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German Pages 164 Year 1996
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft
Band 102
Der Vertrauensgrundsatz als eine Regel der Erfahrung Eine Untersuchung am Beispiel des Lebensmittelstrafrechts
Von
Bernhard Brinkmann
Duncker & Humblot · Berlin
BERNHARD BRINKMANN Der Vertrauensgrundsatz als eine Regel der Erfahrung
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Hans-Uwe Erichsen Dr. Helmut Kollhosser Dr. Jürgen Welp
Band 102
Der Vertrauensgrundsatz als eine Regel der Erfahrung Eine Untersuchung am Beispiel des Lebensmittelstrafrechts
Von
Bernhard Brinkmann
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Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Brinkmann, Bernhard: Der Vertrauensgrundsatz als eine Regel der Erfahrung : eine Untersuchung am Beispiel des Lebensmittelstrafrechts / von Bernhard Brinkmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft; Bd. 102) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08689-9 NE: GT
D6 Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-08689-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Meinen Eltern
Vorwort Die Arbeit lag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Wintersemester 1995 als Dissertation vor. Die Arbeiten am Manuskript wurden im September 1995 abgeschlossen. Bis November 1995 erschienene Rechtsprechung und Literatur konnte noch in den Fußnoten berücksichtigt werden. Prof. Dr. Heribert Schumann lediglich für die Betreuung meiner Dissertation Dank zu sagen, würde dem nicht gerecht, was er in der langen Zeit, in der wir uns nunmehr kennen, für mich getan hat, und in der er für mich mehr geworden ist als ein akademischer Lehrer. Besonderer Dank gebührt auch Prof. Dr. Friedrich Dencker für Anregungen in der Endphase der Arbeit. Zu danken habe ich Frau Prof. Dr. Ursula Nelles und Herrn Prof. Dr. Eberhard Struensee, die stets zur Diskussion bereit waren. Unvollständig wäre die Danksagung, würden nicht die wissenschaftlichen wie auch die nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Instituts für Kriminalwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster erwähnt. Sie alle haben zu der freundschaftlichen Atmosphäre beigetragen, die eine der Besonderheiten dieses Instituts geworden ist. Herzlichen Dank möchte ich auch meinen Freunden Herrn Rechtsanwalt Fabricio Osvaldo Guariglia (Buenos Aires) und Herrn Assessor Michael Rietmann (Altenberge) sagen. Ohne sie wären viele Tage ärmer gewesen. Den Herrn Prof. Dres. Erichsen, Kollhosser und Welp danke ich für die Aufnahme in die Fakultätsschriftenreihe. Anne danke ich für alles. Münster, den 14. November 1995 Bernhard Brinkmann
Inhaltsverzeichnis Einleitung
13
A. Das Lebensmittelrecht
15
I.
Die Sanktionsnormen des L M B G
16
II.
Die zentralen Normen des L M B G
17
1. Die Begriffsbestimmung des § 1 LMBG, „Lebensmittel" a) „Verzehren" b) „Bestimmtsein" c) Die Einschränkung des Lebensmittelbegriffs
18 18 18 20
2. Der Begriff des Inverkehrbringens nach § 7 Abs. 1 L M B G a) Anbieten b) Vorrätighalten zum Verkauf c) Vorrätighalten zu sonstiger Abgabe d) Feilhalten e) Abgeben an andere
21 21 22 23 23 24
3. Verbote zum Schutz der Gesundheit, § 8 L M B G a) Schädigen b) Eignung zur Gesundheitsschädigung c) Der maßgebliche Zeitpunkt d) Kenntlichmachung e) Verzehr
25 25 26 27 28 28
4. Verbote zum Schutz vor Täuschung, § 17 L M B G a) Verzehrungeeignetheit, § 17 Abs.l Nr. 1 L M B G aa) Genußuntauglichkeit aufgrund stofflicher Veränderungen oder Beeinträchtigungen bb) Erkennbar ekelerregende Beschaffenheit cc) Nicht erkennbare ekelerregende Beeinträchtigungen b) Nachgemachte Lebensmittel, § 17 Abs. 1 Nr. 2a L M B G c) Wertgeminderte Lebensmittel, § 17 Abs.l Nr. 2b L M B G aa) Verkehrsauffassung bb) Wertminderung d) Scheinbare Verbesserung, § 17 Abs. 1 Nr. 2c L M B G e) Ausreichende Kennzeichnung i.S. des § 17 Abs. 1 Nr. 2 L M B G . . . . f) Verbot der Irreführung, § 17 Abs. 1 N r 5 L M B G
28 29 29 30 30 31 32 32 33 34 34 35
10
Inhaltsverzeichnis
B. Das Fahrlässigkeitsdelikt im Lebensmittelrecht I.
II.
38
Das Prinzip der „Kettenverantwortung"
39
1. Die Sorgfaltspflicht des Lebensmittelherstellers
42
2. Die Sorgfaltspflicht des Lebensmittelimporteurs
43
3. Die Sorgfaltspflicht des Lebensmittelgroßhändlers
45
4. Die Sorgfaltspflicht des Lebensmitteleinzelhändlers
46
5. Die Sorgfaltspflicht des Verbrauchers
48
Der Vertrauensgrundsatz im Lebensmittelrecht
48
C. Der Begriff der Fahrlässigkeit im Recht der Ordnungswidrigkeiten
52
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
54
I.
II.
III.
IV. V.
Die „Theorie der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung"
54
1. Die objektive Sorgfaltspflichtverletzung a) Der Sorgfaltsmaßstab b) Sondernormen c) Einschränkungen
55 57 60 61
2. Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang
61
3. Schutzzweck der Norm
62
4. Schuld a) Die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung b) Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens
64 64 64
Die Theorie der subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung
64
1. Die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
65
2. Zurechnungszusammenhang
66
3. Schuld
67
Die finale Fahrlässigkeitskonzeption
67
1. Schutzzweck der Norm und Pflichtwidrigkeitszusammenhang
71
2. Schuld
73
Das Gefahrurteil
73
Das fahrlässige Tätigkeitsdelikt
76
Inhaltsverzeichnis E. Das „erlaubte Risiko"
79
I.
Der Begriff des „erlaubten Risikos"
79
II.
Die Struktur des „erlaubten Risikos" im Rahmen des Vorsatzdelikts
82
1. Riskante Rettungshandlungen
82
III.
IV.
2. Risiken bei sportlicher Betätigung
82
3. Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB
83
4. Risikogeschäfte im Rahmen des § 266 StGB
84
5. Verfolgung Unschuldiger gem. § 344 Abs. 1 StGB
84
6. Fälle „unvorhersehbarer Kausalität"
85
7. Zusammenfassung
85
Die Struktur des „erlaubten Risikos" in der Fahrlässigkeit
86
1. Die verbrechenssystematische Einordnung des „erlaubten Risikos" . . . . a) Das „erlaubte Risiko" in den heute vertretenen Fahrlässigkeitskonzeptionen b) Das „erlaubte Risiko" als Problem der Schuld c) Das „erlaubte Risiko" als Problem der Rechtswidrigkeit aa) Das „erlaubte Risiko" als Problem der Rechtswidrigkeit im Fahrlässigkeitsaufbau der heute hA bb) Das „erlaubte Risiko" als Problem der Rechtswidrigkeit im klassischen Fahrlässigkeitsaufbau d) Das „erlaubte Risiko" als Problem der Kausalität e) Das „erlaubte Risiko" als Problem der Tatverantwortung
87
2. Zusammenfassung
95
Die Wirkungsweise des „erlaubten Risikos"
91 91 92 94
97
1. Sondernormen a) Kodifizierte Sondernormen b) Nicht-kodifizierte Sondernormen
98 100 104
2. Soziale Adäquanz
105
3. Sozialadäquanz und „erlaubtes Risiko" im Vorsatzdelikt
107
F. Der Vertrauensgrundsatz I.
87 89 90
110
Der Vertrauensgrundsatz als Unterfall des „erlaubten Risikos"
111
1. Der Vertrauensgrundsatz als nicht-kodifizierte Sondernorm
112
2. Der Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr
113
3. Der allgemeinere Vertrauensgrundsatz
115
12
Inhaltsverzeichnis II.
Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
117
1. Die Prämientheorie
117
2. Die Interessentheorie
122
3. Die „erweiterte" Interessentheorie
126
4. Die Lehre von den Verantwortungsbereichen
131
G. Der Vertrauensgrundsatz als Erfahrungsregel I.
II.
138
Erfahrungsregeln
139
1. Die Anwendungsbereiche von Erfahrungsregeln
140
2. Die Wirkungsweise von Erfahrungsregeln
141
3. Die Bildung von Erfahrungsregeln
146
4. Die Erfahrungsregel in der praktischen Anwendung
147
Die Erfahrungsregel in der lebensmittelrechtlichen Kette
149
Fazit
151
Literaturverzeichnis
153
Sachverzeichnis
160
Einleitung „Für ein rechtsstaatliches Lebensmittelrecht!", so betitelte Gert Meier im Jahre 1983 einen Aufsatz, in dem er aus seiner Sicht Mißstände in der lebensmittelstrafrechtlichen Praxis anprangerte und dabei u. a. zu dem Ergebnis gelangte, der Gesetz- und Verordnungsgeber habe die Praxis im Stich gelassen.1 Schmerzlich vermißt werde dort nämlich im Rahmen der Fahrlässigkeit eine Definition des Sorgfaltsmaßstabes, der an die Handlungen der am Lebensmittelverkehr Beteiligten anzulegen sei.2 Eine Definition eines Sorgfaltsmaßstabes oder gar eine Bestimmung desselben für einzelne lebensmittelstrafrechtliche Bereiche kann und will die hier vorliegende Arbeit nicht erbringen. Vielmehr soll das Lebensmittelrecht, als für die allgemeine Strafrechtsdogmatik etwas abseitige Materie, nur als Ausgangspunkt genommen werden, um die Fahrlässigkeitsdogmatik des Kernstrafrechts in einem Punkt neu zu überdenken, nämlich in dem Punkt des Vertrauensgrundsatzes, der im Lebensmittelstrafrecht nach der dort ganz herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung keine Anwendung finden soll. Mit dem Einstieg in den Problemkreis über eine auf den ersten Blick etwas exotisch anmutende Materie wird dabei die Hoffnung verbunden, daß der Blick auf die eigentlichen Strukturen des Problems weniger verstellt wird, als es zuweilen auf den klassischen Gebieten des Strafrechts den Eindruck macht. Sollte sich nämlich herausstellen, daß dem Vertrauensgrundsatz ein allgemeines Prinzip zugrunde liegt, so müßte dieser auch im Lebensmittelstrafrecht anwendbar sein. Dann wäre zwar noch kein allgemeiner lebensmittelrechtlicher Sorgfaltsmaßstab definiert, was dogmatisch unmöglich ist, eine Anwendung des Vertrauensgrundsatzes auch im Lebensmittelrecht würde jedoch alle Beteiligten am Lebensmittelverkehr deutlich entlasten. Diesen Gedanken folgt auch der Aufbau dieser Arbeit. Das Lebensmittelstrafrecht, das für den Strafrechtler eher eine terra incognita darstellt und sich darüber hinaus durch eine ungeheure Unübersichtlichkeit auszeichnet, wird in groben Zügen umrissen, und die Tatbestände von zentraler Bedeutung werden
1
Meier, ZRP, S. 294.
2
so auch Hufen, S. 38 ff.
14
Einleitung
vorgestellt. Sodann wird die spezifisch lebensmittelstrafrechtliche Behandlung der Fahrlässigkeit und des Vertrauensgrundsatzes darauf untersucht, ob davon etwas in das Ergebnis einfließen kann. Da die besondere lebensmittelrechtliche Prägung, die die Fahrlässigkeit erhalten hat, jedoch fast keine Berührungspunkte mehr mit der des Kernstrafrechts aufweist, muß, soweit sie den Veitrauensgrundsatz betrifft, die Fahrlässigkeitsdogmatik analytisch aufgearbeitet werden. Der zentrale Teil dieser Arbeit ist deshalb die nähere Untersuchung der sog. „Sorgfaltspflicht", des „erlaubten Risikos" und des „Vertrauensgrundsatzes", da der Vertrauensgrundsatz nach h. M . die erste einschränken und ein Unterfall des zweiten sein soll. Nachdem geklärt ist, an welcher Stelle und mit welcher Funktion der Vertrauensgrundsatz nach allgemeiner Ansicht wirken soll, werden die bisher zu seiner Begründung angeführten Lösungsansätze mit dem Ziel untersucht, einen verallgemeinerungsfahigen Kern herauszuarbeiten, der eventuell die Übertragung des Vertrauensgrundsatzes auf das Lebensmittelrecht gestattet, lag doch die Domäne dieses Satzes bisher in dem Bereich des Straßenverkehrs. Es wird sich dabei herausstellen, daß dem Vertrauensgrundsatz durch Rechtsprechung und Literatur keine tragfahige Basis geschaffen werden konnte, weil bisher sämtliche Ansichten dem Dogma verhaftet waren, daß ihm Gestalt und Funktion einer nicht-kodifizierten Sondernorm verliehen seien. Sobald man sich aber von diesem Gedanken frei macht und im Vertrauensgrundsatz lediglich eine schlichte Erfahrungsregel sieht, lösen sich gleichzeitig mehrere Probleme. Es ist dann möglich, eine allgemeingültige Begründung zu finden und den Vertrauensgrundsatz friktionslos auf sämtliche Anwendungsbereiche der Fahrlässigkeit, mögen sie im Kern- oder Nebenstrafrecht liegen, zu übertragen.
A. Das Lebensmittelrecht Das Lebensmittelrecht umfaßt alle Rechtsnormen, die den Schutz des Verbrauchers vor möglichen Gesundheitsbeschädigungen und Täuschungen über die Beschaffenheit, Qualität und Quantität von Lebensmitteln sowie über andere wertbestimmende Umstände bezwecken. Darunter fallen Vorschriften über die Gewinnung, Herstellung, Zubereitung, Zusammensetzung, Bezeichnung, Verpackung und Kennzeichnung sowie über die Ein- und Ausfuhr von Lebensmitteln. Bei den Vorschriften mit der genannten Zielrichtung handelt es sich um das Lebensmittelrecht im engeren Sinne, das Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist. Daneben gibt es zahlreiche Rechtsnormen, die sich ebenfalls mit der Herstellung, Zusammensetzung, Bezeichnung, Verpackung und Kennzeichnung von Lebensmitteln befassen, jedoch, jedenfalls primär, eine andere Zielrichtung aufweisen. Dazu gehört insbesondere die Vielfalt der EG-Vermarktungsnormen, die in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar geltendes Recht sind. Diese Normen verfolgen in erster Linie das Ziel, Erzeugung, Qualität und Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse vornehmlich durch Standardisierung zu fördern. Dabei handelt es sich um Schutzgesetze für den Erzeuger, dem ein angemessener Lebensstandard gewährleistet werden soll. Trotz dieser Tendenz können auch diese Erzeugerschutzvorschriften den Interessen der Verbraucher direkt oder indirekt dienen, wenn sie in den lebensmittelrechtlichen Schutzbereich eingreifen, insbesondere, wenn sie auf Erhaltung und Erhöhung der Qualität zielen. Die Summe dieser primär erzeugerorientierten Normen wird Lebensmittelrecht im weiteren Sinne genannt.1
1
Zipfel, Einfuhrung, S. 5 f. Enger gefaßt wird der Begriff des Lebensmittelrechts von HNF Bd. 1 Einl. S. 2: „Unter dem Begriff'Lebensmittelrecht' sind zu verstehen das L M B G und der sonstige Rechtsstoff, der wie das Lebensmittelgesetz selbst dem Schutz der Volksgesundheit vor Gesundheitsgefährdung und wirtschaftlicher Benachteiligung durch nicht einwandfrei beschaffene oder bezeichnete Lebensmittel und Tabakerzeugnisse und durch solche Kosmetika und Bedarfsgegenstände, auf die das L M B G unter diesem Gesichtspunkt seine Regelungen mehr oder weniger erstreckt, dient."
A. Das Lebensmittelrecht
16
Neben der Unterscheidung von Lebensmittelrecht im engeren und weiteren Sinne wird weiter die Unterscheidung von vertikalen und horizontalen Normen getroffen: Vertikale Vorschriften sind produktbezogen, wie etwa die FleischVO oder die FruchtsaftVO 2, wohingegen unter den Begriff horizontale Vorschriften diejenigen fallen, die Geltung für alle Lebensmittel haben, so z. B. das LMBG und die ZusatzstoffVO. 3 Innerhalb der Normen des Lebensmittelrechts nimmt das LMBG eine zentrale Stellung ein.4 Man sollte allerdings nicht dem Irrtum verfallen, in dem LMBG einen allgemeinen Teil des Lebensmittelrechts zu sehen. Diese Rolle kann es nicht spielen, da es sowohl allgemeine als auch spezielle Vorschriften enthält und darüber hinaus im 7. Abschnitt noch das Verfahren der Lebensmittelüberwachung regelt. Allenfalls einzelne Normen wirken über die Grenzen des LMBG hinaus. I. Die Sanktionsnormen des L M B G Die Sanktionsnormen des LMBG sind §§ 51 bis 54 im 9. Abschnitt. Bei diesen Normen handelt es sich um Blankettgesetze, also solche Gesetze, die ihre Sanktionsdrohung auf ein ganz oder teilweise durch andere Rechtsquellen tatbestandlich beschriebenes Verhalten beziehen.5 Zum größten Teil handelt es sich im Lebensmittelrecht um gestufte Blankette, bei denen die Ausfüllungsnorm selbst wiederum ein Blankett ist. Mit der Verwendung von Blanketten wurde eine Gesetzestechnik gewählt, die der Vereinfachung und der größeren Flexibilität dient. A u f diese Art und Weise wird es dem Gesetzgeber ermöglicht, auf eine Änderung der Verhältnisse schnell durch eine Änderung der Ausfüllungsnorm, die kein förmliches Gesetz sein muß, zu reagieren. Diese höhere Flexibilität geht jedoch mit einer dadurch bedingten größeren Unübersichtlichkeit einher. Wegen dieser Unübersichtlichkeit sollen die einzelnen Tatbestände hier vorgestellt werden. Die Tatbestände der §§ 51 bis 54 LMBG weisen folgende Grundzüge auf: 6
2 Überblick über die wichtigsten lebensmittelrechtlichen Verordnungen bei Zipfel, Einführung, S. 12 ff. 3
Unterscheidung nach LMH-Rützler I I A Rdnr. 1.
4
Rützler, L M H I I A Rdnr. 1, bezeichnet es als eines der lebensmittelrechtlichen Dachgesetze. 5
Warda, S. 5.
6
Übersicht nach Hufen, S. 30 f.
II. Die zentralen Normen des LMBG
17
-
§ 51 LMBG regelt die Strafbarkeit von Verstößen gegen Bestimmungen zum Schutz der Gesundheit. Hier sind auch fahrlässige Taten strafbar (§ 51 Abs. 3 LMBG). Erfaßt werden u. a. die Herstellung, Behandlung und das Inverkehrbringen von Gegenständen, deren Verzehr geeignet ist, die Gesundheit zu schädigen (§ 8 Nr. 1 und Nr. 2 LMBG) und der Verstoß gegen wichtige gesundheitsschtitzende Rechtsverordnungen (§ 9 Abs. 1 Nr. 1, 3,4 a und § 9 Abs. 2 LMBG).
-
Zusätzlich stellt § 52 LMBG Verstöße gegen Verordnungen unter Strafe, die die Verwendung von Zusatzstoffen, die Bestrahlung von Lebensmitteln, die Belastung mit Pflanzenschutzmitteln, die Rückstände von Tierpharmazeutika und auch die Kenntlichmachung von Lebensmitteln nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 LMBG regeln. Erfaßt werden hier auch Vorschriften, die zum Schutz vor Täuschung erlassen wurden. Die Strafbarkeit betrifft durchweg Hersteller und andere Inverkehrbringen Der wesentliche Unterschied zu § 51 L M B G besteht darin, daß fahrlässige Verstöße gegen § 52 LMBG nicht als Straftaten sondern als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden.
-
Die reinen Ordnungswidrigkeitstatbestände der §§53 und 54 LMBG betreffen vorwiegend fahrlässig begangene Verstöße nach § 52 LMBG und weitere Zuwiderhandlungen gegen nach § 9 Abs. 1 LMBG erlassene Rechtsverordnungen. Auch der Verstoß gegen einige im LMBG selbst enthaltene Vorschriften ist ordnungswidrig. § 54 bedroht Verstöße gegen zum Schutz vor Täuschung erlassene Kennzeichnungsvorschriften mit durchaus spürbaren Geldbußen, während die verhältnismäßig geringfügigen Geldbußen in Abs. 2 für sogenannte Formalverstöße vorgesehen sind. II. Die zentralen Normen des L M B G
Wie oben bereits erwähnt, ist das Lebensmittelrecht eine sehr unübersichtliche Materie, die auch nicht dadurch an Übersichtlichkeit gewonnen hat, daß der Gesetzgeber die Sanktionsnormen als Blankettgesetze ausgestaltet hat. Neben den zahlreichen Einzelgesetzen und Verordnungen 7 enthält auch das L M B G
7 Die 250 wichtigsten Vorschriften sind in der Gesetzessammlung „Sartorius" im Anhang zum L M B G mit ihrem Titel abgedruckt. Darunter befinden sich u. a. die „ V O Nr. 2213/83 zur Festsetzung von Qualitätsnormen von Zwiebeln und Chicoree" und die „ V O Nr. 3191/85 zur Bestimmung der Ausnahmefalle einer Genehmigung des Verschnitts von spanischem Rotwein mit rotem Wein bestimmter Sorten und Gebieten der Gemeinschaft aus anderen Mitgliedstaaten".
2 Brinkmann
18
A. Das Lebensmittelrecht
Ausfüllungsnormen. Wegen der kaum noch zu übersehenen Normenmenge soll hier nur auf die Vorschriften mit zentraler Bedeutung eingegangen werden. 1. Die Begriffsbestimmung
des § 1 LMBG, „ Lebensmittel"
Anknüpfungspunkt des gesamten Lebensmittelrechts ist der Begriff des Lebensmittels. Nach § 1 Abs.l LMBG sind Lebensmittel Stoffe, die dazu bestimmt sind, in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von Menschen verzehrt zu werden. a) „Verzehren" § 1 Abs.l LMBG stellt in Verbindung mit der Begriffsbestimmung „Verzehren" in § 7 LMBG klar, daß nur diejenigen Stoffe Lebensmittel sind, die gegessen, gekaut, getrunken oder sonst über den Magen der menschlichen Verdauung zugeführt werden. Durch den zweiten Halbsatz wird der Begriff „Lebensmittel" in der Form eingeengt, daß alle Stoffe vom Begriff des Lebensmittels ausgenommen sind, die überwiegend dazu bestimmt sind, zu anderen Zwecken als zur Ernährung oder zum Genuß verzehrt zu werden. 8 b) „Bestimmtsein" Der Begriff „Bestimmtsein" in § 1 LMBG hat eine weite Auslegung erfahren. Unter diesen Begriff sollen alle Stoffe fallen, die ihrer Gattung nach und allgemein zum Verzehr bestimmt sind. Auf eine tatsächliche Eignung zum Verzehr kommt es nach allgemeiner Ansicht nicht an, sondern nur auf die Möglichkeit, daß ein Stoff zu diesem Zweck verwandt wird. Unerheblich soll es sein, wenn daneben noch eine andere Art der Verwendung des Stoffes gebräuchlich ist und/oder die Stoffe im konkreten Einzelfall nach dem Willen der Beteiligten zu anderen Zwecken Verwendung finden sollen, z. B. als Futtermittel; allein die Möglichkeit des menschlichen Verzehrs macht sie in diesen Fällen zu Lebensmitteln.9 Ob ein Gegenstand dazu bestimmt ist, von Menschen verzehrt zu werden, soll sich nach einem objektiven Maßstab bemessen. Dabei soll die Bestimmung nach einer im Verkehr gebotenen natürlichen Betrachtungsweise zu beurteilen sein. So
8 9
HNF § 1 Rdnr. 3.
