenautonomie als eines der wichtigsten rechtlichen und ethischen Prinzipien und wird in der Arzt-Patienten-Beziehung seit Jahren intensiv diskutiert. Der Begründungsansatz lag zunächst darin, dass der Arzt für die Gesundheit seines Patienten verantwortlich ist und lediglich für den körperlichen Eingriff mit dem Ziel der Erhaltung der Gesundheit des Patienten dessen Einwilligung benötigt. Dieses „informationelle Konsensprinzip“6 hat in den letzten Jahren eine immense Aufwertung und Veränderung erfahren und sich mittlerweile zu dem tragenden medizin-ethischen Prinzip entwickelt. Der informed consent dient nicht mehr allein und primär der Rechtfertigung des ärztlichen Heileingriffs, sondern der Koordination der Patientenautonomie und der Befugnisse des Arztes,7 und ist damit Ausdruck eines partnerschaftlichen Verhältnisses. Der ärztliche Heileingriff setzt somit die Einwilligung des Patienten voraus, die wiederum durch die Aufklärung getragen sein muss.8 Die Selbstbestimmungsaufklärung soll die Voraussetzungen für eine freie und selbstverantwortliche Entscheidung über den medizinischen Eingriff schaffen. Diese umfasst dabei verschiedene Arten der Aufklärung: Die Risikoaufklärung, d. h. die Information über die typischen Gefahren eines medizinischen 3 Vgl. Taupitz, NJW 1986, S. 2851: Die rechtlichen Normen werden meist als das „ethische Minimum“ bezeichnet, da sie in der Regel geringere Standards als ethische Normen setzen. 4 Vgl. Quaas/Zuck, Medizinrecht, § 13 Rn. 82. 5 Vgl. Wellner, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 839 BGB, Rn. 274. 6 Damm, Informed Consent und informationelle Selbstbestimmung in der Genmedizin, in: Festschrift für Laufs, S. 725. 7 Vgl. Kirste, JZ 2011, S. 807. 8 Vgl. Laufs, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 59 Rn. 1.
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
Eingriffs als maßgebliche Pflicht und daneben die Diagnoseaufklärung. Diese beinhaltet die Information des Patienten über den medizinischen Befund.9 Sie ist Teil der Vertragserfüllung beim reinen Diagnosevertrag. Ansonsten hat sie zu erfolgen, soweit die Kenntnis des Befundes für die Entscheidung des Patienten erkennbar von Bedeutung ist oder der Patient ausdrücklich danach fragt.10 Auch Ausnahmen von dieser Pflicht sind im Interesse des Patienten anerkannt. Die Aufklärung kann kontraindiziert sein, wenn z. B. das Leben oder die Gesundheit des Patienten ernsthaft gefährdet ist.11 Zu nennen sind zuletzt die Verlaufsaufklärung als Aufklärung über die beabsichtigte Therapie und eventuelle Schmerzen, die mit dem Eingriff verbunden sind.12 2. Sicherungsaufklärung Die Sicherungsaufklärung, auch therapeutische Aufklärung genannt, bildet einen wesentlichen Teil der Behandlung. Unter ihr versteht man die zur Sicherstellung des Behandlungserfolges notwendigen Schutzhinweise, damit der Patient die für die Genesung erforderliche Mitwirkung leistet und die ärztlichen Ratschläge befolgt.13 In den Schutzbereich dieser Pflicht sind bei entsprechender Gefährdungslage auch (zukünftige) Partner des Betroffenen einbezogen, selbst wenn sie zum Behandlungszeitpunkt noch nicht bekannt sind,14 um z. B. im Falle lebensbedrohlicher Erkrankungen wie einer HIV-Infektion infolge verseuchter Blutkonserven eine Ausbreitung zu verhindern. Auf dieser Erweiterung der ärztlichen Pflicht auf Dritte soll im Kontext der Erläuterungen des Zufallsfundes zurückgekommen werden.
II. Ärztliche Schweigepflicht Beginnend mit dem Eid des Hippokrates15 (ca. 460–375 v. Chr.) gehört die Schweigepflicht zu einer der maßgeblichen beruflichen wie auch ethischen Pflichten eines Arztes.16
9 Vgl. Laufs, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 59 Rn. 13; Schöch, Die Aufklärungspflicht des Arztes und ihre Grenzen, in: Roxin/Schroth, Hdb des Medizinstrafrechts, S. 57 ff. 10 Vgl. Quaas/Zuck, Medizinrecht, § 13 Rn. 89; Eine Pflicht zum Schweigen existiert dagegen bei einer auf ungesicherter Befundgrundlage beruhenden „Verdachtsdiagnose“: OLG Stuttgart, VersR 1988, 695; OLG Frankfurt, Urt. v. 03.03.1995, 24 U 311/93, VersR 1996, 101. 11 Vgl. Eberbach, MedR 1986, S. 180, 182. 12 Vgl. Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 59 Rn. 11 ff.; Wellner, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 839 BGB Rn. 203. 13 Vgl. Laufs/Katzenmeister/Lipp, Arztrecht, V. Rn. 16. 14 BGH, Urt. v. 14. 6. 2005 – VI ZR 179/04, BGHZ 163, 209, NJW 2005, 2614 m. Anm. Katzenmeier (Verabreichung HIV-kontaminierter Blutprodukte); vgl. im Einzelnen dazu unten Kapitel 2, C. I. 1. 15 „Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb meiner Praxis im Umgang mit Menschen sehe und höre, das man nicht weiterreden darf, werde ich verschweigen und als Geheimnis bewahren“. 16 Vgl. Marckmann/Bormuth, in: Wiesing/Ach, Ethik in der Medizin, S. 96, 103; Strybny, Die zivilrechtliche Pflicht des Arztes zur Mitteilung einer HIV-Infektion des Patienten an gefährdete Dritte, S. 29.
A. Pflichten des Arztes, Rechte des Patienten
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1. Normative und ethische Einbettung Der Eid des Hippokrates wird heute noch als Grundlage der Schweigepflicht genannt. In rechtlicher Hinsicht hat die ärztliche Schweigepflicht verschiedene Grundlagen: Die verfassungsrechtliche Grundlage der Schweigepflicht liegt im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, schwerpunktmäßig im Recht auf informationelle Selbstbestimmung.17 Nach § 9 Musterberufsordnung (MBO)18 ist die Schweigepflicht Kernbestandteil der ärztlichen Berufsethik.19 Dass diese Pflicht nicht nur eine bloße Berufspflicht, sondern eine Rechtspflicht darstellt,20 zeigt sich in der sie betreffenden Norm des Strafrechts, § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Schutzgegenstand dieser Norm ist der Persönlichkeitsschutz des Patienten, die Geheim- und Individualsphäre. Dieser Schutz ist die maßgebliche Grundvoraussetzung der ärztlichen Behandlung, da nur auf diesem Weg das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient gewahrt werden kann.21 Nur wenn der Patient sicher ist, dass keine Informationen unbefugt weiter gegeben werden, wird er die für die Behandlung relevanten persönlichen Informationen Preis geben.22 Geschütztes Rechtsgut ist damit auch die Allgemeinheit, die in die Verschwiegenheit des Arztes vertraut.23 Sie bildet daher die gesellschaftliche Grundlage für ein funktionsfähiges Gesundheitswesen.24 2. Offenbarungsbefugnis des Arztes Die Schweigepflicht ist keine absolute Pflicht. Aufgrund der Grundrechtsrelevanz der Schweigeverpflichtung ist ein Durchbrechen bzw. eine Ausnahme von der Schweigepflicht jedoch nur in drei anerkannten Konstellationen möglich: auf Grundlage einer gesetzlichen Ausnahme25 , aufgrund der Einwilligung des Patienten als dispositionsbefugte Person und beim Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes, meist der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB.26 a) Gesetzliche Ausnahmen Für bestimmte Krankheiten wurde eine gesetzliche Meldepflicht eingeführt, wie z. B. die §§ 11 Abs. 2, 12, 13 GeschlechtskrankheitenG, §§ 7 ff., 11, 12, 49 InfektionsschutzG 17
Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 8. § 9 Abs. 1 MBO: Ärztinnen und Ärzte haben über das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Ärztin oder Arzt anvertraut oder bekannt geworden ist – auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus – zu schweigen. (. . . ) Abs. 2: Ärztinnen und Ärzte sind zur Offenbarung befugt, soweit sie von der Schweigepflicht entbunden worden sind oder soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist. 19 Vgl. Strybny, Die zivilrechtliche Pflicht des Arztes zur Mitteilung einer HIV-Infektion des Patienten an gefährdete Dritte, S. 29. 20 Vgl. Laufs/ Kern, Handbuch des Arztrechts, § 65 Rn. 4. 21 BVerfG, Urt. v. 08.03.1972 – 2 BvR 28/71, Rz. 24 bei juris, BVerfGE 32, 373. 22 Vgl. Marckmann, ZME 2005, S. 243, 244. 23 Vgl. Henn, ZME 2002, S. 343. 24 Vgl. Laufs/ Kern, Handbuch des Arztrechts, § 65 Rn. 15 f.; Henn, ZME 2002, S. 343, 344. 25 Gesetzliche Offenbarungspflichten können sich aus gesetzlichen Meldepflichten wie z. B. die §§ 11 Abs. 2, 12, 13 GeschlechtskrankheitenG, §§ 7 ff., 11, 12, 49 InfektionsschutzG etc. ergeben. 26 Vgl. Henn, ZME 2002, S. 343, 344; OLG Frankfurt, Beschl. v. 8.7.1999 – 8 U 67/99. 18
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
und damit der Arzt von der Schweigepflicht gesetzlich entbunden. In diesen Fällen überwiegt das öffentliche Gesundheitsinteresse die Interessen des Patienten. Eine weitere umfangreiche und nur selten thematisierte Ausnahme der ärztlichen Schweigepflicht betrifft das Abrechnungswesen der Krankenkassen, in Rahmen dessen im Wege der ICD-10-Verschlüsselung27 Diagnosen an die Krankenkassen weitergegeben werden.28 Hier werden im Dienst einer effizienten Abrechnung die sensiblen Daten weitergegeben. b) Einwilligung Der Patient kann den Arzt von seiner Schweigepflicht entbinden und ihm damit die Befugnis geben, der Schweigepflicht unterfallende Daten weiter zu geben. Wie aus dem Bereich des Strafrechts bekannt, wird hier auf den Rechtsschutz verzichtet.29 Basierend auf dem Prinzip des mangelnden Interesses, kommt dem Selbstbestimmungsrecht in diesen Fällen kein Schutz zu. Wegen der zentralen Rolle der Einwilligung sollen an dieser Stelle die Wirksamkeitsvoraussetzungen kurz dargelegt werden.30 Wirksam ist die Einwilligung nur, wenn der Betroffene über das verletzte Rechtsgut verfügen kann (Dispositionsbefugnis), d. h. er Inhaber des verletzten Rechtsguts ist,31 er einwilligungsfähig ist, die Einwilligung vor der Weitergabe der persönlichen Daten nach außen hin zum Ausdruck gekommen ist und die Entscheidung bewusst und freiwillig erfolgte. Zum Ausdruck kommen muss die Einwilligung dabei nicht immer ausdrücklich. Auch eine konkludente oder gar mutmaßliche Einwilligung sind möglich. Letztere kann die Rechtswidrigkeit der Verletzung der Schweigepflicht entfallen lassen, wenn der Betroffene selber nicht gefragt werden kann (z. B. in Fällen der Bewusstlosigkeit), jedoch aus den Umständen ein Rückschluss auf seinen Willen möglich ist und davon ausgegangen werden kann, dass der Patient zustimmen würde, wenn er gefragt werden könnte.32 Stimmt der Patient damit der Weitergabe der medizinischen Daten zu, so kommt eine Verletzung der Schweigepflicht nicht mehr in Betracht. Das GenDG grenzt im Vergleich zu diesen allgemeinen Voraussetzungen die Möglichkeiten der Einwilligung allerdings ein. Nach § 11 Abs. 3 GenDG muss die betroffene Person ausdrücklich und schriftlich einwilligen, damit eine Weitergabe der Untersuchungsergebnisse an Dritte durch den Arzt erfolgen kann. Ein Rückgriff auf eine konkludente oder gar eine mutmaßliche Einwilligung ist damit nicht möglich. Hingewiesen sei auch darauf, dass für den Arzt mit der Einwilligung des Klienten alleine die Problematik der
27 Standardisierte Diagnosekodierung mit der der Krankenkasse die Diagnose ihrer Vertragspartner mitgeteilt wird, vgl. §§ 295 ff. SGB V. 28 Vgl. Henn, Schweigepflicht und Datenschutz bei genetischer Beratung, S. 103, 105. 29 Vgl. Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorb. zu §§ 32 ff., Rn. 33. 30 Vgl. zu den Voraussetzungen: Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorb. zu §§ 32 ff., Rn. 33 ff. 31 Zur Problematik des Drittgeheimnisses vgl. unten Kapitel 3, A. III. 1. a).; ausführlich Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 52 f. 32 Vgl. Wagner, in: MüKo BGB, § 823 Rn. 739; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223 Rn. 10 f.
A. Pflichten des Arztes, Rechte des Patienten
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Offenbarung gegenüber Dritten nicht gelöst ist. Auch den Willen des Informierten gilt es zu beachten, da auch dessen Rechtsgüter betroffen sein können.33 c) Rechtfertigungsgrund Auch ohne eine erforderliche Einwilligung kann die Offenbarung persönlicher medizinischer Daten z. B. nach § 34 StGB gerechtfertigt sein. Dieser aus dem Strafrecht bekannte Rechtfertigungsgrund verlangt nach seinem Wortlaut das Vorliegen einer gegenwärtigen nicht anders abwendbaren Gefahr für eine Rechtsgut oder ein rechtlich geschütztes Interesse. Eine Abwägung der widerstreitenden Interessen muss ein wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses ergeben und der Bruch der Schweigepflicht ein angemessenes Mittel zur Gefahrenabwehr sein. Auf der Grundlage des § 34 StGB ist ein Offenbarungsrecht des Arztes gegenüber Dritten dann anerkannt, wenn von der Einhaltung der Schweigepflicht eine vom Gesundheitszustand des Patienten nicht anders abwendbare Gefahr für Leib oder Leben Dritter ausgeht.34 Abzuwägen ist zwischen dem durch den Bruch der Schweigepflicht entstehenden Schaden, gegenüber dem, der durch den Bruch der Schweigepflicht verhindert werden soll.35 In ständiger Rechtsprechung fallen in diesen Anwendungsbereich die Fälle, in denen der Arzt nach Abwägung der betroffenen Interessen der Führerscheinstelle Meldung über Anfallsleiden oder Alkoholabhängigkeiten macht und wenn eine naheliegende schwerwiegende Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs besteht.36 Auf diese Fallgruppe soll unter dem Aspekt der Gefährdung Dritter durch den Patienten aufgrund einer HIV-Infektion später im Detail eingegangen werden.
III. Selbstbestimmungsrecht des Patienten Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung spielt im medizinischen Bereich eine wichtige Rolle. Es bildet die Grundlage von Patientenrechten und ärztlichen Pflichten, insbesondere der Aufklärungspflicht. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im medizinischen Kontext ist erheblich jünger als die Schweigepflicht und wurde als Gegenpol zur leitenden Rolle des Arztes etabliert. Grundlage dieses Prozesses war die Vorstellung eines mündigen und zu eigenen autonomen Entscheidungen fähigen Patienten (Patientenautonomie), der über seine medizinischen Daten selbst bestimmen kann.37 Maßgeblich für die Entwicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und dessen vielfältigen, sich laufend anpassenden „Einsatzbereichen“, ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ausgestaltung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Diese dynamische Entwicklung spielt auch für den Rechtsschutz im Anwendungsbereich der Gendiagnostik eine wichtige Rolle. 33
Siehe dazu unten unter dem Aspekt des Haftungsrisikos Kapitel 3, D. II. Dies wurde z. B. angenommen wenn ein Patient mit Ausfallerscheinungen oder Alkoholabhängigkeit weiterhin Auto fährt: Der Arzt müsse die Führerscheinstelle informieren, Fischer/Schwarz, StGB, § 203, Rn. 47. 35 Vgl. Marckmann/Bormuth, in: Wiesing/Ach, Ethik in der Medizin, S. 96, 104. 36 Vgl. Nachweise bei Fischer/Schwarz, StGB, § 203 Rn. 47. 37 Vgl. Henn, Schweigepflicht und Datenschutz bei genetischer Beratung, S. 103, 104. 34
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
1. Allgemeines Persönlichkeitsrecht Das Schutzziel des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist es, „die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen. Die Notwendigkeit besteht namentlich auch im Hinblick auf moderne Entwicklungen.“38 Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde damit durch das Bundesverfassungsgericht als „unbenanntes“ Freiheitsrecht anerkannt.39 Dies bedeutet, dass Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit) Lebensbereiche schützt, die von den Schutzbereichen der besonderen Grundrechte nicht erfasst werden, die sich jedoch im Laufe der Zeit als schutzwürdig40 und schutzbedürftig herausgestellt haben. Zu unterscheiden ist beim Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein absolut geschützter Kernbereich als unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung und ein Bereich privater Lebensgestaltung, der grundsätzlich einschränkbar ist.41 Das Bundesverfassungsgericht hat dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht in zahlreichen Entscheidungen eine ausgeprägte Kontur gegeben und verschiedene Schutzbereiche definiert.42 Es fasst innerhalb des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts verschiedene Schutzaspekte unter das Recht auf Selbstbestimmung, Selbstbewahrung und Selbstdarstellung zusammen.43 Ersteres ist im medizinischen Kontext von besonderem Interesse und wird separat behandelt. Der sachliche Schutzbereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts umfasst nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts unterschiedliche Ausformungen, u. a. mit dem Ziel, einen privaten Rückzugs- und Abschirmungsbereich zu gewährleisten. Damit ist das Recht auf Selbstbewahrung mit dem Recht auf eine Privatund Intimsphäre angesprochen, das im hier interessierenden medizinischen Kontext das Recht auf Vertraulichkeit von Befunden über den Gesundheitszustand erfasst.44 Hierunter fallen damit auch die genetischen Daten.45 Unter den Aspekt der Selbstdarstellungen fallen u. a. das Recht am eigenen Bild und Wort, sowie der Ehrschutz.46 2. Recht auf informationelle Selbstbestimmung Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung stellt eine eigene und wichtige Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar. Nach dem für dieses Recht maßstab-
38
BVerfG, Beschl. v. 03.06.1980 – 1 BvR 185/77, Rz. 13 bei juris, BVerfGE 54, 148, 153. BVerfG, Beschl. v. 03.06.1980 – 1 BvR 185/77, BVerfGE 54, 148, 153; Starck in: Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 2 Rn. 14. 40 Vgl. Starck in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Rn. 17. 41 BVerfG, Ents. v. 16. 7. 1969 – 1 BvL 19/63 , BVerfGE 27, 1, 6; Starck in: Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 2 Rn. 88. 42 Vgl. Lorenz, JZ 2005, S. 1121, 1125; Epping/Lenz/Leydecker, Grundrechte, Rn. 619. 43 Diese Einteilung findet sich bei Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnrn. 391 ff.; Lindner, MedR 2007, S. 286, 289. 44 BVerfG, Beschl. v. 24.06.1993 – 1 BvR 689/92, Rz. 51 bei juris, BVerfGE 89, 69. 45 BVerfG, Beschl. v. 14.12.2000 – 2 BvR 1741/99, 2 BvR 276/00, 2 BvR 2061/00, BVerfGE 103, 21, DVBl. 2001, 454, 455; vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 10. 46 Vgl. Lindner, MedR 2007, S. 286, 289. 39
A. Pflichten des Arztes, Rechte des Patienten
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bildenden Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts47 ist der grundrechtliche Rang dieses Rechts allgemein anerkannt.48 Danach gewährleistet „das Grundrecht (. . . ) die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Einschränkungen dieses Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sind nur im überwiegenden Allgemeininteresses zulässig“49 . Es gewährt damit Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der individualisierten oder individualisierbaren personenbezogenen Daten.50 Nach § 3 Abs. 1 BDSG sind personenbezogene Daten Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person. Im medizinischen Kontext schützt dieses Recht z. B. vor unbefugter Einsicht in die Krankenakte,51 da diese Angaben über Anamnese, Diagnose und Therapie beinhalten und damit den privaten Bereich des Patienten betreffen.52 Unter dieses Recht fällt auch das Recht auf Geheimhaltung des eigenen Gesundheitszustands.53 Irreführender Weise wird im Kontext der medizinischen Behandlung das Selbstbestimmungsrecht des Patienten häufig auch als „informed consent“ bezeichnet. Es handelt sich bei diesem Recht nicht um eine Untergruppe des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung,54 sondern das Selbstbestimmungsrecht ist vielmehr die rechtliche Grundlage der Forderung eines informed consent. 3. Geltung in der Arzt-Patienten-Beziehung Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten/Klienten findet folglich seine normative Grundlage in der Verfassung. Grundsätzlich binden die Grundrechte und damit auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 1 Abs. 3 GG nur den Staat gegenüber den Bürgern, die Grundrechte haben eine vertikale Ausrichtung. Eine horizontale, unmittelbare Wirkung der Grundrechte unter Privaten ist nicht anerkannt.55 Dennoch wird den Grundrechten eine privatrechtliche Wirkung zugesprochen. Für die hier im Zentrum stehende Problematik ist die umfassende Darstellung und Herleitung der Wirkung von Grundrechten in Privatrechtsverhältnissen nicht von Nöten, so dass an dieser Stelle mehr ein Hinweis auf die Relevanz von Grundrechten im Privatrecht erfolgen soll. Es ist allgemein anerkannt, dass Grundrechte eine sogenannte „mittelbare Drittwirkung“ auch innerhalb privatrechtlicher Rechtsbeziehungen entfalten. Mittelbare Drittwirkung meint, dass den Grundrechten „Ausstrahlungswirkung“ zukommt, indem sie den Gesetzgeber bei Erlass (Schutzpflicht) und die Exekutive bei Auslegung und Anwendung 47 Volkszählungsurteil BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, 1 BvR 269/83, 1 BvR 362/83, 1 BvR 420/83, 1 BvR 440/83, 1 BvR 484/83, BVerfGE 65, 1. 48 Vgl. Lorenz, JZ 2005, S. 1121, 1126. 49 BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, BVerfGE 65, 1. 50 BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, BVerfGE 65, 1, 43. 51 BVerfG, Urt. v. 08.03.1972 – 2 BvR 28/71, Rz. 24 bei juris, BVerfGE 32, 373; BGH, Urt. v. 02.04.1957 – VI ZR 9/56, Rz. 17 bei juris, BGHZ 24, 72. 52 Vgl. Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Rn. 98. 53 Vor allem bei einer HIV Infektion: EuGH Urt. v. 05.10.1994 – Rs. C-404/92 P (X/Kommission), NJW, 1994, S. 3005. 54 Zu dieser Unterscheidung Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, S. 49. 55 Vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rn. 59.
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
von Normen binden.56 Die Wirkung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts erschöpft sich damit nicht in einem subjektiv-öffentlich-rechtlichen Bereich als Abwehrrecht gegen den Staat. Ihm kommt auch ein objektiver Wert zu.57 Es entfaltet als Teil der grundrechtlichen objektiven Werteordnung zwar keine unmittelbare, jedoch eine mittelbare Wirkung durch seine Berücksichtigung im Rahmen der Auslegung der Normen des bürgerlichen Rechts.58 Die mittelbare Drittwirkung wird auch durch die privatrechtliche Wirkung bestätigt, die durch Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als „absolutes Recht“ i. S. d. § 823 BGB deutlich wird.59 Innerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung sind die Grundrechte folglich im Rahmen der schuldrechtlichen Beziehung, bei Auslegung und Anwendung dieser Normen zu achten. Aber auch die gesetzlich geregelte Schweigepflicht, deren Schutzgut u. a. das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Patienten ist, dient dem Schutz unter Privaten. Innerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung sind damit das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten.
B. „Eindimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“ und Gendiagnostik Für medizinische Untersuchungen gilt aufgrund der dargestellten Prinzipien im Ausgangspunkt, dass nur der beabsichtigte, und damit von der Einwilligung des Patienten umfasste Befund, d. h. die vom Patienten erwarteten Informationen, erhoben werden dürfen.60 Mit dieser Grundaussage kollidiert die Pflicht des Arztes, die Gesundheit seines Patienten zu schützen. In der medizinischen Diagnostik, und – wie später noch zu zeigen – in der genetischen Diagnostik im Besonderen, stellt sich das Problem des Umgangs mit im Rahmen der Untersuchung anfallenden Informationen, die nicht direkt Gegenstand und Ziel der Untersuchung waren, sondern „bei Gelegenheit“ ermittelt werden und damit über die Einwilligung hinausgehen.61 Diese Zufallsinformationen, oder im Bereich der Gendiagnostik eher Zufallswahrscheinlichkeitsaussagen, können sich auf die untersuchte Person selber beziehen, „eindimensional“ sein. Gerade im Bereich der Genetik weisen sie jedoch meist eine „mehrdimensionale“ Komponente auf. Im Folgenden soll zunächst der „eindimensionale“ Zufallsfund, im Bereich der klinischen wie auch der gendiagnostischen Medizin, im Fokus stehen.
56 BVerfG, Beschl. v. 11.06.1991 – 1 BvR 239/90, BVerfGE 84, 192, NJW 1991, 2411; Epping/ Lenz/Leydecker, Grundrechte, Rn. 333 f. 57 Epping/Lenz/Leydecker, Grundrechte, Rn. 334; Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 185. 58 BVerfG, Urt. v. 15.01.1958 – 1 BvR 400/51 (Lüth-Urteil), BVerfGE 7, 198, 205; Wente, NJW 1984, S. 1446, 1447. 59 Vgl. Palandt/Sprau, BGB, § 823 Rn. 19. 60 Vgl. Rosenau, Relevante Fragestellungen des GenDG und Aufgaben der GEKO, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 69, 86. 61 Vgl. Stockter, Das Verbot genetischer Diskriminierung und das Recht auf Achtung der Individualität, S. 506.
B. „Eindimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“ und Gendiagnostik
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I. Im „normalen“ Behandlungsverhältnis Im Ausgangspunkt ist es medizinischen Untersuchungen eigen, dass sie neben dem eigentlichen Untersuchungsziel auch andere Erkenntnisse, betreffend den Patienten, zu Tage bringen können. Gerade bei bildgebenden Untersuchungen wie Ultraschall und Computer Tomographie, insbesondere im Bereich der bildgebenden Hirnforschung, existiert dieses Problemfeld. Dieser Fall wird hier als „eindimensionaler Zufallsfund“ bezeichnet. Kommt es innerhalb dieses Behandlungsverhältnisses zu nicht intendierten Erkenntnissen bzw. wird eine solche Befunderhebung unterlassen, obwohl der Arzt Anzeichen für eine anderweitige Erkrankung hätte erkennen können, so stellt sich die Frage, welche Pflichten (mit entsprechendem Haftungsrisiko) den Arzt treffen. 1. Pflicht zur Zufalls(be)funderhebung Am Anfang der Frage des Umgangs mit Zufallsfunden steht zunächst die Frage der Erhebung solcher Funde, ob der Arzt zufälligen Erkenntnissen im Rahmen der Diagnostik nachgehen muss. Mit dieser Thematik hatte sich bereits der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung zum Pflichtenumfang des Arztes im Fall von Zufallsfunden auseinanderzusetzen62 : Im Rahmen einer Operationsvorbereitung einer Patientin wurde eine Röntgenaufnahme der Lunge angefertigt. Ein der Anästhesie entgegenstehender Umstand, dies war der Zweck der Untersuchung, wurde nicht festgestellt. Eine auf der Röntgenaufnahme erkennbare Verdichtungszone im rechten Lungenflügel (Rundherd) bemerkte der Arzt nicht. Ein Jahr später wurde bei der Patientin ein Adenokarzinom im Bereich der rechten Lunge diagnostiziert, an dem sie verstarb. Der Bundesgerichtshof präzisiert in dieser Entscheidung die Fürsorgepflicht des Arztes dahingehend, dass der Arzt im Rahmen der Befundauswertung vor erkennbaren „Zufalls(be)funden“ nicht die Augen verschließen dürfe. Daher verpflichten den Arzt auch die Ergebnisse solcher Untersuchungen zur Einhaltung der Fürsorgepflicht, die medizinisch zwar nicht verlangt waren, aber dennoch veranlasst wurden. „Erkenntnisse dürften nicht aus dem Grund ignoriert werden, dass keine Pflicht zur Durchführung der Untersuchung bestand“. Diese Entscheidung verdeutlicht, dass der Arzt auch solchen Verdachtsmomenten, auf die sich der Behandlungsvertrag nicht konkret bezieht, nachgehen muss. In der bilateralen Beziehung hat der Arzt folglich Zufalls(be)funde zu erheben. Die Fürsorgepflicht wurde damit (horizontale) ausgeweitet, d. h. auf alles für den Arzt abstrakt Erkennbare und für die Gesundheit des Patienten Relevante erstreckt. Die Fürsorgepflicht und das Nichtschadensprinzip werden hier über die Patientenautonomie gestellt. Mit diesen Vorgaben wird jedoch dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten dahingehend Rechnung getragen, als dass ihm Handlungsoptionen eröffnet werden und ihm selbst die Entscheidung über die aus dem Fund zu ziehenden Reaktionen überlassen werden. Ob dieser Weg auch für Fälle der Gendiagnostik eingeschlagen wird, gilt es zu klären.
62
BGH, Urt. v. 21.02.2010, VI ZR 284/09, BGHZ 188, 29.
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
2. Aufklärung über Zufallsfunde oder Recht auf Nichtwissen? Erhebt der Arzt einen Zufalls(be)fund, so stellt sich vor allem die Frage der Aufklärung des Betroffenen über diesen und ob über die Möglichkeit solcher zufälligen Erkenntnisse im Vorfeld hätte aufgeklärt werden müssen. Eine Behandlung dieser Problematik findet sich in der bisherigen Praxis kaum. Vielmehr wird dem Patienten der Befund über zufällige Erkenntnisse mitgeteilt.63 Eine Vorabaufklärung über die Möglichkeit von Zufallsfunden erfolgt in der Regel nicht. Im Normalfall ist der Arzt aufgrund des Behandlungsvertrages grundsätzlich dazu verpflichtet, den Patienten über das Ergebnis der Untersuchung aufzuklären. Der Umfang dieser Aufklärung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Arztes.64 Ob der Arzt über den Befund aufklärt, steht dagegen nicht zur Disposition.65 Die Diagnoseaufklärung auch auf zufällige Erkenntnisse zu erstrecken, lässt sich aus der umfassenden Aufklärungspflicht des Arztes herleiten, da nur auf Grundlage einer umfassenden Aufklärung der Patient von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen und eine Entscheidung über die zu ergreifende Therapie treffen kann. Auch Zufalls(be)funde, die sich ohne medizinische Indikation bei der Diagnose ergeben haben, müssen somit für die weitere Behandlung berücksichtigt werden.66 In dem Kontext klinischer Zufallsfunde wird ein Recht des Patienten, für den die zufälligen Erkenntnisse unerwartet sind, keine Kenntnis von den zufälligen Daten zu erhalten bzw. schrittweise über die Existenz aufgeklärt zu werden, nicht diskutiert. Aufgrund des zufälligen Charakters findet auch eine entsprechende Aufklärung und Einwilligung bisher planmäßig nicht statt, da Zufallsfunde nicht die Regel sind. Eine generelle Vorabaufklärung wird daher bisher nicht praktiziert. Bei medizinisch relevanten Befunden wird in der Praxis ohne Berücksichtigung eines etwaigen Rechts auf Nichtwissen der Patient über die Befunde aufgeklärt.67 Es stellt sich dennoch die Frage, ob ein solcher Wille in Erwägung zu ziehen und damit potenziell zu berücksichtigen ist und folglich auch einer Mitteilung entgegenstehen kann. Das beschriebene Vorgehen erscheint aufgrund der Seltenheit von Zufallsfunden und dem Charakter der Zufallsfunde in der „Normalmedizin“ nicht abwegig. Anders als im Bereich der Gendiagnostik handelt es sich bei den zufälligen Erkenntnissen um bereits klinisch manifestierte, d. h. existierende Erkrankungen. Im Grundsatz steht dem Patienten jedoch natürlich auch hier das Recht zu, die Kenntnisnahme zu verweigern. Behelfen kann man sich im Bereich der klassischen Medizin jedoch mit dem Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung. Die mutmaßliche Einwilligung stellt nicht auf eine objektivierte, sondern subjektivierte Interessenabwägung ab. Sie liegt vor, wenn der medizinische Eingriff im Interesse des Betroffenen liegt und er vermutlich einwilligen würde, aber nicht mehr gefragt werden kann.68 Unterzieht sich jemand, aufgrund einer Erkrankung oder un63
So wohl auch die Annahme des BGH in obigem Urteil. Vgl. Hallermann, Ärztliche Aufklärungspflicht aus medizinischer Sicht, in: Mergen, Die juristische Problematik in der Medizin/2, S. 44, 59; Eberbach, MedR 1986, S. 180, 184. 65 Vgl. BGH, Urt. v. 16.1.1959 – VI ZR 179/57, BGHZ 29, 176, 184; Herrmann, MedR 1988, S. 1, 4: der Arzt muss unabhängig vom Therapiezweck zur Diagnoseaufklärung verpflichtet sein. 66 Vgl. Bamberger/Roth/Spindler, BGB, § 823 Rn. 660 (beck-online, Stand 01.03.2011); OLG Düsseldorf Urt. v. 31.01.1991 – 8 U 119/88, VersR 1992, S. 494, 495. 67 Anders lassen sich die Urteile des BGH und OLG Frankfurt nicht verstehen. 68 Vgl. Fischer/Schwarz, StGB, Vor § 32 Rn. 4, § 223 Rn. 15. 64
B. „Eindimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“ und Gendiagnostik
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definierter Symptome, einer ärztlichen Untersuchung, so möchte er eine umfassende Aufklärung über seinen Gesundheitszustand und damit auch über die Untersuchungsergebnisse erhalten. Die Aufklärung über Zufallsfunde dürfte daher dem mutmaßlichen Willen entsprechen. Alternativ bietet sich jedoch auch hier ein schrittweises Vorgehen an, indem man den Patienten abstrakt über die Tatsache zufälliger Erkenntnisse informiert und erst in einem zweiten Schritt den Inhalt konkretisiert.69 Dass die Rechtsprechung von einer umfassenden Aufklärungspflicht gegenüber dem Patienten ausgeht, zeigen allerdings die Urteile, die eine Haftung des Arztes bei unterlassener Mitteilung zufälliger Befunde bejahen.70
II. In der Gendiagnostik Da die Gendiagnostik ebenfalls zur Diagnosesicherung eingesetzt wird und damit auch in der bilateralen Beziehung von Bedeutung ist, findet man auch heute schon die Gendiagnostik im klinischen Bereich. Die Frage der Nichtaufklärung des Klienten über zufällige (Be)funde ist unter Berücksichtigung der Anerkennung eines Rechts auf Nichtwissen im Bereich der Gendiagnostik71 daher von zunehmender Relevanz und damit eine wichtige Frage im Umgang mit Zufallsfunden. 1. Keine Regelung des „eindimensionalen“ Zufallsfundes im GenDG Das GenDG regelt den Umgang und die Behandlung möglicher eindimensionaler Zufallsfunde im Rahmen der Aufklärung und Beratung nicht explizit. Auch die GEKO hat diesen Aspekt bisher nicht in ihre „Richtlinie über die Anforderungen an die Qualifikation zur und Inhalte der genetischen Beratung gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2a und § 23 Abs. 2 Nr. 3 GenDG“ aufgenommen. Lediglich unter VII.3. „Qualifikationsinhalte der fachgebundenen genetischen Beratung“ nennt die Richtlinie unter dem „Basisteil 1.3. Methodische Aspekte genetischer Untersuchungen d) Umgang mit Nebenbefunden“, ohne dieses näher auszugestalten, z. B. wann und wie auf diese Problematik einzugehen ist. Es handelt sich vielmehr um Fragen der fachgebundenen Qualifikation zur genetischen Beratung gemäß § 7 Abs. 3 und § 23 Abs. 2 Nr. 2a GenDG.72 Im Grundsatz wird augenscheinlich wie bisher im klassischen Arzt-PatientenVerhältnis von einer Aufklärung ausgegangen. Ausweislich der Gesetzesbegründung ist die betroffene Person über die dort als „Überschussinformationen“ bezeichneten Befunde vollständig aufzuklären und hat über die weitere Verwendung der Daten zu entscheiden: „Soweit das vorgesehene genetische Untersuchungsmittel, z. B. ein Multichip, bei der genetischen Analyse weitere als die mit der genetischen Untersuchung abzuklärenden genetischen Eigenschaften zur Verfügung stellt, ist die betroffene Person sowohl darüber vollständig aufzuklären als auch 69
Siehe zu diesem Modell der „Aktivierung“ des Rechts auf Nichtwissen unten Kapitel 3, A.
IV. 1. 70
BGH, Urt. v. 21.12.2010, VI ZR 284/09, BGHZ 188, 29. Siehe dazu ausführlich unten Kapitel 3, A. I. 2. 72 GEKO, Richtlinie über die Anforderungen an die Qualifikation zur und Inhalte der genetischen Beratung gemäß § 23 Abs 2 Nr. 2a und § 23 Abs. 2 Nr. 3 GenDG, S. 9 (abrufbar unter http://www. bvdh.de). 71
78
Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
auf die Vernichtung der Überschussinformationen nach § 8 Abs. 1 Satz 2 hinzuweisen. Damit wird der betroffenen Person zugleich die Möglichkeit eröffnet, darüber zu entscheiden, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die mit einem solchen genetischen Untersuchungsmittel erzielbaren Informationen über genetische Eigenschaften in die Untersuchung einbezogen werden sollen. (. . . ) Darüber hinaus kann es angezeigt sein, über die Möglichkeit eines unerwarteten Untersuchungsergebnisses zu informieren. Dies kommt dann zum Tragen, wenn es nach dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft und Technik möglich ist, dass bei der Abklärung der mit der vorgesehenen genetischen Untersuchung abzuklärenden genetischen Eigenschaften bestimmte unerwartete genetische Eigenschaften festgestellt werden, die nicht vom Untersuchungszweck umfasst sind, wie z. B. andere genetische Eigenschaften der betroffenen Person (. . . ) als Nebenbefund der genetischen Untersuchung.“73
Auch vorab soll damit über die Möglichkeit von unerwarteten Untersuchungsergebnissen informiert werden, wenn damit zu rechnen ist, dass es zu solchen zufälligen Feststellungen kommt.74 Die Anknüpfung an den Stand der Wissenschaft lässt dabei erkennen, dass der Gesetzgeber den Zufallsfund nach dem momentanen Stand noch eher als Ausnahme- statt als Regelfall betrachtet und er folglich die Totalsequenzierung des menschlichen Genoms noch nicht berücksichtigt hat. Im Fall der Totalsequenzierung wird die Erhebung von Zufallsfunden nicht mehr die Ausnahme sein.75 Dies hätte eine generelle Aufklärungspflicht über die Möglichkeit von Zufallsfunden zur Folge, die Ausnahme würde zur Regel, ohne entsprechend normiert zu sein. Eine ausreichende Regelung der Problematik enthält das GenDG mithin nicht. 2. Exkurs: Forschung Im Bereich der Forschung dagegen wurden Zufallsfunde bei den Probanden76 bereits als Problem erkannt und definiert. Die Frage des Umgangs mit diesen Erkenntnissen, insbesondere die Aufklärung und weitergehende Untersuchung der Funde, ist hier ein präsentes Problem.77 Der Begriff „Zufalls(be)fund“ bezeichnet hier ebenfalls einen zufälligen Fund, der im Rahmen der Untersuchung entdeckt wurde, ohne Gegenstand der Studie zu sein.78 Das Verhältnis zwischen Forscher und Proband ist nicht mit der Arzt-PatientenBeziehung gleich zu setzen. Letztere ist auf das individuelle Wohlergehen des Patienten bezogen. Es besteht das beschriebene Rechte- und Pflichtenverhältnis auf der Basis einer vertraglichen Beziehung. Forschung hingegen zielt nicht auf die individuelle Heilung des 73
BT-Drs. 16/10532, S. 27. Leopoldina et al., Stellungnahme 2010, S. 55; Kern, GenDG, § 10 Rn. 14; nach Ansicht der GfH muss Bestandteil der Aufklärung und Einwilligung sein, inwieweit Zusatzbefunde mitgeteilt werden, GfH, Stellungnahme 2013, S. 1. 75 Dies könnte wiederum der Grund sein es nicht regeln zu müssen. Wer mit dem Ziel einer Totalsequenzierung untersucht wird, soll ganzkörperbezogen analysiert werden, so dass jeder Fund gewollt und damit von der Einwilligung gedeckt ist. Es hängt damit vom Untersuchungsziel ab, ob noch Zufallsfunde generiert werden. 76 Vgl. Schleim et al., Nervenheilkunde 2007, S. 1041. 77 Vgl. Wolf et al., J Law Med Ethics 2008: im englischen als „IFs“ bezeichnet (Incidental Findings). 78 Vgl. Wolf et al., J Law Med Ethics 2008, S. 2; Heinemann et al., DÄBl. 2007, A 1982. 74
B. „Eindimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“ und Gendiagnostik
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Probanden, sondern „auf die Erkenntnis von überindividuell gültigen Regularitäten“.79 Das Prinzip der Selbstbestimmung und das Nichtschadensprinzip stellen jedoch auch hier zentrale ethische Prinzipien dar.80 Im Rahmen des Umgangs mit Forschungsergebnissen ist deshalb dennoch eine Debatte entbrannt, wie in Anbetracht fehlender Regelungen mit Zufallsfunden umgegangen werden soll, insbesondere ob sie dem Probanden mitgeteilt werden sollen. Diese Frage ist schon in der bisherigen Praxis von enormer Bedeutung, liegen doch im Bereich der bildgebenden Hirnforschung zufällige Erkenntnisse im Bereich zwischen 13% und 84%.81 In Anbetracht des technischen Fortschritts wird die Masse der potenziell erhobenen Daten und damit einhergehenden zufälligen Erkenntnisse zunehmen.82 Um Unklarheiten über den hypothetischen Willen des Probanden und Belastungssituationen für Proband aber auch Wissenschaftler zu vermeiden, soll für den Fall der medizinischen Studien, anders als in der klinischen Medizin, eine umfassende Aufklärung über die Möglichkeit von Zufallsfunden vor der Teilnahme im Rahmen des informed consent erfolgen.83 Richtlinien gehen daher dahin, dass die Studienteilnahme im Rahmen der medizinischen Forschung an die Voraussetzung gebunden werden soll, dass der Proband über die Möglichkeit von Zufallsfunden aufgeklärt wird und vorab in die Mitteilung von Zufallsfunden einwilligt.84 3. Erweiterung des informed consent auf die Möglichkeit von Zufallsfunden Für den Fall des eindimensionalen Zufallsfundes wird daher ebenfalls ein „differenzierter informed consent“ vorgeschlagen. Dabei wird befürwortet, bereits im Vorfeld der genetischen Untersuchung im Rahmen der Aufklärung über die Möglichkeit von Zufallsfunden aufzuklären und mit dem Patienten die Frage des Umgangs mit zufälligen Erkenntnissen zu erörtern. Dies umfasse den Hinweis, welche Funde entstehen können und „als Element eines differenzierten informed consent“ eine Festlegung, welche von diesen Funden mitzuteilen sind.85 Zudem soll in Abweichung von der grundsätzlichen Pflicht der umfassenden Weitergabe sämtlicher erhobener diagnostischer Daten keine Aufklärung erfolgen, wenn ein bereits erklärter oder mutmaßlicher Wille zum Nichtwissen des Klienten
79
Heinemann et al., DÄBl. 2007, A 1982, A 1984: „Objektivierung“ des Probanden. Das Autonomierecht umfasst auch das Recht des Probanden auf Kenntnis seiner Befunde sowie ein entsprechendes Recht auf Nichtwissen: Heinemann et al., DÄBl. 2007, A 1982, A 1984. 81 Vgl. Wolf, J Law Med Ethics 2008, S. 216. 82 European Society of Human Genetics, European Journal of Human Genetics 2013, S. 580. 83 Vgl. Cho, J Law Med Ethics 2008, S. 280, 283. 84 Vgl. Heinemann et al., DÄBl. 2007, A 1982, A 1985: er sieht als eine Verletzung des Autonomieprinzips an, wenn ein Forscher einem Probanden ohne dessen Einwilligung oder gegen dessen erklärten Willen einen Zufallsbefund berichtet oder durch weiterreichende Maßnahmen eine Diagnostik veranlasst. 85 Henn, Schweigepflicht und Datenschutz bei genetischer Beratung, S. 103, 112; Henn, ZME 2002, S. 343, 351; Die Richtlinie der GEKO kann und sollte diese Gesichtspunkte ausführlicher regeln; so auch Rosenau, Relevante Fragestellungen des GenDG und Aufgaben der GEKO, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 69, 87: wenn keine Aufklärung und Einwilligung vorliegt, solle dem Arzt eine Abwägungsmöglichkeit eröffnet werden, um dem Betroffenen die Kenntnisnahme zu ermöglichen. 80
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
besteht.86 Ist im Vorfeld die Problematik nicht besprochen worden, so wird zur Sicherung des Rechts auf Nichtwissen ein Zweischritt vorgeschlagen: Zunächst soll der Arzt „informieren ohne Information“, d. h. vorsichtig und neutral ein Problem andeuten, ohne den vagen Verdacht zu konkretisieren.87 Erst wenn der Betroffene sich für das Wissen entschieden hat, kann die Aufklärung und Beratung erfolgen. Bei zufälligen Erkenntnissen ist es daher zu befürworten, die Problematik soweit möglich bereits im Vorfeld zu thematisieren und erst in einem zweiten, nachrangigen Schritt ex post eine schrittweise Vorgehensweise zu wählen. Ein solches Vorgehen wird für den Bereich der klassischen Medizin bisher nicht praktiziert, da hier, anders als im Bereich der Gendiagnostik, eine umfassende Beratung und Aufklärung vor der Befunderhebung nicht stattfindet, sondern die Einwilligung allein auf den eigentlichen körperlichen Eingriff bezogen ist. Dieser Unterschied ist dem Umstand geschuldet, dass man im Bereich der Gendiagnostik die kommunikative Komponente betont und dem Wissen über den Befund eine erheblichere Bedeutung beimisst. Dem Wissen kann an sich schon die Qualität eines körperlichen Eingriffs zukommen.88 Diese unterschiedliche Behandlung des eindimensionalen Zufallsfundes ist daher nicht widersprüchlich, sondern lässt sich z. B. in Fällen der mutmaßlichen Einwilligung auch rechtlich begründen. Nicht hinweg täuschen sollte dies jedoch über den Handlungsbedarf im Bereich der GenDG. 4. Aktuelle Leitlinien im Umgang mit eindimensionalen Zufallsfunden Dass das GenDG an dieser Stelle eine erhebliche Regelungslücke aufweist, illustrieren jüngste Leitlinien und wissenschaftliche Forschungsprojekte zu dieser Fragestellung. Besonders ausführlich widmet sich das American College of Medical Genetics and Genomics in einer Art Pionierarbeit der Frage der Kommunikation von Zufallsfunden in der Arzt-Patienten-Beziehung.89 Nach diesen explizit für den klinischen und nicht den Forschungsbereich entwickelten Leitlinien, wurde eine Liste von 57, jährlich aktualisierten Genen erstellt, die im Rahmen einer genetischen Analyse mitdiagnostiziert werden sollen und über die der Patient in jedem Fall aufgeklärt werden sollte, unabhängig von seinem Willen (!).90 Das Handeln ohne oder gegen den Willen wird damit begründet, dass eine alle möglichen Zufallsfunde umfassende Aufklärung im Vorfeld nicht möglich sei. Der Patient müsste sich, um das gleiche Aufklärungsniveau wie beim eigentlichen Untersuchungsziel zu erreichen, einer umfassenden und eventuell überfordernden Infor86
Vgl. Henn, Schweigepflicht und Datenschutz bei genetischer Beratung, S. 103, 112. Hauschild/Claussen, medgen 1998, S. 316, 317; vgl. unter dem Aspekt der Aktivierung des Rechts auf Nichtwissen Kapitel 3, A. IV. 1. 88 Vgl. dazu Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 345 f.; Regenbogen/Henn, MedR 2003, S. 155. 89 ACMG Recommendations for Reporting of Incidental Findings in Clinical Exome and Genome Sequencing, April 2013, abrufbar unter: http://www.acmg.net/docs/ACMG_Releases_ Highly-Anticipated_Recommendations_on_Incidental_Findings_in_Clinical_Exome_and_Genome_ Sequencing.pdf (letzter Abruf 9.11.2013). 90 ACMG Recommendations for Reporting of Incidental Findings in Clinical Exome and Genome Sequencing, April 2013, S. 10 f.; auch Kinder sollen dabei keine Ausnahme bilden!; a. A. Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 40. 87
B. „Eindimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“ und Gendiagnostik
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mationsflut aussetzen. Dies sei in Anbetracht der zunehmenden klinischen Anwendung der Gendiagnostik nicht mehr praktikabel. Eine Berücksichtigung des Willens, zudem in Zeiten von massenhaften Tests und unterschiedlichem Erfahrungswissen im Bereich der genetischen Beratung der einsendenden Ärzte, ließe sich nicht umsetzen. Ärzte und Laborpersonal treffe eine treuhänderische Pflicht, Schaden durch Warnung des Patienten und seiner Familien abzuwenden. Sie hätten daher über bestimmte Zufallsbefunde mit Interventionsmöglichkeiten zu informieren.91 Auch in der deutschen Wissenschaft bleibt das Thema nicht unberücksichtigt.92 Gerade im Bereich des Grundrechtsschutzes, vor allem dem Recht auf Nichtwissen und damit dem Recht über Zufallsfunde nicht aufgeklärt zu werden, ist die deutsche Wissenschaft jedoch tendenziell anderer Ansicht.93 Die GfH plädiert in Abkehr von dem amerikanischen Modell für eine Reduzierung der Zufallsfunde durch eine Begrenzung des Untersuchungsumfangs. Die Untersuchung soll auf die eigentliche Fragestellung konzentriert bleiben, um auf diesem Weg Zufallsfunde erst gar nicht zu generieren. Nur wenn es dennoch zu einem solchen Fund kommt, soll im Fall seiner Behandelbarkeit der Betroffene informiert werden.94 Nach der aktuellen Stellungnahme der GfH muss jedoch bereits im Rahmen der Aufklärung und Einwilligung über die Möglichkeit von „Zusatzbefunden“ informiert und die Frage der späteren Aufklärung über gesundheitsrelevante Befunde besprochen werden.95 Aus diesem Grund spricht sich auch der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme dafür aus, auf der rechtlichen Ebene zu klären und zu regeln, wie in Anbetracht der immer größer werdenden Zahl genetischer Informationen mit den „Überschussinformationen“ zu verfahren ist. Nach seiner Ansicht kann eine Aufklärung nach § 8 GenDG über jede zu erzielende Information bei einer Totalsequenzierung nicht mehr erfolgen. Daher gelte es zu klären, wie die Aufklärung für diese Konstellation zu gestalten sei, welche Festlegungen 91 ACMG Recommendations for Reporting of Incidental Findings in Clinical Exome and Genome Sequencing, April 2013, S. 10 f. „Based upon these considerations, the Working Group did not favor offering the patient a preference as to whether or not to receive the minimum list of incidental findings described in these recommendations. We recognize that this may be seen to violate existing ethical norms regarding the patient’ s autonomy and “right not to know” genetic risk information. However, in selecting a minimal list that is weighted toward conditions where prevalence may be high and intervention may be possible, we felt that clinicians and laboratory personnel have a fiduciary duty to prevent harm by warning patients and their families about certain incidental findings and that this principle supersedes concerns about autonomy, just as it does in the reporting of incidental findings elsewhere in medical practice.“ 92 Das bereits erwähnte Marsilius Kolleg der Universität Heidelberg mit dem Titel „Ethische und rechtliche Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms (EURAT)“ http://www. uni-heidelberg.de/totalsequenzierung/ (Abruf 12.07.2012). 93 Vgl. dazu das Interview mit Bartram in Blawat, Was nicht jeder wissen will, Süddeutsche Zeitung vom 4. April 2013, S. 16; ebenso wohl danach die Ansicht der GfH. 94 Siehe dazu das Interview mit Zerres in Blawat, Was nicht jeder wissen will, Süddeutsche Zeitung vom 4. April 2013, S. 16; nunmehr GfH, Stellungnahme 2013, S. 5: sie ist gegen die Erstellung von Positivlisten wegen des nicht zu leistenden Aufklärungsbedarfs und Wissenslücken in Bezug auf Bedeutung zahlreicher Befunde. 95 GfH, Stellungnahme 2013: unter Wahl der Bezeichnung als „Zusatzbefund“. Sie teilt Zusatzbefunde des weiteren in verschiedene Kategorien ein. Nur im Fall von behandelbaren Krankheiten sei eine Aufklärung ärztlich geboten, andernfalls sei es kontextabhängig im Sinne einer Güterabwägung; ebenso European Society of Human Genetics, European Journal of Human Genetics 2013, S. 580, 582.
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
die Einwilligung vorsieht oder ob bereits eine Begrenzung der Informationsgewinnung erfolgen solle. Auch die Frage einer etwaigen Mitteilungspflicht des Arztes solle geklärt werden, wenn die Einwilligung in diesem Punkt Lücken aufweise.96 Des Weiteren weist auch die aktuelle Stellungnahme des Marsilius Kollegs EURAT auf diese Problematik vertieft hin.97 Im Rahmen der Aufklärung solle deutlich werden, dass zwar keine Befunderhebungspflicht bestehe, dass jedoch im Falle ihres Auftretens in der Aufklärung geschildert werden müsse, welche Umgangsmöglichkeiten in Betracht kommen und welche Konsequenzen daraus entstehen. Eine detaillierte Aufklärung könne jedoch in Anbetracht von derzeit 6000 bekannten Mutationen und ca. 3000 genetischen Erkrankungen nicht geleistet werden.98 In der Aufklärung sollten daher Befund-Beispiele erläutert und auf dieser Grundlage dem Arzt mitgeteilt werden, ob er eine Rückmeldung von Zusatzbefunden wünscht.99
III. Zwischenergebnis Im Bereich der klassischen Medizin werden Fragen des eindimensionalen Zufallsfundes kaum thematisiert, dem Arzt jedoch die Pflicht auferlegt Zufalls(be)funde zu erheben und den Patienten über diese aufzuklären, gegebenenfalls über den Weg der mutmaßlichen Einwilligung. Bei genetischen eindimensionalen Zufallsfunden ist die Lösung aufgrund der Bedeutung des Wissens nicht so einfach zu finden. Es ist das Selbstbestimmungsrecht des Klienten zu achten. Hier sollte der Klient trotz Ermangelung einer gesetzlichen Regelung im GenGD oder den Aufklärungsrichtlinien über die Möglichkeit von Zufallsfunden vorab aufgeklärt und ein Kommunikationsweg im Vorfeld festgelegt werden. Auch eine Begrenzung des Untersuchungsumfangs sollte angesprochen werden. Ein mögliches Lösungsmodell könnte somit hier dahin gehen, trotz der möglichen Totalsequenzierung, die gendiagnostische Untersuchung auf den Untersuchungszweck zu begrenzen. Darüber hinaus sollte die genetische Beratung und Aufklärung um die Möglichkeit der Erhebung von Zufallsfunden erweitert werden, auch wenn eine Information über alle möglichen Zufallsfunde kaum möglich sein wird. Eine Beratung sollte dann auf den Umstand hinweisen, dass es zu zufälligen Erkenntnissen kommen kann und im Anschluss mit dem Untersuchungswilligen eine Kommunikationsstrategie festlegen.
C. „Mehrdimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“ Komplexer wird der Umgang bei „mehrdimensionalen Zufallsfunden“, d. h. solchen, die sich auf Gesundheitsinteressen Dritter beziehen. Vielfach diskutiert, und auch in der Debatte zum GenDG häufig herangezogen, wurden diese Fälle kollidierender Gesundheitsinteressen Dritter im Bereich der Infektionskrankheiten. Aus diesem Grund sind Parallelen, aber auch die maßgeblichen Unterschiede zu diskutieren, um gefundene und spä96
DER, Stellungnahme 2013, S. 82. Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 37 ff. 98 Bartram, Aktuelle Aspekte der Humangenetik, in: ders. et al., Der (un)durchsichtige Mensch, S. 153, 165: eine Vorabaufklärung über alle möglichen Befunde sei nicht möglich, die Aufklärung darüber, dass man nicht aufklären könne eine Farce. 99 Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 40. 97
C. „Mehrdimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“
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ter noch zu findende rechtliche Lösungsansätze zu bewerten. Den Ausgangspunkt sollen im Folgenden daher die Ansätze im Medizinstrafrecht und -zivilrecht bilden.
I. Offenbarungsbefugnisse im Medizinstrafrecht In speziellen Konstellationen, insbesondere im Fall von Drittinteressen bei Infektionskrankheiten, hat der Gesetzgeber den Interessenkonflikt zwischen der Schweigepflicht und Drittinteressen bei Erkrankungsrisiken explizit geregelt. Gesetzliche Offenbarungspflichten ergeben sich zum Beispiel aus gesetzlichen Meldepflichten wie §§ 11 Abs. 2, 12, 13 GeschlechtskrankheitenG, §§ 7 ff., 11, 12, 49 InfektionsschutzG. In den nicht explizit geregelten Fällen existiert an sich kein Aufklärungsrecht des Arztes gegenüber Drittbetroffenen, da die Diagnose einer Infektionskrankheit der ärztlichen Schweigepflicht unterfällt und diese auch gegenüber bedrohten Dritten gilt. Daneben besteht jedoch ein Interesse gefährdeter Dritter als auch der Allgemeinheit, eine Ausbreitung zu verhindern. In der Rechtsprechung wurde daher, um einen gerechten Ausgleich zwischen den tangierten Interessen herbeizuführen, unter Rückgriff auf strafrechtliche Grundsätze im Fall lebensbedrohlicher Krankheiten, ein Aufklärungsrecht über § 34 StGB zugelassen. Damit wurde die Möglichkeit einer „Zwangsaufklärung“ Dritter, d. h. eine Aufklärung gegen den Willen des Betroffenen und ohne den Willen des Dritten, entwickelt. 1. „Zwangsaufklärung“ gegenüber Dritten Eine Aufklärung eines möglicherweise betroffenen Dritten soll zunächst durch den Patienten selber erfolgen. Erst wenn dieser die Weitergabe der relevanten Informationen verweigert und auch eine Einwilligung zur Weitergabe der Diagnose an Dritte durch den Arzt nicht erteilt, soll dem Arzt die Möglichkeit einer Information, eine gerechtfertigte Verletzung der Schweigepflicht, gegeben werden. Nach § 34 StGB kann die Rechtswidrigkeit der Verletzung des § 203 StGB durch den Arzt entfallen, wenn eine Notstandssituation besteht und das geschützte das verletzte Rechtsgut wesentlich überwiegt, bzw. mit anderen Worten, wenn das Integritätsinteresse eines Dritten das Verschwiegenheitsinteresse des Patienten wesentlich überwiegt. Ist dies der Fall, so kann der Arzt den Dritten über das Risiko auch gegen den Willen des Patienten informieren. a) Einbeziehung Dritter in die Diagnoseaufklärung Urteile zu der Frage eines ärztlichen Offenbarungsrechts in Bezug auf der Schweigepflicht unterfallender Daten betrifft meist vitale Drittinteressen im Fall der Gefahr einer Infektion durch den Patienten. Das bekannteste Beispiel für eine solche Konstellation ist die Gefahr der Ansteckung eines Dritten mit HIV durch den Patienten. Die maßgebliche Fragestellung ist in diesem Spannungsfeld, ob die Offenbarung von an sich der Schweigepflicht unterliegenden Tatsachen durch den behandelnden Arzt gegenüber Dritten möglich ist.
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
Leitsatzbildende Wirkung hatte hier ein Urteil des OLG Frankfurt aus dem Jahre 1999100 , das erstmalig nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht des behandelten Arztes zur Offenbarung einer HIV-Infektion seines Patienten gegenüber einem Dritten statuierte, wenn dieser ebenfalls Patient des behandelnden Arztes ist: Ein Offenbarungsrecht des Arztes ist danach nach § 34 StGB dann anzunehmen, wenn das Vertrauen des Patienten in die Verschwiegenheit des behandelnden Arztes weniger Gewicht habe als die Rechtsgüter Leben und Gesundheit des betroffenen Dritten. Dies sei bei einer HIV-Infektion jedoch immer der Fall.101 Im Falle der Bedrohung eines Dritten durch einen unverantwortlichen Umgang mit einer schweren Infektionskrankheit überwiege das Rechtsgut des Dritten, da das Verhalten des Betroffenen nicht mehr als sozialadäquat zu bewerten sei.102 Dies gelte jedoch mit der Einschränkung, dass aufgrund des Verhaltens des Patienten für den Arzt die Gefährdung des Dritten erkennbar sein müsse und er den Patienten nicht zu einer Information der gefährdeten Dritten bewegen kann. Erst dann ist eine Information durch den Arzt angemessen i. S. d. § 34 S. 2 StGB. Eine Offenbarungspflicht bestehe, wenn der Dritte zugleich Patient des behandelnden Arztes sei, da aus diesem Verhältnis eine Garantenstellung resultiere.103 Der Umgang mit mehrdimensionalen Zufallsfunden wird damit über eine Rechtsgüterabwägung und eine (vertikale) Ausweitung der ärztlichen Fürsorgepflicht gelöst, d. h. die normalerweise allein die bilaterale Arzt-Patienten-Beziehung umfassende Fürsorgepflicht wird auf außerhalb dieser Beziehung stehende Personen ausgeweitet. Auf den Willen des Dritten wird kein Bezug genommen, ein etwaiger Wunsch auf Nichtwissen nicht thematisiert. Aus diesem Grund wurde hier der Begriff der Zwangsaufklärung gewählt. b) Einbeziehung in die Sicherungsaufklärung In diesen Kontext gehört als weiterer Fall einer (vertikalen) Ausweitung der ärztlichen Fürsorge eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu der Gefahr von HIVInfektionen.104 Dieser führt aus, dass ein Partner des Patienten in den Schutzbereich der Pflicht zur nachträglichen Sicherungsaufklärung durch die behandelnden Ärzte über die Gefahr einer transfusionsassoziierten HIV-Infektion einbezogen sei. Nach Ansicht des Gerichts ist ein haftungsrechtlicher Zurechnungszusammenhang aufgrund der von einer HIV-Infektion verbundenen Lebensgefahr geboten. Bei einer solchen Erkrankung trage
100
OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 8. 7. 1999 – 8 U 67/99; NStZ 2001, S. 149; MedR 2000,
S. 196. 101 OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 8. 7. 1999 – 8 U 67/99; NStZ 2001, S. 149; MedR 2000, S. 196. 102 Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 65. 103 In der Literatur wurde diese Entscheidung unter dem Aspekt kritisiert, dass eine Rechtfertigung nach § 34 StGB ermögliche von dem Rechtfertigungsgrund Gebrauch zu machen und die Schweigepflicht zu durchbrechen. Eine Pflicht so zu handeln, bestehe jedoch nicht; schon früher wurde angeführt, dass der Bruch der Schweigepflicht eine rein arzt-ethische Entscheidung sei. Es sei ihm nicht zuzumuten, sich der Gewissensbelastung auszusetzen, mindestens moralisch für den Tod verantwortlich zu sein. In keinem Fall dürfe eine Verpflichtung bestehen. Dies würde den Beruf seiner Diskretion berauben und Ärzte schlechter stellen, da er verantwortlich würde, Kohlhaas, Dtsch. med Wschr. 1967, S. 857. 104 BGH, Urt. v. 14. 6. 2005 – VI ZR 179/04, BGHZ 163, 209.
C. „Mehrdimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“
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der Arzt eine besondere Verantwortung dafür, eine Ausbreitung der lebensgefährlichen Infektion zu verhindern. Auch in diesem Fall hat die Rechtsprechung zum Schutz vitaler Drittinteressen eine Einbeziehung Dritter in die Arzt-Patienten-Beziehung zugelassen. Diese Ausweitung umfasst zugleich eine Ausnahme von der Schweigepflicht, da eine Sicherungsaufklärung zugleich eine Geheimnisoffenbarung bezüglich der erkrankten Person umfassen muss. Hier ging die Rechtsprechung sogar so weit, eine Einbeziehung in den (vertraglichen) Schutzbereich anzunehmen, d. h. geschütztes und verletztes Rechtsgut vereinen sich in ein und derselben Person. c) Exkurs: Offenbarungsrecht zum Schutz des Patienten In diesem Kontext ebenfalls zu erwähnen, sind Ausnahmen von der Schweigepflicht, die zum Schutz des Betroffenen selbst angenommen wurden. Ein instruktives Beispiel für die Konstellation einer Rechtfertigung bildet auch hier ein Fall des Bundesgerichtshofs. In diesem Fall bestand bei einer jungen Patientin aufgrund eines Verdachts einer Eileiterschwangerschaft mögliche akute Lebensgefahr. Die Patientin bat den Arzt ausdrücklich, die ebenfalls anwesende Mutter darüber nicht zu informieren. Dem wiederholten und eindringlichen Rat des Arztes dringend sich im Krankenhaus behandeln zu lassen, folgte die Patientin nicht und starb am folgenden Tag infolge einer Eileiterruptur. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs habe der Arzt die gebotene und zumutbare Hilfeleistung durch Information der Mutter pflichtwidrig unterlassen, denn „im Verhältnis zur Mutter der Patientin trat die Schweigepflicht zurück, weil auch ihre Unterrichtung ein erforderliches und angemessenes Mittel zur Rettung der Patientin war“.105 Ausnahmen von der Schweigepflicht zum Schutz eines überwiegenden Interesses werden somit von der Rechtsprechung selbst bei einem ausdrücklich entgegenstehenden Willen des Betroffenen anerkannt und sogar Dritte einbezogen, die selber kein Interesse an den Informationen haben. Es tritt das Interesse an Vertraulichkeit zu Gunsten des eigenen körperlichen Wohlbefindens zurück. d) Zwischenergebnis: Verantwortungsverteilung Die Verantwortungsverteilung zwischen Arzt und Patient im Fall mehrdimensionaler Zufallsfunde ist zweigeteilt. Die primäre Informationsverantwortung liegt beim Patienten. Erst die sekundäre, durch obige Urteile ausgeweitete Verantwortung obliegt dem Arzt. Die Rechtsprechung erkennt in den aufgezeigten Urteilen auch bei fehlender gesetzlicher Regelung Ausnahmen von der Schweigepflicht zum Schutz überwiegender eigener oder fremder Interessen an. Dabei wird die Fürsorgepflicht, und damit auch Verantwortung des Arztes auf außerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung stehende Dritte, ausgeweitet. Zwar ist primär der Betroffene selber für die Weitergabe ihn betreffender Informationen zuständig und verantwortlich. Unterlässt er diese jedoch oder kann eine Aufklärung wie im Fall der Sicherungsaufklärung nicht sichergestellt werden, so fällt die Zuständigkeit und damit auch die Verantwortung wieder dem Arzt zu. Der Arzt agiert als eine Art „Korrektiv“ in 105
BGH, Urt. v. 26.10.1982 – 1 StR 413/82, NJW 1983, S. 350.
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
Ausnahmefällen, in denen die Selbstbestimmung des Patienten aber auch des Dritten im Wege einer Zwangsaufklärung übergangen wird. 2. Parallele im Bereich der Gendiagnostik? Ob dieser Weg auch im Fall gendiagnostischer Zufallsfunde in Betracht kommt, soll im Folgenden nachgegangen werden. Oft diskutiert wird hier, ob eine „Analogie“ zur Entscheidung des OLG Frankfurt, genauer zu dem Modell der Zwangsaufklärung, gezogen werden kann. Zum Teil wird eine Anlehnung an dieses Lösungsmodell befürwortet.106 Da sich auch bei der Anerkennung einer Ausnahme von der Schweigepflicht Schwierigkeiten im Verhältnis zum Recht auf Nichtwissen des Verwandten ergeben, könnte in Anlehnung an die letztgenannte Entscheidung des Bundesgerichtshofs ein Offenbarungsrecht zum Schutz des Verwandten selbst angedacht werden. a) Amerikanische Rechtsprechung: „duty to warn“ Einen Vergleich zwischen der rechtlichen Behandlung von Infektions- und genetisch bedingten Krankheiten lässt sich bereits in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der USA finden. Diese nimmt teilweise eine Rechtspflicht des Arztes zur Information von Angehörigen an.107 Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung war das Urteil Tarasoff (Tarasoff v. The Regents of the University of California, 551 P.2d 334 (CA. 1976)). In diesem Urteil entschied der California Supreme Court, dass ein Psychiater dazu verpflichtet sei, Dritte zu warnen, wenn sein Patient ihm gegenüber die Absicht äußert, diesen Dritten umzubringen. Das Gericht entwickelte verschiedene Kriterien, im Falle deren Vorliegen eine Pflicht zur Warnung durch den Arzt angenommen werden muss, vor allem bei Vorhersehbarkeit des Risikos.108 Im Anschluss an diese Rechtsprechung hatten zwei Gerichte sich mit der Frage einer „duty to warn“ im Zusammenhang mit genetisch bedingten Erkrankungen auseinander zu setzen: Der Supreme Court des Bundesstaates Florida (Pate v. Threkel, So. 2d 278 [1995]) entschied, dass den Arzt im Fall der Diagnose einer vererbbaren Erkrankung eine erweiterte, jedoch nur inhaltliche Informationspflicht treffe. Er müsse den Patienten über die Vererbbarkeit aufklären, um möglicherweise weitere Gesundheitsschäden abzuwenden. Diese „duty to warn“ erfülle der Arzt jedoch, indem er den Patienten entsprechend warne, d. h. über die Drittwirkung aufklärt, und von ihm die Weitergabe der Warnung erwarten kann.109 Eine Informationspflicht des Arztes gegenüber Dritten wurde damit nicht angenommen. Weiter geht jedoch das Urteil des Berufungsgerichts von New Jersey (Safer v. Pack, 1996, 677 A.2d 188). Danach sei mit einem genetischen Risiko ebenso zu verfahren wie 106
Vgl. Damm, Ethik Med 2002, S. 110, 116. Vgl. Lemke, Die Polizei der Gene, S. 124; Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 240 f. 108 Vgl. Russell, JB&B 2003, S. 28, 30. 109 Vgl. Russell, JB&B 2003, S. 28, 32. 107
C. „Mehrdimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“
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mit der Gefahr einer Infektion. Das Gericht nähert genetisch bedingte Risiken dadurch anderen medizinischen Gefahren an.110 Im Ergebnis bestünde daher wie bei einer möglichen infektiösen Ansteckung eine Pflicht zur Warnung betroffener Angehöriger über ihr genetisches Risiko.111 In Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung wird teilweise ein sogenannter balancing test vorgeschlagen112 , der an die deutsche Konfliktlösung über § 34 StGB erinnert. Danach soll ein vernünftig handelnder Arzt, der eine angemessene Abwägungsentscheidung in Bezug auf die Weitergabe der Information unter Berücksichtigung der Spezifika genetischer Tests trifft, für seine Entscheidung nicht haftbar gemacht werden können, insbesondere durch nicht gewarnte Verwandte, es sei denn ein vernünftig handelnder Arzt hätte in dieser Situation eine andere Entscheidung getroffen.113 In Anlehnung an die Rechtsprechung im Bereich der Infektionskrankheiten wird damit eine „duty to warn“ in ausländischen Rechtsordnungen bereits vertreten, indem die Möglichkeit einer genetischen Krankheitsdisposition einem Infektionsrisiko angenähert wird. b) Exkurs: Drittinteressen in der Genforschung Das beschriebene Problem der Drittbetroffenheit durch genetische Analysen ist auch im Bereich der Genforschung relevant, da eine Zustimmung möglicher Drittbetroffener zur Teilnahme an der Studie nicht erforderlich ist.114 Es ist auch trotz möglicher Implikationen als zu weit gehend anzusehen, diese Dritten ebenfalls als Probanden anzusehen. Ihre Körpersubstanzen sind nicht unmittelbar Gegenstand der Untersuchung, mit der Folge, dass ihre Zustimmung nicht erforderlich ist. Trotz einer intensiv geführten Diskussion in der überwiegend amerikanischen Fachliteratur, existiert in den USA bisher kein gesetzlicher Konsens.115 Um den zunehmenden Implikationen gerecht zu werden, wird daher vorgeschlagen, in der Aufklärungsphase des Probanden mit diesem über die möglichen Auswirkungen für Verwandte zu diskutieren und zu ermutigen, nahe Angehörige in die Entscheidung zur Teilnahme an der genetischen Analyse einzubinden. Es soll ein mehr familiärer Ansatz des informed consent gewählt
110
Vgl. Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 240 f. In Reaktion auf die Rechtsprechung in der Sache Safer wurde der sogenannte New Jersey’s Genetic Privacy Act (L.1996,c.126, s.1.) erlassen. Danach dürfen genetische Informationen unter Verletzung der Schweigepflicht nicht weitergegeben werden. Die Rechtsprechung findet daher keine Anwendung; Russell, JB&B 2003, S. 28, 33. 112 Russell, JB&B 2003, S. 28 ff. schlägt in Weiterentwicklung der Rechtsprechung Tarasoff folgende Kriterien vor: 1. Die Wahrscheinlichkeit, dass Familienangehörige die gleiche genetische Disposition aufweisen, 2. Wahrscheinlichkeit, dass dies zu einer Krankheit führt, 3. Die Schwere der Erkrankung, 4. Die Genauigkeit des genetischen Tests und der Analyse, 5. Die Verfügbarkeit von Behandlungsmethoden, 6. Die Wahrscheinlichkeit einer eigenständigen Warnung durch den Patienten, 7. Wahrscheinlichkeit dass die Betroffenen ihr Erkrankungsrisiko selber entdecken und 8. Die Schwierigkeit Angehörige ausfindig zu machen. 113 Dieser Maßstab des vernünftig handelnden Arztes birgt für den Arzt jedoch erhebliche Unsicherheiten für seine Entscheidung dennoch haftbar gemacht zu werden. 114 Vgl. McGuire/Caulfield/Cho, Nat Rev Genet 2008, S. 152, (S. 4 Autorenmanuskript). 115 Vgl. McGuire/Caulfield/Cho, Nat Rev Genet 2008, S. 152 ff. 111
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
werden.116 Als Lösungsweg in Konfliktfällen schlägt in ethischer Hinsicht die American Society of Human Genetics (ASHG) vor, gegenüber den Verwandten die Ergebnisse nur dann zu offenbaren, wenn der Versuch gescheitert ist, den Probanden selbst zur Offenbarung zu bewegen. Des Weiteren sollte die Krankheit mit hoher Wahrscheinlichkeit auftreten und schwer sein, der Verwandte bekannt und die Krankheit vermeidbar, behandelbar sein oder durch frühzeitige Behandlung das Risiko minimiert werden können.117 Diese Standards sollen auch in der Forschung herangezogen werden. Ein Offenbarungsrecht des Wissenschaftlers wird damit in Ausnahmefällen befürwortet. Diese Lösung erinnert an die Rechtsprechung im Bereich der Infektionskrankheiten118 und die ebenfalls im Gesetzgebungsverfahren zum GenDG eingebrachte Abwägungslösung in Anlehnung an § 34 StGB119 . c) Offenbarung genetischer Testergebnisse gegenüber Dritten In Anlehnung an die Rechtsprechung des OLG Frankfurt und die amerikanische Rechtsprechung bietet sich die Überlegung an, ob das Konzept der Mitteilung von Infektionsgefahren gegenüber Dritten auf solche genetische Dispositionen übertragbar ist und die Rechte- und Interessenkollisionen durch eine entsprechende Anwendung zufriedenstellend gelöst werden können. aa) Mehrdimensionale Zufallsfunde als Notstandssituation Problematisch erscheint die Begründung einer Notstandssituation, wenn ein genetischer Zufallsfund vorliegt und dieses Wissen durch den Klienten nicht weitergegeben wird. (1) Vorliegen einer Notstandssituation Ein Offenbarungsrecht nach § 34 StGB setzt zunächst eine Notstandslage und damit eine gegenwärtige Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Angehörigen voraus. Aus dem genetischen Befund des Betroffenen und der Nichtweitergabe dieses Wissens muss eine über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehende Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses, und nicht nur die gedankliche Möglichkeit einer Schädigung,120 für die genetisch Verwandten bestehen. Problematisch ist einerseits das Vorliegen eines schädigenden Ereignisses, andererseits ist fraglich mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad die Gefahr eintreten muss, da eine genetische Disposition für eine Erkrankung je nach Penetranz lediglich eine meist geringe Wahrscheinlichkeitsaussage enthält. Anders als im Fall der HIV-Infektion geht die Gefahr nicht unmittelbar von dem Verhalten des Patienten aus, sondern die Veranlagung existiert bereits. Gegen eine Parallele zu den Infektionskrankheiten wird aus diesem Grund die fehlende Vergleichbarkeit der 116 117 118 119 120
Vgl. McGuire/Caulfield/Cho, Nat Rev Genet 2008, S. 152 ff. Vgl. American Society of Human Genetics, Am J Human Genet 1998, S. 474, 476. Siehe unten Kapitel 2, C. I. 1. Siehe unten Kapitel 3, B. I. 3. b) bb). Vgl. Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34 Rn. 12.