Zipfel LMR, C 100 § 1 Rdnr. 11; HNF § 1 Rdnr. 16 - 1 7 a; RGSt 73, S. 83, 84; OLG Oldenburg Nds. Rpfl. 1953, S. 168; BayObLG LRE 2, S. 334.
II. Die zentralen Normen des LMBG
19
wird Genießbarkeit im landläufigen Sinne nicht vorausgesetzt. Ein Stoff hört nicht auf, Lebensmittel zu sein, wenn er für den Verzehr vernünftigerweise nicht mehr in Frage kommt. 10 Die Lebensmitteleigenschaft eines allgemein zum Verzehr bestimmten Stoffes ist erst dann beendet, wenn der andere (dann nicht mehr zum menschlichen Verzehr bestimmte) Verwendungszweck eindeutig erkennbar und zweifelsfrei feststeht, so daß regelmäßig die Möglichkeit, den Stoff noch zum Essen und Trinken zu verwenden, weitgehend ausgeschlossen ist. Die allgemeine Zweckbestimmung als Lebensmittel ist keine unabänderlich anhaftende Eigenschaft, jedoch werden an die Erkennbarkeit einer anderen Zweckbestimmung strenge Anforderungen gestellt.11 Erst wenn ein Stoff, der generell Lebensmittel ist, zweifelsfrei dieser Zweckbestimmung entzogen ist, endet seine Bestimmung für den menschlichen Verzehr. Diese Entziehung muß aber durch eindeutige Maßnahmen geschehen, so z. B. durch das Lagern von Kartoffeln im Futtereimer außerhalb der zum Aufbewahren von Lebensmitteln bestimmten Räume, durch das Verbringen in die Futtermittelfabrik oder das Vergällen von Alkohol. 1 2 Andererseits kann ein Stoff, der nicht allgemein zum menschlichen Verzehr bestimmt ist, aufgrund einer konkreten Zweckbestimmung des Verfügungsberechtigten zum Lebensmittel werden. Die Absicht, den Stoff dem Lebensmittelverkehr zuzuführen, muß nur äußerlich erkennbar hervortreten, z. B. durch eine Verwendung als Zusatzstoff, Verarbeiten zu einem Lebensmittel, durch Anbieten als Lebensmittel, mittels Beilegen einer entsprechenden Bezeichnung oder Aufmachung, falls nicht das äußere Erscheinungsbild schon von vornherein auf die Eignung zum Essen oder Trinken hinweist. 13 Der Zustand, in dem sich die zum Verzehr bestimmten Stoffe befinden, ist für ihre Eigenschaft als Lebensmittel ohne Bedeutung. Der Gesetzgeber bringt das durch die Worte „in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand" zum Ausdruck. So spielt es keine Rolle, ob etwa eine Rinderhälfte noch unzerteilt, als Hackfleisch zubereitet oder zur Wurst verarbeitet ist, oder ob sich die Knochen zur Herstellung von Brühe u. a. eignen. Der Begriff „Lebensmittel" erfaßt alle für die menschliche Ernährung bestimmten Stoffe, auch wenn sie noch nicht
10
Zipfel, LMR, C 100 § 1 Rdnr. 11; HNF § 1 Rdnr. 17; LMH-Rützler I I A Rdnr. 3.
11
Zipfel, LMR, C 100 § 1 Rdnr. 14.
12
HNF § 1 Rdnr. 18; siehe dazu auch BayObLG LRE 2, S. 334: Bruchreis, der ebenso wie andere Lebensmittel in Schubläden in einem Verkaufsraum liegt, ist trotz der Beschriftung der Schublade mit dem Wort „Futterreis" Lebensmittel i. S. des § 1 LMBG. 13
2*
Zipfel, LMR, C 100 § 1 Rdnr. 16.
20
A. Das Lebensmittelrecht
verzehrfertig sind.14 So unterliegen auch Halbfabrikate und Vormischungen, wie etwa Braugerste für Bier oder Fleischmasse für Frikadellen, dem Lebensmittelbegriff, ebenso wie lebende Tiere, deren Fleisch zum menschlichen Verzehr bestimmt ist. 15 Doch muß den Rohstoffen und Vorerzeugnissen ihre Bestimmung zu Lebensmitteln - wenn auch erst nach einer Be- oder Verarbeitung - bereits zu entnehmen sein. So sind nicht alle lebenden Tiere, die einmal geschlachtet werden können, ein Lebensmittel, sondern nur die von vornherein für die Schlachtung bestimmten (Mastvieh) oder, wenn das wie etwa bei den Milchkühen auf der Weide nicht der Fall ist, die zur späteren Schlachtung vorgesehenen Tiere. 16 Unter den Begriff des Lebensmittels fallen gem. § 1 Abs. 2 LMBG auch Umhüllungen, Überzüge und Umschließungen, die dazu bestimmt sind, mitverzehrt zu werden oder bei denen ein Mitverzehr vorausgesehen werden kann, wie etwa bei Kunst- und Naturdärmen oder bei Käserinden. c) Die Einschränkung des Lebensmittelbegriffs Eine Einschränkung erfährt der Lebensmittelbegriff durch den zweiten Halbsatz. Danach sind diejenigen Stoffe, die überwiegend dazu bestimmt sind, zu anderen Zwecken als zur Ernährung oder zum Genuß verzehrt zu werden, keine Lebensmittel. Zu den Lebensmitteln gehören demnach nicht: 17 -
Scherzartikel wie Pralinen aus Senf oder Käse aus Kunststoff,
-
Futtermittel, d. h. zur Verfütterung an Tiere bestimmte Stoffe, wobei auch hier die Zweckbestimmung denselben Anforderungen entsprechen muß wie diejenige für Lebensmittel,
-
Arzneimittel i. S. des § 2 Abs.l ArzneimittelG, also Stoffe, die überwiegend zur Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten bestimmt sind. Entscheidend ist, wie beim Lebensmittel, die Zweckbestimmung, nicht die Wirkung; die überwiegende Zweckbestimmung von Arzneimitteln ergibt sich meist aus der äußeren Form, z. B. Tabletten, Tropfen. Stärkungsmittel (Tonika) sind Arzneimittel, wenn sie nicht überwiegend der Ernährung dienen,
14
BayObLG LRE 12, S. 358, 361; HNF § 1 Rdnr. 12.
15
BayObLG LRE 13, S. 111, 112 f.
16
HNF § 1 Rdnr. 14; IMW-Rützler
17
Übersicht nach LMU-Rützler II A Rdnr. 5.
II A Rdnr. 3; Zipfel, LMR, C 100 § 1 Rdnr. 24.
II. Die zentralen Normen des LMBG -
21
kosmetische Mittel, die dazu bestimmt sind, äußerlich an Menschen oder in seiner Mundhöhle zur Reinigung und Pflege verwandt zu werden,
-
Tabakerzeugnisse, auch Kautabak. 2. Der Begriff des Inverkehrbringens
nach § 7 Abs. 1 LMBG
Die tatbestandlichen Handlungen der §§ 51 ff. LMBG sind das Herstellen, das Behandeln und das Inverkehrbringen. Nach § 7 Abs. 1 LMBG ist Herstellen das Gewinnen, Herstellen, Zubereiten, Be- und Verarbeiten. Behandeln ist das Wiegen, Messen, Um- und Abfüllen, Stempeln, Bedrucken, Verpacken, Kühlen, Lagern, Aufbewahren, Befördern sowie jede Tätigkeit, die nicht als Herstellen, Inverkehrbringen oder Verzehren anzusehen ist. 18 Trotz der äußerst bedenklichen (legal-)defmitorischen Weite, die dem Begriff des „Behandeins" gegeben wurde, hat jedoch das „Inverkehrbringen" die größte praktische Bedeutung erlangt. Inverkehrbringen ist: -
Anbieten,
-
Vorrätighalten zum Verkauf oder zu sonstiger Abgabe,
-
Feilhalten,
-
Abgeben an andere. a) Anbieten
„Anbieten ist jede Erklärung der Bereitschaft in irgendeiner - ausdrücklichen oder schlüssigen - Form dritten Personen - auch Einzelpersonen - gegenüber, diesen bestimmte Waren zur freien Verfügung zu übergeben, entgeltlich oder unentgeltlich, gewerbsmäßig, allgemein oder im Einzelfall, sowie jede Form der Anregung zur Anschaffung der Ware." 19 Ein formelles Vertragsangebot i. S. des § 145 BGB ist nicht Voraussetzung. 20 Es genügt schon jede Form der Anregung zum Kauf des Lebensmittels, gleichgültig, ob mündlich oder schriftlich,
18 Ob diese Legaldefinition des Behandeins noch mit Art 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB in Einklang zu bringen ist, ist mehr als fraglich. Dieses Problem muß aber hier dahingestellt bleiben, da eine nähere Erörterung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. 19
Zipfel, LMR, C 100 § 7 Rdnr. 10.
20
BayObLG LRE 14, S. 177.
22
A. Das Lebensmittelrecht
insbesondere durch jede Werbungsart in Zuschriften, Geschäftskorrespondenz, Zeitungen, Bild oder Ton, um den Begriff des Anbietens zu erfüllen. Dabei wird nicht vorausgesetzt, daß die angebotene Ware im Zeitpunkt des Anbietens bereits vorhanden oder verfügbar ist. 21 So bringt auch der Vermittler eines Kaufvertrages ein Lebensmittel in der Form des Anbietens in Verkehr, da hierzu eine rechtliche oder tatsächliche Verfügungsbefugnis über die Ware begrifflich nicht erforderlich ist. 22 Das Vorhandensein der angebotenen Ware im Verfügungsbereich des Anbietenden ist ebenfalls nicht erforderlich, auch ein sogenanntes „Luftangebot" genügt.23 Vollendet ist das Anbieten mit der Wahrnehmung durch den Dritten, auch wenn dieser den Inhalt des Angebots nicht verstanden hat. 24 Anbieten ist u. a. auch das Andienen i. S. des § 67 BörsG, die Erklärung der Lieferbereitschaft. 25 Daß der Anbietende selbst in der Lage oder bereit ist, zu liefern, ist nicht Voraussetzung. Ausreichend ist es, wenn für die Lieferbereitschaft eines Dritten geworben wird. 26 b) Vorrätighalten zum Verkauf Vorrätighalten zum Verkauf ist der Besitz eines Lebensmittels mit der Absicht des Verkaufs. Nicht notwendig ist, daß diese Absicht nach außen durch Art und Ort der Verwahrung oder durch Angebote erkennbar ist. 27 Mittelbarer Besitz, z. B. an zur Verwahrung gegebenen Sachen, reicht aus, wenn die Möglichkeit zur Verfügung besteht.28 Die Sache muß sich weder am Ort des Verkaufs noch in einem verkaufsfertigen Zustand befinden. 29 Jedoch muß der Herstellungsprozeß abgeschlossen sein, d. h., falls in einem Betrieb Kontrollmaßnahmen für eine
21
BayObLG LRE 7, S. 32, 33.
22
KG LRE 11, S. 53, 56 ff.; Zipfel, LMR, C 100 § 7 Rdnr. 10; HNF § 7 Rdnr. 22 a.
23
HNF § 7 Rdnr. 24.
24
Zipfel, LMR, C 100 § 7 Rdnr. 11.
25
HNF § 7 Rdnr. 25.
26
KG LRE 11, S. 53, 57.
27
BayObLGSt 1959, S. 333.
28
BayObLG LRE 12, S. 355, 357; HNF § 7 Rdnr. 28; Zipfel, LMR, C 100 § 7 Rdnr. 13.
29
L G Berlin LRE 17, S. 148, 150: Lagern von Hackfleisch in einer Tiefkühltruhe in einem der Kundschaft nicht zugänglichen Nebenraum des Geschäfts genügt.
II. Die zentralen N o n des LMBG
23
ordnungsgemäße Beschaffenheit, richtiges Gewicht usw. vorgesehen sein sollten, muß die Ware diese bereits durchlaufen haben.30 c) Vorrätighalten zu sonstiger Abgabe Sonstige Abgabe ist im Gegensatz zum Verkauf jede Abgabe auf Grund eines anderen entgeltlichen Rechtsgeschäfts. 31 d) Feilhalten Feilhalten ist jedes äußerlich erkennbare Bereithalten zum Zwecke des Verkaufs an das Publikum. 32 Bereithalten für bestimmte, nicht individuell abgegrenzte Kreise - Großhändler 33 oder auch lediglich an einen Abnehmer, der die Ware an unbestimmte Käufer absetzen will - genügt. Die Lebensmittel müssen dem Publikum so zugänglich gemacht sein, daß dieses ohne weiteres auf die Verkaufsabsicht schließen kann. 34 Das kann sich allein schon aus dem Ort der Aufbewahrung ergeben. Das ist z. B. der Fall, wenn ein Ladengeschäftsinhaber die im Verkaufsraum zum Verkauf bestimmten Waren dem Publikum zugänglich aufstellt, aufhängt oder in Regalen unterbringt. 35 Das Feilhalten kann nicht nur im Aufbewahren in Verkaufsräumen, Schaukästen und Glasvitrinen gesehen werden, sondern auch im Lagern an weniger zugänglichen Aufbewahrungsorten, z. B. im Lager, wenn die Verkaufsabsicht äußerlich hervortritt und für den Käufer erkennbar ist, so durch Auslegen von Preisverzeichnissen im Verkaufsraum oder durch Zusenden von Prospekten, durch Auflegen von Speisekarten, durch Inserate oder mündliche Angebote. 36
30 K G LRE 8, S. 363, 368; BayObLG LRE 12, S. 358, 362; Zipfel, Rdnr. 13; HNF § 7 Rdnr. 28 f. 31
Zipfel, LMR, C 100 § 7 Rdnr. 14.
32
RGSt 4, S. 274, 275; BGHSt 23, S. 286, 288.
33
RGSt 25, S. 241, 242 f.; OLG Hamburg LRE 1, S. 206, 209.
LMR, C 100 § 7
34
BGH LRE 6, S. 338, 340; OLG Braunschweig LRE 4, S. 161, 162; OLG Celle LRE 5, S. 289, 290. 35 36
RGSt 40, S. 148, 150; BGH LRE 6, S. 338, 343.
BGHSt 12, S. 54, 55; OLG Köln LRE 2, S. 141, 142 und LRE 6, S. 58; OLG Düsseldorf LRE 14, S. 341; BayObLG LRE 3, S. 17,18 und LRE 8, S. 336, 338; HNF § 7 Rdnr. 31 u. 33; Zipfel, LMR, C 100 § 7 Rdnr. 15.
24
A. Das Lebensmittelrecht
Der Gegenstand des Feilhaltens muß körperlich vorhanden sein, auch wenn er noch einer gewissen Zubereitung bedarf, z. B. Erwärmen von Würstchen oder Mischen von Fleischteilen für die Hackfleischzubereitung. 37 Für die innere Tatseite des Feilhaltens haben Rechtsprechung und Literatur Beweisregeln aufgestellt: Zur Bejahung der inneren Tatseite soll es genügen, wenn der Täter die Ware so aufstellt oder deren Aufstellung durch andere in einer solchen Weise veranlaßt oder zuläßt, daß, wie er weiß, bei unbefangener Beurteilung auf eine Verkaufsabsicht geschlossen werden kann. 38 Die Verkaufsabsicht muß grundsätzlich gegeben sein. Das äußerlich erkennbare Zugänglichmachen soll regelmäßig zugleich ein Indiz für diese Absicht sein. Die Ernsthaftigkeit eines mangelnden Verkaufswillens könne nur bei einem nach außen hervortretenden aktiven Eingreifen anerkannt werden. Lasse der Geschäftsinhaber auch nur fahrlässig geschehen, daß Lebensmittel, die in einer äußerlich auf Verkaufsabsicht hindeutenden Weise abgestellt seien, verkauft werden können, könne er sich nicht auf mangelnde Verkaufsabsicht berufen. 39 e) Abgeben an andere Abgeben ist jedes körperliche Überlassen eines Lebensmittels an andere zur eigenen Verfügungsgewalt, gleich ob entgeltlich oder unentgeltlich. Es genügt die Verursachung des Wechsels der tatsächlichen Verfügungsgewalt. 40 Auch dieser Begriff wird weit gefaßt. 41 Eine Beschränkung auf den gewerblichen oder öffentlichen Verkehr trifft das Gesetz ebensowenig, wie eine Unterscheidung, ob die Abgabe an andere zur Weiterveräußerung oder zum Selbstverbrauch erfolgt. 42 Der Begriff der Abgabe i. S. des § 7 LMBG erfaßt auch die private Sphäre einschließlich des Haushalts. Auch das Überlassen an Familienmitglieder, Hausangestellte und Hausgäste ist eine Abgabe an andere. 43 Da es nicht auf ein entgeltliches Überlassen ankommt, ist ein Inverkehrbringen auch das Liefern einer
37
Zipfel LMR, C 100 § 7 Rdnr. 18.
38
BGH LRE 6, S. 338, 340; OLG Hamm LRE 2, S. 214.
39
Zipfel LMR, C 100 § 7 Rdnr. 17; wohl nicht haltbar, da nach einhelliger Ansicht „Feilhalten" das Bereitstellen zum Zwecke des Verkaufs ist. Eine fahrlässige Zweckerreichung ist aber schon begrifflich ausgeschlossen. 40
BGH LRE 6, S. 81, 85.
41
Zipfel LMR, C 100 § 7 Rdnr. 21; HNF § 7 Rdnr. 50.
42
OLG Koblenz LRE 11, S. 208, 209.
43
RGSt 7, S. 151, 153; KG LRE 1, S. 361 und LRE 2, S. 272, 274; HNF § 7 Rdnr. 48.
II. Die zentralen Normen des LMBG
25
Ware im Auftrag und für Rechnung eines anderen, ebenso die Abgabe von der Fabrik an die Kleinverkaufsfilialen, weil hierdurch die Lebensmittel dem Verbraucher näher gebracht werden. 44 Ein eigenhändiges Handeln des Verfügungsberechtigten ist nicht erforderlich; eine mittelbare Verursachung des Wechsels der tatsächlichen Verfügungsgewalt reicht aus.45 3. Verbote zum Schutz der Gesundheit, § 8 LMBG Absolut, d. h. ausnahmslos, verboten ist es, Lebensmittel für andere derart herzustellen oder zu behandeln, daß ihr Verzehr geeignet ist, die Gesundheit zu schädigen, oder solche Stoffe in Verkehr zu bringen, § 8 LMBG. a) Schädigen Der Begriff der Gesundheitsschädigung im Lebensmittelrecht entspricht dem der Gesundheitsbeschädigung des § 223 StGB. Der Begriff „Schädigen" umfaßt Beschädigen und Zerstören. Gesundheitsschädigung ist nicht nur Krankheit im medizinischen Sinne, sondern auch jedes Hervorrufen einer vorübergehenden, jedoch nicht nur ganz geringfügigen Beeinträchtigung der Gesundheit, wie z. B. starker Durchfall und länger andauernder Brechreiz 46 oder Übelkeit und Ohnmachtsanfälle 47. Gesundheitsschaden ist auch eine nicht nur ganz vorübergehende Störung des Nervensystems, der normalen geistigen und seelischen Funktionen, da sie auch das körperliche Wohlbefinden beeinträchtigen können. 48 Das Hervorrufen von Widerwillen oder Abscheu genügt aber noch nicht 49 , hier ist Verzehrungeeignetheit i. S. des § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG anzunehmen50; erst wenn
44
HNF § 7 Rdnr. 48; BayObLG LRE 2, S. 58, 60 (wohl zweifelhaft); aA RGSt 14, S. 35, 36, BGH LRE 1, S. 82, 83: Ein Abgeben im Auftrag und für Rechnung eines anderen reicht nicht aus. Der Bote und der Besitzdiener, z. B. der ausfahrende Kraftfahrer, ist in der Regel nicht Täter einer verbotswidrigen Abgabe, weil er nicht verfügungsberechtigt ist, sondern bis zur Anlieferung den Weisungen des Versenders Folge zu leisten hat. In diesen Fällen gibt der Auftraggeber ab. 45
Zipfel, LMR, C 100 § 7 Rdnr. 23.
46
RGSt 20, S. 254 f.
47
RGSt 53, S. 210, 211.
48
RGSt 64, S. 113, 119.
49
RGSt 73, S. 83, 85 f.
50
OLG Köln LRE 10, S. 210, 212.
A. Das Lebensmittelrecht
26
sich aus der Wirkung des Ekels eine lästige körperliche Folgeerscheinung, wie z. B. Brechreiz, ergibt, liegt eine Gesundheitsbeschädigung vor. 51 b) Eignung zur Gesundheitsschädigung Die Eignung zur Schädigung der Gesundheit genügt. Eine tatsächliche Schädigung braucht nicht eingetreten zu sein. Die Eignung muß aber tatsächlich und konkret bestehen, d. h. der Gegenstand muß bestimmte feststellbare Eigenschaften aufweisen, aus denen sich die Möglichkeit der Gesundheitsbeschädigung ergibt, keinesfalls aber notwendig ergeben muß. Es kommt nicht darauf an, ob die Gefahr mehr oder weniger groß ist, lediglich eine außerhalb aller Erfahrung liegende, ganz entfernte Möglichkeit hat außer Betracht zu bleiben. 52 So bejahte der BGH 5 3 die Eignung zur Gesundheitsschädigung bei Fleisch von tuberkulösen Tieren, das roh genossen die menschliche Gesundheit schädigen kann. Rohgenuß von bestimmten Fleischsorten ist nicht ausgeschlossen, z. B. bei Hackfleisch. Anders verhält es sich aber z. B. bei tuberkulösen, eitrigen Lungen, deren Rohverzehr ausgeschlossen ist, und die TB-Bazillen bei einem späteren Abkochen auch völlig abgetötet werden. 54 Beachtlich für die Eignung ist die mögliche Wirkung die bei dem Personenkreis eintreten kann, für den ein Lebensmittel jeweils bestimmt ist.55 Das ist in der Regel der normale, nicht überempfindliche und gesunde Mensch. Dazu rechnen jedoch auch Kinder und Kleinkinder, sofern das Lebensmittel auch für sie bestimmt ist. Das trifft z. B. zu für Speisen, die gemeinsam im Familienkreis verzehrt werden. Daher sind Speisen, die unter Verwendung von stark nitrathaltigem Wasser hergestellt werden, die nur bei Kleinkindern, nicht aber bei Erwachsenen eine gesundheitlich beachtliche Methämoglobinbildung hervorrufen und damit zu
51
RGSt 20, S. 254, 255 f.; 74, S. 26, 28.
52
RGSt 11, S. 375, 376; Zipfel LMR C 100 § 8 RdNr.6; Enger RGSt 74, S. 26, 28; OLG Hamm LRE 2, S. 135,136; OLG Koblenz LRE 5, S. 135, 136: Die bloße Möglichkeit, daß der Genuß zur Schädigung fuhren kann, erfüllt nicht den Begriff des Geeignetseins. So auch Rspr. und Lit. zu § 229 StGB: Bei der Geeignetheit, die Gesundheit zu zerstören, ist nicht auf die abstrakte Möglichkeit, sondern auf die besonderen Umstände des Einzelfalles im Hinblick auf Quantität und Qualität des beigebrachten Stoffes, der körperlichen Beschaffenheit des Opfers sowie auf die Art der Anwendung abzustellen. (Sch-Sch Stree § 229 Rdnr. 4; SK-Horn § 229 Rdnr. 3; LK-Hirsch § 229 Rdnr. 8 jeweils m.w.N.). 53
LRE 1, S. 27.