C. „Mehrdimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“
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Situation vorgebracht. Da die genetische Disposition, anders als eine Erkrankung, durch den Bruch der Schweigepflicht nicht verhindert werden könne, läge kein schädigendes Ereignis vor.121 Dagegen kann jedoch im Falle der genetischen Diagnostik das ebenso bestehende vitale Interesse des Dritten an der Information eingewandt werden, wenn der Gentest Aufschluss über behandelbare oder sogar vermeidbare Erkrankungen gibt und sofortige medizinische Maßnahmen indiziert sind. Der Annahme einer Gefahr steht zudem nicht entgegen, dass der Angehörige schon Träger der genetischen Mutation ist, da auch die Gefahr der Intensivierung einer Schädigung eine Gefahr darstellen kann.122 Durch die Nichtweitergabe des relevanten Wissens kann daher die Gefahr des Nichtergreifens notwendiger Präventionsmaßnahmen bestehen. Eine unmittelbare Gefahr geht vom Patienten selber jedoch nicht aus. Jedoch kann die Berufung auf sein Recht auf Privatheit und Verschwiegenheit hier die Gefahr begründen. Des Weiteren lässt sich eine einheitliche Bestimmung des notwendigen Grads der Wahrscheinlichkeit schwer festlegen. Vielmehr soll es ausreichen, wenn die Wahrscheinlichkeit einen solchen Grad erreicht hat, von dem an man sich vernünftigerweise auf die Möglichkeit des schädigenden Ereignisses einzustellen pflegt. Dies ist schon dann der Fall, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Schadens nicht völlig fern liegt.123 Eine Festlegung nach Prozentzahlen ist daher nicht möglich.124 Im Falle genetischer Krankheitsveranlagungen bedeutet dies, dass aufgrund der Gendiagnose des Betroffenen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer (abwendbaren oder zu lindernden) Erkrankung des Verwandten bestehen muss. Dies dürfte nur bei autosomal dominanten oder rezessiven Erbkrankheit der Fall sein.125 In den anderen Fällen genetischer Wahrscheinlichkeitsaussagen, vor allem bei multifaktoriellen Erkrankungen, ist die Eintrittswahrscheinlichkeit zu gering, um schon von einer Notstandslage begründenden Gefahr ausgehen zu können. Eine Notstandslage kann folglich nur für die Angehörigen im Falle der Diagnose einer genetisch bedingten Erkrankungsveranlagung mit hoher Penetranz bestehen. In den anderen Fällen, und damit bei der überwiegenden Zahl der Fälle, liegen die Voraussetzungen für eine Informationsweitergabe nach § 34 StGB nicht vor. (2) Rechtsgüterabwägung Lässt sich eine Notstandssituation begründen, so muss für ein Mitteilungsrecht das gefährdete Rechtsgut des Verwandten, das Recht auf Wissen und körperliche Unversehrtheit, das durch die Schweigepflicht geschützte Rechtsgut, das Recht auf Privatheit und Selbstbestimmung des Klienten, wesentlich überwiegen. Die Abwägung hängt von der Gesamtheit aller widerstreitenden Interessen, insbesondere dem Rang der betroffenen Rechtsgüter, dem Grad der ihnen drohenden Gefahren und das Bestehen besonderer Gefahrtra121
Schillhorn/Heidemann, GenDG, § 10 Rn. 4; Lemke, Die Polizei der Gene, S. 126. Vgl. Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34 Rn. 12. 123 Vgl. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I § 16 Rn. 14; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34 Rn. 15. 124 Vgl. Erb, in: MüKo StGB, § 34 Rn. 69; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34 Rn. 15. 125 Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 249; Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 137 verlangt eine 100%ige Wahrscheinlichkeit. Ansonsten bestünde keine Gefahr, die nicht anders abwendbar wäre. Bei geringeren Wahrscheinlichkeitsgraden wäre ein eigener Test aufgrund genauerer Ergebnisse eine Abwendungsmöglichkeit. 122
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
gungspflichten sowie der Angemessenheit ab.126 In Anlehnung an die Fälle der Gefahr einer HIV-Infektion stehen auch im Falle der Gendiagnostik die gleichen Rechtsgüter in einem Abwägungsverhältnis. Die Rechtsprechung nimmt in den Fällen einer Infektionsgefahr ein Überwiegen des Rechts auf körperliche Unversehrtheit des Dritten an. Andere folgern ein entsprechendes Abwägungsergebnis aus dem Informationsrecht des Verwandten, gestützt auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG), den Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).127 Die Angemessenheit des Bruchs der Schweigepflicht ist jedoch nur anzunehmen, wenn eine Therapie- oder Palliationsmöglichkeit besteht und die Angehörigen diese (vermutlich) auch nutzen werden.128 Dies ist nicht der Fall, wenn der Angehörige vorab zu erkennen gibt, von seinem Recht auf Nichtwissen Gebrauch machen zu wollen, da dann durch die Offenbarung die Gefahr nicht abgewendet werden kann. Zuletzt fordert die Angemessenheit, dass die Gefahr nicht anders, insbesondere nicht im Wege der Information durch den Betroffenen selbst abwendbar ist. Dies ist der Fall, wenn der Patient sich trotz Hinweis des Arztes weigert, Angehörige zu informieren. Der Tatbestand des § 34 StGB kann somit in Ausnahmefällen erfüllt sein. bb) Anwendbarkeit neben dem Gendiagnostikgesetz Schon das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 34 StGB ist problematisch. Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage der Anwendbarkeit des allgemeinen Rechtfertigungsgrundes neben den Spezialregelungen des GenDG. Der Rechtsgüterkonflikt erscheint im Gegensatz zum Bereich der klassischen Medizin im Bereich der Humangenetik aufgrund der Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG einer Lösung über § 34 StGB nicht zugänglich.129 Ein Rückgriff auf einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund wie § 34 StGB soll dann nicht möglich sein, wenn eine speziellere Norm voraussehbare kollidierende Rechtsgüter und den daraus resultierenden Interessenkonflikt nach Art und Umfang abschließend regelt.130 Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber für bestimmte typisierte Notstandssituationen Sondervorschriften geschaffen hat. In diesen kommt eine bestimmte gesetzgeberische Wertung zum Ausdruck, die nicht durch den Rückgriff auf § 34 StGB unterlaufen werden darf.131 Darüber hinaus ist Sinn und Zweck von allgemeinen Rechtfertigungsgründen, 126
Vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 34 Rn. 6. Vgl. Hofmann, Rechtsfragen der Genomanalyse, S. 149: Es wäre nicht vertretbar den Betroffenen „sehenden Auges“ und in Kenntnis seiner genetischen Situation seinem Schicksal zu überlassen, obwohl man dies verhindern könne. Darüber hinaus nimmt Hofmann auch eine Rechtfertigung nach § 34 StGB an, wenn eine nicht behandelbare Krankheit vorliegt. Mit dieser Ansicht scheint er jedoch ersichtlich allein zu sein. 128 Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 250. 129 Es wird überwiegend vom abschließenden Charakter der Norm ausgegangen: vgl. Heyers, MedR 2009, S. 507, 510; Schillhorn/Heidemann, GenDG, § 10 Rn. 4; vgl. hierzu Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 60; Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 200 f. 130 Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 249. 131 Vgl. Erb, in: MüKo StGB, § 34 Rn. 21; als Beispiel nennt er die spezielle Notstandsregelung der medizinisch-sozialen Indikation des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218 a Abs. 2 StGB. 127
C. „Mehrdimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“
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dass sie nur in Ausnahmefällen herangezogen werden.132 Zufallsfunde in der Gendiagnostik stellen jedoch, zumindest bei zunehmender Durchführung gendiagnostischer Untersuchungen, eher einen Regelfall dar, so dass Drittinteressen immer zu beachten wären und es am Ausnahmecharakter fehlt. Der Gesetzgeber hat sich in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG trotz entsprechender Gesetzesvorschläge gegen die Möglichkeit einer Güterabwägung entschieden, bzw. diese bereits selber abschließend vorgenommen. Daraus kann im Umkehrschluss gefolgert werden, dass nach der deutschen Rechtslage der Weg über § 34 StGB nicht mehr möglich sein soll.133 Für die typisierte Notstandssituation mehrdimensionaler Zufallsfunde im Bereich der Gendiagnostik liegt daher eine Spezialregelung vor. Selbst wenn bei strenger Subsumtion die einzelnen Tatbestandsmerkmale erfüllt sein können und man § 34 StGB für anwendbar hält, so sollte man die Besonderheit der genetischen Diagnostik nicht aus dem Blick verlieren. Sie erschweren eine Abwägungsentscheidung. Die tangierten Interessen und Perspektiven des Betroffenen und des Verwandten sind im Bereich der Gendiagnostik mit denen im Bereich der Infektionskrankheiten aus verschiedenen Gründen nicht vergleichbar: Die Gründe des Betroffenen seine genetischen Veranlagungen nicht preisgeben zu wollen, können vielfältig veranlasst sein, z. B. durch Schuldgefühle, Angst vor Diskriminierung und Erwartungen anderer an ein bestimmtes Verhalten (Verzicht auf Nachkommen, Lebensführung, etc.). Diese Aspekte sind im Rahmen einer Abwägung zwischen der Autonomie des Betroffenen und den Rechten und Interessen Dritter, die je nach Konstellation sehr verschieden ausfallen können, schwer zu berücksichtigen.134 Aber nicht nur die Perspektive des Betroffenen wird nicht hinreichend beachtet. Auch die des Verwandten ist komplex. Dieser kann die Information auch ablehnen. Eine Weitergabe des Wissens kann ihn gerade in seiner Selbstbestimmung verletzten oder aufgrund der psychischen Belastung körperlichen Schaden zufügen, statt ihn davor zu bewahren.135 Dieser Aspekt findet sich in den Abwägungsentscheidungen bei Infektionskrankheiten jedoch nicht wieder, da in diesen Fällen davon ausgegangen wird, dass Betroffene es wissen möchten. Auch für den Arzt kann damit die Lösung des Konflikts nicht allein in der Abwägung zwischen Autonomiegesichtspunkten und dem Fürsorgegedanken liegen, wie dies in Fällen der HIV-Infektion der Fall ist. Das Entscheidungsumfeld im Falle der Gendiagnostik ist erheblich vielfältiger, insbesondere durch den erforderli132
Vgl. Gevers, Med Law 1988, S. 163. So auch Schillhorn/Heidemann, GenDG, § 10 Rn. 4: Der Gesetzgeber habe ein umfassendes Schutzinstrumentarium geschaffen. Hiermit unvereinbar sei die Missachtung der Entscheidung des Betroffenen über die Weitergabe; a. A. ist augenscheinlich der DER, Stellungnahme 2013, S. 175: „Die Einführung eines eigenständigen Rechts des Arztes, Verwandte des Patienten, die ebenfalls von der diagnostizierten genetischen Erkrankung betroffen sein könnten, auf ihr Risiko hinzuweisen oder ihnen eine genetische Beratung zu empfehlen, lehnt der DER ab. Die Regelung über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) bietet für besondere Konfliktkonstellationen eine hinreichende Möglichkeit zur Intervention des Arztes zum Schutz elementarer Drittinteressen.“ 134 Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 461 ff. 135 Dagegen Taupitz, Deutschland, Wie regeln wir den Gebrauch der Gendiagnostik?, in: Honnefelder et al., Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 246: Auch die Information über nicht genetisch bedingte Erkrankungen wie die HIV-Infektion könne einen erheblichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht darstellen. 133
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
chen Respekt des Rechts auf Nichtwissen, und kann nicht allgemein für alle Betroffenen gleich gelöst werden.136 3. Zwischenergebnis Die Regelung des GenDG versperrt eine Abwägungslösung nach § 34 StGB. Des Weiteren kann aber auch der Weg über § 34 StGB die zahlreichen Probleme nicht abschließend lösen. Im Fall der Aufklärung nach erfolgter Güterabwägung kann nicht gewährleistet werden, dass dem Recht auf Nichtwissen des Verwandten Rechnung getragen wird, da § 34 StGB nur das Recht auf Wissen des Verwandten schützt, jedoch nicht sein Recht auf Nichtwissen. Auch ist es schwer, den Besonderheiten der psychologischen Lage des Betroffenen gerecht zu werden. Eine Parallele zur Problematik der HIV-Infektion beschränkt sich allein auf den Konflikt der Schweigepflicht. Dies greift hier zu kurz.
II. Offenbarungspflicht im Medizinzivilrecht Ein Mitteilungsrecht des Arztes gegenüber Dritten als Ausnahme von der Schweigepflicht käme unabhängig von der Regelung des GenDG zum einen nur in Ausnahmefällen in Betracht, zum anderen greift eine reine Abwägungsentscheidung unter Rechtsschutzgesichtspunkten zu kurz. Auch folgt aus einem Rechtfertigungsgrund für den Arzt nicht die generelle Pflicht des Arztes zur Information Dritter, sondern nur die Befugnis.137 Begründen ließe sich eine Mitteilungspflicht des Arztes allenfalls auf schuldrechtlicher Ebene. Zufallsfunde sind in zivilrechtlicher Hinsicht für Arzthaftungsfragen138 , wie auch für die Reichweite vertraglicher Sekundärleistungspflichten von Relevanz.
136 Vgl. z. B. Bundesärztekammer, Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik, DÄBl. 2003, A 1297, A 1303: „Besondere Schwierigkeiten kann die Tatsache bereiten, dass die Ergebnisse molekulargenetischer Untersuchungen häufig Rückschlüsse auch auf genetisch verwandte Dritte zulassen, die an der Untersuchung nicht beteiligt waren. Durch eine genetische Diagnostik gerät also unter Umständen das Recht auf Kenntnis der eigenen genetischen Konstitution mit dem Recht auf persönliche und informationelle Selbstbestimmung der Verwandten in Konflikt. Hier ist eine Abwägung nach dem Grad der Betroffenheit und nach den Möglichkeiten einer Geheimhaltung erforderlich. (. . . ) Falls bei der genetischen Untersuchung ein stark erhöhtes Risiko für eine genetische Erkrankung bei einem Verwandten des Getesteten festgestellt wird, stellt sich für den Arzt die Frage einer Weitergabe der Information an den Verwandten, wenn dieser Verwandte ebenfalls in der Behandlung desselben Arztes steht. Dann hat der Arzt eine Weitergabe der Informationen möglichst mit Zustimmung des Getesteten und insbesondere bei behandelbaren Krankheiten in Betracht zu ziehen. Zudem muss er das Recht auf Nichtwissen des Verwandten achten und schonend erkunden, ob dieser überhaupt an Informationen über ein erhöhtes Erkrankungsrisiko interessiert ist.“ § 34 StGB wird anders als bei der Gefährdung Dritter nicht genannt. 137 Der Annahme einer Informationspflicht infolge Garantenstellung durch das OLG Frankfurt soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Bei einem humangenetischen Behandlungsvertrag ist die Wahrscheinlichkeit, dass alle potenziell betroffenen Verwandten bei dem gleichen Arzt in Behandlung sind, sehr gering. 138 Siehe dazu unten Kapitel 3, D. I.
C. „Mehrdimensionale“ Zufallsfunde in der „Normalmedizin“
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1. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter Neben der Möglichkeit der Rechtfertigung einer Verletzung der Schweigepflicht oder der Weitergabe des Wissens durch den Betroffenen wird teilweise versucht, den Konflikt auf der Ebene des Behandlungsverhältnisses zu lösen. Ein Behandlungsverhältnis zwischen dem Arzt und Dritten wird jedoch nur in Ausnahmefällen bestehen. Auch bietet diese Fallkonstellation keinen generellen Lösungsansatz. Daher soll hier der Frage nachgegangen werden, ob ein Recht bzw. eine Pflicht des Arztes zur Offenbarung des Ergebnisses der Gendiagnose gegenüber betroffenen Dritten durch Einbeziehung Letzterer in den Schutzbereich des gendiagnostischen Behandlungsvertrages in Betracht kommt. In Anbetracht der Drittbezüge genetischer Daten erscheint die Einbeziehung Dritter diskussionswürdig. a) Behandlungsvertrag Das klassische Behandlungsverhältnis wird in der Regel durch den Arzt- bzw. Behandlungsvertrag geregelt. Die rechtliche Ausgestaltung dieses schuldrechtlichen Vertragstyps ist jüngst mit dem Ziel der umfassenden Regelung von Patientenrechten erfolgt.139 In § 630a BGB140 wurden die vertragstypischen Pflichten des Behandlungsvertrages und vor allem die Einwilligung, Aufklärungs- und Dokumentationspflichten und die Beweislast geregelt. Der humangenetische Behandlungsvertrag ist von der Änderung als besonderer Vertragstypus nicht erfasst. Dieser wird durch sein dienstvertragliches Gepräge aufgrund der Betonung der kommunikativen Komponente („sprechende Medizin“) gekennzeichnet.141 Der genaue Inhalt des humangenetischen Behandlungsvertrages bestimmt sich in Abhängigkeit davon, ob es sich um eine diagnostische, d. h. zur Diagnosesicherung erfolgte Untersuchung, oder um eine prädiktive Untersuchung handelt, d. h. eine „vorhersagende“ Untersuchung unabhängig von Symptomen in Bezug auf sich später (eventuell) manifestierende Krankheiten (§ 3 Abs. 1 Nr. 6 GenDG). Bei Letzteren liegt der Schwerpunkt auf der genetischen Beratung, so dass der Vertrag auch teilweise als Beratungsvertrag bezeichnet wird.142 Diese Betonung der Beratungskomponente neben der eigentlichen Analyse im Wege der labortechnischen Untersuchung wird auch im GenDG deutlich (vgl. §§ 9, 10 GenDG).
139 BT-Drs. 17/10488, Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und des Bundesministeriums für Gesundheit, Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (Patientenrechtegesetz); Begründung: „Die Rolle der Patientinnen und Patienten in der Gesundheitsversorgung hat sich gewandelt. Sie sind nicht mehr nur vertrauende Kranke, sondern auch selbstbewusste Beitragszahler und kritische Verbraucher“. 140 Vorschrift eingefügt durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20.02.2013 (BGBl. I S. 277) m. W. v. 26.02. 2013. 141 Vgl. Regenbogen/Henn, MedR 2003, S. 152, 154. 142 Vgl. den sog. „Tübinger-Fall“ BGH, Urt. v. 16.11.1993, VI ZR 105/92, Rz. 18 bei juris, BGHZ 124, 128.
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
b) Einbeziehung in den Schutzbereich des Vertrages Im Rahmen eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter werden Personen, die nicht Vertragspartei sind und denen folglich keinerlei vertragliche Primäransprüche zustehen, derart in den Schutzbereich einbezogen, dass sie bei Schlechtleistung oder der Verletzung vertraglicher Nebenpflichten und daraus resultierenden Schäden einen eigenen vertraglichen Sekundäranspruch geltend machen können.143 aa) Allgemeine Voraussetzungen der Einbeziehung Erforderlich ist zunächst, dass der Dritte eine gewisse Leistungsnähe aufweist. Diese ist gegeben, wenn der Dritte bestimmungsgemäß mit der Leistung in Berührung kommt und damit bezogen auf sein Integritätsinteresse der Gefahr einer Schlechtleistung ebenso ausgesetzt ist wie der Vertragspartner.144 Der Dritte muss dabei entweder mit dem Willen des Gläubigers entsprechend eine Leistungsnähe aufweisen oder üblicherweise mit der Haupt- oder Nebenleistung in Berührung kommen.145 Dies erfordert im Ergebnis eine inhaltlich drittbezogene Leistung.146 Des Weiteren muss der Gläubiger ein Interesse daran haben, dass der Dritte in den Schutzbereich einbezogen wird. In früherer Rechtsprechung wurde hier meist die sogenannte „Wohl-und-Wehe Formel“ herangezogen.147 Das Gläubigerinteresse wurde danach bejaht, wenn den Gläubiger eine Schutz- und Fürsorgepflicht gegenüber dem Dritten trifft (Verträge mit personenrechtlichem Einschlag). Diese Voraussetzung wurde zunehmend ausgeweitet. Nunmehr genügt ein berechtigtes Interesse des Gläubigers an der Einbeziehung des Dritten. Darüber hinaus genügt bereits das Obliegen von Pflichten seitens des Gläubigers gegenüber dem Dritten aufgrund eines Vertrages oder eines Gefälligkeitsverhältnisses. Selbst die Gegenläufigkeit der Interessen von Vertragspartner und Drittem schließt eine Schutzwirkung zugunsten des Dritten dann nicht aus.148 Für den Schuldner muss diese Einbeziehung erkennbar sein. Dabei muss er die Person nicht in concreto kennen, jedoch muss sich die Ausweitung auf eine klar erkennbare Personengruppe beziehen (überschaubares Haftungsrisiko für den Schuldner).149 Zuletzt dürfen dem Dritten keine eigenen gleichwertigen vertraglichen Ansprüche zustehen. 143 Vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, § 328 Rn. 13; Gottwald, in: MüKo BGB, § 328, Rn. 174 f., dieser Anspruch soll den wegen § 831 BGB unzureichenden Schutz des Deliktsrechts ausgleichen, Rn. 161. 144 Vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, § 328 Rn. 17; BGH, Urt. v. 6.5.2008 – XI ZR 56/07, NJW 2008, S. 2245. 145 Vgl. BGH, Urt. v. 22.01.1968 – VIII ZR 195/65, BGHZ 49, 354; Gottwald, in: MüKo BGB, § 328, Rn. 178. 146 Vgl. Gottwald, in: MüKo BGB, § 328 Rn. 180: es sei entscheidend, dass die Vertragsleistung auch zugunsten des Dritten erbracht wird, und dieser oft der eigentlich an der Vertragsleistung Interessierte ist; Palandt/Grüneberg, § 328 Rn. 17. 147 Vgl. BGH, Urt. v. 26.11.1968 – VI ZR 212/66, BGHZ 51, 91, 96, NJW 1969, S. 269, 272; BGH, Urt. v. 26. 6. 2001 – X ZR 231/99, NJW 2001, 3115, 3116; Palandt/Grüneberg, BGB, § 328 Rn. 17a. 148 Vgl. Gottwald, in: MüKo BGB, § 328 Rn. 182; BGH, Urt. v. 25. 9. 2008 – VII ZR 35/07: sog. Gutachterfälle. 149 Vgl. BGH, Urt. v. 12. 7. 1977 – VI ZR 136/76, NJW 1977, S. 2208; Gottwald, in: MüKo BGB, § 328, Rn. 184.
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bb) Einbeziehung in den medizinischen Behandlungsvertrag Auch an dieser Stelle soll zunächst, ohne ins Detail und auf einzelne Streitpunkte eingehen zu wollen, am Beispiel der HIV-Infektion auf die Frage der Einbeziehung Dritter in den Schutzbereich des Behandlungsvertrages eingegangen werden. In diesen Fällen wird die Einbeziehung Dritter in den Schutzbereich des Behandlungsvertrages teilweise befürwortet.150 Die Rechtsprechung hat sich zu der Frage der Einbeziehung Dritter in den Schutzbereich des ärztlichen Behandlungsvertrages bei der Gefahr einer HIV-Infektion bisher nicht geäußert. Im medizinischen Bereich wurde die Einbeziehung Dritter bisher vorrangig bei gynäkologischen Behandlungsverträgen, z. B. die Einbeziehung des Partners bei einer ungewollten Schwangerschaft151 oder bei Schädigung des Kindes152 , angenommen. Diese Fälle sind mit der Infektionsgefahr die von einem Patienten ausgeht jedoch nicht vergleichbar.153 In der Literatur wird die Einbeziehung Dritter im Falle der Infektionsgefahr durchaus befürwortet. Die Leistungsnähe wird aufgrund der hohen Infektionsgefahr mit HIV und damit dem Bestehen einer Gefahrengemeinschaft bei engen sozialen Kontakten angenommen, insbesondere beim Intimpartner.154 Problematisch ist jedoch die Begründung des Einbeziehungsinteresses bzw. der Gläubigernähe. Diese liegt vor, wenn ein berechtigtes Interesse des Patienten an der Einbeziehung des Dritten nach Auslegung des Parteiwillens besteht. In den hier allein interessierenden Fällen der verweigerten Informationsweitergabe besteht damit das Problem, dass der Patient den Dritten gerade nicht informieren will. In Anlehnung an die Rechtsprechung des BGH zu Bausachverständigen wird der entgegenstehende Wille jedoch als unbeachtlich angesehen.155 Der entgegenstehende Wille stünde der Auslegung nicht entgegen, wenn das Integritätsinteresse des Dritten verletzt sei.156 Der Schutz des Dritten dürfe hieran nicht scheitern, da sich der Patient pflichtwidrig verhalte oder sogar strafbar mache. Strafbares Verhalten dürfe auf zivilrechtlicher Ebene nicht dazu führen, dass dem Dritten der Schutz versagt wird.157 Diese Ansicht wird auch gestützt durch die in der älteren Rechtsprechung herangezogene sogenannte Wohl und Wehe-Formel, wonach die Vertragspartei für Wohl und Wehe mitverantwortlich sein 150 Vgl. Deutsch, NJW 1989, S. 1554: „Die Pflicht ist zu bejahen, da diese Personen sogar Begünstigte im Rahmen eines Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter sind. Von vornherein war abzusehen, dass sie im Gefahrenbereich der Behandlung stehen. Ihnen gegenüber besteht also auch eine Sorgfaltspflicht“; Laufs, NJW 1990, S. 1505, 1513. 151 Vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 01.02.2006 – 13 U 134/04: In den Schutzbereich eines auf Schwangerschaftsverhütung gerichteten Vertrages zwischen Arzt und Patientin ist (zumindest) auch der gegenwärtige Partner einer ungefestigten Partnerschaft einbezogen. 152 Vgl. BGH, Urt. v. 10.11.1970 – VI ZR 83/69, NJW 1971, S. 241. 153 Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 91. 154 Vgl. Strybny, Die zivilrechtliche Pflicht des Arztes zur Mitteilung einer HIV-Infektion des Patienten an gefährdete Dritte, S. 107 ff.; Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 97. 155 Vgl. BGH, Urt. v. 10.11.1994 – III ZR 50/94, BGHZ 127, 378. 156 Vgl. Gottwald, in: MüKo BGB, § 328 Rn. 174. 157 Vgl. Strybny, Die zivilrechtliche Pflicht des Arztes zur Mitteilung einer HIV-Infektion des Patienten an gefährdete Dritte, S. 112.
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
muss (sogenannte Schuldverhältnisse mit personenrechtlichem Einschlag). Dies spricht in familiären Beziehungen für die Missachtung des entgegenstehenden Willens. Gegen die Einbeziehung wendet sich dagegen Corinth. Zwar habe der Patient ein eigenes, aber auch zugunsten ansteckungsgefährdeter Dritter ein berechtigtes Interesse an der sorgfältigen und umfassenden Sicherungsaufklärung, da er in diesem Rahmen u. a. über mögliche Ansteckungsrisiken aufzuklären ist. Gegen eine Einbeziehung spreche jedoch, dass nach umfassender Aufklärung der Patient für die Weitergabe nunmehr selbst verantwortlich sei. Eine weitergehende vertragliche Pflicht des Arztes könne nicht angenommen werden.158 Darüber hinaus weise im Gegensatz zu den teilweise herangezogenen Gutachterfällen der Behandlungsvertrag inhaltlich keine drittbezogenen Leistung auf. Es sollen im Kern keine gegenläufigen Interessen zum Ausgleich gebracht werden. Auch Bender159 lehnt die Einbeziehung Dritter in den Schutzbereich ab. „Ein Rückgriff auf das Rechtsinstitut des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter hilft hier nicht weiter, denn der Kreis der geschützten Personen wird nicht etwa durch die Familienzugehörigkeit determiniert, sondern über die Auslegung des Behandlungsvertrages ermittelt“. Das weitere Kriterium der subjektiven Erkennbarkeit stellt klar, dass den Arzt keine Nachforschungspflicht trifft. Verweigert der Patient jedoch ausdrücklich die Weitergabe an bestimmt Personen oder sind Partner und Familienangehörige bekannt, so ist von der Erkennbarkeit auszugehen. cc) Einbeziehung in den gendiagnostischen Behandlungsvertrag Daran anschließend stellt sich die Frage, ob auch für die Fälle genetischer Zufallsfunde die Einbeziehung der betroffenen genetisch Verwandten in den Schutzbereich des gendiagnostischen Behandlungsvertrages möglich erscheint. Vorab ist zu klären, was Vertragsinhalt, insbesondere Hauptleistung im Falle einer gendiagnostischen Behandlung, sowie Sinn und Zweck des Rechtsinstituts der Einbeziehung Dritter in den vertraglichen Schutzbereich ist. (1) Humangenetischer Behandlungsvertrag Im Rahmen der Gendiagnostik ist das Behandlungsverhältnis durch die Trias BeratungDiagnose-Beratung geprägt.160 Aufgabe der genetischen Beratung im Fall der genetischen Diagnostik ist es, den Klienten über sein individuelles veranlagungsbedingtes Erkrankungsrisiko aufzuklären.161 Dieser Kommunikationsprozess wird durch das GenDG und die Richtlinien der GEKO ausgestaltet. Der genaue Umfang, die Zielsetzung und die Dauer des Behandlungsverhältnisses richten sich nach dem Einzelfall und werden meist erst
158 Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 97 ff., sie betont die Relativität der Schuldverhältnisse. Der Wille des Patienten verhindere daher eine Einbeziehung. 159 Bender, VersR 2000, S. 320. 160 Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 189. 161 Vgl. Hildt, Prädiktive genetische Diagnostik und das Recht auf Nichtwissen, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 227.
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im Rahmen der Beratung deutlich.162 Beruft sich der Klient z. B. auf sein Recht auf Nichtwissen, so endet das Beratungsverhältnis je nach Zeitpunkt der Ausübung des Rechts nach der ersten Beratung oder nach der Diagnose vor der Diagnoseaufklärung. Entscheidet sich der Klient für die Untersuchung und für sein Recht auf Wissen, so kommt der fachgerechten Interpretation und der anschließenden Beratung eine wichtige Rolle zu. Aus diesem Grund werden im Fall diagnostischer Behandlungs- bzw. Beratungsverträge die Diagnosestellung und die Diagnoseaufklärung als Hauptpflichten angesehen.163 (2) Anwendbarkeit des Rechtsinstituts Ziel der Einbeziehung Dritter in den Schutzbereich von Verträgen ist es, Personen, die nicht Vertragspartei sind, jedoch tatsächlich vertragsnah sind und daher in ihrem Integritätsinteresse berührt werden können, mögliche Sekundäransprüche zu eröffnen. Die Ausweitung des Schutzbereichs soll dem Dritten keinen Leistungsanspruch gewähren (Abgrenzung zum echten Vertrag zugunsten Dritter), sondern bezieht sich nur auf die vertraglichen Nebenpflichten, wie Schutz- und Fürsorgepflichten bei der Vertragsabwicklung.164 Teilweise wird aus dieser Zielrichtung heraus die Anwendbarkeit des Rechtsinstituts zur Begründung einer Offenbarungsbefugnis des Arztes verneint. Cramer begründet diese Ablehnung mit dem Sinn und Zweck der Ausweitung des Schutzbereichs, nämlich dem Schutz des Integritätsinteresses des Dritten. Ihm stünden nur Sekundäransprüche zu. Ein Offenbarungsanspruch wäre jedoch ein Hauptanspruch oder eine Nebenleistung.165 Dem ist zuzustimmen. Die Diagnosestellung und Diagnoseaufklärung werden beim gendiagnostischen Behandlungsvertrag als Hauptpflichten angesehen. Auch wenn man dem Dritten gegenüber dem Arzt keinen Primärleistungsanspruch zugesteht, so würde die Zuerkennung von Sekundäransprüchen bei unterlassener Aufklärung dazu führen, dem Dritten letztlich diesen Aufklärungsanspruch als Hauptleistung zuzubilligen. Die Information kann in diesem Rahmen nicht allein als Fürsorgepflicht in Form vertraglicher Nebenpflichten eingeordnet werden. Die ärztliche Fürsorgepflicht gegenüber Dritten ist keine vertragliche Nebenpflicht, sondern als allgemein ärztlich-ethisches Prinzip zu verstehen. Zudem kommt der Arzt seiner Primärleistung gerade durch Aufklärung und Beratung des Klienten korrekt nach. Eine Schlechtleistung könnte folglich nur durch Ausweitung der Primärleistungspflicht konstruiert werden. Dies ist nicht Ziel des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Zudem spricht schon die gesetzliche Regelung des GenDG gegen eine Anwendbarkeit. Wären Dritte im Falle einer „genetischen Schicksalsgemeinschaft“ in den Schutzbereich des Vertrages einbezogen, so wäre die Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG über162 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 71. 163 Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 191; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 73; Deutsch, NJW 1980, S. 1305: beim reinen Diagnosevertrag ist die Diagnoseaufklärung Hauptleistungspflicht. Aber auch als Vorstufe der Behandlung hat der Patient im allgemeinen den Anspruch auf Aufklärung über die Diagnose. 164 Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 242. 165 Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 242. Des Weiteren käme es – so Cramer – zu einer Aushöhlung der Schweigepflicht.
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
flüssig, die Aufklärung wäre der Regelfall. Die geregelte Empfehlung zur Empfehlung bestimmt die Leistungspflicht des Arztes und schließt eine Aufklärung des Verwandten gerade nicht mit ein. Der Weg über den Vertrag mit Schutzwirkung würde diese Entscheidung des Gesetzgebers umgehen und die Schweigepflicht aushöhlen. (3) Einbeziehung Verwandter in den Schutzbereich Aber auch wenn man dieser Ansicht nicht folgen sollte, erscheint das Vorliegen der Voraussetzungen der Einbeziehung in den genetische Beratungs- bzw. Behandlungsvertrag eher fernliegend. Eine Einbeziehung erfordert zunächst, dass Verwandte die erforderliche Leistungsnähe aufweisen. Hauptleistungspflichten des humangenetischen Behandlungsvertrages sind die Diagnosestellung und -aufklärung. Mit dieser Leistung müsste der Dritte bestimmungsgemäß in Berührung kommen. Einziger direkter Leistungsadressat der ärztlichen Beratung, Selbstbestimmungsaufklärung und Diagnosestellung ist der Patient.166 Lediglich die doppelte Empfehlung ist in indirekter Weise drittbezogen, da sie das Ziel hat, potenziell betroffene Verwandte in den Prozess der Wissensgenerierung einzubinden. Die Empfehlungspflicht ist damit indirekt drittbezogen. Dritte kommen daher mit der ärztlichen Aufklärungspflicht in der Art in Berührung, dass nur auf Grundlage einer pflichtgemäßen Aufklärung und Beratung des Klienten dieser in der Lage ist, potenziell betroffene Dritte angemessen zu informieren, so dass diese die Möglichkeit eines Gentest und daran anschließende präventive Maßnahmen ergreifen können.167 Da gerade eine Aufklärung nur über den Weg des Klienten nach dem GenDG möglich ist, sind die Verwandten auf diese Aufklärung angewiesen. Der Gefahr einer Schlechtleistung beschränkt auf diesen Aspekt sind Verwandte daher ebenfalls ausgesetzt. Mit dem Argument der Gefahrengemeinschaft aufgrund einer möglichen Ansteckung kann an dieser Stelle die Leistungsnähe nicht begründet werden. Die Gefahr geht hier nicht vom Patienten aus, sondern die genetische Disposition besteht bereits. Problematisch erscheint jedoch die Gläubigernähe. Wie dargelegt, darf der Arzt Dritte nicht von sich aus aufklären. Weist er den Klienten auf den Drittbezug der Gendiagnose hin und empfiehlt eine entsprechende Beratung, so hat er seine vertragliche Pflicht erfüllt. Durch die Weigerung des Klienten kann diese Pflicht nicht erweitert werden.168 Rechtsgrundlage des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritte ist (nach umstrittener, aber ständiger Rechtsprechung) die ergänzende Vertragsauslegung, d. h. es ist darauf abzustellen, wann eine stillschweigende Vereinbarung einer Schutzpflicht für Dritte anzunehmen ist, wobei die Fürsorgepflicht des Gläubigers dabei von Bedeutung sein kann.169 Die hier allein interessierende Konstellation ist die, dass der Klient die Information des Verwandten ablehnt. Er äußert damit gerade den entgegengesetzten Willen. Die Einbeziehung Verwandter in den Schutzbereich würde folglich eine Auslegung gegen den Willen 166 Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 269. 167 Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 194; Kunstmann et al., medgen 2003, S. 399, 400. 168 Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 195. 169 Vgl. BGH, Urt. v. 2.11.1983 – IVa ZR 20/82, NJW 1984, S. 355.
D. Zusammenfassung
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darstellen.170 Der Einwand der Pflichtwidrigkeit der Berufung auf einen entgegenstehenden Willen, greift hier nicht, da den Klienten zumindest keine rechtliche Aufklärungspflicht trifft und sich durch ein Unterlassen auch nicht strafbar verhält. 2. Zwischenergebnis Bei der Annahme eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ist grundsätzlich Zurückhaltung geboten, um den erklärten Willen der Parteien nicht durch eigene Wertungen zu übergehen. Dies ist eine Frage des Einzelfalls, so dass die Rechtsfigur des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter nicht zu einer generellen Informationspflicht des Arztes führen kann.171 Des Weiteren greifen auch an dieser Stelle obige Erwägungen. Die gesetzliche Regelung des GenDG steht der Ausdehnung des Schutzbereichs und der Aussetzung der Schweigepflicht entgegen. Auch liegt im Fall der Weigerung der Weitergabe der Informationen seitens des Arztes keine Schlechtleistung des Arztes vor, er verhält sich vielmehr gesetzestreu. Eine Lösung des Problems ist über diesen Weg daher nicht möglich. Auch die zivilrechtlichen Modelle der Einbeziehung Verwandter in den Schutzbereich des humangenetischen Behandlungsvertrags sind damit keine tauglichen Instrumente, den beschriebenen Konflikt zu lösen. Zum einen liegen die Voraussetzungen dieses Rechtsinstituts nicht vor, zum anderen steht das gesetzliche Regelungskonzept diesem Weg entgegen.
D. Zusammenfassung In der „rein“ bilateralen Arzt-Patienten-Beziehung im Bereich der klassischen Medizin gilt für eindimensionale Zufallsfunde, dass solchen, die bei Untersuchungen anfallen, durch den Arzt nachzugehen ist und der Patient über diese aufgeklärt werden muss. Gestützt wird dies auf die aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten abgeleitete umfassende Aufklärungspflicht sowie Fürsorgepflicht des Arztes. Eine vorherige Einbeziehung der Fragestellung in den informed consent und damit zusammenhängend ein Hinweis auf ein etwaiges Recht auf Nichtwissen, wird dabei nicht thematisiert. Dies lässt sich jedoch vor dem Hintergrund der Seltenheit von Zufallsfunden und der Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung in die Aufklärung über Zufallsfunde rechtfertigen. Auch im Bereich der Gendiagnostik fehlt es an einer gesetzlichen Regelung der Problematik des eindimensionalen Zufallsfundes. Hier besteht jedoch der wesentliche Unterschied, dass nach dem Konzept des GenDG, welches das Recht auf Nichtwissen explizit anerkennt, der Weg über eine mutmaßliche Einwilligung nicht zu einer Beachtung des Klientenwillens führen kann. In Ermangelung einer wünschenswerten gesetzlichen Regelung, kann hier daher aufgrund der Besonderheit genetischer Daten, entgegen der augenscheinlichen Ansicht des Gesetzgebers, nicht von einer generellen Aufklärungspflicht des Arztes über Zufallsfunde ausgegangen werden. Ein solches Vorgehen würde das Selbstbe170 Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 195; Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 135. 171 Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 135 f.
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Kap. 2: Zufallsfunde in der Arzt-Patienten-Beziehung
stimmungsrecht des Klienten gerade nicht achten, sondern verletzen. Aus diesem Grund widmen sich verschiedene interdisziplinäre Projekte der Frage des Umgangs mit eindimensionalen Zufallsfunden im klinischen Bereich. Entgegen der Lösung des ACMG sollte jedoch nicht unabhängig vom Willen des Klienten über (zumindest die in der Liste aufgeführten) Zufallsfunde aufgeklärt werden. Vielmehr ist der informed consent im Vorfeld der Untersuchung um diese Fragestellung, die Möglichkeit der Erhebung von Zufallsfunden, soweit wie möglich zu erweitern und eine Vorgehensweise festzulegen. Ist dies nicht erfolgt, kann der Betroffene schrittweise an die Information herangeführt werden. In den Fällen mehrdimensionaler Zufallsfunde gewinnt die Situation an Komplexität, da der Arzt aufgrund der ihn treffenden Schweigepflicht im Grundsatz nicht dazu befugt ist, das Wissen gegenüber Dritten zu offenbaren. Lösungsansätze für ein Mitteilungsrecht des Arztes gegenüber Dritten aus dem Bereich des Medizinstrafrechts gehen jedoch dahin, ein Offenbarungsrecht des Arztes auch gegen den Willen des Betroffenen nach § 34 StGB zu begründen („Zwangsaufklärung“). In diesem Fall liegt die primäre Zuständigkeit der Aufklärung des Dritten beim Patienten, der Arzt kann bzw. muss jedoch nach der Rechtsprechung bei einer erheblichen Gesundheitsgefährdung des Dritten durch ein mögliches Ansteckungsrisiko durch den Patienten den Gefährdeten über die Sachlage aufklären, sollte der Patient dies nicht veranlassen. In diesen Fällen hat das Verschwiegenheitsinteresse des Patienten und damit auch die Verschwiegenheitspflicht des Arztes nach § 34 StGB hinter dem Integritätsinteresse des Dritten zurückzutreten. Die zum Teil vertretene Übertragung dieser Grundsätze auf die Problematik gendiagnostischer Zufallsfunde kommt jedoch nicht in Betracht. Zwar finden sich diese Ansätze bereits in der amerikanischen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Jedoch schließt die spezielle Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG einen Rückgriff auf § 34 StGB aus. Des Weiteren liegt aufgrund der bloßen Wahrscheinlichkeitsaussage eine Notstandssituation eher fern. Zudem ist der Weg über eine Abwägungsentscheidung nicht geeignet, die vielfältig widerstreitenden Interessen in einen gerechten Ausgleich zu bringen. Vor allem die Besonderheiten genetischer Daten, ihre Relevanz für den Klienten, aber auch die Bedeutung des daraus hergeleiteten Rechts auf Nichtwissen, würden nicht hinreichend berücksichtigt. Gleiches gilt für die Anwendbarkeit des Rechtsinstituts des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Zwar wird eine solche Einbeziehung des Dritten in den Fällen der Gefahr einer HIV-Infektion teilweise befürwortet, allerdings fehlt es hier an der Vergleichbarkeit von genetisch bedingten Erkrankungen und ansteckenden Infektionskrankheiten. Eine Einbeziehung würde das Rechtsinstitut überdehnen, da im Ergebnis dem Verwandten ein Hauptleistungsanspruch zugestanden und die Einbeziehung gegen den Willen des Klienten erfolgen würde.
Kapitel 3
Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik Die Problematik des Zufallsfundes und seine Einbettung in die Arzt-KlientenBeziehung findet in der Gendiagnostik eine besonders brisante Aktualität. Die Besonderheiten der Humangenetik stellen die Arzt-Patienten-Beziehung und die medizin-ethischen wie auch rechtlichen Grundsätze erneut auf den Prüfstand. Die bisherigen Wege des Medizinstrafrechts und des Medizinzivilrechts bieten bisher keine der Materie und betroffenen Rechtsgüter hinreichend gerecht werdende Lösung. In der Gendiagnostik spielt der „unsichtbare Dritte“1 jedoch zunehmend eine wichtige und auch häufigere Rolle, so dass der Rechtskonflikt hier eine andere Komplexitätsstufe erreicht. Die Frage der Behandlung von und des Umgangs mit mehrdimensionalen Zufallsfunden, in der klinischen wie auch in der gendiagnostischen Medizin, findet jedoch bisher nur wenig Beachtung.2 Eine klare Definition und eine systematische und konsequente Verwendung des Begriffs finden sich in der Literatur nicht.3 Auch die Gesetzesbegründung zum Gendiagnostikgesetz geht auf die Problematik des Zufallsfunds nicht ein. Lediglich im Kontext der Aufklärung wird auf die Möglichkeit von eindimensionalen Überschussinformationen als „weitere, als die mit der genetischen Untersuchung abzuklärenden, genetischen Eigenschaften“ eingegangen.4 In der Konstellation des Drittbezugs ist nur von einer möglichen Betroffenheit Verwandter die Rede.5 Im Folgenden sollen daher unter Berücksichtigung der betroffenen, insbesondere verfassungsrechtlichen Rechtspositionen (A.), und den ihnen immanenten Problemen verschiedenen Lösungsmodellen nachgegangen werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Konzept des GenDG als einfachgesetzliche Regelung des Zufallsfundes (B.) und den damit verbundenen Umsetzungsproblemen, sowie der Bewertung der gewählten Konfliktlösung (C.) und dem effektiven Rechtsschutz (D.). Dritte, die meist in keinem Behandlungsverhältnis zum behandelnden Humangenetiker stehen, können ein Informationsinteresse haben oder auch den Wunsch keine Kenntnis zu nehmen. Der Klient kann von sich aus den Verwandten informieren, jedoch auch von seinem Recht auf Verschwiegenheit Gebrauch machen. Wie werden diese verschiedenen möglichen Reaktionen behandelt? Welche Rechte sollen überwiegen, die des Klienten oder des Dritten, und welche Rolle soll der Arzt in diesem Konflikt übernehmen? All diese Fragen werden von Relevanz sein. 1
Feuerstein/Kuhlmann, Neopaternalistische Medizin, S. 9, 10. Meist beziehen sich Stellungnahmen primär auf den eindimensionalen Zufallsfund. Sie erwähnen am Rande die mehrdimensionale Komponente. Aktuell siehe GfH, Stellungnahme 2013, S. 4; Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 39. 3 Siehe oben Kapitel 1, A. II.; Phg-foundation, Next steps in the sequence, S. 94. 4 BT-Drs. 16/10532, S. 27. 5 Vgl. BT-Drs. 16/10532, S. 29. 2
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
A. Verfassungsrechtlicher Rahmen Nach § 1 GenDG dient das Gesetz dem Zweck, die Würde des Menschen und sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu schützen. Aufgrund der besonderen Aussagekraft und der (personellen) Reichweite genetischer Daten kommt dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen, aber auch der Verwandten, in der öffentlichen Diskussion und im GenDG so eine prominente Stellung zu. Je mehr neue medizinische und vor allem gendiagnostische Erkenntnisverfahren beim Menschen Anwendung finden, desto mehr werden grundrechtliche Fragen und vor allem das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, Fragen der Selbstbestimmung, thematisiert und seine verfassungsrechtliche Verankerung betont.6 Im Folgenden sollen daher die verfassungsrechtlichen Positionen des Klienten und Verwandten beschrieben und hervorgerufene Grundrechtskollisionen bewertet werden.
I. Rechtspositionen des Klienten Die durch die technischen Möglichkeiten, vor allem die Erhebung und Verwendung genetischer Daten, berührten Rechte des Klienten sind vielfältig. Im Zentrum steht jedoch aufgrund der Aussagekraft genetischer Daten der Bezug zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. 1. Verfassungsrechtlicher Bewertungsmaßstab In den Anfängen der Gendiagnostik wurde im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Bewertung zumeist als Zulässigkeitsmaßstab die Unantastbarkeit der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen.7 Auch Aspekte der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurden im Kontext der medizinischen Untersuchung thematisiert. Typischerweise wird durch einen medizinisch invasiven Eingriff in substanzieller Hinsicht die körperliche Unversehrtheit des Patienten berührt und damit der Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG betroffen. Aus diesem Grund darf ein solcher Eingriff nur auf Grundlage einer Einwilligung des Patienten vorgenommen werden. Bei gendiagnostischen Maßnahmen kann die erforderliche DNA nicht invasiv durch eine Speichelprobe, jedoch meist auch invasiv durch eine Blutentnahme erfolgen. Unabhängig von der umstrittenen Frage, ob die Blutentnahme bereits als eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit zu bewerten ist8 , liegt das durch die gendiagnostische Maßnahme und damit auch für die Einwilligung maßgebliche Rechtsgut anders als im Bereich der invasiven Medizin jedoch nicht in der physischen sondern in der psychischen Integrität. 6 Ausführlich dazu Damm, JZ 1998, S. 926 ff.; vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 84. 7 Vgl. Donner/Simon, DÖV 1990, S. 907, 908 ff.; ausführlich Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 195 ff. 8 Vgl. dazu Donner/Simon, DÖV 1990, S. 907, 911.
A. Verfassungsrechtlicher Rahmen
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Für die hier interessierende Fragestellung des Zufallsfundes im Gendiagnostikrecht ist letzterer Aspekt von besonderem Interesse. Auf diesen soll sich daher die verfassungsrechtliche Bewertung konzentrieren. Es geht primär um das Erlangen genetischen Wissens und den Umgang mit diesem. Fragen des körperlichen Eingriffs spielen eine untergeordnete Rolle. Ihnen soll daher an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Der Fokus der verfassungsrechtlichen Diskussion hat sich daher auf Fragen des Persönlichkeitsrechts verlagert. Dies gilt insbesondere für das zwischenmenschliche Verhältnis in Folge von Zufallsfunden. 2. Vom Allgemeinen Persönlichkeitsrecht zum Recht auf „geninformationelle Selbstbestimmung“ Die Möglichkeiten der umfassenden genetischen Erfassung der Person in Kombination mit den fortschreitenden technischen Möglichkeiten zur Datenspeicherung und -auswertung begründen neue Gefährdungen (noch) unbekannten Ausmaßes. Hierbei geht es nicht primär um Fragen der Datenhoheit und des Datenschutzes, sondern um die aus dieser Datenerhebung und dem daraus folgenden Wissen für den Einzelnen resultierenden ambivalenten Folgen.9 Das Bundesverfassungsgericht betont die Bedeutung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts für die Effektivität eines dynamisch anzupassenden Grundrechtsschutz im Kontext der neuen Gefährdungen, die aus den gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen resultieren.10 Der für diese neuen Gefährdungen entwicklungsoffene Persönlichkeitsschutz11 kann daher auf diese neuen Herausforderungen der Gendiagnostik reagieren, um einen effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Der Schwerpunkt des verfassungsrechtlichen Interesses im Bereich der Gendiagnostik liegt aufgrund der Aussagekraft und dem prädiktiven Charakter im Bereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, genauer in seiner Ausprägung als Recht auf „geninformationelle Selbstbestimmung“. Je nach Aussagekraft, z. B. die Diagnose einer autosomaldominanten, aber unheilbaren Krankheit wie Chorea-Huntington12 , wird einer prädiktiven Gendiagnostik die Wirkung eines Eingriffs in die psychische Integrität zugeschrieben. Sie sei einer „chirurgischen Intervention durchaus vergleichbar“, und könne durchaus in eine körperliche Schädigung übergehen.13 Der Umgang mit der Information ist aus diesen
9
Vgl. Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung, S. 47. „Wegen der Eigenart des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat die Rechtsprechung des BVerfG den Inhalt des geschützten Rechts nicht abschließend umschrieben, sondern seine Ausprägungen jeweils anhand des zu entscheidenden Falles herausgearbeitet“, BVerfG, Urt. v. 31.01.1989 – 1 BvL 17/8; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 127. 11 Vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 190. 12 Vgl. Kamps/Laufs, Arzt- und Kassenarztrecht im Wandel, S. 29. 13 Vgl. Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 345 f.; Regenbogen/Henn, MedR 2003, S. 155; Propping et al., Prädiktive genetische Testverfahren, S. 130; siehe auch OLG Koblenz, Beschl. v. 01.02.2012 – 5 W 63/12, MedR 2012, S. 742: das Gericht hat eine Körperverletzung der informierten Mutter (psychische Störung) von mit einer Erbkrankheit (Chorea Huntington) betroffener Kindern aufgrund der Information angenommen. Diese sei auch durch die Einwilligung des untersuchten Vaters nicht gerechtfertigt, da es an einer Einwilligung der Mutter fehle. 10
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
Gründen von besonderer Relevanz. Das Wissen ist irreversibel, der Zustand der Unwissenheit kann nicht mehr erreicht werden.14 a) Bedeutsamkeit des Rechts: Ambivalenz des Wissens Die Anerkennung und Bedeutung des Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung mit seinen beiden Schutzrichtungen liegt in der Ambivalenz des generierten Wissens und der Bedeutung, die dem „Wissen“ zukommen kann. Von den Befürwortern einer besonderen Rolle des Rechts auf Wissen wird der Gewinn des Wissens betont: es ermöglicht dem Betroffenen seine Lebensplanung auf das Wissen auszurichten und, soweit möglich, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Es eröffnet folglich Handlungsoptionen und eine bewusste, vor allem gesundheitsbewusste Lebensführung und die Übernahme von Eigenverantwortung.15 Das Wissen kann jedoch auch eine Kehrseite aufweisen, die die Bedeutung der Anerkennung eines Rechts auf Nichtwissen illustriert. Wissen kann je nach Aussage die eigene Wahrnehmung verändern: Viele empfinden die Diagnose einer genetisch bedingten Krankheitsdisposition bereits als Krankheit („der gesunde Kranke“)16 und lassen diese Einfluss auf die persönliche Lebensgestaltung nehmen, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit zu erkranken gering ist. Die Ergebnisse haben zudem eine besondere Bedeutung, da genetische Analysen in der Regel nur Wahrscheinlichkeitsaussagen treffen und damit für den Betroffenen die Ungewissheit einer späteren Erkrankung nicht sicher beseitigen können. Des Weiteren liegt ein zentrales Problem der Gendiagnostik in der weiterhin bestehenden Diskrepanz zwischen den diagnostischen und den therapeutischen Möglichkeiten.17 Das Wissen kann in solchen Fällen mehr Schaden als Nutzen bringen, da es den Betroffenen belastet ohne Entlastungsmöglichkeiten zu eröffnen. Ein weiterer Grund für die Betonung des Rechts auf Nichtwissen liegt in der Aussagekraft und Wirkung genetischer Daten. Sie birgt die Gefahr einer evtl. kaum zu verkraftenden Belastung18 : Die Kenntnis der genetischen Veranlagung kann zu radikalen Reaktionen führen, wie das Beispiel des erblichen Brustkrebses illustrieren sollte.19 Die Auswirkungen auf Lebens- und Familienplanung des Betroffenen, aber auch auf sein Selbstverständnis, sind nicht zu unterschätzen.20 Daher ist die Anerkennung eines Abwehrrechts gegen solche weitreichenden Informationen wichtig. Aber auch andere, zum Teil unerwartete Reaktionen sind möglich. Untersuchungen zum Nachweis von Chorea Huntington haben gezeigt, dass etwa ein Drittel der negativ getesteten, d. h. gesunden Personen, trotz der guten Diagnose in eine Depression verfie14 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 93. 15 Siehe dazu unten Kapitel 4, B. II. 2. 16 Kersten, ZEE 2013, S. 23, 25; siehe oben Kapitel 1, C. II. 1. c) cc). 17 Vgl. DFG, Stellungnahme 2003, S. 31. 18 Vgl. zum Vergleich des Eingriffs in psychische Integrität zum chirurgischen Eingriff oben Fn. 13. 19 Siehe oben Kapitel 1, B. III. 2. c). 20 Vgl. Simitis, Allgemeine Aspekte des Schutzes genetischer Daten, in: Analyse génétique humaine et protection de la personnalité, S. 121; Daele, Genetische Rationalisierung und Grundrechtsschutz, in: Steger, Die Herstellung der Natur, S. 135, 137.
A. Verfassungsrechtlicher Rahmen
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len. Dies wurde teilweise auf Schuldgefühle gegenüber den betroffenen Familienmitgliedern zurückgeführt.21 Personen mit positivem Ergebnis reagierten dagegen auch positiv, da der Test sie in die Lage versetzte, ihr Leben nun zu planen und nicht mehr mit der Ungewissheit leben zu müssen.22 Dies illustriert die unterschiedlichsten Reaktionen und den Einfluss auf die persönliche Wahrnehmung infolge des „Wissens“ und damit die Bedeutung des Rechts, unabhängig über sein Wissen entscheiden zu können. Als weitere Besonderheit kommt hier hinzu, dass die Ergebnisse der Diagnostik nicht auf das getestete Individuum beschränkt sind, sondern sich auch auf Familienangehörige erstrecken. Bei indirekten Gentests müssen Familienangehörige mit in die Untersuchung einbezogen werden. Zudem offenbaren die Ergebnisse einer genetischen Untersuchung häufig auch Informationen über genetische Dispositionen nicht untersuchter Familienmitglieder. Beide Situationen führen im Hinblick auf das Recht auf Nichtwissen zu besonderen Spannungsfeldern.23 Auch dieser Umstand belastet den Betroffenen zum einen bei der Entscheidungsfindung, zum anderen auch beim Umgang mit dem Wissen. Im Ergebnis müssen daher die möglichen ambivalenten Auswirkungen dieser Erkenntnisse berücksichtigt werden, insbesondere wenn gegen die diagnostizierte Erkrankung oder die festgestellte genetische Disposition keinerlei Präventions- oder Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Jedoch auch im Falle der Therapierbarkeit können die Auswirkungen des Wissens bei jedem Ratsuchenden unterschiedlich sein. Manche empfinden die Erkenntnis als Gewinn, andere als Belastung, nun in Kenntnis dieser Veranlagung leben zu müssen. Die Erkrankung schwebt wie ein Damoklesschwert über ihnen24 und zerstört ihre Lebensfreude. Auch Schuldgefühle gegenüber Verwandten, denen sie möglicherweise die Veranlagung vererbt haben, können das Leben belasten. Die Auswirkungen der Gendiagnostik sind damit nicht durchweg als positiv zu bewerten, sondern weisen einen ambivalenten Charakter auf. Diesem ambivalenten Charakter und die für jeden Einzelnen unterschiedliche Bedeutung soll durch den effektiven Schutz des Rechts auf Wissen und Nichtwissen Rechnung getragen werden. b) Recht auf „eninformationelle Selbstbestimmung“ Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Kontext des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist von einer gewissen Zukunftsoffenheit geprägt. Auf Grundlage einer reichhaltigen Kasuistik hat das Gericht zahlreiche Schutzbereichsausprägungen definiert und hinzugefügt25 , um den Schutzumfang den sich wandelnden und wachsenden techni21 Vgl. DFG, Stellungnahme 2003, S. 26 (abrufbar unter http://www.dfg.de/dfg_profil/reden_ stellungnahmen/index.html (Abruf 06.11.2013)); sogenannte „survivor’s guilt“, Presidential Commission for the Study of Bioethical Issues, Privacy and Progress in Whole Genome Sequencing, S. 56; Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 47. 22 Vgl. Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 2; Bartram, Aktuelle Aspekte der Humangenetik, in: ders. et al., Der (un)durchsichtige Mensch, S. 153, 161. 23 Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 133. 24 Vgl. Lindner, MedR 2007, S. 286, 287: die Disposition ist da, nicht sicher ist indes, ob, wann und mit welchem Schweregrad die Krankheit ausbricht. 25 Zuletzt das „Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und der Integrität informationstechnischer Systeme“ BVerfG, Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07, BVerfGE 120, 274, 303 ff.; vgl. Epping/Lenz/Leydecker, Grundrechte, Rn. 628 ff.; Hintergrund war die Durchführung von Online-Durchsuchungen durch den Staat.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
schen Möglichkeiten anzupassen. Dieser Gedanke kann auch für die neuen Herausforderungen medizin-technischer Möglichkeiten, wie die der Gendiagnostik, fruchtbar gemacht werden. Die Einbeziehung technischer Entwicklungen führt zu einer zunehmenden Betonung der Persönlichkeitsrechte, insbesondere der Selbstbestimmungs- und informationellen Rechte.26 In Weiterentwicklung dieser Linie erkennt die überwiegende Literatur ein Recht auf Kenntnis der eigenen Gene an.27 Meist erhält diese Schutzbereichsausprägung die Bezeichnung als „Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung“.28 Die rechtsdogmatische Verankerung dieses Rechts wird allerdings nicht einheitlich verortet. Ziel der Arbeit soll es an dieser Stelle nicht sein die genaue rechtliche Verankerung detailliert zu analysieren, sondern vielmehr auf ihre „Daseinsberechtigung“ kurz einzugehen. Die Konfliktbereiche dieses Rechts liegen nicht im dogmatischen Bereich, sondern vielmehr in der Umsetzung dieses Rechts.29 Daher soll an dieser Stelle nur kurz auf die dogmatische Fragestellung eingegangen werden. Vielfach wird eine Verankerung des Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung, wie die Begriffswahl vermuten lässt, im Recht auf informationelle Selbstbestimmung gesehen. Dieses beinhaltet das Recht selbst über die Preisgabe persönlicher Daten zu bestimmen. Unter den Begriff „Daten“ fallen alle einer Person zuordenbaren Informationen und damit auch solche über die genetische Disposition.30 Andere sehen die Grundlage als Ausprägung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.31 Zur Klärung dieser Frage und der Anerkennung eines Rechts auf Kenntnis der eigenen genetischen Disposition hat das Bundesverfassungsgericht sich noch nicht geäußert. Allerdings hat das Gericht bereits das Recht auf Kenntnis seiner genetischen Abstammung anerkannt:
26 Vgl. zu Entwicklung ausführlich Damm, Persönlichkeitsrecht und Persönlichkeitsrechte, in: Festschrift für Heinrichs, S. 115 ff.: hier seien normative Probleme von Personalität und Moderne betroffen, S. 117. 27 Vgl. nur Hasskarl/Ostertag, MedR 2005, 643; kritisch Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, S. 87. 28 Sternberg-Lieben, NJW 1987, S. 1242, 1246; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 94; teilweise wird auch vom „Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung“ gesprochen: dazu Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, S. 87. 29 Vgl. Damm, MedR 1999, S. 437, 446. 30 Vgl. Lindner, MedR 2007, S. 286, 290; Lorenz, JZ 2005, S. 1121, 1126; Stumper, Informationelle Selbstbestimmung und DNA-Analysen, S. 85 ff.; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 95; Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Rn. 114. 31 Die Begrifflichkeit lässt eine Verankerung im Recht auf informationelle Selbstbestimmung vermuten. Dies wird teilweise kritisch gesehen, da der eigene Wunsch nach Kenntnis und nicht der Schutz vor Kenntnis Dritter im Vordergrund stünde: Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 250. Es sei vielmehr ein Teil des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts; so auch Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 310; Retzko, Prädiktive Medizin versus ein (Grund-)Recht auf Nichtwissen, S. 141 ff.: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schütze vor einer ungewollten Offenbarung der Daten gegenübertreten Dritten, das Recht auf Nichtwissen dagegen schütze vor der unerwünschten Offenbarung gegenüber sich selbst. Die Schutzrichtung sei damit eine andere.
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„Verständnis und Entfaltung der Individualität sind mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Faktoren eng verbunden. Zu diesen zählt neben anderen die Abstammung. Sie legt nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen fest und prägt so seine Persönlichkeit mit. Unabhängig davon nimmt sie auch im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein.“32
Auch die Kenntnis der eigenen genetischen Veranlagungen kann für die Persönlichkeitsbildung und die eigene Lebensplanung von erheblicher Bedeutung sein.33 In Anlehnung an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erscheint es daher naheliegend, unabhängig von der dogmatischen Verankerung, auch ein Recht auf Kenntnis der eigenen genetischen Veranlagung anzuerkennen.34 In Folgeentscheidungen führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in diesem Kontext auch vor der Vorenthaltung erlangbarer Informationen schütze. Hierzu gehöre nach dem heutigen Stand der Wissenschaft insbesondere die genetische Erbsubstanz der betroffenen Personen, die im Wege des „whole genome sequencing“ Verfahren ermittelt werden kann.35 Diese Rechtsprechung deutet eine Anerkennung des Rechts auf Kenntnis seiner genetischen Grundlagen an. Inhaltlich weist die durch dieses Recht geschützte Selbstbestimmung und Autonomie naturbedingt zwei Schutzrichtungen auf: eine positive und eine negative,36 das Recht auf Wissen als auch das Recht auf Nichtwissen hinsichtlich der eigenen genetischen Konstitution.37 Die Bedeutung dieses Rechts hat der Jurist und Soziologe van de Daele wie folgt beschrieben: „Offenbar kann man sich ebenso gut dafür entscheiden, die Gene, die das eigene Leben programmieren, nicht zu kennen. Man kann die Unbestimmtheit und die Offenheit der Zukunft ihrer Berechenbarkeit vorziehen. Eine solche Entscheidung ist existentiell, vergleichbar etwa dem Bekenntnis zu einer Religion oder dem Entschluss, Kinder zu haben. Sie betrifft das Selbstverständnis und den Lebensentwurf des Individuums – nicht nur, was jemand tut, sondern was jemand sein will. Die Freiheit solcher Entscheidungen ist der Kernbereich des Rechts der Person [. . . ] Jeder hat ein
32 BVerfG, Urt. v. 31.01.1989 – 1 BvL 17/87, BVerfGE 79, 256; zuletzt BVerfG, Beschl. v. 18.08.2010 – 1 BvR 811/09, NJW 2010, S. 3772. 33 Vgl. Bartram, Humangenetische Diagnostik, S. 76. 34 Vgl. Propping et al., Prädiktive genetische Testverfahren, S. 66; Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 168; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 247 lehnt die Vergleichbarkeit zur Rechtsprechung bzgl. des Rechts auf Kenntnis der Abstammung ab, sieht jedoch auch eine Ableitung als nicht erforderlich an. Vielmehr ergebe sich dieses Recht als Teil des Allgemeinen Persönlichkeitsrecht schon aus dem Recht auf Kenntnis der die Identität prägenden Informationen als Teil der Selbstbestimmung. Im Ergebnis besteht jedoch kein Unterscheid, ob man eine Parallele zieht oder das eine Recht von dem anderen ableitet. Für eine Anlehnung wohl Bartram, Humangenetische Diagnostik, S. 76. 35 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.08.2010 – 1 BvR 811/09, NJW 2010, S. 3772, 3773. 36 Vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 192. 37 Vgl. Damm, Prädiktive Gesundheitsinformationen, Persönlichkeitsrechte und Drittinteressen, in: Colombi Ciacchi et al., Haftungsrecht im dritten Millennium, S. 312; Taupitz, Das Recht auf Nichtwissen, in: Festschrift für Wiese, S. 591; Vgl. schon Abschlussbericht der Bund-LänderArbeitsgruppe „Genomanalyse“, in: Recht der Gentechnik und Biomedizin (5), Teil II, F., S. 12.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
unentziehbares Recht seine Gene zu kennen, aber er muss ein ebensolches Recht haben, sie nicht zu kennen.“38
Diesem Recht auf „geninformationelle Selbstbestimmung“ misst das GenDG eine hohe Wertigkeit bei, wie an den Regelungen des § 1 und § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, aber auch § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG zu erkennen ist.39 Nach § 1 GenDG ist „Zweck dieses Gesetzes (. . . ), eine Benachteiligung auf Grund genetischer Eigenschaften zu verhindern, um insbesondere die staatliche Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu wahren.“ Als Konsequenz darf nach § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GenDG der Versicherer von dem Versicherten im Rahmen des Abschlusses von Versicherungsverträgen keine genetische Untersuchung oder Analyse verlangen. aa) Recht auf Wissen Das Recht auf Wissen und in seiner negativen Komponente das Recht auf Nichtwissen wurden zunächst, wie nicht selten in sensiblen medizinischen Bereichen, als ethische Prinzipien aufgestellt.40 Diese Ausformung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung findet sich nunmehr im GenGD als rechtliches Prinzip wieder.41 Das Recht auf Wissen beschreibt damit die positive Schutzrichtung, die das Recht des Einzelnen umfasst, seinen Körper, insbesondere seine genetische Konstitution, betreffende Informationen zu kennen.42 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind das Verständnis und die Entfaltung der eigenen Individualität eng mit der Kenntnis der für sie bestimmenden Faktoren verbunden.43 Das Bundesverfassungsgericht hat damit teilweise über die Bedeutung der genetischen Dimension für die Persönlichkeitsbildung entschieden.44 Auch wenn die Kenntnis der genetischen Konstitution mit der der genetischen Abstammung im Bezug auf die Bedeutung für die Individualisierung des Einzelnen und dem Einfluss auf seine Persönlichkeitsentfaltung nicht gleich zu setzen ist, so kann auch diese Kenntnis das
38 Daele, Genetische Rationalisierung und Grundrechtsschutz, in: Steger, Die Herstellung der Natur, S. 137 f. (Hervorhebung durch den Bearbeiter); Daele, Mensch nach Maß, S. 80 f.; ebenso DFG, Stellungnahme 2003, S. 33: mit dem Zusatz, dass es mit dem bloßen Respekt vor diesbezüglichen Entscheidungen – in Anerkennung des „Rechts auf Wissen“ und des komplementären „Rechts auf Nichtwissen“ – nicht getan sei. Recht und Ethik hätten vielmehr dafür Sorge zu tragen, dass diese Entscheidungen informiert getroffen werden können. 39 Vgl. Heyers, MedR 2009, S. 507, 509. 40 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 95; vgl. zu den philosophisch-ethischen Grundlagen Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 27, 28 zum Recht auf Nichtwissen. 41 Ein solches Recht verlangt gerade Daele, Mensch nach Maß, S. 81. 42 Vgl. Retzko, Prädiktive Medizin versus ein (Grund-)Recht auf Nichtwissen, S. 161: Es ist damit ein Abwehrrecht gegen einen restriktivem Zugang zu genetischen Tests und Informationen. 43 Vgl. BVerfG, Urt. v. 31.01.1989 – 1 BvL 17/87, NJW 1989, S. 891; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 96. 44 Vgl. Kersten, PersV 2001, S. 4, 7.
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Selbstverständnis und den eigenen Lebensentwurf prägen und damit existentiell sein.45 Die Rechtsprechung lässt sich daher in dem Sinn eines Rechts auf Wissen der eigenen genetischen Disposition erweitern.46 Jeder hat somit das Recht, seine genetischen Informationen zu kennen,47 bzw. soweit der Zugang zu diesem medizinischen Angebot offen steht, sich selbstbestimmend (d. h. nach umfassender Aufklärung) für die Durchführung eines solchen Tests und damit das Wissen um diese persönlichkeitsrelevanten Merkmale zu entscheiden.48 Davon, d. h. von der persönlichkeitsrechtlichen Wirkung zu unterscheiden sind genetische Informationen als Daten.49 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung umfasst dabei das Recht zu wissen, welche genetischen Daten über einen existieren, d. h. gespeichert sind und wie erhobene Daten zu verwenden sind. Dieser datenschutzrechtliche Aspekt, genetische Daten als personenbezogene Daten i. S. d. § 3 BDSG und Schutzgut des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aufzufassen, ist ebenfalls von Bedeutung, jedoch alleine nicht geeignet, die Dimensionen genetischer Informationen, insbesondere die potenziell persönlichkeitsprägende Wirkung, zu erfassen.50 Einschränkungen dieses Rechts auf Wissen sind grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig. Sie können ihre Grenze dort finden, wo Persönlichkeitsrechte anderer, z. B. deren Recht auf Nichtwissen, berührt werden.51 bb) Recht auf Nichtwissen Im Anschluss an ein Recht auf Wissen der eigenen genetischen Konstitution ist auch ein Recht auf Nichtwissen als Kehrseite anzuerkennen.52 Es wird im GenDG erstmals gesetzlich anerkannt.53 Wie bereits eingangs van den Daele zitiert wurde, soll jeder ein unentziehbares Recht haben, seine Gene zu kennen oder eben auch nicht zu kennen.54 Dieses Recht beinhaltet damit den Schutz des Einzelnen, gegen seinen Willen Kenntnis 45 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 96; Daele, Genetische Rationalisierung und Grundrechtsschutz, in: Steger, Die Herstellung der Natur, S. 135, 137. 46 Vgl. Kersten, PersV 2001, S. 4, 7; Lindner, MedR 2007, S. 286, 289. 47 Vgl. Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 312. 48 Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 246 ff., Das Recht auf Wissen beinhaltet jedoch keinen Anspruch auf Durchführung eines genetischen Tests, verhindert jedoch Verbote die die Erlangung des Wissens insgesamt ausschließen, S. 250 f. 49 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 98; dazu auch Simitis, Allgemeine Aspekte des Schutzes genetischer Daten, in: Analyse génétique humaine et protection de la personnalité, S. 107, 120 ff. 50 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 98. 51 Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 132. 52 Vgl. Lindner, MedR 2007, S. 286, 290; vgl. schon Abschlussbericht der Bund-LänderArbeitsgruppe „Genomanalyse“, in: Recht der Gentechnik und Biomedizin, Teil II, F., S. 12; Wiese, Gibt es ein Recht auf Nichtwissen?, in: Festschrift für Hubert Niederländer, S. 475, 484; Wollenschläger, AöR 2013, S 161, 171. 53 Vgl. Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 27. 54 Vgl. Daele, Genetische Rationalisierung und Grundrechtsschutz, in: Steger, Die Herstellung der Natur, S. 138.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
über seine genetische Disposition zu erlangen.55 Das Recht auf Nichtwissen erschöpft sich damit nicht allein in einem Verzicht auf das Recht auf Wissen, dies würde keinen ausreichenden Schutz gegen aufgedrängtes Wissen gewährleisten, sondern sein Konzept entspricht einem negativen Abwehrrecht.56 Indem das Recht auf Nichtwissen geltend gemacht wird, wird ein Grundrecht unter gleichzeitiger Nichtinanspruchnahme eines anderen in Anspruch genommen. Ein Grundrechtsverzicht liegt darin nicht.57 Es bildet damit einen Gegenpol zu der viel propagierten Maxime des Wissens. Das Recht auf Nichtwissen kann dabei im Bereich der prädiktiven Diagnostik in zwei Dimensionen betroffen sein: einerseits bei der untersuchten Person selber, andererseits bei Verwandten der untersuchten Person, soweit Rückschlüsse auf die genetische Disposition möglich sind.58 Darin liegt die Besonderheit des Rechts auf Nichtwissen. Des Weiteren kann das Recht auf Nichtwissen auf zwei verschiedene Weisen und zu zwei verschiedenen Zeitpunkten ausgeübt werden: Es kann schon die Feststellung des Risikopotenzials an sich nicht wahrgenommen werden, aber auch nach erfolgter Analyse kann eine Aufklärung über das Ergebnisse bzw. eine weitere Abklärung des festgestellten Risikos abgelehnt werden.59 Zeitlich besteht dieses Recht folglich nicht erst mit der Erhebung genetischer Daten, sondern ein effektiver Schutz verlangt schon im Vorfeld die Beachtung des Rechts auf Nichtwissen.
II. Rechtspositionen des Verwandten Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt das Recht selber über die Ermittlung, Preisgabe und Verwendung seiner persönlichkeitsrelevanten und damit auch genetischen Daten zu bestimmen. Aufgrund des Charakters genetisch bedingter Krankheitsdispositionen als vererblich und der Möglichkeit Verwandter, aber auch unbeteiligter Dritter, aus der Untersuchung des Betroffenen Rückschlüsse auf die Verwandten zu ziehen, sind neben den Rechten des Klienten damit auch die Rechte genetisch Verwandter zu beachten. Ihre Grundrechte sind potenziell betroffen, da sie die gendiagnostische Untersuchung, anders als der Klient, nicht initiieren und durchführen oder sich im Vorfeld mit dieser einverstanden erklären.
55 Vgl. Damm, MedR 1999, S. 437, 446; dazu Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 27. 56 Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 271; Wiese, Gibt es ein Recht auf Nichtwissen?, in: Festschrift für Hubert Niederländer, S. 475, 486; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 98; Tjaden, Genanalyse als Verfassungsproblem, S. 118. 57 Vgl. Retzko, Prädiktive Medizin versus ein (Grund-)Recht auf Nichtwissen, S. 138 f.; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 271. 58 Vgl. Lindner, MedR 2007, S. 290. 59 Vgl. Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 39; Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 96.
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1. Gefährdung des Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung Die genetische Analyse als solche begründet noch keinen Eingriff in das Grundrecht des Betroffenen. Vielmehr entsteht aufgrund der Wahrscheinlichkeitsprognose ex ante nur eine sogenannte Grundrechtsgefährdung.60 Diese kann jedoch in eine Rechtsgutverletzung umschlagen. a) Recht auf Nichtwissen Werden erblich bedingte genetische Anomalien festgestellt und gelangen diese dem Verwandten zur Kenntnis, so kann sein Recht auf Nichtwissen verletzt werden.61 Eine Gefährdung des Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung ist dabei unter zwei Gesichtspunkten möglich: zum einen kann es durch eine ungewollte Kenntnisnahme, vermittelt durch den Klienten, zu einer Verletzung des Rechts auf Nichtwissen kommen, zum anderen können unbeteiligte Dritte ohne Willen des Verwandten Kenntnis erhalten. Da die Verwandten trotz fehlender Entscheidungsbeteiligung Gefahr laufen – vermittelt durch den Betroffenen (oder auch den Arzt?)62 – von den Ergebnissen und eigenen möglichen Veranlagungen Kenntnis zu erhalten, steht ihr Recht auf Nichtwissen im Vordergrund. Das oben Ausgeführte gilt aus diesem Grund auch für potenziell betroffene Verwandte. Auch ihnen steht das Recht zu, ihre Gene nicht zu kennen und damit ein Abwehrrecht gegen aufgedrängtes Wissen. Dies folgt aus dem bereits genannten Umstand, dass genetisch Verwandte die Wissensgenerierung nicht selber veranlassen, jedoch Gefahr laufen aufgrund der Aussagekraft genetischer Daten gegen ihren Willen Kenntnis zu erhalten. Der Schutz vor aufgedrängtem genetischem Wissen muss unabhängig von der Initiative der genetischen Untersuchung bestehen. Der grundrechtliche Schutz, der personelle Schutzbereich, gilt unabhängig von diesem Umstand der Veranlassung. Dies bedeutet, dass im Grundsatz weder der Arzt noch der Betroffene ungefragt auf den Verwandten zugehen und ihn über die Ergebnisse aufklären dürfen (Verbot des sogenannten „unsolicited disclosure“).63 Darüber hinaus besteht auch die Gefahr, dass unbeteiligte Dritte entweder von dem Klienten selber über die möglichen Dispositionen des Verwandten informiert werden, oder aber selber aufgrund der Kenntnis der Diagnose des Klienten Rückschlüsse auf den Verwandten ziehen. Letzterem wird damit das Recht genommen, selber über die Offenbarung genetischer Daten zu entscheiden.64 b) Recht auf Wissen Als weitere Rechtsposition steht dem Verwandten ebenso das Recht auf Wissen zu. Werden genetische Anomalien festgestellt, die für den Verwandten bereits zum Zeitpunkt der 60
Vgl. Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 188. Vgl. Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 173. 62 Siehe dazu unten Kapitel 3, C. II. 63 Siehe zu dieser Problematik ausführlich unten Kapitel 3, B. II. 2. b). 64 Dazu Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 128 ff. 61
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
Untersuchung vitale Interessen begründen, so besteht die Gefahr, dass ein Verschweigen des Wissens das Recht auf Wissen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit beeinträchtigen können. Ein Anspruch auf Wissen gegenüber dem Arzt oder dem Betroffenen wird dem Verwandten jedoch nicht zugestanden. Das Recht des Betroffenen auf Privatheit geht vor, da eine Wahrung des Rechts auf Wissen nur unter gleichzeitiger Verletzung des Rechts auf Selbstbestimmung des Klienten möglich ist. Dem Recht auf Wissen des Verwandten kann dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass es ihm selber frei steht eine gendiagnostische Untersuchung durchführen zu lassen.65 2. Gefährdung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit Des Weiteren kommt eine Beeinträchtigung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit in Betracht. Mangels unmittelbarer Untersuchung, und damit fehlendem körperlichen Eingriff, wird das Grundrecht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch die genetische Untersuchung an sich nicht tangiert. Wie bereits oben für den Klienten dargelegt, schützt Art. 2 GG jedoch ebenfalls die psychische Integrität. Somit kann es auch bei Angehörigen, vermittelt durch das Wissen, zu diesen körperlichen Beeinträchtigungen kommen. Auch bei ihnen kann das Wissen negative Reaktionen verursachen, auch wenn die festgestellten Merkmale primär den Untersuchten betreffen.66 Insbesondere, da sie das Wissen unvorbereitet treffen kann, fallen die Reaktionen sogar potenziell extremer aus. Für einen potenziellen Eingriff genügt es, dass aufgrund der Wahrscheinlichkeitsaussage der Gendiagnose für den Verwandten die negativen gesundheitlichen Folgen vorhersehbar sind.
III. Achtung durch den Arzt Im Rahmen genetischer Untersuchungen und den dabei potenziell betroffenen Grundrechten geht es nicht um das Verhältnis Bürger Staat, sondern um die Arzt-PatientenBeziehung, bzw. im Fall mehrdimensionaler Zufallsfunde gar um die Arzt-PatientenVerwandten-Beziehung. Für den Arzt besteht dabei das Dilemma, dass seine Fürsorgepflicht gegenüber potenziell betroffenen Verwandten mit der Schweigepflicht kollidieren kann. In Anbetracht der Drittwirkung der genetischen Erkenntnisse stellt sich daher die Frage, wie sich die Schweigepflicht und allgemeiner die Grundrechtsbindung in dieses Drittverhältnis überführen lässt. 1. Drittwirkung der Grundrechte in der Arzt-Patienten-Beziehung Aufgrund der privatrechtlichen mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte zwischen Arzt und Patient/Klient67 und der Schweigepflicht des Arztes ist dieser grundsätzlich dazu verpflichtet, die Patientenautonomie und im Besonderen das Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung des Klienten zu achten. 65
Siehe dazu ausführlicher unten Kapitel 3, A. IV. 3. b). Vgl. Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 46 f., 219: die Reaktionen seien unabhängig davon, ob die Daten eigene Merkmale oder die des Verwandten offenbaren. 67 Siehe dazu bereits oben Kapitel 2, A. III. 3. 66
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a) Geltung der Schweigepflicht bei Zufallsfunden Das Problem des Interessenkonflikts zwischen Arzt-Klient-Verwandtem wäre, zumindest auf Seiten des Arztes für die ihn treffende Schweigepflicht, schnell „gelöst“, wenn es sich bei Zufallsfunden um sogenannte Drittgeheimnisse handeln würde, mit der Folge, dass die Schweigepflicht gegenüber den Verwandten als Geheimnisträger nicht gelten würde. aa) Drittgeheimnisse Dem Konzept der Schweigepflicht liegt die klassische bilaterale Arzt-PatientenBeziehung zu Grunde und damit die Vorstellung von medizinischen Daten, die (bis auf wenige Ausnahmen) nur den Patienten betreffen. Dass sich diese Vorstellung in Zeiten genetischer Daten nicht halten lässt, wurde hinreichend illustriert. Es stellt sich daran anschließend nun die Frage, ob Zufallsfunde als sogenannte Drittgeheimnisse zu bewerten sind und der Konflikt mit der Schweigepflicht auf diesem Weg gelöst werden könnte. Ein Geheimnis i. S. d. § 203 StGB umfasst Tatsachen, die nach dem erkennbaren Willen des Geheimnisgeschützten geheim gehalten werden sollen, nur einem begrenzten Personenkreis bekannt sind und an denen der Betroffene ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse hat.68 Nach herrschender Ansicht schützt § 203 StGB nicht nur die Geheimnisse des Patienten, sondern auch sogenannte Drittgeheimnisse, d. h. Tatsachen die der Arzt im Rahmen der Behandlung über Dritte erfährt.69 Geheimnisträger ist in diesem Fall im Grundsatz der Dritte, da es sich um ein fremdes Geheimnis handelt. Folglich kommt es auf das Geheimhaltungsinteresse und den Geheimhaltungswillen des Dritten an, dieser kann folglich nur das Einverständnis für eine Weitergabe erteilen.70 Dabei kann dem Arzt das Geheimnis auf verschiedenen Wegen zur Kenntnis gelangt sein, entweder durch Mitteilung des Patienten, aber auch wenn es der Arzt z. B. von sich aus erkennt.71 Dies ist im Falle der Diagnose einer vererbbaren Krankheit der Fall. bb) Genetische Daten als „Drittgeheimnisse“ Genetische Befunde unterscheiden sich zunächst nicht von anderen medizinischen Befunden. Auch diese unterfallen daher dem Geheimnisbegriff. Im Ergebnis handelt es sich folglich, wenn die genetische Analyse Rückschlüsse auf Dritte zulässt, um Drittgeheimnisse, die der Schweigepflicht unterfallen.72 Aufgrund der Aussagekraft genetischer Daten ist auch von einem Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen auszugehen. Auf den ersten Blick könnte diese Feststellung dazu verleiten, genetische Befunde als Eigengeheimnis des Klienten und als Drittgeheimnis des Verwandten anzusehen. Dies hätte zur Folge, dass eine Weitergabe des Befundes die Einwilligung beider erfordern wür68 Vgl. Tag in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 203 Rn. 33; Cierniak/Pohlit, in: MüKo StGB, § 203 Rn. 11. 69 Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 235; Cierniak/Pohlit, in: MüKo StGB, § 203 Rn. 77; einschränkend Ostendorf, JR 1981, S. 444, 448. 70 Vgl. Cierniak/Pohlit, in: MüKo StGB, § 203 Rn. 77 ff. 71 Vgl. Ciernak/Pohlit, MK-StGB, § 203 Rn. 76. 72 Vgl. ausführlich Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 133 f.
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de.73 Im Ergebnis ist hier jedoch, bezogen auf den genetischen Befund, nach der Person des Klienten und des Dritten zu differenzieren. Bezogen auf den Klienten kann die Aufklärung über den persönlichen genetischen Befund durch den Arzt auch ohne die Zustimmung der Angehörigen zur Offenbarung erfolgen. Eine gegenteilige Ansicht74 beruht auf einem falschen Verständnis der Verletzung des Drittgeheimnisses, würde dem Charakter des Zufallsfundes als Wahrscheinlichkeitsaussage nicht gerecht und verletzt das Recht auf Wissen des Betroffenen. Die Offenbarung des genetischen Befundes an den Ratsuchenden stellt die Diagnoseaufklärung dar und ist damit Teil des Behandlungsvertrags.75 Bei der Diagnoseaufklärung sind für die Bewertung des Drittgeheimnisses genau genommen zwei Phasen zu unterscheiden: Der Arzt klärt den Klienten zunächst nur über seinen eigenen Befund auf. Erst in einem zweiten Schritt folgt aus der Vererbungslehre, dass Rückschlüsse auf ein Drittgeheimnis möglich sind. Die Quelle des Wissens und die Erkenntnis des Vorliegens eines Drittgeheimnisses ist damit dieser Vererbungszusammenhang. Das Drittgeheimnis wird damit nur mittelbar durch die ärztliche Offenbarung mitgeteilt. Allein der Umstand, dass der Befund gegebenenfalls einen zwingenden Rückschluss auf ein Drittgeheimnis zulässt, ändert daher nichts am Vorliegen eines Eigengeheimnisses.76 Des Weiteren wird die Aufklärung nicht auf den vertraglichen Anspruch gegenüber dem Arzt, sondern davon unabhängig auf das Recht auf Wissen des Klienten gestützt. Wäre eine Einwilligung des Angehörigen erforderlich, würde die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung umschlagen.77 Dies hätte zur Folge, dass der Untersuchungswillige sich nicht autonom für eine Gendiagnostik entscheiden könnte. Sinn und Zweck der Schweigepflicht ist jedoch gerade der Schutz der Selbstbestimmung. Es würde folglich zu dem seltsam anmutenden Ergebnis kommen, dass das Schutzinstrument Schweigepflicht das geschützte Recht gerade verletzt. Zudem gilt es bei der Gendiagnostik die Besonderheit zu beachten, dass der Zufallsfund auch häufig nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage und keinen sicheren Befund offenbart. Eine sichere Aussage besteht nur für den Klienten als untersuchte Person selber. Eigen- und Drittgeheimnis weisen daher einen unterschiedlichen Grad an Gewissheit und damit auch Betroffenheit auf. Aus diesen Gründen kann die Einordnung genetischer Zufallsfunde als Drittgeheimnis für die Aufklärung des Angehörigen nicht fruchtbar gemacht werden, d. h. dass der Angehörige über das Drittgeheimnis aufgeklärt werden darf, ggf. auch ohne Einwilligung des Klienten. Wäre dem so, so würde die Schweigepflicht gegenüber dem betroffenen Klienten und dessen Recht auf Privatheit immer zurückstehen.78 Zudem liegt im Fall 73
Zur Frage der doppelten Einwilligung vgl. Cierniak/Pholit, in: MüKo-StGB, § 203 Rn. 79. Vgl. Spann/Liebhardt/Penning, Genomanalyse und ärztliche Schweigepflicht, in: Kamps/ Laufs, Arzt- und Kassenarztrecht im Wandel, S. 27, 30: durch die Untersuchung ergäben sich zwangsläufig mehrere Geheimnisherren. Die Mitteilung des Befundes an den Klienten stelle daher eine Verletzung der Schweigepflicht gegenüber den Angehörigen dar. 75 Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 239. 76 Vgl. Cierniak/Pohlit, in: MüKo StGB, § 203 Rn. 80. 77 Vgl. Lindner, MedR 2007, S. 286, 290, 294; dieses Argument lehnt Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 186 dagegen mit der Begründung ab, dass das Geheimhaltungsbegehren nicht als aktive Einwirkung auf das Selbstbestimmungsrecht eines anderen qualifiziert werden könne, da es sich seinerseits als Abschottung der eigenen Lebenssphäre darstelle. 78 Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 240. 74
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der Aufklärung des Verwandten die Konstellation gerade anders als im Fall des Klienten. Ergibt sich für den Verwandten nur eine mittelbare „Verletzung“ des Drittgeheimnisses, erfolgt die Aufklärung des Dritten über den Zufallsfund als Wahrscheinlichkeitsaussage gerade unmittelbar auf Basis des genetischen Befundes des Betroffenen. Eine Verletzung des Rechts des Klienten wäre hier unmittelbar. Eine daraus resultierende Verletzung der Schweigepflicht ist daher ohne Vorliegen einer Ausnahme oder eines Rechtfertigungsgrundes nicht möglich. Im Ergebnis muss daher, trotz Vorliegen eines Drittgeheimnisses, im Grundsatz die Schweigepflicht gegenüber dem Klienten gewahrt werden. Eine Zustimmung des Verwandten zur Offenbarung ist nicht zu fordern. Auch das GenDG geht von dieser Einordnung aus, da es die Schweigepflicht als absolut ansieht und dem Recht auf Privatheit des Klienten Vorrang eingeräumt. Die Schweigepflicht wird ausnahmslos angewendet und eine Fürsorgepflicht gegenüber den betroffenen Dritten als nachrangig bewertet. Der Arzt kann bzw. darf seiner Fürsorgepflicht nur insoweit Rechnung tragen, als dass er im Falle behandelbarer bzw. vermeidbarer Erkrankungen dem Betroffenen die Empfehlung geben muss, dass dieser wiederum potenziell Mitbetroffenen eine genetische Beratung empfiehlt, d. h. es liegt alleine in der Hand des Betroffenen, ob und wie er über die Ergebnisse aufklärt und eine genetische Beratung empfiehlt. Der Arzt ist damit gesetzlich gehindert die Schweigepflicht in dieses Drittverhältnis zu überführen.79 b) Aufklärungsrecht Gilt damit die Schweigepflicht auch für die Fälle des Zufallsfundes, steht dem Arzt nur in Ausnahmefällen ein Aufklärungsrecht gegenüber Dritten zu.80 Mangels gesetzlicher Ausnahmeregelung im GenDG kommt nur eine Einwilligung des Patienten oder das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes in Betracht. Allein die Einwilligung des Patienten genügt für den Arzt jedoch nicht eine Aufklärungsbefugnis gegenüber Drittbetroffenen anzunehmen.81 Hier liefe er Gefahr die Rechte des Verwandten zu verletzten, wenn er nicht ebenfalls dessen Einwilligung vor der Aufklärung einholen würde. Der Grundsatz der nichtaktiven Beratung und das Recht auf Nichtwissen des Verwandten weisen dem Arzt unabhängig von der Schweigepflicht Grenzen auf. Auch der Weg über § 34 StGB ist im Fall von Zufallsfunden nicht anwendbar, so dass nach allgemeinen Grundsätzen kein Aufklärungsrecht des Arztes besteht. 2. Drittwirkung der Grundrechte in der Arzt-Patient-Verwandten-Beziehung Auch im Verhältnis zwischen Arzt und Verwandtem entfalten die Grundrechte eine mittelbare Drittwirkung. Zwar besteht zwischen diesen Parteien keine schuldrechtliche Beziehung, jedoch sind die Grundrechte auch bei Auslegung und Anwendung deliktischer (§ 823 BGB) oder negatorischer (§ 1004 BGB)82 Ansprüche zu beachten. 79
Vgl. Eberbach, MedR 2011, S. 757, 762. Siehe zu den Ausnahmen oben Kapitel 2, A. II. 2. 81 Siehe dazu ausführlich unten Kapitel 3, A. IV. 3. b) und C. II. 82 Siehe hierzu z. B. die Ausführungen im Verhältnis Arbeitgeber – Verwandter bei Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 58 f. 80
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Darüber hinaus schützt § 203 StGB wie dargelegt auch die möglichen Rückschlüsse aus genetischen Daten in Bezug auf Verwandte als Drittgeheimnisse. Der Verwandte ist ebenfalls Geheimnisträger. Der Arzt hat folglich auch in diesem Verhältnis das Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung zu achten, mit der Folge, dass er auch über diese Zufallsfunde Schweigen zu bewahren hat.83 Die Schweigepflicht ist daher insoweit in das Drittverhältnis zu überführen, als dass aus dem Grundrecht zwar kein Aufklärungsrecht, jedoch ein Recht auf Verschwiegenheit des Arztes gegenüber unbeteiligten Dritten (nicht gegenüber dem Klienten) folgt.
IV. Problem des effektiven Grundrechtsschutzes Das Recht auf Wissen und das Recht auf Nichtwissen sind komplementäre Rechtspositionen, die rechtlich gesehen gleichrangig sind.84 Die abstrakte Gleichrangigkeit der beiden Rechte führt jedoch zu Konflikten zwischen Informationsrechten und -abwehrrechten des betroffenen Individuums selbst, aber auch im Verhältnis verschiedener Interessenten. Zudem verschärft diese Gleichrangigkeit den Konflikt, insbesondere da diese Rechte gleichzeitig zur Geltung kommen können. Regenbogen bezeichnet dies als „individuelle Ambivalenz der genetischen Selbstbestimmung“85 , die an dieser Stelle um die Dimension der Dritten erweitert werden soll. Es kann zu individuellen, d. h. intrapersonellen, aber auch interpersonellen Spannungsverhältnissen, Grundrechtskollisionen, kommen. Diese Erkenntnis ist wichtig, um faktische Schutzprobleme für den Betroffenen, aber auch Dritte zu erkennen. Diese gilt es bei der Anwendung von Lösungskonzepten zu berücksichtigen. Auch können Umsetzungsprobleme aus gesellschaftlichen Entwicklungen resultieren, die den Umgang mit Zufallsfunden beeinflussen.86 1. „Aktivierung“ der Rechte Ein erstes Problem, das sich auf der Umsetzungsebene stellt, ist das der effektiven Wahrnehmung des Wahlrechts zwischen dem Recht auf Wissen und dem Recht auf Nichtwissen für den Klienten, wie auch für potenziell betroffene Verwandte.87 Das Recht auf Nichtwissen weist eine paradoxe Struktur auf.88 Um eine bewusste Entscheidung als Akt der Selbstbestimmung treffen zu können und sich nicht ohne zu Wissen für ein Nichtwissen zu „entscheiden“, bedarf es einer gewissen Kenntnis von Bedeutung und Tragweite der genetischen Information, um das Recht auf Nichtwissen zu „aktivie-
83 Vgl. Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 141. 84 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 99; Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 238. 85 Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 99. 86 Vgl. dazu Kapitel 4. 87 Vgl. dazu Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 277 ff., Sie unterschlägt jedoch die Perspektive des Verwandten. 88 Vgl. Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 310.
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ren“.89 „Man muss (in gewissem Umfang) wissen, was man nicht wissen will“90 , wobei es jedoch eine Gradwanderung zwischen der Wahrung und der Aushöhlung des Schutzgehalts durch diese Aktivierung darstellt. Diesem Gedanken trägt das GenDG für die Perspektive des Klienten durch die Aufklärung und Beratung im Vorfeld des Tests Rechnung.91 Zwar kann man davon ausgehen, dass jemand, der einen Humangenetiker aufsucht um die Möglichkeit des Wissens seiner genetischen Grundlagen abstrakt weiß92 , jedoch sorgt die Aufklärung dafür, dass er über Möglichkeiten, Nutzen aber auch Risiken informiert wird. Gleiches gilt für den Zeitpunkt nach dem Test. Hier weiß der Klient, dass eventuell relevante Daten vorliegen, kann sich dennoch bewusst gegen die Kenntnisnahme entscheiden. Wie sieht es jedoch mit einer bewussten Entscheidung potenziell Verwandter für ein Wissen oder Nichtwissen aus? Diese gehen weder selbst zum Humangenetiker, noch findet für sie ein vorgeschalteter Kommunikationsprozess statt. Auch für sie darf jedoch, in Bezug auf die Frage der effektiven Rechtsausübung, nichts anderes gelten. Die Verwandten müssen ebenfalls über ein „Wissen“ der entscheidungserheblichen Tatsachen verfügen. Der Einwand, dass das Recht auf Nichtwissen auf diese Weise nicht gewahrt, sondern verletzt würde, ist naheliegend. Seine Befolgung würde jedoch dem Wert des Rechts auf Nichtwissen als Akt der Selbstbestimmung nicht gerecht. Informationen können so unkonkret gehalten werden, dass sie keine Vollinformation beinhalten.93 Dies ist gerade das Problem der Gradwanderung zwischen dem effektiven Schutz des Rechts auf Nichtwissen und dessen Verletzung. Bei der genetischen Diagnostik hat der Klient die Wahl, ob er eine genetische Untersuchung durchführt oder nicht, und zum anderen, ob er von dem Ergebnis Kenntnis haben möchte oder nicht. Um eine Wahlentscheidung überhaupt treffen zu können, muss die Möglichkeit von der genetischen Information keine Kenntnis zu erlangen überhaupt als Option wahrgenommen werden können.94 Dem Betroffenen dürfen die „Grundinformationen“ für die Rechtsausübung „nicht unter Berufung auf (s)ein Recht auf Nichtwissen vorenthalten werden“95 ; der Schutzgehalt liefe erst recht leer. Grundvoraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Nichtwissen soll daher die Sicherstellung einer
89 Taupitz, Das Recht auf Nichtwissen, in: Festschrift für Wiese, S. 597: Das Grundproblem des Rechts auf Nichtwissen sei, dass es das Wissen um die Möglichkeit des Wissens erfordere; Damm, MedR 1999, S. 437, 447; Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung in der Praxis, S. 48; a. A. Kern, Unerlaubte Diagnostik – Das Recht auf Nichtwissen, in: Dierks et al., Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 56, 64 f. es genüge die Information über die Existenz des Rechts auf Nichtwissen. 90 Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 310. 91 Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 277. 92 Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 278 nennt es den „Zustand faktischen absoluten Nichtwissens“, wenn sich jemand schon dafür entscheidet, den Arzt nicht aufzusuchen. Gegen dieses absolute Nichtwissen entscheide man sich schon durch den Arztbesuch. 93 Vgl. Taupitz, Das Recht auf Nichtwissen, in: Festschrift für Wiese, S. 597. 94 Vgl. Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung in der Praxis, S. 48. 95 Taupitz, Das Recht auf Nichtwissen, in: Festschrift für Wiese, S. 597, 602.
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guten Entscheidungsgrundlage durch eine sorgfältige Aufklärung sein.96 Bezeichnet wird dies als „aufgeklärtes Nichtwissen“.97 Eine effektive Wahrnehmung der Rechte erfordert daher eine diese Gesichtspunkte beachtende Aufklärung. Wissen ist (in begrenztem Umfang) Voraussetzung der Ausübung des Rechts auf Nichtwissen, es sei denn der Betroffene entscheidet sich grundsätzlich für ein Nichtwissen. Dieses Umsetzungsproblem wurde für den Klienten im GenDG bedacht, für den Verwandten erscheint es mehr als fraglich, ob § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG diesem Gedanken hinreichend Rechnung trägt. 2. „Intrapersonelle“ Konflikte Für den Betroffenen besteht vor und nach Durchführung einer genetischen Analyse der individuelle Konflikt, von welchem der beiden Rechte er Gebrauch machen soll. Diese Situation kann zu „intrapersonellen“ Konflikten führen, die zwar durch eine umfassende Beratung nicht gelöst werden, diese aber eine wichtige Hilfestellung bieten kann. Diese Hilfestellung ist umso wichtiger, um zu gewährleisten, dass ohne äußeren Druck eine freie Entscheidung sichergestellt werden kann. Die äußeren Einflüsse können aus verschiedenen Richtungen drohen. Einen Aspekt, den es für die eigene Entscheidung zu berücksichtigen gilt, ist der der möglichen Implikationen für Dritte. Äußere Erwartungen sind geeignet zu einem Test und entsprechendem Wissen zu drängen. Schon im Vorfeld ist es wichtig, über diesen Problemkreis und den Umgang mit diesem nachzudenken. Dies ist einer der Aspekte, bei denen äußerer Umstände die eigene Entscheidung beeinflussen. Hinzu kommt, dass vor allem das Recht auf Nichtwissen mit „faktischen Durchsetzungsproblemen konfrontiert“ sein kann.98 Es wird vorgebracht, dass im medizinischen Kontext das Wissen gegenüber Nichtwissen als vorrangig bewertet würde, da das Wissen und die sich darauf stützende Diagnose Voraussetzung für eine Therapie und für die Erfüllung der ärztlichen Pflichten ist.99 Der Arzt werde nicht unbeeinflusst bleiben von einem möglichen Haftungsrisiko, wenn ihm ein Verstoß gegen die ärztliche Aufklärungspflicht vorgeworfen wird. Er verhelfe daher tendenziell eher dem Recht auf Wissen und damit der Informationsweitergabe an den Klienten zur Wirksamkeit, als dem Recht auf Nichtwissen.100 Dieser Befürchtung begegnet jedoch das GenDG. Dieses verbietet es dem Arzt, der Weitergabe des Wissens grundsätzlich den Vorzug zu geben. Er darf den Klienten über die 96 Vgl. Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 40. 97 Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 278, der Gedanke finde sich in § 9 GenDG: Aufklärung über Wesen, Bedeutung und Tragweite der genetischen Untersuchung. Sie vergleicht diesen Fall bildlich mit dem bewussten nehmen und dem verpassen einer Ausfahrt auf der Autobahn. 98 Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 238. 99 Vgl. Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung in der Praxis, S. 49. 100 Vgl. Taupitz, Das Recht auf Nichtwissen, in: Festschrift für Wiese, S. 583, 599; Damm, MedR 1999, S. 437, 447; Simitis, Allgemeine Aspekte des Schutzes genetischer Daten, in: Analyse génétique humaine et protection de la personnalité, S. 122 f.: der Haftungsdruck reiche aus, um ein Recht auf Nichtwissen zu übergehen; Diesem Kritikpunkt soll durch eine klare Rechtslage und leitenden Richtlinien entgegengetreten werden. Genau dieses Ziel verfolgt das GenDG.
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Ergebnisse nur mit ausdrücklicher Einwilligung aufklären und gegenüber Dritten nicht zu Gunsten des Wissens die Schweigepflicht brechen. Diesbezüglich entlässt das Gesetz den Arzt aus der – wenigstens rechtlichen – Verantwortung bzgl. der Entscheidung zwischen Wissen und Nichtwissen.101 Ein Haftungsrisiko wegen unterlassener Aufklärung des Klienten oder eines Angehörigen besteht daher nicht. Eine sich potenziell entwickelnde Bedrohung bei der Wahrnehmung des Rechts auf Nichtwissen besteht jedoch außerhalb der Arzt-Klienten-Beziehung. Die zunehmende Verbreitung genetischer Tests und die eventuell damit einhergehenden gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Erwartungen und Zwänge könnten dazu führen, dass sich das „Recht auf Kenntnis weitgehend (zu einem) Selbstläufer in Konformität mit dem Entwicklungsprozess der Technik (entwickelt); demgegenüber markiert das Recht auf Nichtwissen aus dem Blickwinkel der Technikentwicklung eher einen defensiv antizyklischen Irrläufer.“102 Angesprochen ist damit eine etwaige „Pflicht zu wissen“ aus zwei möglichen Blickwinkeln: Diese Pflicht ist sowohl Voraussetzung für ein eigenverantwortliches Gesundheitsverhalten, als auch für eine Informationsverantwortung gegenüber Dritten.103 In diesem Zusammenhang kommt dem Recht auf Nichtwissen eine zukünftig schwierige, aber wichtige Rolle zu, um das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zukunftstauglich zu schützen. Es besitzt eine richtungsweisende Funktion im Rahmen des sich wandelnden Gesundheits- und Verantwortungsverständnisses. 3. „Interpersonelle“ Konflikte In Folge einer genetischen Analyse kann es aufgrund der gleichzeitigen Betroffenheit der Rechte des Klienten und Verwandten und damit verschiedener Grundrechtsträger zu Grundrechtskollisionen kommen. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und damit auch das Recht auf Wissen und Nichtwissen unterliegen dabei Schranken nach den Prinzipien der Grundrechtskollision.104 Bei solchen „interpersonellen“ Spannungsverhältnissen stellt sich daher die Frage der Ausgleichsmöglichkeiten und gegebenenfalls der Abwägung der beiden Rechtspositionen.105 Nach dem Grundsatz von der Einheit der Verfassung gelten alle Grundrechte als prinzipiell gleichrangig. Demgemäß bedarf es des Ausgleichs zwischen den kollidierenden Grundrechten im Weg der praktischen Konkordanz. Nur wenn dies nicht möglich ist, ist im Wege der Abwägung einem Grundrecht der Vorzug zu geben.106 Der beschriebene Konflikt stellt hier eine besondere Herausforderung dar, da in einem auf „Individualität und Personalität“ und nicht auf multilaterale Beziehungen
101
Vgl. Eberbach, MedR 2011, S. 757, 762. Damm, Prädiktive Gesundheitsinformationen, Persönlichkeitsrechte und Drittinteressen, in: Colombi Ciacchi, Haftungsrecht im dritten Millenium, S. 313. 103 Siehe dazu unten Kapitel 4, B. II. 104 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 6. 5. 1997 – 1 BvR 409/90, BVerfGE 96, 56; siehe dazu auch Kersten, PersV 2011, S. 4, 8. 105 Vgl. Damm, Ethik Med 2002, S. 110, 115. 106 Vgl. BverfG, Urt. v. 25.2.1975 – 1 BvF 1/74 – Schwangerschaftsabbruch I, BVerfGE 39, 1, 43; BVerfG, Beschl. v. 17.7.1984 – 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, 213, 228; Jarass/Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 52; Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 134. 102
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
ausgerichteten medizin-ethischen System es schwer ist, einen Ausgleich zwischen den Rechtsgütern zu schaffen.107 Eine Rechtskollision ist dabei zwischen Klient und Verwandten in verschiedenen Richtungen denkbar: zunächst kann ein Konflikt zwischen dem Recht auf Verschwiegenheit des Betroffenen und einem Recht auf Wissen des Verwandten entstehen, wenn Letzterer ein vitales Interesse an den Informationen hat. Auch besteht die Möglichkeit, wenn der Klient die Analyse durchführen lassen möchte, dass Verwandte von den Ergebnissen Kenntnis erhalten ohne dies zu wollen. Des Weiteren besteht die Gefahr, dass bei Vornahme der genetischen Analyse Dritte aktiv oder mittelbar von der genetischen Disposition der Verwandten gegen deren Willen erfahren. a) Ausgleichsmöglichkeiten Eine Kollision kann ausgeschlossen und ein Ausgleich hergestellt werden, wenn zunächst der Betroffene eine Einbeziehung potenziell betroffener Verwandter in die genetische Beratung und Analyse befürwortet und damit eine familienorientierte Beratung und Untersuchung ermöglicht. Erteilt der Verwandte seine Einwilligung in die Beratung und Untersuchung mit all ihren Konsequenzen, so sind Rechtskonflikte ausgeschlossen. Eine solch einvernehmliche Lösung ist zu bevorzugen, ein entsprechendes Modell im Gesetz jedoch nicht vorgesehen. Der Vorschlag einer familienorientierten Beratung sollte einen Aspekt in der genetischen Beratung des Untersuchungswilligen darstellen.108 Ein Grundrechtsausgleich über eine Einwilligung der Betroffenen wird jedoch im Konfliktfall nicht vorliegen. Das Kriterium der Einwilligung ist nicht geeignet, den Konflikt zu lösen, wenn eine der Parteien die Einwilligung verweigert. Die Forderung einer zwingenden vorherigen Einwilligung des Verwandten würde das Recht auf Wissen des Untersuchungswilligen aufgrund der damit eingeführten Fremdbestimmung verletzten, da eine versagte Einwilligung einem Verbot der Untersuchung gleichkäme.109 Einen Ausgleich würde dies folglich nicht darstellen, da im Falle der Weigerung des Verwandten das Recht auf Wissen des Betroffenen immer zurückstehen würde. Einen Ausgleich bei widerstreitenden Interessen liefert dieser Weg folglich nicht. b) Grundrechtskollisionen Im Konfliktfall ist ein Ausgleich zwischen den betroffenen Rechten nicht möglich. Im Anschluss stellt sich damit die Frage, wie die verschiedenen Varianten der Grundrechtskollision zu behandeln sind. 107 Vgl. Retzko, Prädiktive Medizin versus ein (Grund-)Recht auf Nichtwissen, S. 166; „Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Selbstbestimmungsrecht sind von der Verfassung jedem Individuum zugestanden. Da wir aber alle keine abstrakten Individuen, sondern Familienmitglieder und Angehörige sind, können diese Rechte schnell zu einem Witz werden.“; Dörner, Der gute Arzt, S. 135, ausführlich zu der Frage der Einbeziehung Dritter in die Arzt-Patienten-Beziehung, S. 129 ff.; ein eindrückliches Beispiel nennt Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 135: im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs ist ein Ausgleich zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und dem Recht auf Leben des nasciturus naturbedingt nicht möglich. 108 Siehe dazu ausführlich unten Kapitel 5, B. II. 2. b). 109 Siehe dazu ausführlicher unten unter c).
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aa) Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Klienten – Recht auf Wissen des Verwandten Ein Spannungsverhältnis besteht nicht nur bzgl. des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung des Klienten und dem Recht auf Nichtwissen des Verwandten. Als Kehrseite kann Letzterer auch ein Interesse an dem Wissen bezüglich der genetischen Erkenntnisse haben.110 Dieses tritt potenziell in Konflikt mit dem Recht des Klienten, selber über die Weitergabe seiner Daten zu entscheiden und diese gegebenenfalls für sich zu behalten. Im Rahmen der Anerkennung und rechtlichen Ausgestaltung des Rechts auf Wissen und Nichtwissen erweist sich damit der Zufallsfund als vielfältig problematische Konstellation. Eine Verletzung des Rechts auf Wissen des Verwandten durch den Arzt käme nur in Betracht, wenn man von einem Informationsanspruch des Verwandten und spiegelbildlich von einer Informationspflicht des Arztes ausginge. Verbietet man dem Arzt hingegen die Mitteilung aufgrund der Schweigepflicht sowie aufgrund der möglichen Verletzung des Rechts auf Nichtwissen des Verwandten, so verletzt man potenziell damit zugleich das Recht auf Wissen, wenn der Verwandte um seine genetische Disposition oder um die Durchführung der Untersuchung an sich wissen will. Es entsteht ein Dilemma, da der Arzt nicht weiß, für was sich der Verwandte entscheiden würde, Wissen oder Nichtwissen. Ein Verbot der Wissensweitergabe würde damit die eine Grundrechtsgefährdung für das Recht auf Nichtwissen ausschließen, dabei zugleich jedoch eine neue für das Recht auf Wissen begründen. Ein Ausgleich für den Verwandten wäre daher nur möglich, wenn der Arzt dessen Willen entsprechend handeln kann, d. h. sich der Verwandte einen Willen bilden kann, ob er Kenntnis erhalten möchte oder nicht.111 Eine Vorabinformation mit dem Ziel der Willensbildung des Verwandten über den geplanten Gentest könnte jedoch die Rechte des Testwilligen tangieren, wenn dieser Geheimhaltung wahren möchte. Auch wenn die Information anonym erfolgt, ist es je nach Anzahl der in Betracht kommenden Testwilligen in der Familie möglich, den Betreffenden zu ermitteln. Vielleicht auch ungeliebte Verwandte würden möglicherweise über diesen persönlichen Umstand der Testdurchführung und genetischen Beratung informiert. Einen sicheren Grundrechtsausgleich zwischen den Parteien stellt dieser Weg der Vorabinformation daher nicht dar. Eine Anonymisierung ist jedoch nicht generell als Konfliktlösung auszuschließen.112 Sie kann je nach Konstellation auch erfolgreich erfolgen, z. B. wenn mehrere Testwillige in Betracht kommen, ist ein konkreter Rückschluss nicht möglich. Ein später ansetzender Anspruch auf Wissen des Verwandten gegenüber dem Betroffenen im Wege der Abwägung ist ebenfalls nicht zu befürworten. Das Recht auf Verschwiegenheit ist im Grundsatz als vorrangig zu bewerten. Verwandten steht grundsätzlich der Weg offen, sich genetisch testen zu lassen und damit eine für sie sogar sicherere Aussa110
Vgl. Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrechte, S. 4. Vgl. Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 149; Ginge man von der mutmaßlichen Einwilligung des Verwandten aus, wenn der Arzt im gesundheitlichen Interesse des Verwandten handelt, so wäre eine Rechtsverletzung zumindest dann ausgeschlossen. Eine mutmaßliche Einwilligung ist jedoch für den Fall genetischer Untersuchungen aus den bereits genannten Gründen abzulehnen. 112 So Article L1131-1-2 Abs. 4 Code de la Santé publique. 111
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
ge erhalten zu können. Die Nachteile können so minimiert werden.113 Eine Verletzung des Rechts auf Privatheit des Betroffenen würde dagegen bei einem generellen Zurücktreten des Rechts auf Privatheit mit Sicherheit eintreten.114 Dies würde die selbstbestimmte Entscheidung des Betroffenen erheblich einschränken, könnte den Testwilligen gar von der Durchführung der Untersuchung abschrecken. Der Konflikt ist daher im Wege des Ausgleichs oder der Abwägung nicht zu lösen. bb) Recht auf Wissen des Klienten – Recht auf Nichtwissen des Verwandten Ein spiegelbildlicher und in der Literatur mehr diskutierter Konflikt ist der zwischen dem Recht auf Wissen des Untersuchungswilligen und dem Recht auf Nichtwissen des Verwandten. Aufgrund der Aussagekraft festgestellter Mutationen für genetisch Verwandte besteht die Gefahr einer Verletzung ihres Rechts auf Nichtwissen, wenn der Verwandte Kenntnis von möglichen Krankheitsdispositionen erhält. Eine Rechtsverletzung kann dabei vom Arzt oder Betroffenen ausgehen, direkt oder mittelbar erfolgen. (1) Kein Ausgleich Grundsätzlich hat auch der Testwillige das Recht auf Nichtwissen des Verwandten zu achten. Er muss daher bedenken, dass das Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung auch für Dritte Geltung beansprucht, die eine divergierende Entscheidung bezüglich der Testung haben können.115 Die „sicherste“ Wahrung des Rechts auf Nichtwissen ließe sich erreichen, wenn der Testwillige bei entsprechender Interessenlage von dem Test Abstand nimmt. Das in diesen Fällen jedoch das Recht auf Wissen des Betroffenen Vorrang einzuräumen ist, wurde schon an anderer Stelle unter dem Aspekt der Gefahr der Fremdbestimmung für den Betroffenen angerissen. In der Literatur wird überwiegend davon ausgegangen, dass sich das Recht auf Wissen durchsetzt, da ansonsten das „Selbstbestimmungsrecht in Fremdbestimmung umschlagen“ würde.116 Ein schonender Ausgleich läge nicht vor, wenn man zum Schutz der Rechte des Verwandten die Durchführung des Tests untersagen oder von einer Einwilligung abhängig machen würde. Dies würde zwar einen wirksamen Schutz des Rechts auf Nichtwissen der Verwandten gewährleisten, jedoch einen zu weitgehenden Eingriff in das Recht auf Wissen des Klienten darstellen und damit einem Verbot gleichkommen.117 Von Gewicht ist hier insbesondere, dass ein „Verbot“ das Recht auf Wissen des Testwilligen in jedem Fall verletzen würde, im Fall des Verwandten die Durchführung des Tests jedoch nur dessen Recht tangiert wird, wenn für ihn relevante Mutationen festgestellt werden, die zudem nur eine Risikoaussage begründen. Dem Betroffenen auf der anderen Seite würde die Möglichkeit genommen, auf 113 Ausgeschlossen werden sie damit jedoch nicht, da für gesunde Menschen meist kein Anlass besteht sich testen zu lassen. 114 Vgl. Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 260. 115 Vgl. DFG, Stellungnahme 2013, S. 26 (abrufbar unter http://www.dfg.de/dfg_profil/reden_ stellungnahmen/index.html (letzter Abruf 9.11.2013)). 116 Lindner, MedR 2007, S. 286, 290; Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 254 f. 117 Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 304; ausführlich auch Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 255.
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evtl. bestehende Ängste oder auch Symptome zu reagieren und gegebenenfalls für ihn gesundheitsrelevante Entscheidungen zu treffen. (2) Abwägung: Überwiegen des Rechts auf Wissen Auch im Rahmen einer Abwägung sprechen die überwiegenden Gründe gegen ein Verbot.118 Hier ist der Frage nachzugehen, welches Recht sich durchsetzt, wenn eine Person gestützt auf ihr Recht zu Wissen eine Gendiagnostik durchführen möchte, ein durch Zufallsfunde potenziell Betroffener unter Berufung auf sein Recht auf Nichtwissen dies jedoch ablehnt (vorausgesetzt er hat die entsprechende Kenntnis). In Anbetracht der mit der Gendiagnostik für den Testwilligen verbundenen Möglichkeiten, z. B. der möglichen Therapie oder Verhinderung einer Erkrankung, spricht viel dafür diese Fremdbestimmung nicht zuzulassen. Scherrer bewertet es gar als einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, wenn der Klient nicht selbstbestimmt den Test durchführen lassen könne und ihm damit eventuell verbundene Behandlungsmöglichkeiten entgehen.119 Für ein Zurückstehen der Rechte des Verwandten spricht zudem, dass genetische Diagnosen oder Dispositionen nicht sicher getroffen werden können, sondern nur das Risiko einer Erkrankung besteht. Eine generelle Einwilligung ließe diesen Umstand unberücksichtigt. Des Weiteren weist Scherrer zu Recht darauf hin, dass ein Verbot, wenn auch für Dritte eventuell am effektivsten, in der Problemlösung zu früh ansetzen würde. Die potenzielle Beeinträchtigung des Rechts auf Nichtwissen Dritter tritt nicht bereits mit der genetischen Untersuchung, sondern erst mit der Mitteilung des Ergebnisses ein.120 Damit ist jedoch nicht gesagt, dass mögliche Konfliktlösungen nicht schon zu diesem frühen Zeitpunkt ansetzen können, bevor es eventuell zu einem unlösbaren Dilemma kommt. Werden Dritte bereits vor Durchführung der Untersuchung in den Beratungs- und auch Entscheidungsprozess eingebunden, werden die Parteien für die jeweiligen Rechte sensibilisiert und können potenzielle Konflikte vermeiden.121 In welche Richtung eine mögliche gerichtliche Entscheidungen zu dieser Frage gehen wird, kann orientiert an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betreffend das Recht des Vaters auf Kenntnis der Abstammung des ihm rechtlich zugeordneten Kindes gemutmaßt werden.122 Danach verletzt ein heimlicher Vaterschaftstest das Persönlichkeitsrecht des Kindes. Nach Aussage des Bundesverfassungsgerichts hat ein Recht auf Nichtwissen (hier bezogen auf die Abstammung) „grundsätzlich ein geringeres Gewicht gegenüber dem Recht auf Kenntnis der Abstammung, weil allein dieses letztlich einen dauerhaften Beitrag zur eigenen Identitätsfindung sowohl des Mannes als auch des Kindes leisten kann“. Überträgt und verallgemeinert man diese Entscheidung auf die Kon118
Vgl. Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 185 f. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 304; vgl. Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 187 verweist ebenfalls auf die Bedeutung genetischer Daten für den Gesundheits- und Lebensschutz. 120 Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 305. 121 Siehe unten ausführlich Kapitel 5, B. II. 2. b). 122 BVerfG, Urt. v. 13.02.2007 – 1 BvR 421/05, Rz. 72 bei juris, BVerfGE 117, 202; zuletzt OLG Hamm, Urt. v. 6.02.2013, 14 U 7/12, zur Auskunft über Samenspender: das Interesse des Kindes, seine Abstammung zu erfahren, sei höher zu bewerten als die Interessen des Arztes und der Samenspender an einer Geheimhaltung der Spenderdaten. Geheimhaltungsinteressen der Mutter und des gesetzlichen Vaters des Kindes seien laut Gericht im konkreten Fall nicht berücksichtigt worden. 119
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
stellation der genetischen Selbstbestimmung, so geht das Recht auf Wissen und die aktive Auseinandersetzung mit dem Ergebnis dem Recht auf Nichtwissen vor.123 (3) Geringstmöglicher Eingriff Eine Wahrung des Rechts auf Nichtwissen, zumindest in Teilen, könnte erreicht werden, wenn man Wege sucht, die Kenntnisnahme des Verwandten zu verhindern, oder eine ungewollte Kenntnis verhindert, indem man den wahren Willen des Verwandten in Erfahrung bringt. Letztere Möglichkeit würde voraussetzen, dass der Verwandte im Vorfeld der Untersuchung über dieses informiert wird und in Erfahrung gebracht wird, wie seine Einstellung zu diesen Tests ist. Dem Arzt ist jedoch aufgrund seiner Schweigepflicht und dem Verbot aktiver Beratung ein Zugehen auf den Verwandten untersagt. Auch wenn die Information in anonymisierter Form erfolgen würde, wären den Verwandten Rückschlüsse und Nachforschungen möglich,124 eine Verletzung des Rechts auf Verschwiegenheit des Testwilligen damit wahrscheinlich. Auch ein generelles Zurückstehen des Rechts auf Privatheit, allein der Umstand, dass man sich über eine genetische Analyse beraten lässt, fällt schon unter das Recht auf Privatheit, ist aus den bereits genannten Gründen nicht zu befürworten. Eine verpflichtende vorherige Einbeziehung kann im Wege der Abwägung daher nicht erzielt werden. Eine Verhinderung der ungewollten Kenntnisnahme in der Beziehung zwischen Untersuchtem und Verwandtem ist auch bei einem Verbot der direkten oder ausdrücklichen Information nur schwer möglich, da auch mittelbare Informationen eine Rechtsverletzung begründen können. Ein innerfamiliäres Redeverbot oder das Erfordernis einer Einwilligung sind keine geeigneten Ausgleichswege. Ein Verbot jeglicher Information würde sich in der Praxis nur schwer realisieren lassen, da die Achtung des Rechts „durch soziale Realitäten modifiziert“125 wird: Symptome einer Krankheit lassen teilweise Rückschlüsse auf eine genetische Ursache zu, aber auch die Einleitung einer bestimmten Therapie oder Änderung der Lebensweise können auf eine bestimmte Krankheit hinweisen. Die innerfamiliäre Kommunikation lässt sich nicht unterbinden, so dass das Recht auf Nichtwissen faktisch innerhalb einer Familie nur schwer zu schützen ist. Sie werden damit durch die Untersuchung des Testwilligen faktisch dazu gezwungen, sich mit der Frage der Kenntnisnahme auseinander zu setzen, ihnen wird eine aktive Entscheidung abverlangt.126 Es entsteht folglich eine Kollision zwischen dem Recht auf Wissen des Getesteten und dem Recht auf Nichtwissen des Dritten,127 wenn die „sozialen Realitäten“ nicht vermieden werden können. Dieses Ergebnis bedeutet jedoch nicht, dass das Recht auf Nichtwissen im Anschluss nicht zu beachten wäre. In diesen Kontext gehört daher auch die Frage, ob der Betroffene, oder gar der Arzt, die Verwandten (ungefragt) über die genetische Disposition direkt informieren darf oder soll.128 Eine mittelbare Kenntnisnahme lässt sich nicht verhindern, 123
Vgl. Kersten, PersV 2011, S. 4, 8. Vgl. Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 258. 125 Stumper, Informationelle Selbstbestimmung und DNA-Analysen, S. 231. 126 Vgl. Kersten, PersV 2011, S. 4, 5. 127 Vgl. Damm, MedR 2004, S. 1, 4. 128 Siehe dazu unten Kapitel 3, C. II. 1. 124
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aber eine aktive Information, die das Recht auf Nichtwissen verletzten kann, ohne dass der Betroffene daran ein berechtigtes Interesse hat, ist zu verhindern. Auf diesem Weg kann zumindest teilweise dem Recht auf Nichtwissen Rechnung getragen werden.129 cc) Recht auf Wissen und informationelle Selbstbestimmung des Klienten – Recht auf Wissensweitergabe und Schweigen des Verwandten Aufgrund der genetischen Vererbung besteht im Fall von Zufallsfunden für den Verwandten des Weiteren die Gefahr, dass unbeteiligte Dritte über den Untersuchungswilligen Kenntnis von seinen genetischen Dispositionen erhalten. Luthmann differenziert hier danach, ob der Untersuchte oder der Arzt ausdrücklich seine Rückschlüsse auf einen bestimmten Verwandten weiter kommuniziert oder ob Dritte auf Grundlage der Kenntnis der Ergebnisse des Untersuchten aus eigenem Wissen diesen Schluss ziehen.130 Für die erstgenannte Konstellation der ausdrücklichen Weitergabe des „Wissens“ über verwandte Dritte gilt zunächst, dass von Seiten des Arztes eine Rechtsverletzung aufgrund der Geltung der Schweigepflicht auch bei Drittgeheimnissen verhindert wird. Dem Arzt ist es grundsätzlich gesetzlich nach § 203 StGB untersagt, anderen unbeteiligten Personen Drittgeheimnisse und damit, wie erläutert, auch Zufallsfunde in Bezug auf konkrete Verwandte zu offenbaren. Auch eine mittelbare Verletzung über eine Offenbarung des Gesundheitszustands des Betroffenen droht nicht, da auch diese Mitteilung gesetzlich unterbunden wird, natürlich mit Ausnahme einer erteilten Einwilligung des Betroffenen. Für den Klienten schlägt Luthmann ein Verbot der ausdrücklichen Weitergabe den Verwandten betreffende Erkenntnisse vor, um eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zumindest für diese Fallkonstellation auszuschließen.131 Anders liegt der Fall bei der nur mittelbaren Weitergabe, d. h. der Weitergabe seiner eigenen Gesundheitsdaten durch den Klienten. Hier könnte eine Rechtsbeeinträchtigung nur durch ein umfassendes Kommunikationsverbot, auch innerhalb sozialer Beziehungen verhindert werden. Zum erstgenannten Vorschlag ist zu sagen, dass einem Verbot ausdrücklicher Kommunikation zumindest keine Rechtsposition des Untersuchten, die eine (potenzielle) Grundrechtsbeeinträchtigung des Verwandten rechtfertigen könnten, entgegensteht. Er hat weder ein berechtigtes Interesse noch ein Recht Dritte über von ihm gewonnene Erkenntnisse über den Gesundheitszustand Verwandter zu informieren. Dieses Verbot ist jedoch lediglich geeignet, die Grundrechtsbeeinträchtigung in einem Randbereich auszuschließen. Auch bei einem diesbezüglichen Verbot wird der Betroffene, wenn er das Bedürfnis hat, mit Dritten über seinen eigenen Gesundheitszustand sprechen. Dieses Recht ist vom seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt, so dass ein umfassendes Kommunikationsverbot folglich keinen Ausgleich, sondern vielmehr eine neue Rechtsbeeinträchtigung des Betroffenen darstellen würde.132 Ein solches hätte zur Folge, dass 129 Vgl. Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 260 ff. 130 Vgl. Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 140. 131 Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 140, 142, 256 f. 132 Siehe zum Vorschlag eines innerfamiliären Redeverbots unten Kapitel 4, B. II. 1. b) bb).
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
der Betroffene die Folgen der Untersuchung alleine seelisch bewältigen müsste und sich nach außen nichts anmerken lassen dürfte. Ein solches Verbot wäre geeignet, die ohnehin mit einer Analyse verbundenen Belastungen noch zu verstärken oder gar im Falle von Symptomen bestimmten Erklärungen auszuweichen bzw. sich gar zu isolieren. Solch weitgehende Einschränkungen des Betroffenen sind in Anbetracht der nur mittelbaren und nur potenziellen Betroffenheit Verwandter auch im Wege der Abwägung nicht zu rechtfertigen.133 dd) Zwischenergebnis Die Grundrechtskollision tritt potenziell in verschiedenen Varianten auf. Für das Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung sind damit die intra- aber vor allem die interpersonellen Konflikte, die „sozialen Realitäten“, von besonderer Bedeutung. Eine zentrale Rolle spielt dabei der effektive Schutz des Rechts auf Nichtwissen. Eine rein isoliert bilaterale Betrachtung erscheint hier nicht mehr möglich. Diese komplexe Interessenlage ist im Weg des Ausgleichs oder der Abwägung kaum oder nicht zu lösen, so dass der Weg des geringstmöglichen Eingriffs zu wählen ist.
B. Gendiagnostikgesetz: Einfachgesetzliche Regelung des Zufallsfundes Im Zentrum soll im Folgenden der Zufallsfund in der Gendiagnostik stehen. Dieser hat in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG eine besondere Regelung erhalten, die jedoch die lang anhaltende Diskussion zu der Problematik nicht beenden konnte. Nach der Darstellung der Entstehungsgeschichte soll daher im Einzelnen auf das gewählte gesetzliche Konzept und die damit verbundenen Rechtskonflikte eingegangen werden.
I. Regelung des Zufallsfundes im GenDG: Entstehungsgeschichte Das am 01.02.2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz (GenDG)134 widmet sich neben zahlreichen Fragestellungen den beschriebenen Problemkreisen und dem hier genauer zu untersuchenden Zufallsfund an versteckter Stelle in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG. Es ist das Ergebnis eines langwierigen Gesetzgebungsprozesses.135 Dieser beruht darauf,
133 Für die Konstellation des Arbeitnehmers siehe Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse, S. 143 f. 134 Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen v. 31.07.2009, BGBl. I S. 2529. 135 Bereits 1988 hat die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Genomanalyse“ ihre Arbeit begonnen, Abschlussbericht 1990; Schlussbericht der Enquête Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, 14.5.2002 BT-Drs. 14/9020; Gesetzesentwurf zum GenDG v. 03.11.2006, BT-Drs. 16/3233, Gesetzesentwurf der Bundesregierung v. 13.10.2008, BT-Drs. 16/10532; aber bereits am 03.07.2001 BT-Drs. 14/6640 Antrag „Anwendung von Gentests in Medizin und Versicherungen“; damit dauerte der Prozess über 20 Jahre.
B. Gendiagnostikgesetz: Einfachgesetzliche Regelung des Zufallsfundes
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dass die Gendiagnostik eine äußerst sensible und konfliktreiche Materie ist136 , die daher nur sehr schwer unter rechtlich abstrakte Wertungen zu fassen ist. Dies verwundert in Kenntnis der Komplexität der medizinischen Grundlagen und der „personellen Reichweite“ genetischer Daten nicht. Der Anwendungsbereich des Gesetzes und damit auch der Regelung bezüglich des Zufallsfundes ist in § 2 GenDG geregelt. Danach werden nicht alle Bereiche der Gendiagnostik erfasst. Insbesondere für den Bereich der Forschung besteht eine Bereichsausnahme. Des Weiteren, wie bereits unter dem Aspekt der Untersuchungsmethoden angerissen, gilt das GenDG nicht umfassend. Die Phänotypanalyse stellt nach dem GenDG keine genetische Diagnostik dar (vgl. § 3 GenDG). Im Fokus der Entstehungsgeschichte soll im Folgenden jedoch die hier interessierende Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG stehen. 1. Vorarbeiten Der Gesetzgeber konnte für das GenDG auf eine Vielzahl von Vorarbeiten von mehr als zwanzig Jahren zurückgreifen.137 Zahlreiche Stellungnahmen und Empfehlungen verschiedener Institutionen und Kommissionen sollten die Materie aufbereiten.138 Die Einbindung verschiedener Kommissionen illustriert die starke Beziehung zwischen Recht und Ethik und den interdisziplinären Charakter des Bereichs der Gendiagnostik.139 Den Beginn des Entwicklungsprozesses bildete der Einsatz der Benda Kommission zu dem Thema „In-Vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“140 und ihren Bericht von 1985.141 Daran schloss sich der Bericht der Enquête Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ von 1987142 an, die u. a. bereits die Aspekte der Beratung und des Versicherungsrechts ansprachen. Unmittelbar darauf beschäftigte sich die BundLänder-Arbeitsgruppe „Genomanalyse“ mit der Problematik. Diese griff das Problem der Weitergabe genetischer Daten an Dritte im Zusammenhang mit der präkonzeptionellen Beratung auf.143 Der Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Genomanalyse“ wurde 1990 vorgelegt.144 Dieser Bericht thematisierte bereits ein Recht auf Nichtwissen und die Bedeutung der Kommunikation. Auch die Stellungnahme des Ethikrats beim Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zu prädiktiven Gentests aus dem Jahr 2000 ist zu 136 Vgl. GfH, Positionspapier 2007, Punkt 7: die Mitteilung sei eine moralische Pflicht; abrufbar unter http://www.gfhev.de/de/leitlinien/gfh.htm; Nach § 1 Abs. 2 der Satzung ist es Aufgabe der Gesellschaft, auf allen Gebieten der Humangenetik Forschung, Lehre und Praxis zu fördern. 137 Vgl. hierzu ausführlich Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 98 ff.; Damm, MedR 2004, S. 1, 2. 138 Vgl. Damm, Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 2007, S. 145, 146. 139 Vgl. Spranger, Recht und Bioethik , S. 47. 140 Ein Zusammenschluss des Bundesministeriums für Forschung und Technologie und des der Justiz unter Vorsitz des ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Ernst Benda. 141 BMBF, In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie, Bericht der gemeinsamen Arbeitsgruppe des Bundesministers für Forschung und Technologie und des Bundesministers der Justiz, in: Gentechnologie, Bd. 6. 142 BT-Drs. 10/6775. 143 Vgl. Gretter, ZRP 1994, S. 1; BAnz 28.08.1990, S. 26 ff. 144 Bund-Länder-Arbeitsgruppe, Abschlussbericht Genomanalyse, BAnz. 1990 Nr. 161a v. 29.08.1990.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
erwähnen.145 An sie schloss sich die Enquête Kommission „Recht und Ethik in der Modernen Medizin“ an, die Mitte 2002 ihren Abschlussbericht vorlegte.146 Die Kommission wurde mit dem Auftrag eingesetzt, unter Berücksichtigung ethischer, verfassungsrechtlicher, sozialer, gesetzgeberischer und politischer Aspekte die Fortschritte der Medizin, die Forschungspraxis sowie die daraus resultierenden Fragen und Probleme zu untersuchen und grundlegende und vorbereitende Arbeiten für notwendige Entscheidungen des Deutschen Bundestages zu leisten.147 Sie thematisierten bereits die Frage, wie man mit den zwangsläufig über Verwandte anfallenden Daten umgehen soll. Ihr Vorschlag ging dahin, dass im Falle der Trägerschaft einer genetischen Veranlagung von Verwandten der beratenen Person, für die es Therapie- oder Präventionsmöglichkeiten gibt, die humangenetische Beratung auch die Empfehlung umfassen solle, diese Verwandten auf die Möglichkeit einer gendiagnostischen Untersuchung aufmerksam zu machen.148 Darüber hinaus spricht sie von einer Grundrechtskollision zwischen den Rechten Dritter und des Betroffenen, die das Recht auf Wissen einschränken könnte.149 All diese Vorarbeiten waren Grundlage des politischen Meinungsbildungsprozesses. 2. Professionsinterne Leitlinien Betrachtet werden sollen zudem professionsinterne Regeln und Regelwerke von Selbsthilfegruppen, die vom Gesetzgeber herangezogen wurden.150 Die Schwierigkeit die Interessen des Klienten mit denen der Verwandten in ein angemessenes Verhältnis zu bringen, wird insbesondere am „Positionspapier“ der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH) deutlich.151 Beim Spannungsverhältnis zwischen der Schweigepflicht gegenüber dem Klienten und der Fürsorgepflicht des Arztes gegenüber den Drittbetroffenen spricht die GfH von einem „prinzipiell unlösbaren Konflikt“ für den Arzt, der über wichtige Informationen verfügt, die der Betroffene jedoch nicht weitergibt. Egal wie er sich verhalte, würde er wichtige Handlungsprinzipien verletzten. Zur Lösung dieses Problems kämen keine allgemein gültigen Regelungen in Betracht, sondern eine Lösung solle über eine Abwägung zwischen den betroffenen Interessen im Einzelfall erfolgen. Des Weiteren sprechen sie jedoch von einer „moralischen Verpflichtung“ des Betroffenen, seine Familienangehörigen zu informieren, wenn die Befunde Rückschlüsse auf gesundheitliche Risiken der Familienmitglieder zulassen und auf dieser Grundlage Vorsorgemaßnahmen oder eine Behandlung in Betracht kämen.
145 Ethik-Beirat-BMJ, Prädiktive Gentests. Eckpunkte für eine ethische und rechtliche Orientierung, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2001, S. 443. 146 Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020; vgl. hierzu ausführlich Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 106 ff. 147 Vgl. Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 7. 148 Vgl. Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 126, 168. 149 Vgl. Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 214. 150 Vgl. dazu Damm, MedR 2004, S. 1, 8. 151 GfH, Positionspapier 2007, S. 8 f.
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Des Weiteren behandeln Richtlinien der Bundesärztekammer152 die Problematik. Die Bundesärztekammer entwickelt als das maßgebliche Organ der ärztlichen Selbstverwaltung praktische Handlungsempfehlungen, um einheitliche Regelungen der ärztlichen Berufspflichten und Grundsätze für die ärztliche Tätigkeit herbeizuführen.153 Ihnen kommt daher große praktische Bedeutung zu. Die Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen der Bundesärztekammer154 enthalten den Grundsatz, dass „der betreuende Arzt den Patienten darüber (informiert), dass er (der Patient) die Personen mit erhöhtem Krebsrisiko unter seinen Verwandten auf dieses Risiko hinweisen sollte. Auch die Information über die Möglichkeit einer prädiktiven Diagnostik, die verfügbaren Früherkennungsmaßnahmen und präventiven therapeutischen Optionen sollen dem Patienten überlassen werden“. Daneben soll jedoch für den Arzt die Option bestehen, Dritte selber zu informieren, wenn „der Patient seine Angehörigen nicht informiert und die Verwandten vom gleichen Arzt mitbehandelt werden, wobei die Fürsorge gegen die ansonsten bestehende Schweigepflicht abzuwägen ist“. Des Weiteren sind die Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik der Bundesärztekammer von 2003155 von Bedeutung. Diese sehen für den Fall des Konflikts zwischen dem Recht der Verwandten auf Kenntnis und dem Recht auf Geheimhaltung des Betroffenen eine „Abwägung nach dem Grad der Betroffenheit und nach den Möglichkeiten der Geheimhaltung“ vor. Der Arzt habe im Falle von Rückschlüssen auf Dritte, die bei ihm in Behandlung sind, möglichst mit Zustimmung des Betroffenen eine Weitergabe der Informationen in Betracht zu ziehen, aber auch das Recht auf Nichtwissen zu achten. Im Ergebnis begründen diese Modelle eine ärztliche Informationsmöglichkeit auch gegenüber Dritten, jedoch unter drei bestimmten Bedingungen: Nichtinformation des Dritten durch den Klienten, Mitbehandlung des Verwandten durch denselben Arzt156 und Abwägung der betroffenen Rechtsgüter. Diese Abwägungslösung wurde vom Gesetzgeber nicht aufgegriffen.
152 Nach Angabe der BÄK sind Richtlinien „meist von Institutionen veröffentlichte Regeln (. . . ), die dem einzelnen Arzt einen geringen Ermessensspielraum einräumen. Ihre Nichtbeachtung kann Sanktionen nach sich ziehen. (. . . )“, siehe http://www.bundesaerztekammer.de Stichwort Richtlinien, Leitlinien, Empfehlungen, Klammerzusatz durch den Bearbeiter. 153 Siehe http://www.bundesaerztekammer.de 154 Vom 29.05.1998, DÄBl. 95, Heft 22, S. A-1396: Die Richtlinien sind nicht an das Gendiagnostikgesetz angepasst und können daher nur unter Beachtung der geänderten Rechtslage als Handlungsanleitung für die Fachkreise dienen; abrufbar unter http://www.bundesaerztekammer.de – Home > Richtlinien, Leitlinien, Empfehlungen > Richtlinien (letzter Abruf 9.11.2013). 155 Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik vom 14.02.2003, DÄBl. 100, Heft 19 (09.05.2003), S. A-1297; auch hier gibt die BÄK an, dass die Richtlinien nicht an das Gendiagnostikgesetz angepasst sind und daher nur unter Beachtung der geänderten Rechtslage als Handlungsanleitung für die Fachkreise dienen können; abrufbar unter http://www.bundesaerztekammer.de – Home > Richtlinien, Leitlinien, Empfehlungen > Richtlinien. 156 Dieses Kriterium ist nicht frei von Kritik, die Fürsorgepflicht des Arztes besteht nicht nur gegenüber Patienten, sondern ist ein allgemein medizin-ethisches Prinzip.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
3. Gesetzgeberischer Meinungsbildungsprozess Im Gesetzgebungsverfahren wurden verschiedene, teilweise durch die vorgenannten Richtlinien bereits eingeführten Möglichkeiten diskutiert, um den Interessenkonflikt im Falle von Zufallsfunden zu regeln.157 Durchgesetzt hat sich eine als Vorrangregel bezeichnete Lösung zugunsten des Selbstbestimmungsrechts der untersuchten Person. Diese gesetzliche Regelung wird als abschließend beurteilt158 , insbesondere gegenüber einer Anwendung des § 34 StGB, so dass ein Rückgriff auf anderweitige Rechtfertigungsgründe und eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter ausgeschlossen ist. Zur Darstellung der Vielfalt der Meinungen der Problematik und als Grundlage einer später anzustellenden Bewertung sollen die verschiedenen Lösungsansätze kurz dargestellt werden. a) Stellungnahmen und Gesetzesvorschläge Am 01.02.2010 ist das Gendiagnostikgesetz (GenDG) in Kraft getreten.159 Für dieses Gesetz lagen verschiedene Entwürfe vor: 2001 hat der Ad-hoc-Arbeitskreis „Genomanalyse“ der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder den Entwurf für ein „Gesetz zur Sicherung der Selbstbestimmung bei genetischen Untersuchungen“160 vorgelegt. Unter Ziff. 17 sah der Entwurf insbesondere vor: (Abs. 2): Ist das Ergebnis nach ärztlicher Erkenntnis auch für Verwandte der betroffenen Person von Bedeutung, hat die Ärztin oder der Arzt bei der nachgehenden Beratung der betroffenen Person auch auf das Recht der Verwandten hinzuweisen, ihre Erbanlagen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Will die betroffene Person die Verwandten gleichwohl unterrichten, soll die Beratung auch die Möglichkeit umfassen, die Ärztin oder den Arzt mit der Unterrichtung von Verwandten der betroffenen Person zu beauftragen. (Abs. 3): Gegen den Willen der betroffenen Person oder ihres gesetzlichen Vertreters darf die veranlassende Ärztin oder der veranlassende Arzt Verwandte oder Partner der betroffenen Person nur dann von dem Untersuchungsergebnis unterrichten, wenn und soweit dies zur Wahrung erheblich überwiegender Interessen dieser Personen erforderlich ist.
Dieser Entwurf sah anders als § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG noch einen expliziten Hinweis des Arztes gegenüber dem Klienten auf die Rechte des Verwandten, sein Recht auf Nichtwissen, vor. Darüber hinaus gab sie dem Arzt auch die Möglichkeit, in Ausnahmefällen selber auf den Verwandten zuzugehen, wenn eine Interessenabwägung zu Gunsten der Rechte des Verwandten ausfällt. Auch die Möglichkeit den Arzt mit der „Hiobsbotschaft“ zu beauftragen, wurde explizit erwähnt. Im gleichen Jahr brachte die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen einen Entwurf für ein „Gesetz zur Regelung von Analysen des menschlichen Erbgutes (Gentest-Gesetz)“ ein.161 2004 legte daraufhin das Bundesministerium für Gesundheit einen „Diskussionsentwurf“ 157
Vgl. Damm, MedR 2004, S. 1, 9. Vgl. Heyers, MedR 2009, S. 507, 510; a. A. wohl Kern, GenDG, § 10 Rn. 17. 159 Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen v. 31.07.2009, BGBl. I S. 2529. 160 Abrufbar unter https://www.datenschutzzentrum.de/material/themen/gendatei/gente_ge.htm (abgerufen am 09.05.2012). 161 Abgedruckt in Dierks et al., Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 167 ff. 158
B. Gendiagnostikgesetz: Einfachgesetzliche Regelung des Zufallsfundes
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für ein „Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz)“ vor. Es folgten weitere Entwürfe, der Gesetzesentwurf zum GenDG162 und ein Gesetzesentwurf der Bundesregierung.163 Bereits der Gesetzesentwurf der Grünen zum GenDG aus dem Jahre 2006 beinhaltete die Regelung des heutigen § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG. Zur Begründung dieser Regelung wurde vorgebracht: „Zwar verwehrt die informationelle Selbstbestimmung der ratsuchenden Person es dem behandelnden Arzt nicht nur eine aktive oder gegebenenfalls aufdrängende Beratung zu leisten, sondern auch unaufgefordert Dritten (Verwandten) Informationen über genetische Daten zu vermitteln. Wenn aufgrund der vermuteten oder bereits diagnostizierten Erkrankung oder gesundheitlichen Störung anzunehmen ist, dass Verwandte der betroffenen Person ebenfalls betroffen sind und es Therapie- oder Vorbeugemaßnahmen gibt, so hat die ärztliche Person, die die genetische Beratung durchführt, der betroffenen Person jedoch zu empfehlen, dass sie diesen Verwandten eine genetische Beratung empfiehlt. Ein direktes Zugehen der ärztlichen Person auf diese Verwandten wird damit von der Regelung nicht erfasst und wäre rechtlich auch nicht zulässig. Dies verböte sich zum einen aufgrund des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, zum anderen jedoch auch wegen des Selbstbestimmungsrechts der potenziell betroffenen Verwandten.“164
Der Gesetzgeber räumt damit dem Recht des Betroffenen auf Privatheit Vorrang ein und verlagert die Fragestellung der Weitergabe der Erkenntnisse aus der Arzt-PatientBeziehung in die familiäre Beziehung. Mit der deutschen Lösung annähernd identisch ist die österreichische Lösung in § 70 GTG (Gentechnikgesetz), die bereits 1998 verabschiedet wurde. Diese sieht unter einem eigenständigen Paragraphen mit der Überschrift „Einbeziehung von Verwandten“ vor: Der die genetische Analyse veranlassende Arzt hat, 1. wenn zur Beurteilung des Ergebnisses einer genetischen Analyse die Einbeziehung von Verwandten der untersuchten Person erforderlich ist, oder 2. wenn anzunehmen ist, dass eine ernste Gefahr einer Erkrankung von Verwandten der untersuchten Person besteht, der untersuchten Person zu empfehlen, ihren möglicherweise betroffenen Verwandten zu einer humangenetischen Untersuchung und Beratung zu raten.
Dieses Gesetz diente mutmaßlich als Vorlage für den Gesetzesentwurf der Grünen,165 jedoch mit dem Unterschied zum deutschen GenDG, dass die Regelung eine eigenständige und damit nicht so versteckte Regelung der Problematik enthält. b) Wissenschaftliches Meinungsbild Auch in der Wissenschaft geht das Meinungsbild über den Umgang mit Zufallsfunden im Bereich der Gendiagnostik stark auseinander. Unterschieden wurden neben zahlreichen Lösungsmodellen überwiegend die auch in Gesetzesentwürfen und Leitlinien zu findende Vorrangregel, die Abwägungslösung und eine Kombinationslösung. 162
BT-Drs. 16/3233. BR-Drs. 633/08; BT-Drs. 16/10532. 164 BT-Drs. 16/3233, S. 34. 165 So Damm, Individualisierte Medizin und Patientenrecht, in: Honnefelder, Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, S. 203, 222. 163
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
aa) Vorrangregel Die Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG hat sich für eine Vorrangregel166 entschieden. Dies bedeutet, dass dem Recht des Betroffenen auf Verschwiegenheit, gegenüber etwaigen vitalen Drittinteressen Vorrang eingeräumt wird. Eine Möglichkeit für den Arzt in Ausnahmesituationen auf die Verwandten zuzugehen, lässt dieser Lösungsweg nicht zu. Eine Möglichkeit der Interessenabwägung oder Ausnahme der Schweigepflicht existiert nicht. Die Entscheidung liegt allein in der Hand des Betroffenen. bb) Abwägungslösung und Kombinationslösung Die Befürworter einer Abwägungslösung finden sich vornehmlich in den bereits erwähnten Stellungnahmen und Positionspapieren von Berufsverbänden167 und internationalen Organisationen.168 Diese lassen in Konfliktfällen die individuellen Rechte zugunsten familiärer Interessen zurücktreten, wenn Letztere überwiegen. Sie sehen es als ethische Pflicht des Betroffenen an, Verwandte zu informieren.169 Nicht weit entfernt von dieser Lösung liegt der Weg über die sogenannte Kombinationslösung. Im Ergebnis vertreten diejenigen eine Kombinationslösung, die eine Abwägung nach § 34 StGB170 in Ausnahmefällen zulassen.171 Der dargestellte Entwurf des Ad-hocArbeitskreises „Genomanalyse“ enthielt eine solche Kombinationslösung, da nach Abs. 3 der Ziff. 17 bei dem Überwiegen der Interessen der Verwandten dem Arzt die Möglichkeit gegeben wurde, auf die Verwandten zuzugehen. Dieser Ansatz wird auch trotz der gesetzgeberischen Entscheidung für die Vorrangregel noch vertreten und die Regelung des GenDG damit als nicht abschließend betrachtet.172
166 Vgl. Damm, Informed Consent und informationelle Selbstbestimmung in der Genmedizin, in: Festschrift für Laufs, S. 725, 738. 167 Vgl. z. B. Bundesärztekammer, Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik, DÄBl. 2003, A 1297, A 1303: „Besondere Schwierigkeiten kann die Tatsache bereiten, dass die Ergebnisse molekulargenetischer Untersuchungen häufig Rückschlüsse auch auf genetisch verwandte Dritte zulassen, die an der Untersuchung nicht beteiligt waren. Durch eine genetische Diagnostik gerät also unter Umständen das Recht auf Kenntnis der eigenen genetischen Konstitution mit dem Recht auf persönliche und informationelle Selbstbestimmung der Verwandten in Konflikt. Hier ist eine Abwägung nach dem Grad der Betroffenheit und nach den Möglichkeiten einer Geheimhaltung erforderlich.“ 168 Vgl. Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 243. 169 Vgl. Report of WHO, Human Genetics and Noncommunicable Diseases, S. 5. 170 Meist wird dabei eine Parallele zu der Rechtsprechung des BGH und dessen Lösungsansätzen für den Bereich der Gefahr einer HIV-Infektion für den Bereich der Gendiagnostik befürwortet. Siehe oben Kapitel 2, C. I. 2. 171 Vgl. Heyers, MedR 2009, S. 507, 509 folgt diesem Ansatz wohl im Ergebnis; Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 238; Damm, Prädiktive genetische Tests: Gesellschaftliche Folgen und rechtlicher Schutz der Persönlichkeit, in: Honnefelder et al., Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 201, 223; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 265. 172 So Kern, GenDG § 10 Rn. 17: Er geht ohne nähere Begründung und unter Verweisung auf die Rechtsprechung im Falle der Gefahr einer HIV-Infektion davon aus, dass der Arzt den Verwandten direkt informieren darf, wenn dieser ebenfalls Patient bei ihm ist. Er verweist jedoch darauf, dass das Recht auf Nichtwissen dagegen sprechen könne, so wohl OLG Koblenz, Beschl. v. 01.02.2012 – 5 W 63/12, MedR 2012, S. 742; DER, Stellungnahme 2013, S. 175.
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cc) Genetische Daten als gemeinsames Rechtsgut Über diese drei Unterteilungen hinaus gibt es vielfältige Lösungsmodelle. Teilweise wird auch in Anlehnung an die Besonderheit genetischer Daten, ihrer naturbedingten weitreichenden Aussagekraft, in Erwägung gezogene genetische Daten als eine Art „gemeinsames Rechtsgut“ mit einer gemeinsamen Ausübungsbefugnis zu behandeln. Diese genetischen Daten würden allen Familienmitgliedern gleichermaßen gehören. Diese Ansicht schränkt die Rechte des Klienten am weitesten ein, da sie schon ein individuelles Recht auf Selbstbestimmung bzgl. der eigenen genetischen Disposition ablehnen. Spann, Liebhard und Penning, die sich schon sehr früh zu dieser Problematik äußerten, verlangen für die Fälle der Betroffenheit mehrerer Personen bei medizinischen Daten eine vom klassischen Fall der Schweigepflicht abweichende Betrachtungsweise. Innerhalb der betroffenen Gruppe sollte die durch die Schweigepflicht geschützte genetische Information als „eine Art gemeinsames Rechtsgut“173 behandelt werden.174 Dies hat zur Folge, dass der Arzt alle Mitglieder dieser Gruppe ohne Einwilligung des Betroffenen informieren darf. Die Notwendigkeit einer Rechtfertigung nach § 34 StGB soll nicht bestehen. In diese Richtung argumentiert auch Henn,175 wenn er annimmt, dass die Ausgangslage für die Schweigepflicht bei familiär erblich genetischen Eigenschaften nicht vorläge, da der Schweigepflicht die Vorstellung zugrunde liege, dass medizinische Informationen über ein Individuum in der Regel keine schützenswerten Interessen Dritter enthalte. Aus diesem Grund seien genetische Informationen kein individuelles Alleineigentum, sondern in Form einer Verpflichtung zur aktiven Weitergabe mit anderen Familienmitgliedern zu teilen.176 In diesen Zusammenhang gehört auch die Diskussion zum sogenannten „family property“, wonach der Einzelne nur ein Glied der Generationen-Kette sei. Genetische Daten sagen über alle etwas aus und nicht nur über den Einzelnen. Der genetische Berater solle als eine Art Treuhänder die Daten verwalten.177 dd) Entscheidung einer externen Instanz/Ethik-Kommission Teilweise wird auch in Ergänzung der Abwägungsregel vertreten, dass die Entscheidung über die Weitergabe genetischer Daten an Dritte nicht alleine vom Arzt getroffen werden könne.178 Es sei problematisch die Entscheidung nur in die Hand des Arztes zu legen, da dieser in der Regel von dieser Aufgabe überfordert sei. Seine Informationsmöglichkeiten könnten bei möglicherweise einem großen und wohl auch teils unbekannten
173 Spann/Liebhardt/Penning, Genomanalyse und ärztliche Schweigepflicht, in: Kamps/Laufs, Arzt- und Kassenarztrecht im Wandel, S. 27, 33; vgl. Leung et al., BMJ 2000, S. 1466: in dieser ethischen Debatte vertritt Weijer, BMJ 2000, S. 1466 die Ansicht, dass die Weitergabe allein eine Frage familiärer Verpflichtungen sei und nichts mit Rechten zu tun habe; dagegen Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 121. 174 Vgl. Powers, Das Buch Ich Nummer 9, S. 15 spricht von Daten, die zugleich seiner weiteren Familie gehören. 175 Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 348: ein Eingreifen des Arztes sieht er dennoch als ultima ratio an. 176 Ebenso Leung et al., BMJ 2000, S. 1464. 177 Vgl. Gevers, Med Law 1998, S. 163. 178 So Art. 19 GUMG.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
Kreis Betroffener überschritten werden.179 Gretter schlägt aus diesem Grunde, gestützt auf die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und der daraus resultierenden Aufgabe, positive Maßnahmen zur Förderung individueller Gesundheit zu ergreifen, vor, gesetzlich den Erhalt dieser Informationen durch die zuständige Gesundheitsbehörde zu regeln und eine staatliche Informationspflicht gegenüber dem Betroffenen einzuführen.180 Die Informationen müssten jedoch so gefasst werden, dass sie nicht sofort den gesamten Inhalt weitergeben, um eine Wahl zwischen dem Recht auf Nichtwissen und Wissen zu ermöglichen. Neben diesem Modell haben teilweise andere Staaten ein ähnliches Konzept entwickelt, in denen der Konflikt außerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung gelöst werden soll, indem eine neutrale Institution herangezogen wird. Diesen Ansatz verfolgt die gesetzliche Lösung in der Schweiz. Nach dieser kann der Arzt sich bei der zuständigen Behörde in Ausnahmefällen von seiner Schweigepflicht entbinden lassen.181 In Australien können Patienten mit familiär gehäuft auftretenden Tumorerkrankungen sich an ein „Familial Cancer Service“ wenden und es mit der Benachrichtigung und Beratung Verwandter beauftragen. Dieses Kommunikationsmodell existiert ebenso in Finnland.182 ee) Antizipierte Einwilligung In der amerikanischen Wissenschaft wurde zur Lösung der Problematik des Drittbezugs genetischer Daten das Modell einer antizipierten Einwilligung diskutiert.183 Nach diesem Modell soll vor der genetischen Analyse auf die Bedeutung der Informationen für Verwandte hingewiesen und auf eine Einwilligung zur Offenbarung hingewirkt werden.184 Teilweise wird sogar in Betracht gezogen, wie im Bereich der Forschungsstudien bereits angesprochen, die antizipierte Einwilligung als zwingende Voraussetzung für die Durchführung des Tests zu statuieren.185 c) Diskussion Jede dieser Ansichten hat ihre Vor- und Nachteile, da es in Anbetracht der Komplexität und der Einzelfallabhängigkeit des potenziellen Interessenkonflikts eine Ideallösung nicht geben kann. Keine der vorgeschlagenen Lösungen kann sowohl den Rechten des Klienten 179
Vgl. Gretter, ZRP 1994, S. 24, 25. Gretter, ZRP 1994, S. 24, 28. 181 Vgl. Art. 19 GUMG, ausführlicher dazu unten Kapitel 3, B. II. 2. d) bb). 182 Vgl. Henn, Schweigepflicht und Datenschutz bei genetischer Beratung, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 103, 111, mit dem Hinweis, dass in diesen Staaten eine staatliche primäre Gesundheitsversorgung eine größere Rolle spielt als in Deutschland. 183 Vgl. President’s Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine and Biomedical and Behavioral Research, 1983, S. 43: „In such circumstances prospective screenees should be advised prior to testing of the value of informing at risk relatives and efforts should be made to elicit their voluntary consent to disclosure. (. . . ) Making access to the test conditional upon prior agreement to disclose information may be justifiable.“ 184 Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 246 f. 185 Vgl. President’s Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine and Biomedical and Behavioral Research 1983, S. 43; zu dieser Thematik Gevers, Med Law 1988, S. 161, 162. 180
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als auch den Rechten potenziell betroffener Verwandter im Ganzen Rechnung tragen. Es geht somit darum, den Interessen soweit wie möglich zur Geltung zu verhelfen. Die Frage, ob der Vorrangregel, Abwägungslösung oder Kombinationslösung der Vorzug zu geben ist, hängt davon ab, ob man im Interesse der Verwandten eine Ausnahme der Schweigepflicht grundsätzlich zulassen will und darüber hinaus, ob allein dieser Aspekt tauglich ist, dem Konflikt zu begegnen. Dieser Frage soll im Zusammenhang der Bewertung der gesetzlichen Lösung des GenDG nachgegangen werden.186 Die Behandlung genetischer Daten als „gemeinsames Rechtsgut“ ist dagegen abzulehnen. Dieser Vorschlag würde ein grundsätzliches Durchbrechen des Vertrauensgrundsatzes und einem Aussetzen der Schweigepflicht in den Fällen der Gendiagnostik gleich kommen.187 Innerhalb von Familien, und wir reden nicht nur über den engsten Familienkreis wie Eltern und Geschwister, sondern auch über die Verwandtschaft höheren Grades, zu denen der Betroffene nicht zwingend eine enge Beziehung pflegen muss, würde die Schweigepflicht nicht mehr gelten. Dies käme der Nichtanwendung dieser medizinethischen Prinzipien in der Gendiagnostik gleich. Des Weiteren könnte auch diese Betrachtung den Besonderheiten genetischer Diagnosen nicht gerecht werden. Der Klient ist mit Sicherheit von der genetischen Analyse tangiert, da seine Veranlagung Untersuchungsgegenstand war. Der Verwandte ist jedoch nur vermittelt durch den Klienten berührt. Diese nur indirekte Betroffenheit wird durch die bloßen Risikoaussagen verstärkt. Für den Verwandten ist daher überhaupt nicht sicher, ob „sein Rechtsgut“ Gegenstand der Untersuchung war.188 Es kann auch sein, dass er nicht Träger der Mutation ist. Des Weiteren hätte diese Ansicht in konsequenter gedanklicher Fortführung die Notwendigkeit der Einwilligung potenziell betroffener Verwandte, als dann ja Rechtsgutinhaber, in die genetische Analyse zur Konsequenz. Der Testwillige könnte damit nicht mehr ohne Zustimmung des Verwandten sein Recht auf Wissen ausüben. Dies stellt eine abzulehnende Fremdbestimmung dar. Der Gedanke der antizipierten Einwilligung, bzw. der Ansatz, im Vorfeld über die Implikationen für Verwandte hinzuweisen und auf eine gemeinsame familiäre Entscheidung für die Diagnose hinzuwirken, ist dagegen im Ansatz zu befürworten.189 Die Idee, diese Einwilligung als zwingende Voraussetzung zu statuieren, weist jedoch erhebliche Nachteile auf. Die zwingende antizipierte Einwilligung kann zu einer ablehnenden Entscheidung des Betroffenen in Bezug auf eine medizinisch sinnvolle Untersuchung führen. Es kann abschreckende Wirkung haben, wenn eine Untersuchung nur unter der Bedingung durchgeführt werden darf, schon vorab auf das Recht auf Privatheit zu verzichten, und damit sein Recht im Ergebnis nie absolut bestehen würde. Auch weist diese Lösung ein praktisches Problem auf. Das Verlangen einer Einwilligung lässt unbeachtet, dass Einwilligungen widerruflich sind.190 Macht der Betroffene von diesem Recht Gebrauch, so scheidet 186
Siehe dazu Kapitel 5. Vgl. Gevers, Med Law 1988, S. 161, 163: Ein bloße biologische Verbindung könne dies nicht rechtfertigen und verletzte die Privatsphäre. Er befürwortet daher ein Festhalten an der Schweigepflicht. 188 Als Ausnahme ist hier erneut der Fall Chorea Huntingtons zu nennen: wenn ein Nachkomme positiv getestet wird ist damit auch die 100%ige Trägerschaft eines Elternteils festgestellt. Diese Konstellation ist jedoch die Ausnahme. 189 Siehe zu dieser Möglichkeit Kapitel 5, B. II. 2. b) bb). 190 Vgl. Eser/Sternberg-Lieben, in Schönke/Schröder, StGB, § 223 Rn. 46. 187
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eine von der Einwilligung getragene Offenbarung aus. Der Konflikt bleibt ungelöst. In Betracht zu ziehen ist daher nicht die strenge Form der Einwilligung, sondern die Berücksichtigung dieses Aspekts in der Beratung im Vorfeld der Untersuchung. Hier können bei entsprechender Bereitschaft der Beteiligten im Vorfeld Konflikte vermieden, das Recht auf Privatheit gewahrt und die Betroffenen für diese Frage sensibilisiert werden.