54
Zipfel LMR, C 100 § 8 Rdnr. 7 a.
55
BGH LRE 4, S. 21, 25.
II. Die zentralen Normen des LMBG
27
Gesundheitsschädigungen führen können, i. S. des § 8 LMBG geeignet, die Gesundheit zu schädigen.56 Auch Milch ist dazu bestimmt, von Kleinkindern, Kindern und Erwachsenen getrunken zu werden. Eine Verunreinigung der Milch mit Colibakterien, deren Genuß Erwachsene schadlos überstehen, die aber bei Kindern und insbesondere Kleinkindern zu schweren Darmerkrankungen führen kann, läßt die Milch zur Gesundheitsschädigung geeignet sein.57 Anders verhält es sich bei Alkohol und Kaffee, die nicht zum Verzehr von Kindern bestimmt sind. 58 Sind Lebensmittel speziell für Kranke oder Schwächliche bestimmt, so muß deren körperlicher Zustand als Maßstab an die Eignung zur Gesundheitsschädigung angelegt werden. So weist z. B. ein an sich einwandfrei gezuckertes Kompott, das als Diabetikerkompott abgegeben wird, diese Eignung auf. 59 c) Der maßgebliche Zeitpunkt Der maßgebliche Zeitpunkt, in dem die Eignung zur Gesundheitsschädigung vorliegen muß, ist der Augenblick des Herstellens, des Behandeins oder des Inverkehrbringens, d. h. die gefährlichen Eigenschaften müssen durch die Herstellungstätigkeit oder die Behandlungsmethode hervorgerufen werden (Nr. 1) oder im Zeitpunkt des Inverkehrbringens vorhanden sein (Nr. 2), so daß eine Gesundheitsschädigung bei späterem Verzehr eintreten kann. Darunter fällt nicht nur der alsbaldige Verzehr, sondern auch ein wesentlich späterer, wenn er innerhalb des bestimmungsgemäßen oder vorauszusehenden Verbrauchszeitraums liegt. 60 Eine Konserve, die sich beim Verkauf schon im Zustand - geringfügiger innerer Zersetzung befindet, ist zur Gesundheitsschädigung geeignet, wenn auch der alsbaldige Genuß noch ungefährlich ist, die fortschreitende Zersetzung jedoch den späteren Verzehr gefährlich machen kann. 61
56
Zipfel, LMR, C 100 § 8 Rdnr. 8.
57
BGH LRE 4, S. 21, 25.
58
Zipfel, LMR, C 100 § 8 Rdnr. 8.
59
Zipfel, LMR, C 100 § 8 Rdnr. 9.
60
Zipfel, LMR, C 100 § 8 Rdnr. 10.
61
RGSt 44, S. 94, 96; KG LRE 1, S. 258, 259.
28
A. Das Lebensmittelrecht d) Kenntlichmachung
Die Kenntnis des Käufers von der Möglichkeit einer Gesundheitsschädigung oder auch die Wahrnehmbarkeit einer solchen schließt § 8 LMBG nicht aus. Die Kenntlichmachung der Gesundheitsschädlichkeit hat im Rahmen des § 8 LMBG keine Bedeutung, solange der Gegenstand als Lebensmittel abgegeben wird. 6 2 e) Verzehr Nur der normale, nicht der übermäßige Genuß unterliegt dem Anwendungsbereich des § 8 LMBG. Gesundheitsschäden, die nur auf einen übermäßigen Gebrauch zurückgehen, werden nicht erfaßt. 63 Erfaßt von § 8 LMBG wird aber die Möglichkeit einer gesundheitsschädlichen Wirkung bei einem fortgesetzten bestimmungsgemäßen Gebrauch in üblichen Mengen, z. B. von Apfelwein, dem fiiselhaltiger Spiritus beigemischt ist 64 , oder von Krabben mit einem Borsäurezusatz von etwa 0,75 % 6 5 . 4. Verbote zum Schutz vor Täuschung, §17 LMBG Im Gegensatz zu § 8 LMBG, mit dem der Gesetzgeber den Schutz des Verbrauchers vor Gesundheitsschäden verfolgt, schützt § 17 LMBG in erster Linie das Vermögen des Verbrauchers. Die Norm will sicherstellen, daß dem Verbraucher keine verzehrungeeigneten oder im Nähr-, Genuß- oder Gebrauchswert geminderten Lebensmittel geliefert werden. Der Schutz vor Täuschung des Verbrauchers erfaßt auch den vor irreführenden Angaben, insbesondere über die Beschaffenheit, die Qualität, die Quantität und Herkunft sowie über physiologische Wirkungen eines Lebensmittels. § 17 LMBG will dem Verbraucher die Lieferung eines vollwertigen Lebensmittels sichern und einen nicht durch irreführende Werbung beeinflußten Erwerb gewährleisten. Nicht erforderlich ist, daß ein Verbraucher tatsächlich über die Beschaffenheit oder Qualität des Lebensmittels oder den Aussagewert einer Bezeichnung getäuscht wird. Ferner
62
RGSt 11, S. 375, 376 f.
63
Zipfel, LMR, C 100 § 8 Rdnr. 14.
64
RGSt 2, S. 177, 178 f.
65
RG GA 60, S. 267, 268.
II. Die zentralen Normen des LMBG
29
kommt es nicht darauf an, ob der Verbraucher die wertmindernden Umstände kennt. 66 a) Verzehrungeeignetheit, § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG Zwischen § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG und § 8 LMBG bestehen strukturelle Parallelen. § 17 LMBG bezieht sich nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie seiner Entstehungsgeschichte jedoch nicht auf die den Verboten des § 8 LMBG aus gesundheitlichen Gründen unterliegenden Lebensmittel. Vielmehr soll § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG Lebensmittel erfassen, die sich wegen des hohen Grades ihrer Verdorbenheit nicht mehr zum Verzehr durch Menschen eignen. § 8 LMBG ist stets Spezialtatbestand gegenüber § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG. 6 7 aa) Genußuntauglichkeit aufgrund stofflicher tigungen
Veränderungen
oder Beeinträch-
Zum Verzehr nicht geeignet sind Lebensmittel, die bei ihrer Gewinnung, Herstellung oder späteren Behandlung durch natürliche oder willkürliche Einflüsse derart nachteilige Veränderungen ihrer äußeren Beschaffenheit, ihres Aussehens, ihres Geruchs oder Geschmacks erleiden, daß ihr Verzehr nach allgemeiner Verkehrsauffassung ausgeschlossen ist. 68 Dies entspricht der Verdorbenheit i. S. des üblichen Sprachgebrauchs. Als verdorben werden z. B. angesehen: stark verschimmelte Lebensmittel, „kratzende, beißende" Sahne69, auf dem Transport verendete Süßwasserfische, Wurst mit „dumpfig-fauligem" und Speck mit „stechend tranig-ranzigem" Geschmack70, Würstchen mit „stark metallischem" Geruch und Geschmack, deren Lake einen unappetitlichen und ekelerregenden Anblick in der Dose bietet 71 , in Gärung übergegangenes Obst oder faule stinkende Eier, die mit Schimmelpilzen befallen sind 72 .
66
Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 22.
67
HNF § 17 Rdnr. 25.
68
Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 27.
69
OLG Hamm LRE 6, S. 123, 124.
70
OLG Koblenz LRE 10, S. 137, 138.
71
OLG Schleswig LRE 9, S. 217, 218.
72
K G LRE 10, S. 375, 378; weitere Beispiele bei HNF § 17 Rdnr. 27.
30
A. Das Lebensmittelrecht
bb) Erkennbar ekelerregende Beschaffenheit Weiterhin sind solche Lebensmittel zum Verzehr nicht geeignet, die geeignet sind, infolge stofflicher Veränderung 73 oder äußerer - erkennbarer - Verschmutzung beim Verbraucher Widerwillen oder Ekelgefühle hervorzurufen, so daß sich der Verzehr nach allgemeiner Auffassung oder dem allgemeinen Empfinden eines durchschnittlichen Verbrauchers verbietet. 74 Dies wurde z. B. bei Fadenwürmern im Känguruhfleisch, Hähnchen mit einem Belag von Fliegenlarven 75, Schokolade, die von lebenden Käfern und Maden befallen ist 76 , Spirituosen in Flaschen mit toten Fliegen und Schmutzpartikelchen77 bejaht. Wie auch bei § 8 L M B G hindert die Erkennbarkeit der stofflichen Veränderung oder der Verschmutzung, ebenso wie der Hinweis auf den die Ungeeignetheit begründenden Umstand, die Anwendbarkeit des § 17 Abs. 1 nicht 78 , da der Verbraucher sich darauf verläßt, daß die ihm angebotenen Lebensmittel zum Verzehr geeignet und nicht wesentlich in ihrem Nähr- und Genußwert und ihrer Brauchbarkeit beeinträchtigt sind 79 . cc) Nicht erkennbare ekelerregende Beeinträchtigungen § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG sieht ein allgemeines Verkehrsverbot für bestimmte Lebensmittel vor, die der Verbraucher nicht im Handel erwartet und die er bei Kenntnis aller Besonderheiten dieser Erzeugnisse - im Vergleich mit normalen Lebensmitteln - auch nicht kaufen würde. 80 Dabei handelt es sich um Lebensmittel, die den Verbraucher mit Ekel und Widerwillen erfüllen würden, würde er von bestimmten Herstellungs- oder Behandlungsarten Kenntnis haben. Darunter fallen etwa Butter, die von Ratten angefressen und nach Beseitigung der Freßspuren im Handel angeboten wird, Speisen, die in einer vollkommen verdreckten Küche zubereitet werden, oder etwa Lebensmittel, die in einem mit
73
Vgl. in diesem Abschnitt aa).
74
Zipfel L M R C 100 § 17 Rdnr. 39; dagegen: HNF § 17 Rdnr. 26 a, die nicht allein auf die subjektive Empfindung des Verbrauchers, sondern auf die objektiven Umstände abstellen wollen, im übrigen aber zu gleichen Ergebnissen kommen. 75
LG Frankfurt LRE 6, S. 213, 214.
76
OLG Düsseldorf ZLR 76, S. 448.
77
K G LRE 11, S. 48, 50.
78
BGHSt 29, S. 220, 224; OLG Koblenz LRE 12, S. 47, 50; Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 29. 79
HNF § 17 Rdnr. 32.
80
Amtl. Begründung, BT-Drucksache 7/255.
II. Die zentralen Normen des LMBG
31
Mäusekot verschmutzten Lagerraum offen aufbewahrt werden. 81 Werden in einem mit Mäusekot verschmutzten Lagerraum Lebensmittel offen aufbewahrt, so sind diese nicht mehr zum Verzehr geeignet, gleich ob die Mäuse nachweisbar mit dem Lebensmittel unmittelbaren Kontakt hatten oder nicht und ob Mäusekot auf oder neben den Lebensmitteln gelegen hat. Denn schon der Gedanke allein, daß eine unmittelbare Berührung der Lebensmittel durch Mäuse stattgefunden haben könnte, ruft Ekelgefühle hervor. 82 A u f eine tatsächliche Kenntnis des Verbrauchers kommt es nicht an, da § 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG das subjektive Empfinden des Normalverbrauchers, das sich bei Kenntnis in Gefühlen wie Ekel oder Widerwillen äußern würde, schützt. Allerdings muß ein objektiver Anknüpfungspunkt für - potentielle - Ekelempfindungen gegeben sein.83 b) Nachgemachte Lebensmittel, § 17 Abs. 1 Nr. 2 a LMBG Nachmachen eines Lebensmittels bedeutet die Herstellung - im weitesten Sinn eines für den menschlichen Genuß bestimmten Erzeugnisses mit dem Erfolg, daß es ein Lebensmittel zu sein scheint, von dem es in Wirklichkeit jedoch in mindestens einer wesentlichen Beziehung abweicht, weil es entweder völlig oder doch wesentlich aus anderen oder andersartigen Stoffen besteht. Das nachgemachte Erzeugnis muß dem echten im Erscheinungsbild so ähnlich sein, daß es mit dem echten Erzeugnis im Verkehr verwechselt werden kann. 84 Maßgeblicher Beurteilungsmaßstab ist die Verkehrsauffassung. Verwechselbarkeit setzt jedoch nicht unbedingt das Vorliegen aller sinnlich wahrnehmbaren Unterscheidungsmerkmale (Aussehen, Form, Farbe, Geruch, Geschmack) voraus. Geruch und Geschmack sind in der Regel für den Verbraucher beim Kauf nicht überprüfbar. 85 Die Gesamtwirkung in Form, Farbe und Aussehen kann schon eine Verwechselbarkeit begründen. Völlige Gleichartigkeit der äußeren Erscheinung ist jedoch nicht erforderlich. 86
81
Diese und weitere Beispiele bei LMH-Rützler I I A Rdnr. 28.
82
BayObLG 8 St 67/70; zit. nach Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 30.
83
K G LRE 8, S. 146, 147; Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 30.
84
HNF § 17 Rdnr. 45; Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr.51; RGSt 41, S. 205, 207.
85
BayObLGSt 8, S. 362, 365 und 12, S. 198, 202.
86
RG GA 61, S. 332, 333.
32
A. Das Lebensmittelrecht
Zum Begriff des „Nachmachens" gehört nicht, daß das hergestellte Erzeugnis im Vergleich zu dem echten Lebensmittel geringwertig ist. 87 Unwesentlich ist die Verpackung, Aufschrift und die sonstige Aufmachung, die ohne Einwirkung auf Stoff und Beschaffenheit des Lebensmittels bleiben. Abzustellen ist allein auf die Substanz des Lebensmittels. Auch verlangt der Begriff nicht, daß ein bestimmtes, bereits im Handel befindliches Produkt vorgetäuscht wird. Es genügt, wenn ein wenigstens der Gattung nach feststehendes und daher bekannt erscheinendes Lebensmittel nachgeahmt wird. 88 c) Wertgeminderte Lebensmittel, § 17 Abs. 1 Nr. 2 b LMBG Die Voraussetzungen für die Verbotsnorm des § 17 Abs. 1 Nr. 2 b LMBG sind, daß das Lebensmittel hinsichtlich seiner Beschaffenheit von der Verkehrsauffassung abweicht und die Abweichung zu einer nicht nur unerheblichen Minderung des Wertes, insbesondere des Nähr- oder Genußwertes oder der Brauchbarkeit führt. aa) Verkehrsauffassung Für die Verkehrsauffassung maßgebend ist die Vorstellung der am Verkehr mit Lebensmitteln beteiligten Kreise, z. B. Hersteller, Händler und Verbraucher. 89 Insbesondere ist dabei auf die Auffassung der Verbraucher abzustellen.90 Sinn und Zweck des § 17 LMBG ist der Schutz vor Täuschung. Sollen die Verbraucher vor Täuschung geschützt werden, müssen ihre Vorstellungen über die Sollbeschaffenheit eines Lebensmittels ermittelt werden. 91 Das Vorstellungsbild der Verbraucher bildet die maßgebliche Norm. 92 Diese Vorstellungen nennt man Verbrauchererwartung. Richtschnur des Lebensmittelrechts ist eine Verkehrsauffassung, die die Verbrauchererwartung mit einschließt und ihr gerecht wird, auch wenn sie sich im Einzelfall von der Verkehrsauffassung der Lebensmittelwirtschaft und von
87
HNF § 17 Rdnr. 246 m.w.N.
88
HNF § 17 Rdnr. 49; Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 60; RG GA 65, S. 554, 555.
89
LMH-Rützler I I A Rdnr. 34.
90
RGSt 63, S. 60, 62.
91
OLG Koblenz LRE 11, S. 135, 137.
92
BGH LRE 1, S. 28 LS. 3
II. Die zentralen Normen des LMBG
33
Handelsbräuchen unterscheidet. 93 Die Begriffe allgemeine Verkehrsauffassung und berechtigte Verbrauchererwartung sind daher deckungsgleich.94 Im allgemeinen sind aber bei Verbrauchern keine konkreten Vorstellungen über die Beschaffenheit eines Lebensmittels vorhanden. In solchen Fällen bestehe die Erwartung in dem Vertrauen darauf, daß das Lebensmittel gesundheitlich unbedenklich sei und eine bekömmliche Beschaffenheit aufweise. Der Verbraucher verlasse sich darauf, daß das Lebensmittel den gesetzlichen Anforderungen oder den allgemein üblichen und in Fachkreisen anerkannten Anschauungen entspreche, auch wenn er diese nicht in allen Einzelheiten kenne oder sich sogar dessen bewußt sei, keine gesicherte Kenntnis von der Beschaffenheit eines Lebensmittels zu haben. In diesen Fällen erwarte der Verbraucher, daß die Ware so hergestellt sei, wie die damit befaßten Fachkreise und Stellen es für die Verwendung der fraglichen Bezeichnung als richtig befunden haben. Eine Verbrauchererwartung sei nicht allein deshalb schutzunwürdig und für die rechtliche Beurteilung unerheblich, weil sie subjektiv unsicher sei.95 bb) Wertminderung Zusätzlich zu der Abweichung von der Verkehrsauffassung muß eine nicht unerhebliche Wertminderung gegeben sein. Regelmäßig soll jedes Abweichen von der Sollbeschaffenheit eines Lebensmittels, d. h. von der verkehrsüblichen Zusammensetzung, eine nicht unerhebliche Wertminderung darstellen. 96 Der Begriff „nicht unerheblich" soll im Lebensmittelrecht nicht bedeuten, daß die Wertminderung erheblich sein oder zumindest ins Gewicht fallen muß, da er nur Umschreibung dafür sei, daß es sich nicht lediglich um eine für den Verbraucher unbedeutsame, ihn nicht interessierende Abweichung i. S. einer geringfügigen Wertminderung, insbesondere hinsichtlich
93
Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 74.
94
OLG Koblenz LRE 11, S. 135, 137; Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 74, HNF § 17 Rdnr. 233. 95
BGH LRE 5, S. 99, 105; KG LRE 4, S. 311, 314; Eckert, S. 161.
96
BayObLG LRE 12, S. 184, 185; KG LRE 10, S. 56, 57; LMH-Rützler I I A Rdnr. 35; zutreffender aA Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 127 b: Diese Ansicht ist mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht vereinbar, der nicht schon in jedem Abweichen eine i. S. der Nr. 2 b beachtliche Wertminderung sieht, sondern zusätzlich eine nicht unerhebliche Wertminderung voraussetzt.
3 Brinkmann
34
A. Das Lebensmittelrecht
der Brauchbarkeit handelte. Nur wirklich unerhebliche Minderungen des Wertes oder der Brauchbarkeit blieben außer Betracht. 97 d) Scheinbare Verbesserung, § 17 Abs. 1 Nr. 2 c LMBG § 17 Abs. 1 Nr. 2 c LMBG verbietet, Lebensmittel in Verkehr zu bringen, die geeignet sind, den Anschein einer besseren als der tatsächlichen Beschaffenheit zu erwecken. Von Nr. 2 c werden nur Lebensmittel erfaßt, die nicht bereits unter Nr. 1, Nr. 2 a oder b fallen. Lebensmittel, die schon in ihrem Wert oder in ihrer Brauchbarkeit gemindert sind, bleiben es auch, wenn ihnen zusätzlich der Anschein einer besseren Beschaffenheit, etwa durch Färben gegeben wird. Unter Nr. 2 c fallen normale Lebensmittel, die weder in ihrem Wert noch in ihrer Brauchbarkeit gemindert sind, denen aber der Anschein einer höheren Qualität, als ihnen üblicherweise zukommt, gegeben wird. 98 e) Ausreichende Kennzeichnung i. S. des § 17 Abs. 1 Nr. 2 LMBG Wertgeminderte Lebensmittel sind grundsätzlich verkehrsfähig, der Anbieter muß jedoch auf den Mangel hinweisen. Ausreichend ist die Kennzeichnung dann, wenn jegliche Täuschung, auch die bloße Möglichkeit einer Täuschung über die von der Verkehrsauffassung abweichende Beschaffenheit absolut ausgeschlossen ist. 99 Die als Abnehmer in Betracht kommenden Kreise müssen aus der Kennzeichnung deutlich entnehmen können, daß, nach welcher Richtung und in welchem Umfang die Ware von dem echten bzw. vollwertigen Lebensmittel abweicht. 100 Zusätze wie „2. Qualität" oder „2. Wahl" sind nicht ausreichend, weil sie über den eigentlichen Mangel nichts aussagen.101 Bei Qualitätserzeugnissen scheidet jede Kenntlichmachung einer Wertminderung aus, da aufklärende Zusätze beim Kunden zu Mißverständnissen führen würden. Mißverständlich wird ein Zusatz, wenn dadurch die Kennzeichnung der Ware widersprüchlich wird. Bei einem
97
Eckert, S. 159; HNF § 17 Rdnr. 75 a; Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 125.
98
Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 138; Beispiel nach OLG Düsseldorf LRE 16, S. 337: Leberwurst mittlerer Qualität wird mit aufwendiger Aufmachung im goldfarbenen Kunstdarm vertrieben. 99
BayObLG LRE 9, S. 188, 190.
100
HNF § 17 Rdnr. 371.
101
LMH-Rützler I I A Rdnr. 39.
II. Die zentralen Normen des LMBG
35
Qualitätserzeugnis (Steak, Schnitzel, Kasseler) ist ein Hinweis auf eine qualitätsmindernde Eigenschaft daher ausgeschlossen.102 f) Verbot der Irreführung, § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG Es ist verboten, Lebensmittel unter irreführender Bezeichnung, Angabe oder Aufmachung gewerbsmäßig in den Verkehr zu bringen oder für Lebensmittel allgemein oder im Einzelfall mit irreführenden Darstellungen oder sonstigen Aussagen zu werben. Eng verwandt mit § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG sind die §§ 3 und 4 UWG. 1 0 3 § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG will die Lebensmittel verbrauchende Volksgesamtheit vor wirtschaftlichen Schäden schützen. Die Verbote wirkten sich aber zugleich als Schutz des redlichen Herstellers und Händlers gegenüber „gewissenlosem" Wettbewerb aus. 104 Während sich § 3 UWG - abgesehen von der Bedingung des Wettbewerbs und den Rechtsfolgen - in der Sache weitgehend mit § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG deckt, setzt die Strafbestimmung des § 4 UWG wissentlich unwahre und zur Irreführung geeignete Angaben voraus. Der Begriff „Angabe" wird im UWG weit ausgelegt, so daß auch die Angaben und Aufmachungen i. S. des LMBG darunter fallen. Auch für die Frage, ob eine Bezeichnung als irreführend anzusehen ist, entscheidet sowohl im UWG als auch im LMBG der gleiche Beurteilungsmaßstab, nämlich die Verkehrsauffassung, d. h. die Beurteilung derjenigen Kreise, an die sich die Bezeichnung wendet, die also als Käufer der so bezeichneten Ware in Betracht kommen. 105 Das Irreführungsverbot befaßt sich mit der äußeren Aufmachung der Lebensmittel. Die Vorschrift setzt eine Wertminderung hinsichtlich der Beschaffenheit des Lebensmittels nicht voraus und erfaßt alle Lebensmittel, auch wenn sie zugleich zum Verzehr nicht geeignet (Nr. 1), nachgemacht (Nr. 2 a), wertgemindert (Nr. 2 b) oder scheinbar verbessert (Nr. 2 c) sind. 106
102
K G LRE 13, S. 219; LMU-Rützler I I A Rdnr. 40.
103
Näher zu dem Verhältnis von § 17 Abs.l Nr. 5 L M B G zu den §§ 3, 4 UWG: Klammroth, S. 467 ff.
*
104
HNF § 17 Rdnr. 450.
105
Klammroth, S. 476; HNF § 17 Rdnr. 451 f.
106
LMH-Rützler I I A Rdnr. 44; Zipfel, LMR, C 100 Rdnr. 210.
36
A. Das Lebensmittelrecht
Es werden in diesem Zusammenhang folgende Begriffe verwandt: 107 Bezeichnung:
Name, Verkehrsbezeichnung
Angabe:
Erklärung über Herkunft, Gewicht, Menge, Haltbarkeit, Qualität
Darstellung:
Werbung in den Medien
Aussagen:
Oberbegriff für Werbung jeder Art
„Irreführend" ist gleichbedeutend mit „zur Täuschung geeignet". Es genügt die bloße Eignung zur Täuschung; ein tatsächlicher Irrtum oder gar eine Schädigung werden nicht vorausgesetzt.108 Soweit keine gesetzlichen Regelungen bestehen, ist jede Bezeichnung irreführend, die bei einer Auslegung nach der Verkehrsauffassung geeignet ist, bei dem in Frage kommenden Abnehmerkreis eine falsche Vorstellung über die tatsächlichen Verhältnisse hervorzurufen. 109 Bei Lebensmitteln, die dem Verbraucher bekannt sind, kommt es vor allem auf die Verkehrsbezeichnung an. Der Kunde wird die auf der Ware in Wort und Bild dargestellten Angaben in der Regel nur flüchtig lesen und oberflächlich prüfen. Er verläßt sich darauf, ein Lebensmittel der üblichen, allgemein anerkannten und erwarteten Beschaffenheit zu erhalten. Er sieht von einer eigenen Beurteilung ab und erwartet, daß die Ware so hergestellt ist, wie es die damit befaßten Fachkreise und Stellen als richtig befunden haben. Nur eine verschwindend kleine Gruppe von Verbrauchern wird die Aufmachung der Ware minutiös begutachten und das Etikett analysieren. 110 Als irreführend hat die Rechtsprechung z. B. angesehen: -
Fischerschnitzel als Bezeichnung für einen Fleischklops aus zerkleinertem Fischfleisch, der Verbraucher erwartet eine Scheibe Fischfleisch. 111
-
Hähnchenschnitzel mit dem Zusatz „geformt, aus zarten Fleischteilen zusammengefügt", die Bezeichnung ist mißverständlich und damit irreführend, denn der Verbraucher erwartet bei „Schnitzel" ein zusammenhängendes Fleischstück.112
107
Nach LMH-Rützler I I A Rdnr. 44.
108
BGH LRE 1, S. 23.
109
RGSt 52, S. 259, 260; 68, S. 247, 248; BGH LRE 1, S. 23, 24; Zipfel, LMR, C 100 § 17 Rdnr. 217. 110
OLG Koblenz LRE 10, S. 199, 202; L M H -Rützler II A Rdnr. 45.
111
LG Berlin LRE 12, S. 130, LS 1.
112
LG Kassel LRE 14, S. 328, LS.
II. Die zentralen Normen des LMBG
37
Unter Abs. 1 Nr. 5 fallen auch unzutreffende Herkunftsangaben. Sie können zur Täuschung des Verbrauchers fuhren, wenn dieser mit der Bezeichnung gewisse Wertvorstellungen verbindet. Auch Qualitätsangaben müssen der Wahrheit entsprechen. Verboten nach Nr. 5 ist ferner die Hervorhebung selbstverständlicher Eigenschaften eines Lebensmittels, die ohnehin gesetzlich vorgeschrieben sind. Unter Nr. 5 fallen insbesondere falsche oder ungenaue Angaben über Menge und Gewicht.
B. Das Fahrlässigkeitsdelikt im Lebensmittelrecht Die Weite der Tatbestände des Lebensmittelrechts und ihre Auslegung, die stellenweise die Grenze des möglichen Wortsinns weit hinter sich läßt1, korrespondiert mit der lebensmittelstrafrechtlichen Fahrlässigkeitsdogmatik. Die Fahrlässigkeit im Lebensmittelrecht hat in ihrer Behandlung durch die stark kasuistisch ausgerichtete Rechtsprechung der Obergerichte und die Literatur eine eigene Ausprägung erfahren, die, vorsichtig ausgedrückt, nur noch wenig Berührungspunkte mit der Fahrlässigkeitsdogmatik des Kernstrafrechts aufweist. Exemplarisch dafür sollen drei Zitate stehen, die repräsentativ für das äußerst seltsame Verständnis des Fahrlässigkeitsdelikts in der lebensmittelrechtlichen Literatur und Rechtsprechung sind: „Fahrlässigkeit liegt vor, wenn jemand ein Lebensmittel herstellt, kennzeichnet oder vertreibt, das nicht den gesetzlichen Anforderungen oder der allgemeinen Verkehrsauffassung, d. h. der berechtigten Verbrauchererwartung entspricht, ohne dies zu wissen oder zu wollen. Dabei unterscheidet die Rechtsprechung die unbewußte von der bewußten Fahrlässigkeit." 2 „Die Lebensmitteldelikte sind in der Regel unechte Unterlassungsdelikte. Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden (§ 13 Abs. 2 StGB). Die objektive Tatbestandsverwirklichung (der Erfolg) besteht in einem positiven Tun, nämlich z. B. in dem Inverkehrbringen eines nicht zum Verzehr geeigneten Lebensmittels (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 LMBG) oder eines Lebensmittels mit irreführender Bezeichnung (§ 17 Abs. 1 Nr. 5 Buchst, b LMBG) oder ohne die vorgeschriebene Kennzeichnung (§ 10 LMKV, C4). Die Rechtspflicht zur Abwendung dieses Erfolges ergibt sich aus der beruflichen Stellung der Lebensmittelhersteller und -händler, die aus der Herstellung und dem Inverkehrbringen von Lebensmitteln ein Gewerbe machen (Garantenstellung). An diese Personen richten sich die gesetzlichen Verbote. Die aus der Garantenstellung erwachsene Rechtspflicht zum Handeln, nämlich zur Verhinderung des Inverkehrbringens von Lebensmitteln in gesetzwidriger Beschaffenheit oder unter irreführender Bezeichnung
1
Vgl. nur die Darstellung oben A. II. 2. zum Begriff des „Inverkehrbringens".
2
Benz, Strafrechtliche Verantwortung, S. 679.
I. Das Prinzip der „Kettenverantwortung"
39
(Garantenpflicht) gehört nicht zum objektiven Tatbestand. Sie ist ein Schuldelement (vgl. BGHSt 16,155; Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 21. Aufl. § 15 Rdn. 13)."3 „Die zu ahndende Pflichtwidrigkeit besteht nicht in der Verletzung der Sorgfaltspflicht, sondern in der Tatsache, daß ein nicht dem Recht entsprechendes Lebensmittel in den Verkehr gebracht wurde." 4 Bedenkt man, daß das erste Zitat von einem der wohl namhaftesten Lebensmittelstrafrechtler und das zweite von dem Verfasser des Standardkommentars zum Lebensmittel(straf)recht stammt, so mag man einen Eindruck erhalten, wie es auf diesem Rechtsgebiet um die dogmatische Aufarbeitung allgemeiner strafrechtlicher Regelungen steht. I. Das Prinzip der „Kettenverantwortung" Nach einhelliger Ansicht liegt den Sorgfaltspflichten der am Verkehr mit Lebensmitteln Beteiligten das sog. „Prinzip der Kettenverantwortlichkeit" zugrunde. Grundsätzlich trifft danach jeden, der in der Kette von der Herstellung bis zur letzten Weitergabe des Lebensmittels an den Verbraucher beteiligt ist, die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß Beschaffenheit und Bezeichnung eines Lebensmittels im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen stehen.5 Der Inverkehrbringer von Lebensmitteln - und das ist, wie oben bereits festgestellt wurde, nahezu jeder am Verkehr mit Lebensmitteln Beteiligte - ist dafür verantwortlich, daß die Lebensmittel allen lebensmittelrechtlichen Vorschriften entsprechen. Problematisch kann dies bei etwaiger Kontamination mit Pflanzenschutzrückständen oder Schwermetallen sein, die sich nur durch aufwendige Untersuchungen feststellen läßt.6 Ungeachtet dessen hat der Verpflichtete die Lebensmittel bezüglich aller in der Schadstoff- und Pflanzenschutzmittel-HöchstmengenVO angeführten Stoffe zu überprüfen. 7 Höchstwerte für bestimmte Schwermetalle enthalten auch die TrinkwasserVO, die WeinVO und die ZusatzstoffVV. Außerdem sind die vom Bundesgesundheitsamt für Blei, Cadmium und
3
Zipfel LMR, C 100 vor § 51 Rdnr. 19 f.; so auch ders., Sorgfaltspflicht, S. 212.
4
H.-H. Schiedermaier,
5
HNF vor § 51 Rdnr. 68; BayObLG LRE 2, S. 58, 60 f.; st. Rspr. seit BGH LRE 2, S. 41.
6
Michalski, S. 337.
7
OLG Koblenz LRE 14, S. 366, LS; LRE 15, S. 211, 215.
in Coduro S. 285.
40
B. Das Fahrlässigkeitsdelikt im Lebensmittelrecht
Quecksilber festgesetzten Richtwerte einzuhalten.8 Dabei ist zu bedenken, daß die hier angesprochenen Untersuchungen nicht durch eine flüchtige Kontrolle auf Sicht durchzuführen sind, sondern zumindest ein voll ausgestattetes lebensmittelchemisches Laboratorium mit dem entsprechenden Fachpersonal verlangen und darüber hinaus, selbst wenn diese Voraussetzung gegeben wäre, nur extrem zeitaufwendig und kostenintensiv vonstatten gehen können. Hinter der Frage nach der grundsätzlichen Verantwortlichkeit verbergen sich nicht nur straf- oder ordungswidrigkeitenrechtliche, sondern auch wirtschaftliche Probleme. Dabei ist die von Rechtsprechung und Literatur postulierte Verantwortlichkeit mit dem Bild der Kette zutreffend umschrieben, denn es geht nicht um die isolierte Haftung der Kettenglieder nacheinander, sondern um die Verantwortlichkeit jedes Gliedes für den Gesamtzustand, auch soweit dieser auf einer vorherigen Stufe entstanden und strafrechtlich zu verantworten ist. A u f den Zeitpunkt und die unmittelbare Verantwortlichkeit für einen Fehler kommt es dabei nicht an. Spätere Inverkehrbringer sind danach im Grundsatz auch für Fehler verantwortlich, die auf früheren Stufen entstanden sind.9 Dadurch geht die straf- bzw. ordnungswidrigkeitsrechtliche Verantwortung weiter als die zivilrechtliche „Sphärenhaftung" nach § 4 ProdukthaftungsG. 10 An die Sorgfaltspflichten der Hersteller und Verkäufer von Lebensmitteln sind nach allgemeiner Ansicht im Lebensmittelrecht „höchste" Anforderungen zu stellen.11 Der Verbraucherschutz stehe über der Bequemlichkeit des Herstellers, des Händlers oder der sonst Verantwortlichen. Auch gehe der Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsschäden und vor wirtschaftlicher Übervorteilung, dem die Bestimmungen des LMBG dienen, allen Bestrebungen nach Vielfalt des Warenangebots, nach Rationalisierung und nach Gewinn vor. 12 Das gelte nicht nur, wo es sich um Schutzbestimmungen gegen Gesundheitsbeschädigungen handele, sondern auch in den Fällen, in denen eine Übervorteilung des Publikums in Betracht komme. 13
8
Michalski, S. 338.
9
OLG Koblenz, ZLR 89, S. 72, 76; vgl. auch Hufen, S. 35.
10
Sieber, S. 464; zur Kritik an der Kettenverantwortlichkeit siehe auch Freund, S. 266
11
St. Rspr. seit BGHSt 2, S. 384, 385.
ff. 12
OLG Koblenz ZLR 84, S. 278, 282.
13
HNF vor § 51 Rdnr. 68 a mit zahlreichen w. N. aus der Rspr.
I. Das Prinzip der „Kettenverantwortung"
41
Einen wesentlichen Faktor für die Bemessung der erforderlichen „Sorgfalt" soll die Stellung der am Lebensmittelverkehr Beteiligten darstellen. So sollen an die „Sorgfaltspflicht" eines Herstellers und Importeurs andere Maßstäbe angelegt werden als an die eines Großhändlers und wiederum an die eines Großhändlers höhere Anforderungen als an die eines Einzelhändlers. Einzelhändler könnten je nach Betriebsgröße und -struktur über größere oder geringere Überprüfungsmöglichkeiten verfügen, es sei insoweit eine differenzierte Betrachtungsweise erforderlich, wobei jeweils auf den Einzelfall abzustellen sei.14 Dieser Satz, der so oder ähnlich in der gesamten lebensmittelrechtlichen Literatur und Rechtsprechung zu finden ist, mag zwar suggerieren, daß eine Unterscheidung zwischen den einzelnen Stufen und Tätigkeiten des Lebensmittelverkehres gemacht werde, jedoch unterscheidet sich die Realität des Lebensmittelstrafrechts, die sich durch eine weit verbreitete Undifferenziertheit auszeichnet, doch ganz erheblich von diesem Programmsatz, wie der weitere Gang der Untersuchung zeigen wird. Wesentlicher Faktor für die Bemessung der „im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" soll dabei - neben der tatsächlichen Möglichkeit zur Verhinderung des Erfolges - die Zumutbarkeit der erforderlichen Abwehrmaßnahmen sein. Diese Zumutbarkeit sei weitestgehend von der Stellung des am Lebensmittelverkehr Beteiligten innerhalb der Nahrungsmittelabsatzkette abhängig.15 Deshalb wird die lebensmittelrechtliche Diskussion, ob und wieweit die Sorgfaltspflichten der Beteiligten reichen, auch grundsätzlich unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten ausgetragen.16 Aufschlußreich dazu sind die Ausführungen von Reiff zu diesem Problemkreis: „Fast scheint es, als würden die Gerichte in Fällen mit lebensmittelrechtlichem Bezug strafrechtsdogmatische Errungenschaften geradezu 'über Bord werfen'. So verzichten sie in Fällen, in denen die Verantwortlichkeit der Händler in Frage steht, de facto auf das Tatbestandsmerkmal der 'Fahrlässigkeit', indem sie, ohne die Frage der Vorhersehbarkeit zu erörtern, mit formelhaften Ausführungen die Pflicht zu allumfassenden Prüfungen statuieren." 17Dieses Zitat ist leicht zu verifizieren, betrachtet man einmal näher, welche Anforderungen Rechtsprechung und Literatur an die an der Lebensmittelherstellung und -distribution Beteiligten auf den einzelnen Stufen stellen.
14
Zipfel, L M R C 100 vor § 51 Rdnr. 66.
15
Schafeid, S. 60.
16
Vgl. nur Meier, ZLR, S. 453; ders. ZRP, S. 295 u. passim; Hufen, S. 87 ff. jeweils m.w.N. 17
Reiff,
S. 229.
42
B. Das Fahrlässigkeitsdelikt im Lebensmittelrecht 7. Die Sorgfaltspflicht
des Lebensmittelherstellers
Der Hersteller ist grundsätzlich für den gesamten Produktionsvorgang verantwortlich. Seine Sorgfaltspflicht soll mit dem Einkauf der Rohstoffe und Zutaten sowie der Erstellung der Rezeptur beginnen und mit dem Inverkehrbringen des endgültigen Produkts unter einer zutreffenden Bezeichnung und mit der vorgeschriebenen Kennzeichnung enden.18 Bei der Beschaffung der für die Herstellung des Lebensmittels erforderlichen Rohstoffe habe sich der Hersteller davon zu überzeugen, daß die hinzugezogenen Produkte den lebensmittelrechtlichen Bestimmungen entsprechen. Dies könne durch den Einbau von spezifischen Qualitätsanforderungen in die Lieferverträge, eventuell auch durch Anbauverträge, deren Einhaltung kontrolliert werden müsse, geschehen. Werden Rohstoffe gar aus dem Ausland eingeführt, so habe der Hersteller auf Zertifikaten, in denen eine bestimmte Beschaffenheit ausdrücklich zugesichert wird, zu bestehen. Diese Zertifikate müßten dann aber ihrerseits durch einen geeigneten Lebensmittelchemiker oder ein national oder international anerkanntes Untersuchungsinstitut nachgeprüft werden. 19 „Kann der Rohstoff wegen seiner besonderen Beschaffenheit nicht vor der Verarbeitung geprüft werden oder können die analytischen Ergebnisse einer Untersuchung aus zeitlichen Gründen erst nach der Verarbeitung vorliegen, so muß der Schwerpunkt der Kontrolle auf das Fertigprodukt ausgedehnt werden. Auf eine eigene Kontrolle kann der Hersteller nicht verzichten." 2 0 Auch beim Zukauf von Zutaten dürfe sich der Hersteller nicht auf die Erklärungen eines Vorlieferanten verlassen.21 Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen könne die Angabe eines vertrauenswürdigen Lieferers von Zutaten eine eigene Nachprüfung überflüssig machen22, jedoch müsse sich der Hersteller im Hinblick auf die Regelung des § 11 LMBG (Zusatzstoffverbote) vom Lieferanten grundsätzlich bei der Lieferung von Zutaten Untersuchungsbefunde eines anerkannten Instituts bzw. eines für die Untersuchung von Gegenproben zugelassenen Lebensmittelchemikers über den Anteil an Zusatzstoffen vorlegen lassen23.
18
Benz, Verantwortung, S. 679 f.; Zipfel, LMR C 100 vor § 51 Rdnr. 69; ders., Sorgfaltspflicht, S. 214; Schafeid, S. 60. 19
Zipfel, Sorgfaltspflicht, S. 215; Schafeid, S. 60.
20
Zipfel, L M R C 100 vor § 51 Rdnr. 71.
21
Benz, Verantwortung, S. 680.
22
BGH LRE 2, S. 241; vgl. dazu auch die Anm. von Nüse LRE 2, S. 243.
23
Benz, Verantwortung, S. 680.
I. Das Prinzip der „Kettenverantwortung"
43
Ferner hat, nach allgemeiner Ansicht, der Inhaber oder Leiter eines mit der Herstellung von Lebensmitteln befaßten Betriebes die nach den Umständen des Einzelfalles bemessene Rechtspflicht zur Verhinderung gesetzeswidriger Handlungen seiner Angestellten und Gehilfen bei der Herstellung von Lebensmitteln. Diese Rechtspflicht umfasse insbesondere die sorgfältige Auswahl des Personals, wobei auf die Vorbildung und bisherige Tätigkeit zu achten sei, aber auch auf die gesundheitliche Verfassung der Beschäftigten. 24 Der Betriebsinhaber oder -leiter habe weiter die Angestellten über die erforderliche Arbeitsweise, die Zusammensetzung der Lebensmittel im einzelnen, d. h. die Rezeptur, mögliche Fehlerquellen und auch die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere über verbotene Zusätze, zu belehren und sich durch unmittelbare Kontrollen davon zu überzeugen, daß seine Weisungen befolgt werden. Dabei haben sich die Überprüfungen sowohl auf den eigentlichen Herstellungs- und Bearbeitungsvorgang als auch auf das Arbeitsergebnis zu erstrecken. 25 2. Die Sorgfaltspflicht
des Lebensmittelimporteurs
Die Verantwortlichkeit des Importeurs soll sich aus seiner Stellung als erstes Glied in der inländischen Lebensmittelkette ergeben. In der gesamten lebensmittelrechtlichen Rechtsprechung wird der Importeur einem Hersteller gleichgestellt.26 Zur Begründung dieser Gleichstellung wird regelmäßig ausgeführt, daß auch der Gesetzgeber von einer ähnlichen Erwägung in § 53 Abs. 1 LMBG ausgegangen sei, indem er dort den Importeur und den Hersteller gleichgestellt habe.27
24
Vgl nur, statt vieler, BGH LRE 4, S. 21, 23.
25
Schafeid, S. 61 m.w.N.
26
Vgl. die Nachweise bei Zipfel, L M R C 100 vor § 51 Rdnr. 88.
27
Zipfel, L M R C 100 vor § 51 Rdnr. 88 m.w.N. Ob diese Argumentation haltbar ist, ist fraglich. Nach § 53 Abs. 1 L M B G haftet der Einfuhrer von Lebensmitteln, die nicht zugelassene Pflanzenbehandlungsmittel, überhöhte Reste an Pflanzenbehandlungsmitteln oder überhöhte Mengen an Stoffen mit pharmakologischer Wirkung enthalten, ebenso wie der Anwender von Pflanzenbehandlungsmitteln oder der Zuführer von pharmakologischen Stoffen (das ist jeweils der Erzeuger des Urprodukts) für jeden Grad von Vorsatz und Fahrlässigkeit. In § 53 Abs. 1 L M B G ist jedoch auch die Haftung der Hersteller von Weiterverarbeitungsprodukten und der Händler für die entsprechenden Handlungen bestimmt, wenn diese auch nur auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt ist. Das Problem soll aber hier dahingestellt bleiben, da eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Ansicht den Rahmen der in dieser Arbeit zu erörternden Thematik sprengen würde.
44
B. Das Fahrlässigkeitsdelikt im Lebensmittelrecht
Die strenge Sorgfaltspflicht des Herstellers trifft also auch den Importeur, obwohl er in der Regel keine Möglichkeit hat, auf die Wahl der Vorprodukte, auf die Kontrolle, auf die Gerätschaften, auf die Rezeptur, sowie auf den Gang des Herstellungsverfahrens oder die Auswahl des Personals in dem ausländischen Herstellerbetrieb Einfluß zu nehmen. Trotzdem verlangt die hM des Lebensmittelrechts, daß der Importeur in seiner lebensmittelrechtlichen Verantwortung einem inländischen Hersteller gleichgestellt werden müsse. Der Importeur führe nämlich Lebensmittelerzeugnisse aus Ländern ein, in denen in der Regel andere lebensmittelrechtliche Bestimmungen gelten. Der ausländische Hersteller sei an die deutschen lebensmittelrechtlichen Bestimmungen nicht gebunden und könne deshalb zu ihrer Einhaltung nicht gezwungen und wegen ihrer Nichtbeachtung nicht ohne weiteres belangt werden. 28 Der Importeur dürfe sich auch deshalb nicht auf seinen ausländischen Vorlieferanten verlassen, weil dieser in der Regel die deutschen Vorschriften gar nicht kenne. Diese seien auch im EG-Bereich vor allem auf den nicht harmonisierten Gebieten nach wie vor von Bedeutung. Selbst in harmonisierten Bereichen bestehe keine Gewähr dafür, daß der ausländische Hersteller oder Exporteur die einheitlichen EG-Vorschriften beachtet habe. Schon vor der Anlieferung habe der Importeur der Lebensmittel bestimmte Überprüfungsmöglichkeiten und könne durch entsprechende vertragliche Vereinbarungen mit seinem Lieferanten auf die gesetzmäßige Beschaffenheit der angelieferten Lebensmittel hinwirken. Er könne weiterhin die Mitlieferung von detaillierten Zertifikaten ausländischer anerkannter Untersuchungsstellen verlangen. Von der Zuverlässigkeit dieser Zeugnisse müsse sich der Importeur jedoch durch eigene Untersuchungen überzeugen. 29 Bei ausländischen Untersuchungsergebnissen, gleich aus welchem Land sie stammten, bestehe nämlich stets die Möglichkeit der Manipulation. 30 Zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Sorgfaltspflicht dürfe der Importeur auf die Untersuchung nicht wegen der u. U. erheblichen Kosten einer lebensmittelchemischen Analyse verzichten und sei gehalten, Verzögerungen und Unbequemlichkeiten im Handelsablauf in Kauf zu nehmen. Die Grenzen der Belastungen lägen dort, wo die Erfüllung der Untersuchungspflicht „quasi unmöglich" oder unzumutbar sei.31 Auf jeden Fall soll die Grenze der Zumutbarkeit dann über-
28
OLG Koblenz ZLR 84, S. 177; Benz, Aktuelle Probleme, S. 28; ders., Verantwortung, S. 684. 29
Zipfel, L M R C 100 vor § 51 Rdnr. 89.