II. Regelung des Zufallsfundes im GenDG: Lösungskonzept An dieser Stelle stellt sich die Frage, in welcher Weise das GenDG der Problematik des Zufallsfundes Rechnung getragen hat beziehungsweise Rechnung tragen konnte. Dazu soll im Einzelnen auf die betroffenen Rechtsgüter im Kontext des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG eingegangen werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Kommunikationsmodell des GenDG. 1. Kommunikationsmodell in der Gendiagnostik In der Gendiagnostik spielen die Schweigepflicht und das informed-consent-Prinzip ebenfalls eine tragende Rolle für den Patientenschutz.191 Aufgrund der Aussagekraft genetischer Daten wird die Vertraulichkeit genetischen Wissens besonders betont. Für die Arzt-Klienten-Beziehung steht daher die Aufklärung und Beratung im Zentrum. Die Humangenetik charakterisiert sich aus diesem Grund selbst als „sprechende Medizin“192 , da aufgrund der extremen Techniklastigkeit der Genetik die Kommunikation im ArztKlienten-Verhältnis eine besondere Rolle spielt. Auch das GenDG betont die kommunikativen Notwendigkeiten durch die ausführliche Regelung der Beratung und Aufklärung. Diese Entwicklung lässt die Bedeutung der Aufklärung weiter zunehmen.193 Nach dem Konzept des GenDG, es unterscheidet in § 9 und § 10 zwischen der Aufklärung und der genetischen Beratung, ist die Durchführung der Genanalyse daher in einen kommunikativen Kontext eingebettet, bestehend aus einer Aufklärung über Wesen, Bedeutung und Tragweite der genetischen Untersuchung vor Erteilung der Einwilligung und einer genetischen Beratung vor und nach der Untersuchung. Besondere Bedeutung hat dieses Konzept, da der Humangenetik der finale Bezug zwischen Symptom, Diagnose, Therapie und Gesundung überwiegend fehlt und damit nicht therapeutisch ausgerichtet ist.194 Die Motivation des Einzelnen, den Arzt aufzusuchen, ist daher eine grundsätzlich andere, da nicht körperlichen Beschwerden die Kontaktaufnahme veranlassen. Das Wissen um familiär existierende Erkrankungen oder erste Symptome und die damit begründete Sorge um seine eigene oder die Gesundheit von Verwandten lässt den Wunsch nach Klärung 191 Vgl. Regenbogen/Henn, MedR 2003, S. 152, 155; Damm, Informed Consent und informationelle Selbstbestimmung in der Genmedizin, in: Festschrift Laufs, S. 725, 726. 192 Regenbogen/Henn, MedR 2003, S. 152, 154. 193 Vgl. Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 57 Rn. 14; Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 83. 194 Vgl. Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang/Henn, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 341, 344; Regenbogen/Henn, MedR 2003, S. 152, 154; Krahnen, Chorea Huntington. Das Recht auf Wissen versus Das Recht auf NichtWissen, in: Schröder-Kurth, Medizinische Genetik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 66, 68.
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aufkommen.195 Angesprochen ist damit erneut die Aussagekraft genetischen Wissens für Dritte, die der bisherigen Arzt-Patienten-Beziehung und damit auch Beratung unbekannt ist. Diese soziale Reichweite gilt es zu beachten. a) Maßgebliche ethische Prinzipien Im Rahmen der genetischen Diagnostik und Beratung werden vielfach drei Grundsätze genannt.196 aa) Freiwilligkeit Nach dem Grundsatz der Freiwilligkeit darf niemand direkt oder auch indirekt zur Teilnahme an einer genetische Untersuchung oder Beratung beeinflusst werden.197 Damit verbunden ist das Postulat, dass der Einzelne frei von gesellschaftlicher Einflussnahme oder Druck durch öffentliche Leistungen seine Entscheidung treffen können muss. Dieser Grundsatz steht folglich einer Pflicht zum präventiven Gesundheitsverhalten durch Inanspruchnahme der Gendiagnostik entgegen. „Wenn Prävention nicht mehr lediglich den verantwortungsbewussten Umgang mit der eigenen Gesundheit stimulieren soll, sondern zur gesellschaftlichen Pflicht aufgewertet wird, droht die Entscheidungsfreiheit von Klienten verletzt zu werden.“198 Diesem Ziel dient auch das im GenDG enthaltene Verbot seitens Versicherungen oder Arbeitgebern eine genetische Untersuchung zu verlangen, vgl. §§ 18 Abs. 1, 19 GenDG. Vor faktischen, vor allem gesellschaftlichen Zwängen vermag dieser Grundsatz nicht zu schützen, jedoch gewissen Zwängen zumindest vorbeugen. bb) Nichtaktivität Der Grundsatz der nichtaktiven Beratung besagt, dass es dem Arzt bzw. Berater verwehrt ist, von sich aus den Beratungsprozess zu initiieren, d. h. mögliche Klienten zu einer Beratung aufzufordern. Darüber hinaus dürfen die im Rahmen der Beratung und Diagnostik gewonnen Informationen nicht dazu genutzt werden, eine Beratung weiterer möglicher Risikopersonen zu initiieren.199 Auch nach diesem Grundsatz ist es Sache des Klienten, inwieweit er Kenntnis nimmt und diese Kenntnis an potenziell Betroffene weitergibt. Dies folgt ebenso aus der Schweigepflicht des Arztes. In diesem Rahmen findet jedoch ebenfalls die Diskussion statt, ob in Fällen der akuten Gefährdung Dritter und der
195 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 48; Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang/Henn, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 341, 344. 196 Siehe dazu ausführlich Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 118 ff. 197 Vgl. Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, S. 90. 198 Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 118 ff.: es enthalte damit ein gesellschaftspolitische Dimension. 199 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 122; dazu auch Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 365; Hennen/Petermann/Schmitt, Genetische Diagnostik – Chancen und Risiken, S. 134.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
verweigerten Information durch den Klienten Ausnahmen von diesem Grundsatz zugelassen werden sollten.200 Diesem Grundsatz der Nichtaktivität ist auch das GenDG in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG gefolgt, indem es ein Zugehen des Arztes auf potenziell betroffene Verwandte verbietet. Dennoch „weicht“ das Gesetz den Grundsatz etwas auf, indem es vermittelt durch den Klienten dem Verwandten eine Beratung empfiehlt und damit aktiv handelt. Der Klient wird in diesem Fall aktiv tätig, da er gesetzlich motiviert potenziell Betroffenen ermittelt und durch die Empfehlung faktisch zu einer Beratung auffordert. cc) Nichtdirektivität Der Grundsatz der Nichtdirektivität gilt als das zentrale Beratungsprinzip in der modernen Arzt-Patienten-Beziehung.201 Als eine Art Gegenpol zur vom Heilauftrag geprägten Motivation des Arztes soll der Grundsatz der nicht-direktiven Beratung gewährleisten, dass der beratende Arzt die relevanten Informationen neutral und informativ vermittelt und der Klient damit ohne Beeinflussung zu einer Entscheidung kommen kann.202 Trotz der fürsorglichen Motivation muss der Arzt damit die Selbstbestimmung des Klienten achten, indem er objektive Informationen vermittelt, ohne seine Motivation und Ansicht einfließen zu lassen. Der Patient kann die therapeutisch gebotene Behandlungen damit auch ablehnen, wodurch Interessenkonflikte zwischen Arzt und Patient, zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung, möglich sind. Der Grundsatz der Nichtdirektivität erhält im Rahmen der genetischen Diagnostik zusätzliches Gewicht.203 Diese Bedeutung resultiert aus dem Potenzial, die der Gendiagnostik für den Bereich der präventiven Medizin zugeschrieben wird und zu einem faktischen Zwang zur Durchführung genetischer Analysen führen könnte.204 Aufgrund der Sensibilität der Fragestellung soll hier jedweder Automatismus und externe Beeinflussung ausgeschlossen werden.205 Der Arzt soll sich jeglicher Einflussnahme, bezogen auf die Kenntnisnahme des Klienten, der relevanten Informationen, aber auch des Umgangs mit diesen enthalten.206 Der Grundsatz kann somit zusätzlich auch dahingehend verstanden werden, dass der Arzt sich Meinungen betreffend den Umgang mit dem Wissen, insbesondere der Weitergabe relevanter Informationen an Dritte, zu enthalten hat. Aus therapeutischer Sicht wird der Arzt den Patienten zur Information des potenziell Betroffenen bewegen wollen. Insbesondere tendiert der Arzt dazu, aufgrund des ihn leitenden Heilauftrags verantwortungslose Entscheidungen nicht hinzunehmen.207 Teilweise 200 Vgl. Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 341, 347 ff. 201 Vgl. Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung , S. 50; Damm, MedR 1999, S. 437, 443. 202 Es soll nur über die medizinischen Fakten informiert werden: Damm, MedR 1999, S. 437, 443; Die Beratung soll mit anderen Worten informativ, aber nicht im Sinne einer bestimmten Entscheidung intentional motivierend oder gar manipulativ sein.“; Damm, MedR 2006, S. 1, 18; Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung , S. 51. 203 Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 215. 204 Siehe dazu ausführlicher unten Kapitel 4, B. II. 205 Vgl. Richtlinien der BÄK, DÄBl. 1998, S. A-1398. 206 Vgl. Have, Medicine, Health Care and Philosophy 2001, S. 295, 300. 207 Wobei sich anders als bei Fragen der Therapie sich hier die Frage stellt, was als verantwortungslos zu bewerten ist und ob es dem Arzt zusteht, dies zu beurteilen.
B. Gendiagnostikgesetz: Einfachgesetzliche Regelung des Zufallsfundes
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wird gar formuliert, dass Autonomie neben Rechten auch die Pflicht zu verantwortungsvollem Handeln beinhalte.208 Es sei die Pflicht des Arztes, dem Klienten diese Pflicht vor Augen zu führen und seine Autonomie in bewusster Verantwortung wahrzunehmen. Im Zweifel müsse er den Klienten dazu ermuntern, seine Entscheidung erneut zu überdenken.209 Deutlich wird hier die Gratwanderung zur direktiven Beratung unter dem Deckmantel des Heilauftrags.210 Der Arzt muss, wenn überhaupt, auf meinungsneutralem Weg versuchen, den Patienten dazu zu bewegen, seine Ansicht zu überdenken, indem er ihn auf potenziell zu beachtende Drittinteressen hinweist. Betont der Arzt jedoch die Verantwortung des Patienten, so gibt er bereits zu verstehen, welche Entscheidung er als verantwortungsvoll bewertet. Von Meinungsneutralität kann dann nicht mehr die Rede sein. Der Grundsatz nicht-direktiver Beratung darf nicht unter dem Deckmantel der Patientenverantwortung umgangen werden. Der Grundsatz, nicht direktiv zu beraten, kann daher mit der Fürsorgepflicht des Arztes gegenüber dem Patienten, aber möglicherweise auch gegenüber Dritten, kollidieren.211 b) Aufklärung Eine genetische Untersuchung oder Analyse darf nur vorgenommen und eine dafür erforderliche genetische Probe nur gewonnen werden, wenn die betroffene Person in die Untersuchung und die Gewinnung der dafür erforderlichen genetischen Probe ausdrücklich und schriftlich eingewilligt hat, § 8 Abs. 1 GenDG. Vor Erteilung der Einwilligung hat jedoch zwingend eine Aufklärung über Wesen, Bedeutung (wie Aussagekraft, Bedeutung der zu untersuchenden genetischen Eigenschaften für eine Erkrankung oder gesundheitliche Störung sowie die Möglichkeiten, sie zu vermeiden, ihr vorzubeugen oder sie zu behandeln) und Tragweite der genetischen Untersuchung zu erfolgen, einschließlich der Information über das Recht der betroffenen Person auf Nichtwissen. Die Aufklärung hat somit vor allem die Vermittlung von Informationen über die Untersuchungsmethode, die möglichen Untersuchungsergebnisse und ihre medizinische Bedeutung zum Gegenstand.212 Den Rechtsgrund der ärztlichen Aufklärung bildet damit auch hier das Selbstbestimmungsrecht des Patienten.213 Die Aufklärung ist folglich einwilligungsbezogen und wird auch hier häufig als „informed consent“ bezeichnet.214
208
Vgl. Cramer, Genom- und Genanalyse, S. 216. Vgl. Yarborough/Scott/Dixon, The role of beneficence in clinical genetics: non-directive counseling reconsidered, S. 139, 140. 210 Vgl. Damm, MedR 1999, S. 437, 444, bezeichnet die Konstellation als Problem einer möglichen Divergenz zwischen normativem Postulat und faktischer Lagen, zwischen Normstruktur und Realstruktur. 211 Vgl. Hennen/Petermann/Schmitt, Genetische Diagnostik, S. 134. 212 Vgl. Schillhorn/Heidemann, GenDG, § 10 Rn. 2. 213 Vgl. Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung, S. 35; Richtlinie der GEKO, 2011, S. 2. 214 Das Prinzip der Einwilligung nach Aufklärung; vgl. Damm, MedR 2006, S. 1, 12; Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 134. 209
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
c) Beratung Von der Aufklärung gesetzlich unterschieden wird die genetische Beratung (§ 10 GenDG). Im Fall einer diagnostischen genetischen Untersuchung ist nach Vorliegen des Untersuchungsergebnisses eine genetische Beratung anzubieten, im Fall einer prädiktiven Genanalyse muss vor und nach dem Vorliegen des Ergebnisses eine genetische Beratung erfolgen. Die Beratung umfasst „insbesondere die eingehende Erörterung der möglichen medizinischen, psychischen und sozialen Fragen im Zusammenhang mit einer Vornahme oder Nichtvornahme der genetischen Untersuchung und ihren vorliegenden oder möglichen Untersuchungsergebnissen sowie der Möglichkeiten zur Unterstützung bei physischen und psychischen Belastungen der betroffenen Person durch die Untersuchung und ihr Ergebnis“ (§ 10 Abs. 3 Satz 2 GenDG). Damit soll sich die genetische Beratung auch auf nicht medizinische Aspekte wie soziale und psychosoziale Folgen beziehen, um den Besonderheiten dieser Untersuchungen Rechnung zu tragen.215 Die Beratung soll dem Patienten den erforderlichen Hintergrund hinsichtlich der jeweiligen genetischen Eigenschaften vermitteln, aber auch Aufschluss geben über aus der Untersuchung zu ziehende Folgerungen.216 Die Beratung geht folglich über die für die Aufklärung erforderliche Vermittlung von Informationen über die Untersuchungsmethode und möglichen Untersuchungsergebnisse und ihre medizinische Bedeutung hinaus. Der Beratungsbegriff betont kommunikative und kooperative Aspekte mehr als der der Aufklärung. Beratung ist daher nicht einwilligungsbezogen sondern entscheidungsbezogen.217 Sie soll bei der eigenverantwortlichen Entscheidung helfen, oder sogar erst die Entscheidungskompetenz schaffen,218 und trägt damit der besonderen Aussagekraft genetischer Daten Rechnung. Ein familienorientiertes Beratungskonzept sieht das GenDG jedoch nicht vor. Es ist weiterhin allein bilateral ausgerichtet. 2. Gesetzliche Regelung des mehrdimensionalen Zufallsfundes Das GenDG geht auf die Frage der Drittdimension genetischer Daten in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG ein: Ist anzunehmen, dass genetisch Verwandte der betroffenen Person Träger der zu untersuchenden genetischen Eigenschaften mit Bedeutung für eine vermeidbare oder behandelbare Erkrankung oder gesundheitliche Störung sind, umfasst die genetische Beratung auch die Empfehlung, diesen Verwandten eine genetische Beratung zu empfehlen.
Das GenDG „löst“ damit den dargestellten Konflikt des informationellen Drittbezugs in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG dahingehend, dass der Arzt bei möglichen Implikationen für Verwandte dem Klienten empfehlen muss, seinen Verwandten zu empfehlen, eine geneti215
Vgl. Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung, S. 30. Vgl. BR-Drs. 633/08, S. 55. 217 Vgl. Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung, S. 34 f.; Damm, MedR 2006, S. 1, 12. 218 Anders als bei der Aufklärung, die, um zu einer rechtswirksamen Einwilligung in die genetische Untersuchung zu führen, inhaltlicher Überprüfung standhalten muss, genügt hinsichtlich der genetischen Beratung, dass eine solche gemäß den Vorschriften des § 10 erfolgt ist bzw. angeboten wurde, BR-Drs. 633/08, S. 54. 216
B. Gendiagnostikgesetz: Einfachgesetzliche Regelung des Zufallsfundes
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sche Beratung in Anspruch zu nehmen. Im Ergebnis sieht das Gesetz damit eine „rechtliche Empfehlungspflicht“ des Arztes zu einer „moralischen Empfehlungspflicht“219 des Betroffenen vor. Das Ziel dieser Regelung ist laut Gesetzesbegründung einen Ausgleich zwischen den Interessen des Betroffenen und des Verwandten zu schaffen. Es werde sowohl dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Untersuchten, als auch des Verwandten, dessen Recht auf Nichtwissen, Rechnung getragen.220 Die Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG hat sich damit für die sogenannte Vorrangregel verbunden mit einer Konfliktlösung im Wege der „Privatisierung der Aufklärung“ entschieden. Laut Gesetzesmaterialien soll auf diesem Weg Beachtung finden, dass „über die betroffenen Personen selbst tangierende Aspekte hinaus unter sozialethischen Aspekten zu berücksichtigen (ist), dass auch die Rechte Anderer auf Selbstbestimmung, Hilfe oder Schadensvermeidung betroffen sein können. Dazu gehören Konflikte um die Vertraulichkeit von Daten, die die Gesundheit Dritter (Verwandter) betreffen.“221 Dies bedeutet jedoch auch, dass der Arzt in keinem Fall, auch nicht bei der zufälligen Erkenntnis der Disposition zu einer behandelbaren Krankheit, auf den Verwandten zugehen darf. Die Schweigepflicht gilt damit absolut. a) Regelungskonzept des Gesetzgebers Zur Regelung der Konfliktlage standen dem Gesetzgeber, vereinfacht ausgedrückt, zwei Lösungsebenen zur Verfügung: auf einer „Makroebene“ kann er den Konflikt abstrakt auf rechtlicher Ebene lösen, auf einer „Mikroebene“ kann er den Ansatz in die interindividuelle Ebene übertragen, in die Arzt-Klienten-Beziehung oder Verwandtschaftsbeziehung. Der Gesetzgeber hat mit der beschriebenen Regelung des Zufallsfundes in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG eine Art Mischform gewählt, da er einerseits den Weg über § 34 StGB gesetzlich ausschließt und den Arzt auf seine Schweige- und Beratungspflicht „reduziert“, auf der anderen Seite jedoch den Schwerpunkt mehr auf die inter-individuellen Ebene legt. Der Gesetzgeber unterwirft sich in rechtlicher Hinsicht damit einer gewissen Selbstbeschränkung, da er den Konflikt nicht selber löst.222 aa) „Mikroebene“ der innerfamiliären Kommunikation Der Gesetzgeber überlässt die Sicherstellung der genetischen Beratung, genauer die Weitergabe der Existenz relevanter genetischer Daten im Rahmen einer Beratungsempfehlung gegenüber Verwandten, dem innerfamiliären Raum und stützt sich auf die Familienstruktur zur Wissensverteilung. Betroffene tendieren nach Studienergebnissen dazu, Informationen in Bezug auf Krankheitsrisiken mit der Familie zu besprechen, und auch eine Mitteilung durch Familienmitglieder zu bevorzugen. Der Patient sollte daher der primäre Kommunikator sein, und nicht der Arzt, jedoch mit dessen Unterstützung.223 Diesem Ziel
219 220 221 222 223
Ausführlich dazu unten Kapitel 3, C. Vgl. BT-Drs. 16/10532, S. 29. BT-Drs. 16/3233, S. 31. Vgl. Kern, GenDG § 10 Rn. 17. Vgl. Petrila, Behav Sci Law 2001, S. 405, 413.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
trägt das GenDG im Grundsatz Rechnung. Einen familienorientierten Beratungsansatz sieht das Gesetz jedoch nicht vor.224 Eine rechtliche Lösung der verschiedenen Interessen stellt dieser Weg mithin nicht dar. Die Weitergabe erfolgt auf Basis eines moralischen Pflichtgefühls des Betroffenen und damit einer Art „moralischen Regulation“.225 Der familiäre Raum sollte nicht „verrechtlicht“ werden.226 Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass den Betroffenen keine Pflicht zur Information im rechtlichen Sinne trifft, aber auch auf Seiten des Arztes ein Informationsverbot besteht, um das Recht auf Privatheit zu garantieren. „Schon dem ursprünglichen Recht auf Privatheit lag das Verbot zu Grunde, in die persönlichen und kleingruppengetragenen Prozesse moralischer, weltanschaulicher, religiöser und politischer Überzeugungsbildung einzugreifen. Freiheit dieser Prozesse ist eine notwendige Bedingung der Identitätsbildung wie auch der Erhaltung von Lernfähigkeiten von Gesellschaften. Dazu gehört dann auch die Möglichkeit auf persönlichen Irrtum bei der Einschätzung moralischer Verpflichtungen gegenüber denjenigen, denen man durch eine besondere Nähebeziehung verbunden ist.“227 Der Informationsaustausch unterfällt daher allein der Einschätzung des Betroffenen, seinem moralischen Gewissen, wobei durch den Charakter als Empfehlung dem Modell ein gewisses Moralisieren innewohnt. An dieser Stelle besteht daher ein Einfallstor für gesellschaftlich suggerierte moralische Pflichten. „Bis zu einem gewissen Grad haben Menschen eine moralische Verpflichtung, es zu vermeiden, anderen Menschen zu schaden, zum Beispiel der Verbreitung von Infektionskrankheiten vorzubeugen. Die Reichweite solcher Verpflichtungen ist nicht klar definiert, und dies ist ein fruchtbares Gebiet für theoretische und praktische Reflexion der Ethik im Gesundheitswesen.“228 Vor allem der innerfamiliäre und moralische Charakter der Regelung ist damit das Besondere für eine gesetzliche Regelung: Eine Informationspflicht des Betroffenen zum Schutz des Wissens und der Gesundheit des Verwandten würde in diesen innerfamiliären Raum eingreifen und moralische Verpflichtungen als rechtliche vorgeben. Aber auch eine gegenteilige Regelung, ein Redeverbot zum Schutz des Nichtwissens des Verwandten wird den zu beachtenden familiären Strukturen nicht gerecht. Der Informationsaustausch innerhalb der Familie dient der seelischen Bewältigung, den man nicht unterbinden kann und sollte. Dem Modell des Gesetzgebers, den familiären Raum frei von rechtlichen Geund Verboten zu belassen, ist daher zuzustimmen. Auch in Anbetracht dessen, dass es sich beim Gesundheitsverhalten und vor allem dem Wissen um die eigene gesundheitliche Zukunft um eine höchstpersönliche Entscheidung der eigenen Lebensgestaltung handelt, ist eine staatliche Einmischung in Form von Geboten oder Verboten nicht möglich.229 Eine Zwangsaufklärung kommt nicht in Betracht, da zum einen die genetische Privatheit als hochwertiges Gut angesehen wird und zum 224 Siehe zum familienorientierten Ansatz Retzlaff et al., Psychotherapeut 2001, S. 36 ff.; dazu Dörner, Der gute Arzt, S. 142 ff. 225 Lemke, Veranlagung und Verantwortung, S. 84; so auch Kersten, ZEE 2013, S. 23, 24: Das Problem (wird) juristisch in das Moralsystem überführt. 226 Vgl. Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 120. 227 Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 317. 228 Verweij, Krankheiten verhindern, in: Wiesing, Ethik in der Medizin, S. 530, 531. 229 Vgl. Huster, Ethik Med 2010, S. 289, 298.
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anderen eine „duty to warn“ den Dritten die Möglichkeit des Nichtwissens (Gefahr der unsolicited disclosure) nicht belassen würde.230 Genetische Daten sind Infektionskrankheiten als insoweit nicht vergleichbar anzusehen, eine „Analogie“ zu der Problematik der HIV-Infektion abzulehnen, und als konsequente Umsetzung auch im GenDG daher nicht zugelassen. Eine andere Frage ist die Tragfähigkeit des gewählten Lösungskonzepts. Die Familienstrukturen von heute weichen erheblich von den traditionellen Formen ab. Überwiegend finden sich sogenannte Kernfamilien (Eltern und Kind), aber auch nichteheliche Lebensgemeinschaften und Alleinstehende. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Familien örtlich zusammenleben, sondern sie sind teilweise weltweit verstreut und nicht zwingend in Kontakt. Das Konzept des Gesetzgebers setzt jedoch, um das angestrebte Ziel erreichen zu können, eine Beziehung voraus, in der Wissen und Leid geteilt werden. Davon kann jedoch nicht selbstverständlich ausgegangen werden. Das Modell des GenDG ist daher fehleranfällig und bietet folglich keine sichere Konfliktlösung. Mangels Kontrollmechanismus kann nicht sichergestellt werden, ob eine Empfehlung erfolgt. bb) Erweiterung der „Mikroebene“ auf die Arzt-Klient-Verwandten-Beziehung Die primär familiäre Kommunikation schließt jedoch nicht aus, dem Arzt dennoch gewisse Handlungsoptionen im Lichte der Fürsorgepflicht einzuräumen. Eine Erweiterung der Beziehung um die Interessen des Verwandten würde dem Umstand Rechnung tragen, dass der Konflikt in der Arzt-Patienten-Beziehung entsteht und das Lösungskonzept in diese einbettet. Zentrales Element ist hier für alle Beteiligten die Beratung. Auf diesem Weg könnte zudem die Gefahr, dass sachfremde Erwägungen die familiäre Gesundheitskommunikation beeinflussen oder Fehlinformationen erfolgen, reduziert werden. Auf mögliche Konzepte der Einbeziehung Dritter soll an späterer Stelle eingegangen werden.231 Überdacht werden soll dabei der Grundsatz nicht-direktiver Beratung und das Konzept einer familiären Beratung im Vorfeld der Untersuchung in Erweiterung der „Mikroebene“. Dies ist bisher nur indirekt durch die Empfehlungslösung erfolgt. b) „Empfehlung zur Empfehlung“ bei behandelbaren Zufallsfunden § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG sucht wie beschrieben der Problematik von Zufallsfunden Rechnung zu tragen, indem sie dem Arzt im Rahmen der genetischen Beratung die Pflicht auferlegt dem Klienten zu empfehlen, den Verwandten eine genetische Beratung zu empfehlen. Eine Verpflichtung zur Empfehlung durch den Arzt besteht nur im Fall von behandelbaren oder vermeidbaren Krankheiten. Eine Differenzierung nach dem Schweregrad und einem Wahrscheinlichkeitsgrad der zu erwartenden Krankheit, wie es im Fall des § 34 StGB unter dem Gesichtspunkt der Abwägung von Relevanz wäre, wird von der gesetzlichen Regelung nicht verlangt. Diese gesetzliche Lösung überträgt des Weiteren die
230 Es sei denn man verfolgt den (nachgebesserten) Weg der französischen Regelung, nach der ein schrittweises Zugehen auf den Verwandten und deren Aufklärung über die Existenz relevanter Daten vorgesehen ist. 231 Siehe unten Kapitel 5, B. II. 2. b).
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
Mitteilung relevanter Informationen vom Arzt auf den Betroffenen, „privatisiert“232 damit die Beratung und gegebenenfalls Aufklärung über Zufallsfunde. Zwar ist Gegenstand der Empfehlung lediglich eine Beratung wahrzunehmen, jedoch ist anzunehmen, dass der Klient den Verwandten in diesem Zusammenhang auch darüber aufklären wird, warum er diese Empfehlung erteilt, entweder von sich aus oder auf Nachfrage. In der Konstellation einer behandelbaren Krankheit, wie z. B. der Hämochromatose233 , soll laut Gesetzesbegründung234 durch die hier als „Empfehlung zur Empfehlung“ bezeichnete gesetzgeberische Abwägungsentscheidung sowohl dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des untersuchten Klienten als auch der potenziell betroffenen Dritten Rechnung getragen werden. Zweifelhaft erscheint jedoch, wie im Folgenden darzustellen ist, ob dieses gesetzgeberische Ziel erreicht wurde. aa) Rolle des Klienten Eine rechtliche Pflicht zur Weitergabe der Empfehlung oder auch der medizinischen Daten durch den Betroffenen besteht nicht, so dass es sich allenfalls um eine moralische Pflicht handeln kann. Der Gesetzestext verweist den Umgang mit dem Konflikt auf die moralische Ebene. Diese Ebene ist deswegen als moralisch zu bezeichnen, weil aus der Empfehlung einer Beratung für betroffene Verwandte die Ansicht des Gesetzgebers erkennbar ist, eine Mitteilung durch die Betroffenen zu befürworten und sich für die Konfliktlösung auch darauf verlässt. Ansonsten wäre das Konzept entgegen der Gesetzesbegründung keine Konfliktlösung. Dies wird auch daran deutlich, dass das Recht auf Nichtwissen der Verwandten vom Gesetzgeber nicht explizit thematisiert wird. bb) Rolle des Arztes Diese Lösung der „Empfehlung zur Empfehlung“ entlässt den Arzt aus dem dargestellten Konflikt, und damit auch aus der entsprechenden Verantwortung, und „lastet“ das weitere Vorgehen dem Betroffenen an. Anders als im Fall der Infektionskrankheiten wird der Arzt nicht als Mittels- bzw. Reserveperson von Rechts wegen eingesetzt. Nach § 11 Abs. 3 GenDG darf der Arzt daher Ergebnisse der genetischen Untersuchung nur mit Einwilligung des Betroffenen mitteilen. Das Gesetz stuft damit die Schweigepflicht und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ohne Ausnahme grundsätzlich als höherwertiger ein, als die Fürsorgepflicht des Arztes gegenüber Dritten und deren Gesundheitsinteressen.235 Seine Rolle ist begrenzt auf die bilaterale Beziehung. c) Nicht behandelbare Zufallsfunde Ein Beispiel für die Fallgruppe der nicht behandelbaren Erkrankungen ist erneut die Erkrankung Chorea Huntington, da für diese genetisch bedingte Erkrankung bisher keine Therapie- oder Palliativmöglichkeiten existieren. Der Gesetzgeber hat für den Fall der Diagnose einer solchen Erkrankung, die möglicherweise auch Verwandte betrifft, eine 232 Duttge, Regelung der Gendiagnostik zwischen Ideal und Realität, in: ders./Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 8. 233 Eisenspeicherkrankheit, siehe oben Kapitel 1, A. I. 234 BT-Drs. 16/10532, Gesetzesentwurf der Bundesregierung v. 13.10.2008, S. 29. 235 Vgl. Kern, GenDG, § 10 Rn. 17.
B. Gendiagnostikgesetz: Einfachgesetzliche Regelung des Zufallsfundes
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Abwägungsentscheidung dahingehend getroffen, dass dem Recht auf Verschwiegenheit absoluter Vorrang eingeräumt wird und Rechte Verwandter unberücksichtigt bleiben bzw. von der Ausübung des Rechts auf Nichtwissen ausgegangen wird. Gegeneinander abzuwägen war hier einerseits das Recht auf Wissen des Verwandten gegenüber dem Recht auf Verschwiegenheit des Betroffenen. Hinzutritt, in Anbetracht der fehlenden Behandelbarkeit, mit besonderem Gewicht das Recht auf Nichtwissen des Verwandten. Diese Lösung wird überwiegend befürwortet, da im Fall der fehlenden Behandelbarkeit von Erkrankungen und dem damit fehlenden gesundheitlichen Gewinn des Wissens, das Recht auf Privatheit und informationelle Selbstbestimmung des Klienten überwiege. Zudem ist auf Seiten des Verwandten zu beachten, dass das Wissen um eine Krankheit ohne Heilungsmöglichkeit schwerwiegende psychische Störungen verursachen kann. Für den Fall einer nicht behandelbaren Krankheit wird, nach Ansicht des Gesetzgebers, mit dieser Regelung folglich dem Recht auf Nichtwissen potenziell betroffener Verwandter236 auf der einen Seite und dem Recht auf Privatheit des Betroffenen auf der anderen absoluter Vorrang eingeräumt.237 Ob dem Recht auf Nichtwissen hier tatsächlich Vorrang eingeräumt wird, erscheint jedoch aufgrund der Voraussetzungen der effektiven Wahrnehmung des Rechts auf Nichtwissen, das Wissen um die Möglichkeit des Wissens,238 eher fraglich. Dem Verwandten wird nicht die Möglichkeit gegeben sich für ein Nichtwissen zu entscheiden. Diese Entscheidung trifft vielmehr der Gesetzgeber in paternalistischer Weise.239 Ehrlicher wäre die Bewertung, dass dem Recht auf Privatheit gegenüber beiden Rechten des Verwandten der absolute Vorrang eingeräumt wird, da Verwandte in keiner Weise einbezogen werden. d) Exkurs: Abweichende ausländische Regelungen Zum Vergleich und gegebenenfalls zur Anregung für anderweitige Lösungswege sollen zwei Regelungen zum Zufallsfund unserer unmittelbaren Nachbarn Frankreich und Schweiz betrachtet werden, die von der deutschen Lösung abweichen. aa) Frankreich Die gesetzliche Lösung in Frankreich aus dem Jahr 2011 ist über ein Jahr jünger als die deutsche Regelung und beschäftigt sich ausführlich mit der Frage des „Ob“ und „Wie“ der Weitergabe genetischer Diagnoseergebnisse innerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen. (1) Gesetzliche Lösung Article L1131-1-2240 (Abs. 1) Préalablement à la réalisation d’un examen des caractéristiques génétiques d’une personne, le médecin prescripteur informe celle-ci des risques qu’un silence ferait courir aux 236 237 238 239 240
Vgl. Heyers, MedR 2009, S. 507, 509. So die allgemeine Aussage des Gesetzgebers, BT-Drs. 16/10532, S. 29. Siehe oben Kapitel 3, A. IV. 1., das Recht muss „aktiviert“ werden. Siehe zur Frage des Paternalismus ausführlicher unten Kapitel 3, C. I. 1. Article L 1131-1-2 Code de la Santé publique, créé par la loi n° 2011-814 du 7 juillet – art. 2.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
membres de sa famille potenziellement concernés si une anomalie génétique grave dont les conséquences sont susceptibles de mesures de prévention, y compris de conseil génétique, ou de soins était diagnostiquée. Il prévoit avec elle, dans un document écrit qui peut, le cas échéant, être complété après le diagnostic, les modalités de l’information destinée aux membres de la famille potenziellement concernés afin d’en préparer l’éventuelle transmission. Si la personne a exprimé par écrit sa volonté d’être tenue dans l’ignorance du diagnostic, elle peut autoriser le médecin prescripteur à procéder à l’information des intéressés dans les conditions prévues au quatrième alinéa. (Abs. 3) La personne est tenue d’informer les membres de sa famille potenziellement concernés dont elle ou, le cas échéant, son représentant légal possède ou peut obtenir les coordonnées, dès lors que des mesures de prévention ou de soins peuvent leur être proposées. (Abs. 4) Si la personne ne souhaite pas informer elle-même les membres de sa famille potenziellement concernés, elle peut demander par un document écrit au médecin prescripteur, qui atteste de cette demande, de procéder à cette information. Elle lui communique à cette fin les coordonnées des intéressés dont elle dispose. Le médecin porte alors à leur connaissance l’existence d’une information médicale à caractère familial susceptible de les concerner et les invite à se rendre à une consultation de génétique, sans dévoiler ni le nom de la personne ayant fait l’objet de l’examen, ni l’anomalie génétique, ni les risques qui lui sont associés.241
Zusammengefasst beinhaltet das französische Gesetz, abweichend vom deutschen Weg, damit folgende Regelung: Der behandelnde Arzt soll seinen Klienten vorab über das Risiko des Schweigens gegenüber eventuell betroffenen Familienmitglieder informieren, das besteht, wenn eine genetische Anomalie diagnostiziert wurde, deren Folgen behandelbar oder zu lindern sind. Er errichtet mit dem Klienten ein schriftliches Dokument, in dem die Modalitäten des Zugehens auf Verwandte vorgesehen werden. Dabei ist der Klient verpflichtet, seine möglicherweise ebenfalls betroffenen und ihm bekannten Familienmitglieder zu informieren, soweit Prävention- oder Therapiemaßnahmen verfügbar sind. Diese den Klienten treffende Informationspflicht ist auch haftungsrechtlich von Bedeutung. Ein früher in Art. L1131-1 UAbs. 5 Code de la santé publique enthaltener Haftungsausschluss242 wurde im Rahmen der Gesetzesnovelle gestrichen.243 Wenn der Klient nicht wünscht, seine Familienmitglieder selber zu informieren, so kann er den behandelnden Arzt schriftlich bitten, dass dieser die Information weitergibt. Der Arzt wiederum informiert die Verwandten über die Existenz einer für die Familie relevanten medizinischen Information, lädt sie zu einer genetischen Beratung ein, ohne weder den Namen des Klienten noch die genetische Erkrankung oder das damit verbundene Risiko zu erwähnen. Entscheidet sich der Klient dafür, von den Daten keine Kenntnis zu erhalten, so autorisiert er den Arzt zur Information nach den genannten Grundsätzen. (2) Vergleich mit der Regelung des GenDG Im Vergleich zur deutschen Regelung in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG fällt auf den ersten Blick die Ausführlichkeit der gesetzlichen Regelung ins Auge. Die französische Regelung 241
Hervorhebungen durch den Bearbeiter. Haftungsausschluss L 1131-1 UAbs. 5 a. F. lautete: „Le fait pour le patient de ne pas transmettre l’information relative à son anomalie génétique dans les conditions prévues au troisième alinéa ne peut servir de fondement à une action en responsabilité à son encontre.“ 243 Dazu Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 181. 242
B. Gendiagnostikgesetz: Einfachgesetzliche Regelung des Zufallsfundes
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behandelt mögliche Fallgestaltungen ausführlicher, ihr ist ein eigener Artikel gewidmet. Sie regelt einerseits die Rechte und Pflichten des Klienten, Verwandten und des Arztes, darüber hinaus wird jedoch auch der Kommunikationsprozess innerhalb der Familienbeziehung thematisiert. Hervorzuheben ist zunächst, dass der Klient gesetzlich verpflichtet ist, seine Verwandten im Falle einer genetischen Veranlagung, für die Therapie- oder Präventionsmaßnahmen existieren, zu informieren (es heißt im Gesetz „la personne est tenue d’informer“, d. h. sie ist verpflichtet zu informieren). Vorab sieht das Gesetz daher eine ausdrücklich geregelte Aufklärung des Klienten über das Risiko für Verwandte im Falle der Diagnose einer genetisch vererbbaren aber behandelbaren/zu lindernden Erkrankung vor. Wie bei der deutschen Regelung fehlt es hier jedoch auch an einer Belehrung des Klienten über die beiden Komponenten des Rechts auf (gen)informationelle Selbstbestimmung der Verwandten, insbesondere über das Recht auf Nichtwissen. Sollen die relevanten Informationen über den Klienten vermittelt werden, ist danach nicht vorgebeugt, dass der Dritte nicht gegen oder ohne seinen Willen die Informationen erhält. Des Weiteren wird nach dem GenDG der Klient mit der Information und den möglichen Vorgehensweisen bei einer Weitergabe des Wissens von Gesetzes wegen allein gelassen. Das französische Recht hat diese für den Klienten meist schwierige Lage schon im Vorfeld der Untersuchung bedacht und stellt ihm durch den Arzt eine Hilfestellung bereit. Vor der Untersuchung wird bereits die Vorgehensweise besprochen. Darüber hinaus kann der Klient unter dem Schutzmantel der Anonymität den Arzt mit der Weitergabe der Informationen betrauen. Anders als im Fall der Weitergabe der Informationen durch den Betroffenen selber enthält diese Regelung vor allem auch Schutzvorschriften für die Verwandten: Ihnen wird die Möglichkeit gegeben, sich aktiv soweit möglich für ein Nichtwissen zu entscheiden, da sie nur über das Vorliegen eventuell relevanter Informationen, aber nicht über den genauen Inhalt informiert werden. Durch diese Regelung kann die Einbindung der Verwandten, wenn auch erst nach Vorliegen der Informationen, sichergestellt werden, auch wenn der Klient selber den Kontakt scheut. Zwar enthält die gesetzliche Regelung eine Pflicht des Betroffenen, den Verwandten selber zu informieren, jedoch kann er unter Garantie der Anonymität – die faktische Möglichkeit von Rückschlüssen auf die untersuchte Person ist natürlich möglich und auch wahrscheinlich – den Arzt damit betrauen. Ein Zugehen des Arztes auf Dritte ohne die Zustimmung des Betroffenen bleibt weiterhin grundsätzlich ausgeschlossen, wie im Umkehrschluss aus der differenzierten Regelung zu folgern ist. Die Schweigepflicht wird somit gewahrt.244 Auch der französischen Regelung fehlt es an der Berücksichtigung des eindimensionalen Zufallsfundes. Da der französische Gesetzgeber nach seinem Konzept die Weitergabe des Wissens bzw. die Mitteilung der Existenz relevanter Daten befürwortet, ist jedoch davon auszugehen, dass eindimensionale Zufallsfunde ebenfalls kommuniziert werden sollen. Am besten sind auch diese im Vorfeld zu thematisieren.
244 Diese Notwendigkeit betont das Comité consultatif d’Ethique pour les Sciences de la Vie et de la Santé in seiner avis n°76 „A propos de l’obligation d’information génétique familiale en cas de nécessité médicale“, S. 6 (abrufbar unter http://www.ccne-ethique.fr/docs/fr/avis076.pdf; letzter Abruf 04.04.2013).
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
(3) Bewertung Die französische Regelung weicht erheblich von der deutschen Lösung ab. Der französische Gesetzgeber hat sich für eine stärkere und ausführlichere Normierung der Problematik entschieden. Von besonderem Gewicht ist die Verpflichtung des Betroffenen seine Verwandten über für sie relevante genetische Daten zu informieren. Diese Pflicht wird zwar dadurch abgeschwächt, dass der Klient die Möglichkeit der Einbeziehung des Arztes und der Anonymisierung hat, jedoch eine Weitergabe in jedem Fall erfolgen muss. Die Anonymisierung schließt nicht aus, dass der Verwandte seine Rückschlüsse auf eine bestimmte Person ziehen kann. Die gesetzliche Pflicht wiegt daher schwer. Der Klient ist damit gezwungen, sich mit der Weitergabe seiner genetischen Daten im Vorfeld auseinanderzusetzen. Er setzt sich einem Haftungsrisiko aus, wenn er dies nicht tut. Auch kann das Bestehen einer gesetzlichen Informationspflicht einen Testwilligen von der Durchführung einer notwendigen Gendiagnose durchaus abschrecken, da er sich von der ihm aufgebürdeten Verantwortung und dem Haftungsrisiko beeindrucken lässt. Die oftmals propagierte moralische Informationspflicht wird zu einer rechtlichen Pflicht erhoben, der innerfamiliäre Raum und die familiäre Kommunikation teilweise verrechtlicht. Dieser Zwang ist nicht frei von Kritik.245 In Anbetracht des hohen Rangs des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung des Klienten und seinem Recht auf Privatheit, den teilweise nur vagen Wahrscheinlichkeitsaussagen246 der genetischen Diagnostik, erscheint eine gesetzliche Informationspflicht, und der damit verbundenen Last der Verantwortung für den Klienten, als zu weitgehend. Eine zu starke Normierung in diesem Bereich läuft Gefahr, eine Reaktion auf die Besonderheiten des Einzelfalls nicht mehr zuzulassen und durch die Einbeziehung der Familie zum Verlust individueller Freiheitsrecht zu führen.247 Hinzu tritt, dass das Gesetz es an Konsequenz bezüglich der Rechte des Verwandten vermissen lässt. Zu befürworten ist das Angebot des Gesetzgebers an den Klienten, diesen mit der Last, auch wenn man „nur“ eine moralische und keine rechtliche Pflicht befürwortet, nicht allein zu lassen. Mit komplexen und psychisch nicht unproblematischen Kommunikationsinhalten hat der Arzt meist mehr Erfahrung. Auch gewährleistet das Gesetz ein schonendes Zugehen auf die Verwandten unter Wahrung ihres Rechts auf Nichtwissen. Aus diesem Grund ist es nicht verständlich, warum das Gesetz diesen Ansatz nicht konsequent durchgeführt hat. Das Zugehen auf die Verwandten sollte in beiden Fällen, durch den Arzt oder den Betroffenen, der gleichen Vorgehensweise folgen. Dieser Ansatz kann durchaus für die deutsche Regelung als Vorbild für eine mögliche Verbesserung herangezogen werden. Auch als positiv zu bewerten ist, dass die Problematik der Zufallsfunde bereits im Vorfeld thematisiert wird. So kann der Betroffene einschätzen, welche Implikationen ein Test haben kann und sich mit dieser Problematik im Vorfeld auseinandersetzen. Dies trägt dazu bei, vollendete Tatsachen, negative Überraschungen und ein Überfordern des Klienten zu vermeiden. 245 Vgl. Inserm, Tests génétiques Questions scientifiques, médicales et sociéales, S. 209: Literatur aus dem Bereich der Sozialwissenschaften kritisiert das Moralisieren der genetischen Informationen und den Zwang der dem Patienten auferlegt wird. 246 Das Gesetz unterscheidet hier nicht nach einem bestimmten Grad der Wahrscheinlichkeit und den komplexen Familienstrukturen die stark vom Einzelfall abhängen. 247 Vgl. Wolff, Ethische Aspekte genetischer Diagnostik und Beratung, in: Elstner, Gentechnik, Ethik und Gesellschaft, 1997, S. 57, 74.
B. Gendiagnostikgesetz: Einfachgesetzliche Regelung des Zufallsfundes
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Des Weiteren ist auch die Perspektive des Arztes zu beachten. Setzt man den Arzt im Rahmen der rechtlichen Informationspflicht ein, so besteht die Gefahr, den Arzt als „genetischen Gesundheitspolizisten“ zu nutzen, sobald die Vermutung eines genetischen Risikos besteht.248 Nur ein Arzt kann in dem französischen Modell kontrollieren, ob die Informationen weitergegeben werden. Eine solche Rolle läuft Gefahr die Vertrauensstellung des Arztes negativ zu beeinflussen. Die französischen Ansätze sind damit teilweise zu begrüßen, jedoch in der Summe als zu weitgehend und paternalistisch abzulehnen. bb) Schweiz Abweichend von dem deutschen aber auch französischen Modell regelt die Schweiz in Art. 19 des GUMG Mitteilung genetischer Daten249 einen ganz anderen Lösungsweg. (1) Gesetzliche Lösung (Abs. 1) Die Ärztin oder der Arzt darf das Ergebnis einer genetischen Untersuchung nur der betroffenen Person oder, falls diese urteilsunfähig ist, ihrem gesetzlichen Vertreter mitteilen. (Abs. 2) Mit ausdrücklicher Zustimmung der betroffenen Person darf die Ärztin oder der Arzt das Untersuchungsergebnis den Verwandten, der Ehegattin oder dem Ehegatten, der Partnerin oder dem Partner mitteilen. (Abs. 3) Wird die Zustimmung verweigert, so kann die Ärztin oder der Arzt bei der zuständigen kantonalen Behörde nach Artikel 321 Ziffer 2 des Strafgesetzbuchs die Entbindung vom Berufsgeheimnis beantragen, sofern dies zur Wahrung überwiegender Interessen der Verwandten, der Ehegattin oder des Ehegatten, der Partnerin oder des Partners notwendig ist. Die Behörde kann die Expertenkommission für genetische Untersuchungen beim Menschen um Stellungnahme ersuchen.
Die Schweiz löst den Konflikt damit unter Zuhilfenahme einer externen Kommission, die im Konfliktfall den Arzt von der Schweigepflicht entbindet. Der Konflikt wird damit aus der ärztlichen Vertrauensbeziehung herausgelöst und einer neutralen Institution übertragen. (2) Vergleich mit der Regelung des GenDG Im Grundsatz gilt nach der schweizerischen Lösung die Schweigepflicht absolut. Anders als die deutsche Regelung, die nur über die doppelte Empfehlung die Rechte von Verwandten in die Arzt-Patienten-Beziehung einfließen lässt, statuiert die schweizerische Regelung eine dem deutschen Recht fremde Ausnahme von der Schweigepflicht. Dem Arzt wird die Möglichkeit gegeben, sich von einer unabhängigen, nicht in die Arzt-PatientenBeziehung eingebundenen Behörde, von der Schweigepflicht befreien zu lassen. Die Kriterien der Befreiung seitens der Behörde erinnern an diejenigen des § 34 StGB. Es besteht 248 Vgl. Wolff, Ethische Aspekte genetischer Diagnostik und Beratung, in: Elstner, Gentechnik, Ethik und Gesellschaft, S. 57, 77. 249 Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) vom 8. Oktober 2004.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
hier jedoch der wesentliche Unterscheid, dass nicht der Arzt zur Beurteilung und Abwägung berufen ist, sondern der Behörde die Möglichkeit offen steht, eine Stellungnahme einer Expertenkommission für genetische Untersuchungen einzuholen. Die schweizerische Regelung geht damit von den Möglichkeiten über die deutsche Regelung hinaus, da es im Rahmen der genetischen Beratung dem Arzt auch nach dem GUMG nicht untersagt sein dürfte, eine dem deutschen Recht entsprechende Empfehlung zu geben, daneben dem Arzt jedoch noch ein gewisses Eigeninitiativrecht verbleibt, um seiner Fürsorgepflicht zu entsprechen. (3) Bewertung Positiv an einer solchen Lösung ist, dass dem Arzt im Falle betroffener Drittinteressen nicht völlig die Hände gebunden sind, sondern ihm ein Weg aufgezeigt wird, die Rechte Dritter zu wahren. Auch werden Ausnahmen von der Schweigepflicht streng kontrolliert und damit die ärztliche Vertrauensstellung als Basis des Gesundheitssystems geschützt. Im Ergebnis stimmt dieser Weg mit dem Lösungsmodell des Medizinstrafrechts über § 34 StGB überein. Problematisch an einem solchen Modell ist jedoch, dass externen Kommissionen der personelle Bezug fehlt. Medizinische und insbesondere gendiagnostische Erkenntnisse können jedoch schwer allein auf objektive Fakten reduziert werden, sondern haben erhebliche Implikationen für die Beteiligten, mit denen der Arzt i. d. R. vertrauter ist. Die Interessen und Motivationslagen sind vielfältig und kaum abstrakt zu bestimmen. Auch lässt die Regelung den Aspekt des Rechts auf Nichtwissen des Verwandten vermissen. Im Rahmen des § 34 StGB wurde schon darauf hingewiesen, dass § 34 StGB nicht tauglich ist, die Interessenkollision adäquat zu lösen.250 Gleiches gilt, wenn Dritte die Entscheidung im Rahmen des § 34 StGB treffen. Darüber hinaus verhindert auch dieser Weg nicht, dass der Arzt als eine Art Kontrolleur agiert, und dies Untersuchungswillige von der Untersuchung abhalten könnte. Zuletzt spielen staatliche Institutionen im deutschen Gesundheitssystem keine große Rolle. Eine externe Ethikkommission wäre in Deutschland daher eher ein Fremdkörper.251
C. Bewertung der „Empfehlung zur Empfehlung“ Lösung Im Anschluss stellt sich nun die Frage, wie der Gesetzgeber den dargestellten Konflikt des mehrdimensionalen Zufallsfundes im Detail gelöst, und dabei den jeweiligen Ausprägungen des Rechts auf Wissen und Nichtwissen Rechnung getragen hat. Das Modell der „Empfehlung zur Empfehlung“ mutet dabei etwas seltsam an. Als rechtliches Lösungsmodell eines Interessenkonflikts wählt es einen bisher unbekannten Weg. Der Arzt wird zu einer Empfehlung an den Klienten verpflichtet, der Klient wiederum, den keinerlei rechtliche Pflichten im Verhältnis zu den Verwandten treffen, soll die Empfehlung einer genetischen Beratung weitergeben. Bei dem gesetzlichen Konzept sind somit zwei Schritte zu unterscheiden: zunächst die (verpflichtende) Empfehlung des Arztes 250
Siehe oben Kapitel 2, C. I. 2. c). Vgl. Henn, Schweigepflicht und Datenschutz bei genetischer Beratung, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 103, 111. 251
C. Bewertung der „Empfehlung zur Empfehlung“ Lösung
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gegenüber seinem Klienten innerhalb der Arzt-Klienten-Beziehung, und im Anschluss die (freiwillige) Empfehlung einer Beratung des Klienten gegenüber potenziell betroffenen Verwandten.
I. „Empfehlung zur Empfehlung erster Teil“: Rechte des Klienten Beleuchtet werden soll zunächst die den Konflikt leitende Arzt-Klienten-Beziehung und die hier vorgesehene Empfehlungspflicht. Auf den ersten Blick und nach Aussage des Gesetzgebers252 scheint die Beschränkung auf eine reine Empfehlung unter Wahrung der Schweigepflicht den Rechten des Betroffenen, seinem Recht auf Privatheit und geninformationelle Selbstbestimmung, wie auch teilweise des potenziell Mitbetroffenen, Rechnung zu tragen. Auf den zweiten Blick ist in der „Empfehlung“ jedoch auch ein paternalistischer Regelungsgehalt zu entdecken. 1. Paternalismus In historischer Hinsicht war die Arzt-Patienten-Beziehung im Gegensatz zum heute herrschenden Prinzip der Patientenautonomie traditionell von einer paternalistischen Fürsorge geprägt.253 Die Medizinethik legte den Schwerpunkt auf das Patientenwohl und damit auf das Fürsorgeprinzip bzw. Schädigungsverbot.254 Nach zunehmender Kritik sind paternalistische Verhaltensweisen aus der Medizinethik durch die Patientenautonomie verdrängt worden, wobei Varianten dieser Fürsorgeethik sich noch heute finden lassen. a) Vom Paternalismus zum informed consent Der auf die hippokratische Tradition gestützte Paternalismus255 nach dem Grundsatz „salus aegroti suprema lex“ beschreibt ein Handeln zum Wohl des Betroffenen, gegebenenfalls auch gegen dessen Willen.256 In medizinischer Hinsicht bedeutet dies, dass der Arzt aus Fürsorgegesichtspunkten die Patientenentscheidung zugunsten des nach seiner Ansicht überwiegenden Wohlbefindens des Patienten übergehen kann. Die Beurteilung der „richtigen“ Entscheidung im Sinne des Patienten obliegt nach diesem Prinzip allein-
252
Siehe oben BT-Drs. 16/10532, S. 29. Vgl. Marckmann/Bormuth, in: Wiesing/Ach, Ethik in der Medizin, S. 91, 92; vgl. Quante, Ethische Probleme mit dem Konzept der informierten Zustimmung, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 209, 210. 254 Vgl. Hildt, JCSW 2004, S. 37, 39; zum Fall einer paternalistischen gesetzlichen Regelung im Bereich der Organspende § 8 Abs. 1 Satz 2 TPG Schroth, Die gesetzliche Begrenzung der Lebendspende – wie viel Paternalismus ist legitim?, in: Festschrift Schreiber, S. 843 f. 255 Vgl. Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 341; Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 120; Schroth, Fragwürdiger Paternalismus bei der Organlebendspende, in: Lilie/Rosenau/Hareri, Die Organtransplantation, S. 117, 119. 256 Vgl. Eidenmüller, JZ 2011, S. 814, 815; Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 341. 253
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
verantwortlich dem Arzt, der sich der Patient unterwirft.257 Der Arzt ist damit die die Beziehung prägende Partei. Zur Begründung für diese paternalistische Bevormundung wurde die „natürliche Asymmetrie“258 der Beziehung angeführt; dem Patienten, der sich aufgrund seines Gesundheitszustands in einer schwachen Position befinde, fehle in der Regel das ausreichende Wissen und damit die kognitive und, aufgrund der krankheitsbedingten Verletzbarkeit die moralische Kompetenz, eine fundierte Entscheidung zu treffen.259 Des Weiteren befinde sich der Patient in einer Art Ausnahmesituation, mit der Folge, dass er zu einer rationalen und reflektierten Entscheidung nicht fähig sei. Der Arzt hingegen weist sich durch seine Fachkompetenz und Erfahrung aus. Daher wurde ihm die Entscheidungskompetenz übertragen.260 Das ärztliche Handeln orientiert sich daher an der Gesundheit des Patienten und der Schadensvermeidung und nicht an dessen Willen. Dieser Grundsatz hat sich durch die zunehmende Betonung des informed consent hin zu einer partnerschaftlichen Beziehung gewandelt.261 Der beschriebene paternalistische Leitgedanke ist durch die Betonung der Selbstbestimmung des Patienten über Körper und Gesundheit abgelöst worden. Der Informationsfluss geht nunmehr in zwei Richtungen, um die relevanten Fragen gemeinsam erörtern zu können: der Patient liefert dabei die nicht-medizinischen Informationen, wie Lebenswandel, Wertvorstellungen etc., die für die zu wählende Behandlung von Relevanz sein können.262 Der Arzt liefert durch die Aufklärung die erforderliche Entscheidungsgrundlage.263 Im Anschluss muss der Patient nunmehr selbst über die Vornahme der medizinischen Maßnahme entscheiden. Die mit dem englischen Begriff „informed consent“ umschriebene „Einwilligung nach Aufklärung“ oder „informierte Einwilligung“264 sichert in dieser Perspektive nicht in erster Linie die Rechtfertigung des körperlichen Eingriffs durch den Arzt i. S. d. § 223 StGB, sondern dient der „Koordination der Autonomie des Patienten und der des Arztes“.265 Anstoß für diesen Wandel gaben Fälle des Missbrauchs des eingeräumten Vertrauens. Ausschlaggebend waren insbesondere die abschreckenden Fälle in Zeiten der NS-Diktatur, die im Rahmen der Nürnberger Ärzteprozesse bekannt wurden.266 Einen ersten Normie257 Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 174; Quante, Ethische Probleme mit dem Konzept der informierten Zustimmung, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 209, 210. 258 Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 341; dazu BT-Drs. 14/9020, S. 20. 259 Vgl. Inserm, Tests génétiques Questions scientifiques, médicales et sociéales, S. 206; Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 86. 260 Vgl. dazu Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 118. 261 Ausführlich zu dieser Thematik Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 117 ff.; Quante, Ethische Probleme mit dem Konzept der informierten Zustimmung, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 209, 210. 262 Vgl. Quante, Ethische Probleme mit dem Konzept der informierten Zustimmung, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 209, 210 f.; Klemperer, Balint 2005, S. 71, 72 ff. (abrufbar unter http://kurse.fh-regensburg.de/kurs_20/kursdateien/P/2005balint1.pdf). 263 Vgl. Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 86 f.; Klemperer, Balint 2005, S. 71, 72 ff. 264 Hildt, JCSW 2004, S. 37, 39. 265 Kirste, JZ 2011, S. 805, 807. 266 Vgl. Inserm, Tests génétiques Questions scientifiques, médicales et sociéales, S. 207; Beleites, Ist der Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses Folge des medizinischen Fortschrittes?, in: Schumpelick/Vogel, Arzt und Patient eine Beziehung im Wandel, S. 81, 84.
C. Bewertung der „Empfehlung zur Empfehlung“ Lösung
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rungsschritt unternahm daher der Nürnberger Kodex 1947267 , der die medizinische Forschung von der freiwilligen Zustimmung des Probanden abhängig machte und ein ärztlicher Verhaltenskodex, der das Prinzip der Entscheidungsfreiheit des Patienten vorsah.268 Mittlerweile hat sich das Prinzip des informed consent zu einem wichtigen Instrument der Selbstbestimmung des Patienten entwickelt, das als Grundprinzip auch in der ärztlichen Berufsordnung seinen Niederschlag gefunden hat269 und als „informatives Modell“270 die Patientenautonomie betont. Auch ein gesellschaftlicher Wandel begründet die Rolle des Patienten als Partner. Der Patient von heute verfügt über immense Informationsmöglichkeiten, die die Asymmetrie der Beziehung verringern. In Zeiten des Internets mit seinen auch medizinischen Ratgebern und Foren hat der Einzelne die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren. Aber auch die zunehmende gesellschaftliche Betonung der Selbstbestimmung und Individualisierung verstärken den Wandel der Beziehung.271 Partnerschaftlichkeit, Selbstbestimmung, Patientenautonomie und ein kritischer Patient bilden heute das Gegengewicht zum Paternalismus.272 Die Autonomie des Patienten wird dabei umfassender verstanden. Sie bezieht sich nicht allein auf die Frage der Einwilligung in den körperlichen Eingriff, sondern bezieht sich dabei auch auf das „Ob“ und den Umfang des Wissens.273 Damit ist auch eine Aufklärung, die zwar die rationalen Voraussetzungen einer autonomen Entscheidung fördert, aber gegen den Willen erfolgt, als paternalistisch zu bewerten. Zu beobachten ist jedoch auch eine leicht gegenläufige Entwicklung. Die weiterhin zunehmende Betonung der Selbstbestimmung und Autonomie tritt an verschiedenen Stellen in Konflikt mit der Ethik der Fürsorge, da dem Arzt nicht die Möglichkeit gegeben wird, verstärkt durch den Grundsatz der Nichtdirektivität, den Patienten von aus medizinischer Sicht sinnvollen Entscheidungen zu überzeugen oder auch ein Handeln im Interesse Dritter zu fördern. Des Weiteren ist trotz der grundsätzlichen Verbannung des medizinischen Paternalismus die Arzt-Patienten-Beziehung weiterhin einem Wandel und externen Einflüssen unterworfen. Der medizinische Fortschritt und gesellschaftliche Einflüsse lassen, zumindest vom Ergebnis her, paternalistische Züge wiederaufleben. Zum einen besteht die Gefahr, dass der Patient als Laie nicht mehr in der Lage ist, die Komplexität der medizinischen Fragen zu erfassen und eine autonome Entscheidung zu treffen. Darüber hinaus ist ein gesellschaftlicher Trend erkennbar, der ein Mehr an gesundheitlicher Verantwortung
267 „Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich“; Der Nürnberger Ärztekodex von 1947 ist abgedruckt in Kolb/Seithe, Medizin und Gewissen, S. 455. 268 Vgl. BT-Drs. 14/9020, S. 20; Henn, Schutz und Grenzen der informationellen Selbstbestimmung in der medizinischen Genetik, in: Zang, 25 Jahre Institut für Humangenetik, S. 341. 269 § 7 Abs. 1 der MBO lautet: Jede medizinische Behandlung hat unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patientinnen und Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen. Das Recht der Patientinnen und Patienten, empfohlene Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen abzulehnen, ist zu respektieren. 270 Marckmann/Bormuth, in: Wiesing/Ach, Ethik in der Medizin ein Reader, S. 91, 92. 271 Vgl. Beleites, Ist der Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses Folge des medizinischen Fortschrittes?, in: Schumpelick/Vogel, Arzt und Patient eine Beziehung im Wandel, S. 81, 96 f. 272 Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 121. 273 Vgl. Kirste, JZ 2011, S. 805, 807: dies missachte ein weicher Paternalismus, der Autonomie allein auf den körperlichen Eingriff bezieht.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
einfordert und damit ebenfalls zu einer Bevormundung des Patienten führen kann.274 Der Paternalismus ist damit aus der Medizin nicht verschwunden. b) Paternalismusformen Um eine Bewertung der „Empfehlungslösung“ unter den Gesichtspunkten des viel diskutierten Paternalismus leisten zu können, ist an dieser Stelle genauer zu erläutern, was unter „Paternalismus“ zu verstehen ist und welche Formen es gibt.275 aa) Starker und schwacher Paternalismus Als (Rechts)Paternalismus wird allgemein das Handeln einer Person zugunsten einer anderen bezeichnet. Der Handelnde greift dabei in die rechtlich geschützte Autonomie des anderen ein, da er auch gegen den Willen des Betroffenen agieren kann. Im Falle des sogenannten starken oder auch harten Paternalismus wird der Wille des Betroffenen vollständig ignoriert. Häufig genanntes Bespiel ist hier die Anschnallpflicht im Auto oder Helmpflicht beim Motorradfahren.276 Ein Fall des starken medizinischen Paternalismus ist der Fall der Bluttransfusion bei einem minderjährigen Kind eines Zeugen Jehovas, der jegliche Transfusion ablehnt. Hier wird die ablehnende Entscheidung der Sorgeberechtigten zum Schutz des Integritätsinteresses des Kindes übergangen.277 Im Falle des schwachen oder auch weichen Paternalismus wird der Wille des „Geschützten“ zumindest teilweise missachtet. Als schwach paternalistisch wird es z. B. angesehen, wenn eine Beratung rechtlich vorgeschrieben ist und sich der Betroffene ihr folglich nicht entziehen kann.278 Diese Form des Paternalismus wird im Zusammenhang mit sogenannten DTC-Tests befürwortet, um den Betroffenen vor Informationen zu schützen, die er ohne Beratung nicht verstehen und daher fehlinterpretieren kann. Des Weiteren gibt es Formen des indirekten Paternalismus, wenn jemand (z. B. der Verwandte) vor bestimmten Verhaltensweisen anderer (z. B. des Klienten) geschützt werden soll, d. h. dass derjenige, dessen Freiheit eingeschränkt wird und derjenige, zu dessen Wohl die Maßnahme erfolgt, nicht identisch sind.279 bb) Liberaler Paternalismus Neben diesen Formen des Paternalismus wird heute insbesondere auf Grundlage der Ideen der Verhaltensökonomik von „behavioural law and economics“ eine „libera-
274
Siehe dazu ausführlich unten Kapitel 4, B. II. Vgl. dazu Schöne-Seifert, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2009, S. 107, 109 ff. 276 Schöne-Seifert, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2009, S. 107, 110. 277 Olzen, in: MüKo BGB, § 1666, Rn. 80; OLG Celle, Beschl. v. 21.02.1994 – 17 W 8/94; anders bei einwilligungsfähigen Patienten. Hier darf ein entgegenstehender Wille nicht übergangenen werden, auch bei Lebensgefahr; OLG München Urt. v. 31.01.2002, 1 U 4705/98. 278 Vgl. Vossenkuhl, Gerechtigkeit, Paternalismus und Vertrauen, in: Fateh-Moghadam/ Sellmaier/Vossenkuhl, Grenzen des Paternalismus, S. 163, 167. 279 Vgl. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 15; Vossenkuhl, Gerechtigkeit, Paternalismus und Vertrauen, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl, Grenzen des Paternalismus, S. 163, 167: als Beispiel wird hier der Schutz von Nichtrauchern in der Öffentlichkeit genannt. 275
C. Bewertung der „Empfehlung zur Empfehlung“ Lösung
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le/libertäre“ Form des Paternalismus diskutiert, deren Ziel die Förderung der Autonomie des Begünstigten durch die Kompensation von Rationalitätsdefiziten ist.280 Der Begriff des liberalen Paternalismus ist ein ökonomischer, wirtschaftspolitischer Begriff, dessen Konzept Thaler und Sunstein mit ihrem Buch „Nudge“ populär gemacht haben. Ihr Ansatz ist, dass Menschen oft irrationale Entscheidungen treffen und deswegen teilweise einen „Schubs“ bedürfen, um gute Entscheidungen zu treffen. Sie beschreiben das Beispiel der Anordnung von Speisen in einer Schul-Caféteria, um die Schüler zu einer gesünderen Ernährung „anzuschubsen“. Stelle man das Obst vor den Nachtisch und auf Augenhöhe, so würden die Besucher vermehrt zum Obst greifen.281 Dies sei liberaler/libertärer Paternalismus. Liberale Paternalisten bezeichnen ihr Konzept als „liberal“, da es den Willen des Betroffenen nicht übergeht und damit seine Entscheidungsfreiheit wahrt, sondern lediglich versucht, durch äußere Einflüsse seine Entscheidung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Aufgrund des zweiten Gesichtspunkts ist der Begriff „liberal“ mit dem des Paternalismus kombiniert, da das Verhalten beeinflusst wird. Im englischen bezeichnet man diesen Ansatz daher als Nudge, „Schubs“.282 Thaler und Sunstein wollen dem Menschen in solchen Situationen „einen Schubs in die richtige Richtung – einen Nudge“ geben, in denen man in der Regel ansonsten schlechte Entscheidungen trifft.283 Teilweise ist auch von einem weichen Paternalismus die Rede, da auf den Einzelnen kein Druck bzw. Zwang ausgeübt wird.284 2. Moralisch liberaler Paternalismus des GenDG Das Besondere an der Konstellation des Zufallsfundes ist die Anwendung der medizinischen Prinzipien in der Drei-Personen-Beziehung. Paternalistischen Handlungsweisen liegt jedoch meist die bilaterale Arzt-Patienten-Beziehung zu Grunde. Wie ist nun die Regelung der „Empfehlung zur Empfehlung“ hier einzuordnen? Genügt sie dem Recht auf Selbstbestimmung oder ist sie als paternalistisch zu bewerten? Das Konzept der doppelten Empfehlung regelt in rechtlicher Hinsicht ebenfalls nur das Verhältnis zwischen Arzt und Klient, alleine dieses Kommunikationsverhältnis ist durch die Pflicht zur Empfehlung für den Arzt geregelt. Die doppelte Empfehlung hat zwar ebenfalls Auswirkungen auf das Verhalten des Betroffenen gegenüber den Verwandten, ist jedoch nicht unmittelbar Regelungsgegenstand und kann daher an dieser Stelle noch außer Betracht bleiben und soll im „zweiten Teil“ behandelt werden. Der Regelung des GenDG liegt das Ziel zu Grunde, dass die Empfehlung gegenüber dem Klienten dem Fürsorgegedanken in Bezug auf potenziell betroffene Dritte Rechnung
280 Vgl. Kirste, JZ 2011, S. 805; Die Verhaltensökonomen beschäftigen sich mit dem Verhalten des Menschen in Bezug auf wirtschaftliche Entscheidungen. Dabei werden Konstellationen untersucht, in denen der Mensch irrational handelt. 281 Die Leiterin und Gestalterin der Caféteria wird als choice architect bezeichnet. Dies sind all diejenigen, die das Auswahlverhalten und die Auswahlergebnisse der Mitmenschen beeinflussen. 282 Thaler/Sunstein/Bausum, Nudge, S. 14. 283 Thaler/Sunstein/Bausum, Nudge, S. 15. 284 Vgl. Schnellenbach, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, S. 445, 446.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
trägt und damit die Rechte der Verwandten sichern soll.285 Dieser Ansatz setzt als notwendige Bedingung jedoch die Vorstellung voraus, dass auf die Existenz relevanter genetischer Daten hingewiesen wird. Nur dann kann der Verwandte eine fundierte und autonome Entscheidung überhaupt treffen. Erst wenn eine tatsächliche Wahlmöglichkeit besteht, und bei einem entsprechenden Wunsch die Weitergabe der genetischen Daten innerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen erfolgt, wird tatsächlich beiden Rechten Rechnung getragen. Dies ist daraus zu folgern, dass nach der Konzeption des Gesetzgebers über den Weg der Privatisierung u. a. dem Recht auf Wissen und dem Integritätsinteresse der Verwandten Rechnung getragen werden soll.286 Dieses Ziel ist jedoch nur zu erreichen, wenn man von der überwiegenden Weitergabe der entsprechenden Beratungsempfehlung durch den Klienten ausgeht. Ansonsten wird das Ziel der gesetzlichen Regelung nicht erreicht, die Rechte der Verwandten liefen leer. Die bereits erwähnten Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen 1998287 enthielten noch eine davon abweichende Formulierung. Statt einer „Empfehlung zur Empfehlung“ sollte der Arzt den Betroffenen nur informieren, dass dieser die Verwandten auf das erhöhte Risiko hinweise. 288 Diesen Wortlaut hat das Gesetz nicht übernommen, sondern vielmehr die „Information“ durch eine „Empfehlung“ ersetzt. Diese Begriffswahl gibt der Regelung des GenDG einen mehr direktiven Charakter, da eine ärztliche Empfehlung im Gegensatz zu einer Information nicht neutral ist.289 Indem dem Arzt gesetzlich eine Empfehlung zur Empfehlung einer genetischen Beratung auferlegt wird, enthält das Gesetz daher unterschwellig eine Aufforderung an den Klienten, sein Wissen zu teilen, suggeriert damit implizit eine moralische Pflicht zur Mitteilung und einen Verzicht auf seine Privatheit. Es bleibt die Gewissensentscheidung des Patienten, wie er mit dem Recht auf Wissen bzw. Nichtwissen in seiner Familie umgeht, ihm wird jedoch die richtige Gewissensentscheidung durch das Beratungskonzept „angedeutet“.290 Die Empfehlung kann damit nur das Ziel verfolgen, den Klienten dahingehend zu „schubsen“, dass er auf die betroffenen Verwandten zugeht. Dieses gesetzliche Vorgehen, dem Klienten eine freie Entscheidung zu belassen, ihn jedoch in eine gewisse Richtung zu lenken, ist das Konzept eines liberalen Paternalismus.291 Der Klient soll in die „richtige“ Richtung „geschubst“ werden, den Verwandten, zunächst natürlich nur über die Existenz
285 Eine Differenzierung zwischen dem Recht auf Wissen und Nichtwissen wird in der Gesetzesbegründung hier jedoch nicht vorgenommen. 286 BT-Drs. 16/10532, S. 29. 287 Siehe oben Fn. 155. 288 Damm bezeichnet Regelungen, nach denen der Arzt den Klienten darüber informiert, dass dieser Verwandte informieren sollte und ihm auch die Information über über die Diagnostikmöglichkeiten überlässt als eine Linie zwischen „Patientenautonomie und einem von ärztlicher Fürsorge getragenen sanften Paternalismus. Damm, Individualisierte Medizin und Patientenrecht, in: Honnefelder, Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, S. 203, 221. 289 Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 118. 290 Vgl. Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 190: Die Regelung – so Wollenschläger – greife nicht in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein, da die Letztentscheidung beim Untersuchten verbleibe. Jedoch baue die Regelung einen Entscheidungsdruck auf und verstoße gegen den Grundsatz der Nichtdirektivität. 291 Vgl. Kersten, ZEE 2013, S. 23, 25.
C. Bewertung der „Empfehlung zur Empfehlung“ Lösung
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für ihn relevanter Daten, zu informieren. Mit den überkommenen Prinzipien nicht direktiven Verhaltens und Autonomie ist ein solches Vorgehen an sich nicht zu vereinbaren.292 Des Weiteren wird diese Form des Paternalismus, in der der Adressat zu der vermeintlich „richtigen“ Entscheidungen bewegt werden soll indem die Offenbarung der genetischen Ergebnisse innerhalb der Verwandtschaft als moralische Verpflichtung suggeriert wird, als „moralischer Paternalismus“ bezeichnet.293 Nach Husted ist die Regelung, nach der Ärzte im Beratungsgespräch den Klienten auffordern sollen, betroffene Verwandte aufzuklären, als moralistisch und direktiv anzusehen. Ein solcher Ratschlag impliziere eine Belehrung über die moralischen Pflichten des Klienten.294 Auch klingt hier eine Informationsverantwortung des Klienten gegenüber Dritten in gewisser Abkehr des Rechts auf Selbstbestimmung an.295 Diese Form des Paternalismus wird als problematischer angesehen als der medizinische Paternalismus, da in moralischen Fragestellungen ein besonderes und je individuelles Interesse des Einzelnen an einer autonomen Entscheidung besteht.296 Der Arzt habe keine professionelle Ausbildung und Erfahrungen in Bezug auf moralische Entscheidungen und könne nicht vorhersagen, was aus der Perspektive des Betroffenen die richtige oder falsche Entscheidung ist.297 Auch diese Gedanken kommen bei Beurteilung der Regelung des GenDG zum Tragen. Die gesetzlich empfohlene Empfehlung einer genetischen Beratung durch den Klienten suggeriert eine moralische Pflicht zur Wissensweitergabe. Diese soll erfolgen, ohne dass abstrakt bestimmt werden kann, ob von Seiten des Dritten ein Interesse an diesem Wissen besteht, noch kann es den Besonderheiten der jeweiligen Familiensituation Rechnung tragen. Der Arzt kann zum einen diese Entscheidung schwerlich treffen, zum anderen ist er sogar von Gesetzes wegen zu diesem moralistischen Vorgehen verpflichtet.