30
HNF vor §51 Rdnr. 81.
31
BayObLG LRE 9, 279, 280.
I. Das Prinzip der „Kettenerantwortung"
45
schritten sein, wenn der Importeur durch die Durchfuhrung von Untersuchungenso überfordert wäre, daß er die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln einstellen müsse.32 3. Die Sorgfaltspflicht
des Lebensmittelgroßhändlers
Neben dem Hersteller und dem Importeur ist auch der Großhändler für die ordnungsgemäße Beschaffenheit und Kennzeichnung von Lebensmitteln verantwortlich. Ihm sollen insoweit die entsprechenden Kontrollpflichten obliegen. Der Großhändler sei nicht deshalb von der lebensmittelstrafrechtlichen Sorgfaltspflicht befreit, weil bereits den inländischen Hersteller oder der Importeur die entsprechende Verantwortung treffe. 33 Er könne sich deshalb auch nicht unter Berufung auf die umfangreiche Prüfungspflicht des Importeurs von seiner Verpflichtung befreien. 34 An die Sorgfaltspflicht des Großhändlers sollen ebenfalls strenge Anforderungen zu stellen sein, dies insbesondere im Hinblick auf den im LMBG bezweckten Verbraucherschutz. Sie soll sich jedoch aufgrund der unterschiedlichen Stellung und Funktion in der Nahrungsmittelabsatzkette von der des Herstellers oder Importeurs unterscheiden.35 Dem Lebensmittelgroßhändler obliege danach ebenfalls die Pflicht, die Lebensmittel zu untersuchen. Darauf dürfe er nur dann verzichten, wenn der Hersteller bereits eine Untersuchung durch ein anerkanntes Institut für die gelieferten Chargen habe durchführen lassen und er darüber ein Zertifikat vorlegen könne. Aber auch in diesen Fällen sei der Großhändler gehalten, sich durch Kontrollmaßnahmen von der Richtigkeit der Untersuchungsergebnisse zu überzeugen36, da auch in diesem Bereich die Möglichkeit der Manipulation nicht außer acht gelassen werden dürfe 37. Ein Vertrauen auf ausländische Untersuchungen und Zusicherungen des Importeurs ist dem Großhändler nach der h M ebenfalls verwehrt; er habe z. B. die Pflicht, die Ware selbst auf Pflanzenschutzmittel-Rückstände untersuchen zu lassen,38
32
Benz, Verantwortung, S. 686.
33
HNF vor § 51 Rdnr. 70 m.w.N.
34
OLG Koblenz LRE 11, S. 126, 131; 15, S. 199, 202.
35
Schafeid, S. 63.
36
Benz, Aktuelle Probleme, S. 688.
37
OLG Koblenz LRE15,S.211,214.
38
BayObLG ZLR 91, S. 160, 163.
46
B. Das Fahrlässigkeitsdelikt im Lebensmittelrecht
In den Verantwortungsbereich des Großhändlers fällt nach Rechtsprechung und h M auch, daß die vorgeschriebene Kennzeichnung auf Fertigpackungen angebracht ist. Soweit er sie unter seinem Namen, d. h. unter einer Handelsmarke, in den Verkehr bringt, ist er auch für den Inhalt der Kennzeichnung voll verantwortlich. 39 Schließlich trägt der Großhändler nach allgemeiner Ansicht auch die Verantwortung für alle Veränderungen des Lebensmittels, die in seinem Einflußbereich entstanden sind, z. B. bei der Lagerung. So hat er beispielsweise vor jeder Auslieferung Konservendosen darauf zu prüfen, ob Bombagen zu erkennen sind. Diese Dosen sind auszusortieren, nicht bombierte Dosen aus derselben Partie sind stichprobenweise zu untersuchen, ob sie sich noch in einwandfreiem Zustand befinden. Gleiche Vorsichtsmaßnahmen muß er auch treffen, wenn bei fertigverpackten Waren das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Die auf Fertigpackungen für das angegebene Mindesthaltbarkeitsdatum angeführten Aufbewahrungsbedingungen muß er beachten.40 4. Die Sorgfaltspflicht
des Lebensmitteleinzelhändlers
Ebenso wie der Großhändler ist nach der Auffassung der Rechtsprechung und der h M in der lebensmittelrechtlichen Literatur auch der Einzelhändler für alle Veränderungen an den Lebensmitteln, die in seinem Verantwortungs- und Geschäftsbereich auftreten, verantwortlich, gleichgültig, ob diese durch fehlerhafte Lagerhaltung verursacht worden sind oder nicht. Bei besonders verderbnisgefährdeten Waren ist der Einzelhändler zu einer sensorischen Prüfung in kurzen Abständen verpflichtet. Bei verpackter Ware hat der Einzelhändler den Zustand der Verpackung auf Fehler und besondere Auffälligkeiten hin zu überprüfen. 41 Für die richtige Zusammensetzung eines Lebensmittels soll den Lebensmitteleinzelhändler jedenfalls dann eine lebensmittelstrafrechtliche Verantwortung treffen, wenn ihm nach Sachlage und seinen Möglichkeiten eine lebensmittelchemische Stichprobenuntersuchung zugemutet werden kann. Für die nicht ordnungsgemäße Beschaffenheit der Ware könne der Einzelhändler nur dann nicht verantwortlich gemacht werden, wenn ihm nach den gesamten Umständen aufwendige Untersuchungen nicht zumutbar seien, wobei zur Bestimmung der
39
Zipfel, L M R C 100 vor § 51 Rdnr. 105.
40
Zipfel, L M R C 100 vor § 51 Rdnr. 104.
41
Benz, Verantwortung, S. 689 f.
I. Das Prinzip der „Kettenverantwortung"
47
Zumutbarkeit die Größe des Unternehmens und die Höhe des Umsatzes Berücksichtigung finden sollen. 42 Das heißt im Ergebnis aber nichts anderes, als daß die oben angeführten Grundsätze hinsichtlich der Sorgfaltspflichten des Importeurs und des Großhändlers grundsätzlich auch auf den Einzelhändler angewandt werden, soweit sein Geschäftsbetrieb einen Umfang erreicht hat, der eine Untersuchungspflicht in den Augen der Rechtsprechung und Literatur als zumutbar erscheinen läßt. Es wird jedoch kein Maßstab aufgestellt, der es ermöglicht, die Grenzen dieser Zumutbarkeit zu bestimmen. Festzuhalten ist, daß die vom Importeur und Großhändler geforderte Untersuchungspflicht zumindest auch dann den Einzelhändler trifft, wenn es sich dabei um ein umsatzstarkes Unternehmen, etwa ein Warenhaus oder eine Supermarktkette handelt.43 Daß diese Untersuchungspflicht, nach den oben angeführten Regeln durchgeführt, zu mehr als absurden Ergebnissen führen kann, liegt auf der Hand. Ausgehend von der Annahme, daß ein Supermarkt durchschnittlicher Größe unter seinen 5.000 Artikeln 3.500 fertigverpackte Lebensmittel führt und von jedem dieser 3.500 Produkte nur einmal im Jahr eine Stichprobe auf drei gängige lebensmittelrechtliche Kriterien: - Einhaltung der Höchstmengen für zugelassene Zusatzstoffe - Abwesenheit nicht zugelassener Zusatzstoffe -
Einhaltung der Höchstmengen für Pflanzenschutzmittelrückstände (oder entsprechende Kriterien für Produkte tierischen Ursprungs)
durchgeführt werden müßte, so wären dies bereits 10.500 lebensmittelchemische Untersuchungen in einem Jahr. 44 Dabei handelt es sich um eine Größenordnung, die ein normales lebensmittelchemisches Laboratorium bei weitem überfordern würde. Nicht unberücksichtigt bleiben soll auch - neben dem finanziellen - der Aspekt, daß sich diese Untersuchungen über einen so erheblichen Zeitraum hinziehen würden, in dem die fragliche Ware natürlich nicht in den Verkauf gelangen dürfte, daß ein Großteil davon direkt wegen fortgeschrittener Verderbnis entsorgt werden müßte.
42
Schafeid, S. 64 m.w.N.
43
Vgl. auch Meier, ZRP, S. 294 ff.; ders, ZLR, S. 455 ff.
44
Denkschrift des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V. (Maschinenschrift!.), Bonn 1986, S. 11 f.
48
B. Das Fahrlässigkeitsdelikt im Lebensmittelrecht 5. Die Sorgfaltspflicht
des Verbrauchers
Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, daß z. B. auch die Hausfrau, die für ihre Familie oder für Gäste ein Essen zubereitet hat, gem. § 7 LMBG Lebensmittel in der Form des „Abgebens an andere" in Verkehr bringt. Indem sie die Speisen serviert, überläßt sie anderen Lebensmittel zur eigenen Verfügungsgewalt.45 Da die Hausfrau ein Glied der Lebensmittelkette ist, weil sie die Lebensmittel zubereitet oder unzubereitet weitergibt, müßten also auch an ihre Sorgfaltspflichten „höchste Anforderungen" gestellt werden. Auch die Hausfrau als Käuferin von Lebensmitteln könnte sich theoretisch vor dem Kauf eines Kopfsalates auf dem Markt ein Untersuchungszeugnis über die lebensmittelrechtliche Unbedenklichkeit der bestimmten Charge, aus der Salat stammt, vorzeigen lassen. Diese Forderung wird aber weder in der lebensmittelrechtlichen Literatur noch Rechtsprechung gestellt, vielmehr wird dieser Problemkreis dort überhaupt nicht angesprochen. Auch ist aus der Rechtsprechung nicht ein Fall bekannt, in dem ein Bußgeld- oder Strafverfahren gegen eine Hausfrau eingeleitet worden wäre, weil sie ihrer Familie ein nicht mit den lebensmittelrechtlichen Bestimmungen in Einklang stehendes Mahl zubereitet hätte. Dies kann darauf basieren, daß die Lebensmittelkontrolle in der Bundesrepublik Deutschland nicht die notwendige Effizienz aufweist, auch Privathaushalte zu überwachen. Näher liegt jedoch die Erklärung, daß sich stillschweigend eine einhellige Meinung gebildet hat, die die Tatbestände des Lebensmittel(straf)rechts zu Sonderdelikten für Gewerbetreibende reduziert, demnach also der Verbraucher - der in diesem Fall aber kein Verbraucher, sondern Inverkehrbringer ist - davon ausgenommen sein soll. Zwingend ist diese Ansicht jedoch nicht. Auch findet sich dafür kein Anhaltspunkt im Gesetz. Dieses Problem soll jedoch dahingestellt bleiben, da der weitere Gang der Darstellung davon nicht abhängt und eine Vertiefung an dem eigentlichen Thema der Arbeit vorbeigehen würde. II. Der Vertrauensgrundsatz im Lebensmittelrecht Wie sich bereits aus diesem kurzen Abriß der sog. Kettenverantwortung ergibt, findet der Vertrauensgrundsatz, wie er aus dem Straßenverkehrsrecht bekannt ist, im Lebensmittelrecht keine Anwendung, besagt er doch, daß man auf das sorgfaltige Verhalten der anderen grundsätzlich vertrauen darf. Vielmehr ist das Lebensmittelrecht in seiner Umsetzung durch Literatur und Rechtsprechung vom Miß-
45
Siehe oben A. II. 2. e)
II. Der Vertrauensgrundsatz im Lebensmittelrecht
49
trauensgrundsatz geprägt - der einzelne Teilnehmer am Verkehr mit Lebensmitteln hat mit dem Fehlverhalten der anderen zu rechnen und sein eigenes Verhalten darauf einzustellen.46 Allenfalls wird den Betroffenen in Einzelfällen, die auch als solche bezeichnet werden, eine angebliche Minderung der Sorgfaltspflichten zugestanden. So etwa, wenn der Vordermann in der Kette Untersuchungszeugnisse vorlegen kann und diese Zertifikate, wiederum nach erfolgter Prüfung, keine Bedenken aufkommen lassen. Das ist jedoch keine Ausprägung des Vertrauensgrundsatzes, der Beteiligte darf innerhalb der Kette eben nicht auf ein sorgfältiges Handeln der anderen vertrauen, trifft ihn doch weiterhin die Kontrollpflicht. 47 Liegen entsprechende Zertifikate nicht vor, muß die Ware nach der Rechtsprechung und der hM in der Literatur auf jeder Handelsstufe aufwendig untersucht werden. 48 Davon sollen den Betroffenen auch nicht langjährige Geschäftsbeziehungen, völlig beanstandungsfreie Lieferungen über mehrere Jahre oder die anerkannte Zuverlässigkeit eines Lieferanten entbinden. Selbst wenn dem Betroffenen die geforderten Zertifikate vorgelegt worden seien und er sie geprüft habe, sei er von eigenen Untersuchungen nicht vollständig entlastet.49 Es soll in diesem Zusammenhang aber nicht verschwiegen werden, daß der Vertrauensgrundsatz in einem bedeutenden Fall ohne Einschränkung Anwendung gefunden hat. So entschied der BGH im Jahre 1959: „Ist die Herstellerfirma ein bedeutendes Unternehmen von gutem Ruf, so kann der Abnehmer darauf vertrauen, daß sie nicht unzulässige Ware (hier: Wurstbereitungsmittel) vertreibt." 5 0 Diese Entscheidung ist jedoch vereinzelt geblieben. Aus dem Urteil des Bundesgerichtshofes kann nach der hM und Rechtsprechung nicht der allgemeine Grundsatz abgeleitet werden, die Untersuchungspflicht entfalle immer, wenn es sich bei dem Lieferanten um ein Unternehmen von gutem Ruf handele. In Rechtsprechung und Literatur sei nämlich unbestritten, daß jene Entscheidung nur aus den dort genannten besonderen Umständen des Einzelfalles zu interpretieren sei. 51
46
OLG Koblenz ZLR 84,278,281: „Der sog. Vertrauensschutz vermag aber die eigenen Sorgfaltspflichten keinesfalls aufzuheben." 47
Vgl. Pernice/Warzecha,
48
Siehe dazu den von Pröpper, S. 111, gebildeten Beispielsfall.
49
Siehe die Nachweise bei Hufen, S. 49.
50
BGH LRE 2, S. 241, LS.
51
S. 286.
B G H LRE 3, S. 364, 369; OLG Köln LRE 8, S. 50, 52; OLG Hamburg, LRE 14, S. 192, 196;Nüse, S. 243.
4 Brinkmann
50
B. Das Fahrlässigkeitsdelikt im Lebensmittelrecht
Im Gegensatz zum bisher Gesagten äußert Schafeid 52 die Ansicht, der Vertrauensgrundsatz finde sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung Anwendung und spricht in diesem Zusammenhang vom spezifisch „lebensmittelrechtlichen Vertrauensgrundsatz". Der Vertrauensgrundsatz habe lediglich insoweit eine Modifikation erfahren, daß der einzelne an der Lebensmittelkette Beteiligte auf die Zuverlässigkeit des Vordermannes eben nur dann vertrauen dürfe, wenn dieser die entsprechenden Untersuchungsunterlagen hinsichtlich der Ware vorlege, die ihrerseits vom Betroffenen kontrolliert werden müßten. Dies sei auch keine „Aushöhlung" des Vertrauensprinzips. 53 Insbesondere die Großunternehmen der Lebensmittelwirtschaft machten sich die Möglichkeit einer Enthaftung zunutze und lehnten den Bezug von Lebensmitteln ohne den Nachweis einer lebensmittelchemischen Untersuchung kategorisch ab. Dabei stelle sich die Überprüfung der vorgelegten Gutachten für die Betroffenen nach Schafeids Ansicht als unproblematisch dar. Von den Lieferanten würden ganz überwiegend staatlich geprüfte und anerkannte Lebensmittelchemiker mit den Untersuchungen betraut, die mit hinreichender Zuverlässigkeit und Kompetenz die erforderlichen Analysen durchführten. 54 Nicht zu verkennen sei auch der positive Folgeeffekt dieser Entscheidungspraxis der Rechtsprechung. Eine derartige Ausgestaltung des lebensmittelstrafrechtlichen Vertrauensgrundsatzes gewährleiste, daß ein in den Verkehr gebrachtes Lebensmittel zumindest einmal einer lebensmittelchemischen Untersuchung unterzogen werde. „Was das normative Gebot der §§ 51 ff. LMBG in der Praxis nur unvollkommen durchzusetzen vermocht" 55 habe, nämlich die den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Zusammensetzung eines Lebensmittels durch eine lebensmittelchemische Untersuchung zu gewährleisten, werde durch den von den Abnehmern des jeweiligen Lebensmittels ausgeübten wirtschaftlichen Zwang im Sinne einer normativen Kraft des Faktischen herbeigeführt. Die Verlagerung der Kontrollfunktion des Lebensmittelhandels - nicht mehr die Zusammensetzung des Lebensmittels, sondern das vorliegende lebensmittelchemische Gutachten werde
52
Schafeid, S. 73.
53
Vgl. dazu Fernice, S. 78.
54
Schafeid, S. 74. Wie weit auch eine Kontrolle der Untersuchungsinstitute zu erfolgen hat, wird zwar nicht erwähnt, dürfte für diese Ansicht aber auch ein Problem darstellen. 53
Schafeid, S. 74.
II. Der Vertrauensgrundsatz im Lebensmittelrecht
51
überprüft - gewährleiste effektiv, daß der Verbraucher vor den Gefahren eines chemisch-toxikologisch verseuchten Lebensmittels geschützt sei. 56 Nur am Rande sei angemerkt, daß es aus seiner Herleitung nicht erklärlich ist, wie Schafeid zu der Ansicht gelangen kann, daß das Normgebot der §§ 51 ff. L M B G eine lebensmittelchemische Untersuchung verlangt und weshalb, die Vorlage und Kontrolle eines entsprechenden Zertifikats dann diesem Normgebot entspricht. Beachtung verdient jedoch, daß er - und das ist symptomatisch für die gesamte Literatur zum Lebensmittelrecht - unter der falschen Bezeichnung „Vertrauensgrundsatz" in seinen hier wiedergegebenen Ausführungen den bereits erwähnten „Mißtrauensgrundsatz" beschreibt. Eine - wenn auch nur in Ansätzen rechtliche Begründung, weshalb es den einzelnen Gliedern der Lebensmittelkette verwehrt sein soll, sich auf ein Vertrauen gegenüber den anderen zu berufen, bleibt er jedoch schuldig.
56
Schafeid, S. 74 f.; siehe auch Reiff, S. 167, der, ohne weitere Begründung oder den Versuch einer Herleitung, ausführt: „Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Rechtsprechung mit dem strafrechtlichen Grundsatz, der Vertrauensgrundsatz sei als allgemeiner Grundsatz überall dort anzuwenden, wo gefahrträchtige Handlungen arbeitsteilig vorgenommen werden und sich im sozialen Leben die Verhaltensweisen mehrerer Personen berühren, nicht im Widerspruch steht."
4*
C. Der Begriff der Fahrlässigkeit im Recht der Ordnungswidrigkeiten Die Sanktionsnormen des Lebensmittelrechts gehören zum Teil dem Straf- und zum Teil dem Ordnungswidrigkeitenrecht an. Für den weiteren Gang der Untersuchung wirft dies die Frage auf, ob von einem einheitlichen Begriff der Fahrlässigkeit sowohl für das Strafrecht als auch für das Ordnungswidrigkeitenrecht ausgegangen werden kann, oder ob die Fahrlässigkeit unterschiedliche Prägungen erfahren hat. Der Gesetzgeber hat im OWiG, ebenso wie im StGB, darauf verzichtet, den Begriff der Fahrlässigkeit zu definieren. Ausgangspunkt für die Bestimmung der ordnungswidrigkeitsrechtlichen Fahrlässigkeit kann demnach nur § 10 OWiG sein, der weitestgehend § 15 StGB entspricht: „Als Ordnungswidrigkeit kann nur vorsätzliches Handeln geahndet werden, außer wenn das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Geldbuße bedroht." Fraglich ist, inwieweit von der sprachlichen Identität der Normen auf eine sachliche Identität des Fahrlässigkeitsbegriffes in den beiden Rechtsgebieten geschlossen werden kann. Daß der Begriff einheitlich gebraucht werden soll, ist wohl in Literatur und Rechtsprechung einhellige Meinung. Allein bei Bohnert 1 läßt sich der Satz finden: „Es gilt aber der Grundsatz: Das Ordnungswidrigkeitenrecht ist in jeder Hinsicht vom Strafrecht unabhängig." Jedoch dürfte auch Bohnert dabei nicht von zwei unterschiedlichen Fahrlässigkeitsbegriffen ausgangen sein. Das angeführte Zitat stammt aus einer Schrift zum Prozeßrecht, in der in erster Linie die verfahrensrechtlichen Unterschiede zwischen Bußgeld- und Strafverfahren aufgezeigt werden. Es verbietet sich auch nicht per se, selbst bei einer vollständigen Unabhängigkeit der beiden Materien voneinander, dasselbe Rechtsinstitut - die Fahrlässigkeit - mit demselben Inhalt zu versehen. Ansonsten geht die zeitgenössische Kommentar- und Lehrbuchliteratur wie selbstverständlich davon aus, daß der Begriff der Fahrlässigkeit des Ordnungswidrigkeitenrechts identisch mit dem des Strafrechts ist. Bezeichnenderweise
1
Bohnert, OWi, S. 2.
C. Der Begriff der Fahrlässigkeit im Recht der Ordnungswidrigkeiten
53
findet diese Frage - mit einer Ausnahme2 - auch keine Erwähnung. Erst aus dem Kontext der jeweiligen Darstellungen ergibt sich, daß die aus dem Kernstrafrecht bekannte Fahrlässigkeitsdogmatik auch im Rahmen des OWiG Anwendung finden soll.3 Diese Handhabung ist auch richtig, kann jedoch kaum auf die von Cramer gegebene Begründung gestützt werden. Nach Cramer leitet sich die Identität nämlich daraus ab, daß sich das OWiG in vielen Beziehungen an die entsprechenden Bestimmungen des StGB anlehne und daher die meisten der für das OWiG geltenden allgemeinen Lehren wegen der engen verwandtschaftlichen Beziehungen beider Rechtsgebiete in ihrem Inhalt identisch seien.4 Ohne daß man eine Gesetzesgenealogie bemühen müßte, läßt sich dasselbe Ergebnis auch über die amtliche Begründung zum OWiG herleiten, da die begriffliche Identität der Fahrlässigkeit im Ordnungswidrigkeiten- und im Strafrecht in Übereinstimmung mit dem Willen des Gesetzgebers steht: In dem ursprünglichen Entwurf des OWiG wurden diejenigen Vorschriften des StGB, die bei den Ordnungswidrigkeiten Anwendung finden sollten, ausdrücklich bestimmt, um die Rechtsanwendung zu erleichtern. Vor der endgültigen Verabschiedung des Gesetzes ersetzte man die zahlreichen Verweisungen auf das StGB durch die Übernahme ihres Wortlauts, um die Lesbarkeit zu verbessern und der Praxis die Arbeit zu ersparen, den Sinngehalt der „entsprechenden Anwendung" zu ermitteln. Darüber hinaus sollte damit auch etwaigen Auslegungsschwierigkeiten vorgebeugt werden. 5
2
R/R/H-Roth-Förster § 10 Anm. 13 Vgl. dazu: Göhler § 10 Rdnr. 6 ff.; KK-OWi-Rengier § 10 Rdnr. 15 ff.; Rotberg § 10 Rdnr. 15 ff. 4 Cramer, OWi, S. 37. 5 Bericht des Rechtsausschusses zu BT-Drucksache V/2600; siehe auch Bode, S. 4. 3
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts Nach allgemeiner Ansicht soll der Vertrauensgrundsatz die Sorgfaltspflicht begrenzen. 1 Wie sich diese „Begrenzung" im Einzelnen vollzieht, ist jedoch ebenso ungeklärt, wie die Struktur und die genaue systematische Stellung des Vertrauensgrundsatzes. Diese Vorfragen müssen aber beantwortet werden, bevor daran gegangen werden kann, aufgrund einer Analyse der gewonnenen Ergebnisse zu untersuchen, ob dem Vertrauensgrundsatz ein Prinzip zugrundeliegt, das es gestattet, diesen auf sämtliche Bereiche der Fahrlässigkeit auszudehnen. Für den weiteren Gang der Darstellung bedeutet das, daß zuerst die Struktur der sog. Sorgfaltspflicht herausgearbeitet werden muß, um innerhalb dieser Struktur den exakten Standort des Vertrauensgrundsatzes, wie er von der hM gesehen wird, zu lokalisieren und seine Wirkung nachzuzeichnen. Eine isolierte Analyse der Sorgfaltspflicht kann jedoch nicht vorgenommen werden, vielmehr ist es notwendig, den Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts im Ganzen zu untersuchen. Im Rahmen dieser Untersuchung wird sich nämlich herausstellen, daß die Sorgfaltspflicht den Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts bildet und nicht losgelöst vom Tatbestand betrachtet werden kann. Erschwert wird diese Analyse zudem dadurch, daß in Literatur und Rechtsprechung umstritten ist, welchen Inhalt der gesetzliche Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts hat und welche Systematik diesem zugrundeliegt. I. Die „Theorie der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung" Nach der hM weist das Fahrlässigkeitsdelikt sowohl im Tatbestand als auch in der Schuld einige Besonderheiten gegenüber dem vorsätzlichen Begehungsdelikt auf. Nach ganz h M sind die gesetzlichen Tatbestände der Fahrlässigkeitsdelikte „offen" 2 und damit ergänzungsbedürftig. Diese „Unvollständigkeit" heilt die hM
1
Vgl. statt vieler: Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 149.
2
Welzel, LB, S. 131; ders., Fahrlässigkeit, S. 14 f.
I. „Theorie der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung"
55
durch das Merkmal der „objektiven Sorgfaltspflichtverletzung" oder auch der „objektiven Pflichtwidrigkeit". 7. Die objektive Sorgfaltspflichtverletzung Während die klassische Auffassung für den Tatbestand eines fahrlässigen (Erfolgs-) Delikts keine weitere Voraussetzung als die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg kannte, die Fahrlässigkeit vielmehr für sie ein Schuldproblem war 3 , muß nach der heute hM auch die Sorgfaltspflichtverletzung in den Tatbestand hineingelesen werden. Danach ist ein Fahrlässigkeitstatbestand stets so zu denken, daß er nur durch ein Verhalten verwirklicht werden kann, das objektiv sorgfaltswidrig ist.4 Die Ergänzung des gesetzlichen Tatbestandes durch das Merkmal der Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gilt als Charakteristikum des Fahrlässigkeitsdeliktes schlechthin.5 Erste Ansätze dieser Entwicklung finden sich zwar bereits bei Exner 6 und Binding 7 , jedoch wurde der eigentliche Ausgangspunkt dafür von Engisch in seinen „Studien über Vorsatz und Fahrlässigkeit" gesetzt8, indem er für die Analyse des Tatbestandes des Fahrlässigkeitsdelikts an die Theorie vom Primat der Bestimmungsnorm 9 anknüpfte. Sein Ansatz sei hier kurz skizziert: Grundsätzlich richten sich alle Sanktionsbestimmungen des StGB nur an den Rechtsanwender, also an denjenigen, der die Aufgabe hat, ein bestimmtes Verhalten zu bewerten. Jedoch finden diese Sanktionsbestimmungen nur dann eine innerliche Rechtfertigung, wenn das sanktionierte Verhalten auch von der Rechtsordnung mißbilligt wird, d. h., wenn es gegen rechtliche Ge- oder Verbote verstößt. Den positiv-rechtlich gefaßten Normen, d. h., den Sätzen, die der Rechtsanwender ex post zur Beurteilung eines Verhaltens heranzieht, müssen also das unmittelbare Verhalten des Bürgers regelnde Sollenssätze vorangestellt sein, w i l l man nicht auf die generalpräventive Aufgabe des Strafrechts verzichten.
3
Siehe nur Frank, § 59 Anm. V I I I mit zahlreichen w.N.
4
Burgstaller,
S. 32.
5
Burgstaller,
S. 32.
6
Exner, Fahrlässigkeit, S. 193 ff.
7
Binding, S. 434 ff.
8
Engisch, Untersuchungen, S. 75, 283 ff., 343.
9
Vgl. zur Theorie vom Primat der Bestimmungsnorm die Darstellung bei Kohlrausch, S. 50 ff.
56
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
Ansonsten weiß der einzelne nicht, was er tun darf und was ihm verboten ist. Somit werden also mit Erlaß der Strafvorschrift ungeschriebene „Normen" mitgesetzt. Für den Inhalt dieser der Sanktionsvorschrift vorgelagerten Normen kommen nur zwei Möglichkeiten in Betracht: Zum einen können es Bewertungsnormen sein, die rechtlich erwünschte oder unerwünschte Zustände bezeichnen. Dann wäre Unrecht jede Verletzung eines dem Recht entsprechenden und Herbeiführung eines dem Recht widersprechenden Zustands, „der Mord ebenso wie der Blitzschlag, der einen Menschen tötet oder ein Haus in Brand setzt, wie das Beißen eines ausgebrochenen Löwen oder auch eines Flohs." 10 Zu einem anderen Ergebnis gelangt man, wenn man die der Sanktionsvorschrift vorgelagerte Norm als Bestimmungsnorm versteht, die in Gestalt eines Imperativs direkt das Verhalten der Rechtsgenossen reglementiert und ihnen in jeder Situation ex ante einen Verhaltensmaßstab an die Hand gibt. In diesem Fall ist die Bewertung des Handlungserfolges als wertvoll oder wertwidrig lediglich das unausgesprochene Motiv für die Bildung des Imperativs. Für die Bestimmungsnorm besitzt die Qualität der Handlung zentrale Bedeutung. Das bloße Verbot, Rechtsgüter zu verletzen, ist als konkreter Verhaltensmaßstab insoweit sinnlos, als die Rechtsgutsverletzung als Folge einer bestimmten Handlung nicht vorhersehbar ist. Von der Bestimmungsnorm kann daher immer nur ein Verhalten verboten werden, dem, ex ante betrachtet, eine Rechtsgutsverletzungstendenz inne wohnt, d. h., nur die riskante, die Gefahr einer Rechtsgutsverletzung bergende Handlung kann normwidrig sein.11 „Die Norm verlangt die Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung, und das bedeutet, sie verlangt Anwendung der entsprechenden Mittel, m. a. W. Sorgfalt. Eine Normverletzung muß daher immer dann vorliegen, wenn die geforderte Sorgfalt außer acht gelassen ist." 12 „Da alle Merkmale, die das Unrecht konstituieren, in den Tatbestand eingehen, sind die Merkmale der Normverletzung, wie Gefährlichkeit der Handlung u.s.w., Merkmale der Tatbestandsmäßigkeit. Somit ist die Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt ein Tatbestandsmerkmal." 13
10
Kohlrausch, S. 50.
11
Schünemann, JA, S. 438.
12
Engisch, Untersuchungen, S. 341.
13
Engisch, Untersuchungen, S. 344.
I. „Theorie der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung"
57
a) Der Sorgfaltsmaßstab Unklar bleibt jedoch, wie diese „objektive Sorgfaltspflichtverletzung" bestimmt werden soll. So ist beispielsweise die Umschreibung von Engisch 14 , auf den sich die Vertreter der „objektiven Sorgfaltspflichtverletzung" 15 hauptsächlich berufen, mehrdeutig, wenn er ausführt, hierunter sei die „wirkliche" Sorgfalt im Gegensatz zu der aus der Sicht des Täters zu beurteilenden „subjektiven" Sorgfalt zu verstehen. Engisch nennt hier lediglich, neben der Rechtsbeachtungspflicht, die allgemeine Pflicht, gefährliche Handlungen zu unterlassen 16, bildet aber keinen Maßstab, der zur Unterscheidung der sorgfältigen von der unsorgfältigen tatbestandsmäßigen - Handlung herangezogen werden kann. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang aber, daß Engisch klar darauf hinweist, strafrechtlich werde nicht eine andere, die sorgfältige Handlung gefordert, sondern lediglich das Unterlassen der aus rechtlicher Sicht zu riskanten Handlung. Die erfolgsverhindernde rechtmäßige Verhaltensalternative besteht beim Begehungsdelikt also nicht in irgendeinem anderen Handeln, sondern liegt schlicht in der Unterlassung der jeweiligen Handlung. 17 Dieser Aspekt, der sowohl in der jüngeren Literatur als auch in der Rechtsprechung nicht immer in der gebotenen Klarheit herausgearbeitet wird 1 8 , ist die Konsequenz aus der Theorie vom Primat der Bestimmungsnorm: Nicht etwa ist die sorgfältige Handlung geboten, sondern die unsorgfältige verboten. 19 In der Verkennung dieses Aspektes liegt wohl auch einer der Kardinalfehler der lebensmittelstrafrechtlichen Fahrlässigkeitsdogmatik. Mit Recht sagt Jakobs20: „Im Begehungsbereich ist nicht etwa sorgfältiger Umgang mit Streichhölzern geboten,
14
Engisch, Untersuchungen, S. 306 ff., 332 ff.
15
Vgl. etwa Jescheck AT, S. 508 ff; Burgstaller,
16
Engisch, Untersuchungen, S. 283 f f , 290 f f , 336.
17
Struensee, GA, S. 103\ Schumann, Produkthaftung, S. 108.
18
S. 16 f.; Wessels, S. 195.
Exemplarisch: Haft S. 160 und Reiff, S. 43 und passim; letzterer fuhrt dazu aus: „Der strafrechtliche Normbefehl lautet also nicht 'Verursache nicht den Erfolg', sondern vielmehr 'Wende die im konkreten Fall erforderliche Sorgfalt an, um den Erfolg zu vermeiden." (unter Berufung auf Haft). 19
Vgl. auch Welzel, Fahrlässigkeit, S. 31.
20
Jakobs, LB, S. 319.
58
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
sondern sorgloser Umgang verboten, eine Pflicht zum Umgang besteht nicht." 21 Das fahrlässige Begehungsdelikt beinhaltet keinen „Unterlassungskern", obwohl die - insoweit nicht eindeutige - Terminologie (Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt) dies indizieren könnte. 22 In der Folgezeit entwickelte sich die Fahrlässigkeitsdogmatik insbesondere hinsichtlich der Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabes fort. So ist nach heute hL § 276 Abs. 1 S. 2 BGB als Grundnorm des objektiven Maßstabes der Fahrlässigkeit auch zur Ergänzung des Tatbestandes der Fahrlässigkeitsstraftaten heranzuziehen.23 Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt ergeben sich dabei aus den Anforderungen, die bei einer Betrachtung der Gefahrenlage „ex ante" an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und der sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind.24 Der von der hM postulierte Sorgfaltsmaßstab orientiert sich daran, wie ein Mensch der auf das Leistungsvermögen des Täters zugeschnittenen Kategorie (Facharzt, Arzt, Hebamme, Krankenschwester, Baumeister, Kraftfahrer usw.) handeln würde, um in der betreffenden Situation Gefahren für andere zu vermeiden. Ohne Rücksicht auf die persönlichen Fähigkeiten ist nach hA ein Verhalten rechtswidrig, wenn der Täter die für seinen Verkehrskreis maßgebliche Sorgfalt außer acht läßt.25 Dagegen will Roxin 26 - im übrigen der hL folgend - auf das Erfordernis der Sorgfaltspflichtverletzung beim Fahrlässigkeitsdelikt verzichten. Richtig sei, daß der Tatbestand der fahrlässigen Delikte, soweit er nicht eine zusätzliche Verhaltensbeschreibung enthielte, allein durch die Lehre von der objektiven Zurechnung ausgefüllt werden könne. Ein Erfolg, der dem objektiven Tatbestand zugerechnet werde, sei fahrlässig verursacht, ohne daß es dafür weiterer Kriterien bedürfe. In Wahrheit würden sich hinter dem Merkmal der Sorgfaltspflichtverletzung verschiedene Zurechnungselemente verbergen, die die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit präziser bezeichneten als eine solche Generalklausel. 27
21
Siehe dazu auch Schöne, S. 653: „Nicht Sorgfalt ist geboten, sondern die Sorgfalt gebietet, daß bestimmte finale Handlungen unterbleiben und andere vorgenommen werden!" 22
Vgl. Binavince, S. 48.
23
Statt vieler: Jescheck, S. 521; Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 134.
24
Wessels, S. 195; Jescheck, S. 522; Preisendanz, Einl. S. 28.
25
Statt vieler: Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 135; Maurach-Gössel § 43 Rdnr. 34.
26
Roxin, A T 1, S. 892.
27
Ähnlich: Triffterer,
S. 221.
I. „Theorie der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung"
59
Betrachtet man jedoch Roxins weitere Darstellung, so ergibt sich, daß er zur Bestimmung der „objektiven Zurechnung" dieselben Kriterien heranzieht, wie die h M zur Bestimmung der „Sorgfaltspflichtverletzung". 28 Zwischen seiner Ansicht und der h M bestehen terminologische, jedoch bei näherer Betrachtung keine inhaltlichen Unterschiede. Auch ist eine nähere Präzisierung des Fahrlässigkeitsbegriffes mittels der Ersetzung des Begriffes „objektive Sorgfaltspflichtverletzung" durch den Begriff „objektive Zurechnung" nicht ersichtlich. Der Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung wird in der Literatur jedoch meist nicht isoliert gebraucht. Ihm wird in der Regel der Begriff der objektiven Vorhersehbarkeit zur Seite gestellt und in der Formel zusammengefaßt, die erfolgsverursachende Handlung müsse objektiv pflichtwidrig sein, bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges. 29 Die Begriffe „Pflichtwidrigkeit" und „Vorhersehbarkeit" stehen aber nicht in einem Ergänzungsverhältnis zueinander, wie man nach der zitierten Formel vielleicht vermuten mag, vielmehr resultiert nach der hier zugrundegelegten Ansicht die „Pflichtwidrigkeit" der Handlung aus der Vorhersehbarkeit der Rechtsgutsgefährdung durch eben diese Handlung. 30 Wenn ein objektiver Beobachter bei der Vornahme einer Handlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges hätte voraussehen können, so ist diese Handlung pflichtwidrig. 31 Zur Bestimmung dieser Vorhersehbarkeit wird die entsprechende „objektive" Maßfigur herangezogen. Die h M stellt auf die Tatsachenkenntnisse und Erfahrungssätze ab, die der Handelnde hatte oder hätte haben müssen, das Wissen der Maßfigur unterstellt, und darüber hinaus auch auf gegebenenfalls vorhandenes „Sonderwissen" des Täters. 32 Dies sei näher erläutert: Setzt der Täter einen komplizierten Kausalverlauf in Gang, der zu einer Rechtsgutsverletzung führt, etwa dem Tod eines Menschen, so wäre diese Handlung grundsätzlich nicht pflichtwidrig, hätte die gedachte Maßfigur den aus dieser Handlung resultierenden Erfolg wegen der unübersicht-
28
Roxin, A T 1, S. 892 f.; siehe insbesondere S. 894: „Gleichwohl kann und muß bei der Bestimmung dessen, was als 'Schaffung einer unerlaubten Gefahr' anzusehen ist, alles berücksichtigt werden, was Rechtsprechung und Schrifttum zur Feststellung der Sorgfaltspflichtverletzung erarbeitet haben." 29
Statt vieler Welzel, S. 132; Jescheck, S. 522 (mit etwas abweichender Terminologie); Haft, S. 162; Bockelmann-Volk, S. 157. 30
Vgl. dazu Schroeder, S. III
31
Vgl. Burgstaller,
32
Statt vieler: Wessels, S. 196; Jescheck, S. 522; Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 138.
ff. und in L K § 16 Rdnr. 127 ff.
S. 38 f.
60
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
liehen Kausalkette nicht vorhersehen können. Das Pflichtwidrigkeitsurteil stützt die hM dann aber auf ein eventuell vorhandenes „Sonderwissen" des Täters, wenn er über das gedachte Wissen der Maßfigur hinaus Tatsachen und/oder Erfahrungssätze kannte, die es ihm ermöglicht hätten, eine entsprechende Gefahrprognose zu stellen. Wer z. B. die Gefährlichkeit einer Straßenkreuzung kennt oder weiß, daß jemand an einer Bluterkrankheit leidet, muß sich darauf einstellen und sich vorsichtiger verhalten als der Durchschnitt. 33 Nach der h M setzt die gedachte Maßfigur lediglich die Minimalanforderungen hinsichtlich der Vorhersehbarkeit des Erfolges, ein darüber hinaus gehendes „Sonderwissen" des Täters wird diesem in Hinblick auf das Urteil „objektive Sorgfaltspflichtverletzung" aber stets zugerechnet. Eine Handlung ist nach dieser Ansicht stets pflichtwidrig, wenn sich entweder auf der Basis des Kenntnisstandes der Maßfigur oder eines eventuell vorhandenen „Sonderwissens" des Täters prognostizieren läßt, daß sie zumindest zu einer Gefährdung des geschützten Rechtsgutes führt. b) Sondernormen Daß die hM die Begriffe „objektive Pflichtwidrigkeit" und „Vorhersehbarkeit" terminologisch in Relation setzt, gründet sich in der Existenz der sog. „Sondernormen", die für bestimmte Lebenssachverhalte bestehen und denen im Rahmen der hier dargestellten Ansicht besonderes Gewicht beigemessen wird. Nach der hA dienen diese Sondernormen zur Bestimmung der „objektiven Pflichtwidrigkeit". Wesentliche Sondernormen finden sich in der StVO, aber auch in anderen Lebensbereichen. Anzuführen sind z. B. die Regeln der ärztlichen Kunst oder andere entsprechende leges artis anderer Berufe und Gewerbe. Sorgfaltsregeln dieser Art sind für verschiedene technische Bereiche beispielsweise in den Deutschen Industrienormen zusammengefaßt. In diesen Normen ist nach der hM die objektive Erfahrung über die Vorhersehbarkeit bestimmter Erfolge gewissermaßen „geronnen". 34 Dementsprechend ist dann bei einem Verstoß gegen die Sondernorm die Vorhersehbarkeit des Erfolges und somit die Pflichtwidrigkeit der
33 34
Wessels, S. 196.
BGHSt 12, S. 75, 78: „Die Regeln des Straßenverkehrsrechts sind das Ergebnis einer auf langer Erfahrung und auf Überlegung beruhenden umfassenden Voraussicht möglicher Gefahren."
I. „Theorie der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung"
61
Handlung in der Regel zu bejahen. Nach dem Vorbild der Rechtsprechung 35 hat sich die Ansicht durchgesetzt, daß die Verletzung einer Sondernorm stets - aber auch nur - ein Anzeichen für die Voraussehbarkeit des straftatbestandlichen Erfolges gebe.36 c) Einschränkungen Eine Einschränkung erfährt der Fahrlässigkeitstatbestand durch das sogenannte erlaubte Risiko und den Vertrauensgrundsatz. Beide Themen sollen aber erst später gesondert aufgegriffen werden. 2. Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang Ein weiteres Spezifikum der Fahrlässigkeitssystematik der h M ist der sog. „Pflichtwidrigkeitszusammenhang". Nach herrschender Ansicht schließt das Fehlen des „Pflichtwidrigkeitszusammenhangs" die Erfolgszurechnung aus. Der besagte Zusammenhang fehlt, wenn der herbeigeführte Erfolg auch durch ein pflichtgemäßes Verhalten des Täters herbeigeführt worden wäre. Als Beispiel seien der „Radfahrerfall" 37 und der bekannte Lehrbuchfall genannt, bei dem der Tod des Patienten durch einen ärztlichen Kunstfehler eingetreten ist, der Patient aber auch bei einer Behandlung lege artis verstorben wäre. Grund und Grenzen dieser Entlastung des Täters und auch diese selbst sind umstritten. Dieses Thema soll hier nicht weiter vertieft werden, jedoch seien die Hauptströmungen kurz dargestellt: Nach der Rechtsprechung 38 findet sich der Grund der Entlastung in der mangelnden Ursächlichkeit der Pflichtwidrigkeit für den Erfolg. Nach aA 3 9 hat
35
BGHSt 4, S. 182, 185: „Für den strafrechtlichen Begriff der Fahrlässigkeit i. S. des § 222 StGB ist nicht allein entscheidend, ob die polizeilichen Verkehrsvorschriften befolgt worden sind oder nicht. Die Voraussehbarkeit hängt stets von den Umständen des Einzelfalls ab und ist unabhängig davon zu prüfen, ob eine strafbare Verkehrsübertretung vorliegt." Siehe dazu auch BGHSt 12, S. 75. 36 Lackner § 15 Rdnr. 39; LK-Schroeder § 16 Rdnr. 163 f f ; Jescheck, S. 525; Bockelmann-Volk, S. 159; Kühl, S. 521 jeweils m.w.N; siehe dazu auch Volk, insb. S. 161; nicht deutlich bei Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 207 ff. und 220 ff.; aA für „durchnormierte" Sachgebiete aber ohne nähere Begründung Maurach-Gössel § 43 Rdnr. 47 - 50. 37
BGHSt 11, S. 1.
38
BGHSt 11, S. 1.
39
LK-Jescheck vor § 13 Rdnr. 63; SK-Samson nach § 16 Rdnr. 26.