II. „Empfehlung zur Empfehlung zweiter Teil“: Rechte des Verwandten Der zweite Teil der doppelten Empfehlung betrifft das Verhältnis zwischen Klient und Verwandten. Die Diskussion über ein mögliches Offenbarungsrecht darf jedoch – wie 292 In der medizinischen Praxis dürften ärztliche Empfehlungen jedoch die Regel sein; sie werden auch von den Patienten teilweise erwartet, z. B. in Bezug auf die Notwendigkeit einer Operation oder Medikamenteneinnahme. Dem Arzt aufgrund der Patientenautonomie auch Empfehlungen zu versagen wäre daher praxisfern. Hier erscheint die Empfehlung jedoch in einem anderen Licht, da sie das Verhalten gegenüber einem Dritten und nicht das eigene Gesundheitsverhalten betrifft. 293 Vgl. Husted, Autonomy and a right not to know, in: Chadwick/Levitt/Shickle, The right to know and the right not to know, S. 55, 67; Rehmann-Sutter, Communication Yes, but How – and What?, in: Rehmann-Sutter/Müller, Disclosure dilemmas, S. 45, 49: der behandelnde Arzt könne nicht vorhersagen, was das richtige oder falsche Verhalten aus der Perspektive des Klienten ist; oder auch benevolenter Paternalismus, Damm, MedR 1999, S. 437, 445, da der Arzt aus Fürsorgegesichtspunkten den Patienten darauf hinweist, dass dieser seine Verwandten auf das erhöhte Risiko hinweisen sollte. 294 Vgl. Husted, Autonomy and a right not to know, in: Chadwick/Levitt/Shickle, The right to know and the right not to know, 1997, S. 55, 67; Hildt, Prädiktive genetische Diagnostik und das Recht auf Nichtwissen, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 225, 236. 295 Vgl. Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 319; siehe dazu weiter unten Kapitel 4, B. II. 1. 296 Vgl. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 189. 297 Siehe Rehmann-Sutter, Communication Yes, but How – and What?, in: Rehmann-Sutter/ Müller, Disclosure dilemmas, S. 45, 49.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
erläutert – nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Wissensweitergabe nicht immer zwingend im Interesse des Verwandten liegt. Die Mitteilung von Zufallsfunden und die daraus folgende Offenbarung möglicher Erkrankungsrisiken sind vielmehr als ambivalent zu beurteilen. Um die bereits eingeführten Begrifflichkeiten zu verwenden, handelt es sich, abstrakt gesehen, um einen Autonomiekonflikt: Die Autonomie des Klienten verbunden mit eventuellen Fürsorgepflichten gegenüber Familienangehörigen steht in Konflikt mit der Autonomie der Verwandten, das neue Wissen zur Kenntnis zu nehmen oder eben auch nicht.298 Die Perspektive der Verwandten ist somit zweiseitig: Sie können ein Interesse daran haben, die Ergebnisse zu erfahren. Sie können jedoch ebenso den Willen bilden, in Unkenntnis zu bleiben. Die Interessen und Auswirkungen unterscheiden sich im Ergebnis nicht von denen des Betroffenen. Auch für den Verwandten sind die Ergebnisse geeignet, schwerwiegende familiäre oder psychologische Auswirkungen hervorzurufen und die Lebensplanung zu beeinflussen.299 Mit dem Wissen können auch negative, schädigende Wirkungen verbunden sein. Im Gegensatz dazu vermögen sie dem Verwandten je nach Erkrankung die Möglichkeit zu geben, Prävention- bzw. Therapiemaßnahmen zu ergreifen. Aus dem Wissen über ihre genetischen Dispositionen erwächst für sie damit gegebenenfalls die Möglichkeit, ihre Lebensgestaltung anzupassen und die Möglichkeit autonome Entscheidungen zu treffen. Aus diesem Grund ist es auch aus der Perspektive der Verwandten wichtig, beide Schutzrichtungen des Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung zu achten. Das Wissen kann einerseits die Autonomie vergrößern. Das Wissen kann sie andererseits jedoch auch einschränken, wenn ein Erkrankungsrisiko Ängste hervorruft. In Verbindung mit einer nicht sichergestellten genetischen Beratung, d. h. der fehlenden Möglichkeit sich im Vorfeld mit der Thematik auseinander zu setzen und sich auf das Wissen vorzubereiten, sind negative Auswirkungen auf die Psyche des Betroffenen möglich und können zu Fehlentscheidungen verleiten. Ein Recht auf Wissen wird dem Verwandten in diesem Modell zu Recht nicht zuerkannt, dies gilt jedoch nicht für ein Recht auf Nichtwissen. Dieses soll daher im Folgenden im Fokus stehen. 1. „Unsolicited disclosure“ als Verletzung des Rechts auf Nichtwissen Das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf Wissen des Klienten und dem Recht auf Nichtwissen der Verwandten wird als ein grundsätzliches Problem der Gendiagnostik beschrieben,300 jedoch in Diskussion um den Umgang mit Zufallsfunden wenig thematisiert.301 Das Problem liegt hier darin, dass die Verwandten die Information über Zufallsfunde in der Regel unvorbereitet trifft und damit gegebenenfalls auch unwillkommen. Dieses unaufgeforderte Enthüllen von genetischen Analyseergebnissen wird in der englischsprachigen Literatur mit dem Begriff „unsolicited disclosure“ beschrieben. Auf diese Problematik und ihre Berücksichtigung durch das GenDG soll im Folgenden eingegangen werden. 298
Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 343. Vgl. GEKO, 2011, Richtlinie, II, S. 2. 300 Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 303 Fn. 1036 unter Verweis auf DFG, Stellungnahme 2003, S. 32; siehe dazu bereits oben Kapitel 3, A. IV. 3. b) bb). 301 Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 342 f., 347. 299
C. Bewertung der „Empfehlung zur Empfehlung“ Lösung
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a) Einführung in die Problematik „Einmal Gedachtes oder Entdecktes kann nicht rückgängig gemacht werden.“ (Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker) Ein unvorhersehbares und eventuell auch unerwünschtes Enthüllen eines Testergebnisses, sei es durch den Arzt oder den Klienten selbst, birgt die Gefahr, das Recht auf Nichtwissen der Angehörigen nicht adäquat zu berücksichtigen. In der englischsprachigen Literatur findet unter dem Schlagwort „unsolicited disclosure“ („unaufgeforderte Offenbarung“) eine kontroverse Diskussion zu dieser Thematik statt.302 Wenn sich die Betroffenen oder auch der Arzt an die Verwandten wenden und ihnen ihr Erkrankungsrisiko eröffnen, gibt man ihnen zuvor nicht die Möglichkeit, sich zu informieren, eine Beratung einzuholen und sich gegebenenfalls gegen den Erhalt und für die Ungewissheit auszusprechen. Sie sind gegen eine solche Enthüllung schutzlos. Trotz dieser Erkenntnis und der Anerkennung eines Selbstbestimmungsrechts des Verwandten wird meist pauschal von einer (moralischen) Verpflichtung zur Weitergabe genetischer Erkenntnisse an potenziell betroffene Verwandte ausgegangen.303 Teilweise plädieren sie für eine Weitergabe durch den Arzt, teilweise sehen sie die innerfamiliäre Kommunikation als einzig zulässigen Weg an, wobei der Arzt den Klienten von der Weitergabe überzeugen soll.304 Eine solche Sichtweise legt den Schwerpunkt auf das Benefizienzprinzip und den (angeblichen) Autonomiezuwachs aufgrund der neuen Erkenntnisse. Das Recht auf Nichtwissen und die mit dem Wissen eventuell verbundenen negativen Wirkungen treten dabei in den Hintergrund. Der Verlust der „genetischen Unschuld“305 ist in dieser Situation ein „fait accompli“,306 da vor der Durchführung der genetischen Analyse des Klienten ein informed consent der Verwandten nicht erforderlich ist. Ein Recht auf Nichtwissen, bezogen auf die sie potenziell betreffenden Ergebnisse der (unerwünschten) Untersuchung, wird man den Verwandten jedoch nicht absprechen können. Dieses Recht steht auch ihnen zu. Die Anerkennung des geninformationellen Selbstbestimmungsrechts der Dritten führt dann jedoch dazu, dass die Entscheidungsfreiheit der Verwandten bzgl. Wissen oder Nichtwissen durch die ungefragte Weitergabe der Ergebnisse nach der Untersuchung übergangen wird.307 Sie können diese wichtige Lebensentscheidung nicht selbst treffen. In den Konstellationen, in denen aufgrund des Wissens medizinische Maßnahmen möglich sind, ist eine Betonung des Benefizienzprinzips zwar in Erwägung zu ziehen. Allein die Eröffnung medizinischer Handlungsoptionen genügt jedoch für eine Missachtung des Rechts auf Nichtwissen des 302 Vgl. dazu Hildt, Prädiktive genetische Diagnostik und das Recht auf Nichtwissen, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 225, 233. 303 Vgl. GfH, Positionspapier 2007, Punkt 7: die Mitteilung sei eine moralische Pflicht. 304 Vgl. Nachweise bei Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 344. 305 Leopoldina et al., Stellungnahme 2010, S. 49. 306 Husted, Autonomy and a right not to know, in: Chadwick/Levitt/Shickle, The right to know and the right not to know, 1997, S. 55, 56. 307 Vgl. Hildt, Prädiktive genetische Diagnostik und das Recht auf Nichtwissen, in Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 225, 236; Hennen/Petermann/Schmitt, Genetische Diagnostik, S. 134: Das Recht auf Nichtwissen gebiete trotz ärztlicher Fürsorgepflicht das Wissen an die Verwandten nicht weiterzugeben; Stumper, Informationelle Selbstbestimmung und DNAAnalysen, S. 231.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
Verwandten nicht. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund der Anerkennung des Rechts auf Nichtwissen im GenDG. Für den Anwendungsfall des GenDG, d. h. die Perspektive des Klienten, ist unstreitig, dass auch im Falle behandelbarer Krankheiten das Selbstbestimmungsrecht des Klienten geschützt wird, er auch bei medizinischen Handlungsoptionen das Wissen ablehnen kann. Im Fall des mitbetroffenen Verwandten darf nichts anderes gelten. Dies ist umso mehr zu beachten, wenn nicht sicher ist, welcher gesundheitliche Nutzen aus dem Wissen gezogen werden kann, sei es aufgrund geringerer Penetranz, sei es aufgrund (noch) fehlender Behandlungsmöglichkeiten.308 Vielmehr kann das schädigende Potenzial des Wissens beim Verwandten auch durchaus als höher eingestuft werden, da sich der Verwandte auf die Offenbarung nicht vorbereiten und sich folglich auch keine Gedanken über die Folgen machen konnte. Sie drohen überrollt zu werden.309 Dies wird noch weiter durch den Umstand verstärkt, dass dem Betroffenen die nötige Fachkenntnis fehlt, um die genetischen Untersuchungsergebnisse in ihrer Aussagekraft richtig weiterzugeben. Es besteht damit die Gefahr, dass die Ergebnisse überbewertet und die Bedeutung für den Verwandten überschätzt wird.310 Ein überwiegendes Recht des Klienten und damit eine Rechtfertigung des Eingriffs in das Recht auf Nichtwissen des Verwandten unter Abwägung betroffener Rechtsgüter besteht jedoch – anders als im Fall der Nichtmitteilung – soweit ersichtlich nicht. Eine Bevormundung entsteht auch dann, wenn die Informationen nicht weitergeleitet werden. In diesem Fall wird das Wahlrecht des Verwandten – hier das Recht auf Wissen – missachtet. Ihm wird nicht die Möglichkeit gegeben, sich für das Wissen zu entscheiden. Diese Möglichkeit liegt je nach gesetzlicher Lösung in den Händen des Arztes oder Klienten. Im Gegensatz zur ungefragten Offenbarung des Wissens ist das ungefragte Verschweigen des Wissens jedoch zu rechtfertigen. Gibt der Betroffene das Wissen nicht weiter, so übt er sein Recht auf Privatheit aus, das Recht des Verwandten auf Wissen tritt in diesen Fällen zurück.311 b) „Unsolicited disclosure“ als Form starken Paternalismus Beachtet man die Rechte des Verwandten und die grundsätzliche Gleichrangigkeit des Rechts auf Wissen und Nichtwissen, so ist die ungefragte Information Drittbetroffener nach den medizin-ethischen Prinzipien der Selbstbestimmung und Autonomie nicht zulässig. Die Kernproblematik des unsolicited disclosure liegt damit im Übergehen des informed consent der Verwandten.312 Aus diesem Grund wird die unaufgeforderte Mitteilung der Ergebnisse durch den Betroffenen oder den Arzt als eine Form des starken Paternalismus bewertet, da zum mutmaßlichen Wohl des Angehörigen ihm die Entscheidung
308
Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 345. Vgl. Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 47. 310 Vgl. Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 226. 311 Es sei denn man nähme ein Pflicht des Betroffenen an sein Recht auf Verschwiegenheit zurück treten zu lassen und die Verwandten zu informieren. Eine solche rechtliche Pflicht besteht jedoch nicht. 312 Vgl. Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 190: Die Weitergabeempfehlung erweise sich gegenüber dem Verwandten als grundrechtsrelevant. 309
C. Bewertung der „Empfehlung zur Empfehlung“ Lösung
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über das Wissen-Wollen aus der Hand genommen wird.313 Verstärkt wird dieses paternalistische Konzept durch den beschriebenen moralischen Paternalismus, der die moralische Pflicht zur Weitergabe suggeriert und damit die Bevormundung noch verschärft. Dem Klienten wird vermittelt, dass die (ungefragte) Weitergabe die richtige Entscheidung sei. Den möglichen Eingriff in das Recht auf Nichtwissen durch den Betroffenen muss sich der Staat aus diesem Grund zurechnen lassen, da er mit der gesetzlichen Regelung gerade auf die Weitergabe hinwirkt (mittelbarer Grundrechtseingriff).314 Die Bewertung der doppelten Empfehlung als paternalistische Maßnahme gegenüber den Verwandten ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass nach § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG der Arzt die Verwandten nicht informieren darf. Paternalismus ist auch in einem Mehrpersonenverhältnis möglich – meist in Form des indirekten Paternalismus.315 Dies ist der Fall, wenn der Arzt dem Klienten die Weitergabe der genetischen Erkenntnisse an den Verwandten zu dessen Wohl empfiehlt. Zudem ermöglicht § 11 Abs. 3 GenDG nach Einwilligung des Klienten in die Weitergabe grundsätzlich auch ein Zugehen des Arztes auf die Verwandten.316 Warum gegenüber Verwandten ein solch paternalistisches Verhalten gerechtfertigt sein soll, ist nicht ersichtlich. Es gelten auch in der Dreierbeziehung Arzt-Klient-Verwandter die gleichen Einwände gegenüber stark paternalistischen Maßnahmen. Paternalistisches Handeln missachtet die Autonomie des Einzelnen und deren Selbstbestimmung. Auch den Gesichtspunkt, dass jede Person unterschiedliche Beweggründe für eine Entscheidung haben kann, die zu respektieren sind, gilt es zu beachten. Die medizinische und persönliche Sichtweise müssen dabei keineswegs übereinstimmen.317 Als Rechtfertigung für ein solches Vorgehen wird dennoch angeführt, dass die Offenbarung die Autonomie nur in einem formalen Sinn verletze, in substantieller Weise diese jedoch respektiere und verbessere. Im Namen der Autonomie werde das neue Wissen mitgeteilt und damit die Autonomie gestärkt, da dadurch für den Verwandten neue Handlungsmöglichkeiten geschaffen würden.318 Diese Betrachtungsweise ist jedoch nicht überzeugend. Die Verletzung der Autonomie der potenziell betroffenen Verwandten kann nicht durch ihre angebliche Verbesserung gerechtfertigt werden. Allein der Umstand, dass der Verwandte neue Informationen erhält, 313 Vgl. Hildt, Prädiktive genetische Diagnostik und das Recht auf Nichtwissen, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 225, 236; Husted, Autonomy and a right not to know, in: Chadwick/Levitt/Shickle, The right to know and the right not to know, 1997, S. 55, 57. 314 Vgl. Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 190. 315 Siehe oben Kapitel 3, C. I. 1. b) aa); Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 16; Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 174 f.: spricht vom gemischten Paternalismus. Paternalismus beziehe sich daher nicht notwendigerweise auf die individuelle Ebene, also auf die unmittelbare Arzt-Patienten-Beziehung, sondern es könne auch von einer überindividuellen Ebene paternalistischen Verhaltens gesprochen werden. 316 Hier gilt es jedoch zu beachten, dass allein die Einwilligung nach § 11 Abs. 3 GenDG für ein Offenbarungsrecht nicht genügt; siehe dazu unten C. II.; Stumper, Informationelle Selbstbestimmung und DNA-Analysen, S. 231 f.: der Klient und der Angehörige müssen eingewilligt haben. 317 Vgl. Husted, Autonomy and a right not to know, in: Chadwick/Levitt/Shickle, The right to know and the right not to know, S. 55, 57. 318 Vgl. Macklin, Privacy and Control of Genetic Information, in: Annas/Elias, Gene mapping, S. 163; dazu Husted, Autonomy and a right not to know, in: Chadwick/Levitt/Shickle, The right to know and the right not to know, S. 55, 58.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
auf deren Grundlage er eine Entscheidung treffen kann, verbessert nicht grundsätzlich seine Autonomie. Laufs hat dies zutreffend wie folgt zusammengefasst: „Die Kenntnis der eigenen Gene vermag Handlungsmöglichkeiten nicht nur zu erweitern, sondern auch zu zerstören, Lebenshaftungen zu bestärken wie zu verdunkeln. Der Einzelne kann durchaus die Unbestimmtheit und Offenheit seiner Zukunft deren Berechenbarkeit vorziehen. Eine solche Position trägt durchaus existentiellen Charakter und verdient den Schutz der Rechtsgemeinschaft.“319 Vor allem jedoch spricht gegen die einseitige Betonung der Autonomie die gesetzliche Wertung des GenDG. Es betont das Recht auf Nichtwissen und damit den Aspekt, dass obige Argumentation für die Rechte des Klienten gerade nicht greifen soll. Hier wird die umfassende Aufklärung und Einwilligung zum Schutz der Autonomie gerade verlangt, obwohl der Klient durch die Genanalyse ebenso neue und gegebenenfalls gesundheitsfördernde Informationen erhält. Gem. § 8 Abs. 1 GenDG darf eine genetische Untersuchung oder Analyse nur vorgenommen und eine dafür erforderliche genetische Probe nur gewonnen werden, wenn die betroffene Person in die Untersuchung und die Gewinnung der dafür erforderlichen genetischen Probe ausdrücklich und schriftlich gegenüber der verantwortlichen ärztlichen Person eingewilligt hat. Die Einwilligung nach Satz 1 umfasst sowohl die Entscheidung über den Umfang der genetischen Untersuchung als auch die Entscheidung, ob und inwieweit das Untersuchungsergebnis zur Kenntnis zu geben oder zu vernichten ist.
Der Klient kann den Erhalt der Informationen selbst nach durchgeführter Analyse noch ablehnen, da § 8 Abs. 2 GenDG bestimmt, dass die Einwilligung jederzeit mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden kann. Es wäre daher widersprüchlich, eine Art Verzicht oder ein Zurücktreten des Rechts auf Nichtwissen der Verwandten in den Fällen behandelbarer Krankheiten anzunehmen.320 Die durchaus möglichen negativen Wirkungen dieses Wissens werden außer Acht gelassen. c) Keine Rechtfertigung der Rechtsverletzung In Anlehnung an die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, in der dieser eine Ausnahme der Schweigepflicht zum Selbstschutz des Patienten anerkennt321 , könnte auch ein unsolicited disclosure gerechtfertigt sein, wenn die möglicherweise verursachte Verletzung des Rechts auf Nichtwissen dem Schutz der Gesundheit des Verwandten selbst dient. Dieser Weg würde jedoch zu einer paternalistischen Umgehung des Rechts auf Nichtwissen führen. Das Wissen ist der Gesundheit nicht immer förderlich. Vor allem aber werden diese Erwägungen auf Seiten des Klienten grundsätzlich abgelehnt, eine Mitteilung der Ergebnisse einer genetischen Analyse strikt an die Einwilligung gebunden. Auch für den Verwandten ist Wissen nicht grundsätzlich als vorrangig zu bewerten. Eine Ausnahme von der Schweigepflicht und der Verwandtenautonomie zum Selbstschutz oder eine Parallele zur Abwägungsentscheidung im Fall der Infektionskrankheiten ist daher ebenso wie beim Klienten abzulehnen.
319 320 321
Laufs, Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht, S. 94. Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 305. Vgl. oben Kapitel 2, C. I. 1. c).
C. Bewertung der „Empfehlung zur Empfehlung“ Lösung
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2. Fehlende Lösung im Fall des Nichtwissens des Klienten Entscheidet sich der Klient dafür, von den Untersuchungsergebnissen keine Kenntnis zu erhalten und damit für sein Nichtwissen, so findet § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG keine Anwendung. Der Klient erhält mangels Aufklärung über das Diagnoseergebnis keine entsprechende Empfehlung. Dies hat zur Folge, dass eine Weitergabe der Empfehlung und gegebenenfalls der relevanten Daten an potenziell betroffene Verwandte nicht erfolgt. Ihre Interessen und Rechte bleiben unberücksichtigt und der Konflikt damit ungelöst, da ein Zugehen des Arztes auf die Verwandten nicht zulässig ist.322 Diese Konstellation scheint der Gesetzgeber, anders als der französische,323 nicht bedacht zuhaben. Die Beachtung der Rechte Drittbetroffener soll allein über den Betroffenen gewährleistet werden. Nimmt dieser die Informationen jedoch nicht zur Kenntnis, so ist dieser Weg versperrt. Es wird der Zustand wie vor dem Test hergestellt, nur mit dem wesentlichen Unterschied für den Arzt, dass er über Ergebnisse und Implikationen informiert ist und seiner Fürsorgepflicht nachkommen möchte. Als Beispiel, dass auch diese Konstellation Berücksichtigung finden kann, sei hier an die französische Lösung erinnert. Diese gewährleistet auf der einen Seite dem Klienten die Möglichkeit, sich für ein Nichtwissen zu entscheiden, eröffnet jedoch dennoch einen Weg auf die Verwandten zuzugehen. Der Arzt ist autorisiert, auf die Verwandten zuzugehen, diese in anonymisierter Form über die Existenz für sie relevanter Daten zu informieren und sie zu einer genetischen Beratung einzuladen. Die Entscheidung für Wissen oder Nichtwissen durch den Klienten berührt die Rechte des Verwandten nach diesem Konzept nicht. Nicht verkannt werden darf jedoch, dass auch bei einer Anonymisierung der Daten und deren Weitergabe an Verwandte aufgrund der genetischen Verwandtschaft Rückschlüsse auf den „Urheber“ der Daten möglich sind. Für den Betroffenen besteht dann die Gefahr, trotz seines entgegenstehenden Willens dennoch über seinen Verwandten Kenntnis von dem Untersuchungsergebnis zu erhalten. Letzterer kann den Betroffenen in Unkenntnis des entgegenstehenden Willens informieren, aber auch äußere Verhaltensweisen lassen Rückschlüsse zu. Aus diesen Gründen ist es zu befürworten, dass bei einer Entscheidung für ein Nichtwissen Verwandte nicht über die Ergebnisse, sondern nur über deren Existenz aufgeklärt werden, wie es auch die französische Regelung abweichend vom Normalfall in Abs. 4 regelt. Weitergegeben werden soll nur die Empfehlung einer genetischen Beratung wegen Existenz für sie eventuell relevanter Daten. Im Ergebnis entsteht für den Betroffenen damit die gleiche Situation, als hätten sich Verwandte auf eigene Initiative hin beraten und im Anschluss eventuell testen lassen. Er kann jedoch allein durch die Information der Verwandten den Schluss ziehen, dass die Untersuchung eine genetische Anomalie ergeben hat.
322 323
Vgl. Kersten, ZEE 2013, S. 23, 25. Siehe oben Kapitel 3, B. II. 2. d) aa).
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
D. Schutz des Rechts auf Nichtwissen in der Rechtsprechung Im Kontext der genetischen Beratung und Aufklärung kommen auf den Arzt neue Pflichten und zu berücksichtigende Rechte und damit auch anders gelagerte Haftungsrisiken zu. Insbesondere der Umgang mit den zwei Dimensionen des Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung wirft Fragen der Aufklärung oder Nicht-Aufklärung auf.
I. Haftung des Arztes bei Nichtaufklärung und Aufklärung über genetische Zufallsfunde Ging es bisher im Bereich der zivilrechtlichen Haftung meist um Fälle der unterlassenen Aufklärung, dies war auch Verfahrensgegenstand der viel diskutierten Entscheidung des OLG Frankfurt324 für den Fall der Infektion mit HIV, so verlangt das Gendiagnostikgesetz je nach Konstellation ein Unterlassen einer Aufklärung. Um diesen „umgekehrten Aufklärungsfehler“325 ging es bereits in einer Entscheidung des OLG Koblenz326 , mit der Fragen der Gendiagnostik Einzug in den gerichtlichen Alltag gefunden haben. Auf der anderen Seite stellt sich jedoch ebenso die Frage, ob aufgrund der primären Last der familiären Kommunikation auch der Betroffene mit einer Haftung rechnen muss (II.). 1. Haftung gegenüber dem Patienten oder Dritten bei unterlassener Aufklärung Für den Arzt von besonderem Interesse im Umgang mit Zufallsfunden sind ihn treffende Haftungsrisiken bei einer unterlassenen Aufklärung, zum einen gegenüber dem Betroffenen, zum anderen gegenüber Dritten. Auch in der unterlassenen Aufklärung über einen Zufallsfund kann eine Pflichtverletzung des Arztes liegen. Eine zivilrechtliche Haftung des Arztes gegenüber dem Patienten wegen unterlassener Befunderhebung und daraus folgender unterlassener Aufklärung über einen klinischen Zufallsfund, war Gegenstand der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2010. In diesem wird wie selbstverständlich von einer entsprechenden Aufklärungspflicht des Arztes ausgegangen.327 Den Arzt können daher bei einem Verstoß Schadensersatz- bzw. Schmerzensgeldansprüche nach § 280 Abs. 1 BGB und § 823 Abs. 1 BGB treffen. Das Haftungsrisiko des Arztes gegenüber Dritten wegen unterlassener Aufklärung über ein bestehendes Gesundheitsrisiko trotz Achtung der Schweigepflicht wird im Urteil des OLG Frankfurt deutlich. Käme das Gericht zu der Ansicht, dass die Gesundheitsinteressen des Dritten die Verschwiegenheitsinteressen des Patienten nach § 34 StGB überwiegen, und der Arzt dementsprechend eine falsche Abwägungsentscheidung getroffen hat, so würde er bei einem entsprechenden Verschulden gegenüber Dritten nach den Grundsätzen des Deliktsrechts für etwaige Gesundheitsschäden haften. In Anbetracht dieser Rechtsprechung zur zivilrechtlichen Arzthaftung wird ein Arzt in Zweifelsfällen daher tendenziell zu einer Zwangsaufklärung des Dritten tendieren. 324 OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 8. 7. 1999 – 8 U 67/99, NStZ 2001, S. 149, MedR 2000, S. 196. 325 Damm, MedR 2012, S. 705. 326 OLG Koblenz, Beschl. v. 01.02.2012 – 5 W 63/12, MedR 2012, S. 742. 327 Siehe oben BGH, Urt. v. 21.12.2010 – VI ZR 284/09, BGHZ 188, 29.
D. Schutz des Rechts auf Nichtwissen in der Rechtsprechung
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Ob dieser Trend sich bei Zufallsfunden im Bereich der Gendiagnostik fortsetzt, erscheint jedoch zweifelhaft. Dagegen spricht, dass nach der deutschen Rechtslage eine Haftung des Arztes bei unterlassener Aufklärung nicht in Betracht kommt. Das GenDG verbietet dem Arzt wie dargelegt gerade ein Zugehen auf den Verwandten. Anders als in den Fällen des Medizinstrafrechts kommt für den Arzt eine Haftung wegen unterlassener Aufklärung daher nicht in Betracht, da ihm die Aufklärung Dritter gerade gesetzlich untersagt wurde und auch andere Ausnahmen von der Schweigepflicht nicht bestehen. 2. Haftung bei Aufklärung über genetische Zufallsfunde Nicht oder kaum thematisiert wird im Fall der Zwangsaufklärung über § 34 StGB und auch im Kontext der Gendiagnostik die Frage des Haftungsrisikos für den Arzt, wenn ihm ein Aufklärungsrecht (unabhängig von der Begründung desselben) zugestanden wird und er dieses auch ausübt. Dies wird sich jedoch in Anbetracht der Gesetzeslage und der Betonung des Rechts auf Nichtwissen voraussichtlich ändern. Erste Anzeichen bietet ein Beschluss des OLG Koblenz. a) In der Rechtsprechung Für die Konstellation der Mitteilung einer nicht behandelbaren genetischen Krankheitsdisposition gegenüber Dritten durch den Arzt im Anwendungsbereich des § 11 Abs. 3 GenDG328 hatte die Rechtsprechung durch den Beschluss des OLG Koblenz zum ersten Mal in Bezug auf Haftungsfragen die Problematiken der Gendiagnostik zu behandeln.329 Zusammenfassend sieht das Gericht unter Anerkennung des Rechts auf Nichtwissen die ungefragte Mitteilung des genetischen Untersuchungsergebnisses als Körperverletzung, und damit die direkte Information des Verwandten mit (lediglich) der Einwilligung des Klienten als unzulässig an. Sie gesteht dem Arzt keine Aufklärungsbefugnis und erst recht keine Aufklärungspflicht gegenüber Dritten allein auf Grundlage des § 11 Abs. 3 GenDG zu.330 aa) Entschiedene Fallkonstellation In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall wurde bei dem Patienten des verklagten Arztes Chorea Huntington diagnostiziert. Der Patient entband den Arzt von seiner Schweigepflicht, damit dieser die Kindesmutter über das Erkrankungsrisiko der gemeinsamen Kinder (Jahrgang 1994 und 1999) aufklären konnte. Diesem Wunsch folgte der Arzt. Die Mutter verklagte daraufhin den Arzt auf Schadensersatz, da bei ihr die Ungewissheit über die Anlage einer unheilbaren und bei Ausbruch sicher zum Tode führenden Erbkrankheit im Gengut der Kinder eine psychische Erkrankung ausgelöst habe. Das Gericht 328
Dies Regelung gilt für behandelbare und nicht behandelbare Krankheiten. Das Gericht erwähnt das GenDG jedoch mit keinem Wort; zu Fragen des Rechts auf Nichtwissen hat das VG Darmstadt bereits Stellung bezogen, siehe VG Darmstadt, Urt. v. 24.06.2004 – 1 E 470/04. 330 OLG Koblenz, Beschl. v. 01.02.2012 – 5 W 63/12; Anders entschied im Rahmen des Prozesskostenhilfeantrags noch das Landgericht, welches diesen mangels Erfolgsaussichten ablehnte und sich in seiner Begründung wohl an der Entscheidung des OLG Frankfurt orientierte und damit eine Pflichtverletzung des Arztes verneinte. 329
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
bestätigte eine Körperverletzung der informierten Mutter (psychische Störung). Aufgrund der gesetzlichen Lage sei es der Klägerin nicht einmal möglich, durch einschlägige Untersuchungen der Kinder Gewissheit dahingehend zu erlangen, ob die Krankheit überhaupt latent im Erbgut der Kinder angelegt sei. Aus der Mitteilung könne die Mutter daher keine Handlungsoptionen ableiten, da eine genetische Untersuchung Minderjähriger in Deutschland nicht erlaubt sei. „Angesichts der fehlenden Handlungsoptionen liegt offen zutage, dass es den Betroffenen (hier die Mutter) in einen Gewissenskonflikt stürzt, ob er tatsächlich von einer nicht therapierbaren und derzeit nicht weiter diagnostizierbaren Krankheit Kenntnis erlangen will.“ Aufgrund der Unheilbarkeit der möglichen Erkrankung sei eine solche Information geeignet, erhebliche Ängste auszulösen, ohne Chance diese Ängste abzubauen. Dies müsse sich dem Beklagten aufdrängen. Der Beklagte bedürfe einer Rechtfertigung für sein Handeln, nämlich die Aufklärung über den Gendefekt, wenn dies eine potenzielle Gesundheitsschädigung eines Dritten in sich trägt. Daran fehle es. Die verursachte Körperverletzung sei durch die Einwilligung des untersuchten Vaters nicht gerechtfertigt, da es an der erforderlichen Einwilligung der Mutter fehle. Dass der Wunsch und die entsprechende Entbindung von der Schweigepflicht durch den Kindesvater keine Rechtfertigung für die behauptete Körperverletzung sein kann, bedürfe keiner näheren Ausführung. Weder sei eine Einwilligung der Klägerin in die Information noch eine mutmaßliche Einwilligung dargetan. Auch das Bestehen einer Aufklärungspflicht des Arztes lehnt das Gericht ab. Der Beklagte (Arzt) stünde in keinem Behandlungsvertragsverhältnis zu der Klägerin und deren minderjährigen Kindern. Allein der Wunsch des Vaters zur Aufklärung belege kein Recht des Beklagten hierzu.331 Das OLG stützt sich damit auf die fehlenden Handlungsoptionen der Mutter nach der Gesetzeslage, ohne auf das Sonderrecht des GenDG einzugehen. Aus dieser, in Anbetracht des Verfahrens sehr kurzen Begründung wird jedoch deutlich, dass sich das Gericht der Sonderkonstellation der genetischen Diagnostik durchaus bewusst war.332 bb) Folgerung des Gerichts: Einwilligungserfordernis des Dritten in die Mitteilung Das Gericht erkennt in diesem Beschluss eine Körperverletzung aufgrund einer ungewollten Mitteilung genetischen Wissens und damit als notwendige Voraussetzung ein Abwehrrecht gegen dieses Wissen, ein Recht auf Nichtwissen, an. Allein die Einwilligung des Betroffenen in die Weitergabe der genetischen Daten genügt auf Seiten des Arztes nicht, um ohne mögliche Verletzung der Rechte und Rechtsgüter Dritter die genetischen Diagnoseerkenntnisse weiter zu geben. Das Erfordernis einer Einwilligung in die Aufklärung des von dem Wissen betroffenen Dritten333 wird damit angenommen, ohne dass das GenDG dies ausdrücklich gesetzlich vorsieht.334 Hier besteht zwar die Besonderheit, dass 331 Das OLG bejahte daher im Rahmen der Beschwerde über den Prozesskostenhilfeantrag die Erfolgsaussichten einer Schadensersatzklage nach § 823 Abs. 1 BGB aufgrund einer rechtswidrigen Körperverletzung. 332 Vgl. Damm, MedR 2012, S. 705, 706. 333 Oder hier der der Ungewissheit ausgelieferten Mutter. 334 So auch BT-Drs. 16/3233, S. 34 mit Bezug zum Selbstbestimmungsrecht des Verwandten; Stumper, Informationelle Selbstbestimmung und DNA-Analysen, S. 231: „Die Einwilligung in die Entgegennahme der Auskunft vermag aber die Einwilligung in den Übermittlungsvorgang nicht zu ersetzen, ohne letztere der Arzt die Schweigepflicht gegenüber dem Analyseveranlasser verletzen würde. Umgekehrt könnte der Arzt zwar durch den Ratsuchenden von seiner Schweigepflicht entbunden
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die Informierte die Erziehungsberechtigte der betroffenen Verwandten ist, jedoch muss diese Ansicht erst recht greifen, wenn eine direkte Information des Verwandten erfolgt. Dieser ist der eigentliche Adressat der Information.335 Des Weiteren forderte das Gericht eine vertragliche Beziehung zu dem Informierten, um eine Aufklärungspflicht annehmen zu können. Auf die schwächere rechtliche Form der Aufklärungsmöglichkeit im Fall der Entbindung von der Schweigepflicht geht das Gericht nicht ein. Jedoch verneint es schon eine Rechtfertigung der Körperverletzung, so dass auch von der Ablehnung einer Offenbarungsbefugnis für den Arzt auszugehen ist. Folgt man somit der Ansicht des OLG Koblenz, so setzt sich der informierende Arzt im Falle der ungefragten Mitteilung genetischer Informationen an Dritter einem Haftungsrisiko aus, vor dem ihn das GenDG nicht schützt. Nach dem GenDG kann der Arzt genetische Diagnosen über eine genetische Disposition für eine heilbare oder unheilbare Krankheit nach § 11 Abs. 3 GenDG mit der Einwilligung des Patienten weitergeben. Das Einholen der Einwilligung potenziell betroffener Verwandte durch den Arzt sieht das Gesetz nicht explizit vor. Die Rechtsprechung fordert es jedoch, zumindest wenn die Gefahr der Verursachung eines körperlichen Schadens durch dieses Wissen besteht. Die Entscheidung ist eine konsequente Fortsetzung der Anerkennung des Rechts auf Nichtwissen. Eine Mitteilung ohne Einwilligung des Adressaten würde dessen Recht auf Nichtwissen verletzen. Auch ist dem Gericht in dem Punkt zu folgen, dass der Arzt, es gilt im Anwendungsbereich des GenDG für prädiktive Gentests der Facharztvorbehalt (§ 7 GenDG), sich über dieses Recht im Klaren sein müsste. Für einen „normalen“ Humanmediziner dürfte diese Annahme in Anbetracht der bisherigen klinischen Praxis jedoch nicht so selbstverständlich sein. Diese sind nach § 7 GenDG befugt, diagnostische genetische Untersuchungen durchzuführen, bei denen es ebenfalls zu zufälligen Erkenntnissen kommen kann. In Anbetracht der breiten Diskussion um eine Anwendung des § 34 StGB auch auf Fälle des Gendiagnostik, wäre eine deutlichere gesetzliche Klarstellung daher wünschenswert. cc) Rolle des GenDG in der Entscheidung Auffallend ist, dass das Gericht das GenDG mit keinem Wort erwähnt, jedoch allgemein auf die Gesetzeslage verweist. Gegenstand des Beschlusses war die Mitteilung eines Ergebnisses einer Genanalyse. Der Anwendungsbereich des GenDG ist damit grundsätzlich eröffnet (vgl. § 3 GenDG), da es um die Mitteilung eines genetischen Untersuchungsergebnisses geht. Für die Bewertung dieser Entscheidung und die zentrale Frage der Zulässigkeit einer genetischen Untersuchung Minderjähriger und der Mitteilung genetischer Dispositionen gegenüber Dritten, sind die Regelungen des GenDG heranzuziehen. Insbesondere für den Interessenkonflikt bei Zufallsfunden ist § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG zu beachten. Nach § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG ist der Arzt generell und erst recht in der vorliegenden Fallkonstellation nicht befugt, auf mögliche betroffene Verwandte zuzugehen: Diese werden, eine Auskunft an Angehörige würde indes deren Recht auf Nichtwissen verletzen“; MolnárGábor/Weiland, ZME 2013, im Erscheinen (http://ssrn.com/abstract=2269649, Abruf 07.11.2013). 335 Ein wichtiger Unterschied ist jedoch, dass ein volljähriger Betroffener anders als die Mutter der Ungewissheit nicht ausgeliefert wäre, sondern sich einem Test unterziehen könnte. Dies ändert jedoch im Ergebnis nichts an der potenziell „körperverletzenden“ Wirkung der Mitteilung.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
Norm gilt nur bei behandelbaren und vermeidbaren Erkrankungen, und damit nicht bei Chorea Huntington. Des Weiteren hat er dem Klienten die Empfehlung einer genetischen Beratung zu überlassen. Für den Fall der Einwilligung in die Weitergabe des Wissens, d. h. dass der Betroffenen gerade nicht wie in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG vorgesehen das exklusive Recht der Kommunikation ausüben will, sondern den Arzt in den Prozess wieder einbeziehen möchte, ist des Weiteren § 11 Abs. 3 GenDG von Bedeutung. Danach besteht für den Arzt, mit Ausnahme der Einwilligung des Klienten, als logische Konsequenz der Schweigepflicht ein Mitteilungsverbot gegenüber Dritten. Schutzgegenstand dieser Norm ist folglich das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen.336 Nur über dieses Rechtsgut kann der Betroffene disponieren. Bezüglich des Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung eines Dritten ist der Klient nicht dispositionsbefugt. Auch eröffnet § 11 Abs. 3 GenDG keinen Rechtsgutverzicht Dritter. Auf § 14 GenDG, die Handlungsoptionen der Mutter in Bezug auf Genanalysen bei Minderjährigen, wird ebenfalls nicht eingegangen. Es ist jedoch unzutreffend, wenn das Gericht grundsätzlich eine genetische Untersuchung bei Minderjährigen als verboten ansieht. Im Fall einer unheilbaren Erkrankung wie Chorea Huntington trifft es im Ergebnis nach § 14 Abs. 1 Nr. 1 GenDG jedoch zu. b) Entscheidungsanmerkung Die Entscheidung ist die konsequente Fortführung der Anerkennung des Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung auch auf Seiten des Verwandten. Logische Folgerung sind Fragen des Arzthaftungsrechts in Folge eines „unsolicited disclosure“. aa) Deliktische Haftung Das Gericht sieht die Mitteilung des Ergebnisses, eine Verletzung des Rechts auf Nichtwissen, und die damit verknüpften Folgen als Körperverletzung i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB an.337 Damm formuliert es dahingehend: „Das OLG (geht) ebenfalls von einem Recht auf Nichtwissen in einem uneigentlichen Sinne aus, nämlich als einer selbstständigen persönlichkeitsrechtlichen Rechtsposition, sondern einer Pflicht zur Nichtinformation, deren Verletzung lediglich im Zusammenhang mit der durch Information verursachten Körperverletzung Bedeutung gewinnt.“338 Geschützt ist damit auch das Recht Dritter, obwohl das GenDG in § 9 Abs. 2 Nr. 5 nur auf das Recht auf Nichtwissen der betroffenen Person verweist. Unter der betroffenen Person versteht das Gesetz in § 8 und § 9 GenDG jedoch lediglich die untersuchungswillige Person und damit nicht mittelbar Betroffene.339 Das Gesetz ist an dieser Stelle daher unklar bzw. lückenhaft. 336
Begründung zu § 11 Abs. 3 GenDG BT-Drs. 16/10532, S. 29. Es kommt auch in Betracht, dass GenDG als Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB zu bewerten und eine Haftung auch auf diese Vorschrift zu stützen. 338 Damm, MedR 2012, S. 705, 709. 339 Ansonsten wäre die Unterscheidung in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG zwischen „betroffener Person“ und „genetisch Verwandte“ nicht sinnvoll; anders wohl Damm, MedR 2012, S. 705 und 709, der auch die Kinder unter diesen Begriff zu fassen scheint. 337
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Eine zivilrechtliche Haftung für den Fall des unsolicited disclosure ist damit zu bejahen. Diese ist auch nicht durch den Umstand ausgeschlossen, dass die Initiative zur Wissensweitergabe in der Regel von dem Klienten ausgeht. Das Handeln des Arztes wird nicht dadurch zu einem privaten Handeln des Arztes, dass ihn der Patient um die Wissensmitteilung bittet. Vielmehr bleibt es ein Handeln im Rahmen der professionellen Beziehung, in dem der Arzt die Berufspflichten zu achten hat.340 Der Arzt muss diesen Konflikt erkennen, und das Recht auf Nichtwissen durch ein schrittweises Zugehen auf den Verwandten wahren.341 Das Recht auf Nichtwissen wird zunehmend thematisiert, auch in den einschlägigen Richtlinien der Bundesärztekammer, so dass ein Arzt diesbezüglich sensibilisiert sein müsste. bb) Reichweite der Haftung Der Beschluss bezieht sich zunächst auf die Erkrankung Chorea Huntington und damit nur auf den Fall einer nicht behandelbare Erkrankung. Dennoch sind auch Fälle behandelbarer Erkrankungen grundsätzlich geeignet, körperliche Schäden bei dem Informierten zu verursachen. Zwar lag dem Fall die Besonderheit zu Grunde, dass es sich um minderjährige Kinder handelte, die möglicherweise eine Disposition zu einer unheilbaren Krankheit aufweisen und die Mutter mit der Ungewissheit psychisch nicht umgehen konnte. Unerwartete und heftige Reaktionen sind jedoch auch in „milderen“ Fällen möglich, d. h. bei behandelbaren Erkrankungen. Die Entscheidung kann folglich auch dahingehend fortentwickelt werden, allgemein bei der Verursachung einer Körperverletzung durch unerwünschtes Wissen eine Haftung in Betracht zu ziehen. Auch in diesen Fällen wird das Recht auf Nichtwissen verletzt. Dies gilt erst recht bei der unmittelbaren Information des Verwandten. cc) Keine Rechtfertigung Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Pflichtverletzung im Falle der Weitergabe des Wissens über eine behandelbare Krankheit gerechtfertigt sein kann. Anders als im zugrunde liegenden Fall, in dem für die Mutter aufgrund der Unheilbarkeit der Krankheit und dem Verbot der Durchführung einer genetischen Analyse keine Handlungsoptionen bestanden, kommt im Fall der Mitteilung einer behandelbaren Krankheit eine Rechtfertigung nach § 34 StGB der potenziell mit dem Wissen verbundenen Körperverletzung in Betracht. In diesen Fällen handelt der Arzt geleitet von dem Fürsorgegedanken, da das Wissen dem Verwandten die Möglichkeit bietet, die Krankheit zu verhindern oder zu mildern, d. h. es bestehen Handlungsoptionen. Diesen Aspekt hat er gegen die mit dem Wissen potenziell verbundenen Schäden abzuwiegen und gegebenenfalls sich für eine Mitteilung zu entscheiden (natürlich unter der Bedingung der Einwilligung des Klienten).
340
So Damm, MedR 2012, S. 705, 709. Vgl. Hofmann, Rechtsfragen der Genomanalyse, S. 150 f.: Information über das bloße Vorhandensein möglicherweise relevanter Daten und die Relevanz ohne jedoch den Inhalt offen zu legen, Aufklärung über mögliche Folgen des Wissens und Aussagekraft solcher Daten; a.A. Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 194, das Nichtwissen sei auch durch ein noch so vorsichtiges Herantasten bedroht. 341
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
Im Fall des § 34 StGB ist es durchaus möglich, dass die Kollision der abzuwiegenden Rechtsgüter auf denselben Rechtsgutsträger beschränkt bleibt.342 Eine Rechtfertigung der Verletzung des Nichtwissens, die notwendige Vorstufe für die Körperverletzung ist, ist jedoch – anders als im Fall von Infektionskrankheiten – wie bereits erläutert, abzulehnen.343 Im Gegensatz zur Verletzung der Schweigepflicht und dem Recht auf Privatheit gegenüber dem Klienten, ist die Anwendung der Notstandsregeln mangels spezieller gesetzlicher Regelungen zwar nicht ausgeschlossen, jedoch der Natur des Rechts auf Nichtwissen nach nicht anwendbar. Es greifen die gleichen Erwägungen.344 Wie der Arzt sich zu verhalten hat und welche Aufklärungs- bzw. Beratungsschritte zu unternehmen sind, lässt das GenDG offen. Hier bestehen insbesondere für den Arzt klärungsbedürftige Rechtsfragen im Zusammenhang mit § 11 Abs. 3 GenDG.
II. Haftung des Betroffenen bei „unsolicited disclosure“ Das Urteil betrifft den Fall der Information durch den Arzt. Für den Fall der Weitergabe der Ergebnisse durch den Klienten selber, was nach der Idee des Gesetzgebers nach § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG zumindest für behandelbare Krankheiten der Regelfall sein soll, kann jedoch in Bezug auf die Rechtsverletzung nichts anderes gelten. Auch die unerwünschte Weitergabe des Wissens durch den Klienten selber kann Gesundheitsschäden in Folge der Verletzung der psychischen Integrität i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB verursachen. Das GenDG enthält diesbezüglich keinerlei Regelungen. Wie bereits gefordert, sollte der Betroffene über die Rechte der Verwandten belehrt werden, um Rechtsverletzungen zu vermeiden. Trotz dieser Feststellung ist der innerfamiliäre Raum, die Kommunikation unter genetisch Verwandten, nicht mit der professionellen Arzt-Patient-Dritter-Beziehung vergleichbar. Die Beziehung innerhalb einer Familie ist privat und gerade bei Erkrankungen durch eine schicksalhafte Verbundenheit geprägt.345 Inwieweit hier Pflichten und damit Pflichtverletzungen in Betracht kommen, erscheint problematisch. Konkrete Verhaltensvorschriften würden den von Art. 6 GG geschützten Familienfrieden beeinträchtigen. Der Bereich der Familie lebt von Solidarität und Rücksichtnahme (vgl. z. B. §§ 1353, 1618a BGB) und soll nicht verrechtlicht werden.346 Art. 6 GG schützt das Recht, „die Gemeinschaft
342 Vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 34 Rn. 4: „so etwa, wenn eine Rettungshandlung vorgenommen wird, die den Tod eines Suizidenten verhindern soll oder die den Zweck verfolgt, einen sicheren Nachteil für den Bedrohten abzuwenden, selbst aber auch ein erhebliches Risiko in sich birgt“. 343 Im Fall von Infektionskrankheiten wird davon ausgegangen, dass der potenziell Betroffene es wissen will. Dies entspricht einer im Gendiagnostikrecht nicht zulässigen mutmaßlichen Einwilligung. 344 Siehe oben Kapitel 2, C. I. 2. 345 Vgl. Damm, MedR 2012, S. 705, 709: Eltern und Kinder seien nicht durch deliktische Verkehrspflichten, sondern durch eine Schicksalsgemeinschaft verbunden. 346 Vgl. Meyer, Der Mensch als Datenträger?, S. 120; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 304: eine Mitteilung kann nicht sanktionierbar sein; Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 200.
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nach innen in familiärer Verantwortlichkeit und Rücksicht frei zu gestalten“.347 Staatliche Regelungen die allein an die familiäre Verbindung anknüpfen sind daher unzulässig.348 Wie sich der Einzelne innerhalb dieser Beziehung in Bezug auf sein Kommunikationsverhalten verhält, ist daher rechtlichen Pflichten und daraus folgenden Pflichtverletzungen nicht zugänglich. Vielmehr unterliegt es der persönlichen Einschätzung, wie mit moralischen Verpflichtungen umzugehen ist.349 Anders als die französische Regelung darf dem Betroffenen daher nicht vorgeschrieben werden, das Wissen mit seinen Verwandten zu teilen. Ebenfalls kann ihm nicht verboten werden, zur eigenen Konfliktbewältigung mit seiner Familie über die Disposition zu sprechen. Davon zu unterscheiden ist natürlich die moralische Ebene.350 Der Betroffene kann folglich für eine etwaige Rechtsverletzung nicht haftbar gemacht werden. Trotz der Besonderheit familiärer Kommunikation, ohne diese zu erwähnen, wird jedoch zum Teil eine alleinige Haftung des Klienten angenommen, wenn der Arzt „auf Wunsch“ des Klienten tätig wird. Eine Haftung des Klienten war zwar nicht Streitgegenstand der Entscheidung des OLG Koblenz, jedoch hätte das Gericht nach Ansicht Jägers die Eigenhaftung des Arztes von der Haftung des Klienten abgrenzen müssen. Jäger nimmt eine Botenstellung oder Stellvertreterstellung des Arztes an, wenn er auf Wunsch des Klienten den Verwandten informiert. Dies hat zur Folge, dass der Vertretene bzw. Erklärende, und damit der Patient, allein für die Willenserklärung haftbar ist.351 Gegen diese Sichtweise sprechen im Kern zwei Aspekte. Erstens wird die Botenstellung des Arztes der professionellen Rolle des Arztes und seiner Verantwortung nach dem GenDG nicht gerecht. Der Arzt ist nicht bloßer Gehilfe des Patienten. Zweitens rechtfertigt zwar auch nach Ansicht des Gerichts die innerfamiliäre Fürsorge und teilweise angenommene moralische Mitteilungspflichten nicht, ohne Einwilligung das Wissen mitzuteilen. Diese Feststellung ist jedoch eine konsequente Umsetzung der Anerkennung des Rechts auf Nichtwissen auch unter Privatpersonen. Über eine Haftungsfolge sagt dies nichts aus. Das Gesetz greift auf die familiären Strukturen zur Problemlösung zurück, indem es zwar nicht die Mitteilung des Ergebnisses aufgibt, jedoch die Empfehlung einer genetischen Beratung. Die Familie ist dabei ein Raum, der sich selber reguliert und Privatsphäre gewährleistet. Würde man den Klienten einem Haftungsrisiko aussetzen, wenn er zur eigenen Konfliktbewältigung mit Verwandten spricht oder im Rahmen der Weitergabe der Empfehlung mehr Wissen Preis gibt als erforderlich, so besteht die Gefahr der Isolierung des Klienten. Aus Furcht vor Konsequenzen könnte die Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG leer laufen und darüber hinaus der familiäre Rückhalt gefährdet werden. 347 BVerfG, Beschl. v. 18.04.1989 – 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81, 92; Gröschner in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 81. 348 Vgl. Epping/Hillgruber, Beck-OK GG, Edition 17 01.01.2013, Art. 6 GG, Rn. 28. 349 Siehe oben Fn. 228. 350 In Erwägung gezogen wird ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nach § 1618a BGB. Diese Norm hat jedoch nur eine begrenzten Bereich von Normadressaten, die Beziehung zwischen Eltern und Kind sowie Geschwistern; v. Sachsen Gessaphe, in: MüKO BGB, § 1618a Rn. 4., so dass diese Norm den Konfliktbereich von vornherein nicht abdecken kann. 351 Vgl. Jaeger, VersR 2012, S. 861, 862; Jäger geht jedoch ohne weitere Erläuterung davon aus, dass die Disposition in jedem Fall mitgeteilt werden müsste. Auch diese Ansicht greift zu kurz.
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
Gleiches gilt selbstverständlich für den Fall der unterlassenen Mitteilung. Ein Verwandter kann keine Ansprüche wegen Gesundheitsschäden in Folge unterlassener Mitteilung geltend machen. Ihm steht gerade kein Anspruch auf Wissen gegenüber dem Betroffenen zu. Eine an die „Entscheidungsfreiheit gekoppelte Entscheidungslast“ geltend gemachte Verantwortung gegenüber Verwandten stellt keine Rechtspflicht dar.352
E. Zusammenfassung Für die rechtliche Beurteilung von Zufallsfunden von besonderer Bedeutung ist das verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 1. i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Recht auf „geninformationelle Selbstbestimmung“. Diese spezielle Schutzbereichsausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts soll den bei genetischen Daten besonderen Gefährdungen, und den ambivalenten Folgen des Wissens im Speziellen, Rechnung tragen. Zu unterscheiden sind daher die beiden Ausprägungen des Rechts auf Wissen und Nichtwissen. Danach hat jeder ein unentziehbares Recht, seine Gene zu kennen und ein ebensolches, sie nicht zu kennen. Das Recht auf Nichtwissen erschöpft sich jedoch nicht alleine in einem Verzicht auf das Wissen, sondern umfasst ein Abwehrrecht gegen aufgedrängtes Wissen. Letzteres ist insbesondere für den Schutz potenziell betroffener Verwandter von besonderer Relevanz (Gefahr des „unsolicited disclosure“). In informationeller Hinsicht ist das Recht auf Privatheit geschützt, d. h. jeder kann grundsätzlich selber bestimmen, wer von den genetischen Untersuchungsergebnissen, direkt wie mittelbar, Kenntnis erhält. Dabei stellen sich jedoch erheblich faktische Schutzprobleme. Besondere Probleme resultieren im Fall von Zufallsfunden daraus, dass dieses Recht beim Klienten wie auch beim Verwandten potenziell gleichzeitig betroffen bzw. zumindest gefährdet und vom Arzt als „Geheimnis“ bzw. „Drittgeheimnis“ zu achten ist. Dies kann zu Grundrechtskollisionen und damit erheblichen Umsetzungsproblemen führen. Zu beachten gilt zunächst, dass das Recht auf Nichtwissen einer gewissen „Aktivierung“, d. h. Grundkenntnis bedarf, um überhaupt von einer selbstbestimmten Entscheidung sprechen zu können. Besonders problematisch sind jedoch die „interpersonellen“ Spannungsverhältnisse, da Ausgleichs- oder Abwägungsmöglichkeiten, die den Rechten auf beiden Seiten gerecht werden, nicht erkennbar sind. Es ist daher der Weg des geringstmöglichen Eingriffs und einer gerechten Abwägung zu finden, ohne dass für den Testwilligen die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung durch potenziell betroffene Verwandte umschlägt. Diesen Konflikten wollte das GenDG nach über 20 Jahren Diskussion Rechnung tragen, indem es sich im Kern für die sogenannte Vorrangregel entschieden hat, d. h. die Schweigepflicht des Arztes und das Selbstbestimmungsrecht des Klienten gelten absolut. Auch der kommunikativen Komponente räumt das Gesetz durch eine ausführliche genetische Beratung eine hervorgehobene Rolle ein. Des Weiteren bezieht sich die Regelung des GenDG lediglich auf mehrdimensionale Zufallsfunde. Hier enthält es das ungewöhnliche Modell der doppelten Empfehlung. Bemerkenswert am Regelungskonzept des GenDG ist, dass es den eigentlichen Konflikt nicht selber löst. Es überweist ihn vielmehr in die Fami-
352
Vgl. Damm, MedR 1999, S. 437, 445.
E. Zusammenfassung
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lienbeziehung, indem sie es allein dem Betroffenen überlässt, die Beratungsempfehlung in Bezug auf eine genetische Untersuchung an potenzielle Drittbetroffene weiterzugeben. Es räumt der Schweigepflicht absoluten Vorrang ein und lässt ein Zugehen des Arztes auf Dritte selbst in Ausnahmefällen nicht zu. Auch verbieten die ethischen Prinzipien, vor allem der Grundsatz nichtaktiver und nichtdirektiver Beratung, ein Zugehen des Arztes auf ermittelte Verwandte. Kommt es im Rahmen der Untersuchung zu behandelbaren Zufallsfunden, so soll folglich den betroffenen Rechtsgütern, dem jeweiligen Recht auf Wissen und Nichtwissen, durch die über den Klienten freiwillig vermittelte Empfehlung einer genetischen Beratung hinreichend Rechnung getragen werden. Dieses Ziel hat der Gesetzgeber durch sein Lösungsmodell zudem nicht vollends erreicht. Zum einen bleiben die Rechte des Verwandten unberücksichtigt, wenn sich der Klient für ein Nichtwissen entscheidet. Eine doppelte Empfehlung findet in diesem Fall nicht statt. Zum anderen wird das Recht des Klienten auf Selbstbestimmung aufgrund der Empfehlung durch den Arzt in moralisch liberal paternalistischer Weise beeinflusst. Die Empfehlung suggeriert eine moralische Mitteilungspflicht und möchte den Klienten zu einem entsprechenden Verhalten gegenüber Verwandten verleiten. Einen sicheren Lösungsweg in dem Sinne, dass die Rechte Verwandter im Grundsatz Beachtung finden, bietet dieses Modell jedoch nicht. Die Entscheidung für die Wissensweitergabe unterliegt den innerfamiliären Konflikten, aber auch die Frage, ob der Untersuchte überhaupt Kenntnis nimmt vom Untersuchungsergebnis. Zusätzlich wird der Klient durch die „privatisierte“ Aufklärung bzw. Empfehlung mit der Frage der Weitergabe des Wissens an Verwandte belastet, ohne dass ihm für diese Weitergabe eine hinreichende Aufklärung, Unterstützung und Hilfe bei der Vorgehensweise beiseite gestellt wird. Vielmehr läuft er Gefahr, durch die gegenüber dem Verwandten als stark paternalistisch zu bewertende gesetzliche Regelung das Recht auf Nichtwissen der Verwandten zu verletzten. Das Gesetz sieht keine verfahrensrechtlichen oder im Rahmen der Aufklärung zu beachtende Kriterien vor, die den Verwandten davor bewahren nicht gegen seinen Willen aufgeklärt zu werden. Diese Gefahr des unsolicited disclosure wurde vom Gesetzgeber nicht bedacht. Das hier Regelungsbedarf besteht, illustriert auch die Entscheidung des OLG Koblenz betreffend eine Haftung des Arztes gegenüber Dritten wegen ungefragter, lediglich von der Einwilligung des Klienten nach § 11 Abs. 3 GenDG gedeckten Weitergabe genetischer Untersuchungsergebnisse. Danach genügt allein die Einwilligung des Klienten für die Aufklärung Drittbetroffener nicht. Vielmehr erfordert das Recht auf Nichtwissen des Verwandten auch dessen Einwilligung, bevor er mit dem potenziell lebensverändernden Wissen konfrontiert wird. Die Verletzung des Rechts auf Nichtwissen kann als potenzielle Körperverletzung gewertet werden und damit eine Haftung des Arztes nach § 823 Abs. 1 BGB begründen. Die Gefahr einer Haftung des Arztes wegen unterlassener Aufklärung, wie es in den Entscheidungen zur Infektionsgefahr meist Streitgegenstand war, besteht auf Grundlage des GenDG nicht, da es die aktive Aufklärung gerade verbietet. Mit dieser Rechtsprechung wird die Bedeutung aber auch die schwierige praktische Umsetzung des Rechts auf Nichtwissen im Kontext der modernen Medizin deutlich. Damit würden sich jedoch die Befürchtungen der Literatur nicht bewahrheiten, wonach sich das Recht auf Nichtwissen in der Praxis nicht durchsetzen, sondern hinter das Informati-
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Kap. 3: Arzt-Klienten-Verwandten-Beziehung in der Gendiagnostik
onsrecht zurücktreten werde.353 Dem Recht auf Nichtwissen kommt vielmehr ein hoher Rang zum effektiven Schutz des geninformationellen Selbstbestimmungsrecht und der körperlichen Unversehrtheit des Klienten wie auch des Verwandten zu.
353 Für das bilaterale Verhältnis und der haftungsrechtlich sanktionierten ärztlichen Aufklärungspflicht: Damm, MedR 1999, S. 437, 447; „Die den Arzt treffende Gefahr der Haftung wegen eines Aufklärungspflichtversäumnisses (macht) es wahrscheinlich, dass der Arzt, schon um der eigenen Interessen willen, eher dem Informationsrecht des Patienten als dessen Recht auf Nichtwissen Rechnung trägt“; Taupitz, Das Recht auf Nichtwissen, in: Festschrift für Wiese, S. 599; ebenso Simitis, Allgemeine Aspekte des Schutzes genetischer Daten, in: Genanalyse und Persönlichkeitsschutz, S. 123.
Kapitel 4
Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen Eine rechtliche Würdigung der Problematik und gesetzlichen Lösung des Zufallsfundes kann nicht die Rechtswirklichkeit und die zukünftigen Trends außer Betracht lassen. Für die Frage der rechtlichen Behandlung und des praktischen Umgangs mit Zufallsfunden spielt die Etablierung der Gendiagnostik im Gesundheitswesen sowie ihre gesellschaftliche Akzeptanz eine nicht zu unterschätzende Rolle. Von besonderer Bedeutung ist, inwieweit sich genetische Faktoren im Gesundheitssystem etablieren und normalisieren und sich damit das „Verhältnis von Legal- und Realstrukturen“1 entwickelt. Unter diesem in die Zukunft gerichteten Blickwinkel sollen die bereits angestellten Überlegungen fortgesetzt werden. Für die hier interessierende Fragestellung ist vor allem die gesellschaftliche Akzeptanz und Normalisierung der Gendiagnostik, ein zunehmender Prozess der „Individualisierung“ (A.) und das damit sich gegebenenfalls wandelnde Verständnis von „Verantwortung“ und „Gesundheit“ (B.) von Interesse.
A. Vom Ausnahme- zum Regelfall: Normalisierung der Gendiagnostik Bisher ist die Durchführung genetischer Analysen zu prädiktiven und präventiven Zwecken keine ärztliche Routinehandlung und wohl noch weit davon entfernt, klinische Praxis zu werden. Eine solche Normalisierung genetischer Untersuchungen in Zukunft ist jedoch keine reine Utopie oder ferne Zukunft, sondern der Trend einer gesellschaftlichen Normalisierung wird schon an dem häufig bemühten Bild des „1000-Dollar-Genoms“ deutlich. Dieses steht sinnbildlich dafür, dass in Zukunft es jedem zu erträglichen Kosten möglich sein soll, sein Genom entschlüsseln zu lassen. Auch die Technik forciert diese Entwicklung, da sie durch ihre rasante Entwicklung, durch eine Beschleunigung der Prozesse und Verringerung der Größe der Sequenzierungsgeräte die Option eröffnen, dass diese Geräte theoretisch in jeder Praxis stehen können.2
I. Aktuelle medizinische und gesellschaftliche Verbreitung Als Beispiel für eine aktuelle medizinische „Alltagsanwendung“ der prädiktiven genetischen Diagnostik soll hier ein erst Mitte 2012 auf den Markt gebrachter sogenannter 1 Damm, MedR 2002, S. 375, 377; Damm, MedR 1999, S. 437, 439; vgl. auch Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 150. 2 Vgl. Eberbach, MedR 2010, S. 155, 162; Bartram, Aktuelle Aspekte der Humangenetik, in: ders. et al., Der (un)durchsichtige Mensch, S. 153.
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
„Praena-Test“ der Firma life codexx dienen.3 Dabei handelt es sich um einen neuen Bluttest mit dem Ziel, nicht invasiv eine Pränataldiagnostik (PND) auf Trisomie 21 durchzuführen. Allein anhand des Blutes der Mutter kann der genetische Test des ungeborenen Kindes erfolgen.4 Kritiker dieser einfachen Form einer PND befürchten, dass sich aufgrund der unkomplizierten Anwendungen dieser Bluttest zu einer Routineuntersuchung entwickeln könnte. Dann würde die Untersuchung nicht mehr wie bisher, momentan noch im Wege der Fruchtwasseruntersuchung, nur bei Risikoschwangerschaften durchgeführt.5 Allein die Existenz, die Möglichkeit eines solch einfachen Untersuchungsverfahrens lässt auch Nicht-Risiko-Patientinnen in Erwägungen ziehen, sich untersuchen zu lassen und verlangt ihnen damit eine verantwortliche Entscheidung ab. Solche Untersuchungen haben daher das Potenzial, eine faktisch verpflichtende Routineuntersuchung zu werden. Damit ist ein Beispiel möglicher Breitenwirkung der Gendiagnostik genannt. Auch ein Blick ins Ausland zeigt, wie weit die Gendiagnostik in die Gesellschaft schon heute hineinwirkt. Israel geht im Bereich der pränatalen Diagnostik weiter als viele andere Staaten und bildet damit ein Gegengewicht zu dem eher zurückhaltenden deutschen Staat. Im Schnitt liegt die Zahl der von Humangenetikern in Israel empfohlenen Gentests vor oder während der Schwangerschaft bei 14 und damit weit an der Spitze. Auch ein Bevölkerungsscreening wird in Israel praktiziert. Eine Frau – und wenn der Befund positiv ist auch der Mann – werden auf versteckte Erbkrankheiten hin untersucht. Sind beide Träger eines Defekts, so wird ebenfalls ein späterer Fötus gescreent. In Deutschland gibt es solche Screenings nicht. Diese breite Anwendung der genetischen Diagnostik beruht auf einer starken gesellschaftlichen Resonanz. „In Israel wäre es untertrieben nur von Akzeptanz zu sprechen. Die ersten im Labor gezeugten Babys wurden von der Presse bejubelt, die Ärzte als Wunderheiler gefeiert (. . . )“. „Selbst kleinere Abweichungen von der Norm führen häufig zur Abtreibung (. . . ).“ Eine kritische ethische Debatte findet nach Aussagen von Soziologen in Israel dennoch nicht statt. Sie sehen keine Gefahr einer Stigmatisierung Behinderter oder einer Eugenik, sondern betrachten diese Test als Prävention und als Möglichkeit, Leid zu verhindern.6 Dass Deutschland diesen Grad an gesellschaftlicher Akzeptanz erreichen wird, erscheint vor dem geschichtlichen und religiösen Unterschied eher fernliegend. So ist z. B. der Fötus nach jüdischem anders als nach christlich-abendländischem Glauben nicht von Beginn an ein menschliches Wesen, sondern erst vollständig mit der Geburt.7 Allerdings wird auch Deutschland nicht auf dem jetzigen Stand stehen bleiben, sondern – wahrscheinlich begleitet durch eine intensive ethische Debatte – die Gendiagnostik gesellschaftsfähiger machen.
3 Informationen abrufbar unter http://lifecodexx.com/lifecodexx-praenatest.html (Abruf 20.02.2013. 4 Vgl. zu Methode ausführlicher DER, Stellungnahme 2013, S. 44. 5 Vgl. dazu Bahnsen, Was Mutters Blut verrät, Die Zeit Ausgabe 21/2012. 6 Angaben und Zitate aus Keller, Die Zeit Ausgabe 37/2007. 7 Vgl. Konigorski, Der Embryo – „nur Wasser“ oder „Mensch von Anfang an“? Muslimische, jüdische und christliche Positionen zum Schwangerschaftsabbruch, DLF Sendung vom 2.07.2012 (abrufbar unter http://www.dradio.de/dlf/sendungen/tagfuertag/1798265/, Abruf 20.02.2013).
A. Vom Ausnahme- zum Regelfall: Normalisierung der Gendiagnostik
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II. Gesellschaftlicher Rezeptionsgrad Nicht nur die am Beispiel des Praena-Tests illustrierte rasante und praxisrelevante Entwicklung der Gendiagnostik spricht für eine zunehmende Verbreitung der modernen Medizin hin zu einem eventuellen „Jedermann Gentests“. Auch statistisch erhobene Zahlen deuten in diese Richtung einer gesellschaftlichen Rezeption der neuen Techniken. 1. Aktuelle Zahlen und Entwicklungspotenzial Nach den Gentechnologieberichten von 2005 und 2009 besteht ein enormes Entwicklungspotenzial der Gendiagnostik. Innerhalb von zehn Jahren, von 1998 bis 2008, ist die Anzahl der Einrichtungen die Gentests durchführen von 66 auf 169 gestiegen. Auch die Zahl der identifizierten Gene, die überwiegend monogenen Krankheiten zugrunde liegen, hat sich von 2000 bis 2009 mehr als verdoppelt.8 Diese Entwicklung ist noch im Fluss und weit von einem gesellschaftlichen oder normativen Konsens entfernt.9 Jedoch ist der Trend eindeutig. Eine diesen Trend verstärkende Entwicklung ist die nunmehr mögliche Totalsequenzierung des menschlichen Genoms unter Anwendung immer schneller und günstiger werdender Technik, die es in Zukunft ermöglichen soll, die Tests in jeder Klinik durchführen lassen zu können. Je mehr sich die Tests damit gesellschaftlich und medizinisch durchsetzen, desto mehr entstehen sogenannte „Hidden persuaders“, die den Einzelnen aufgrund der öffentlichen Sensibilisierung für Fragen der Gendiagnostik, weil „es jeder tut“, zu einer entsprechenden Entscheidung veranlassen.10 Die Etablierung, und damit auch der Umgang mit genetischen Daten, persönlich, innerfamiliär und gesellschaftlich, ist damit eine Frage der gesellschaftlichen Einstellung. Darüber hinaus ist es aber auch eine Frage der Notwendigkeit. Die Forschung und Entwicklung im Bereich z. B. der Pharmakogenetik setzt eine breite Beteiligung in der Bevölkerung voraus. Teilweise ist von dem Erfordernis einer „Sozialbindung des Körpers“ in Bezug auf den Zugriff und die Verwertung genetischer Daten die Rede.11 Nur so kann das „Konzept“ der personalisierten Medizin funktionieren und finanziert werden, da es auf eine Breitenwirkung setzt. Sollte sich der Bereich der Pharmakogenetik weiter entwickeln, so spricht viel dafür, dass sich genetische Tests zumindest in diesem Bereich etablieren werden. Ziel der Pharmakogenetik ist es die Medikamentenreaktion besser einschätzen und steuern zu können. Werden solche Tests zuverlässig und bei schwerwiegenden Nebenwirkungen einsetzbar, so ist es nicht fernliegend, dass dieser Test, beschränkt auf diesen Anwendungsfall, Vorbedingung für die Medikation wird. Dieser gewisse Zwang lässt sich jedoch damit rechtfertigen, dass die Entscheidung dem Arzt obliegen muss, welche medizinische Behandlung sinnvoll ist. Die Autonomie des Patienten ist dann über den Weg gewahrt, dass er sich für oder gegen eine Behandlung aussprechen kann.12
8
Vgl. Zweiter Gentechnologiebericht Kurzfassung, S. 15. Vgl. Damm, MedR 1999, S. 437, 448. 10 Vgl. dazu Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 359: auch bei dieser subtilen Form der Überredung sei die Freiwilligkeit der Entscheidung noch gewährleistet. 11 Vgl. Feuerstein et al., Ethik Med 2003, S. 77, 78. 12 Vgl. Daele, Droht präventiver Zwang in Public Health Genetics?, in: Schmidtke et al, Gendiagnostik in Deutschland, S. 149. 9
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
2. „Normative Kraft des Faktischen“ Bei der Bewertung der Entwicklung ebenfalls von Relevanz ist das Verhältnis von Recht und Moral, insbesondere wenn zur Regelung neuer Entwicklungen in der Medizin die Auslegung sowie Konkretisierung bestimmter Grundrechtsnormen, namentlich der Persönlichkeitsrechte, erforderlich werden und hinsichtlich dieser Auslegung und Weiterentwicklung ein ethischer Dissens in der Gesellschaft auftritt. Dies war beispielsweise in der Vergangenheit bei der Erörterung der Kriterien für die Organentnahme („Hirntod“Kriterium und Todesverständnis) der Fall13 und ist derzeit für die Frage nach dem moralischen Status des Embryos in vitro festzustellen.14 Auch in der Gendiagnostik spielen moralische Werte und moralische Pflichten bei dem Umgang mit den gewonnen Erkenntnissen eine wichtige faktische Rolle. Moralische Verantwortung liegt jedoch jenseits objektiver Regulierung.15 Faktische Zustände, die z. B. durch die gesellschaftlichen Erwartungen an eine genetische Verantwortung und „Hidden persuaders“ entstehen, können faktisch normative Wirkung entfalten. Sicher gestellt werden muss, dass zum Schutz vor solchen normativen Wirkungen jeder für sich selbst entscheiden kann, was er über sich und seine eigene Zukunft wissen sollte. Ein unreflektiertes Wissenwollen oder auch eine generelle Ablehnung ist in Anbetracht der Möglichkeiten und der allgemeinen gesundheitlichen Verantwortung ethisch zweifelhaft16 und auch realitätsfern. Darin liegt schon ein wesentlicher Unterschied für den Einzelnen im Vergleich zur klassischen Medizin: Der Einzelne muss sich mit der Thematik beschäftigen und sich entscheiden. Allein die Option übt einen gewissen Entscheidungszwang aus.
III. Individualisierungsprozess Um eine Einschätzung des zukünftigen Umgangs mit Zufallsfunden treffen zu können, sind somit gesellschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen. Gerade der in der Medizin des Öfteren betonte Individualisierungsprozess ist hier von Bedeutung. Individualisierung wird „als Vision und Vehikel einer prädiktiven Medizin“ bezeichnet.17 Unter diesem aus der Soziologie stammenden Begriff der Individualisierung können verschiedene Verständnisweisen gefasst werden: Mit einer positiven Konnotation versteht man darunter den Übergang von der Fremd- zur Selbstbestimmung und eine Betonung der Autonomie des Einzelnen. In mehr kritischer Hinsicht wird jedoch mit diesem gesellschaftlichen Prozess auch die Etablierung einer „Ich-bezogenen-Gesellschaft“, Egoismus und ein Bedeutungsverlust der Familie durch „Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen“18 verbunden. Des Weiteren wird meist verkürzt bei der Entwicklung der Individualisierung nur eine Seite, die des Freiheitsgewinns, betrachtet. Der Prozess der Individualisierung ist je13
Dazu Aufsätze in Wiesing, Ethik in der Medizin, S. 352 ff. Vgl. Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 25. 15 Vgl. Propping et al., Prädiktive genetische Testverfahren, S. 162. 16 Vgl. Propping et al., Prädiktive genetische Testverfahren, S. 163. 17 Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 150. 18 Beck/Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften, in: dies., Riskante Freiheiten, S. 10, 11. 14
A. Vom Ausnahme- zum Regelfall: Normalisierung der Gendiagnostik
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doch kontradiktorisch, was auch im Bereich der Gendiagnostik deutlich wird. Mit neuen Möglichkeiten und Freiheiten entstehen als Kehrseite Handlungsoptionen und Handlungszwänge. Individualisierung ist damit auch ein Auslöser für ein neues Verantwortungsverständnis und der Einforderung von mehr Eigenleistung des Einzelnen.19 Dieser Prozess findet sich in der individuellen Gesundheitsverantwortung und zumindest begrifflich in der individualisierten Medizin wieder. 1. Gesundheitsverantwortung statt „genetisches Schicksal“ Im Bereich des Gesundheitswesens hat der Prozess der Individualisierung seine Ausprägung erhalten und schlägt sich deutlich in der zunehmenden Entwicklung einer neuen Gesundheitsverantwortung nieder. „Bestimmte in den 70er und 80er Jahren der Topos des Schicksalhaften des genetischen Wissens die internen und öffentlichen Diskurse, so scheint in den 90ern eine neues (Selbst)Verständnis der Humangenetik zu greifen, das die Optimierungsstrategien für die Individuen in den Mittelpunkt rückt.“20 Gemeint ist damit ein Wandel vom „genetischen Schicksal“ zur „genetischen Risikoperson“:21 Vor der umfassenden genetischen Analyse wurden genetische Anlagen als schicksalhaft begriffen, da sie unveränderlich und ein entsprechender Krankheitsverlauf als nicht abwendbar empfunden wurde. Diese Sichtweise hat sich mit der Entwicklung einer prädiktiven und präventiv ausgerichteten Medizin zunehmend gewandelt. Genetische Dispositionen werden als individuelle Risiken begriffen. Eine bekannte genetische Disposition gibt nunmehr Anlass, seinen Lebensstil entsprechend anzupassen und, soweit möglich, eine spätere Erkrankung zu vermeiden oder das Risiko zu mindern. Der Einzelne befindet sich nicht mehr in einer passiven Rolle, sondern ihm wird eine aktive Entscheidung über und Kontrolle seiner Gesundheit abverlangt. Individualisierung bringt hier neue Möglichkeiten und Rechte, aber auch Pflichten. Handlungsautonomie und individuelle Selbstbestimmung statt Schicksal sind dabei die neuen Leitgedanken der Prävention. Aufgrund dieser Stärkung der Patientenautonomie kommt es zu einer „Neuverteilung von Verantwortungslasten“.22 Individualisierung bedeutet nach diesem Verständnis damit auch eine Zunahme an Eigenverantwortung.23 Indem die neuen Möglichkeiten, und nicht das schicksalhafte der Prädiktion hervorgehoben werden, rückt an die Stelle der Diskus-
19 Vgl. Bause, Guter Rat ist teuer – humangenetische Beratung unter den Bedingungen der Marktindividualisierung, in: Schmidtke, Guter Rat ist teuer, S. 96, 100 f.: Individualisierung ist (. . . ) eine neu entstehende Form der Vergesellschaftung, eine neue Form der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft (. . . ); Beck/Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften, in: dies., Riskante Freiheiten, S. 10, 14: Zu den entscheidenden Merkmalen von Individualisierungsprozessen gehört derart, dass sie eine aktive Eigenleistung der Individuen nicht nur erlauben, sondern fordern. 20 Bause, Guter Rat ist teuer – humangenetische Beratung unter den Bedingungen der Marktindividualisierung, in: Schmidtke, Guter Rat ist teuer, S. 96, 103 21 Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 151. 22 Damm, Prädiktive Gesundheitsinformationen, Persönlichkeitsrechte und Drittinteressen, in: Colombi et al., Haftungsrecht im dritten Millennium, S. 303, 309. 23 Vgl. Mieth, Gentests und prädiktive Medizin, in: Graumann/Grüber, Patient, Bürger, Kunde, S. 83, 88; Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 153; ausführlich dazu unten Kapitel 4, B. II. 2.
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
sion um einen genetischen Determinismus die Betonung der Eigenverantwortung.24 In Anbetracht der beschriebenen Möglichkeiten, insbesondere im Bereich der prädiktiven Medizin, ist zu erwarten, dass sich der Schwerpunkt der Medizin von der Krankheiten versorgenden hin zu einer Krankheiten vermeidenden Medizin entwickelt.25 Die Gendiagnostik wird durchgeführt, um die genetische Disposition des Ratsuchenden ab- und ihn über sein persönliches Risiko einer späteren Erkrankung aufzuklären oder die Ursache bereits existierender Symptome zu klären. Auf diesem Weg können je nach Diagnose und dem Vorhandensein von medizinischen Möglichkeiten im Bereich der prädiktiven Gendiagnostik Präventionsmaßnahmen zur Verringerung der Erkrankungswahrscheinlichkeit ergriffen werden. Auch kann in Kenntnis genetischer Veranlagung der Betroffene seine Lebensgestaltung und Familienplanung darauf ausrichten.26 Prädiktive Gentests betreffen damit den Umgang mit Risiken. Der Klient ist eine genetische Risikoperson. Die damit eingeführte individuelle Gesundheitsverantwortung und Individualisierung gesundheitlicher Risiken bezieht sich jedoch im Bereich der Gendiagnostik nicht nur auf den Einzelnen, sondern auch auf Verwandte und Nachkommen27 , was sich im Begriff der „genetischen Verantwortung“28 niederschlägt. 2. Individualisierung der Medizin Eine weitere Entwicklung ist die Vision einer individualisierten oder auch personalisierten Medizin. Propagiert wird, dass durch eine individuelle Bestimmung der Krankheitsveranlagung, durch die Entwicklung der Pharmakogenetik sowie aufgrund der Komplexität der Kommunikation der individuellen Aufklärung und Beratung sich auch die Medizin individualisiert. Wie bereits erläutert, ist diese Vision jedoch nicht frei von Kritik und Gegenstimmen. Auch hier ist der Individualisierungsprozess in gewisser Weise paradox. Zusammenfassend beruht die personalisierte Medizin ebenfalls auf statistischen Erfahrungswerten, einer Typisierung, und nicht einer je individuellen „persönlichen Pille“.29 Auch kann ein strenger Kausalitätsnachweis zwischen genetischer Veranlagung und späterer Erkrankung nicht hergestellt werden. Der Vision der individuellen Medizin komme daher vielmehr der Charakter eines Leitbilds und damit eine mobilisierende Wirkung zu. Die Etablierung solcher Leitbilder ist geeignet, die Akzeptanz für diese Entwicklung, und damit die Bereitschaft die persönlichen Daten erheben zu lassen, zu steigern.30 24 Vgl. Bause, Guter Rat ist teuer – humangenetische Beratung unter den Bedingungen der Marktindividualisierung, in: Schmidtke, Guter Rat ist teuer, S. 96, 102. 25 Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 203. 26 Vgl. Hildt, Prädiktive genetische Diagnostik und das Recht auf Nichtwissen, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 227. 27 Vgl. Bause, Guter Rat ist teuer – humangenetische Beratung unter den Bedingungen der Marktindividualisierung, in: Schmidtke, Guter Rat ist teuer, S. 96, 100. 28 Lemke, Veranlagung und Verantwortung, S. 83. 29 Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 157; vgl. Mieth, Gentests und prädiktive Medizin, in: Graumann/Grüber, Patient, Bürger, Kunde, S. 83, 88: lediglich die ärztliche Behandlung und Beratung orientiere sich an der Individualität als persönliche Lebensführung. 30 Ausführlich zu Kritik und Leitbildcharakter der individualisierten Medizin Kollek et al., Pharmakogenetik, S. 188 ff.; Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 158.