62
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
sich in derartigen Fallkonstellationen die pflichtwidrig geschaffene Gefahr nicht im Erfolg ausgewirkt. Jedoch wird dem entgegenzuhalten sein, daß auch in diesen Fällen eine „pflichtwidrige" Handlung die Gefahr verursacht hat und es auch die „pflichtwidrig" geschaffene Gefahr war, die in den Erfolg umgeschlagen ist. 40 Nach Lenckner handelt es sich deshalb in dieser Fallkonstellation um eine Ausnahme von dem Grundsatz der Unbeachtlichkeit hypothetischer Kausalverläufe, die sich am ehesten damit erklären läßt, daß eine unvorsätzlichpflichtwidrige Handlung, die das auch durch ein sorgfaltsgemäßes Verhalten des Täters begründete Risiko gegenüber dem verletzten Rechtsgut nicht mehr wesentlich erhöht, in dieser Beziehung gerechterweise ebenso behandelt werden muß, wie eine unverbotene Handlung. Eine andere Sicht der Dinge haben die Vertreter der „Risikoerhöhungslehre": Wenn der Täter das erlaubte Risiko überschreitet und dadurch die gerade noch tolerierbare Gefahr weiter erhöht, schafft er ein im ganzen schlechthin verbotenes Risiko. Dieses Risiko verwirklicht sich auch, wenn der Erfolg eintritt. 41 Nach einer anderen Ansicht sollen in diesen Fällen Normzweckgesichtspunkte herangezogen werden, die Erfolgszurechnung soll also davon abhängig sein, ob der Erfolg in den Schutzbereich der „Sorgfaltsnorm" fällt. 42 3. Schutzzweck der Norm Durch die Berücksichtigung der „Sondernormen" und deren Indizwirkung für das Vorliegen einer „objektiven Sorgfaltspflichtverletzung" entsteht für die hM die Schwierigkeit, daß es für sie Fallkonstellationen geben kann, in denen, wegen des Verstoßes gegen eine Sondernorm, eine pflichtwidrige Handlung und ein tatbestandlicher Erfolg vorliegen können, die Handlung auch kausal für den Erfolg war, gleichwohl aber auf der Basis der „geronnenen Erfahrung" dieser konkrete Erfolg zum Zeitpunkt des Handlungsvollzugs nicht vorhergesehen werden konnte. Nach den oben genannten Grundsätzen wäre diese Fallkonstellation einfach zu lösen: Da die Sorgfaltsnorm, wie bereits erwähnt, eine „geronnene Erfahrung" darstellt und somit der Normenverstoß die Pflichtwidrigkeit lediglich indiziert, ist auf jeden Fall vom Rechtsanwender zu prüfen, ob der konkrete Erfolg und die ihm unmittelbar vorangehende Rechtsgutsgefährdung zum Zeitpunkt der Handlung der
40
Sch-Sch Lenckner vor § 13 Rdnr. 99.
41
Roxin, A T 1, S. 315 m.w.N.
42
Nießen, S. 170 ff.; siehe auch die Darstellung des Meinungsstandes dort.
I. Theorie der bjektiven Sorgfaltspflichtverletzung
63
objektiven Maßfigur vorhersehbar war. Bei einem negativen Ergebnis ist dann die Pflichtwidrigkeit zu verneinen. 43 Die h M hat sich jedoch derart in dem Gestrüpp der „Sondernormen" verfangen, daß sie bei einem Verstoß gegen dieselben zwanglos und entgegen ihren eigenen Prämissen die Pflichtwidrigkeit bejaht und erst in einer weiteren Kategorie, nämlich der der objektiven Zurechnung, die Frage aufwirft, ob der konkret eingetretene Erfolg im Schutzbereich der verletzten (Sonder-) Norm lag, m.a.W. ob die verletzte Norm zu dem Zweck erlassen wurde, vor Rechtsgutsverletzungen wie der konkret eingetretenen zu schützen.44 An dieser Stelle liegt für die h M das Zentralproblem der „Sondernormen". Einerseits ist häufig entweder das geschützte Rechtsgut nicht vollständig zu erschließen oder die Norm bezweckt nur einen partiellen Schutz45, andererseits ist insbesondere für die „Sondernormen" ein Schutz mehrerer Rechtsgüter denkbar und häufig. Gerade die DIN- oder die VDE-Normen, aber auch die Vorschriften des Kaminbauwesens, des Gaststättenrechts usw. verfolgen neben einem oft sehr mittelbaren Ziel, etwa dem Schutz der menschlichen Gesundheit, noch Zwecke der Praktikabilität, der Ästhetik, des öffentliche Anstandes usw. Dieser Mehrfachschutz tritt in den Vorschriften der StVO ganz deutlich hervor und wird in § 1 StVO ausdrücklich angesprochen, der neben dem Schutz vor Gefahren für Leib und Leben auch die Flüssigkeit des Verkehrs bezweckt. So soll das Rechtsfahrgebot nicht nur vor Gefahren für Leib und Leben schützen, sondern überhaupt eine Geschwindigkeit über dem Schrittempo ermöglichen. 46
43
Siehe dazu Lenckner, Technische Normen, S. 502 f.
44
Siehe dazu Schroeder in LK § 16 Rdnr. 157 a.E.: „Geradezu ans Groteske grenzt es, daß die Lehre von der Sorgfaltspflichtverletzung außerdem noch ein aufwendiges dogmatisches Gebäude errichten mußte, nur um die Fälle wieder auszuscheiden, in denen das Verhalten gar nicht den 'Schutzbereich' der von ihr zuvor ermittelten 'Sorgfaltspflicht' verletzt!" 45 Ein anschauliches Beispiel gibt Bohnert , Fahrlässigkeit, S. 7: „Nach § 120a GewO ist der Gewerbeunternehmer verpflichtet, seine Betriebsmaschinen so einzurichten und zu unterhalten, daß die Arbeitnehmer gegen Gefahren für Leib und Leben so weit geschützt sind, wie es die Natur des Betriebes gestattet. § 120a GewO könnte daher als Sondernorm für den Fall aufgefaßt werden, daß eine schlecht aufgestellte Maschine umfällt und einen Arbeiter erdrückt. Wie aber, wenn die gleiche Maschine aus den gleichen Gründen den Sohn eines Hobbybastlers erdrückt? § 120a GewO ist nicht einschlägig, eine analoge Anwendung auf Bastler ebenso zweifelhaft wie überflüssig. Der Vater unterliegt der normalen Fahrlässigkeitshaftung." 46
Bohnert , Fahrlässigkeit, S. 8.
64
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts 4. Schuld
Die hA sieht in der subjektiven Sorgfaltsverletzung und in der Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens Elemente der Schuld des Fahrlässigkeitsdelikts. a) Die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung Nach der hier referierten Ansicht setzt die Schuld des Fahrlässigkeitsdelikts neben den allgemeinen Schuldvoraussetzungen (Schuldfähigkeit, potentielle Verbotskenntnis) die Möglichkeit voraus, dem Täter einen persönlichen Vorwurf daraus zu machen, daß er im konkreten Fall die ihm individuell mögliche Sorgfalt außer acht ließ, obwohl ihm die Einhaltung der objektiven Sorgfaltspflicht zumutbar war und er den möglichen Erfolg hätte voraussehen können47, d. h., daß der Täter nach seinen persönlichen Verhältnissen zur Einhaltung des objektiven Sorgfaltsstandards in der Lage war. Kommt man zu dem Ergebnis, daß der Täter, sei es, weil er geistig schlicht strukturiert war, sei es, weil er nicht über eine ausreichende Tatsachenkenntnis verfugte, nicht in der Lage war, die entsprechende Gefahrprognose zu fällen, so hat er ohne Schuld gehandelt. b) Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens Der Schuldvorwurf kann auf der Basis der hM auch dann entfallen, wenn äußere Umstände die Erfüllung der objektiven Sorgfaltspflicht als unzumutbar erscheinen lassen.48 Unter der Kategorie „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens" werden Fallkonstellationen berücksichtigt, in denen dem Täter die Unterlassung der unsorgfältigen Handlung in außergewöhnlichem Maße erschwert wird. 49 II. Die Theorie der subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung Im Gegensatz zur hM stellen Jakobs50, Stratenwerth 51 und Samson zur Bestimmung der Sorgfaltspflicht bzw. deren Verletzung nicht auf eine objektive
47
Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 190.
48
Jescheck, S. 539 m.w.N.
49
Vgl. aus der Rspr. „Leinenfängerfall", RGSt 30, S. 25; „Straßenbahnschaffner", RGSt 74, S. 195, 198. 50
Jakobs, Studien, S. 64 ff.; ders., LB, S. 318 ff.
51
Stratenwerth,
Jescheck FS, S. 285 f f ; ders., LB, S. 292 ff.
II. Die Theorie der subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung
65
Maßfigur, sondern auf die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten des Täters ab. Sorgfaltswidrig ist nach dieser Ansicht eine Handlung dann, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Handlung deren Gefährlichkeit für das geschützte Rechtsgut hätte erkennen können. 52 1. Die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung Ausgangspunkt dieser Ansicht ist wieder die Theorie vom Primat der Bestimmungsnorm. Dabei interpretiert Jakobs53 die Verhaltensnorm so, daß, nach seiner Ansicht, der Täter nur diejenigen Erfolge vermeiden soll, die er vermeiden könne. A u f diese Weise werde die Pflicht zur Vermeidung durch das ErkennenKönnen des Täters konstituiert. „Zwar kann jedermann unterlassen, aber mit dem Motiv, eine bestimmte Handlung zu unterlassen, kann nur derjenige die bestimmte Handlung unterlassen, der seine projektierte Handlung als eine so bestimmte erkennen kann." 54 Anders ausgedrückt heißt das: Wenn das Normgebot lautet, „Unterlasse Handlungen, die ein bestimmtes Rechtsgut gefährden können", so kann nur derjenige sich dem Normgebot entsprechend verhalten, der überhaupt in der Lage ist, zu erkennen, daß sein Handlungsprojekt geeignet ist, das von der Norm geschützte Rechtsgut zu gefährden. 55 Auch wenn die physische Fähigkeit zum Unterlassen einer bestimmten Handlung jedem gegeben ist, so könne doch nicht jedermann sorgfaltslose Handlungen unterlassen, sondern nur derjenige, der die Sorgfaltslosigkeit seines Tuns erkennen könne. 56 Würde die Norm dem Rechtsunterworfenen einen Sorgfaltsmaßstab vorgeben, so wandelte sich das Verletzungsdelikt zum Ungehorsamsdelikt, weil das Gesetz dann keine vermeidbare Erfolgsverursachung mehr beschreibe, sondern ein konkretes erfolgsverursachendes Verhalten. Dem Täter würde durch eine solche Norm verboten, unsorgfältige Handlungen vorzunehmen, unabhängig davon, ob er die aus der Unsorgfaltigkeit resultierende Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgut erkennen
52
SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 12.
53
Jakobs, Studien, S. 64 ff.
54
Jakobs, Studien, S. 66.
55
Vgl. dazu auch Stratenwerth,
56
LB, S. 296.
M i t dieser Argumentation tritt Jakobs der Ansicht entgegen, daß es möglich sei, die Sorgfalt unabhängig vom Einsichtsvermögen zu bestimmen. Die Gegenansicht beruft sich darauf, daß der Satz „ultra posse nemo obligatur" nur für Gebote gelte, da Verboten durch schlichtes Unterlassen genügt werde und jedermann unterlassen könne, (zur Gegenansicht: Armin Kaufmann, ZfRV, S. 47).
5 Brinkmann
66
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
könne oder nicht. Aber die Norm laute eben nicht „Unterlasse unsorgfältige Handlungen", sondern „Handele nicht so, daß andere Rechtsgüter verletzt werden". Ansonsten läge das praktische Problem dann auch nicht mehr in der Erkennbarkeit des Erfolgseintritts, sondern in der Erkennbarkeit der Sorgfaltserkenntnis.57 In Ergänzung zu Jakobs verweist Stratenwerth auf die Parallele zum Unterlassungsdelikt. Zwar könne auch der Einfältigste und Untüchtigste eine Körperbewegung unterlassen, durch die er beispielsweise eine Lawine auszulösen drohe, doch sei damit nichts gesagt. Die bloße, unreflektierte Unterlassung könne ebensowenig genügen, um das Normgebot zu erfüllen, wie die bloße Fähigkeit zur Vornahme bestimmter Körperbewegungen, wenn der Handelnde völlig außerstande sei, die Gefährlichkeit seines Verhaltens zu erkennen. Ein rechtliches Verbot, das der Gefahr entgegenwirken soll, müßte die Körperbewegung als solche untersagen und würde damit blinden Gehorsam fordern, ebenso wie ein Gebot, rettende Körperbewegungen vorzunehmen, deren Sinn der Verpflichtete nicht erkennen könne. 58 Jedoch ist auch nach der hier referierten Meinung ist nicht jede dem Täter erkennbar gefährliche Handlung verboten. Dies ist, gleich der hM, nur dann der Fall, wenn sie die Grenze des erlaubten Risikos, auf das unten noch gesondert eingegangen werden soll, überschreitet. 59 2. Zurechnungszusammenhang Ebenso wie die hM fordern auch die Vertreter der Theorie von der subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung einen Pflicht- oder Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen sorgfaltswidriger Handlung und eingetretenem Erfolg. 60 Die oben im Rahmen der h M angesprochenen Kriterien zum „Pflichtwidrigkeitszusammenhang", wie auch zum „Schutzzweck der Norm" finden sich auch bei der hier zugrundegelegten Ansicht wieder, und zwar ebenso wie bei der hM als Problem des objektiven Tatbestandes unter dem Stichwort „objektive Zurechnung". 61 Als Abweichung ist zu vermerken, daß im Rahmen dieser Zurechnung auf das
57
Jakobs, Studien, S. 66.
58
Stratenwerth,
59
SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 16; Stratenwerth,
60
Vgl nur SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 25 m.w.N.
61
SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 22 ff.; Stratenwerth,
Jescheck FS, S. 292; Jakobs, Studien, S. 67. LB, S. 295; Jakobs, LB, S. 35. LB, S. 297.
III. Die finale Fahrlässigkeitskonzeption
67
Täterwissen abgestellt wird; dem Täter muß dasjenige Risiko erkennbar gewesen sein, das sich verwirklicht hat. Die Ermittlung, ob das der Fall ist, geschieht dabei nach den Grundsätzen der „objektiven Zurechnung". Es ist dabei nur nicht auf jedes vom Täter geschaffene, sondern lediglich auf das ihm erkennbare Risiko abzustellen. Wenn die Bedingungen des dem Täter erkennbaren Risikos die Schadensneigung des Kausalverlaufs nicht erklären können, fehlt es an einer entsprechenden Risikoverwirklichung. Der Problembereich des sog. „Pflichtwidrigkeitszusammenhanges" ist danach nur ein Anwendungsfall dieser Risikoverwirklichung. 62 5. Schuld Nach der Theorie von der „subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung" weist die Schuld des Fahrklässigkeitsdelikts gegenüber dem Vorsatzdelikt keine grundsätzlichen Besonderheiten auf. Da die individuelle Vorhersehbarkeit des Erfolges nach dieser Ansicht zum Unrecht gehört, wird die Schuld des Fahrlässigkeitsdeklikts primär durch die Fähigkeit bestimmt, das Unrecht der Tat zu erkennen und sich nach dieser Einsicht zu richten. Ebenso wie der bei der hM werden aber auch hier die oben unter dem Stichwort „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens" angesprochenen Fallkonstellationen im Bereich der Schuld berücksichtigt. 63 I I I . Die finale Fahrlässigkeitskonzeption Im Unterschied zu den bisher dargestellten Meinungen geht Struensee64 davon aus, daß dem Vorsatz- und dem Fahrlässigkeitsdelikt eine identische Struktur innewohnt.65 Wie das Vorsatzdelikt weise das Fahrlässigkeitsdelikt sowohl einen objektiven als auch einen subjektiven Tatbestand auf. Danach ist der objektive Tatbestand eines fahrlässigen Erfolgsdelikts - verkürzt ausgedrückt - auf jeden Fall dann verwirklicht, wenn die Handlung ursächlich für den tatbestandlichen Erfolg war. Der subjektive Tatbestand des fahrlässigen Delikts (die Sorgfaltswidrigkeit) besteht nach Struensee darin, daß der Handelnde von den Bedingungen des eingetretenen Erfolges einen relevanten Ausschnitt
62
Jakobs, LB, S. 324 f.; SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 29 f.
63
SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 34 ff.; Stratenwerth, S. 127 ff. 64
Struensee, JZ, S. 53 ff.
65
Ein ähnlicher Ansatz wird auch von Zielinski,
5*
LB, S. 300 f.; Jakobs, Studien,
S. 191, verfolgt.
68
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
kennt, von dem nach der Bewertung der Rechtsordnung eine intolerable Gefahr (ein „unerlaubtes Risiko") ausgeht.66 Ausgangspunkt der Herleitung auf dem Boden der finalen Handlungslehre ist die Überlegung, daß im Falle des fahrlässigen Delikts die Finalität des Handelnden sich nicht auf den im Gesetz beschriebenen tatbestandsmäßigen Erfolg erstrecken kann. Verhielte es sich anders, läge vorsätzliches Handeln vor. Um einen einheitlich strukturierten Handlungsunwert beizubehalten, müsse sich die Finalität des sorgfaltslos Handelnden auf einen anderen unwertigen Sachverhalt beziehen. Das fahrlässige Delikt unterschiede sich dann bei identischer Struktur nicht nur auf der subjektiven, sondern auch auf der objektiven Seite vom Vorsatzdelikt. 67 Der gesuchte Sachverhalt besteht dann in einer bestimmten Konstellation objektiver Umstände, die deshalb negativ bewertet wird, weil die Rechtsordnung an sie die Prognose möglicher Rechtsgutsverletzung (Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs) knüpft und darum die finale Herbeiführung einer solchen Konstellation verbietet. 68 Dieser Sachverhalt sei die Beschreibung eines Verhaltens, dem eine Rechtsgutsverletzungstendenz innewohnt und das aus diesem Grund von der Norm verboten wird. Problematisch kann es dabei aber sein, den tatbestandlich relevanten Sachverhaltsausschnitt zu bestimmen, in dem die Kumulation risikoträchtiger Faktoren die Toleranzgrenze überschreitet, d. h. ein Risikosyndrom bildet. A u f der Grundlage der hier vorgestellten Ansicht kann dies jedoch dahingestellt bleiben, da bei Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs denknotwendig ein solches Risikosyndrom vorgelegen haben muß. Jedem Erfolgseintritt geht zwangsläufig eine Situation voraus, die die Möglichkeit (Gefahr) der Erfolgsverursachung in sich birgt. 69 Es ist also stets vom Erfolgseintritt auf das Vorliegen einer entsprechenden Gefahr zurückzuschließen. Also ist der objektive Tatbestand des fahrlässigen Erfolgsdelikts stets erfüllt, wenn eine Handlung des Täters kausal für den Erfolg war. Relevant wird das oben angesprochene Problem des Risikosyndroms jedoch für die Frage, ob auch der subjektive Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts gegeben ist. Da bei Erfolgseintritt der Kausalstrang auf jeden Fall die Scheidelinie zwischen tolerabler und intolerabler Gefahr überschritten hat, kommt es dann für
66
Struensee, JZ, S. 60.
67
Struensee, JZ, S. 57 f.
68
Struensee, JZ, S. 58.
69
Struensee, JZ, S. 58.
III. Die finale Fahrlässigkeitskonzeption
69
die Frage, ob der Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts erfüllt ist, allein auf die Kenntnisse des Täters an. D. h., es kommt darauf an, ob ihm aufgrund seines Tatsachenwissens der Schluß möglich war, daß er durch sein Handeln eine intolerable Gefahr begründet hat. Hat der Täter Risikofaktoren erkannt, die den Schluß „intolerable Gefahr" zulassen, so hat er „sorgfaltswidrig" gehandelt, hat er sich jedoch in Unkenntnis befunden, so führt dies zu einem „Fahrlässigkeitstatumstandsirrtum". 70 Der Maßstab, der an die Täterkenntnisse zu legen ist, ist dabei normativ zu bestimmen, es kommt darauf an, welche Gefahren die Rechtsordnung noch als hinnehmbar bewertet und an welcher Stelle sie die Grenze zur nicht mehr hinnehmbaren Gefahr zieht. Ob die dem Täter bekannten Fakten das Urteil „unerlaubtes Risiko" tragen, auch wenn der Täter keinen entsprechenden Schluß gezogen hat, ist dann objektiv zu ermitteln. Es soll der Maßstab eines einsichtigen Beobachters angelegt werden. Die objektive Erkennbarkeit lasse sich schon als Produkt der Anwendung von Erfahrungsregeln und Naturgesetzen auf das Täterwissen erklären, ein Bedürfnis, die Faktenbasis des objektiven Beobachters zu erweitern, bestehe im Unterschied zur h M insofern nicht. 71 P. Frisch 72 führt dazu aus, die ontologische Basis für die Anwendung des Erfahrungswissens des einsichtigen Beobachters könne allein das Täterwissen sein. Wolle man auf die Realfaktoren abstellen, die dem einsichtigen Beobachter erkennbar gewesen wären, und das reale Wissen des Täters nur berücksichtigen, wenn es darüber hinaus ginge, so müsse zunächst geprüft werden, wonach sich diese Erkennbarkeit bemesse. Gerade um die Ermittlung der Erkennbarkeit gehe es. Man müsse daher allein auf das nomologische Urteil über die dem Täter real bekannten Umstände abstellen. Der einsichtige Beobachter könne dann bei seinem Urteil ggf. weitere Umstände erkennen, die ihn dazu nötigten, sich weitere Tatsachenkenntnisse zu verschaffen. Dies seien dann die erkennbaren Tatsachen. Das ontologische „Urteil" sei also schon Teil des nomologischen; oder: das nomologische Urteil sei über die dem Täter real bekannten Umstände abzugeben. „Wenn die mit nomologischen Wissen optimal ausgestattete Maßfigur ein unerlaubtes Risiko aufgrund der dem Täter bekannten Sachlage nicht zu prognostizieren vermag, dann ist auch kein realer Mensch dazu fähig." 73
70
Struensee, JZ, S. 61.
71
Struensee, JZ, S. 61.
72
P. Frisch, S. 89.
73
Struensee, JZ, S. 61.
70
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
Das hier vorgestellte und auf den ersten Blick etwas ungewöhnliche Konzept der Finalität des Fahrlässigkeitsdeliktes findet sich der Sache nach auch in der hM wieder. Zur Bestimmung der Sorgfaltspflichtverletzung stellt sie auf den objektiven Beobachter ab, der von einem ex-ante Standpunkt aus das Urteil über die Handlung fällt. Diese Handlung ist aber im entscheidenden Beurteilungszeitpunkt ante actum, vor ihrem vollständigen Vollzug, erst ein Projekt, ein Plan, der allein in der Täterpsyche existiert. Desweiteren findet zur Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabes ein eventuelles Sonderwissen des Täters Berücksichtigung und dies, ohne daß die Vertreter der hM bemerkt haben, daß sie damit einen subjektiven Tatbestand in die Fahrlässigkeitsdogmatik eingeführt haben.74 Die finale Fahrlässigkeitskonzeption soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Um einen Schabernack zu treiben, stellt sich der Täter hinter eine Hausecke. Als ein Passant sich nähert, springt er hervor und erschrickt ihn. Der Passant, dessen Herz extrem schwach konstituiert ist, bekommt einen Anfall und stirbt. Legt man die oben gemachten Ausführungen zugrunde, ist der objektive Tatbestand des § 222 StGB erfüllt. Von dem Erfolgseintritt kann auf das Vorliegen eines Gefahrsachverhaltes zurückgeschlossen werden. Es kommt nun für die Strafbarkeit darauf an, ob der Täter Tatsachen erkannt hat, die ein Risikosyndrom begründen. Seine Vorstellungen bezogen sich aber allein auf das Erschrecken eines physisch normal konstituierten Passanten mit den damit verbundenen Folgen, also kurzfristiger Erhöhung von Blutdruck und Puls. Allein von diesen Fakten kann jedoch auf einen relevanten Gefahrsachverhalt nicht geschlossen werden, da es höchst unwahrscheinlich ist, allein durch einen harmlosen Scherz einen anderen buchstäblich zu Tode zu erschrecken. Die Faktenkenntnis des Täters läßt nur den Schluß auf eine tolerable Gefahr zu. Von dem risikoerhöhenden Umstand der Herzschädigung hatte er keine Kenntnis, er befand sich demnach in einem Fahrlässigkeitstatumstandsirrtum. Hätte derselbe Täter jedoch in dem herannahenden Passanten seinen schwer herzkranken Nachbarn erkannt, so verhielte es sich anders. Sein Faktenwissen hätte ohne weiteres den Schluß auf eine intolerable Gefahr zugelassen, da der einsichtige Beobachter aus den dem Täter bekannten Faktoren, Erschrecken mit den entsprechenden Symptomen und Vorschädigung des Herzens des Passanten, den Schluß auf eine intolerable Gefahr gezogen hätte. Diese Sicht des Fahrlässigkeitsdelikts führt auch nicht zu einer Privilegierung des Unaufmerksamen, wie man prima facie vielleicht meinen mag. Der un-
74
Struensee, GA, S.99.