B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“
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B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“ Gesundheit und Verantwortung sind „zwei Leitwerte der individualisierten Gesellschaft“31 , in der Eigenverantwortung in Form selbstverantwortlicher und vorausschauender Lebensführung verlangt wird. Das Streben nach Gesundheit, teilweise schon kritisch als „Gesundheitskult“ bezeichnet, ist hier prägend.32 Es herrscht die Alltagsweisheit: „vorbeugen ist besser als heilen“.33 Dies hat zur Folge, dass die Gendiagnostik nicht nur persönlichkeitsrelevante Fragen aufwirft,34 sie kann auch unser Gesundheitsverständnis beeinflussen und dabei die Grenzen zwischen Eigenverantwortung und gesellschaftlicher Verantwortung verschieben.35 „Der Klient ist nicht krank sondern fordert Informationen ein. Mit diesen Informationen enthalten sie eine neue Verantwortung“.36
I. Neue Leitwerte: Gesundheit und Verantwortung Die neuen Leitwerte Gesundheit und Verantwortung beeinflussen sich wechselseitig und führen damit potenziell zu einem Wandel der Gesundheitsverantwortung hin zu einer genetischen Verantwortung. 1. Wechselseitiger Einfluss der Genomanalyse auf das Gesundheits- und Verantwortungsverständnis Die Leitwerte von Gesundheit und Verantwortung haben durch die modernen Entwicklungen der Humangenetik einen erneuten und erheblichen Schub erhalten. Auch ihr Aussagegehalt wird durch die Genetik beeinflusst. Andererseits sind diese Leitwerte treibende Faktoren für die gesellschaftliche Akzeptanz und Umsetzung der Genanalyse: „Wenn Gesundheit hoch im Kurs steht und wenn eine enge Verknüpfung zwischen Gesundheit und Genomanalyse stattfindet, dann steigt der öffentliche Kurswert der Genomanalyse“.37 Damit einher geht der sich potenziell wandelnde Krankheits- wie auch Patientenbegriff. Der „gesunde Kranke“ wird als neuer Zwischenzustand geschaffen. Ist dieser Schritt vollzogen, so verändere sich der Bedeutungsgehalt von Gesundheit und Verantwortung unter dem neuen Einfluss. Mit anderen Worten: Die gesellschaftliche Akzeptanz der Genom31 Beck-Gernsheim, Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beck/Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten, S. 316; dies., Wer heilt hat Recht?, in: Steiner, Genpool, S. 192, 194. 32 Vgl. Beck-Gernsheim, Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beck/Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten, S. 319; Mergner/Mönkeberg-Tun/Ziegeler, Psychosozial Heft II 1990, S. 7, 18. 33 Daele, Das zähe Leben des präventiven Zwanges, in: Schuller/Heim, Der codierte Leib, S. 205, 207. 34 Dies ist Gegenstand der Etablierung eines Rechts auf genetische Selbstbestimmung. 35 Vgl. Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 307. 36 Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 271. 37 Beck-Gernsheim, Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beck/Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten, S. 321; dies., Wer heilt hat Recht?, in: Steiner, Genpool, S. 192, 194; siehe zum Einfluss der Genomanalyse auf das Krankheitsverständnis Kapitel 1, C. II. 1. c).
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
analyse ist die treibende Kraft für die flächendeckende Etablierung und damit klinische Einführung der Genanalyse. Dies ist der Fall, wenn der gesellschaftliche Trend des „Gesundheitskultes“ sich der Genanalyse bedient. Im Anschluss an diese Entwicklung kehrt sich der Prozess um, und die Genanalyse wird wiederum die gesellschaftlichen und sozialen Ansichten von Gesundheit und damit einhergehende von Verantwortung beeinflussen. Dieser wechselseitige und sich verstärkende Prozess zeichnet sich durch die zunehmende Durchführung von genetischen Analysen aus, die zu einem Wandel der individuellen Verantwortung auf der einen, und diese Individualisierung der Verantwortung wiederum zu einem Bedeutungszuwachs genetischer Informationen auf der anderen Seite führen.38 2. Verschiebung der Verantwortung Die vielfach betonte Patientenautonomie ist aufgrund dieser Entwicklung jedoch erst recht als ambivalent zu beurteilen.39 Die Patientenautonomie entwickelt hier zwei Gesichter: auf der einen Seite liefert sie die Freiheit frei von äußeren Zwängen zu agieren, auf der anderen Seite liefert Autonomie jedoch auch die Grundlage und Kompetenz eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen.40 Um einen möglichen gesellschaftlichen Trend in diesem Bereich zu illustrieren, sei auf die Stellungnahme Gesundheitssicherung im Zeitalter der Genomforschung verwiesen. Nach dieser umfasst „Verantwortung weit mehr als Eigenverantwortung im Sinne von Zuzahlungen von Patienten. Sie schließt auch die Verantwortung für Dritte ein und schlägt somit eine Brücke zur Solidarität“.41 Damm beschreibt den in dieser Stellungnahme deutlich werdenden Trend wie folgt: „(Es ist eine) stärker werdenden Inpflichtnahme potenzieller und aktueller Risikoträger über Verantwortungslasten und Solidaritätspflichten zu beobachten, wobei häufig offen bleibt, ob er sich insofern um moralische oder bereits rechtliche Pflichten oder jedenfalls rechtspolitische Postulate handeln soll. (. . . ) Insofern ist eine gewissermaßen seitenverkehrt Verantwortungsethik auf dem Vormarsch, die vertraute Vorstellungen revidieren könnte. Hatte bislang Solidarität mit und Nichtdiskriminierung von Kranken und Risikoträger im Medizin- und Versicherungsrecht einen hohen Stellenwert, so geht es nun um mögliche Akzentverschiebungen im Sinne von Verantwortungslasten des Einzelnen in den genannten Zusammenhängen.“42
Werden genetische Veranlagungen in der Folge wie subjektive Risikofaktoren angesehen43 und behandelt, so ergäben sich im Anschluss gegebenenfalls neue individuelle Entscheidungszwänge zur Durchführung entsprechender Analysen. Die Rede ist von einer „Risikoverantwortung“, da es in ethischer Hinsicht nicht nur um einen selbst, sondern auch um Fragen der Sozialpflichtigkeit des Wissens unter Einschluss der Familie ginge.44 Für den „gesunden Kranken“ kann damit ein sozialer Druck und die Erwartungshaltung 38
Vgl. Have, Medicine, Health Care and Philosophy 2001, S. 295, 300. Siehe zur Ambivalenz oben Kapitel 3, A. I. 2. a). 40 Vgl. Yarborough/Scott/Dixon, Theoretical Medicine 1989, S. 139, 143. 41 Brand et al., Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 51. 42 Damm, MedR 2011, S. 7, 17, Klammerzusatz durch den Bearbeiter; Es wird auch vor der erwähnten „Sozialbindung des Körpers“ gewarnt: Feuerstein et al., Ethik Med 2003, S. 77, 78. 43 Vgl. Daele, Das zähe Leben des präventiven Zwanges, in: Schuller/Heim, Der codierte Leib, S. 205, 206. 44 Vgl. Mieth, Gentests und prädiktive Medizin, in: Graumann/Grüber, Patient, Bürger, Kunde, S. 83, 90. 39
B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“
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entstehen, die geschaffenen Möglichkeiten wahrzunehmen und erst recht Zufallsfunde zu kommunizieren bzw. die Arzt-Patienten-Beziehung zu erweitern. Dies ist jedoch nur zum Preis einer Einschränkung der Freiheit möglich. Auch bezüglich der Offenbarung erlangten Wissens verschieben sich die Verantwortungslasten.45 Es schließen sich moralische Verpflichtungen im Umgang mit dem Wissen, und damit eine „genetische Verantwortung“ an.46
II. „Genetische“ Verantwortung des Klienten Diese „genetische“ Verantwortung bezieht sich potenziell auf verschiedene Adressaten: einen selbst, die Familie und ungeborene Kinder sowie die Gesellschaft. Ausgangspunkt der Diskussion um eine genetische Verantwortung war zunächst die Frage der Reproduktionsverantwortung. Der Fokus soll jedoch der Thematik der Arbeit entsprechend auf der Informationsverantwortung und Eigenverantwortung liegen. Aufgrund der zunehmenden Verfügbarkeit und Durchführung genetischer Diagnoseverfahren wird immer häufiger eine „Informationsverantwortung“ des Klienten gegenüber Verwandten bejaht (1.). Verwandte sollten durch den Betroffenen oder durch den behandelnden Arzt über ihr Risikopotenzial informiert werden, um darauf reagieren zu können. Ein wesentlicher Aspekt der genetischen Verantwortung betrifft zudem eine Pflicht gegenüber sich selbst. Hier wird der Begriff der „Eigenverantwortung“ (2.) betont und diese durch eine verantwortungsvolle Nutzung der Möglichkeiten und Lebensweise eingefordert.47 1. Informationsverantwortung Die Interessen an einer entsprechenden Informationsverantwortung sind zahlreich. Aufgrund der Aussagekraft und des (angeblichen) Potenzials für die Gesundheitsversorgung haben Verwandte oder gar die Solidargemeinschaft ein Interesse an diesen Daten und dem „verantwortungsvollen“ Umgang mit diesen. Der Begriff der Solidarität taucht dabei mehr und mehr in der Diskussion über das Recht zu Wissen und Nichtwissen auf. Aufgeworfen wird dabei die Frage, ob der Einzelne die Verantwortung dafür trägt, seine genetische Disposition zu kennen und darauf basierend verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen, einerseits in Bezug auf sich selbst (dazu unter 2.) und andererseits in Bezug auf die Weitergabe des Wissens.48 Diese (suggerierte) Verantwortung kann sozialen Druck sowohl hinsichtlich der Durchführung von Genanalysen als auch hinsichtlich der Weitergabe des gewonnenen Wissens entfalten.49
45
Vgl. Feuerstein/Kollek, Aus Politik und Zeitgeschichte 2001, S. 26, 29. Vgl. Lemke, Veranlagung und Verantwortung, S. 83; Feuerstein/Kollek, Aus Politik und Zeitgeschichte 2001, S. 26, 29; dazu auch Hallowell, Doing the right thing: genetic risk and responsibility, in: Conrad/Gabe, Sociological perspectives on the new genetics, S. 97 ff. 47 Vgl. Lemke, Veranlagung und Verantwortung, S. 83. 48 Vgl. Knoppers/Chadwick, Focus 2006, S. 416, 418, Hier schließt sich die Frage an wer diese Anderen sind, nur Verwandte? 49 Vgl. Damm, MedR 1999, S. 437, 448. 46
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
Informationsverantwortung ist dabei zu verstehen als Kommunikationsverantwortung gegenüber Dritten. Eine solche Informationsverantwortung ist jedoch nicht ohne gewisse Vorstufen bzw. nur unter bestimmten Bedingungen möglich: Zwar wird dem Einzelnen ein Recht auf Nichtwissen und ein konkurrierendes Recht auf Wissen zugestanden. Diese Rechte müssen sich bei Annahme einer entsprechenden Informationsverantwortung jedoch als Vorstufe zu einer Art „Pflicht zum Wissen“ und weiter zu einer „Pflicht zur Wissensoffenbarung“50 (weiter)entwickeln. a) Pflicht zu wissen „Know your Genes“ – „Kenne deine Gene“, als Variante der philosophischen Forderung sich selbst zu kennen, als „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant), taucht immer häufiger in diesem Kontext als Vorbedingung einer Informationsverantwortung auf.51 Die Innovationen zu ignorieren und nicht zu nutzen, läuft Gefahr begründungspflichtig zu werden. „Wie die Gesellschaft und ihr Recht auf solche Anschlusszwänge reagieren, ist die eigentlich entscheidende Frage, die auch für die Frage „Gibt es ein Recht auf Nichtwissen?“ vorentscheidend ist.“52 Aus diesem Grund sind für die rechtlich anerkannten Positionen auch die faktischen Grenzen zu beachten. Neben den bereits beschriebenen Umsetzungsproblemen sind vor allem die Aspekte einer Verantwortungsethik und Solidaritätsforderungen zu thematisieren.53 Das Selbstbestimmungsrecht gewährleistet zwar die private Lebensgestaltung. Es ist jedoch nicht in der Lage, soziale Zwänge sicher abzuwehren, die aus den neuen technischen Möglichkeiten resultieren.54 Gefordert wird von Befürwortern einer Informationsverantwortung eine Pflicht, sich für das Wissen und gegen das Nichtwissen in Ausübung seiner (angeblichen) Autonomie zu entscheiden. „Wissen ist Macht und aus der Macht ergibt sich Verantwortung“. Nach dieser Ansicht gibt es zumindest eine moralische Pflicht zum Wissen seiner eigenen genetischen Veranlagung, „wo (man) durch verantwortungsvollen Umgang mit diesem Wissen etwas ändern kann“.55 „Nichtwissen zu wählen kann am Ende bedeuten, etwas geschehen zu lassen, was man hätte verhindern können – und dies kann moralisch zweifelhaft sein“.56 Wissen um die eigene Trägerschaft sei daher geboten, wenn das Wissen für die Person zumutbar ist und man dadurch Schaden für einen Dritten vermeiden kann bzw. deren informierte Selbstbestimmung fördern würde.57 50
Damm, MedR 1999, S. 448. Vgl. Daele, Mensch nach Maß, S. 79; zur Informationsverantwortung gegenüber Familienmitgliedern Lemke, Veranlagung und Verantwortung, S. 83. 52 Damm, MedR 1999, S. 437, 447; Daele, KritV 1991, S. 257, 258 spricht hier von einer faktischen und rechtlichen Begrenzung der Freiheiten durch „Anschlusszwänge“ an technische Innovationen. 53 Vgl. Damm, MedR 1999, S. 437, 447. 54 Vgl. Daele, KritV 1991, S. 257, 258 f., 262. 55 Beide Zitate aus Sass, Der Mensch im Zeitalter von genetischer Diagnostik und Manipulation, in: Fischer, Wieviel Genetik braucht der Mensch?, S. 345. 56 Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 380; für eine moralische Pflicht ebenfalls: Chadwick, Das Recht auf Wissen und das Recht auf Nichtwissen aus philosophischer Sicht, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 195, 205. Bestehen präventive Maßnahmen für eine Krankheit, so könne die Durchführung von Tests zur Krankheitsvermeidung durchaus ethisch geboten sein; Propping et al., Prädiktive genetische Testverfahren, S. 144. 57 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 383. 51
B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“
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Diese Zitate illustrieren, dass mit der zunehmenden individuellen Nutzung der Gendiagnostik die Befürchtung oder je nach Ansicht auch Erwartung einher geht, dass ein sozialer Druck entsteht, die Möglichkeiten die sich bieten, in Abkehr von „sozialer Autonomie“58 zu nutzen.59 Diese Pflicht stünde im Dienste der Interessen Dritter, da nur bei der Ausübung des Rechts auf Wissen die Möglichkeit eines verantwortungsvollen Umgangs, insbesondere der Wissensweitergabe, möglich ist. Das Autonomieprinzip dürfe – so Austad – nicht dazu genutzt werden, der Verantwortung für andere zu entsagen. In ethischer Hinsicht lebe niemand nur für und mit sich selbst. Es sei nicht gerecht, wenn jemand durch die Berufung auf sein Recht zum Nichtwissen damit zugleich anderen Selbstbestimmung und Gesundheitschancen nähme. Man könne nicht anderen das Recht entziehen, das man selber gerade ausübt.60 Die Tendenz für eine „Pflicht zu wissen“ ist in der Literatur damit an verschiedener Stelle zu finden. Gegen eine solche Sichtweise spricht jedoch, dass das Recht auf Nichtwissen ein wichtiges Instrument zur Verwirklichung der Autonomie des Einzelnen ist. Die einseitige Forderung nach Verantwortung versagt die Autonomie hinsichtlich der Durchführung genetischer Analysen und dem anschließenden Kommunikationsverhalten. Auch wird befürchtet, dass dieses Postulat je nach Erkrankung in „logischer Konsequenz eine Pflicht zur präventiven Lebensweise oder gar eine verantwortungsbewusste Familienplanung“61 zur Folge hätte. Es dürfte jedoch unabhängig von den in Zukunft zu erwartenden technischen Errungenschaften indiskutabel sein, dass es solche Pflichten, vor allem vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, nicht geben kann. Wissen um die eigene persönliche Veranlagung betrifft den persönlichen Lebensbereich, so dass die Freiheit der Kenntnisnahme auch gegen faktische und erst recht gegen staatliche, auch mittelbare, Zwänge zu schützen ist.62 Auch liefe eine Pflicht zu wissen zu einer Aberkennung des Rechts auf Nichtwissen hinaus. Argumente dahingehend, dass Autonomie Wissen voraussetze, lehnt Scherrer mit der zutreffenden Begründung ab, dass Zwang ein fragwürdiges und nicht tragfähiges Fundament für Freiwilligkeit bilde.63 Ein Recht auf Nichtwissen steht damit einer Pflicht zu wissen entgegen. Auch faktischen Zwängen muss vorgebeugt werden. Eine Informationsverantwortung im Anschluss an eine Wissenspflicht ist damit abzulehnen.
58 Soziale Autonomie als Abwesenheit von äußeren und gesellschaftlichen Zwängen Damm, MedR 2002, S. 375, 376. 59 Vgl. Daele, Selbstbestimmung als Schranke und Einfallstor für die Verbreitung genetischer Diagnostik, in: Honnefelder/Propping, Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen? S. 221. 60 Schröder weist jedoch hier zu Recht darauf hin, dass Austad die Perspektive des Rechts nicht zu wissen seitens des Verwandten vergisst. Ein genereller Vorrang des Wissens über das Nichtwissen kann es nach Schröder daher nicht geben, sondern es erfordert eine Abwägung im Einzelfall. Es gehe um die Abwägung der Selbstbestimmung gegen den möglichen Schaden für Dritte. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 381. 61 Retzko, Prädiktive Medizin versus ein (Grund-)Recht auf Nichtwissen, S. 172. 62 Vgl. Wiese, Gibt es ein Recht auf Nichtwissen?, in: Festschrift für Hubert Niederländer, S. 475, 482. 63 Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 271.
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
b) Mitteilungspflicht gegenüber Verwandten oder Redeverbot? Verfügt der Betroffene (freiwillig) über das entsprechende Wissen, so stellt sich in Zukunft zunehmend die Frage des „verantwortungsvollen“ Umgangs mit diesem Wissen innerhalb des von Verwandten und dem Betroffenen bestehenden „Informationsverbundes“.64 Dieser Informationsverbund beruht darauf, dass die DNA eines Menschen zwar einmalig und damit höchst individuell ist. Gleichzeitig sind die Daten aufgrund ihrer Drittwirkung jedoch auch „doppelt informativ und ihrem Wesen nach nicht individuell“.65 Als weitere Dimension der zunehmenden Verfügbarkeit genetischer Tests und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Verbreitung des „genetischen Wissens“ ist daher nicht nur auf eine Individualisierung der Krankheitsentstehung, sondern auch die Bewertung der Krankheit als „soziale Angelegenheit“ hinzuweisen.66 Ausgangspunkt einer Forderung nach Informationsverantwortung bei Zufallsfunden ist damit der janusköpfige Charakter genetischer Daten. aa) Moralische Mitteilungspflicht Befürwortet man aufgrund des überindividuellen Charakters genetischer Daten und aufgrund der Betonung der genetischen Verantwortung eine innerfamiliäre Informationsverpflichtung, so besagt diese nichts anderes, als dass die genetische Privatheit des Betroffenen zugunsten anderer potenziell Betroffener zurücktreten soll. Entgegen des vielfach betonten Individualisierungsprozesses in der Medizin werden hier die individuellen Rechte zugunsten kollektiver abgewertet unter Etablierung einer moralischen Mitteilungspflicht.67 Ein gegenteiliges Verhalten, die Vorenthaltung des Wissens gegenüber Verwandten, stellt nach Ansicht der Befürworter eine Bevormundung dar.68 Wer verantwortungsvoll handele, der würde einerseits unter normalen Umständen die Weitergabe relevanter Gesundheitsdaten wünschen und andererseits auch wünschen, diese Daten zu erhalten.69 Die Anerkennung und Einforderung einer moralischen Mitteilungspflicht, vermittelt durch den Arzt, wird zudem nicht zwingend als eine Verletzung der Patientenautonomie angesehen. Der Einzelne werde nicht bevormundet, sondern lediglich moralisch ermahnt. Appelliere der Arzt an das Mitgefühl und Gewissen, so wirke dies nicht freiheitsbeschränkend. Es gebe kein Recht im Namen der Autonomie vor berechtigten mora-
64 Simitis, Allgemeine Aspekte des Schutzes genetischer Daten, in: Genanalyse und Persönlichkeitsschutz, S. 122: der Informationsverbund könne dann nicht ignoriert werden, wenn, wie im ElternKind-Verhältnis, Informationspflichten bestünde. Sie verletzten ihre Sorgfaltspflicht, wenn sie negative Erkenntnisse nicht weitergeben. 65 Henn, ZME 2002, S. 343. 66 Vgl. Lemke, Veranlagung und Verantwortung, S. 88; Die Gendiagnostik hätte nicht nur individualisierende sondern auch sozialisierende Wirkung, gemeinsame Krankheitserfahrungen und Kommunikation. 67 Vgl. Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 243; GfH, Positionspapier 2007, S. 4; Berberich, Zur Zulässigkeit genetischer Tests in der Lebens- und privaten Krankenversicherung, S. 246; Jaeger, VersR 2012, S. 861, 862. 68 So Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 382 f. 69 Vgl. Nuffield Council on Bioethics, Genetic screening ethical issues, S. 49; kritisch dazu Lemke, Die Polizei der Gene, S. 130.
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lischen Vorhaltungen verschont zu bleiben. Moralisieren verletzte die Autonomie daher nicht.70 Diese moralische Verantwortung scheint auch das GenDG zu suggerieren, indem es dem Betroffenen die Last der Weitergabe auferlegt und den innerfamiliären Kommunikationsweg zur Problemlösung wählt, und damit eine moralische Regulation. Das Konzept des GenDG basiert auf einem „verantwortungsvollen“ Umgang des Klienten mit dem Wissen. Die ersten Schritte einer genetischen Verantwortung in Form einer moralischen Informationsverantwortung gegenüber Verwandten sind damit getan. bb) Verletzung des Rechts auf Nichtwissen der Verwandten durch eine Mitteilungspflicht Wie jedoch bereits angemerkt, greift eine allein auf die Weitergabe des Wissens begrenzte Betrachtung zu kurz. Sie lässt unbeachtet, dass die Verwandten sich auch für ein Nichtwissen entscheiden könnten. Eine Mitteilungspflicht würde folglich das Recht auf Nichtwissen des Verwandten „faktisch beseitigen“.71 Auch ist an einer Informationsverantwortung problematisch, dass Betroffene nicht sicher die korrekte Weitergabe der Informationen gewährleisten können. Ergebnisse und ihre Aussagekraft werden oft überbewertet und mangels Fachkenntnisse nicht richtig weiter gegeben. Die etwas stiefmütterliche Behandlung dieser Perspektive durch die Befürworter einer „neuen Verantwortungsethik“72 kann damit erklärt werden, dass eine Entscheidung für ein Nichtwissen ihrem grundsätzlichen Ansatz widerspricht. Verlangen sie von dem Klienten eine „Pflicht zum Wissen“ und einen verantwortungsvollen Umgang, so müssen sie die Erwartungshaltung, sich für ein Wissen zu entscheiden, konsequenter Weise auch gegenüber potenziell betroffenen Verwandten haben. Auch hier wäre eine Entscheidung, nicht zu wissen „verantwortungslos“. Sie lassen das Recht auf Nichtwissen zugunsten einer übergeordneten Informationsverantwortung in den Hintergrund treten. Auf der anderen Seite dürfte eine Pflicht zu schweigen, um das Recht auf Nichtwissen der Verwandten zu achten, ebenfalls nur schwer zu realisieren sein. Ein „innerfamiliäres Redeverbot“ ist realitätsfern. Zwar kann man dem jeweiligen Verwandten sicherlich nicht das Recht absprechen, Wissen nicht aufgedrängt zu bekommen. Die innerfamiliäre Kommunikation dient jedoch der „seelischen Bewältigung des Wissens“.73 Sie stellt einen normalen Informationsaustausch dar, den man schwerlich unterbinden kann. Eine gegenteilige Ansicht würde den psychologischen und persönlichen Aspekt der innerfamiliären Kommunikation missachten. Die Familie dient auch heute als Rückzugsort und Stütze bei Problemen.
70 Birnbacher, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 1997, S. 105, 117 f.; Das französische Modell statuiert gar eine rechtliche Informationspflicht und damit ein generelles Zurücktreten der genetischen Privatheit. 71 Lemke, Die Polizei der Gene, S. 129; unter Verweis auf Husted, Autonomy and a right not to know, Autonomy and a right not to know, in: Chadwick/Levitt/Shickle, The right to know and the right not to know, S. 55, 56. 72 Damm, MedR 1999, S. 437, 447. 73 Retzko, Prädiktive Medizin versus ein (Grund-)Recht auf Nichtwissen, S. 167.
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cc) Fazit Beide Ansichten, eine Mitteilungspflicht, oder im Gegensatz dazu ein Redeverbot, werden im Fall einer undifferenzierten Anwendung der komplexen Situation nicht gerecht. Zu Recht spricht die Gesellschaft für Humangenetik daher von einem „unlösbaren Konflikt“74 , so dass man weder von einer generellen Informationspflicht noch von einer Pflicht zum Schweigen ausgehen kann. Damm stellt die Frage, ob möglicherweise moralische Informationspflichten auch als Rechtspflichten erwogen werden sollten.75 Auch wenn die französische Regelung als noch jüngere Regelung diesen Schritt gegangen ist, ist die Frage nach den Ausführungen hier zu verneinen. Eine generalisierende Lösung ist in Anbetracht der Komplexität und der Zukunftsoffenheit nicht möglich. Auch würde eine generelle Mitteilung den betroffenen Rechten aller Seiten nicht gerechter als ein Verschweigen der Informationen, da es in beiden Fallgestaltungen zu Rechtsverletzungen kommen kann. Gegenüber den Verwandten kommt allenfalls ein stufenweises Vorgehen in Betracht, um das Recht auf Nichtwissen nicht auszuhebeln. Der moralische Aspekt des GenDG, der eine Mitteilungspflicht zu befürworten scheint, ist daher kritisch zu beurteilen. c) Gesellschaftliche Solidarität Für die gesellschaftliche Akzeptanz und der Etablierung eines sozialen Drucks im Hinblick auf eine Pflicht zu wissen spielt auch der Gedanke einer eventuell eingeforderten gesellschaftlichen Solidarität eine Rolle. Befürchtet wird die „Ausbreitung eines gesellschaftlichen Klimas, in dem die Durchführung genetischer (. . . ) Diagnosemöglichkeiten zum normalen Standard des verantwortlichen Umgangs mit Gesundheit wird.“76 aa) Befürworter einer Pflicht zu wissen Allgemein wird postuliert, es sei die Pflicht eines Jeden, verantwortlich mit seiner Gesundheit umzugehen.77 Darüber hinaus wird in Frage gestellt, inwieweit die Solidargemeinschaft für Kosten aufkommen soll, wenn ein Recht auf Nichtwissen ausgeübt wurde, die Erlangung des Wissens jedoch zumutbar war.78 Manche gehen sogar so weit, von einer generellen sozialen „Gesundheitspflicht“ zu sprechen. Im Rahmen eines gerechten Gesundheitssystems folge aus Rechten auch Pflichten, die in bestimmten Fällen das Recht auf Nichtwissen außer Kraft setzen könnten.79 Rationales Gesundheitsverhalten wird als moralische Pflicht angesehen und setzt damit implizit ebenfalls eine Pflicht zu wissen voraus. Diskutiert wird hier – wie angedeutet – 74
GfH, Positionspapier 2007, S. 32. Damm, Individualisierte Medizin und Patientenrecht, in: Honnefelder et al., Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, S. 203, 222. 76 Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 314 f.: das Ergebnis sei eine Form freiwilligen Zwangs; dazu auch Eberbach, MedR 2011, S. 757, 767: er nennt als Einbruchstelle für eine entsprechende Forderung § 52 SGB V. 77 Vgl. Die deutschen Bischöfe, Solidarität braucht Eigenverantwortung, S. 12. 78 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 387. 79 Vgl. Leist, Genetische Gerechtigkeit, in: Schmidtke, Guter Rat ist teuer, S. 15 Fn. 4. 75
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das Verhältnis des Rechts auf Nichtwissen nicht nur zu konkurrierenden Informationsansprüchen Dritter, sondern auch in Bezug auf das öffentlichen Gesundheitssystem.80 Diese Thematik soll jedoch an dieser Stelle nur kurz angerissen werden. Auslöser der Diskussion um etwaige Solidaritätspflichten ist die Debatte um die explodierenden Gesundheitskosten und die Hoffnung, die in Bezug auf Einsparungspotenziale durch Prävention an die personalisierte Medizin geknüpft wird.81 Da das Gesundheitssystem nicht privat finanziert sei, habe die Gesellschaft einen ethisch relevanten Anspruch darauf, Zugang zu den genetischen Daten zu erhalten. Dem Einzelnen könne durch eine Sozialpflicht eine Obliegenheit zum Wissen auferlegt werden.82 Sass schlägt hier ein verantwortungsbasiertes Gesundheitssystem vor, wonach es weder Bürgerrechten noch dem Solidaritätsprinzip widerspreche, wenn Vorsorgeuntersuchungen zur staatsbürgerlichen Pflicht gemacht würden. Gleiches gelte, wenn der Einzelne sich die Wahrnehmung des Rechts auf Nichtwissen durch höhere Solidaritätsbeiträge erkaufen müsse.83 bb) „Zwang“ in der klassischen Medizin Auch an dieser Stelle soll ein Beispiel aus der klassischen Medizin einen möglichen gesellschaftlichen Druck illustrieren: Im Grundsatz besteht ein „Wahlrecht“ zur Durchführung von Impfungen. Gesellschaftlich hingegen besteht eine Erwartungshaltung für eine Durchführung und damit ein „Zwang“ im Dienste des öffentlichen Gesundheitswesens84 und der Allgemeinheit. Aber auch in diesem Bereich sind Infektionskrankheiten mit genetischen Dispositionen nicht direkt vergleichbar. Wer sich nicht impft, kann erkranken und andere Personen anstecken. Das gesundheitspolitische Ziel, diese Erkrankungen aussterben zu lassen, wie dies zum Beispiel bei der Pocken-Erkrankung erreicht wurde und bei der MasernErkrankung mangels flächendeckender Impfbereitschaft noch nicht erreicht wurde, soll durch den „Zwang“ verhindert werden, um andere nicht zu gefährden. Es ist bei genetischen Veranlagungen dagegen nicht unmittelbar das eigene Verhalten, das andere gefährdet. Verwandte tragen bereits die Veranlagung in sich und können sich auch selber darauf testen lassen. Auch entstehen „nur“ Kosten, aber keine gesundheitlichen Risiken für die Gesellschaft.85 80 Vgl. Taupitz, Das Recht auf Nichtwissen, in: Festschrift für Wiese, S. 601; Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 387. 81 Die Existenz solcher Einsparungspotenziale ist mehr als umstritten. Zum einen rechnet sich die Anwendung neuer Techniken nur bei einer gewissen Breitenwirkung. Zum anderen führen neue medizinische Möglichkeiten, die zumeist noch sehr teuer sind, zu einer längeren Lebenserwartung, was wiederum die Kosten steigen lassen wird. 82 Quante, Ethische Probleme mit dem Konzept der informierten Zustimmung im Kontext humangenetischer Beratung und Diagnostik, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 224. 83 Sass, Reform von Gesundheitswesen und Krankenkassen in verantwortungsethischer Perspektive, S. 7; Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 387 f.: Sozialethisch bestünde eine Pflicht zu wissen, wenn Chancen zur Erhaltung der Gesundheit bestünden, das Wissen für den Betroffenen zumutbar sei und dieser das Recht das Recht einfordern möchte, dass die Solidargemeinschaft finanziell ihr Mögliches tut. 84 Vgl. Chadwick, H. R. & S. 1999, S. 293, 294. 85 Allenfalls unter der Frage einer „Reproduktionsverantwortung“ besteht eine Gefährdung für noch ungeborene Nachkommen. Dies soll an dieser Stelle außer Betracht bleiben.
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
Genannt sei an dieser Stelle auch ein Beispiel mangelnder gesellschaftlicher gesundheitlicher Solidarität: In Asien ist es üblich, dass Personen einen Mundschutz tragen, um bei eigenen Infekten seine Mitmenschen nicht anzustecken. In unseren Breitengraden wird ein solches Verhalten (noch) belächelt, obwohl die dahinter stehende Intention dem propagierten solidarischen Gesundheitsverhalten entspricht. Zwar sind die Auswirkungen einer einfachen Erkältung mit eventuellen schweren Gesundheitsschäden nicht vergleichbar. Jedoch geht es um die gesellschaftliche Grundhaltung im Umgang mit Gesundheitsrisiken. Dass eine solche Einstellung bisher weder im Bereich der Infektionskrankheiten, und erst recht nicht im Bereich der „Genfamilien“ existiert, soll dieses Beispiel illustrieren. cc) Möglicher Trend Die zunehmende Entwicklung lässt dennoch den Trend erkennen, dass an genetischen Tests nicht nur medizinische, sondern auch soziale und ökonomische Interessen bestehen können.86 Das Konzept einer personalisierten Medizin setzt voraus, dass die Möglichkeiten der genetischen Analyse auch wahrgenommen werden, um das Potenzial dieser Forschung ausschöpfen zu können. Hier besteht die Gefahr, dass aus den Präventionsmöglichkeiten „präventive Zwänge“ folgen. Das gesellschaftliche Interesse an einer effizienten Krankheitsvorsorge kann damit dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen entgegenstehen. Für eine Pflicht zur Solidarität plädiert die HUGO (Human Genome Organisation). Nach dem HUGO Ethics Committee Statement besteht eine Verpflichtung gefolgert daraus, dass höchste ethische Priorität bei der Umsetzung genetischer Erkenntnisse Leben zu retten und Leid zu lindern hat. Dafür müsste den ethischen Prinzipien der Solidarität und Gerechtigkeit eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommen.87 Gesundheitliche Interessen ließen sich auch unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgericht als mittelbare Gemeinschaftsinteressen einordnen.88 Dieses hat die Helmpflicht mit der Rücksichtnahmeobliegenheit für andere Unfallbeteiligte und mit den denkbaren Folgekosten begründet.89 Die Übernahme sozialstaatlicher Verantwortung könne dazu führen, dass die Konsequenzen individueller Selbstschädigung ihren Charakter als reine Privatangelegenheit verlören.90 Sieht man die „Verweigerung“ genetischer Untersuchungen als Selbstschädigung an, so ist nicht auszuschließen, dass eine gewisse Kostenbelastung in das Krankenversicherungssystem Eingang finden kann. Dies verwischt die Grenze zu rein privaten Entscheidungen. Es besteht daher durchaus ein gesellschaftlicher Trend zur Einforderung von mehr gesundheitlicher Solidarität durch Eigenverantwortung: „Ansprüche auf Leistungen der 86 Vgl. Damm, Prädiktive genetische Tests: Gesellschaftliche Folgen und rechtlicher Schutz der Persönlichkeit, in: Honnefelder et al., Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 203, 205. 87 „Have reflected a commitment to the view that the highest ethical priority in implementing genomic knowledge is that of saving life and reducing suffering, but the Committee considers it urgent that the ethical principles of solidarity and equity be given increased attention.“ 88 Vgl. Höfling, ZEFQ 2009, S. 286, 288. 89 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.01.1982 – 1 BvR 1295/80, BVerfGE 59, 275, 278. 90 Dazu Höfling, ZEFQ 2009, S. 286, 289.
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Solidargemeinschaft im Krankheitsfall entsprechen Verpflichtungen zur Gesundheit. Die Übertragung dieses Gedankens auf den Gesunden, der „unverantwortlicherweise“ Angebote zur Prävention nicht wahrnimmt, liegt auf der Hand.“91 Darin wird die Entsolidarisierung unter gleichzeitiger Betonung der Verantwortung des Einzelnen und Solidaritätsforderungen deutlich.92 Diese eingeforderte Solidarität steht in einem gewissen Gegensatz zur Betonung der Eigenverantwortung im Rahmen der personalisierten Medizin. Einerseits soll jeder für seine Gesundheit verantwortlich sein und erfährt mit zunehmender Eigenverantwortung eine gewisse Entsolidarisierung. Dazu gegenläufig soll der Einzelne im Sinne der Gemeinschaft seine Daten zur Verfügung stellen, um Volkskrankheiten zu verhindern und damit mehr Solidarität entgegenbringen. Die Belastung für den Klienten ist damit eine doppelte. Begründet wird dies damit, dass das Motiv der Solidarität, die gemeinsame Absicherung gegen unbekannte Risiken, teilweise entfalle, da die Individualprognose immer sicherer werde. Die fehlende Prognostizierbarkeit des individuellen Risikos werde durch die Möglichkeiten der Gendiagnostik zunehmend beseitigt.93 Gegen diese Sichtweise wird und ist einzuwenden, dass Solidarität nicht dort aufhört, wo das eigene Risiko, ebenfalls betroffen zu werden, endet. Erst dort besteht eigentlich Solidarität. Auch kann „die ethische Kosten-Nutzen-Abwägung“ nur jeder für sich selbst treffen, in der der Solidaritätsgesichtspunkt allenfalls einen Abwägungsgesichtspunkt darstellt.94 Eine „Sozialbindung des Körpers“95 und eine Selbstaufopferung des Einzelnen über ein allgemein gesundheitsbewusstes Verhalten hinaus, darf nicht gefordert werden. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund, dass die Einsparungspotenziale der Gendiagnostik und die Ursächlichkeit genetischer Veranlagungen für spätere Erkrankungen bei meist multifaktoriellen Krankheiten mehr als unsicher sind. 2. Eigenverantwortung – „freiwilliger Zwang“ Der maßgebliche Unterschied zwischen den bisherigen Diagnosemöglichkeiten und der Gendiagnostik ist die Möglichkeit der Prädiktion. Die damit ermöglichte Individualisierung von Risiken und eine entsprechende Verantwortungszuschreibung werden als eine Folge der Verwendung und Verfügbarkeit genetischer Informationen angesehen. Die genetischen Testmöglichkeiten sollen die Voraussetzungen für ein verantwortungsvolles
91
Daele, Das zähe Leben des präventiven Zwanges, in: Schuller/Heim, Der codierte Leib, S. 205,
209. 92 Vgl. Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 27, 33: „So könnte die Einführung von Präventionsprogrammen zu Entsolidarisierungstendenzen gegenüber Erkrankten führen, die nicht an den angebotenen Vorsorgeprogrammen teilgenommen haben, da das Mitgefühl über die Erkrankung dann der Schuldzuweisung wegen der Nichtteilnahme an dem angebotenen Präventionsprogramm weichen könnte.“; Damm, Individualisierte Medizin und Patientenrecht, in: Honnefelder/Propping, Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, S. 361, 362 bezeichnet es als soziale Individualisierung. 93 Vgl. Quante, Ethische Probleme mit dem Konzept der informierten Zustimmung im Kontext humangenetischer Beratung und Diagnostik, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 214, 226 94 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit , S. 40. 95 Feuerstein et al., Ethik Med 2003, S. 77, 78.
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
Gesundheitsverhalten liefern („Empowerment“).96 Ein in diesem Kontext häufig vorgebrachter und auch hier schon mehrfach aufgegriffener Begriff ist der der „Eigenverantwortung“.97 Dieser bildet einen Gegenpol zum viel kritisierten Paternalismus und findet sich auch in der zentralen Rolle des informed consent im Rahmen der genetischen Beratung und dem Grundsatz nicht-direktiver Beratung wieder. Der Klient trifft eine autonome und damit auch von ihm zu verantwortende Entscheidung. Verantwortung und Prävention sind damit auf die jeweilige Risikoperson bezogen. Die Verantwortung, seine eigenen Risikofaktoren abzuklären, entwickelt sich potenziell hin zu einer Art „freiwilligem Zwang“.98 „Die Geschichte der Technik hat nämlich vielfach gezeigt, dass das Mittel auf die Zwecke zurückwirkt und ebenso leise wie nachhaltig die Entscheidungssituation selbst verändert. Anders gesagt: Eine neue Technik ist im sozialen Raum nicht neutral, sondern birgt ein ganzes Programm des sozialen Wandels in sich.“99 Dies soll zum Ausdruck bringen, dass eine bestimmte Entscheidung nicht vorgeschrieben wird, sie folglich weiterhin freiwillig getroffen werden kann. Allerdings können äußere, insbesondere gesellschaftliche Einflüsse, die Erwartungshaltung, das technische Mögliche auch zu nutzen, eine Zwangswirkung entfalten.100 Dies resultiert aus der Erwartungshaltung, dass allein aus der Möglichkeit, eine Entscheidung treffen zu können, die Pflicht erwächst, eine bewusste und damit auch verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen.101
96 Vgl. Prainsack, Personalisierte Medizin aus Sicht des Patienten, in: DER, Personalisierte Medizin, S. 23; Kersten, ZEE 2013, S. 23, 28; Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 154. 97 Vgl. Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 297; Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 153, 155; Bause, Guter Rat ist teuer – humangenetische Beratung unter den Bedingungen der Marktindividualisierung, in: Schmidtke, Guter Rat ist teuer, S. 96, 100. 98 Beck-Gernsheim, Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beck/Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten, S. 324; Der Begriff der Verantwortung wandelt sich unter diesen Vorzeichen. Wer Verantwortung nicht übernehme, der gilt als verantwortungslos, sein Unterlassen wird jetzt gewertet als Schuld: Beck-Gernsheim, Genetische Beratung im Spannungsfeld zwischen Klientenwünschen und gesellschaftlichem Erwartungsdruck, in: dies., Welche Gesundheit wollen wir?, S. 111, 123 ff.; Bause, Guter Rat ist teuer – humangenetische Beratung unter den Bedingungen der Marktindividualisierung, in: Schmidtke, Guter Rat ist teuer, S. 96, 101. 99 Beck-Gernsheim, Welche Gesundheit woll(t)en wir?, in: Schäfer et al., Gesundheitskonzepte im Wandel, S. 115, 121. 100 Siehe dazu das Beispiel aus der PND bei Beck-Gernsheim, Genetische Beratung im Spannungsfeld zwischen Klientenwünschen und gesellschaftlichem Erwartungsdruck, in: dies., Welche Gesundheit wollen wir?, S. 111, 123 ff.: Die Schwangere sagte: „Ich fühlte mich einer schaurigen Zwickmühle, rundherum hörte ich: Hast du jetzt die Untersuchung gemacht? Du musst unbedingt, wenn es die Möglichkeit schon gibt . . . Und falls du dann ein behindertes Kind hast? Du hast schon so zwei Kinder, du musst auch an Sie und an deinen Mann denken!“ Beck-Gernsheim sieht hierin einen Bedeutungswandel des Begriffs Verantwortung zu Tage treten. 101 Vgl. Beck-Gernsheim, Welche Gesundheit woll(t)en wir?, in: Schäfer et al., Gesundheitskonzepte im Wandel , S. 115, 121 f.: dargelegt am Beispiel der Pille. „Mit der Verfügbarkeit der Pille wird die Entscheidung für oder gegen eine Kind gewissermaßen ,privatisiert‘, aus den Zwängen der Biologie entlassen und in die Verantwortung von Mann und Frau gelegt.“
B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“
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a) Begriff Im medizinischen Bereich ist der Begriff der Eigenverantwortung aus dem Sozialrecht bekannt, wie z. B. in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach gibt es einen eigenverantwortlichen Bereich, in dem Gesundheitsleistungen keine Kassenleistungen sind, sondern der Eigenverantwortung des Versicherten zugeschrieben werden.102 Genaue Bestimmungen, was im Rahmen der Eigenverantwortung vom Einzelnen konkret gefordert wird, enthält diese Vorschrift jedoch nicht.103 In § 1 Satz 2 SGB V wird einleitend die Verantwortung des Einzelnen lediglich dahingehend spezifiziert, dass er für seine Gesundheit mitverantwortlich i. S. v. Lebensweise, Vorsorge und Behandlung sei. Im Kontext der Gendiagnostik ist aufgrund der Tragweite des genetischen Wissens zumeist auch davon die Rede, dass es in der Eigenverantwortung des jeweiligen Betroffenen liegt, ob er mit dem Wissen leben kann.104 Über den genauen Inhalt dieses Begriffs sagt dies jedoch an dieser Stelle wenig aus. Zieht man eine allgemeine Definition heran, so definiert man Eigenverantwortung dahingehend, dass „jemand gegenüber einem anderen für Etwas nach Maßgabe normativer Standards mit spezifischen Instrumenten zur Verantwortung gezogen wird“.105 Unter medizinischem Blickwinkel formuliert, versteht man unter Eigenverantwortung die „Bereitschaft, Fähigkeit und Verpflichtung eines Klienten für den Erhalt und die Wiederherstellung der eigenen Gesundheit Verantwortung zu tragen“.106 Gedeutet wird Eigenverantwortung im medizinischen Kontext daher als Verantwortung gegenüber sich selbst durch Inanspruchnahme der technischen Möglichkeiten und der Prävention. Ein wichtiger Gesichtspunkt im Hinblick auf die Eigenverantwortung im Rahmen der Gendiagnostik ist daher der prädiktive Gehalt der gewonnen Daten. Sie verleiten gerade zu der Idee der Planung und gewissenhaften Lebensführung und damit zu einer Betonung der Eigenverantwortung.107 b) Eigenverantwortung im Recht der Krankenversicherung Ansätze für eine Individualisierung gesundheitlicher Risiken, und damit der Verantwortung, enthält das deutsche Gesundheitsrecht wie angedeutet bereits heute.108 Der Gesetzgeber hat versucht, das Konzept der Eigenverantwortung im Krankenversicherungsrecht zu inkorporieren. Nicht nur in Bezug auf andere, sondern auch im Umgang mit den eigenen genetischen Risiken wird dabei ein verantwortliches Verhalten – eine Eigenverantwortung – eingefordert. Dies wird zumindest programmatisch in § 1 SGB V deutlich, der
102
Vgl. Spickhoff, Medizinrecht, SGB V, § 2 Rn. 2; Axer, in: Eichenhofer/Wenner, SGB V, § 2
Rn. 6. 103 Vgl. Axer, in: Eichenhofer/Wenner, SGB V, § 2 Rn. 6; Klement, Verantwortung, S. 223, kritisiert, dass der Gesetzesbegriff meist auf einen symbolischen Wert reduziert wird. 104 Vgl. Retzko, Prädiktive Medizin versus ein (Grund-)Recht auf Nichtwissen, S. 164. 105 Höfling, ZEFQ 2009, S. 286, 289. 106 Karger/Hüsing, Personalisierte Medizin im Gesundheitssystem der Zukunft, S. 30. 107 Vgl. Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten, S. 324; dazu auch Eberbach, MedR 2011, S. 757, 768 f.; Kollek/Lemke, GGW 2007, S. 7, 10. 108 Vgl. Feuerstein/Kollek, Aus Politik und Zeitgeschichte 2001, S. 26, 31.
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
neben dem Solidaritätsprinzip die Eigenverantwortung als die beiden tragenden Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung betont109 : § 1 Solidarität und Eigenverantwortung (. . . ) Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen (. . . ) dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. (. . . )
Entgegen der gesetzlichen Überschrift fordert das Gesetz jedoch keine Eigen- sondern eine Mitverantwortung des Versicherten. Ersteres würde eine ausschließliche Verantwortung des Einzelnen bedeuten. § 1 Satz 2 SGB V geht jedoch von einer Verantwortungsverteilung aus. Der Versicherte ist nur insoweit verantwortlich, als es in seinem Einflussbereich liegt, und damit der Gesundheitszustand ihm zugerechnet werden kann.110 Der Einflussbereich des Einzelnen ist jedoch kein statischer Bereich. Vielmehr nimmt dieser durch neue Erkenntnismöglichkeiten und damit auch durch die Gendiagnostik zu. Rein begrifflich können gendiagnostisch prädiktive und präventive Möglichkeiten unter § 1 SGB V fallen. Über diesen allgemeinen Grundsatz der Eigenverantwortung hinaus soll durch Untersuchungsobliegenheiten die Eigenverantwortung im Gesundheitssystem stärker in den Blick genommen werden.111 Niederschlag findet dieser Grundsatz insbesondere in § 52 Abs. 2 SGB V und § 62 Abs. 1 SGB V. Nach § 52 Abs. 2 SGB V gilt: Haben sich Versicherte eine Krankheit durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen, hat die Krankenkasse die Versicherten in angemessener Höhe an den Kosten zu beteiligen und das Krankengeld für die Dauer dieser Behandlung ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern.112
Intention dieser Regelung ist es, selbst eingegangene gesundheitliche Risiken zu privatisieren. Hier sei es sachgerecht, diese nicht der Versichertengemeinschaft aufzuerlegen, sondern Eigenverantwortung einzufordern.113 Ein weiterer Fall von eingeforderter und durchaus „sanktionierter“ Eigenverantwortung ist § 62 Abs. 1 SGB V: Versicherte haben während jedes Kalenderjahres nur Zuzahlungen bis zur Belastungsgrenze zu leisten (. . . ) Die Belastungsgrenze beträgt 2 vom Hundert der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt; für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, beträgt sie 1 vom Hundert der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Abweichend von Satz 2 beträgt die Belastungsgrenze 2 vom Hundert der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt 109
Vgl. Huster, Ethik Med 2010, S. 289; Axer, in: Eichenhofer/Wenner, SGB V, § 1 Rn. 15. Vgl. Becker/Kingreen, SGB V, § 1 Rn. 7; Axer, in: Eichenhofer/Wenner, SGB V, § 1 Rn. 13 f. 111 Vgl. Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 208; vgl. Huster, Ethik Med 2010, S. 289, 293. 112 Kritisch hierzu und die Bewertung als verfassungswidrig Höfling, ZEFQ 2009, S. 286, 291: da die Auswahl auf drei Formen der wunscherfüllenden Medizin willkürlich sei. 113 Vgl. Padé, in: Eichenhofer/Wenner, SGB V, § 52 Rn. 1: § 52 Abs. 2 SGB V bestrafe de facto ein Verschulden gegen sich selbst; Wienke, Eigenverantwortung des Patienten/Kunden, Wohin führt der Rechtsgedanke des § 52 Abs. 2 SGB V?, in: ders. et al., Die Verbesserung des Menschen, S. 169, 170; Kruse, in: Hänlein/Kruse/Schuler, SGB V, § 52 Rn. 1. 110
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1. für nach dem 1. April 1972 geborene chronisch kranke Versicherte, die ab dem 1. Januar 2008 die in § 25 Abs. 1 genannten Gesundheitsuntersuchungen vor der Erkrankung nicht regelmäßig in Anspruch genommen haben, 2. für nach dem 1. April 1987 geborene weibliche und nach dem 1. April 1962 geborene männliche chronisch kranke Versicherte, die an einer Krebsart erkranken, für die eine Früherkennungsuntersuchung nach § 25 Abs. 2 besteht, und die diese Untersuchung ab dem 1. Januar 2008 vor ihrer Erkrankung nicht regelmäßig in Anspruch genommen haben.114
Eine wirkliche Sanktion beinhaltet § 62 SGB V jedoch nicht, da die Folge der unterlassenen Prävention keine Mehrzahlung ist, sondern sie profitieren lediglich nicht von der reduzierten Belastungsgrenze. Die „Sanktion“ ist damit die Anwendung der allgemeinen Belastungsgrenze.115 Eine gewisse Entsolidarisierung gesundheitlicher Risiken bei Existenz von Präventionsmöglichkeiten ist dem Gesundheitssystem damit nicht völlig fremd. „Hier zeigt sich eine Tendenz, allgemeine Lebensgefahren unter Hinweis auf die Vermeidbarkeit durch präventive Maßnahmen zu individuell beeinflussbaren Risiken umzudefinieren.“116 Die Regelung beinhaltet eine Einschränkung des Solidaritätsprinzips durch Risikozuschläge für vermeidbare Gesundheitsschäden. Es ist durchaus denkbar, dass solche vermeidbaren Gesundheitsschäden nicht nur bei einem Fehlverhalten oder bewusst eingegangenen Gesundheitsrisiken angenommen werden, sondern auch bei genetisch bedingten Erkrankungen, wenn präventive Maßnahmen hätten ergriffen werden können. Nach Sass117 dürfte es in einem Modell eines verantwortungsbasierten Gesundheitssystems nicht der individuellen Gesundheitsverantwortung widersprechen und noch weniger dem Solidaritätsprinzip, wenn die Wahrnehmung des Rechts aus Nichtwissen über den eigenen Gesundheitszustand durch Verzicht auf Vorsorgeuntersuchung durch höhere Solidaritätsbeiträge erkauft werden müsse. Die Unterschiede individueller Lebensstile ließen sich nicht in Gesundheitskosten sozialisieren, während die Freiheiten individualisiert bleiben. Individualisierung und Eigenverantwortung gehen daher durchaus Hand in Hand und werden durch die neueren Entwicklungen potenziell verstärkt. c) Individualisierung der Gesundheitsverantwortung Die Idee einer individuellen Verantwortung für die eigene Gesundheit ist damit nicht neu.118 Sie findet in der genetischen Verantwortung seine Fortsetzung und Weiterentwicklung. Eigenverantwortung besteht hier in der Inanspruchnahme der Präventionsmöglichkeiten. Die Rede ist nicht mehr vom genetischen Schicksal, sondern vielmehr von Ver-
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Ein Beispiel ist hier bei Frauen der Gebärmutterhalskrebs. Vgl. Sichert, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 62 Rn. 12. 116 Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 27, 33. 117 Sass, Reform von Gesundheitswesen und Krankenkassen in verantwortungsethischer Perspektive, S. 7 f.; Kruse verweist hier kurz auf die sich hier ggf. stellende Frage der Bedeutung der Erkenntnisse einer Genomanalyse für die Einordnung des Verhaltens als gesundheitsriskant Kruse, in: Hänlein/Kruse/Schuler, SGB V, § 52 Rn. 1. 118 Siehe den erwähnten § 1 und § 2 SGB V. 115
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
meidung und Kontrolle möglicher Krankheiten.119 Schmidtke spricht insoweit von einer Individualisierung der Verantwortung.120 Auf dieser Linie liegt auch die personalisierte Medizin. Sie hat das angegebene Ziel, auf die individuellen Eigenschaften des Einzelnen einzugehen. Einher gehen damit eine Individualisierung des Krankheitsbegriffs und eine Individualisierung der Vorsorge.121 Diese in der personalisierten Medizin enthaltene Individualisierung der Gesundheitsverantwortung bedeutet damit auch einen Zuwachs an Eigenverantwortung. Für die Akzeptanz, die tatsächliche Inanspruchnahme der prädiktiven Diagnosemöglichkeiten und den Umgang mit den Folgen, spielt diese Individualisierung von Verantwortung eine nicht unbeachtliche Rolle, da mit den Möglichkeiten auch die Erwartung einhergeht, sie zu nutzen und sein Verhalten, seine Lebensweise entsprechend anzupassen. „In der individuellen Zuschreibung von Verantwortung (. . . ) kann man daher den eigentlichen Schrittmacher des Genetifizierungsprozesses sehen, d. h. einer Entwicklung, in deren Rahmen ein zunehmender Anstieg der Bedeutung genetischer Faktoren und genetischer Analyseverfahren im Umgang mit Gesundheit und Krankheit zu erwarten ist.“122 Eine solche Individualisierung der Verantwortung als Folge der technischen Möglichkeiten wird sich wiederum auf die gesellschaftliche Rezeption genetischer Tests auswirken, da eine Erwartungshaltung entsteht, das Wissen zu erhalten und entsprechend zu handeln.123 Der medizinische und technische Fortschritt hat damit augenscheinlich das Potenzial unsere Wertvorstellungen und ethischen Ansichten zu ändern. Dies gilt vor allem für die Frage der Autonomie und der Verantwortung124 in diesem „Informationsverbund“. Zusammenfassend gilt für die Erwartungen an die Zukunft: „In einer Kultur der Individualisierung ist damit zu rechnen, dass die Menschen diese Information (das Recht seine Gene zu kennen) auch nutzen werden. (. . . ) Die Nutzung genetischen Wissens wird sich auf der Grundlage persönlicher Freiheitsrechte etablieren und ausweiten.“125 3. Informationsverantwortung des Arztes Die Informationsverantwortung des Arztes hat zwei diametrale Ausprägungen: die Schweigepflicht als Nichtkommunikation von Informationen und die Aufklärungspflicht als Kommunikationsverantwortung. Wann und wie welcher Obliegenheit Vorrang einzuräumen ist, wurde bereits diskutiert. Grundsätzlich kommt dem Arzt in seinem traditionellen Verständnis eine Informationsverantwortung zu: gegenüber dem Patienten durch eine korrekte und umfassende Aufklärung, und in Ausnahmefällen auch gegenüber Dritten durch eine „Warnung“ über mögliche Gesundheitsrisiken. 119
Siehe oben Kapitel 4, A. III. 1. Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 127. 121 Vgl. Damm, Individualisierte Medizin und Patientenrecht, in: Honnefelder, Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, S. 261 ff. 122 Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 438. 123 Siehe hierzu bereits oben zur Pflicht zu wissen und der Informationsverantwortung gegenüber Dritten Kapitel 4, B. II. 1. 124 Vgl. Chadwick, Health, Risk & Society 1999, S. 293 ff. 125 Daele, Selbstbestimmung als Schranke und Einfallstor für die Verbreitung genetischer Diagnostik, in: Honnefelder/Propping, Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, S. 220 f. Klammerzusatz durch den Bearbeiter. 120
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Welchen Einfluss wird nun der beschriebene mögliche Wandel auf die Verantwortungsrolle des Arztes haben? Die modernen Entwicklungen werden sich nicht auf die bilaterale Arzt-Patienten-Beziehung beschränken, sondern die Rolle „unsichtbarer Dritter“126 an Einfluss auf die Beziehung gewinnen lassen. Unsichtbare Dritte können die in ihren Gesundheitsinteressen betroffene Dritte sein, jedoch ebenso die Solidargemeinschaft und damit auch ökonomische Interessen.127 Es ist zu erwarten, dass auch die Medizinethik und die Verteilung der Verantwortung innerhalb der Arzt-Klienten-Beziehung von den modernen Entwicklungen nicht unberührt bleiben werden. a) Einfluss der personalisierten Medizin auf die Arzt-Patienten-Beziehung Welchen Einfluss wird die personalisierte Medizin auf die persönlich geprägte Beziehung haben? Werden Arzt und Klient durch eine personalisierte Medizin enger zusammenrücken oder verarmt der Kommunikationsprozess durch die Techniklastigkeit der Beziehung? Hier gehen die Meinungen auseinander. Teilweise wird davon ausgegangen, dass als Nebeneffekt der modernen medizinischen Entwicklungen, vor allem der Pharmakogenetik, der Patient wieder mehr ins Zentrum des Interesses rücken wird und damit die Arzt-Patienten-Beziehung wieder enger werde.128 Andere nehmen aufgrund der personalisierten Medizin eher einen gegenläufigen Trend an, die bereits in der Kritik an der Begrifflichkeit zu finden ist.129 Die individuelle Anpassung der Medikation sei anhand von klinischen Daten schon heute ärztlicher Standard und damit nicht geeignet, den Patienten als Person mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Sie befürchten vielmehr eine gegenläufige Entwicklung. Noch offen wäre die klinische Relevanz der Pharmakogenetik, da der klinische Nutzen bisher nur bedingt belegt sei. Auch führe die Pharmakogenetik, wie der Begriff der stratifizierten Medizin klarstellt, zu einer Stratifizierung und damit Klassifizierung des Einzelnen in Patientengruppen, und damit zu einer Standardisierung der Medikamentenvergabe. Diese Form der Therapie könne von einem Arzt vorgenommen werden, der den Patienten nie gesehen habe. Ein solcher Prozess würde zu einer „Verarmung der Arzt-Patienten-Kommunikation“ und zu einem „Bedeutungsverlust“ aufgrund einer Verengung des medizinischen Blicks auf technische und wissenschaftliche Aspekte der Medizin führen.130 Gegen eine sich auflösende Arzt-Klienten-Beziehung trotz „Technisierung, Objektivierung und Ökonomisierung der Medizin“131 spricht die Tatsache, dass die Kommunikationskomponente in der Gendiagnostik und auch im GenDG besonders betont wird. Nicht ohne Grund wird dem Arzt zunehmend die Rolle eines Beraters zugeschrieben. Gesichts126
Feuerstein/Kuhlmann, Neopaternalistische Medizin, S. 9, 10. Vgl. Damm fasst den Prozess unter eine Technisierung, Objektivierung und Ökonomisierung der Medizin zusammen. An der Begrifflichkeit wird schon deutlich, dass hier nicht der Einzelnen im Mittelpunkt des Interesses steht (MedR 2011, S. 7, 9). 128 Vgl. Bottles, Physician Exec 2001, S. 58: „Physicians will become mentors and counselors, advising patients on the best treatment path given their unique genetic predisposition – even in this sophisticated, high tech field, the physician-patient relationship is likely to improve, highlighted by individualized therapies and personal attention“; angeführt bei Feuerstein et al., Ethik Med 2003, S. 77, 78. 129 Siehe oben Kapitel 1, B. IV. 1. 130 Ansicht von Feuerstein et al., Ethik Med 2003, S. 77, 82, 83, 85. 131 Damm, MedR 2011, S. 7, 9. 127
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
punkte wie Lebensplanung, Verantwortung gegenüber Dritten und persönliche Ansichten und psychologische Reaktionen werden zunehmend eine Rolle spielen. Um auf die Thematik des Zufallsfundes zurückzukommen: Hier wird deutlich, dass trotz neuer Techniken Kommunikation zur Lösung des Konflikts eingesetzt wird. Nur im Wege der Aufklärung und Beratung kann die Reichweite der Daten und der Umgang mit diesen geregelt werden. Hier besteht Nachbesserungsbedarf, vor allem da für den Rechtsschutz Drittbetroffener eine entsprechende Beratung essentiell ist.132 Ob trotz dieser Verlagerung der Rolle des Arztes eine Objektivierung der Medizin eintritt bleibt abzuwarten. b) Neuausrichtung der Verantwortungsverteilung im GenDG Kritisch bewertet wird in Zeiten der modernen Medizin die möglicherweise erfolgende „ambivalente Neuverteilung von Autonomie und Verantwortung in der ArztPatient/Klient-Beziehung“133 . Im medizinischen Fortschritt liege zwar eine Steigerung von Entscheidungsfreiheiten. Untrennbar damit verbunden sei jedoch auch die bereits diskutierte „Individualisierung von Verantwortung“ auf Patientenseite und spiegelbildlich ein „Autonomie- und Verantwortungsverlust der Ärzte.“134 Auch das GenDG weicht in seiner Konzeption von dem bisher bekannten Vorgehen der „Zwangsaufklärung“ ab. Im Bereich der Infektionskrankheiten ist, ohne dass dies explizit geregelt ist, aufgrund der Fürsorgepflicht des Arztes davon auszugehen, dass der Arzt den Patienten auf die Gefahr für Dritte hinweist und zu einer Information auffordert. Die primäre Informationsverantwortung liegt damit auch hier beim Patienten, wobei die familiäre Fürsorgebeziehung auch ohne diese Regelung bestehen würde. Anders als im Medizinstrafrecht hat der Arzt jedoch nach dem GenDG mit dieser Information seine Pflicht erfüllt. Eine sekundäre Informationsverantwortung des Arztes gibt es anders, als im Fall der Zwangsaufklärung nach dem GenDG, nicht. Die alleinige Kompetenz und damit auch Informationsverantwortung liegt beim Klienten. Eine Verpflichtung zur Warnung Dritter besteht nicht. Die Rolle des Arztes tritt daher bei zunehmender Verantwortung des Einzelnen zurück, die Verantwortung wird neu verteilt. Für diesen beschriebenen Verantwortungsverlust des Arztes lassen sich zwei Hauptursachen ausmachen: erstens die Zunahme des Einflusses nicht-medizinischer Kriterien auf den Entscheidungs- und Behandlungsprozess, sowie zweitens die Individualisierung der Verantwortung. Ersterer Gesichtspunkt liegt darin begründet, dass die Entscheidung für eine genetische Diagnostik vielschichtig sein kann. Sie kann persönliche, familiäre und moralische Beweggründe aufweisen. In Bezug auf den zweiten Gesichtspunkt soll die heraufbeschworene „Risikofaktorenmedizin“ die klassische hippokratische Medizin revolutionieren und damit die Verantwortung innerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung neu verteilen. Die Medizinethik werde in nicht allzu ferner Zukunft eine radikale kopernikanische Wende erfahren, in der sich folglich auch die Prinzipien verlagern würden. Damit 132
Siehe dazu ausführlicher unten Kapitel 5, B. II. 2. Damm, Informed Consent und informationelle Selbstbestimmung in der Genmedizin, in: Festschrift für Laufs, S. 725, 727. 134 Damm, Prädiktive Gesundheitsinformationen, Persönlichkeitsrechte und Drittinteressen, in: Colombi et al., Haftungsrecht im dritten Millennium, S. 303, 309; vgl. Sureau, J Assis Reprod Genet 1995, S. 552 ff. zur „Medical Deresponsibilization“; Damm, Informed Consent und informationelle Selbstbestimmung in der Genmedizin, in: Festschrift für Laufs, S. 725, 727; siehe hier Fn. 14. 133
B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“
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einher ginge auch die Änderung der Subjekte der Verantwortung in der Arzt-PatientenBeziehung. „Wenn es um die Vermeidung von (. . . ) Risiken (. . . ) geht, dann wird der Mediziner zum Berater und der Patient (. . . ) zum primären Handlungs- und Verantwortungssubjekt. (. . . ) Diesmal ist aber der Bürger, nicht der Arzt, derjenige, der (zwischen objektiven Zwängen von Prävention und individuellen Prioritäten) abwägen und entscheiden muss“.135 aa) Im Verhältnis zum Klienten Grundlage und Ausgangspunkt dieses Verlagerungsprozesses war die Entwicklung weg vom Paternalismus hin zu mehr Selbstbestimmung des Patienten und folglich die Anerkennung des Patienten als Entscheidungsträger. Mit dieser Entwicklung änderte sich die medizinische Beratungspraxis. Diese gewann aufgrund der Bedeutung der Einwilligung an Relevanz. Sass bezeichnet diesen Prozess als „kopernikanische Wende“ in der Medizin: Die fremdbestimmte und fürsorgliche Arztethik wurde tendenziell durch eine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Patientenethik ersetzt.136 Oder in eher kritischen Worten: Der Abschied von der „paternalistischen hippokratischen Ethik“ und der „Hinwendung zur informierten Selbstbestimmung“137 meine nicht die Vision des mündigen, autonomen Patienten, sondern vielmehr eine Verlagerung von Rechten zu Pflichten.138 Dieser ambivalente Charakter der Entwicklung der Patientenautonomie kann sich mit der Herausbildung einer „genetischen Verantwortung“ in Rahmen der personalisierten Medizin weiter verstärken, da auch die Verantwortung des Arztes sich wandelt. Ein Beispiel für eine solche Verantwortungsverlagerung stellt auch § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG dar. Lag die Letztentscheidung der Weitergabe gesundheitsrelevanter Erkenntnisse an Dritte, wenn der Patient sie nicht weitergab, bei Infektionskrankheiten noch beim Arzt, so wurde dem Arzt im Bereich der Gendiagnostik die Möglichkeit des Wiederansichziehens der Entscheidung über die Informationsweitergabe entzogen. Mit dieser Zuständigkeit wurde ihm jedoch zugleich auch die Verantwortung für diese Entscheidung abgenommen und alleine dem Klienten überlassen. Vereinfacht wird hier oft von der Verlagerung der Verantwortung auf den Betroffenen bzw. von einem Verantwortungsverlust gesprochen. Diese inhaltliche Verknappung trifft den Kern jedoch nicht vollständig. Auch bisher, d. h. im Bereich z. B. der Infektionskrankheiten, lag die Primärzuständigkeit für die Informationsweitergabe und damit auch die Verantwortung ebenfalls beim Patienten. Erst die Reservezuständigkeit lag beim Arzt. Nur Letztere sieht das GenDG nicht mehr vor. Die Abschaffung dieser Auffangmöglichkeit dürfte jedoch die Verantwortung des Betroffenen verstärken, da die Last nunmehr allein auf seinen Schultern ruht und keine Auffangmöglichkeit besteht.
135 Sass, Der Mensch im Zeitalter von genetischer Diagnostik und Manipulation, in: Fischer, Wieviel Genetik braucht der Mensch?, S. 344 (Klammerzusatz durch den Bearbeiter). 136 Vgl. Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 270.; Sass, Der Mensch im Zeitalter von genetischer Diagnostik und Manipulation, in: Fischer, Wieviel Genetik braucht der Mensch?, S. 343. 137 Irrgang, Der Krankheitsbegriff der prädiktiven Medizin und humangenetische Beratung, in: Raem et al., Gen-Medizin, S. 653. 138 Vgl. Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 271.
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
Als eine Art Ersatz übernimmt der Arzt die Rolle eines Beraters. Interpretiert man die Rolle des Arztes dementsprechend, so kann in der Ausgestaltung dieser Beratung Hilfestellung zur Verantwortungswahrnehmung gegeben werden, z. B. ob, wie und wann Betroffene Dritte informieren sollen.139 Auch das Problem, dass die Information nicht weitergegeben wird, sollte bedacht werden. Sie führt für den behandelnden Arzt zu den dargestellten ethischen Problemen. Befürchtet wird durch die Bedeutung der Beratung und die teilweise verlangte Beeinflussung des Klienten eine Neuauflage paternalistischer Verhaltensweisen. Der Arzt soll einerseits nicht direktiv beraten, aber auf der anderen Seite verantwortliches Verhalten des Einzelnen lenken.140 Dieses Lenken läuft Gefahr, paternalistische Verhaltensweisen wieder zum Leben zu erwecken. Aus diesem Grund kommt es auf eine konsequente Umsetzung der Beraterrolle an: Diese Entwicklung aufgreifen und ihr in gewisser Weise entgegenwirken könnte das noch relativ junge „Shared-decision-making-Modell“, um der Rolle des Beraters und der Neuverteilung der Verantwortung gerecht werden zu können. Schon an dem Modell des informed consent wurde kritisiert, dass der Fürsorgeethos des Arztes zu sehr in den Hintergrund trete. Auch drohe es, den Patienten zu überfordern. Ihm wird lediglich das erforderliche Fachwissen mitgeteilt und er wird dann mit der Entscheidungsfindung allein gelassen, wobei ihm die gesamte Verantwortungslast übertragen wird. Das Modell des Shared Decision Making möchte dieser Kritik begegnen.141 Der Unterschied zum klassischen informed consent liegt in der Entscheidungsfindung. Dieser Aspekt ist vor allem in der Präventivmedizin von Bedeutung. In diesem Bereich ist die Indikation nicht offensichtlich und spielen vielmehr persönliche Gründe des Patienten bei der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle.142 Der Informationsaustausch soll sich daher wechselseitig zwischen Arzt und Patient vollziehen und damit die Last auf zwei Schultern verteilen. Da im Bereich der Gendiagnostik und dem daran anschließenden Informationsaustausch persönliche Verhältnisses eine wichtige Rolle spielen, bietet sich dieses Modell an. In diese Richtung geht das französische Modell, da nach diesem durch die gemeinsame Ausarbeitung einer Kommunikationsstrategie der Patienten mit der Last der hier sogar bestehenden Informationspflicht nicht allein gelassen wird bzw. diese auch auf den Arzt zurück übertragen kann. Für eine Teilung der Verantwortung spricht zudem, dass die Ärzte aufgrund der Aufklärung und Beratung des Klienten in gewisser Hinsicht eine Verantwortung trifft, und dass der Klient mit den Daten verantwortungsvoll umgeht. „Sollen die Ärzte auf der einen Seite jede Form der Beeinflussung und direktivem Handeln vermeiden, scheinen sie offensichtlich andererseits für die Aufgabe ausreichend qualifiziert, die Patienten über Informationspflichten und Verhaltensanforderungen aufzuklären, die sich aus dem genetischen Wissen ergeben.“143 Die Anforderungen an den Arzt sind daher teilweise widersprüchlich und schwer zu trennen, so dass die Kommunikationsrolle des Arztes nicht zu unterschätzen ist und sein sollte. Die Beraterrolle gilt es folglich in Zukunft auszugestalten. 139 140 141 142 143
Vgl. Hallowell et al., J Med Ethics 2003, S. 74, 78. Vgl. Kollek/Lemke, Der medizinische Blick in die Zukunft, S. 242, 249. Vgl. Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 88. Vgl. Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 89 f. Lemke, Die Polizei der Gene, S. 130.
B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“
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bb) Im Verhältnis zu Dritten Für die Frage der Informationsverantwortung des Arztes gegenüber Dritten kann auf das bereits Gesagte zurückgegriffen werden. Im Medizinstrafrecht und in einzelnen Fällen des Medizinzivilrechts trifft den Arzt eine Informationsverantwortung in Form einer Reservezuständigkeit bzw. bei einem Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter auch unmittelbar gegenüber Dritten. Im Bereich der Gendiagnostik hingegen ist es nicht mehr Sache des Arztes, gegenüber Dritten aufzutreten. Dies ist unter Annahme einer sich standardisierenden Durchführung von genetischen Analysen auch keine abwegige Lösung. Werden die Untersuchungen in Zukunft medizinischer Standard, so liegt es in der Eigenverantwortung des Einzelnen, einen solchen Test durchzuführen. Auch handelt es sich im Fall der Standardisierung genetischer Analysen nicht mehr um Zufallsfunde in ihrem ursprünglichen Verständnis, sondern um vorhersehbare Ereignisse. Reservezuständigkeiten des Arztes kommen bei Regelereignissen jedoch weniger in Betracht. Die Informationsverantwortung unterliegt daher auch an dieser Stelle einem Wandel und wird durch die Rolle des Arztes als Berater aufgefangen. Eine Informationsverantwortung besteht hier gegenüber Dritten nunmehr mittelbar, mittelbar unter dem Aspekt, dass durch die Aufklärung und Beratung des Arztes über Zufallsfunde gegenüber dem Klienten den Interessen und Rechten Dritter zur Geltung verholfen werden soll. Im Unterschied zu einer unmittelbaren Informationsverantwortung in den Fällen einer HIV-Infektion, stellt diese mittelbare Informationsverantwortung nicht mehr den Ausnahme- sondern einen Standardfall dar. 4. Grenzen einer sich wandelnden Verantwortung Der aufgezeigte mögliche Trend hat jedoch seine Grenzen: Gegen eine Pflicht zu wissen und dieses Wissen zu teilen, spricht schon das Nichtschadensprinzip. Die grenzenlose Anwendung der Tests kann zu den beschriebenen negativen, insbesondere psychischen Wirkungen des Wissens führen,144 zum einen bei dem Betroffenen, zum anderen bei dem informierten Verwandten. Gegen die alleinige bzw. zunehmende Betonung der Eigenverantwortung ist jedoch vor allem der nicht nachweisbare bzw. zwingende Kausalitätszusammenhang zwischen genetischer Mutation und späterer Manifestation der Krankheit bei den überwiegend diagnostizierten multifaktoriellen Krankheiten einzuwenden. Eine Zuweisung von Verantwortung fällt folglich schwer, da eine Krankheit nicht zwingend dem Verhalten des Patienten zugewiesen werden kann.145 Die einseitige Betonung der Verantwortung des Einzelnen übergeht diese naturwissenschaftliche Gegebenheit. Andere gehen sogar so weit, von einer Entmündigung zu sprechen. Es „verkehrt sich Selbstverantwortung in Entmündigung. Denn sie meint nicht Verantwortung, sondern Pflicht gegenüber sich selbst, die Pflicht funktionsfähig zu bleiben“.146 Beispielhaft lässt das Phänomen des „gesunden Kranken“147 die Zweischneidigkeit der Präventivmedizin 144 145 146 147
Vgl. Propping et al., Prädiktive genetische Testverfahren, S. 149. Vgl. Höfling, ZEFQ 2009, S. 286, 289. Mergner/Mönkeberg-Tun/Ziegeler, Psychosozial 1990 Heft II , S. 7, 11. Siehe oben Kapitel 1, C. II. 1. c) cc).
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
erkennen. Es besteht die Gefahr der Sensibilisierung der Bevölkerung in die gewünschte Richtung. Es kommt zu Schuldzuweisungen, wenn man an den Vorsorgeuntersuchungen nicht teilnimmt, und allgemeine Lebensgefahren werden zu individuellen Risiken umdefiniert.148 Aus diesem Grund kommt dem Recht auf Nichtwissen in dieser Entwicklung des Gesundheitssystems eine wichtige begrenzende Wirkung zu. Die Gendiagnostik soll Chancen bieten, indem sie bisher nicht heilbare oder verhinderbare Krankheiten erklärt. Optionen und Chancen sollten sich jedoch nicht zu Pflichten entwickeln.149 Allein die Anerkennung und Gewährleistung eines Rechts auf Nichtwissen genügt jedoch nicht, um sozialen Druck auszuschließen und von faktischen Zuständen überholt zu werden. Schon aufgrund des Angebots und der neuen, weitreichenden Möglichkeiten ist die Gesundheit nicht mehr allein Schicksal, sondern verlangt eine Entscheidung. Diese kann nicht völlig frei erfolgen, da der „Entscheidungsprozess in einem Umfeld sozialer Normen und moralischer Werte stattfindet“.150 Angesetzt werden muss daher auch auf dieser Ebene. Dies bedeutet, dass an der korrekten Wahrnehmung der Gene durch eine gesellschaftliche Aufklärung- und Information gearbeitet werden muss. Entgegen eines genetischen Determinismus, der zur Vermarktung genetischer Tests im Internet in Teilen weiter propagiert wird, ist die Komplexität der Entstehung auch genetisch bedingter Krankheiten und damit die begrenzte Aussagekraft der Gene in den Vordergrund zu stellen. Der Gesetzgeber kann sich nicht „blind“ auf eine aufgeklärte Gesellschaft und einen vernünftigen Umgang mit den wissenschaftlichen Möglichkeiten verlassen, sondern auch mögliche faktische irrationale Zwänge sind zu berücksichtigen, um der Gefahr der Entsolidarisierung zu begegnen.151 Genetische Informationen werden leicht in ihrer Aussagekraft weit überschätzt.152 Reaktionen und Erwartungen können daher realitätsfern ausfallen. Psychische und externe Faktoren werden unterschätzt und die Begründung und „Schuldzuweisung“ der komplexen Erkrankung auf „die Gene“ reduziert. Teilweise ist sogar von einem Prozess der „Genetisierung“ der Gesellschaft die Rede.153 Spricht man in diesem Kontext daher von Solidaritätspflichten, so sind auch diesen Grenzen gezogen und kritisch zu verfolgen. Eine Individualisierung und Privatisierung von gesundheitlichen Risiken läuft Gefahr, zu einer Entsolidarisierung des Gesundheitssystems zu führen154 : „Durch Individualisierung von Verantwortung und Schuldzuweisungen wird der gesellschaftliche Anteil von Verantwortung ignoriert. Dies würde zu Entsolidarisierung und sozialer Isolierung führen (. . . )“. 155 Die Individualisierung birgt damit eine Dialektik. Die modernen Formen sind sicherlich ein Gewinn bezogen auf die Gesundheit. Sie darf jedoch nicht unter dem Deckmantel der Prävention zu einer Risi-
148
Vgl. Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 66 f. So Daele, Mensch nach Maß, S. 81. 150 Lemke, Veranlagung und Verantwortung, S. 92. 151 Vgl. Kersten, PersV 2011, S. 4, 6; Kersten, JZ 2011, S. 161, 167; zu dieser Gefahr siehe BTDrs. 14/9020, S. 132. 152 Vgl. Schlussbericht der Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 132. 153 Vgl. Have, Genetisierung, in: Wiesing, Ethik in der Medizin, S. 390; dazu auch Schlussbericht Enquête Kommission, BT-Drs. 14/9020, S. 132. 154 Vgl. Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 27, 33. 155 GfH, Med. Genetik 1996, S. 125, 127, Klammerzusatz durch den Bearbeiter. 149
B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“
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koübertragung auf den Einzelnen führen.156 Auf diese gesellschaftliche Dimension der Gendiagnostik wies van de Daele kritisch hin: „Die Probleme dieser Techniken sind die Kehrseite ihrer Chancen“.157 Genetische Erkenntnisse können uns bei unserer Lebensplanung helfen und gegebenenfalls uns die Möglichkeit der Gesundheitsvorsorge bieten. Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr, dass sie zu Instrumenten sozialer Kontrolle würden?158 Ein häufig erwähnter Gesichtspunkt, auch im Rahmen der Propagierung einer individualisierten Medizin, ist das Finanzierungsproblem des öffentlichen Gesundheitswesens. Dies zwinge dazu, „präventive Gesundheitsvorsorge in weitem Umfang verbindlich zu machen“.159 Die Finanzierungsprobleme des öffentlichen Gesundheitswesens werden in Zukunft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Auf dieser Linie liegen auch die Regelungen des § 1 und § 52 SGB V.
III. Bedeutung für Zufallsfunde Die gesellschaftlichen Entwicklungen im Bereich der Gendiagnostik sind nicht konkret absehbar. Sollte sich die Hypothese einer Normalisierung und Standardisierung verwirklichen, so wird dies nicht ohne Einfluss auf die gesellschaftliche Rezeption der Gendiagnostik bleiben. Normalisierung, Individualisierung und genetische Verantwortung beeinflussen und bewirken sich dabei gegenseitig. Zufallsfunde werden keine Ausnahme mehr bleiben und die Zahl der Adressaten der genetischen Verantwortung und damit die Verteilung der Verantwortung wird sich wandeln. 1. Zufallsfund als Regelfall: Vom Zufallsfund zum Zusatzfund Auch für das Phänomen des Zufallsfundes an sich sind die zu erwartende zunehmende Durchführung genetischer Analysen und die Totalsequenzierung von Bedeutung. Als Zufall bezeichnet man das Eintreten unvorhergesehener und unbeabsichtigter Ereignisse, das Eintreten von Ereignissen für die keine Ursache und keine Gesetzmäßigkeit erkennbar sind. Bei der Totalsequenzierung des Menschen, der Ganz-Körper-Analyse, werden zusätzliche Erkenntnisse zunehmen und aufgrund der zunehmenden Anzahl der Durchführung dieser Untersuchungen auch die Fallzahlen steigen.160 Unvorhersehbar werden diese zusätzlichen Ergebnisse folglich nicht mehr sein. Zufallsfunde, die zwar nicht gezielt erhoben wurden, mit denen jedoch zu rechnen ist, stellen zumindest begrifflich dann zukünftig keinen Zufall mehr dar. Aus diesem Grund bezeichnet man sie mittlerweile
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Vgl. Honnefelder et al., Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 10. Daele, Mensch nach Maß, S. 75. 158 Zu dieser Problematik Feuerstein/Kollek, Aus Politik und Zeitgeschichte 2001, S. 26 ff. 159 Daele, Mensch nach Maß, S. 77, 79, Der präventive Zwang und die „gesellschaftlichen Rationalisierung“ fände jedoch seine Schranke im Prinzip der Selbstbestimmung. 160 Vgl. McGuire/Caulfield/Cho, Nat Rev Genet. 2008, 152; Wolf et al., J Law Med Ethics 2008, S. 361. 157
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
teilweise als „Zusatzbefund“161 , oder nach der hier gewählten Differenzierung als Zusatzfund. Dennoch bleiben diese zusätzlichen Informationen auch in Zukunft ein Konfliktpunkt genetischer Analysen und damit auch der Ausbreitung dieser Methode. Wenn auf alles getestet wird, gibt es keine Zufallsfunde mehr. Dies ändert jedoch nichts an der weitreichenden Aussagekraft und Drittwirkung genetischer Daten, so dass auch in Zukunft Konflikte zwischen dem Recht auf Wissen und Nichtwissen aufgrund unterschiedlicher Einstellungen entstehen können. 2. Abgrenzung von Verantwortungsbereichen Die Antwort auf die Frage, wie in Zukunft mit dem beschriebenen Problemkreis des Zufallsfundes umgegangen wird, liegt damit auch in der gesellschaftlichen Akzeptanz und Umsetzung der modernen Medizin.162 Entwickeln sich genetische Untersuchungen zu normalen Untersuchungen, so fehlt es in Zukunft an dem Ausnahmecharakter, der eine Informationsverantwortung des Arztes begründen könnte. Diese Hypothese betrifft zunächst nur den Konflikt zwischen der Schweigepflicht des Arztes, seiner Verantwortung für das gesundheitliche Wohlergehen Dritter und dem Recht auf genetische Privatheit des Klienten. Zählen genetische Untersuchungen zukünftig zu Standarduntersuchungen, so kann ein potenziell betroffener Dritter damit rechnen, dass sich seine Verwandten haben testen lassen. Unterzieht man sich selber nicht diesem Prozess, so kann darin der mutmaßliche Wille zu Tage treten von dieser Option keinen Gebrauch machen zu wollen.163 Dies ist eine eigenverantwortliche Entscheidung, die zum einen nicht von anderen umgangen werden darf, zum anderen sollte man nicht durch eine Informationsverantwortung die Entscheidungslast auf den Arzt weiter übertragen können. Auch darf der Arzt damit rechnen, dass der Betreffende sich selber testen lässt oder getestet hat. Des Weiteren ist die Beziehung des Betroffenen und der Verwandten zu klären, insbesondere das Verhältnis ihres Rechts auf Wissen-Nichtwissen. Auch hier kann die Verbreitung genetischer Analysen dazu führen, dass je mehr genetische Analysen standardisiert durchgeführt werden, desto weniger kommt eine Informationsverantwortung des Betroffenen in Betracht. Die zunehmende Verbreitung genetischer Analysen führt allein aufgrund der Möglichkeiten und dem damit verbundenen Entscheidungszwang zwar zu mehr Verantwortung. Andererseits kann diese Verbreitung der Technik auch gegen eine zunehmende Verantwortung gegenüber Dritten sprechen. Je verbreiteter das Verfahren wird, desto 161 Vgl. Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 39: „Der einzelne, über die Fragestellung hinausgehende Befund bleibt zufällig, das Auftreten von solchen Befunden aber nicht.“; GfH, Stellungnahme 2013; oder auch ‚unsolicited findings‘ European Society of Human Genetics, European Journal of Human Genetics 2013, S. 580, 582. 162 Kersten schlägt hier folgende „Je-Desto-Formel“ vor die als Ausgangspunkt dienen soll: „Je verbreiteter und damit „normaler“ genetisches Risikoscreening gesellschaftlich wird, desto mehr wird es zu einer Frage der Verantwortung des Einzelnen, ob er sich einem solchen genetischen Risikoscreening unterzieht oder eben nicht, und desto weniger kommen ärztliche Informationspflichten an Verwandte in Betracht, die sich zur Not auch über den Willen eines unmittelbar behandelten Patienten hinwegsetzen.“ Kersten, ZEE 2013, S. 23, 25. 163 So auch Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 196.
B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“
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mehr entwickelt es sich zu einer Frage der Verantwortung des Einzelnen, ob er sich dem unterzieht und desto weniger kommen Informationspflichten gegenüber Verwandten in Betracht. Die Verantwortungsbereiche des Einzelnen würden sich derart überschneiden, dass es nicht mehr in den Verantwortungsbereich des Untersuchten (und erst recht nicht des Arztes) fällt, den Dritten zu informieren. Dieser kann den entsprechenden Wissensstand selber erreichen; ihn trifft eine eigene genetische Verantwortung. Des Weiteren ist auch die Forderung nach Eigenverantwortung in Abgrenzung zum gesundheitlichen Schicksal und dem Solidaritätsprinzip kritisch zu hinterfragen. Es ist „ein großer Unterschied, ob man Selbstverantwortung haben will oder Eigenverantwortung übernehmen soll. Selbst Verantwortung für die Gesundheit zu übernehmen, kann immer nur partiell möglich sein. Für zahlreiche Aspekte von Gesundheit und Krankheit hat niemand die Verantwortung, sie sind abhängig von Glück und Pech.“164 Ziel der neuen medizinischen Möglichkeiten sollte es sein, dem Einzelnen die Option zu eröffnen, Selbstverantwortung wahrzunehmen. Diesem Ziel dient ebenfalls die genetische Beratung und Aufklärung. Ziel sollte es nicht sein, den Einzelnen zu einer Eigenverantwortung zu zwingen.
IV. Fazit Die gesellschaftliche Rezeption der Gendiagnostik ist für die Frage der genetischen Verantwortung und die Gestaltung der Arzt-Klienten-Dritte Beziehung von Bedeutung. Gesetzliche Regelungen stoßen hier an ihre Grenzen, so dass auch andere Wege zur Konfliktlösung beschritten werden sollten. 1. Grenzen gesetzlicher Regelungen Die Entwicklungen der modernen Medizin sind enorm, jedoch noch nicht im Einzelnen absehbar. Als Beispiel soll hier erneut die Entwicklung des neuen Bluttests auf Trisomie 21 dienen. Kritiker befürchten, dass sich aufgrund der unkomplizierten Anwendungen dieses Tests dieser Bluttest zu einer Routineuntersuchungen entwickeln könnte und nicht mehr nur bei Risikoschwangerschaften durchgeführt wird. Henn prognostiziert gar eine „Schwangerschaft unter Vorbehalt“. Dies werde zukünftig zum sozialen Standard gehören.165 Entwicklungen in diesem Bereich sind daher rasant und gerade im Bereich der Pränataldiagnostik mit einem erheblichen öffentlichen Interesse und Erwartungen verbunden. Nach einem Bericht der „Zeit“ gab der Ratsvorsitzende einer Expertenanhörung des Deutschen Ethikrats Edward Schmidt-Jorzig zu bedenken, dass Gesetze den medizinischen Erkenntnisprozess nicht bändigen könnten. Erst recht aussichtslos erscheine das in der Humangenetik, wo der Wissensstand sich beispiellos rasant vergrößere. Schon bei Erlass diesen Bereich betreffender Gesetze wie das GenDG wäre man sich der kurzen
164 Schmidt, Eigenverantwortung haben immer die anderen, in: Wiesing, Ethik in der Medizin, S. 532. 165 Vgl. Bahnsen, Die Zeit 21/2012, Was Mutters Blut verrät, zum „PraenaTest“ zur frühen Entdeckung des Downsyndroms mittels Blutprobe.
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
Halbwertszeit bewusst.166 Gesetzliche Regelungen sind daher nur Momentaufnahmen, die nicht jeder Situation gerecht werden können. Norm und Realität divergieren daher potenziell zunehmend, wenn sich genetische Tests mit der gesellschaftlichen Akzeptanz verbreiten und auf die Verantwortung des Einzelnen rekurriert wird. Von öffentlicher Seite her postuliert man daher, dass es keinen Zwang zur Durchführung eines genetischen Tests und damit keine Pflicht zu wissen geben darf. Solche Postulate verhindern jedoch nicht, dass „mit dem wachsenden Angebot der Testmöglichkeiten auch der Begriff der Verantwortung neu gefüllt (. . . ) und unmerklich dem technisch Machbaren angepasst (wird).“167 Die „Aktivierung“ des Patienten und dessen Möglichkeit, sich umfassend zu informieren, erzeugen einen selbstbestimmt handelnden und informierten Klienten. Diese zunächst positive Entwicklung kann jedoch auch zu den dargestellten negativen Effekten führen. Allein die Möglichkeit genetischer Tests kann hier einen auffordernden und damit eine Entscheidung fordernden Charakter entfalten,168 oder gar sich zur Pflicht steigern, die Möglichkeiten auch wahrzunehmen.169 Befürchtet wird, dass „die Menschen im nächsten Jahrtausend von der prädiktiven Kenntnis ihres eigenen Genoms beherrscht und von neuen Normen des zwischenmenschlichen Verhaltens beeinflusst sein“170 werden. Die Rolle des Rechts soll es daher nicht sein, die Kenntnisse über die Gene einzugrenzen, sondern „die Aufgabe des Rechts muss es stattdessen sein, die in der vermehrten genetischen Kenntnis angelegte Ent-Solidarisierung zu verhindern. Das Mehr an Wissen darf nicht zu einem Weniger an Dürfen führen.“171 Allein eine grundrechtliche Betrachtung und Regelung kann den potenziellen Zwang damit nicht verhindern. Maßgeblich ist auch, in welche Richtung sich der gesellschaftliche Erwartungsdruck entwickeln wird. Die Gesellschaft als „unsichtbarer Dritter“ wirkt in die Problembewältigung hinein. Dem kann man nur durch eine umfassende und fachgerechte Aufklärung auf gesellschaftlicher Ebene begegnen,172 um zu verhindern von faktischen Zuständen überrollt zu werden. 2. Stärkung des Individuums Aufgrund der Bedeutung genetischen Wissens und dem medizinischen Trend muss die Kompetenz des Einzelnen in diesem Prozess gestärkt werden.173 Die Position des Einzelnen wird ausgebaut, Möglichkeiten, aber gleichzeitig auch Gefährdungen, nehmen zu, 166 Aus Bahnsen, Die Zeit 21/2012, Was Mutters Blut verrät, zum „PraenaTest“ zur frühen Entdeckung des Downsyndroms mittels Blutprobe. 167 Beck-Gernsheim, Nichtdirektive Beratung im Spannungsfeld zwischen Klientenwünschen und gesellschaftlichem Erwartungsdruck, in: Ratz, Zwischen Neutralität und Weisung, S. 57, 68 (Klammerzusatz durch den Bearbeiter). 168 Vgl. Bondolfi, Ethisch denken und moralisch handeln in der Medizin, S. 99. 169 Hierzu kritisch Prainsack, Personalisierte Medizin aus Sicht des Patienten, in: DER, Personalisierte Medizin, S. 23, 31; zum ethischen Problem „der Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns“ Jonas, Das Prinzip Verantwortung. S. 28. 170 Have, Genetesierung, in: Wiesing, Ethik in der Medizin, S. 368, unter der Frage: Genetik als Zivilisationsstrategie? 171 Eberbach, MedR 2010, S. 155, 163. 172 Vgl. Beck-Gernsheim, Nichtdirektive Beratung im Spannungsfeld zwischen Klientenwünschen und gesellschaftlichem Erwartungsdruck, in: Ratz, Zwischen Neutralität und Weisung, S. 57, 71 f. 173 Vgl. Kersten, JZ 2011, S. 161, 167: „individuelles Empowerment“.
B. Gesundheit und „genetische Verantwortung“
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so dass individuelle Schutzinstrumente vermehrt eine wichtige Rolle spielen. Durch die zunehmende Individualisierung kann der Einzelne gestärkt werden. Individualität und Verantwortung können jedoch eine gegensätzliche Entwicklung einschlagen, so dass es auch zu einer schleichenden Schwächung kommen kann. Ziel sollte es daher sein, die Selbstverantwortung des Einzelnen zu stärken und nicht Eigenverantwortung zu verlangen.174 Hier gilt es Zwang zu verhindern. In einer liberalen Gesellschaft wird von staatlichen gesundheitlichen Zwangsmaßnahmen eher Abstand genommen. Dies gilt vor allem in der heutigen Arzt-Patienten-Beziehung, in der die Patientenautonomie im Vordergrund steht und eine Abkehr vom Paternalismus stattgefunden hat. Gesetzt wird auf die freiwillige Anpassung der Gesellschaft an die neuen Möglichkeiten. Dies schließt jedoch keinen schleichenden Zwang aus. „Die meisten Menschen meinen, es sei besser, Krankheit zu vermeiden als sie zu behandeln. Sie akzeptieren, dass sie der Gemeinschaft einen Beitrag zur Prävention von Krankheit schulden, weil sie auf die Solidarität dieser Gemeinschaft zählen, (. . . ). Damit spiegeln sich die Gründe, die präventiven Zwang als Strategie der öffentlichen Gesundheit legitimieren können, schon in den Vorstellungen der Menschen von Rationalität, in ihrem moralischen Pflichtgefühl und in den Visionen von Lebensqualität, die individuellen Präferenzen zugrunde liegen. Im Ergebnis produzieren daher die Menschen durch eigene Entscheidungen weitgehend das Verhalten, das ihnen durch öffentlichen Zwang auferlegt werden würde.“175 Um diesen schleichenden Zwang und die damit einhergehende zunehmende individuelle Verantwortung für das eigene Schicksal begrenzen zu können, ist es umso wichtiger, die Gesellschaft umfassend aufzuklären und zu verhindern, dass Schutzinstrumente wie das Recht auf Nichtwissen durch faktische Gegebenheiten untergraben werden. 3. Mündiges Individuum Die Zukunft vorher zu sagen ist schwierig. Dennoch würde man die Kompetenz des Einzelnen und unser Gesundheitsverständnis unterschätzen, wenn man von einer absoluten Genetisierung ausginge. Individuelle Interessen, vor allem das Recht auf Wissen und Nichtwissen, und kollektive Interessen, wie die Etablierung einer mehr eigenverantwortlichen präventiven Medizin, stimmen nicht immer überein. Zwar ist ein möglicher gesellschaftlicher Zwang nicht zu unterschätzen, jedoch besagt dies nicht, dass die kollektiven Interessen grundsätzlich überwiegen. Individuen, die in der Vergangenheit autonomes und selbstbewusstes Gesundheitsverhalten zunehmend gelernt haben, werden die Angebote kritisch hinterfragen und nicht blind alles erdenklich Mögliche in Anspruch nehmen, bzw. konsumieren. Bereits heute findet eine breite gesellschaftliche Debatte zum Nutzen der Gendiagnostik statt. Diese wird nicht verstummen, sondern die Entwicklungen beobachten. Des Weiteren werden medizinische Werte und Beurteilungen nicht von heute auf morgen verschwinden. „Apparently, a full geneticization of human existence in the future may only occur when we abandon the philosophical attempt to differentiate
174 Vgl. Schmidt, Eigenverantwortung haben immer die anderen, in: Wiesing, Ethik in der Medizin, S. 532. 175 Daele, Droht präventiver Zwang in Public Health Genetics?, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 159.
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Kap. 4: Ethische Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen
between ‚healthy‘ and ‚ill‘, ‚normal‘ and ‚abnormal‘.“176 Diesen Zustand haben wir noch nicht erreicht. Deutlich wird jedoch, dass der Gesundheits- und Krankheitsbegriff als eine Art Stimmungsbarometer dienen kann, ob wir genetische Abweichungen als normal oder als schon krankhaft empfinden und ansehen. Ist Letzteres der Fall, wird sich auch unsere Erwartungshaltung ändern. Viel spielt sich außerhalb des Rechts ab und ist maßgeblich von den Moralvorstellungen und der gesellschaftlichen Adaption geprägt. Wichtig ist es dabei, den öffentlichen Diskurs nicht zu vernachlässigen und den Einzelnen als mündiges Individuum wahrzunehmen.
C. Zusammenfassung Die Entwicklungen in der Gendiagnostik sind rasant und haben das Potenzial, unsere Ansichten in Bezug auf Krankheit/Gesundheit und Verantwortung und damit auch den Umgang mit Zufallsfunden zu beeinflussen. Wie weit die Entwicklung geht, hängt maßgeblich von der gesellschaftlichen Akzeptanz und Normalisierung genetischer Tests ab. Der Beispielsfall Israel illustriert hier sehr gut die aus gesellschaftlicher Akzeptanz entstehenden faktischen Forderungen. Die normative Wirkung faktischer Zustände sollte nicht unterschätzt werden. Im Kontext einer personalisierten Medizin und einer Individualisierung gesundheitlicher Risiken und Verantwortung wird zunehmend eine genetische Verantwortung mit ihren Ausprägungen der Informationsverantwortung und Eigenverantwortung thematisiert. Geboren ist damit eine Art „genetische Risikoperson“, von der teilweise schon verlangt wird, in Anbetracht der Möglichkeiten, eine gesundheitliche Eigenverantwortung zu übernehmen und gegenüber Dritten eine (moralische) Informationsverantwortung in Form einer Pflicht zu wissen und Wissensweitergabe wahrzunehmen. Einer so weitreichenden Sozialbindung des Einzelnen mangelt es jedoch an den Voraussetzungen einer Verantwortungszuweisung, vor allem der notwendigen Kausalität zwischen Disposition und Manifestation. Dem Recht auf Nichtwissen kommt hier als Schutz der Autonomie vor ausufernden Zwängen eine hervorgehobene Bedeutung zu. Des Weiteren wird eine zunehmende Betonung der Eigenverantwortung des Einzelnen und einer Entsolidarisierung in Bezug auf ein gesundheitliches Schicksal als Trend der personalisierten Medizin befürchtet. Je mehr gesundheitliche Risiken individualisiert werden können, desto mehr individualisiert man auch die Gesundheitsverantwortung und fordert in Form des „freiwilligen Zwangs“ ein präventives Verhalten ein. Diese geforderte Eigenverantwortung ist unserem Gesundheitswesen zudem nicht fremd, sondern ein bereits genutztes, auch ökonomisches Mittel im SGB V. Sie könnte sich zum Einfallstor für eine weitergehende Forderung von Vorsorgemaßnahmen entwickeln. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund explodierender Gesundheitskosten und der Belastungsgrenze des Solidaritätsprinzips. Eine auch im GenDG deutlich werdende Verantwortungsverteilung betrifft die Informationsverantwortung in der Arzt-Klienten/Dritten-Beziehung, die in einer Linie mit der zunehmenden Eigen- und Informationsverantwortung des Patienten liegt. Den Arzt trifft 176 Have, Living with the future: genetic information and human existence, in: Chadwick/ Levitt/Shickle, The right to know and the right not to know, S. 87, 95.
C. Zusammenfassung
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nur gegenüber dem Klienten eine unmittelbare Informationsverantwortung. Gegenüber Dritten ist der Arzt aus einer unmittelbaren Verantwortung entlassen. Lediglich mittelbar kommt dem Arzt eine Informationsverantwortung aufgrund der Beratungsempfehlung gegenüber dem Klienten zu. Die Last der Information und Offenbarung liegt nunmehr auch bezüglich der Letztentscheidung beim Klienten. Das hier gewählte Mittel zur Ausgestaltung dieser Last ist das der moralischen Pflicht innerhalb von Familienbeziehungen. Der Maßstab für diese Pflichten, was sich als gesellschaftlich akzeptiert und normal durchsetzen wird, ist jedoch noch offen. Das Selbst- und Rollenverständnis des Einzelnen unterliegt einem Wandel, dessen Richtung nicht konkret absehbar, aber für die weitere Entwicklung und den Umgang mit den sich stellenden Fragen und Konflikten von erheblicher Bedeutung ist. Je mehr sich genetische Tests standardisieren, der Zufallsfund nicht mehr zufällig sondern ein Regelfall ist, desto weniger kommt jedoch eine Informationsverantwortung des Arztes oder des Betroffenen in Betracht. Jeder wäre zunehmend für die Wahrnehmung dieser Option eigenverantwortlich. Ihn trifft eine eigene genetische Verantwortung. Dem Arzt kommt dabei die Rolle eines Beraters zu, der bei der individuell verantwortlichen Entscheidung Hilfestellung bieten soll.
Kapitel 5
Zusammenfassung und Schlussbetrachtung Abschließend sollen die wesentlichen Untersuchungsergebnisse zusammengefasst werden (A.), um im Anschluss eigene Bewertungen und Empfehlungen, vor allem in Bezug auf § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG, zu formulieren (B.).
A. Zusammenfassung Bei einem Zufalls(be)fund handelt es sich um die Generierung medizinsicher Daten, ggf. eines Befundes, die außerhalb des unmittelbaren Gegenstands der klinischen Untersuchung liegen und damit „bei Gelegenheit“ der Untersuchung ermittelt wurden. Solche Zufallsfunde sind ein bereits in der klassischen Medizin bekanntes Problem, dessen grundsätzliche Behandlung in der Wissenschaft jedoch bisher nur wenig Beachtung findet. In der Gendiagnostik stellt sich der Zufallsfund als eine bisher nur unzureichend beachtete Grundproblematik der gendiagnostischen Datenerhebung dar. Verstärkt durch die Etablierung und technische Weiterentwicklung der Gendiagnostik sind Zufallsfunde jedoch mehr und mehr von Bedeutung und eine auch in der Arzt-Patienten-Beziehung zu beachtende Frage im Umgang mit medizinischen Daten. Im Ausgangspunkt sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden: der Zufallsfund in der rein bilateralen Beziehung (eindimensionale) sowie der Zufallsfund in der multilateralen Beziehung (mehrdimensionale Zufallsfunde). Letztere Konstellation ist von zunehmender Relevanz, da aufgrund der Vererbung, je nach Mutation und Penetranz der genetischen Anlage, die Daten auch für genetisch verwandte Dritte von Relevanz sein können. Dies gilt vor allem bei der Diagnose monogener, dominanter Erbkrankheiten. In allen anderen Fällen folgt aus der Feststellung einer genetisch bedingten Krankheitsdisposition jedoch lediglich eine Wahrscheinlichkeitsaussage in Bezug auf eine später mögliche Manifestation der Erkrankung, da die meisten genetische bedingten Krankheiten multifaktorielle Ursachen haben. Aufgrund der Reichweite des mehrdimensionalen Zufallsfundes stellt diese Konstellation ein interdisziplinäres und komplexes Problem für die beteiligten Parteien der ArztKlient-Verwandten-Beziehung aus medizinischer, rechtlicher aber auch moralischer Perspektive dar. Dies folgt vor allem aus dem besonderen Charakter genetischen Wissens, dem aufgrund des prädiktiven und unveränderlichen Charakters identitätsbildende, aber auch eine drittrelevante Wirkung zukommt. Dieser Prozess bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die bekannten medizinischen Strukturen und Beziehungen. Insbesondere der informed consent und die Parteien der Arzt-Patienten-Beziehung werden sich hier neuen Herausforderungen stellen müssen. Der Patient entwickelt sich dabei zu einem Klienten, der Gesundheitsleistungen am Markt abfragt. Darüber hinaus kann jedoch der prädiktive Charakter des genetischen Wissens dazu führen, dass sich der Patient trotz fehlender
A. Zusammenfassung
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Krankheitssymptome allein aufgrund der mehr oder minder großen Wahrscheinlichkeit später zu erkranken, schon als krank ansieht oder angesehen wird. Es entsteht das Phänomen des „gesunden Kranken“. Des Weiteren führt der mehrdimensionale Zufallsfund zu einer personellen Erweiterung der Arzt-Patienten-Beziehung; es entsteht eine Klientenaber auch Konfliktgemeinschaft. Des Weiteren kann man den Klienten bei genetischen Analysen nicht mehr isoliert betrachten. Ihn, wie auch den Arzt, trifft die Frage des Umgangs mit dem genetischen Wissen gegenüber potenziell betroffenen Verwandten. Hier gilt es, verschiedene Rechte, Pflichten und Interessen zu beachten. Von besonderer Relevanz für die zukünftige gesellschaftliche Rezeption der Gendiagnostik und der Frage des Umgangs mit dem gewonnenen Wissen ist jedoch das Verständnis des Gesundheits- und Krankheitsbegriffs sowie der jeweiligen Verantwortung. Wird eine genetische Disposition bereits als Krankheit empfunden oder gar angesehen, so besteht die Gefahr, dass sich hieran gesellschaftliche Erwartungen an ein bestimmtes Gesundheitsverhalten, an mehr „genetische Verantwortung“ knüpfen. Widmet man sich nun im Einzelnen dem Zufallsfund zunächst in der „rein“ bilateralen Arzt-Patienten-Beziehung im Bereich der klassischen Medizin, so gilt für eindimensionale Zufallsfunde, dass diesen – trotz fehlender klarer Regelungen oder Richtlinien – durch den Arzt nachzugehen ist. Der Patient muss über diese, teilweise unter Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung, aufgeklärt werden. Diese Annahme stützt sich auf die aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten abgeleitete umfassende Aufklärungspflicht sowie Fürsorgepflicht des Arztes. Auch im Bereich der Gendiagnostik fehlt es an einer Regelung der Problematik, jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, dass hier nach dem Konzept des GenDG, der Weg über eine mutmaßliche Einwilligung nicht zu einer Beachtung des Klientenwillens führen kann. In Ermangelung einer wünschenswerten gesetzlichen Regelung ist hier daher aufgrund der Besonderheit genetischer Daten, entgegen der augenscheinlichen Ansicht des Gesetzgebers, nicht von einer generellen Aufklärungspflicht des Arztes über Zufallsfunde auszugehen. Verschiedene interdisziplinäre Projekte widmen sich daher der Frage des Umgangs mit eindimensionalen Zufallsfunden im klinischen Bereich. Entgegen der in der amerikanischen Wissenschaft vorgeschlagenen Lösung sollte jedoch nicht unabhängig vom Willen des Klienten über Zufallsfunde aufgeklärt werden. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, den informed consent im Vorfeld der Untersuchung um diese Fragestellung, die Möglichkeit der Erhebung von Zufallsfunden, soweit wie möglich zu erweitern und eine Vorgehensweise festzulegen. Ist dies nicht erfolgt, kann man den Betroffenen schrittweise an die Information heranführen. Erweitert man nun die Betrachtung um den Fall des mehrdimensionalen Zufallsfundes, so gewinnt die Situation an Komplexität, da der Arzt aufgrund der ihn treffenden Schweigepflicht im Grundsatz nicht dazu befugt ist, das Wissen gegenüber Dritten zu offenbaren. Lösungsansätze für ein Mitteilungsrecht des Arztes gegenüber Dritten aus dem Bereich des Medizinstrafrechts gehen jedoch dahin, ein Offenbarungsrecht des Arztes auch gegen den Willen des Betroffenen nach § 34 StGB zu begründen („Zwangsaufklärung“). Die zum Teil vertretene Übertragung dieser Grundsätze auf die Problematik gendiagnostischer Zufallsfunde kommt jedoch nicht in Betracht. Zwar finden sich diese Ansätze
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
bereits in der amerikanischen höchstrichterlichen Rechtsprechung, allerdings schließt die spezielle Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG einen Rückgriff auf § 34 StGB aus. Des Weiteren liegt aufgrund der bloßen Wahrscheinlichkeitsaussage eine Notstandssituation eher fern. Zudem ist der Weg über eine Abwägungsentscheidung nicht geeignet, die vielfältig widerstreitenden Interessen in einen gerechten Ausgleich zu bringen. Vor allem die Besonderheiten genetischer Daten, ihre Bedeutung für den Klienten, aber auch die Bedeutung des daraus hergeleiteten Rechts auf Nichtwissen, würden nicht hinreichend berücksichtigt. Gleiches gilt für die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtsinstitute. Geht man mangels Übertragbarkeit der genannten Rechtsinstitute von der besondere Regelungsbedürftigkeit des genetischen Zufallsfundes aus, so ist für die rechtliche Beurteilung von Zufallsfunden das verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 1. i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Recht auf „geninformationelle Selbstbestimmung“ von besonderer Bedeutung. Zu unterscheiden sind die beiden Ausprägungen des Rechts auf Wissen und Nichtwissen. Danach hat jeder ein unentziehbares Recht, seine Gene zu kennen und ein ebensolches sie nicht zu kennen. Das Recht auf Nichtwissen erschöpft sich jedoch nicht alleine in einem Verzicht auf das Wissen, sondern umfasst ein Abwehrrecht gegen aufgedrängtes Wissen. Letzteres ist insbesondere für den Schutz potenziell betroffener Verwandter von besonderer Relevanz (Gefahr des „unsolicited disclosure“). In informationeller Hinsicht ist das Recht auf Privatheit geschützt, d. h. jeder kann grundsätzlich selber bestimmen, wer von den genetischen Untersuchungsergebnissen, direkt wie mittelbar, Kenntnis erhält. Dabei stellen sich jedoch erheblich faktische Schutzprobleme. Besondere Probleme resultieren daraus, dass dieses Recht beim Klienten wie auch beim Verwandten potenziell gleichzeitig betroffen bzw. zumindest gefährdet und vom Arzt als „Geheimnis“ bzw. „Drittgeheimnis“ zu achten ist. Dies kann zu Grundrechtskollisionen und damit erheblichen Umsetzungsproblemen führen. Zu beachten gilt zunächst, dass das Recht auf Nichtwissen einer gewissen „Aktivierung“, d. h. Grundkenntnis bedarf, um überhaupt von einer selbstbestimmten Entscheidung sprechen zu können. Besonders problematisch sind jedoch die „interpersonellen“ Spannungsverhältnisse, da Ausgleichs- oder Abwägungsmöglichkeiten, die der Grundrechtskollision auf beiden Seiten gerecht werden, nicht erkennbar sind. Es gilt daher, den Weg des geringstmöglichen Eingriffs zu finden, ohne dass für den Testwilligen die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung durch potenziell betroffene Verwandte umschlägt. Diesen Konflikten wollte das GenDG nach über 20 Jahren Diskussion Rechnung tragen, indem es sich im Kern für die sogenannte Vorrangregel entschieden hat, d. h. die Schweigepflicht des Arztes und die Selbstbestimmung des Klienten gelten absolut. Auch der kommunikativen Komponente weist das Gesetz durch eine ausführliche genetische Beratung eine hervorgehobene Rolle zu. Dabei bezieht sich die Regelung des GenDG jedoch lediglich auf mehrdimensionale Zufallsfunde. Hier enthält es das ungewöhnliche Modell der „Empfehlung der Empfehlung“. Bemerkenswert am Regelungskonzept des GenDG ist, dass es den eigentlichen Konflikt nicht selber löst, sondern in den innerfamiliären Bereich überweist. Es überlässt allein dem Betroffenen die Beratungsempfehlung in Bezug auf eine genetische Untersuchung an potenzielle Drittbetroffene weiter zu geben. Das angegebene Ziel, den betroffenen Rechtsgütern hinreichend Rechnung zu tragen, hat der Gesetzgeber durch sein Lösungsmodell jedoch nicht vollends erreicht. Zum einen bleiben die Rechte des Verwandten unberücksichtigt, wenn sich der Klient für ein Nicht-
A. Zusammenfassung
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wissen entscheidet. Eine doppelte Empfehlung findet in diesem Fall nicht statt. Zum anderen wird das Recht des Klienten auf Selbstbestimmung durch die Empfehlung durch den Arzt in moralisch liberal paternalistischer Weise beeinflusst. Die Empfehlung suggeriert eine moralische Mitteilungspflicht. Die Entscheidung für die Wissensweitergabe unterliegt zudem den innerfamiliären Konflikten. Zusätzlich wird der Klient durch die „privatisierte“ Aufklärung bzw. Beratungsempfehlung mit der Frage der Weitergabe des Wissens an Verwandte belastet, ohne dass ihm für diese Weitergabe eine hinreichende Aufklärung, Beratung und Hilfe bei der Vorgehensweise beiseite gestellt wird. Vielmehr läuft er Gefahr, durch die gegenüber dem Verwandten als stark paternalistisch zu bewertende gesetzliche Regelung das Recht auf Nichtwissen der Verwandten zu verletzten. Das Gesetz sieht keine verfahrensrechtlichen oder im Rahmen der Aufklärung zu beachtende Kriterien vor, die den Verwandten davor bewahren, nicht gegen seinen Willen aufgeklärt zu werden. Diese Gefahr des unsolicited disclosure wurde vom Gesetzgeber nicht bedacht. Dass hier Regelungsbedarf besteht, illustriert auch die Entscheidung des OLG Koblenz betreffend einer Haftung des Arztes gegenüber Dritten wegen ungefragter, lediglich von der Einwilligung des Klienten nach § 11 Abs. 3 GenDG gedeckten Weitergabe genetischer Untersuchungsergebnisse. Danach genügt allein die Einwilligung des Klienten für die Aufklärung Drittbetroffener nicht. Vielmehr verlangt das Recht auf Nichtwissen des Verwandten auch dessen Einwilligung bevor er mit dem potenziell lebensverändernden Wissen konfrontiert wird. Die Gefahr einer Haftung des Arztes wegen unterlassener Aufklärung, wie es in den Entscheidungen zur Infektionsgefahr meist Streitgegenstand war, besteht auf Grundlage des GenDG nicht, da dieses die aktive Aufklärung gerade verbietet. Für den zukünftigen Umgang mit Zufallsfunden und dem Ziel den verschiedenen Rechten und Interessen gerecht zu werden, ist die Entwicklung und zukünftige Rezeption der Gendiagnostik von besonderer Bedeutung. Der Fortschritt in der Gendiagnostik ist rasant und hat das Potenzial, unsere Ansichten in Bezug auf Krankheit/Gesundheit und Verantwortung und damit auch den Umgang mit Zufallsfunden zu beeinflussen, da aus gesellschaftlicher Akzeptanz faktischen Forderungen entstehen können. Die normative Wirkung faktischer Zustände sollte nicht unterschätzt werden. Eine diesbezüglich heraufbeschworene Auswirkung, vor allem im Kontext einer personalisierten Medizin, ist die Individualisierung gesundheitlicher Risiken und Verantwortung. Sie findet ihren Niederschlag in einer teilweise propagierten, teilweise befürchteten genetischen Verantwortung mit ihren Ausprägungen der Informationsverantwortung und Eigenverantwortung. Geboren ist damit eine Art „genetische Risikoperson“, von der verlangt wird, in Anbetracht der Möglichkeiten eine gesundheitliche Eigenverantwortung zu übernehmen und gegenüber Dritten eine (moralische) Informationsverantwortung in Form einer Pflicht zu wissen und Wissensweitergabe wahrzunehmen. Einer so weitreichenden Sozialbindung des Einzelnen mangelt es jedoch an den Voraussetzungen einer Verantwortungszuweisung, vor allem der notwendigen Kausalität. Dem Recht auf Nichtwissen kommt hier als Schutz der Autonomie vor ausufernden Zwängen eine hervorgehobene Bedeutung zu. Aber auch eine gegenteilige Forderung des innerfamiliären Redeverbots zum Schutz des Rechts auf Nichtwissen des Verwandten wird sich in der Praxis nicht realisieren lassen. Des Weiteren wird aufgrund der zunehmenden Betonung der Eigenverantwortung des Einzelnen eine Entsolidarisierung in Bezug auf ein gesundheitliches
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
Schicksal als Trend der personalisierten Medizin befürchtet. Je mehr gesundheitliche Risiken individualisiert werden können, desto mehr wird auch die Gesundheitsverantwortung individualisiert und in Form des „freiwilligen Zwangs“ ein präventives Verhalten eingefordert. Diese geforderte Eigenverantwortung ist unserem Gesundheitswesen zudem nicht fremd, sondern ein bereits genutztes, auch ökonomisches Mittel im SGB V. Eine sich wandelnde Verantwortungsverteilung wird auch im GenDG deutlich. Sie betrifft die Informationsverantwortung in der Arzt-Klienten/Dritten-Beziehung, die in einer Linie mit der zunehmenden Eigen- und Informationsverantwortung des Patienten liegt. Den Arzt trifft nur gegenüber dem Klienten eine unmittelbare Informationsverantwortung. Gegenüber Dritten ist er aus einer unmittelbaren Verantwortung entlassen. Diese Last liegt nunmehr auch bezüglich der Letztentscheidung beim Klienten. Das hier gewählte Mittel zur Ausgestaltung dieser Entscheidung ist das der moralischen Pflicht innerhalb von Familienbeziehungen. Je mehr sich jedoch genetische Tests standardisieren, der Zufallsfund nicht mehr zufällig, sondern ein Regelfall, ein Zusatzfund ist, desto weniger kommt jedoch eine Informationsverantwortung des Arztes oder des Betroffenen in Betracht. Jeden trifft eine eigene genetische Verantwortung. Dem Arzt kommt dabei die Rolle eines Beraters zu, der bei der individuell verantwortlichen Entscheidung Hilfestellung bieten soll. Berücksichtigt man die angestellten Erwägungen, die medizinischen Grundlagen, die sich dabei stellende und daraus resultierende Problematik des Zufallsfundes, sowie dessen Behandlung durch das GenDG, so ist die Regelung des GenDG einigen Kritikpunkten ausgesetzt. Dies gilt auch unter Beachtung verfassungsrechtlicher Vorgaben und sich abzeichnender zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen. Den Kritikpunkten können durchaus Verbesserungsvorschlägen entgegengesetzt werden.
B. Bewertung und Empfehlungen Aufgrund des erst „jugendlichen“ Alters der gesetzlichen Regelung des GenDG sind Auseinandersetzungen mit der konkreten gesetzlichen Lösung naturbedingt rar. Überwiegend bewertet wurde die Problematik der Gendiagnostik unter dem Blickwinkel der versicherungs- und arbeitsplatzbezogenen Probleme sowie allgemein aus verfassungsrechtlicher Sicht.1 Weniger Aufmerksamkeit haben dagegen die Aspekte des Zufallsfundes und vor allem der Auswirkungen auf Verwandte und damit auch der Arzt-KlientenBeziehung erhalten. Dies zeigt auch die nur sehr rudimentäre bzw. in Bezug auf den eindimensionalen Zufallsfund fehlende Regelung des GenDG. Dem Zweck, die Diskussion um diesen Blickwinkel zu erweitern, dienten die vorangegangen Kapitel. In Kenntnis des Konfliktpotenzials, der betroffenen Rechtsgüter und des Entwicklungspotenzials der Gendiagnostik stellt sich abschließend die Frage, ob die Regelung des GenDG den aufgewor-
1 Zum Versicherungsrecht z. B. Berberich, Zur Zulässigkeit genetischer Tests in der Lebens- und privaten Krankenversicherung; Heyers, MedR 2009, S. 507; zum Arbeitsrecht Luthmann, Rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte der Genomanalyse an Arbeitnehmern während bestehender Arbeitsverhältnisse; für den öffentlichen Dienst Kersten, PersV 2011, S. 4; ders., PersV 2011, S. 84; zum Verfassungsrecht Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz; Meyer, Der Mensch als Datenträger?; Tjaden, Genanalyse als Verfassungsproblem; Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung.
B. Bewertung und Empfehlungen
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fenen Konflikten hinreichend und zukunftstauglich gerecht wird. Einleitend sollen dazu zunächst (kritische) wissenschaftliche Stimmen zusammengefasst werden.
I. Stimmen der Literatur zum GenDG Die gesetzliche Lösung ist das Ergebnis einer langwierigen und breiten Diskussion, in deren Rahmen durchaus Gründe für den vom Gesetzgeber gewählten Lösungsweg herausgearbeitet wurden. Vor allem der hohe Stellenwert des Selbstbestimmungsrechts des Untersuchungswilligen und die Schwierigkeit, einen gerechten Ausgleich zwischen allen potenziell betroffenen Rechten und Interessen herzustellen zeigen, dass es die „Ideallösung“ nicht geben kann. Die Ansichten in der Wissenschaft zum gefundenen Lösungsweg gehen dabei auseinander. Überwiegend wird Kritik an dem gefundenen Modell laut, was in Anbetracht der Komplexität des Konflikts nicht überrascht. 1. Zustimmende Meinungen Stockter befürwortet die gesetzliche Lösung.2 Nach seiner Ansicht muss grundsätzlich jeder selber über die Weitergabe von Gesundheitsdaten bestimmen dürfen. Auch solle die schwere Entscheidung der Durchführung genetischer Untersuchungen nicht durch Mitberücksichtigung familiärer Implikationen belastet werden. Die betroffene Person könne die familiären Verhältnisse besser einschätzen, so dass es konsequent sei, keinen Beratungsautomatismus vorzusehen, sondern es der Einschätzung des Betroffenen zu überlassen, wie er die Fragen thematisiert. Teilweise wird auch – abweichend von der hier vertretenen Ansicht – davon ausgegangen, dass den betroffenen Rechten hinreichend Rechnung getragen wurde.3 Durch die Empfehlungen zur Empfehlung werde behutsam sowohl dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Patienten als auch dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Verwandten sowie dessen Recht auf Nichtwissen Rechnung getragen. Die Belastung des Patienten mit der Weitergabe des Wissens ließe sich mit der Patientenautonomie und der Patientenverantwortung4 rechtfertigen.5 2 Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 27, 50. 3 Konkret zu § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 303 ff. auch Heyers, MedR 2009, 507 ff.; a. A. und ausführlicher Kersten, ZEE 2013, S. 23 ff.; Duttge, Regelung der Gendiagnostik zwischen Ideal und Realität, in: ders./Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 1, 7 ff. 4 Eine genauere Begründung und Spezifizierung der Verantwortung erfolgt jedoch nicht. 5 Kritisch bemerkt sie jedoch, dass bei den diagnostischen Untersuchungen, bei denen keine Beratung sondern nur eine Aufklärung gesetzlich verlangt wird, bereits innerhalb der Aufklärung auf die mögliche Relevanz von Untersuchungen für Verwandte hingewiesen werden sollte, um auch die Weitergabe des Wissens zu ermöglichen. Dies solle durch eine Regelung nach § 23 Abs. 2 Nr. 5 GenDG durch Richtlinie festgelegt werden. Des Weiteren verlangt sie, dass die Gruppe der möglicherweise betroffenen Verwandten durch eine Konkretisierung der Gesetzesbegriffe „vermeidbar“ und „behandelbare“ sowie des relevanten Verwandtschaftsgrads erfolgt; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 303 ff.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
2. Kritik Die Besonderheit der gesetzlichen moralischen Lösung ruft jedoch auch kritische Stimmen hervor. Wird teilweise der eher weiche Wortlaut und der befremdliche Inhalt der „Pflicht des Arztes zu der Empfehlung, einen Rat zu erteilen“ noch als „bemerkenswert“6 bezeichnet, so gibt es auch Kritik, die § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG als „Nicht-Lösung“ des Problems betrachtet. Wie bereits an verschiedenen Stellen angesprochen, ist Ansatzpunkt der Kritik, dass die gesetzliche „Lösung“ keine rechtliche Lösung des Problems darstellt, sondern die Konfliktlösung vielmehr auf die Ebene der Moral überführt. Des Weiteren liefert der Weg bei genauerer Betrachtung keine (vollständige) Lösung des Problems, da es im Falle der Entscheidung der untersuchten Person für ihr Recht auf Nichtwissen, es nicht zu einer Empfehlung der Empfehlung kommt. Aber auch wenn sich der Untersuchte für sein Recht auf Wissen entscheidet und nach der Empfehlung eine Information des Verwandten erfolgt, ist das Problem nicht gelöst. Vielmehr ist auch die Rechtsverletzung des Rechts auf Nichtwissen privatisiert: Sie erfolge nicht durch den Staat oder durch den Arzt sondern durch den Klienten, „der moralisch motiviert die Information aufdrängen soll“.7 Durch diese Lösung werde die Bedeutung des Rechts auf Nichtwissen in Zeiten der Gendiagnostik unzureichend bedacht. Auch bliebe der gesetzliche Schutz hinter dem bereits in der Praxis der Rechtsprechung gewährten zurück.8 Die gesetzliche Lösung stelle daher einen -so Duttge- „Etikettenschwindel“ dar. Die gesetzliche Lösung trage nicht den tangierten Interessen Rechnung, da sie vom Betroffenen gerade die Preisgabe privater Angelegenheiten verlange, und für den Verwandten in Kenntnis eines existierenden Untersuchungsergebnisses die Wahrnehmung der genetischen Beratung nicht mehr freiwillig sei. Dem darin versteckten Fürsorgegedanken würde besser Rechnung getragen, wenn man dem Arzt eine Möglichkeit der Information einräumen würde. Durch eine „Privatisierung“ der Informationsweitergabe könne zudem ein Verstoß gegen das Recht auf Nichtwissen des Verwandten nicht vermieden werden. Vielmehr sollten Verwandte schon im Vorfeld befragt werden, ob sie gegebenenfalls Kenntnis erhalten wollen.9 Auf dieser Argumentationslinie liegt auch Heyers, der bereits zum Gesetzesentwurf anmerkte, dass eine Fehlgewichtung des Autonomierechts vorläge. Bei einer Störung der innerfamiliären Kommunikation tauge die gesetzliche Lösung nichts, so dass er eine Lösung über § 34 StGB zumindest für diskutabel, wenn nicht gar vorzugswürdig hält.10 6 Damm, Prädiktive Gesundheitsinformationen, Persönlichkeitsrechte und Drittinteressen, in: Colombi, Haftungsrecht im dritten Millennium, S. 303, 319. 7 Kersten, ZEE 2013, S. 23, 25. 8 Die Entscheidung für ein Recht auf Nichtwissen sei hier mehr als ein sich den modernen Errungenschaften verweigernder Mensch. Es sei eine aktive Entscheidung für ein Weniger an Wissen und damit eine aktive Lebensform, Kersten, ZEE 2013, S. 23, 25; siehe zur Rechtsprechung insbesondere OLG Koblenz, Beschl. v. 01.02.2012 – 5 W 63/12; VG Darmstadt, Urt. v. 24.06.2004 – 1 E 470/04. 9 Vgl. Duttge, Regelung der Gendiagnostik zwischen Ideal und Realität, in: ders./Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 1, 7 f. 10 Heyers, MedR 2009, S. 507, 509 f.: Aufgrund des nach seiner Ansicht abschließenden Charakters der Norm ist ein Rückgriff auf § 34 StGB jedoch nicht möglich, so dass die Norm um eine Informationsmöglichkeit durch den Arzt ergänzt werden muss. Das Interesse genetisch Verwandter, eigenes Leid abwenden zu können, wiegt gewiss höher als das Recht auf Nichtwissen sowohl der Verwandten als auch der Testperson, weil es sich dabei um ein elementares Bedürfnis bzw. eine essentielle Lebensnotwendigkeit handelt.
B. Bewertung und Empfehlungen
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Auch in Stellungnahmen zum GenDG wird Kritik am Kommunikationsmodell für familiär relevante Gesundheitsinformationen laut. Sie kritisieren die Machtlosigkeit des Arztes, der keine Möglichkeit der Überprüfung hat, ob der Klient die Empfehlung weitergegeben habe. Auch stellen sie in Frage, dass durch §§ 10 Abs. 3 Satz 4 und 11 Abs. 3 GenDG die Schweigepflicht gegenüber der Fürsorgepflicht als grundsätzlich höherrangig eingestuft wird. Der Arzt solle z. B. durch Zusendung eines Informationsblattes auf das Risiko hinweisen können.11 3. Stellungnahme Zusammenfassend lässt sich zu der Kritik der Literatur sagen, dass der Gedanke, die „freie“ Entscheidung des Betroffenen nicht durch familiäre Implikationen und sich daran anschließende Verpflichtungen belasten zu wollen, im Grundsatz zu befürworten ist. Das Recht auf Privatheit und Selbstbestimmung sollte nicht generell Drittinteressen weichen. Auch trifft es zu, dass der Klient am besten einschätzen kann, wer ein Interesse an der Information hat. Dennoch bleibt es bei einer schweren psychischen Belastung für den Untersuchten, wenn dieser zusätzlich zu der eigenen Problembewältigung auch noch als „Hiobsbote“ fungieren soll.12 Entscheidungen und Gefühle in diesem Zusammenhang sind nicht immer rational bzw. die Erkrankung wird sogar tabuisiert. Angeblich soll durch die gesetzliche Regelung dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die nicht leichte Entscheidung eine genetische Untersuchung durchführen zu lassen, nicht noch zusätzlich dadurch belastet werden soll, dass der Untersuchte familiäre Implikationen aufgrund seiner Untersuchungsergebnisse bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen muss.13 Dieses Ziel verfehlt das Gesetz jedoch, da es faktische Belastungen unberücksichtigt lässt. Auch wenn der Betroffene nicht verpflichtet ist, seine Verwandten zu informieren und auch der Arzt kein Recht hat, dies an seiner Stelle zu tun, so führt die fehlende rechtliche Pflicht nicht dazu, dass er diese Implikationen, vor allem das Recht auf Nichtwissen des Verwandten, nicht beachten muss. Der Betroffene wird sich von moralischen Bedenken und auch möglichen Schuldgefühlen nicht generell frei machen können. Moralisieren statt rechtlich regeln entlastet nicht. Der rechtliche Freibrief führt daher in der Praxis nicht zu einer vollständigen Entlastung des Betroffenen. Er ist vielmehr auf sich alleine gestellt. Die Belastung allein mit der Patientenverantwortung und der Patientenautonomie zu begründen, führt inhaltlich nicht weiter. Eine Verantwortung trifft den Patienten generell, z. B. auch im Fall von Infektionskrankheiten, eine Ansteckung anderer zu vermeiden. Auch wird auf diesem Weg den Rechten Verwandter gerade nicht Rechnung getragen, da es im Belieben des Klienten steht, wie er mit dem Wissen umgeht. Der moralische Weg ist daher nicht pauschal als „leichter“ zu bewerten. 11 Leopoldina et al., Stellungnahme 2010, S. 60, Im Fall von behandelbaren erbliche Krankheiten solle der Arzt im Einzelfall abwägen können welches Rechtsgut überwiegen soll, so jedenfalls, wenn der Verwandte ebenfalls Patient sei. Sie fordern daher im Ergebnis eine Ergänzung der gesetzlichen Regelung, teilweise in Anlehnung an § 34 StGB. 12 Vgl. Henn, ZME 2002, S. 343, 346. 13 Vgl. Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit – Aufklärung, Einwilligung und Datenschutz in der Gendiagnostik, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 27, 50.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
II. Bewertung Im Folgenden soll auf einzelne Kritikpunkte unter Bezugnahme auf die vorangegangenen Kapitel eingegangen und im Einzelnen Empfehlungen zur Anpassung der Schutzkonzepte gegeben werden. Viele Fragen sind im GenDG aufgegriffen und behandelt worden. Dennoch besteht aufgrund der laufenden und weitreichenden Entwicklungen rechtlicher wie auch gesellschaftlicher Handlungsbedarf. 1. Eindimensionale Zufallsfunde a) Kritik Die Unvollkommenheit der Regelung von Zufallsfunden im GenDG wird an der „Nichtregelung“ des eindimensionalen Zufallsfundes deutlich.14 Zufallsfunde sind – wie gezeigt – nicht nur in Bezug zu Dritten von Relevanz, sondern können auch für den jeweiligen Klienten von Bedeutung sein. Der Arzt ist nach der bisherigen Rechtsprechung im klinischen Bereich grundsätzlich dazu verpflichtet, Zufallsfunden nachzugehen und den Betroffenen über diese in Kenntnis zu setzen. Die Frage des Umgangs mit eindimensionalen Zufallsfunden wurde vom GenDG jedoch weder unmittelbar noch in Richtlinien der GEKO aufgenommen. Lediglich die Gesetzesbegründung erwähnt, dass über „Überschussinformationen“ aufzuklären sei. Eine Aufklärung im Vorfeld soll nur erfolgen, wenn mit solchen Informationen gerechnet werden könne. An der Nichtregelung des Zufallsfundes ändert auch die knappe Erwähnung in der Gesetzesbegründung nichts. Diese Nichtregelung erscheint vor dem Hintergrund des diagnostischen Einsatzes genetischer Untersuchungen, der möglichen Totalsequenzierung des menschlichen Genoms und der zunehmenden Standardisierung der Gendiagnostik überprüfungsbedürftig. Sie ist wie erwähnt bereits Gegenstand offizieller Leitlinien und wissenschaftlicher Projekte.15 Die Regelungslücke wird unter Heranziehung dieser Leitlinien und Projekte mehr als deutlich, da in diesen der Grundsatz erkennbar ist, dass mit eindimensionalen Zufallsfunden gerade nicht so verfahren werden soll wie im klinischen Bereich. Vielmehr ist auch hier der Bedeutung des Rechts auf Nichtwissen Rechnung zu tragen. b) Empfehlung Von einer generellen und umfassenden Aufklärung, zumindest in Bezug auf die in der Liste des ACMG genannten genetischen Mutationen, geht die amerikanische Praxis aus.16 Zuzugeben ist der ACMG, dass eine exakte Aufklärung im Vorfeld der Untersuchung und eine davon getragenen Einwilligung in die Mitteilung über alle theoretisch möglichen Zufallsfunde kaum möglich sein wird. Dies würde bei unterstelltem flächendeckenden Ein14
Siehe dazu ausführlich bereits oben Kapitel 2, B. II. Vgl. ACMG Recommendations for Reporting of Incidental Findings in Clinical Exome and Genome Sequencing, April 2013; Das bereits erwähnte Marsilius Kolleg der Universität Heidelberg mit dem Titel „Ethische und rechtliche Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms (EURAT). 16 Siehe oben Kapitel 2, B. II. 4. 15
B. Bewertung und Empfehlungen
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satz des Verfahrens kaum zu realisieren sein, möchte man den Beratungsstandard aufrecht erhalten, noch wird der Klient diese Fülle an Informationen verstehen können. Ein Weg der Weite der Daten und damit Schwierigkeit der Aufklärung zu begegnen, ist wie erwähnt die Begrenzung des Untersuchungsumfangs. Auch im klinischen Bereich ist es nicht üblich, generell einen „Ganz-Körper-Check“ durchzuführen. Ebenfalls bei der Gendiagnostik sollte die Indikation oder der Untersuchungszweck nicht vernachlässigt werden, sondern leitend bleiben. Der ACMG ist insoweit nicht zu folgen. Es ist nicht Aufgabe genetischer Analysen und Labore, als „Treuhänder“ der Gesundheit des Einzelnen aufzutreten und generell auf genetische Mutationen zu testen, wegen denen die Untersuchung nicht eingeleitet wurde und diese mitzuteilen. Auch wäre es nach der deutschen Konzeption widersprüchlich, wenn der Klient zum einen das Wissen verweigern kann, aber in Bezug auf Zufallsfunde einer paternalistischen Bevormundung ausgesetzt wäre. Das amerikanische Modell widerspricht somit der deutschen Rechtslage. Eine Aufklärungspflicht des Arztes in Bezug auf eindimensionale Zufallsfunde ist daher abzulehnen. Das Recht auf Wissen wie auch auf Nichtwissen sind, auch bei Zufallsfunden, folglich zu wahren und daher hier bisher unzureichend geschützt. Um der vielbetonten Selbstbestimmung und dem Recht auf Nichtwissen Rechnung zu tragen, sollte dieser Aspekt, wie bereits im Bereich der genetischen Forschung vorgeschlagen, in die Aufklärung und Beratung vor Durchführung des Tests aufgenommen werden. Dabei beinhaltet eine entsprechende Aufklärung die Information über die Möglichkeit solcher zusätzlichen Erkenntnisse bzw. den Umfang der erhobenen Daten, gerade bei einer Totalsequenzierung. Auch die Fragestellung der Begrenzung des Untersuchungsumfangs sowie der späteren Information über Zufallsfunde sollte der informed consent umfassen. Für den Umgang mit Zufallsfunden in Bezug auf den Betroffenen kann nichts anderes als in Bezug auf den planmäßig erhobenen Datensatz gelten. Für eine Aufklärungspflicht über die Möglichkeit von Zufallsfunden spricht zudem die ständige Rechtsprechung zum Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht beim medizinischen Heileingriff. Danach hat der Arzt „auch über seltene Risiken (. . . ) aufzuklären, wo sie, wenn sie sich verwirklichen, die Lebensführung schwer belasten und trotz ihrer Seltenheit für den Eingriff spezifisch, für den Laien überraschend sind.“17 Hier handelt es sich zwar nicht um Risiken eines medizinischen Eingriffs, jedoch um Risiken für das Recht auf Nichtwissen des Klienten in Folge der Untersuchung, auf die sich maßgeblich die Einwilligung in die genetische Untersuchung bezieht. Für den Arzt ist die Generierung von Zufallsfunden vielleicht momentan noch selten, aber im Fall der Totalsequenzierung wohl kaum noch in Zukunft. Dieses zunehmende Risiko ist für genetische Untersuchungen spezifisch und kann für den Betroffenen potenziell schwer belastend sein. Es handelt sich folglich um einen aufklärungsrelevanten Umstand i. S. d. Rechtsprechung. Vor der Durchführung der Untersuchung ist daher zu dokumentieren, ob im Falle der Feststellung weiterer genetischer Dispositionen diese mitgeteilt werden sollen. Auch wenn eine von einer exakten Aufklärung getragene Einwilligung aufgrund des Umfangs 17 BGH, Urteil vom 14. 3. 2006 – VI ZR 279/04, BGHZ 166, 336, 343, NJW 2006, S. 2108, 2109; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeister/Lipp, Arztrecht, V. Rn. 23 zum Fall von möglichen Komplikationen; Schöch, Die Aufklärungspflicht des Arztes und ihre Grenzen, in: Roxin/Schroth, Hdb des Medizinstrafrechts, S. 59, 67 sogenannte „erweiterte Grundaufklärung“.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
hier in der Praxis nicht möglich sein sollte18 , ist eine pauschale Aufklärung und entsprechende Einwilligung der mutmaßlichen Einwilligung vorzuziehen. Aufgabe der Aufklärung ist es dem Betroffenen u. a. Bedeutung und Tragweite des Eingriffs jedenfalls in den Grundzügen zu verdeutlichen.19 Eine in alle medizinischen Einzelheiten gehende Aufklärung über potenziell erhobene Zufallsfunde erscheint damit nicht erforderlich. Auch hier könnte eine Differenzierung zwischen behandelbaren und nicht behandelbaren Befunden erfolgen.20 2. Mehrdimensionale Zufallsfunde Anders als der Fall des eindimensionalen Zufallsfundes geht das GenDG in § 10 Abs. 3 Satz 4 auf den Fall des mehrdimensionalen Zufallsfundes ein. Im Folgenden ist die Kritik daher auf diese Regelung bezogen, wobei der Aspekt des versteckten Paternalismus im Anschluss diskutiert werden soll. a) Kritik Zwei Punkte sind an dieser Stelle anzusprechen: zum einen der Weg der moralischen Regulation, zum anderen die damit verbundene Nichtlösung des Konflikts. Auch wenn man eine rein rechtliche Regelung des Konflikts ablehnt, bedarf eine moralische Regelung einer gewissen rechtlichen Vorstrukturierung. Dies hat der Gesetzgeber im Grunde bedacht, indem er die „Empfehlung der Empfehlung“ vorschreibt und die Schweigepflicht als ausnahmslos vorrangig ansieht. Er gibt damit zumindest für den Arzt einen rechtlichen Handlungsrahmen vor. Entscheidet sich der Gesetzgeber darüber hinaus jedoch für den Weg der moralischen Regulation, genügt dieser rechtliche Rahmen jedoch nicht. Auch die hinreichende Aufklärung des Betroffenen, vor allem über von ihm zu achtende Rechte Dritter, bedarf einer gewissen Vorstrukturierung. Eine sich allein auf moralische Pflichten stützende Regelung läuft eher Gefahr, dass äußere Einflüsse, wie z. B. gesellschaftliche Zwänge, auf die Entscheidungen des Betroffenen einwirken. Eng verknüpft mit diesen Kritikpunkten ist der, dass § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG den Konflikt an sich nicht löst, sondern nur auf eine andere Ebene verlagert, nämlich die familiäre bzw. private. Gelöst ist mit der gesetzlichen Regelung nur die Frage der Reichweite der Schweigepflicht des Arztes und dessen Empfehlungspflicht als eine Art Ausgleich für die fehlende Möglichkeit auf die Verwandten zugehen zu können. Das familiäre Näheverhältnis ist – wie bereits erwähnt – Ge- und Verboten nicht zugänglich. Trotz dieser Einschränkung für den Gesetzgeber wurden die Rechte Verwandter nicht hinreichend beachtet. Zum einen sind sie vor einer Rechtsverletzung nicht geschützt, sondern diese 18 Kritisch Regenbogen/Henn, MedR 2003, S. 152, 157: „Da diese Aufklärung (. . . ) auch inhaltlich zu komplex und umfangreich für ein angemessenes Verständnis der Probanden sein müsste, ist eine informed consent für genetische Mulitparametertests kaum erreichbar und ihr Einsatz in der ärztlichen Behandlung folglich insgesamt fraglich.“ 19 Vgl. Hirsch, in: LK-StGB, § 228 Rn. 20: die erforderliche Intensität hängt von der konkreten Sachlage ab; Die Aufklärung soll dem Kranken kein medizinisches Entscheidungswissen vermitteln, sondern ihm aufzeigen, was der Eingriff für seine persönliche Situation bedeuten kann Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeister/Lipp, Arztrecht, V. Rn. 19. 20 Vgl. Berberich, Zur Zulässigkeit genetischer Tests in der Lebens- und privaten Krankenversicherung, S. 148.
B. Bewertung und Empfehlungen
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wurde nur privatisiert, zum anderen ist bei einer Entscheidung des Betroffenen für ein Nichtwissen kein Konzept vorgesehen, das die Rechte Verwandter schützt. Zu einer Empfehlung kann es diesem Fall nicht kommen, da der Betroffene keine Kenntnis von der Relevanz der Daten für Verwandte nimmt und dem Arzt ein Zugehen auf Verwandte untersagt ist. Zuzugestehen ist natürlich für den Fall der Information des Verwandten, wie im französischen Modell über die Existenz relevanter Daten die Gefahr, dass der Untersuchte trotzdem mittelbar Kenntnis erhält und damit sein Recht auf Nichtwissen untergraben wird. Allein aus der Weitergabe der Daten kann er Rückschlüsse ziehen. Dennoch könnte diese Option dem Betroffenen vorgeschlagen werden. Die Privatisierung und moralische Ebene ist damit keine Lösung, sondern nur der Schein einer solchen. Vielmehr könnte man sogar so weit gehen, den Staat als eine Art „Zweckveranlasser“ einer möglichen Rechtsverletzung des Verwandten anzusehen, da die rechtlich verpflichtende Empfehlung den Klienten zu der Information bewegen soll und damit zu einer vorhersehbaren Rechtsverletzung bewegt.21 Ordnet man die gesetzliche Regelung des GenDG entsprechend ein, so stellt eine Information des Verwandten trotz Willen zur Unkenntnis ein dem „Staat zurechenbarer Eingriff in das Recht auf Nichtwissen dar“22 . b) Empfehlung Gegen eine rein rechtliche Lösung spricht, dass allein der Versuch eines Ausgleichs isoliert betrachteter Rechtspositionen zwischen den Betroffenen die komplexe Lage und die darin enthaltenen ethischen Dilemmata nicht zu lösen vermag.23 Auch eine entsprechende Anwendung des § 34 StGB, wie im Fall der Infektionskrankheiten, wird der besonderen Problemlage nicht gerecht. Zudem bestünde gerade in Anbetracht der rasanten technischen Entwicklungen die Gefahr, dass eine gesetzliche Regelung der tatsächlichen Situation hinterher hinken würde. Zu suchen ist daher nach Kommunikationsmodellen, die keine festen Abwägungsentscheidungen vorgeben, sondern die Möglichkeit eröffnen, Rechte Dritter zu berücksichtigen, und der zunehmenden Normalisierung der Gendiagnostik gegebenenfalls Rechnung tragen können. Ansatzpunkte sind hier die genetische Beratung und Aufklärung, sowie eine gewisse Erweiterung des informed consent. Adressat der Aufklärung und Beratung ist im Grundsatz die untersuchte Person. Aufgrund der Aussagekraft gendiagnostischer Diagnosen und dem erläuterten Sinn und Zweck der genetischen Aufklärung und Beratung stellt sich jedoch die Frage der Erweiterung des Adressatenkreises. Dies zeigt sich auch an dem Grundproblem auf der Umsetzungsebene des Rechts auf Nichtwissen: Die Not-
21 Zweckveranlasser ist ein Begriff aus dem Polizeirecht und betrifft einen Sonderfall des Handlungsstörers. Zweckveranlasser ist ein Störer, wenn die Störung subjektiv bezweckt oder wenn diese sich als Folge seines Verhaltens zwangsläufig einstellt. Eine Zweckveranlassung kann auch angenommen werden, wenn das Verhalten, das die Störung durch Dritte auslöst, in einem untrennbaren Zusammenhang mit ihr steht und sie somit zwangsläufig verursacht wird. VGH Mannheim, Beschl. v. 29.05.1995 – 1 S 442/95. 22 Wollenschläger, AöR 2013, S. 161, 190. 23 Siehe oben Kapitel 3, A. IV. 3.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
wendigkeit der „Aktivierung“ des Rechts auf Nichtwissen24 und die Schwierigkeit einen Ausgleich zwischen den betroffenen Rechtsgütern zu finden. Grundvoraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Nichtwissen soll die Sicherstellung einer guten Entscheidungsgrundlage durch eine sorgfältige Aufklärung sein.25 Dies gilt sowohl für die Rechte des Klienten, wie auch des Verwandten. aa) Einbeziehung Dritter – Modell Die Einbeziehung Dritter, wie auch die Mitteilung der Ergebnisse der genetischen Untersuchung, verlangen aufgrund der Aussagekraft genetischer Daten ein Überdenken der aktuellen medizin-ethischen Konzepte und Vorgehensweisen. Proportional zur zunehmenden Präsenz genetischer Untersuchungen gewinnen Fragen der familiären Kommunikation an Bedeutung. Patientenautonomie und Selbstbestimmung in der genetischen Beratung sind bisher sehr auf den jeweiligen Klienten konzentriert. Eine solch isolierte Betrachtung kann jedoch bei genetischen Daten nicht durchgehalten werden. „Diese Art der Individualisierung erfährt in der Medizin eine bereichsspezifische Konkretisierung oder sogar Relativierung, wenn systematische Drittbezüge genetischer Informationen zum Gegenstand der Entscheidungsfindung in der genetischen Beratung gemacht werden.“26 Die Lösung des Konflikts liegt damit anders als im Fall der Infektionskrankheiten nicht nur in der Beantwortung der Frage etwaiger Mitteilungsrechte/-pflichten des Arztes, sondern ist komplexer. Auch schließt eine Beteiligung des Verwandten nicht aus, dass es dennoch zu Konflikten kommt, wenn die Ansichten in Bezug auf den Test divergieren, beide Rechte gleichzeitig jedoch faktisch nicht zu schützen sind. Angesetzt werden soll auf der Ebene der genetischen Beratung im Vorfeld der Untersuchung, indem versucht wird, Verwandte in diesen Prozess einzubinden.27 Dieser frühe Zeitpunkt eröffnet die Möglichkeit ein Einvernehmen der Beteiligten zu erreichen. Dies erfordert eine Entbindung von der Schweigepflicht zumindest für die Offenlegung des Beratungsverhältnisses durch den Betroffenen, aber auch eine Berücksichtigung des Willens des Verwandten. Dabei gilt es auch, den Fall der fehlenden Einwilligung des Klienten in die gemeinsame Beratung zu bedenken. Eine andere Frage ist, ob eine Einbeziehung Dritter grundsätzlich in Erwägung gezogen werden sollte oder ob nur ab einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad. Ein relevantes Einbeziehungsinteresse abstrakt festzulegen, wird schwer fallen. Es kommt auf den jeweiligen Einzelfall an, ob eine solche Erkrankung vorliegt, dass ein Tätigwerden sinnvoll erscheint. Bei einer hohen Penetranz und behandelbaren Erkrankungen dürfte dies der Fall sein. Daneben sind die Einschätzung der Fachleute und der jeweilige wissenschaftli-
24 Vgl. Taupitz, Das Recht auf Nichtwissen, in: Festschrift für Wiese, S. 397; Damm, MedR 1999, S. 437, 447: Kenntnis der Möglichkeit der Kenntnisnahme; siehe bereits oben Kapitel 3, A. IV. 1. 25 Vgl. Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 40; Hadolt/Lengauer, Genetische Beratung in der Praxis , S. 48. 26 Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 263. 27 So auch die GfH, die für Zusatzbefunde eine familienzentrierte Aufklärung und Befundmitteilung favorisiert GfH, Stellungnahme 2013, S. 4.
B. Bewertung und Empfehlungen
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che Stand gefragt.28 Des Weiteren ist das Untersuchungsziel zu beachten. Ist dieses auf eine bestimmte Krankheit konkretisiert, ist eine Bewertung der Drittinteressen im Vorfeld möglich. Bei einer Totalsequenzierung hingegen ist im Vorfeld nicht klar, welche Mutationen eventuell diagnostiziert werden, so dass sich ein mehr familienorientierter Ansatz im Grundsatz hier anbietet. (1) Handlungsbedarf Auch die Rechte des Verwandten, ihr Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung, sind schutzwürdig und schutzbedürftig. Es wird daher auch als eine Frage grundrechtlicher Schutzpflichten verstanden, Verwandte vor den Folgen der Gentests Dritter zu schützen.29 Eine staatliche Schutzpflicht ist Ausfluss der in den Grundrechten enthaltenen objektiv-rechtlichen Wertordnung. Sie besagt, dass den Staat nicht nur die Pflicht trifft, selber Grundrechtseingriffe zu unterlassen, sondern darüber hinaus, sich schützend vor diese zu stellen, wenn die Grundrechte von Privaten gefährdet werden.30 Für den in seinen Rechtsgütern Verletzten macht es im Ergebnis keinen Unterscheid, ob die Rechtsverletzung mangels Schutzvorkehrungen von Privaten oder unmittelbar vom Staat ausgeht. Aber wie kommt der Staat seiner Schutzpflicht gegenüber den Verwandten nach bzw. ist ihr nachgekommen, wenn diese bezüglich des Ergebnisses der Gendiagnostik im Ungewissen bleiben möchten? Da die Erfüllung der Schutzpflicht nicht darin liegen kann die Durchführung der Tests zu verbieten, dies würde einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Wissen des Betroffenen darstellen31 , sind die betroffenen Interessen in einen gerechten Ausgleich zu bringen. Allein die Zuteilung von Rechten und Pflichten genügt dem wie dargestellt nicht, sondern es muss eine Kommunikationsstrategie gewählt werden.32 Lindner schlägt daher zur Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht vor, dass Verfahrensvorkehrungen getroffen werden, damit der Dritte von der Untersuchung bzw. von dem Ergebnis nicht gegen oder ohne seinen Willen erfährt. Diese Vorstellung – so Lindner – ist in der Praxis jedoch nur schwer umzusetzen, da sich bestimmte Krankheiten oft nur schwer verheimlichen lassen.33 Die Grundidee der Einführung von Verfahrensvorkehrungen hingegen ist zu begrüßen. § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG, d. h. eine absolute Schweigepflicht und eine Beratungsempfehlung allein schützen das Recht auf Nichtwissen nicht hinreichend. Ansätze einer Einbeziehung Dritter finden sich in der Richtlinie der GEKO, die die Anforderungen und Inhalte der genetischen Beratung festlegt. Nach dieser Richtlinie wird für den Fall, dass die genetische Untersuchung und deren Ergebnis Konsequenzen für zukünftige Nachkommen haben, eine genetische Beratung beider Partner empfohlen. Im Falle eines Zufallsfundes dagegen sollen die Verwandten lediglich durch den Ratsuchenden auf die Möglichkeit 28 Hier könnte auf die von dem ACMG erstellte Liste rekurriert werden, ACMG Recommendations for Reporting of Incidental Findings in Clinical Exome and Genome Sequencing; kritisch zu Positivlisten GfH, Stellungnahme 2013, S. 5. 29 Vgl. Lindner, MedR 2007, S. 286, 292. 30 Vgl. BVerfG, Urt. v. 25.02.1975 – 1 BvF 1/74, Schwangerschaftsabbruch I, BVerfGE 39, 1 ff.; Lindner, MedR 2007, S. 286, 292. 31 Siehe oben Kapitel 3, A. IV. 3. b) cc).; Lindner, MedR 2007, S. 286, 292. 32 Vgl. Rehmann-Sutter, Communication Yes, but How – and What?, in: ders./Müller, Disclosure dilemmas, S. 45, 50. 33 Lindner, MedR 2007, S. 286, 294 und Fußnote 112.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
der Beratung hingewiesen werden.34 Das Wissen über die eigene genetische Disposition kann jedoch erst richtig verstanden werden, wenn es fachkundig erläutert wird. Eine solche Übersetzung der medizinischen Fachsprache ist wichtig, damit der Betroffene die richtigen Schlussfolgerungen ziehen kann. Eine Beratung muss auf den jeweiligen Adressaten abgestimmt sein.35 Der Betroffene ist nicht in der Lage, von seinem Kenntnisstand die gleiche Wissensvermittlung zu leisten. Eine inkompetente evtl. sogar falsche Aufklärung kann jedoch weitreichende Folgen haben. Auch wenn die Beratungsempfehlung an den Verwandten im Vorfeld der eigentlichen Untersuchung erfolgt, so würde sich hier anbieten, wenn der Betroffene insoweit schon auf sein Recht auf Privatheit verzichtet, dass er das Beratungsverhältnis und die geplante Untersuchung offen legt, einen mehr familienorientierten Ansatz der Beratung zu verfolgen. Der Gesetzgeber ordnet jedoch Fürsorgeund Nichtschadensprinzip gegenüber dem Verwandten der Privatheit und Zurückhaltung in der Normierung der familiären Kommunikation ausnahmslos unter. Dies sollte überdacht und daher im Folgenden auf mögliche Ansätze eingegangen werden. (2) Zwischen community consensus und informed consent Als möglichen Ausweg aus dem Dilemma diskutiert Hildt einen sogenannten „community consensus“.36 Ausgangspunkt ist hier die Frage, ob in Anbetracht der Implikationen für Verwandte allein der informed consent des Klienten weiterhin genügt, oder ob nicht vielmehr dieses medizinische Prinzip an seine Grenzen stößt und zusätzlich zum traditionellen informed consent der Verwandte in den Prozess einbezogen oder gar seine Zustimmung gefordert werden soll. Das Modell des „community consensus“ entstand im Rahmen der Forschung an kleinen, eng begrenzten ethnischen Populationen. In diesen Fällen steht trotz der Untersuchung einzelner Individuen eine größere ethnische Gruppe im Mittelpunkt der Forschung. Dies führt nach der Ansicht der Vertreter eines community consensus dazu, dass die Zustimmung der Gemeinschaft eingeholt werden müsste. Es soll damit die Autonomie der ganzen Gruppe geschützt werden, um eine genetische Diskriminierung einer ganzen kulturellen Gruppierung zu verhindern.37 Hieran angelehnt wird diskutiert, diesen Ansatz auf die familiäre Konstellation zu übertragen, mit der Folge, dass vor einer genetischen Analyse alle Familienangehörigen zustimmen müssten. Dass eine solche umfassende Einbeziehung unter Einführung der Einwilligung des Verwandten den Konflikt unter Wahrung der Rechte des Klienten nicht zu lösen vermag, wurde bereits unter dem Aspekt der Gefahr der Fremdbestimmung diskutiert: Welcher Wille, welches Interesse soll überwiegen, wenn eine Person die Möglichkeit eines prädiktiven Tests in Anspruch nehmen möchte, eine möglicherweise betroffener Dritter sich jedoch gegen die Durchführung des Tests ausspricht? Zudem wird vorgebracht, dass der Arzt primär in der bilateralen Beziehung seinem Patienten und nicht der Familie verpflichtet sei. Auch verstoße ein Einwilligungserfordernis gegen den gleichberechtigten Zugang 34
Richtlinie GEKO, S. 5. Vgl. Taupitz, Deutschland, Wie regeln wir den Gebrauch der Gendiagnostik?, in: Honnefelder et al., Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, S. 245. 36 Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 287 ff. 37 Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 288 ff. 35
B. Bewertung und Empfehlungen
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zu medizinischer Versorgung.38 Ein umfassender community consensus ist für die Fälle der Gendiagnostik daher nicht geeignet, den Konflikt zu lösen. Hinzu kommt, dass eine solche Voraussetzung sehr aufwendig und in der Praxis sehr schwer zu realisieren wäre. Familienbeziehungen sind nicht immer bekannt, oder die Kommunikation ist gestört. So weit sollte die Einbeziehung Dritter daher nicht gehen, sondern eine Lösung zwischen community consensus und dem reinen informed consent des Klienten gesucht werden. (3) Einbeziehung Dritter vor der Untersuchung Wie schon einleitend angedeutet, liegt ein möglicher Weg in der Einbeziehung Dritter im Vorfeld der Untersuchung. Im Rahmen eines familienorientierten Ansatzes der Beratung wurde beobachtet, dass eine gemeinsame Herangehensweise die familiäre Verbundenheit auch stärken kann, und die Ratsuchenden erst durch diese Beratung sich der Folgen der Untersuchung für ihre Familie bewusst wurden und über diese nachgedacht haben.39 Es ist unrealistisch, in Anbetracht der Implikationen für die Familie und die komplexen familiären Zusammenhänge, von einer unabhängigen Entscheidung auszugehen und daher die möglicherweise Betroffenen erst nach der Testdurchführung einzubeziehen. Dies gelte – so Hildt – insbesondere in Anbetracht dessen, dass im Regelfall innerhalb von Familienbeziehungen ein gewisses Näheverhältnis besteht und häufig die Familie ohnehin Beweggrund eines Tests ist.40 Da man im Fall der Diagnose einer Erbkrankheit mit dieser zudem selten allein dasteht, kann eine gemeinsame Herangehensweise auch bei der Bewältigung der Diagnose helfen. Bei der Suche nach einem Lösungsansatz ist der Aspekt der faktischen Schutzprobleme innerhalb der Familie zu berücksichtigen. Wenn die Ergebnisse der Gendiagnose bereits vorliegen und dem Betroffenen mitgeteilt wurden, kann eine zufriedenstellende Lösung schwer oder nicht mehr gefunden werden.41 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine innerfamiliäre Kommunikation kaum zu unterbinden ist. Für eine vorherige Beteiligung spricht damit die Unumkehrbarkeit eines „unsolicited disclosure“.42 Auch dem kann – zumindest teilweise – begegnet werden, wenn man den Willen des Verwandten im Vorfeld in Erfahrung bringt. Zeitlich gesehen erscheint es daher sinnvoll, zur Vermeidung einer Rechtsverletzung schon im Vorfeld die familiäre Situation stärker einzubeziehen und vorher Absprachen zu treffen.43 Hildt bezeichnet diesen Ansatz als „gemischten Paternalismus“.44 Gemischter Paternalismus liegt danach vor, wenn die Person, zu deren Wohl die Entscheidung erfolgt und die von der paternalistischen Maßnahme profitiert, 38
Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 288. Vgl. Retzlaff et al., Psychotherapeut 2001, S. 36, 38; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 263: der genetischen Beratung kann im Fall der Drittbetroffenheit die Aufgabe einer Mediation zukommen. 40 Siehe dazu Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 282 ff. 41 Vgl. Hildt, Prädiktive genetische Diagnostik und das Recht auf Nichtwissen, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 225, 236. 42 Vgl. Rehmann-Sutter, Communication Yes, but How – and What? , in: ders./Müller, Disclosure dilemmas , S. 45, 50. 43 So der „Family Convenant“, siehe dazu Doukas, Genetic Testing 2003, S. 315 ff.; oder das „Contract Model“ Sass, Eubios Journal of Asian and International Bioethics 2001, S. 130 ff.; so bereits der Ansatz in der Forschung, siehe oben Kapitel 2, B. III. 2. 44 Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 290. 39
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
nicht identisch ist mit derjenigen, deren Freiheit eingeschränkt wird.45 Unter gewissen Einschränkungen des Rechts auf Privatheit des Betroffenen soll zum Schutz des Verwandten dieser in die Beratung einbezogen werden. Dies erfordert ein Zugehen auf den Verwandten und damit ein gewisses sanft paternalistisches und aktives Verhalten, wobei auch hier idealtypisch dies dem Betroffenen obliegen sollte. Verfolgt man diesen Ansatz weiter, so sind verschiedene Varianten zu unterscheiden. Bei der Frage der Einbeziehung des Verwandten sind zwei Verhaltensvarianten des Klienten zu bedenken: Entweder er erteilt seine Zustimmung in eine gemeinsame Beratung oder zumindest Information des Verwandten über diese oder nicht. Diese Zustimmung des Klienten ist erforderlich, da bereits das Bestehen des Behandlungs- und Beratungsverhältnisses unter die ärztliche Schweigepflicht fällt. Vom Arzt darf gegenüber Dritten die Initiative einer genetischen Beratung daher nicht ausgehen.46 Im Fall des Einverständnisses von beiden Seiten könnte eine gemeinsame Beratung und gegebenenfalls Kommunikation der Ergebnisse erfolgen. Stimmt der Klient nur der Einbeziehung im Vorfeld, jedoch trotz entsprechenden Willens des Verwandten nicht der Mitteilung der Ergebnisses zu, so ist der Verwandte allerdings gewarnt, dass die Daten generiert werden. Damit kann er sich nach der Beratung in eigenverantwortlicher Entscheidung ebenfalls einer Untersuchung unterziehen. Anders liegt der Fall, wenn der Klient der Einbeziehung nicht zustimmt. Hier ist nach einem Weg zu suchen, der zumindest teilweise den Rechten des Verwandten Rechnung trägt. bb) Einbeziehung mit Zustimmung des Klienten Stimmt der Betroffene der Einbeziehung Verwandter und damit einer familienorientierten Beratung zu, sind möglich Rechtskonflikte mit dem Recht auf Privatheit des Klienten ausgeschlossen. Für die weitere Vorgehensweise kommt es dann auf die Reaktion des Verwandten an. Stimmt auch der Verwandte der Einbeziehung in die Beratung zu, so kann eine familienorientierte Beratung erfolgen und Konflikten im Vorfeld der genetischen Untersuchung begegnet werden. Zwei Ergebnisse dieser gemeinsam Beratung sind möglich: Die Betroffenen einigen sich und entscheiden sich für oder gegen die Untersuchung. In diesem Fall ist das Ziel der frühzeitigen Einbeziehung erreicht, da ein Konflikt oder eine (ungewollte) Rechtsverletzung gegenüber einem Betroffenen verhindert wurde. Möglich ist jedoch auch, dass ein Dissens in der Form vorliegt, dass sich der Verwandte schon gegen die Beratung an sich ausspricht, oder nach erfolgter Beratung, gegen eine Untersuchung. Spricht sich der Verwandte für sein Recht auf Nichtwissen und damit gegen die Durchführung einer genetischen Untersuchung aus, so kollidieren das Recht auf Wissen und Nichtwissen als im Grundsatz gleichrangige Rechtspositionen. Lehnt der Verwandte schon eine Einbeziehung in die Beratung ab, ist es schwer, die Gratwanderung
45 Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 174; teilweise ist auch von indirektem Paternalismus die Rede: siehe oben Kapitel 3, C. I. 1. b) aa). 46 Vgl. Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 145 Fn. 586; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 121 f.: dagegen spreche auch der Grundsatz nichaktiver Beratung.
B. Bewertung und Empfehlungen
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zwischen einer aufgedrängten Beratung und dem wohlwollenden Angebot herzustellen.47 Dennoch sind, soweit möglich die kollidierenden Grundrechte in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Dass hier jedoch eine insgesamt zufrieden stellende Lösung im Wege der praktischen Konkordanz nicht erreichbar ist, wurde bereits erläutert.48 Entweder es droht eine Fremdbestimmung des Untersuchungswilligen oder eine zumindest faktische Verletzung des Rechts auf Nichtwissen des Verwandten. Im Grundsatz setzt sich – wie erläutert – das Recht auf Wissen durch, d. h. auch bei einer ablehnenden Haltung des Verwandten steht dem Klienten das Recht zu, die genetische Untersuchung durchzuführen. Die Rechtsposition des Verwandten tritt jedoch nicht so weit zurück, dass sie in keiner Weise zu berücksichtigen wäre. Ansonsten läge hier eine faktische Pflicht zu wissen49 vor. Für den Betroffenen wird bei diesem Modell zumindest deutlich, dass sich für ihn ein Zugehen auf den Verwandten später verbietet. Durch die frühzeitige Erkundung des Willens des Verwandten kann folglich dessen Recht auf Nichtwissen aktiviert und damit effektiver geschützt werden. Die fehlende Zustimmung des Verwandten in die Beratung oder Untersuchung ist damit für den Klienten als Mitteilungsverbot zu werten. Die Bedeutung entsprechender Schutzmechanismen für Verwandte wird des Weiteren auch über den Anwendungsbereich des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG hinaus bei der Diagnose von Krankheitsdispositionen für eine unheilbare Krankheit besonders deutlich. Das Nichtwissen ist hier von besonderer Relevanz, so dass der Betroffene erst recht über die Rechtspositionen der Verwandten informiert und auch in diesen Fällen über eine gemeinsame Beratung nachgedacht werden sollte. Das einleitende Beispiel der Erkrankung Chorea Huntington hat illustriert, dass es auch in diesen Fällen zu Konflikten kommen kann und sich die Erkrankung zudem langfristig nicht verbergen lässt. Bezieht man die Verwandten im Vorfeld in die Beratung und in den Entscheidungsprozess mit ein, sorgt dies auf beiden Seiten für mehr Verständnis und sensibilisiert für die Problematik. Die Gefahr der später ungefragten Information des Verwandten durch den Betroffenen dürfte minimiert sein, insbesondere wenn man die verweigerte Zustimmung als Unterlassungspflicht ansieht, so dass das Schutzziel zumindest teilweise erreicht wurde. cc) Einbeziehung ohne Zustimmung des Klienten? (1) Grundsatz Ohne Zustimmung des Klienten ist eine Einbeziehung Dritter in die Beratung unter Achtung der Schweigepflicht und der Selbstbestimmung des Patienten nicht möglich. Des Weiteren lässt die Gesetzeslage eine Abwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern nicht zu. Eine Zwangseinbeziehung in die Beratung ist abzulehnen. Auch in diesen Situationen sollte jedoch in Erweiterung der momentanen Rechtslage über mögliche Schutzmechanismen für den Verwandten nachgedacht werden. Die fehlende Einwilligung sichert den Verwandten nicht vor einer später dennoch erfolgten Wis47 Vgl. Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 262. 48 Siehe oben Kapitel 3, A. IV. 3. 49 Siehe zur Diskussion Shaw, Am J Med Genet 1987, S. 243, 245.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
sensoffenbarung durch den Klienten. Zudem sollte der Klient für die Problematik sensibilisiert werden, um seine Entscheidung fundiert überdenken zu können. Unter Achtung der Selbstbestimmung kann hier der Lösungsversuch nur darin liegen, eine familienorientierte Beratung anzubieten und die Vorzüge zu diskutieren.50 Verweigert der Betroffene diesen Weg, so ist er ausführlich über die betroffenen Rechtsgüter und deren Achtung aufzuklären. In solchen Situationen ist jedoch davon auszugehen, dass der Untersuchte wahrscheinlich eine Empfehlung an den betroffenen Verwandten ohnehin nicht weitergeben wird, wenn er bereits eine Einbeziehung in die Beratung ohne Vorliegen von Untersuchungsergebnissen ablehnt. Eine faktische Kenntnisnahme wird dagegen nicht ausgeschlossen. (2) Kommunikationseinbeziehung im Wege des § 34 StGB Lehnt der Klient jegliche Einbeziehung des Verwandten ab, so gilt damit im Grundsatz, dass der Arzt diese Entscheidung zu achten hat. In Betracht gezogen werden könnte hier jedoch eine abgewandelte Anwendung des § 34 StGB. Anders als im Fall der Zwangsaufklärung sollte über die Regelung des Notstandes hier kein Offenbarungsrecht des Arztes folgen, d. h. die Rechtfertigung sollte sich nicht auf den Bruch der Schweigepflicht in Bezug auf die Offenlegung des genetischen Untersuchungsergebnisses beziehen. Der Bezugspunkt des Rechtfertigungsgrundes könnte sich jedoch auf die zu anonymisierende Tatsache beziehen, dass eine Beratung und eventuell bereits eine genetische Analyse stattgefunden haben, die den Adressaten potenziell erheblich betrifft. Es soll nur über die geplante Beratung bzw. die Existenz der Daten informiert werden. Abzuwägen wären an dieser Stelle die vitalen Drittinteressen unter Wahrung ihres Rechts auf Nichtwissen gegen das Recht auf Verschwiegenheit des Klienten bezüglich der Durchführung der Beratung und Untersuchung. Aufgrund der Anonymisierung kommen jedoch nur faktische, mittelbare Rechtsverletzungen des Rechts auf Privatheit aufgrund möglicher Rückschlüsse in Betracht. Auch ist der Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung nicht als so erheblich anzusehen, da eine Offenbarung der Ergebnisse nicht erfolgt, sondern der Verwandte nur in Bezug auf die Durchführung eines eigenen Tests beraten werden soll. Das genetische Geheimnis wird damit zwar nicht sicher, jedoch soweit wie möglich gewahrt. Dieses Rechtsschutzmodell bietet sich zumindest in der momentanen Phase an, in der genetische Untersuchungen in zunehmender Zahl durchgeführt werden, aber noch nicht zum medizinischen Standard gehören. Die Abwägung im Rahmen des § 34 StGB wird tendenziell anders ausfallen, wenn genetische Untersuchungen sich standardisieren, Zufallsfunde zum medizinischen Alltag gehören und sich damit die Informationsverantwortung des Arztes wandelt.51 Der Weg über § 34 StGB ist insoweit ein rechtlich flexibles Modell, dass auf Änderungen der tatsächlichen Lage reagieren kann. Eine starre gesetzliche Lösung ist daher weiterhin nicht notwendig. dd) Fazit Im Grundsatz ist eine frühzeitige Einbeziehung potenziell Betroffener zu befürworten. Bei diesem Modell bliebe der untersuchungswilligen Person die Möglichkeit der Durch50 51
Darin liegt der sanfte Paternalismus. Siehe zu dieser Entwicklungsperspektive oben Kapitel 4, B. III.
B. Bewertung und Empfehlungen
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führung, jedoch wird versucht, einen Konflikt erst gar nicht entstehen zu lassen. Es genügt danach nicht mehr allein, den informed consent des Klienten zu achten, um den auftretenden Konflikten gerecht zu werden.52 Die Beratung sollte vielmehr familiäre Interessen mit umfassen mit dem Ziel, eine Art kollektiven informed consent zu erreichen. Im Fall des Einvernehmens würde durch die Einbeziehung Dritter in die Beratung eine Art kollektiver informed consent in Bezug auf die vorherige Beratung und das Kommunikationsverhalten eingeführt. Auf diese Weise würde das Konzept des informed consent von einem Zweier- auf ein Kollektivmodell umgestellt. Auch wenn man ein striktes Einwilligungserfordernis des Verwandten zu Recht ablehnt, so schließt dies nicht die Einbeziehung in die Beratung aus. Die Beratung ist gerade entscheidungs- und nicht einwilligungsbezogen. So werden die Interessen der Verwandten als ethisch und rechtlich beachtenswerte Ansprüche anerkannt und geschützt. Wenn der Test gegen oder ohne den Willen des Verwandten durchgeführt wird, muss Letzterer vor dem Wissen geschützt werden.53 Eine Mindestforderung ist, Verwandte vor dem Aufdrängen der Informationen zu schützen, d. h. ihre fehlende Zustimmung zu einer Unterlassungspflicht für den Klienten zu erklären. Demjenigen, der sich gegen das Wissen entschieden hat, darf nicht unaufgefordert das Ergebnis aufgedrängt werden.54 Eine Pflicht zur Einbeziehung oder gar Kommunikation ist im Fall der Weigerung des Klienten dennoch nicht zu befürworten. Auch wenn der Verwandte in diesen Fällen nicht einbezogen wird und keine Hinweise auf die Existenz für ihn relevanter Gesundheitsdaten erhält, so ist dennoch durch den Hinweis auf die Rechte des Verwandten zumindest das Risiko eines unsolicited disclosure minimiert. Schutzlücken für den Verwandten sind nicht auszuschließen, wenn man die Selbstbestimmung des Klienten achten möchte. Dies kann jedoch unter dem Blickwinkel hingenommen werden, dass unter Annahme einer zunehmenden Normalisierung genetischer Tests Informationspflichten durch andere mehr und mehr in den Hintergrund treten und es die Entscheidung des jeweils Einzelnen sein wird, sich für oder gegen die Durchführung zu entscheiden. Etwas anderes sollte jedoch wie dargelegt nach § 34 StGB gelten, wenn erhebliche Drittinteressen tangiert sind, wie bei der Diagnose einer monogenen, dominant vererbbaren Erkrankung. 3. Versteckter Paternalismus In der gesetzlichen Lösung des § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG sind paternalistische Züge enthalten. Die Regelung ist für den Betroffenen eine Form des moralischen und liberalen Paternalismus. Aber auch gegenüber Verwandten kann die gesetzliche Lösung zu stark paternalistischen Ergebnissen führen.55 52 Vgl. Wuermeling, Ethische und gesellschaftliche Fragen gentechnischer Anwendungen in der Humanmedizin, in: Raem, Gen-Medizin, S. 579, 587: Eine Patentlösung gäbe es nicht, vielmehr müsse der Arzt im Einzelfall entscheiden. In Grenzen sei daher ein paternalistisches Handeln des Arztes geboten. 53 Vgl. Quante, Ethische Probleme mit dem Konzept der informierten Zustimmung im Kontext humangenetischer Beratung und Diagnostik, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 209, 222. 54 Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 289; Nach diesem Modell werde nicht mehr der Einzelnen als Patient angesehen, sondern ebenfalls die möglicherweise Betroffenen. 55 Siehe dazu oben Kapitel 3, C. II.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
a) Gegenüber dem Betroffenen Die doppelte Empfehlungs-Lösung ist gegenüber dem Klienten als versteckter schwacher Paternalismus zu werten. Liberale Paternalisten wollen den Klienten durch die Empfehlung in die „richtige“ Richtung schubsen. aa) Kritik Es stellt sich die Frage, was die „richtige“ Entscheidung sein soll.56 Sunstein und Thaler schlagen hier als Maßstab vor, dass solche Entscheidungen als richtig zu bewerten sind, die der Einzelne treffen würde, wenn er mit unbegrenzten kognitiven Kapazitäten ausgestattet, keinerlei Willensschwäche ausgesetzt und umfassend informiert wäre.57 Ein solcher Maßstab lässt sich hier jedoch kaum bestimmen.58 Von außen lassen sich die Motive und Beweggründe des Einzelnen schwer feststellen. Zudem finden nicht auf den jeweils Einzelnen, dessen Familiensituation und dessen Lebensbedingungen abgestimmte „Nudges“ statt, sondern es werden allgemein gültige Verhaltensweisen empfohlen.59 Einer Empfehlung oder auch gesetzlichen Lösung liegt naturbedingt eine gewisse Typisierung oder Generalisierung zugrunde. Je weiter man jedoch generalisiert, desto weiter entfernt man sich von den Einstellungen des Betroffenen, wendet folglich objektive an Stelle subjektiver Kriterien an.60 Die subjektive Sicht ist in der Gendiagnostik jedoch von besonderer Relevanz. Auch das GenDG gibt undifferenziert die Empfehlung zur Empfehlung und damit die Weitergabe der Beratungsempfehlung als „richtige“ Entscheidung vor. Nach dem Gesetz ist das vermeintlich Richtige die Information der Verwandten, da das Konzept sich auf diesen Kommunikationsweg verlässt, ansonsten kann aus Sicht des Gesetzgebers von einer Berücksichtigung der Rechte der Verwandten nicht die Rede sein. Diese sollen durch die Empfehlungsweitergabe ja gerade gewahrt werden. Indem die Betroffenen die Empfehlung geben sollen, wird von ihnen jedoch „verlangt“, zumindest in dem Punkt auf ihr Recht auf Privatheit zu verzichten, der die Beratung und Durchführung der genetischen Untersuchung an sich betrifft. Diesen Umstand müssen sie offen legen. Darüber hinaus 56
Kritisch Beck, Liberaler Paternalismus, FAZ vom 06.04.2009, S. 12. Sunstein/Thaler, The University of Chicago Law Review 2003, S. 1159, 1162: „The paternalistic aspect consists in the claim that it is legitimate for private and public institutions to attempt to influence people’s behavior even when third-party effects are absent. In other words, we argue for self-conscious efforts, by private and public institutions, to steer people’s choices in directions that will improve the choosers’ own welfare. In our understanding, a policy therefore counts as "paternalistic" if it attempts to influence the choices of affected parties in a way that will make choosers better off.’ Drawing on some well- established findings in behavioral economics and cognitive psychology, we emphasize the possibility that in some cases individuals make inferior decisions in terms of their own welfare-decisions that they would change if they had complete information, unlimited cognitive abilities, and no lack of self-control.“ 58 Vgl. Schnellenbach, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2011, S. 445, 450. 59 „Nudge“ stellen eine Steuerungstheorie aber keine Rechtfertigungstheorie für Autonomieeinschränkungen dar, aus Englerth, Vom Wert des Rauchens und der Rückkehr der Idioten – Paternalismus als Antwort auf beschränkte Rationalität, in: Engel et al., Recht und Verhalten Beiträge zu behavioral law and economics, S. 231, 242. 60 Vgl. Gutwald, Autonomie, Rationalität und Perfektionismus, in: Fateh-Moghdam/Sellmaier/Vossenkuhl, Grenzen des Paternalismus, S. 73, 88. 57
B. Bewertung und Empfehlungen
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werden die meisten Verwandten im Anschluss einer solchen Empfehlung spontan wissen wollen, um was es konkret geht. Der Betroffene setzt sich durch die Empfehlung diesen Fragen aus. Faktisch würden sie dann auch auf diesen Aspekt ihrer Privatheit verzichten, zwar nicht verpflichtend jedoch moralisch motiviert. Auch wenn eine Empfehlung dem Betroffenen gerade die Freiheit und den Spielraum belässt, ob und wie er Wissen weitergibt, so hat diese Empfehlung suggestiven Charakter und lässt gesellschaftliche Zwänge auf die Entscheidung Einfluss nehmen. Es besteht daher die Gefahr, externe Präferenzen als „richtig“ zu bewerten und damit den Einzelnen zu bevormunden.61 bb) Empfehlung Einen möglichen Weg zur Vermeidung paternalistischen moralistischen Verhaltens beschreibt Kirste: „Wer auf der Ebene der Vernunft das Beste für den anderen will, mag ihn aufklären, überzeugen oder warnen. Dies alles sind keine paternalistischen Handlungen, weil sie den Willen des anderen achten und lediglich argumentieren“.62 Bis auf den Aspekt des Überzeugens, es würde dem Grundsatz der Nichtdirektivität widersprechen, kann dieser Weg im Bereich der Medizin angewendet werden. In der multilateralen Beziehung des Gendiagnostikrechts bedeutet dies, dass der Arzt den Klienten über die Drittwirkung der Zufallsfunde aufklärt, ihn warnt, die Rechte des Verwandten zu wahren, und eventuell in Anlehnung an das französische Modell mit ihm eine Vorgehensweise bespricht. Empfehlungen sollte er nicht aussprechen. Auch kann eine „moralisch richtige“ Entscheidung durch Gesetz nicht geregelt werden, sondern sie ist vom jeweiligen Einzelfall abhängig, insbesondere von Art und Penetranz der Erkrankung und der Familienkonstellation. Auch über den Weg einer gewissen „Schwächung“ des Grundsatzes der Nichtdirektivität kann paternalistischen Verhaltensweisen vorgebeugt werden. Der Bereich der Gendiagnostik ist zu komplex, als die Rolle des Arztes alleine darin zu sehen, neutral die Informationen mitzuteilen. Ihm kommt vielmehr auch eine beratende Funktion zu. Eine partnerschaftliche Beziehung, in der der Arzt auch Ratschläge gibt, bedeutet nicht automatisch paternalistisches direktives Verhalten. Diesen Ansatz verfolgt das bereits dargestellte „shared decision making Modell“, indem Arzt und Klient partnerschaftlich versuchen, eine Entscheidung zu treffen und jeder seinen Sachverstand einbringt. Ansonsten besteht die Gefahr, dass der Betroffene überfordert ist. Statt moralistischer Empfehlungen sollte die beratende Funktion mehr in den Vordergrund rücken und offen dem Fürsorgegesichtspunkt des Arztes Rechnung getragen werden. b) Gegenüber Verwandten Das GenDG regelt den Umgang mit Zufallsfunden gegenüber Verwandten nur in der Konstellation der möglichen Disposition für eine vermeidbare oder behandelbare Krankheit. Dabei erschöpft sich die Regelung in der beschriebenen doppelten Empfehlung. Auf die Problematik des unsolicited disclosure, nach § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG durch den Kli-
61 62
Vgl. Beck, FAZ vom 06.04.2009, S. 12 sieht gar die Gefahr einer Moraldiktatur. Kirste, JZ 2011, S. 805, 813.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
enten oder nach § 11 Abs. 3 GenDG durch den Arzt,63 geht das Gesetz nicht explizit ein, d. h. ein Hinweis auf das Recht auf Nichtwissen des Dritten erfolgt nicht. Es beschränkt sich darauf, die Beratungsempfehlung den Betroffenen zu überlassen. aa) Kritik Gegenüber Dritten wird der Arzt nicht direkt tätig. Jedoch besteht nach der gesetzlichen Konzeption die Gefahr, dass infolge der Empfehlung der Betroffene den Verwandten ungefragt mit dem Wissen konfrontiert, da es ihnen tendenziell gegenüber Angehörigen schwer fallen wird, die Mitteilung auf eine reine Empfehlung zu beschränken. Diese Bevormundung zum vermeintlichen Besten des Verwandten ist stark indirekt paternalistisch. Die „Empfehlung zur Empfehlung“ enthält auch eine implizite Empfehlung, das Wissen an die Verwandten weiterzugeben.64 Anders als die Richtlinie des Bundesärztekammer zur Diagnostik von Krebsdispositionen 1998 umfasst das Gesetz eine Empfehlung zur Weitergabe und nicht nur einen neutralen Hinweis. Daran wird, wie dargelegt, das Ziel des Gesetzgebers deutlich, eine Weitergabe des Wissens zu fördern. Dies geschieht jedoch zu Lasten des Rechts auf Nichtwissen des Verwandten (und des Rechts auf Privatheit des Klienten).65 Es ist zudem von einer Mitteilung der Ergebnisse der Genanalyse unter Verzicht auf sein Recht auf Privatheit auszugehen, wenn der Klient dem betroffenen Verwandten eine genetische Beratung empfiehlt. Das Erfordernis eines vorherigen informed consent, wie es bei dem Klienten selber strikt verlangt wird, gibt es nicht. Schwer wiegt zudem, dass das Gesetz trotz der Privatisierung der Aufklärung weder eine Aufklärung des Klienten über die Rechte der Verwandten, noch ein Aufklärung darüber vorsieht, wie dieser das Recht auf Nichtwissen der Verwandten wahren kann. Das Gesetz schützt den Verwandten daher nicht vor einer Rechtsverletzung durch den Klienten, sondern provoziert eine solche Verletzung vielmehr. Für die Rechte des Verwandten und das paternalistische Verhalten ist es im Ergebnis nicht von Relevanz, ob die Rechtsverletzung durch den Arzt oder den Betroffenen selbst erfolgt. bb) Empfehlung Aufgrund der fehlenden Regelung der Problematik des „unsolicited disclosure“ im GenDG stellt sich die Frage, wie in der Praxis mit dem beschriebenen Konflikt umzugehen ist. Im Einzelnen ist diesem Aspekt unter dem Stichwort der Einbeziehung Dritter bereits vertieft nachgegangen worden. Hingewiesen wurde dabei bereits auf zwei von dem Untersuchungswilligen zu achtende Verhaltensweisen: zum einen muss es ihm mangels eigener schützenswerter Rechte untersagt sein, den Verwandten ungefragt direkt zu informieren. Zum anderen darf er auch nicht unbeteiligte Dritte über mögliche Veranlagungen eines Verwandten informieren.
63 Auch § 11 Abs. 3 GenDG, der die Mitteilung der Ergebnisse der genetischen Untersuchung (unabhängig von der Penetranz und der Therapiemöglichkeiten) an Dritte durch den Arzt mit Einwilligung des Betroffenen regelt, geht auf die Rechte des Dritten in keiner Weise ein. 64 Siehe oben Kapitel 3, C. I. 2. 65 Vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 118.
B. Bewertung und Empfehlungen
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Zusammenfassend ist anzumerken, dass sich „ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Schutzbedürftigkeit des Rechts auf Nichtwissen“66 entwickeln muss, um ebenfalls die Rechte der Verwandten zu schützen. Dies ist auch eine Frage der Aufklärung des Betroffenen. Auch muss dem Laien Hilfestellung gegeben werden, wie unter Wahrung der Rechte des anderen die Kommunikation am besten zu erfolgen hat. Ohne eine ausreichende Aufklärung über die Folgen der Datenerhebung und -erzeugung für Dritte durch die Vorgabe gewisser Standards kann der Konflikt nicht sicher gelöst werden.67 4. Weitere Kritikpunkte Als weiterer Kritikpunkt fällt auf, dass der Wortlaut des Gesetzes nicht frei von Ungenauigkeiten und damit Unsicherheiten in der Gesetzesanwendung in Bezug auf Zufallsfunde ist. Eine doppelte Empfehlung soll erfolgen, wenn für Verwandte des Betroffenen anzunehmen ist, dass sie Träger der zu untersuchenden genetischen Eigenschaften für eine vermeidbare oder behandelbare Krankheit sind. In der praktischen Umsetzung wirft diese Formulierung jedoch Identifizierungsprobleme auf, auch als „the Cousin in Australia“-Problem bezeichnet.68 The „Cousin“ wirf die Frage auf, ab welchem Risiko bzw. welchem Verwandtschaftsgrad die Verwandten gefragt bzw. informiert werden sollen. In Worten des Gesetzes, ab welchem Wahrscheinlichkeitsgrad ist anzunehmen, dass sie Träger des Gens sind? Vorgeschlagen werden teilweise 50%, in Fällen in denen es eine effektive Therapie, gibt werden auch niedrigerer Prozentzahlen diskutiert.69 „In Australia“ soll plastisch das Problem illustrieren, wie weit bzw. bis zu welchem Verwandtschaftsgrad eine Empfehlungspflicht für den Arzt besteht oder ob er allgemein über Verwandte ohne konkreten Bezug informiert. Studien zeigen, dass die Weitergabe von Informationen zwischen Verwandten sehr selektiv ist. Gegenüber Verwandten ersten Grades wird die Information eher weitergegeben als zu solchen höheren Grades.70 Das Gesetz überlässt die Weitergabe diesen Zufällen. Für den Arzt stellt sich zudem das Problem, ab wann eine Krankheit als „behandelbar“ gilt. Erfasst dieser Begriff auch Palliativmöglichkeiten? Vertreten wird, dass hierunter auch eine rein symptomatische und nicht nur eine kausale Behandelbarkeit fällt.71 Auch dürfte dieser Aspekt der Behandelbarkeit einer rasanten Entwicklung unterliegen, da sich die medizinischen Möglichkeiten laufend erweitern. Des Weiteren wird an der gesetzlichen Wortwahl nicht deutlich, ob der Schweregrad der potenziellen Erkrankung eine Rolle spielen soll. Auch hier gibt es erhebliche Unterschiede. Die gesetzliche Regelung unterliegt daher Anwendungsschwierigkeiten. 66 Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit, in: Duttge/Engel/Zoll, Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, S. 27, 41. 67 Vgl. Trute, Wissenspolitik und rechtliche Regulierung, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, S. 290, 318. 68 Vgl. Steel, Responsibility Towards Relatives, in: Rehmann-Sutter/Müller, Disclosure dilemmas, S. 153, 161 ff. 69 Vgl. Steel, Responsibility Towards Relatives, in: Rehmann-Sutter/Müller, Disclosure dilemmas, S. 153, 163. 70 Vgl. Steel, Responsibility Towards Relatives, in: Rehmann-Sutter/Müller, Disclosure dilemmas, S. 153, 158. 71 Vgl. Heyers, MedR 2009, S. 507, 509; Kern, GenDG, § 1 Rn. 14.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
Darüber hinaus werden die Rechte und Interessen Dritter auch an weiteren Stellen nur unzureichend geschützt. Ein Beispiel bietet hier § 18 GenDG. Diese Vorschrift lässt Ausnahmen zur Informationspflicht gegenüber Versicherungen zu.72 Wenn der Getestete jedoch sein Wissen offenbaren muss, so hat die Versicherung auch zugleich die Möglichkeit, Rückschüsse auf Verwandte zu ziehen, die evtl. selber keine Kenntnis haben, wenn die Weitergabe an sie durch den Klienten nicht erfolgt ist. In diesen Fällen wird ein Drittgeheimnis offenbart, ohne dass alle Geheimnisträger einwilligen oder überhaupt Kenntnis haben. Ein solcher Zustand ist augenscheinlich widersprüchlich und aus der Perspektive des Verwandten nicht zu dulden. Der Schutz der Verwandten ist damit an dieser Stelle gerade vor dem Hintergrund der Regelung des Zufallsfundes unvollständig. 5. Neue Rahmenbedingungen des informed consent Das Recht auf Kenntnis und Unkenntnis der eigenen genetischen Veranlagungen ist mit zahlreichen Umsetzungsproblemen konfrontiert. Ein Problem liegt darin begründet, dass dem Konzept des informed consent in der klassischen Medizin die Vorstellung der rechtfertigenden Einwilligung in den körperlichen Eingriff zugrunde liegt. Danach darf die Einwilligung erst nach umfassender Information und Aufklärung über Gesundheitszustand, Erfolgsaussichten, Risiken des und Alternativen zum Eingriff erfolgen. Die umfassende Information ist damit Voraussetzung des informed consent im medizinischtherapeutischen Sinn, da nur auf diesem Wege eine fundierte autonome Entscheidung getroffen werden kann.73 Diese umfassende Information erfolgt im Rahmen der Gendiagnostik ebenfalls im Vorfeld der Durchführung einer Genanalyse. Auf dieser Grundlage soll der Klient über die Inanspruchnahme entscheiden können. Die gendiagnostische Aufklärung ist an dieser Stelle jedoch weniger auf die Einwilligung in den körperlichen Eingriff ausgerichtet, als auf die Sicherung des „Rechts auf Wissen“ und des „Rechts auf Nichtwissen“. Die Bezugspunkte des Wissens sind damit im Vergleich zur „normalen“ Einwilligung erheblich umfangreicher, vielfältiger und komplexer. a) Reichweite der Beweggründe des Klienten Wie an den „intrapersonellen“ Konflikten deutlich werden sollte, weist das Wissen gerade im Bereich der prädiktiven Medizin weitergehendere Dimensionen auf. Der Klient kann verschiedene Motive haben, die prädiktive Diagnose durchzuführen: In Sorge um seine eigene Gesundheit entscheidet er sich dafür, um geeignete Präventions- oder Therapiemaßnahmen ergreifen zu können; Dritte haben ein Interesse, die Anlagenträgerschaft auszuschließen oder bei der Familienplanung sollen vorab Risiken abgeklärt werden.74 So verschieden die Beweggründe sind, so verschieden sind die Bezugspunkte der Autonomie. Die Autonomie bezieht sich nicht mehr allein auf die medizinische Maßnahme, sondern auch auf die langfristige Lebens- und Familienplanung.75 In dem Bereich der Gendiagnostik hat der informed consent folglich eine über medizinische Fragen hinausgehende 72
Vgl. Heyers, MedR 2009, S. 507, 511. Vgl. Hildt, Prädiktive genetische Diagnostik und das Recht auf Nichtwissen, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 225, 228. 74 Vgl. Hildt, JCSW 2004, S. 37, 48. 75 Vgl. Hildt, JCSW 2004, S. 37, 49. 73
B. Bewertung und Empfehlungen
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Bedeutung.76 Der Klient berücksichtigt bei seiner Entscheidung, ob er eine genetische Diagnose durchführen lassen will und ob er im Anschluss über die Ergebnisse aufgeklärt werden möchte, seine Lebensplanung und Interessen Dritter. Entscheidet er sich aus diesen Motiven für einen Test, so fundiert er seine Entscheidung und erweitert damit seine Autonomie. b) „Negative“ Wirkungen des Wissens Mit zu berücksichtigen ist jedoch auch, dass durch eine Information über sich später eventuell manifestierende Krankheiten psychische Erkrankungen, Ängste und Sorgen ausgelöst werden können; das Wissen eröffnet dann kein „Mehr“ an Autonomie, sondern schränkt im Gegenteil Lebensfreude und Zukunftsentscheidungen ein. Wer ständig in der Angst lebt, später zu erkranken, wird sein Leben nicht unbelastet und ungezwungen planen. Gerade bei nicht therapierbaren Krankheiten können die Gefühle der Hilflosigkeit dominieren. Aufgrund dessen kann man sich im Leben Beschränkungen auferlegen, und dies rückblickend, wenn die Erkrankung nicht, eintritt auch ohne Grund. „So scheint es nicht das eigene bewusst planende ’Ich’ zu sein, das wichtige Eckdaten des Lebensverlaufs kontrolliert, sondern die eigenen Gene“.77 Des Weiteren stellt Wissen im Bereich der Gendiagnostik nicht zwingend nur eine Bereicherung an Autonomie dar. Allein durch die Existenz genetischer Analysen wird dem Einzelnen eine Entscheidungslast auferlegt. Autonomie geht damit Hand in Hand mit einer dem Betroffenen abverlangten Verantwortung.78 Wissen kann für den Betroffenen, insbesondere unter dem Aspekt der Weitergabe genetischer Daten, damit auch eine Last sein, wie die „interpersonellen“ Konflikte illustrieren sollten. Diese Last soll an folgender Studie illustriert werden: Eine Interview Studie mit dem Titel „Balancing autonomy and responsibility: the ethics of generating and disclosing genetic information“ hat sich mit dieser Problematik beschäftigt. In diesem Rahmen wurden 30 Frauen, die sich einem genetischen Test auf BRCA 1/2 unterzogen hatten, zu der Problematik der Weitergabe der genetischen Erkenntnisse an ihre Verwanden befragt. Sie beschreiben das Problem der Eröffnung genetischer Diagnosen gegenüber Verwandten als unvorhergesehenes moralisches Dilemma. Sie sehen eine moralische Pflicht, ihre Verwandten zu informieren, empfinden es jedoch als schwer oder ethisch belastend. Viele geben an, über diese Problematik vorab nicht nachgedacht zu haben79 und in eine Position gedrängt zu werden, in der sie Leid für andere verursachen.80 Nach dieser Studie ist damit an sich nur der Klient informiert, der sich über diese Auswirkungen im Klaren ist. Sie müssen sich der Verantwortung bewusst werden, wissen wen die Information potenziell betrifft. Denn autonome Entscheidungen zu treffen bedeutet auch die Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen. Die Patientenautonomie mit dem Konzept des informed consent, wie auch die Schweigepflicht, haben eine zentrale Bedeutung für die Zweier-Beziehung Arzt-Patient. Aller76 77 78 79 80
Vgl. Regenbogen/Henn, MedR 2003, S. 152, 155. Hildt, JCSW 2004, S. 37, 50. Siehe dazu unten Kapitel 4, B. I. Vgl. Hallowell et al., J Med Ethics 2003, S. 74, 76. Vgl. Hallowell et al., J Med Ethics 2003, S. 74, 77.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
dings geht das Konzept von dieser bilateralen Beziehung aus, mit der Folge, dass es bei genetischen Daten an seine Grenze stößt.81 Der informed consent löst sich aufgrund der Ambivalenz und seiner Reichweite aus dieser bilateralen Beziehung heraus. Diese Beobachtung kann an verschiedenen Stellen der Arzt-Patienten-Beziehung gemacht werden.82 c) Anpassung des Prinzips Das Prinzip des informed consent muss an die neuen inhaltlichen und personellen Dimensionen medizinischen Wissens für den Betroffenen angepasst werden. Die Folgen des „Mehr“ an Wissens sind nicht konkret absehbar und differieren sehr stark zwischen den jeweiligen Klienten und der jeweiligen Diagnose.83 Die zwingende Folgerung, Wissen ist gleich Zuwachs an Autonomie und Selbstbestimmung, trifft für den Bereich der Gendiagnostik damit nicht zu.84 Dies gilt vor allem dann, wenn für die entsprechende Diagnose keinerlei Präventions- oder Therapiemöglichkeiten existieren. Medizinische Kriterien stehen dann nicht im Mittelpunkt. Auch sind die mit dem Wissen verbundenen Lasten zu bedenken, insbesondere für Dritte. Als weiteres Problem stößt das Prinzip in der Praxis an seine Grenzen. Ziel des Prinzips ist, dass der Patient umfassend informiert wird. Es ist jedoch nicht zu leisten, den Patienten über alle möglichen Erbkrankheiten zu informieren. Gerade das Problem eindimensionaler Zufallsfunde im Bereich der Totalsequenzierung illustriert die Grenzen des informed-consent-Prinzips. Es ist nahezu unmöglich, das Konzept des informed consent aufgrund der Weite und Fülle der Daten umzusetzen.85 In Anbetracht des diagnostischen Umfangs und der möglichen Totalsequenzierung überblickt gegebenenfalls auch der Arzt in Zukunft nicht alle Implikationen. Viele Erkenntnisse werden auch evtl. erst in Zukunft getroffen werden können, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse die Analyse neuer Genveränderungen ermöglichen. „Die Totalsequenzierung (stellt) keinen punktuellen sondern einen andauernden Eingriff in die Rechte des Betroffenen dar. Die Möglichkeit der sukzessiven Informationsgewinnung macht es schwer, Umfang und Reichweite des Eingriffs abschließend einschätzen zu können.“ Das klassische Modell des informed consent mit dem Ziel, dass der Betroffene eine allgemeine Vorstellung von dem Ausmaß der Gefahren des Eingriffs hat, kann im Fall von Zufallsfunden daher nicht mehr geleistet werden.86
81 Vgl. Quante, Ethische Probleme mit dem Konzept der informierten Zustimmung, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 216. 82 Siehe z. B. oben Kapitel 1, C. 83 Hildt, Prädiktive genetische Diagnostik und das Recht auf Nichtwissen, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 225, 229. 84 Vgl. Liening, Autonomie und neue gendiagnostische Möglichkeiten, in: Düwell/Mieth, Ethik in der Humangenetik, S. 173, 196. 85 Siehe oben Kapitel 2, B. II. 4.; Phg-foundation, Next steps in the sequence, The implications of the whole genome sequencing for the health in the UK, S. 85; Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 38: über die Vielzahl der genetischen Veränderungen und ihre mögliche Relevanz für eine Erkrankung kann nicht mehr in einem sinnvollen Zeitrahmen aufgeklärt werden. 86 Vgl. Marsilius Kolleg, Projektgruppe EURAT, Stellungnahme 2013, S. 38. Dieser Dynamik des Eingriffs trage das GenDG nicht ausreichend Rechnung; Molnár-Gábor/Weiland, ZME 2013, im Erscheinen (abrufbar unter http://ssrn.com/abstract=2269649).
B. Bewertung und Empfehlungen
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d) Exkurs: Gezielte Nutzung von Zufallsfunden Wie wichtig die Frage des (wissenschaftlichen und rechtlichen) Umgangs mit Zufallsfunden sein kann, illustrieren jüngste Bestrebungen der Firma Decode Genetics in Island. Diese möchte sich mit Hilfe der Bioinformatik mehrdimensionaler Zufallsfunde bedienen, um das Erbgut der isländischen Bevölkerung insgesamt zu analysieren. Schon vor Jahren hat die Firma mit Zustimmung von 120.000 Studienteilnehmern sogenannte SNPs analysiert und eine Gendatenbank aufgebaut. Um einen neuen Analyseansatz zu verfolgen, hat die Firma nunmehr eine Totalsequenzierung von weiteren 2500 Studienteilnehmern durchgeführt. Die hier analysierten genetischen Mutationen gleicht die Firma mit den SNPs ab. Auf diesem Wege kann sie mit 99%iger Sicherheit feststellen, ob auch diese die Mutation aufweisen, ohne jedoch die ehemaligen Studienteilnehmer um ihre Einwilligung zu bitten. Darüber hinaus erhofft sich die Firma Rückschlüsse auf die genetische Disposition von Verwandten der ehemaligen 120.000 Probanden, und damit auf 200.000 lebende und 80.000 verstorbene Isländer. Diesem Vorgehen hat nun die isländische Datenschutzbehörde einen Riegel vorgeschoben, und als Voraussetzung solcher Studien, d. h. der Nutzung von Zufallsfunden, statuiert, dass der informed consent der betroffenen Verwandten einzuholen sei.87 6. Wandel der Arzt-Klienten-Beziehung Für den potenziellen Interessenkonflikt zwischen Klient, Verwandten und dem behandelnden Arzt gibt es trotz der gesetzlichen Regelung keine sicheren Richtwerte oder Kriterien auf moralischer oder auch rechtlicher Ebene zur Auflösung der Rechtskollision. Es wird sich jedoch nicht vermeiden lassen, dass der Umstand der Drittbetroffenheit die bilaterale Arzt-Klienten-Beziehung und damit auch das Selbstbestimmungsrecht des Klienten beeinflussen wird. Das Mehrpersonenverhältnis läuft der Individualität und der Selbstbestimmung, das der bilateralen Beziehung wie auch der Schweigepflicht zugrunde liegt, im Grundsatz zuwider. Im Folgenden soll daher auf die Rolle des Einzelnen in der Beziehung eingegangen werden. Wie schon der Begriff des Klienten, aber natürlich auch des „präsymptomatischen“ Patienten, illustrieren sollte, wandeln sich die Rollen und damit die Verantwortung in der Arzt-Patienten-Beziehung. a) Kritik: Grenzen tragender Prinzipien Bisher sind tragende Prinzipien der Arzt-Patienten-Beziehung die Achtung der Autonomie und Selbstbestimmung des Patienten durch Betonung des informed consent Grundsatzes. Dritte spielen in diesem Modell keine Rolle. Dabei ist es die Aufgabe des Arztes, unter Abkehr vom paternalistischen Verhalten in nicht-direktiver Form den Patienten soweit aufzuklären, dass er in der Lage ist, eine Einwilligung abzugeben. In Anbetracht der Komplexität und des Umfangs des zu erlangenden Wissens, der Vielzahl der bekannten und möglicherweise noch bekannt werdenden Erbkrankheiten wird dieses Modell jedoch 87
S. 16.
Vgl. Kaiser, Science 340, 2013, S. 1388; im deutschen Kaiser, SZ vom 25.06.2013 (2013),
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
praktisch an seine Grenzen stoßen.88 Auch der Bezugspunkt des Einwilligungsprinzips hat sich geändert und erweitert, da es sich in der therapeutisch ausgerichteten Medizin nur auf die Therapieentscheidung des einzelnen Patienten bezieht. Der Kreis der Betroffenen erweitert sich jedoch bei Ergebnissen genetischer Untersuchungen.89 Aus diesen Gründen kann eine autonome Entscheidung, der informed consent, durch mehrere Aspekt gefährdet sein: Mehr Wissen bedeutet nicht zwingend mehr Autonomie, sondern potenziell auch Last und Zwang. Auch ist eine Entscheidung nicht frei von äußeren Einflüssen. Der Klient wird familiäre Implikation in seine Überlegungen einbeziehen und auch gesellschaftliche Zwänge sind – wie gezeigt – nicht zu unterschätzen. Hier besteht leicht die Gefahr, dass der Einzelne überfordert wird und sich gegen äußere Zwänge nicht effektiv wehren kann. Aus diesen Gründen spielt die genetische Beratung eine hervorgehobene Rolle. b) Bewertung aa) Arzt als Berater (1) Hilfe zur Selbsthilfe Aufgrund der Bedeutung der genetischen Erkenntnisse für die Lebensgestaltung und planung sowie deren personelle Reichweite kommt dem Arzt aus den genannten Gründen zunehmend die Rolle eines Beraters für den Klienten zu. Nicht verwechselt werden darf diese Form der Kommunikation mit dem überkommenen und überholten Paternalismus. Der informed consent wird auch weiter eine zentrale Rolle spielen. In Bezug auf den Klienten ist aufgrund der Komplexität und Reichweite der medizinischen Untersuchung jedoch meist mehr Partnerschaftlichkeit und Rat erwünscht. Der Arzt soll Hilfestellung liefern, um eine echte Wahlmöglichkeit zu bieten.90 Die bekannten medizin-ethischen Grundsätze sind unter diesem Aspekt zu überdenken. Insbesondere besteht eine erneute Auseinandersetzung „um Fiktion und Wirklichkeit“91 mit dem Grundsatz der Nichtdirektivität und Nichtaktivität in der genetischen Beratung.92 Dabei sollen die Prinzipien nicht aufgegeben, sondern den neuen Gegebenheiten angepasst werden. Die Prinzipien der Nichtdirektivität und Nichtaktivität sind auf eine bilaterale Beziehung zugeschnitten und lassen die emotionale Situation des Klienten unberücksichtigt. „Das Konzept der nichtdirektiven Beratung lässt außer Acht, dass über diese unsichtbaren Dritte ständig Einflüsse deutlich direktiven Gehalts in die Beratungssitua-
88 Siehe dazu bereits unter dem Aspekt der Vorabaufklärung des Klienten über die Möglichkeit von Zufallsfunden und den Weg über mehr pauschale Aufklärung oben Kapitel 5, B. III. 1. 89 Vgl. Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 455. 90 Dieser Gedanke findet sich im Modell des shared decision making wieder, da die Parteien hier eine gemeinsame Entscheidung treffen. In Bezug auf Dritte sind deren Interessen miteinzubeziehen und dementsprechend gegebenenfalls ein mehr kollektiver Beratungsansatz zu wählen: dazu ausführlicher im Anschluss unter (2). 91 Feuerstein/Kuhlmann, Neopaternalistische Medizin, S. 11; dazu auch Damm, MedR 2002, S. 375, 382. 92 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 366; vgl. Damm, MedR 1999, S. 437, 444.
B. Bewertung und Empfehlungen
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tion hineinwirken wie Erwartungen, Wertungen und Handlungsaufforderungen (. . . ).“93 Der „unsichtbare Dritte“ kann sich nicht nur in Form gesellschaftlicher Einflüsse sondern ebenso in Form familiärer Einflüsse manifestieren. Der Grundsatz nichtdirektiver Beratung würde es jedoch verbieten, Entscheidungshilfen zu geben. Äußeren Zwängen wäre daher eine zunehmende Einflussnahme möglich. Sobald daher Drittinteressen betroffen sind und für den Arzt erkennbar diese unberücksichtigt bleiben, bzw. im Gegenteil familiäre oder gesellschaftliche Interessen eine zu dominante Stellung einnehmen, so sollte seiner Rolle als Berater entsprechend dem Arzt die Möglichkeit gegeben werden, den Klienten darauf hinzuweisen. Er sollte er die Option haben ihn gegebenenfalls dazu bewegen, seine Entscheidung zu überdenken.94 Eine Anpassung der auf rein zweiseitige Interessen ausgerichtete ethische Prinzipien und eine Einbeziehung Dritter kann dem „Autonomieund Verantwortungsverlust der Ärzte“ und den äußeren Einflüssen entgegenwirken.95 Die Rolle des Arztes sollte nicht zu einem bloßen Informationsvermittler verkommen, sondern zum Berater wandeln. Zudem trägt eine Anpassung der Erwartungshaltung der Klienten Rechnung, die eine aktive Unterstützung des Arztes bei der Entscheidung wünschen.96 (2) Beratung Dritter contra Zwangsaufklärung: sanfter Paternalismus Eine Zwangsaufklärung und damit eine Informationspflicht des Arztes gegenüber Dritten kommt wie dargestellt nicht in Betracht. Dies verbietet die Gefahr der Rechtsverletzung gegenüber dem Dritten, aber auch gegenüber dem Klienten. Angeführt wurde zudem bereits, dass der Einzelne in Zukunft zunehmend für seine Lebensentscheidungen und die Durchführung von Untersuchungen selber verantwortlich sein wird, zumindest je mehr sich das genetische Wissen als „normal“ herausstellt. Dem Arzt darf nicht die Rolle eines Gesundheitspolizisten zukommen, dies würde seine Vertrauensstellung in Gefahr bringen. Im Ergebnis ist daher der Beraterrolle entsprechend der Weg eines, wenn überhaupt, „sanften Paternalismus“97 zu wählen. Dies soll bedeuten, dass der Arzt den Klienten um93 Beck-Gernsheim, Nichtdirektive Beratung im Spannungsfeld zwischen Klientenwünschen und gesellschaftlichem Erwartungsdruck, in: Ratz, Zwischen Neutralität und Weisung, S. 57, 58 f., sie nennt „die Gesellschaft“ als unsichtbareren Dritten; Klammerzusatz durch den Bearbeiter. 94 Vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 366, hier jedoch kein überzeugen den Verwandten in die Beratung einzubeziehen, sondern zu informieren. Die Wissensvermittlung sollt jedoch behutsam erfolgen, um das Recht auf Nichtwissen zu wahren. Der einfachere Weg wäre jedoch m. E. die Beachtung der Rechte Dritter im Vorfeld. 95 So auch Regenbogen/Henn, MedR 2003, S. 152, 158: „Als ethische Desiderate formulierte, aber rechtlich wenig explizite Beratungsprinzipien, wie die Achtung des Rechts auf Nichtwissen und die Nichtdirektivität genetischer Beratung, müssen anhand des Leitmotivs einer partnerschaftlichen Kooperation zwischen Arzt und Patient handlungsorientiert präzisiert werden, insbesondere im Hinblick auf potenzielle Interessenkonflikte zwischen Ratsuchenden, Mitbetroffenen und Drittinteressierten.“ 96 Vgl. Beck-Gernsheim, Nichtdirektive Beratung im Spannungsfeld zwischen Klientenwünschen und gesellschaftlichem Erwartungsdruck, in: Ratz, Zwischen Neutralität und Weisung, S. 57, 59, „Hilfe zur Selbsthilfe“. 97 Vgl. Damm, Individualisierte Medizin und Patientenrecht, in: Honnefelder, Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, S. 203, 221; oder auch milder Paternalismus, Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 175: Einflussnahme durch z. B. durch Informationen oder Aufklärung über Risiken einer Handlung; auch Schroth plädiert für einen weichen Paternalismus zur Absicherung authentischer, freiwilliger Entscheidungen im Wege einer umfassenden Aufklärungspflicht im Bereich der Lebendspende, Schroth, Die gesetzliche Begrenzung der Lebendspende – wie
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
fassend auch über die Rechte und Betroffenheit Dritter aufklärt. Einen gewissen indirekt paternalistischen Zug erhält das Modell, da der Arzt eine Einbeziehung der Verwandten im Vorfeld anregen soll, bzw. eine Kommunikationsstrategie in Anlehnung an das französische Modell mit ihm bespricht. Eine offene Kommunikation mit Entscheidungshilfen und offen praktizierter Fürsorge gegenüber Dritten ist jedoch besser als ein moralischer Paternalismus, der im Ergebnis das gleiche Ziel verfolgt. Zumindest in der Beratung sollte Beachtung finden, dass der Klient auch auf eine mögliche Relevanz der Daten für Dritte hingewiesen wird, auch wenn er sich für ein Nichtwissen entscheidet. In Anlehnung an das französische Modell und abweichend vom Grundsatz der Nichtaktivität könnte der Arzt anbieten auf den Verwandten zuzugehen und diesen abstrakt über die Möglichkeiten der Diagnostik bzw. die Existenz relevanter Daten zu informieren. Diese Kommunikationsmöglichkeiten gegenüber Dritten sollten klarer im Gesetz geregelt werden, um auch für den Arzt mögliche Rechtsunsicherheiten und Haftungsrisiken zu vermeiden.98 bb) Grenzen der Verantwortung des Klienten Mit der Entwicklung der prädiktiven Medizin einher ging der Wandel vom Patienten hin zum Klienten.99 Klienten sind symptomatisch nicht krank, laufen jedoch Gefahr als „gesunde Kranke“ oder „genetische Risikoperson“ begriffen zu werden und ihnen eine entsprechende Gesundheitsverantwortung aufzuerlegen. Das GenGD geht von der Autonomie des Klienten in einer bilateralen Arzt-Patienten-Beziehung aus. Dieses Bild des frei und autonom handelnden Klienten lässt sich jedoch nicht durchhalten. Die Wahrnehmung und Durchsetzung des Rechts auf Wissen und Nichtwissen können nicht völlig losgelöst von den gesellschaftlichen Entwicklungen und Drittinteressen betrachtet werden. Von besonderer Bedeutung ist hier der Aspekt der genetischen Verantwortung: In Bezug auf Verwandte gilt, dass eine Informationspflicht, moralisch oder rechtlich, abzulehnen ist. Eine solche Sichtweise trägt nur auf den ersten Blick den Rechten des Verwandten Rechnung. Bei genauerer Betrachtung vernachlässigt sie den Schutz des Rechts auf Nichtwissen des Verwandten. Vor allem aber ein Recht auf Wissen gegenüber dem Betroffenen besteht vor dem Hintergrund des Rechts auf Privatheit nicht. Gerade in Anbetracht der zu erwartenden Normalisierung genetischer Untersuchungen fällt es zunehmend in den Verantwortungsbereich des Einzelnen, ob er genetisches Wissen erlangt. Um Konflikte zu vermeiden, spricht jedoch viel dafür, dem Klienten eine Einbeziehung der potenziell Betroffenen im Vorfeld der genetischen Untersuchung nahe zu legen. So werden moviel Paternalismus ist legitim?, in: Festschrift Schreiber, S. 843, 844, 851; ders., Die rechtswirksame Einwilligung in die Lebendspende, in: Festschrift Hassemer, S. 787, 790. 98 Im Zusammenhang mit der Etablierung sog. genetischer Register gibt es in anderen Ländern bereits Ansätze einer aktiven Beratung. Sie dienen dazu, Informationen der genetischen Beratung zu speichern und im Falle ihrer Relevanz ein Meldung an die Betroffenen zu machen. In Wales wurde zu diesem Zweck ein Register für Huntington Erkrankte und Risikopersonen etabliert, über das neben der Betreuung auch auf die Notwendigkeit einer genetischen Beratung potenziell Betroffener aufmerksam gemacht werden soll. Mit Hilfe dieser Register soll das Wissen über das Risiko vor Verlusten bewahrt werden, aber auch Risikopersonen ermittelt werden; Harper et al., Journal of Medical Genetics 1982, S. 241; dazu Daele, Das zähe Leben des präventiven Zwanges, in: Schuller/Heim, Der codierte Leib, S. 205 217 f. 99 Siehe oben Kapitel 1, C. II. 1.
C. Fazit
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ralische Gewissenskonflikte und faktische Rechtsverletzungen vermieden und dem Umstand Rechnung getragen, dass genetische Daten gewisse Besonderheiten aufweisen. Gegen eine darüber hinausgehende genetische Verantwortung, auch gegenüber der Solidargemeinschaft und daraus resultierender faktischer Zwänge, spricht neben den Rechten des Betroffenen auch die begrenzte Aussagekraft der genetischen Daten. Handelt es sich nicht gerade um eine monogene Erkrankung, so sind nur Aussagen über eine meist geringe Wahrscheinlichkeit möglich. Die meisten Erkrankungen haben multifaktorielle Ursachen, so dass auch ein Kausalitätsnachweis zwischen Veranlagung und später auftretenden Krankheiten schwer zu führen sein wird. Klienten daher als „gesunde Kranke“ mit einer entsprechenden Verantwortungszuweisung zu behandeln, würde Faktoren wie Umwelteinflüsse unberücksichtigt lassen und folglich zu einer unberechtigten Verlagerung der Verantwortung und einer Entsolidarisierung führen.100 Solchen Entsolidarisierungsund Objektivierungstendenzen muss entgegengewirkt werden. Körperliche Veranlagungen, und erst Recht Einflüsse von außen, sind und bleiben schicksalhaft. Eine umfassende Aufklärung der Gesellschaft sollte Irrglauben vorbeugen. Der Einzelne muss sich nicht der Solidargemeinschaft opfern. Eine genetische Verantwortung hat ihre Grenzen. Indem man daher den Arzt wieder zunehmend eine Rolle in der Beziehung zuweist, nimmt man zumindest psychologisch dem Klient einen Teil der Verantwortung ab und trägt ihren zu ziehenden Grenzen Rechnung.
C. Fazit Der rechtliche, gesellschaftliche und medizinische Umgang mit Zufallsfunden ist eine wichtige und mit zunehmender Durchführung genetischer Analysen auch aktuelle Thematik. Zufallsfunde werden sich vor dem Hintergrund der Möglichkeit der Totalsequenzierung und der gesellschaftlichen Rezeption der Gendiagnostik zu Zusatzfunden entwickeln. Diese Entwicklung mindert die Problematik jedoch nicht, sondern stellt sie vor neue Herausforderungen. Sie gewinnt an Brisanz und Aktualität, gerade im Hinblick auf die viel propagierte personalisierte Medizin. Für die rechtliche Fragestellung im Umgang mit Zufallsfunden bildet das Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung als neue und besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts die verfassungsrechtliche Grundlage. Diese umfasst das Recht auf Wissen und Nichtwissen in Bezug auf die eigenen Gene. Die effektive Gewährleistung dieser Rechte sieht sich nach der aktuellen Rechtslage jedoch noch Hindernissen ausgesetzt: Im Fall eindimensionaler Zufallsfunde findet bisher eine Aufklärung über die Möglichkeit solcher zusätzlichen Funde im Rahmen der Vorfeldberatung und -aufklärung nach dem GenDG nicht statt. Um das Recht auf Wissen und Nichtwissen des Klienten an dieser Stelle effektiv zu gewährleisten, muss die Selbstbestimmungsaufklärung um den Aspekt der abstrakten Möglichkeit zufälliger Erkenntnisse im Rahmen der genetischen Untersuchung erweitert werden. Eine ungefragte Aufklärung über Zufallsfunde darf nicht 100 Theorie der Verantwortung von Handlungen, deren Resultate nur als Wahrscheinlichkeiten ausdrückbar sind gebe es nicht, vgl. Steigleder, Müssen wir, dürfen wir schwere (nicht therapierbare) genetisch bedingte Krankheiten vermeiden?, in: Düwell/Mieth, Ethik in der Humangenetik, S. 91, 99; so auch Hildt, Prädiktive genetische Diagnostik und das Recht auf Nichtwissen, in: Hirschberg et al., Ethische Fragen genetischer Beratung, S. 225, 231.
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
erfolgen. Die Regelungen des GenDG sind an dieser Stelle daher lückenhaft. Gerade in Anbetracht der Totalsequenzierung werden zusätzliche Erkenntnisse bezogen auf den Patienten signifikant steigen, so dass ein effektiver Schutz des Rechts auf Nichtwissen eine Ergänzung erfordert. Hier können aktuelle Richtlinien der GfH und des Deutschen Ethikrats Lösungsansätze bieten. Der informed consent lässt sich jedoch aufgrund der Vielzahl möglicher Funde in seiner bisherigen Strenge, auf konkrete Zusatzfunde bezogen, nicht realisieren, sondern der Hinweis muss in gewisser Weise generalisierend erfolgen. Auch für den Fall des mehrdimensionalen Zufallsfundes ergeben sich zahlreiche Probleme, vor allem aufgrund der gleichzeitigen Betroffenheit der Rechte des Klienten und der Verwandten. Die bekannten zivilrechtlichen und strafrechtlichen Rechtsinstitute zur Lösung möglicher Grundrechtskonflikte sind an dieser Stelle nicht geeignet, einen Grundrechtsausgleich herzustellen. Die Besonderheit genetischer Daten verlangt hier eine andere Herangehensweise. Die Problematik des mehrdimensionalen Zufallsfundes findet daher in § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG besondere Beachtung. Sie beinhaltet eine rechtliche Empfehlungspflicht des Arztes gegenüber seinem Klienten zu einer moralischen Empfehlungspflicht des Klienten mit Blick auf potenziell betroffenen Verwandten in Bezug auf die Durchführung einer genetischen Beratung. Der Gesetzgeber hat sich in dieser Vorschrift für die sogenannte Vorrangregel entschieden, d. h. die Schweigepflicht gilt absolut. Die Gesetzesbegründung gibt an, durch diesen Weg dem Recht auf Wissen des Klienten und dem Recht auf Nichtwissen des Verwandten Rechnung zu tragen. Ein effektiver Rechtsschutz für potenziell betroffene Dritte ist jedoch aufgrund der Voraussetzung der Aktivierung des Rechts auf Nichtwissen zu verneinen. Die tatsächliche Gewährleistung des Rechts auf Nichtwissen verlangt eine Aktivierung des Rechts, d. h. der Betroffene muss Kenntnis der entscheidungserheblichen Tatsachen haben. Diesem Gedanken trägt § 10 Abs. 3 Satz 4 GenDG nicht Rechnung. Dem Verwandten wird nicht die Möglichkeit gegeben, sich für ein Nichtwissen zu entscheiden, vielmehr entscheidet der Gesetzgeber dies in paternalistischer Weise für ihn. Ehrlicher ist die Bewertung, dass dem Recht auf Privatheit des Klienten an dieser Stelle absoluter Vorrang eingeräumt wird. Die Berücksichtigung der Rechte des Verwandten liegt allein in den Händen des Klienten. Bemerkenswert an der Lösung des GenDG ist damit, dass der Gesetzgeber den Konflikt selber nicht löst, sondern in den innerfamiliären Raum, auf eine moralische Ebene verlagert. Eine rechtliche Lösung des Konflikts liefert die Regelung daher nicht. Die Aufklärung, aber auch die Möglichkeit der Rechtsverletzung in Bezug auf den Verwandten, ist sozusagen privatisiert. Dieser Ansatz ist unter den Aspekten zu begrüßen, dass es aufgrund der Komplexität der betroffenen Rechtsgüter eine generelle Lösung nicht geben kann, der innerfamiliäre Raum gesetzlichen Pflichten entzogen ist und aufgrund der Schnelllebigkeit der Materie eine gesetzliche Lösung naturgemäß immer hinterherhinken würde. Zu suchen ist daher nach Kommunikationsmodell, die keine feste Abwägungsentscheidung vorgeben, sondern die Möglichkeit eröffnen, Rechte Dritter zu berücksichtigen. Allein die Privatisierung und das Moralisieren der Aufklärung über Zufallsfunde gegenüber Dritten stellt jedoch keine Lösung für die Problematik, sondern nur den Schein einer solchen dar. Bei der Regelung des GenDG sind die genannten zwei Schritte zu unterscheiden: die rechtliche Empfehlungspflicht des Arztes und die moralische Mitteilungspflicht des Klienten. Erstere ist als moralisch liberaler Paternalismus zu kritisieren, da es eine moralische Mitteilungspflicht gegenüber Verwandten suggeriert und dem Einzelfall nicht gerecht
C. Fazit
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werden kann. Letztere missachtet die Gefahr eines „unsolicited disclosure“ und schützt folglich das Recht auf Nichtwissen des Verwandten nicht hinreichend, da er ungefragt über mögliche genetische Krankheitsdispositionen durch den Klienten informiert werden kann/soll. Die Missachtung dieser Problematik wird auch am Haftungsrisiko des Arztes deutlich, sollte er nach § 11 Abs. 3 GenDG Verwandte aufklären. An diesen Stellen muss der Gesetzgeber aufgrund seiner staatlichen Schutzpflicht reagieren und Vorkehrungen zum Schutz des Verwandten treffen, bzw. die gesetzliche Regelung dahingehend klarstellen, dass die Weitergabe des Wissens auch der Einwilligung der Verwandten bedarf. Dem Recht auf Nichtwissen kommt nach der Konzeption des GenDG eine besondere Rolle im effektiven Rechtsschutz zu. Dies wird an dem Erfordernis der umfassenden Aufklärung und Beratung sowie dem Einwilligungserfordernis des Klienten in die Diagnoseaufklärung deutlich. Dies muss auch für den Verwandten gelten. Das Recht auf Nichtwissen ist daher nicht wie befürchtet als ein antizyklischer Irrläufer anzusehen. Sinnvoll erscheint es aus diesen Gründen, Dritte so frühzeitig wie möglich in den Kommunikationsprozess einzubinden, einen Weg zwischen community consensus und informed consent des Verwandten zu finden. Soweit möglich, sollten sie in die Beratung vor Durchführung der Untersuchung einbezogen werden. Zunächst soll der Arzt den Klienten umfassend über die Rechte und Betroffenheit Dritter aufklären und anschließend deren Einbeziehung in die Beratung anregen (sanfter Paternalismus). Eine offene Kommunikation mit Entscheidungshilfen und offen praktizierter Fürsorge gegenüber Dritten ist besser als ein moralischer Paternalismus, der im Ergebnis das gleiche Ziel verfolgt. In Erwägung gezogen werden könnte allenfalls im Konfliktfall, d. h. wenn der Klient nicht zustimmt, eine Kommunikation der Durchführung einer Beratung oder eine Mitteilung der Existenz relevanter Daten in anonymisierter Form über § 34 StGB. Den maßgeblichen personellen Rahmen für den Umgang mit Zufallsfunden bildet die Arzt-Klienten-Beziehung. Diese unterliegt einem steten Wandel. In Abkehr vom medizinischen Paternalismus unter Betonung der Selbstbestimmung wird der Patient als Klient und mündiger Verbraucher mit entsprechenden autonomen Entscheidungen wahrgenommen. Das Selbstbestimmungsrecht ist gerade in der Gendiagnostik aufgrund der Reichweite des Informationsgehalts genetischer Daten und der Bedeutung für Lebensgestaltung und -planung von besonderer Relevanz. Auf der anderen Seite nimmt der Arzt nicht mehr allein die Rolle des Heilers, sondern vielmehr die eines Beraters wahr. Dies wird auch im GenDG durch die Betonung der kommunikativen Komponente der Beziehung deutlich. Die Beraterrolle gilt es in Zukunft weiter auszugestalten, um dem Klienten bei der innerfamiliären Kommunikation, auf die das GenDG zur Konfliktlösung setzt, die notwendige Hilfsstellung bieten zu können. Aber auch für den Klienten selbst ist diese Hilfestellung von Nöten, damit ein Betroffener trotz einer genetisch bedingten Krankheitsdisposition sich nicht als „gesunder Kranker“ empfindet. Der Arzt soll Hilfe zur Selbsthilfe bieten und als Partner nach dem „shared decision“ Modell zur Seite stehen. Für den zukünftigen Umgang mit Zufallsfunden sind auch die neuen Leitwerte von Gesundheit und Verantwortung von Relevanz, die ebenfalls unter dem Einfluss der Gendiagnostik einem Wandel unterliegen. Die Beeinflussbarkeit oder zumindest Kenntnismöglichkeit genetischer Krankheitsdispositionen lässt die „genetische Risikoperson“ mit einer entsprechenden genetischen Verantwortung entstehen, d. h. zunehmender gesundheitlicher Eigenverantwortung und Informationsverantwortung gegenüber Dritten. Das
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Kap. 5: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
GenDG enthält durch seinen moralischen Paternalismus Ansätze einer solchen genetischen Verantwortung in Form einer moralischen Informationsverantwortung des Klienten gegenüber potenziell betroffenen Verwandten. Dies ist zu kritisieren, da die Forderung einer Mitteilungspflicht wie gezeigt den Rechten der Verwandten nicht hinreichend Rechnung trägt. Umgekehrt kann aber auch ein innerfamiliäres Redeverbot den sozialen Realitäten nicht gerecht werden. Zu Recht wird daher von einem unlösbaren Konflikt gesprochen, so dass die Problembehandlung auf kommunikativer Ebene, eingebettet in der fachlich kompetenten Arzt-Klienten-Beziehung, zu suchen ist. Darüber hinaus umfasst eine genetische Verantwortung auch eine gesteigerte Eigenverantwortung des Einzelnen. Dies ist ein maßgeblicher Schrittmacher bei der Generierung des „gesunden Kranken“ und der „genetischen Risikoperson“. Dieser Wandel wird auch an der Neuausrichtung der Verantwortungsverteilung im GenDG deutlich: mehr Eigenverantwortung des Klienten unter Einschluss einer Drittverantwortung und unter Wandel der Rolle des Arztes zum Berater ohne „Reserveverantwortung“ nach § 34 StGB. § 34 StGB kann eine Verletzung der Schweigepflicht des Arztes nicht rechtfertigen, da diese Norm aufgrund der Spezialregelung der Fragestellung im GenDG und zudem mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung nicht anwendbar ist. Diese neuen Leitwerte sollten jedoch kritisch hinterfragt werden. Genetische Dispositionen enthalten nur Wahrscheinlichkeitsaussagen. Daher besteht zwischen dieser und einer späteren Manifestation einer Erkrankung kein zwingender Kausalitätszusammenhang. Eine Verantwortung findet daher hier ihre natürliche und zu achtende Grenze. Auch die zunehmende Rezeption und Verbreitung der Gendiagnostik erfordert eine Einschränkung der geforderten genetischen Verantwortung. Es gilt, dass je verbreiteter genetische Analysen werden, desto mehr ist jeder für ein entsprechendes genetisches Wissen selber verantwortlich. Mitteilungspflichten kommen immer weniger in Betracht. Trotz der Unlösbarkeit des Konflikts und der notwendigen Zukunftsoffenheit einer gesetzlichen Regelung sollte das GenDG den notwenigen Rahmen für einen effektiven Schutz der betroffenen Rechtsgüter bieten. Teilweise kann hier als Inspiration die französische Regelung dienen, die der Interaktion zwischen Arzt, Klient und Dritten, aber auch der innerfamiliären Kommunikation einen rechtlichen Rahmen gegeben hat.
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Sachwortverzeichnis Abwägungslösung 132 aktivieren des Rechts auf Nichtwissen 117 Allgemeines Persönlichkeitsrecht 72, 103 Arzt-Klienten-Beziehung 237 Arzt-Patienten-Beziehung 54, 63 Arzthaftungsrecht bei unsolicited disclosure 168 ärztliche Aufklärungspflicht 67 Aufklärung nach dem GenDG 139 autosomal-dominanter Erbgang 36 balancing test 87 Benda Kommission 127 Berater 64, 238 Beratung, genetische 140 Bevölkerungsscreening 176 Brustkrebs 43 Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Genomanalyse“ 127 Bundesärztekammer– Richtlinien 129 Chorea Huntington 28 community consensus 224 Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH) 128 Diagnoseaufklärung 76 – Einbeziehung Dritter 83 Differential-Diagnostik 41 Direct-to-Consumer Test 22, 53, 61 direkter Gentest 40 DNA 39 dominante Vererbung 36 Dominanz 36 Drittbezug, informationeller 140 Drittgeheimnis 113 Drittwirkung 24, 32 – der Grundrechte 112 duty to warn 86 Eigenverantwortung 179, 192 – Begriff 193 – im Krankenversicherungsrecht 193
eindimensionaler Zufallsfund 24, 32, 75, 77, 218 – Leitlinien 80 Einwilligung 70 – antizipierte 134 Empfehlung zur Empfehlung 144 Empowerment 60 Enquête Kommission 127 Ethikrat 127 faktische Zustände 178 familienorientierter Ansatz 225 family property 133 Freiwilligkeit 137 Fremdbestimmung 123 Fürsorgepflicht 75 Gendiagnostik 35 Gendiagnostikgesetz 21, 130 genetische Risikoperson 179 genetische Verantwortung 178 genetischer Determinismus 58 genetisches Schicksal 179 geninformationelle Selbstbestimmung 103 Genom 35 Genomanalyse siehe Gendiagnostik Gentest siehe Gendiagnostik gesunder Kranker 26, 58, 201 Gesundheit 56, 181 Gesundheitskult 182 Gesundheitsverantwortung 180 Gesundheitsverständnis 26 Gläubigerinteresse 94 Grundrechtskollision 119, 120 Haftung – des Arztes 164 – des Betroffenen bei unsolicited disclosure 170 Hämochromatose 30 Hidden persuaders 177 HIV-Infektion 32 HUGO (Human Genome Organisation) 190
Sachwortverzeichnis
humangenetischer Behandlungsvertrag 93, 96 Humangenomprojekt 22, 47 Incidental Findings siehe Zufallsfund indirekter Gentest 40 individualisierte Medizin siehe personalisierte Medizin Individualisierung 179 – der Verantwortung 196 – gesundheitliche Risiken 180 Individualisierungsprozess 178 informationelle Selbstbestimmung 72 Informationsverantwortung 85, 183, 196 Informationsverbund 186 informed consent 67, 152, 234, 236 – differenzierter 79 – Erweiterung 79 interpersonelle Konflikte 119 intrapersonelle Konflikte 118 Klient 56 kodominante Vererbung 36 Kombinationslösung 132 Kommunikationsverantwortung 196 Kranker 55 Krankheit 56 Kunde 60 Leistungsnähe 94 mehrdimensionaler Zufallsfund 24, 34, 220 – Regelung im GenDG 140 Mitteilungspflicht 186 mittelbare Drittwirkung 73 Mutation 36 mutmaßliche Einwilligung 76 Nebenbefund siehe Zufallsfund next generation sequencing 51 Nichtaktivität 137 Nichtdirektivität 138 Notstandslage 88
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– liberaler 155 – moralischer 155, 161 – sanfter 239 – schwacher bzw. weicher 154 – starker 160 – starker bzw. harter 154 – versteckter 229 Patient 55 Patientenautonomie 71, 151 Penetranz 36 personalisierte Medizin 46, 180 Pflicht zu wissen 119, 184 Phänotyp 36, 38 Pharmakogenetik 50 Praena-Test 176 Präimplantationsdiagnostik 45 präsymptomatischer Patient 58 Präventivmedizin 30, 49 Ratsuchender siehe Klient Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung 106 Recht auf Kenntnis seiner genetischen Abstammung 106 Recht auf Nichtwissen 109 – Aktivieren 116 – des Verwandten 111, 122 Recht auf Wissen 108, 122 – des Verwandten 111, 121 Redeverbot, innerfamiliäres 124 Reservezuständigkeit 201 rezessive Vererbung 36 Safer v. Pack 86 Schweigepflicht 68 Selbstbestimmungsaufklärung 67 Selbstbestimmungsrecht 139 Shared-decision-making-Modell 200 Sicherungsaufklärung 68, 84 SNPs 50 stratifizierte siehe personalisierte Medizin
Offenbarungspflicht 84 Offenbarungspflichten 83 Offenbarungsrecht 71, 84
Tarasoff 86 Tausend/1000-Dollar Genom 22, 175 Totalsequenzierung 51
Pate v. Threkel 86 Paternalismus 151 – indirekter 161
Überschussinformationen siehe Zufallsfund umgekehrter Aufklärungsfehler 164 unsolicited disclosure 111, 158, 231
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Sachwortverzeichnis
Verantwortung 61, 181 Verbraucher 60 Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter 93 Vorrangregel 132 Zufalls(be)fund 30
Zufallsfund 24 – Begriff 30 – Regelung im GenDG 136 Zusatzbefund 204 Zusatzfund 203 Zwang 189 Zwangsaufklärung 83, 198