III. Die finale Fahrlässigkeitskonzeption
71
aufmerksame Kraftfahrer, der während der Fahrt durch die Stadt in seinen Gedanken versunken ist, handelt in Unkenntnis der risikoerhöhenden Faktoren, wenn er deshalb spielende Kinder am Fahrbahnrand nicht bemerkt. Nach den oben genannten Grundsätzen mag es naheliegen, anzunehmen, er hätte sich im Fahrlässigkeitstatumstandsirrtum befunden, da ihm lediglich bewußt war, mit seinem Kraftfahrzeug unterwegs zu sein. Wenn jedoch der gedachte Beurteiler Erfahrungsregeln auf dieses Handlungsprojekt anwendet, kann er aufgrund der Täterkenntnisse zu keinem endgültigen Ergebnis kommen, die Situation ist für ihn nicht durchschaubar. Er kann deshalb nur den Schluß ziehen, daß ein relevantes Manko an Sachverhaltsaufklärung besteht. Wegen eben dieses Mankos wird die Situation dann als gefährlich bewertet. 75 Es sei betont: „Nicht ein Mangel an Aufmerksamkeit, Prüfung oder Untersuchung kennzeichnet den Sachverhalt, der das Unwerturteil trägt, sondern das Handeln in einer auch für den ex-ante Betrachter offenen und ungewissen Situation, mag sie näher aufklärbar sein oder nicht." 76 Wie nach der hM, hat auch nach der hier dargestellten Lehre das „erlaubte Risiko" die Funktion, den Bereich die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit einzuschränken. A u f die Einzelheiten soll später noch eingegangen werden. 7. Schutzzweck der Norm und Pflichtwidrigkeitszusammenhang Die von den anderen Ansichten aufgeworfenen Probleme „Schutzzweck der Norm" und Pflichtwidrigkeitszusammenhang" sind für den hier dargestellten Ansatz ein Kongruenzproblem. Es kommt in diesen Fällen darauf an, ob die risikoerhöhenden Faktoren, die der Täter erkannt hat, den Schluß auf dasjenige Kausalgesetz zulassen, das tatsächlich zum Erfolg geführt hat. Die Einschränkung der Tatbestandsmäßigkeit im Hinblick auf diese Problemkreise setzt nach dieser Ansicht also nicht, wie nach den anderen Meinungen, im objektiven, sondern im subjektiven Tatbestand an. Aus den Kenntnissen des Täters läßt sich, so er genug risikoerhöhende Faktoren erkannt hat, auf eine Gefahr schließen. Der Begriff der Gefahr beinhaltet also einen Ausschnitt aus den Bedingungen eines Kausalgesetzes, das für Ereignisse von der Art des tatbestandsmäßigen Erfolges gilt. Dieser Ausschnitt realisiert sich im eingetretenen Erfolg dann, wenn die weiteren Voraussetzungen gerade
75
Struensee, JZ, S. 62.
76
Struensee, JZ, S. 62.
72
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
desjenigen Kausalgesetzes erfüllt sind, das dem Gefahrurteil zugrundeliegt. Der eingetretene Erfolg ist demnach normzweckwidrig, wenn der Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg auf dem Kausalgesetz beruht, das das Urteil über die intolerable Gefahr der vom Handlungsprojekt umfaßten Erfolgsbedingungen trägt und so die Bildung der Sorgfaltsnorm motiviert. Die Kongruenz zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand liegt in der Identität des Kausalgesetzes, das im objektiven Bereich den Kausalzusammenhang und auf der subjektiven Seite die Sorgfaltswidrigkeit begründet. 77 Spezifikum der sog. „Schutzzweckfälle" ist es, daß die dem Täter bekannten gefahrbegründenden Umstände ursächlich für die eingetretene Rechtsgutsverletzung sind. Exemplarisch sei der (Standard-) Lehrbuchfall, daß ein Kraftfahrer in A-Dorf nicht an einem Rotlicht anhält und in B-Dorf einen Passanten erfaßt, der die Straße überquert, genannt. Erkannt hat der Kraftfahrer, daß er trotz Rotlichts die Kreuzung passierte. Aus diesem risikoerhöhenden Faktor läßt sich auf einen Kausalstrang schließen, der in einer Gefährdung des querenden Verkehrs an der Ampelkreuzung mündet. Gleichzeitig war die Mißachtung des Haltegebots auch kausal für den Tod oder die Verletzung des Passanten. Hätte der Autofahrer gehalten, wäre er erst später an der Unfallstelle angekommen und der Fußgänger hätte die Fahrbahn bereits hinter sich gelassen. Dies ist aber ein gänzlich anderer Kausalverlauf als derjenige auf den das Faktenwissen des Fahrers schließen ließ. Von dem verwirklichten Kausalverlauf hatte der Fahrzeugführer nur so wenige Faktoren erkannt, daß davon nicht auf eine Gefahr für den Fußgänger in B-Dorf geschlossen werden konnte. Objektiver und subjektiver Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts sind zwar jeweils erfüllt, aber nicht deckungsgleich. Der Täter handelte im Fahrlässigkeitstatumstandsirrtum. 78 Nicht anders behandelt diese Lehre die Fälle des sog. „rechtmäßigen Alternativverhaltens". Auch hier kommt es nur darauf an, ob das Kausalgesetz, das sich im Erfolgseintritt verwirklicht hat, dasselbe ist, das der einsichtige Beobachter bei der Fällung seines Gefahrurteils auf der Basis des Täterwissens zugrundegelegt hat.
11
Struensee, GA, S. 102.
78
Struensee, GA, S. 103 f.
IV. Das Gefahrurteil
73
2. Schuld Nach der hier vorgestellten Fahrlässigkeitskonzeption auf der Grundlage der finalen Handlungslehre unterscheidet sich die Struktur der Schuld des Fahrlässigkeitsdelikts nicht von der des Vorsatzdelikts. IV. Das Gefahrurteil Nachdem die drei heute noch vertretenen Fahrlässigkeitskonzeptionen vorgestellt worden sind, ist zusammenfassend festzuhalten, daß sie bei allen Unterschieden doch einige grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen: 79 Sämtliche Theorien deuten den Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts auf der Grundlage der Theorie des Primats der Bestimmungsnorm. Da die Norm nicht den tatbestandlichen Erfolg verbieten kann, sondern nur Handlungen, die dazu führen können, lautet - verkürzt - beim Fahrlässigkeitsdelikt die Bestimmungsnorm: „Handele nicht so, daß Du ein bestimmtes Rechtsgut gefährdest!" Nach einhelliger Ansicht kann nur dasjenige Täterhandeln den Tatbestand erfüllen, das dieser Bestimmungsnorm zuwiderläuft. Zentraler Punkt des Fahrlässigkeitstatbestandes ist die Gefahrprognose. Es ist also für die Frage der Fahrlässigkeit von einem ex ante-Standpunkt aus zu prüfen, ob die Möglichkeit bestand, daß eine Gefahr für das durch die Fahrlässigkeitsnorm geschützte Rechtsgut durch die zur Begutachtung stehende Tathandlung begründet wurde, ob m.a.W. ex ante eine Gefahr vorhersehbar war. Dabei kann es in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, auf welche Tatsachenbasis dieses Gefahrurteil im einzelnen gestützt wird, auf die einer gedachten Maßfigur, der das Täterwissen zugerechnet wird, oder auf die des Handelnden selbst, dessen Faktenkenntnis von einem gedachten Beobachter geprüft wird. Welches Tatsachenmaterial auch immer der Begutachtung zugrundeliegen mag, der Begutachtungsvorgang ist stets derselbe: Die Vorhersehbarkeit oder Erkennbarkeit eines Gefahrsachverhalts läßt sich als Produkt der
79 Anzumerken ist, daß sich die Darstellung in diesem Punkt an der gängigen Kommentar- und Lehrbuchliteratur orientiert, die regelmäßig vom fahrlässigen Erfolgsdelikt ausgeht. Zum fahrlässigen Begehungsdelikt siehe in diesem Kapitel V.
74
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
Anwendung von Erfahrungsregeln und Naturgesetzen auf die jeweils zugrundegelegte Faktenbasis erklären. 80 Das Gefahrurteil wird also mittels einer Verknüpfung von nomologischer und ontologischer Basis gefällt. 81 So bestechend diese (Kurz-)Formel auch ist, so ist es doch, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag, unmöglich, damit mathematisch exakte Gefahrprognosen zu „errechnen". Die oben benutzte, unbestrittene und griffige Formulierung der Verknüpfung von ontologischer und nomologischer Basis geht auf J. v. Kries und dessen „Theorie der objectiven Möglichkeit" 82 aus dem Jahr 1888 zurück. Obwohl v. Kries stets als alleiniger Urheber genannt wird, entspricht die heutige Variante seiner Theorie nicht mehr vollständig dem damaligen Original. Für das Gebiet des Strafrechts war es erforderlich, die damaligen Thesen zu modifizieren. Entwickelt wurde die „Theorie der objectiven Möglichkeit" als Ergänzung zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Gelten sollte die Theorie in all denjenigen Fällen, die sich der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung entziehen, so zum Beispiel bei dem Großteil der strafrechtlich relevanten Kausalstränge. Dabei handelt es sich um singuläre Erscheinungen, die wegen ihrer Einzigartigkeit einer, ansonsten unumgänglichen, statistischen Aufarbeitung nicht zugänglich sind. v. Kries meinte, mittels seiner Theorie, nach der die Möglichkeit ein Minus zur Wahrscheinlichkeit ist, auch für solche Konstellationen rechtliche Gefahrprognosen erstellen zu können.83 Ihre Wurzeln hat diese Theorie im Wissenschaftspositivismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie fußt nämlich auf der Prämisse, daß das Eintreten eines bestimmten Ereignisses stets fest determiniert sei. Es sei durch die Gesamtheit aller realen Bedingungen schon im voraus fest bestimmt, ob ein Ereignis eintrete oder nicht. 84 Ausgehend von dieser Prämisse wird dann der Satz abgeleitet, daß das Eintreten eines Ereignisses unter gewissen ungenau bestimmten Umständen dann objektiv möglich sei, wenn Bestimmungen dieser Umstände denkbar seien, die gemäß den faktisch geltenden Gesetzen des Geschehens das Ereignis verwirklichen würden. 85 D. h., daß die Möglichkeit, daß ein bestimmtes Ereignis
80
Struensee, JZ, S. 61.
81
Engisch, Kausalität, S. 42 f.
82
v. Kries, S. 179 ff.
83
v. Kries, S. 287 ff.
84
v. Kries, S. 180.
85
v. Kries, S. 181.
IV. Das Gefahrurteil
75
eintreten wird, davon abhängig ist, ob zu den bekannten Tatsachen unter Beiziehung von Naturgesetzen - den faktisch geltenden Gesetzen des Geschehens, wie v. Kries sie nannte - andere Tatsachen hinzugedacht werden können, die dann den Eintritt des Ereignisses als sicher erscheinen lassen. Der Anspruch der Allgemeingültigkeit, der diesem Satz innewohnt, gerät jedoch in dem Augenblick ins Wanken, in dem der Boden der genauen Naturwissenschaften verlassen wird, wenn z. B. der Mensch Kausalverläufe vermittelt, für die dann gerade nicht die „faktisch geltenden Gesetze des Geschehens" gelten können, da menschliches Verhalten nie genau vorherzubestimmen ist. Dabei handelt es sich dann um Kausalverläufe, die sich einer exakten naturwissenschaftlichen Determination entziehen. Weiter sind auch Sachverhalte zwanglos denkbar, auf die sich Naturgesetze wegen einer nicht tragfähigen Faktenbasis nicht anwenden lassen.86 Um die „Theorie der objectiven Möglichkeit" für das Strafrecht fruchtbar zu machen, entstand somit die Notwendigkeit, die nomologische Basis über die „faktisch geltenden Gesetze des Geschehens" i. S. der Naturgesetze hinaus auch auf die weit weniger genauen Erfahrungsregeln auszuweiten, um, unter Zugrundelegung der v. Kries'schen Methode, eine tragfähige Gefahrprognose auch für die oben genannten Fälle erstellen zu können.87 Mit dieser Modifikation ist die aufgezeigte Methode dann uneingeschränkt auf diese und ähnliche Fälle anwendbar. 88 Für die praktische Rechtsanwendung heißt das, daß sich der Rechtsanwender zur Feststellung des tatbestandlichen Verhaltens in die Situation des Täters zurückzuversetzen und in dieser nach der oben beschriebenen Methode die Erfolgsprognose zu stellen hat. Grundlage der Prognose sind dabei die in dieser Situation verfügbaren tatsächlichen Einsichten und das im Tatzeitpunkt bekannte nomologische Wissen. Reicht die ontologische Basis nicht aus, unter Anwendung nomologischen Wissens den Schluß „Gefahr" zu ziehen, handelt der Täter nicht fahrlässig, selbst wenn der Erfolg eintritt. Ebenso verhält es sich, wenn das nomologische Wissen, auf die Tatsachenbasis angewandt, eine Gefahrprognose
86
Darauf soll unten (G.I.l.) noch näher eingegangen werden.
87
Siehe dazu auch Max Weber, S. 276, der diese Methode für die Geschichtswissenschaft übernommen hat und für den das nomologische Wissen allein die Kenntnis der Erfahrungsregeln beinhaltet. 88 Diese hier beschriebene Modifikation der ursprünglichen Theorie wurde in der strafrechtlichen Literatur bereits vor geraumer Zeit, jedoch ohne Begründung, vollzogen. Vgl. dazu nur: Träger, S. 159; Engisch, Kausalität, S. 43 f.
76
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
nicht erlaubt, weil etwa das zugrundeliegende Kausalgesetz zum Zeitpunkt der Handlung nicht bekannt war. Ein in dieser Situation nicht verfugbares Erfahrungswissen muß nämlich außer Betracht bleiben, da auf dessen motivierende Kraft nicht gesetzt werden kann. Das gilt in Richtung auf das das Gefahrurteil konkret begründende Wissen ebenso wie für das das Urteil auflösende. Über ein solches erst nachträglich verfugbares Erfahrungswissen läßt sich tatbestandsmäßiges Verhalten weder negieren noch begründen. 89 V. Das fahrlässige Tätigkeitsdelikt Die bisherige Erörterung des Tatbestandes des Fahrlässigkeitsdelikts bezog sich in erster Linie auf das fahrlässige Erfolgsdelikt und folgte damit den gängigen Darstellungen in der Kommentar- und Lehrbuchliteratur. Üblicherweise wird dort zwischen Erfolgs- und schlichten Tätigkeitsdelikten unterschieden, dabei soll das Unterscheidungskriterium in der Beziehung zwischen Handlung und Erfolg zu finden sein.90 Während bei Erfolgsdelikten im gesetzlichen Tatbestand der Eintritt eines von der Tathandlung gedanklich abgrenzbaren Erfolges in der Außenwelt vorausgesetzt werde, sei bei schlichten Tätigkeitsdelikten der Unrechtstatbestand schon durch das im Gesetz beschriebene Tätigwerden als solches erfüllt. 91 Folgt man dieser Ansicht und geht man nicht davon aus, daß auch das „schlichte" Tätigkeitsdelikt einen Erfolg aufweist 92, so handelt es sich bei den Lebensmitteldelikten ausschließlich um Tätigkeitsdelikte, weil der Gesetzgeber die Sanktionsdrohung allein an die Verhaltensweisen „Inverkehrbringen", „Feilhalten" usw. anknüpft.
89
W. Frisch, S. 128; Lenckner, Technische Normen, S. 498.
90
Vgl. statt vieler: Wessels, S. 5.
91
Wessels, S. 6.
92
Dies ist ohne weiteres vertretbar: Der Erfolg der Aussagedelikte gem. §§153 ff. StGB kann z. B. darin gesehen werden, daß die vom Täter ausgehenden Schallwellen auf das Ohr des Richters treffen. § 316 StGB setzt das Führen eines Fahrzeuges voraus, d. h , daß der fahruntüchtige Fahrer eine Ortsveränderung vorgenommen haben muß. In beiden Beispielen läßt sich zwanglos der von der Tathandlung gedanklich abgrenzbare Erfolg herauspräparieren, da im ersten Fall die Handlung bei genauer Betrachtung darin besteht, daß der Aussagende spricht und im zweiten der Fahrzeugfuhrer die Pedale und das Lenkrad bedient. Durch die jeweiligen Handlungen werden lediglich Kausalverläufe in Gang gesetzt, die dann in den tatbestandlich beschriebenen „Erfolg" münden. (Jakobs, LB, S. 171 f.; Schmidhäuser, S. 213 Fn. 11) Die weitere Darstellung soll sich aber auf die Ansicht der h M beziehen.
V. Das fahrlässige Tätigkeitsdelikt
77
Fraglich ist dann in diesem Zusammenhang, ob das fahrlässige Tätigkeitsdelikt anderen Regeln unterworfen ist als das fahrlässige Erfolgsdelikt, ob m.a.W. das fahrlässige Tätigkeitsdelikt eine divergierende Struktur aufweist. Sollten die Strukturen identisch sein, könnten die oben gewonnenen Ergebnisse ohne weiteres auf die fahrlässigen Lebensmitteldelikte übertragen werden. Die Literatur bleibt auf diese Frage eine Antwort schuldig.93 Allenfalls wird das fahrlässige Tätigkeitsdelikt im Unterschied zum Erfolgsdelikt dadurch charakterisiert, daß sich bei ersterem eine vollständige Kennzeichnung der Tathandlung finde. 94 Indizwirkung für die Beantwortung der aufgeworfenen Frage kann aber die Behandlung der fahrlässigen Tätigkeitsdelikte in Literatur und Rechtsprechung haben. Wie eine Heranziehung der Kommentarliteratur zu §§ 163, 316 Abs. 2 StGB zeigt, werden dort die einen wie die anderen gleich behandelt. Der Täter muß nicht nur durch sein Handeln den - geschriebenen - Tatbestand verwirklicht haben, er muß darüber hinaus auch - in der Diktion der h M - eine Sorgfaltspflicht verletzt haben. Es wird im weiteren zu untersuchen sein, ob diese „Sorgfaltspflicht" dieselbe Struktur wie die des Erfolgsdelikts aufweist, ob also auch dem fahrlässigen Tätigkeitsdelikt eine Gefahrprognose zugrundeliegt. Ausgangspunkt kann auch hier wieder nur die Theorie vom Primat der Bestimmungsnorm sein. Sofern das Gesetz ein bestimmtes tatbestandlich umschriebenes Tun mit einer Sanktion bedroht, könnte diese lauten: „Unterlasse die im Tatbestand beschriebene Handlung!" Sinn macht diese Formulierung der vorgelagerten Norm allerdings nur dann, wenn der Täter erkennt, daß er mit der projektierten Handlung den Gesetzestatbestand erfüllen wird, also beim Vorsatzdelikt, anderenfalls liefe der Gesetzesimperativ an dem Adressaten vorbei. In Fällen, in denen die Tatbestandserfüllung nicht erkannt wird, dem Täter die entsprechende Tatumstandskenntnis fehlt, ist es ihm nicht möglich, sein Verhalten an der so formulierten Bestimmungsnorm auszurichten. In diesen Fällen muß also der Normbefehl lauten: „Unterlasse Handlungen, die den Tatbestand verwirklichen können!" Verboten sind demnach Handlungen, die die Gefahr der Tatbestandsverwirklichung in sich bergen. Auch beim fahrlässigen Tätigkeitsdelikt ist die Gefahrprognose der zentrale Bestandteil des gesetzlichen
93
Vgl. nur die entspr. Passage bei Bockelmann/Volk, S. 172: „Fahrlässige Tätigkeits- und Ommissivdelikte gibt es kaum. Immerhin fehlen sie nicht ganz. Vgl. § 163 (fahrlässiger Falscheid, fahrlässige falsche eidesstattliche Beteuerung, fahrlässige falsche Versicherung an Eides statt), § 138 III (leichtfertige Unterlassung der Anzeige eines drohenden schweren Verbrechens) und § 316 I I (fahrlässige Trunkenheit im Verkehr)." 94
Stratenwerth,
LB, S. 292.
78
D. Die Sorgfaltspflicht als Tatbestandskern des Fahrlässigkeitsdelikts
Tatbestandes. In der praktischen Anwendung kommt dann zu der Prüfung, ob die Tathandlung den geschriebenen Tatbestand erfüllt, hinzu, ob der Täter - nach der h M - eine entsprechende „Sorgfaltspflicht" verletzt hat. Es muß danach bei der Handlungsvornahme - auf der Grundlage dieser Theorie - objektiv erkennbar gewesen sein, daß die fragliche Handlung zur Verwirklichung eines tatbestandsmäßigen Sachverhalts führen kann. Entsprechend gilt dies, nach der Maßgabe der im vorherigen Abschnitt erarbeiteten Ergebnisse, auch für die anderen, oben referierten Ansichten. Diese (Tatbestandsverwirklichungs-) Prognose weist auch keinen Unterschied zu der im Rahmen der Behandlung der Erfolgsdelikte zu stellenden auf. Sowohl bei dem fahrlässigen Tätigkeits- als auch bei dem fahrlässigen Erfolgsdelikt bezieht sich das Gefahrurteil auf die Verwirklichung des Tatbestandes.95 Festzuhalten bleibt, daß das fahrlässige Erfolgs- und das fahrlässige Tätigkeitsdelikt auch auf der Grundlage der hM, die einen Erfolg beim Tätigkeitsdelikt verneint, eine identische Struktur aufweisen. Die Beurteilung beider Erscheinungsformen des fahrlässigen deliktischen Handelns durch positives Tun setzt eine - je nach vertretener Ansicht von verschiedenen Prämissen ausgehende Gefahrprognose voraus. Die oben gewonnenen Ergebnisse können also auf das fahrlässige Lebensmitteldelikt übertragen werden.
95 Lediglich Roxin, AT 1, S. 892, vermag mit seiner oben (unter D.I.l.a) bereits genannten Ansicht das fahrlässige Tätigkeitsdelikt nicht zu erklären, weil er von der Annahme ausgeht, daß die Zurechnung des Erfolges konstituierendes Merkmal des Tatbestandes des Fahrlässigkeitsdelikts sei. Setzt der Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts mit der hM, der Roxin in diesem Zusammenhang folgt, keinen Erfolg voraus, ist eine Zurechnung nicht möglich. Es wäre sinnlos, den Versuch zu machen, ein Nichts einer Handlung zuzurechnen.
E. Das „erlaubte Risiko44 Wenn im Rahmen des Fahrlässigkeitsdelikts die Gefahrprognose auch das zentrale Element zur Bestimmung der Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung ist, bedarf es doch der Hinzuziehung eines Korrektivs, bevor über die Fahrlässigkeit eines Tuns entschieden werden kann. Erfüllte bereits jegliches Handeln, das eine Gefahrprognose rechtfertigte, den Tatbestand der Fahrlässigkeit, bedürfte es nur geringen Argumentationsaufwandes darzulegen, daß es in unserer modernen Gesellschaft kaum noch undeliktisches Verhalten geben könnte, bergen doch unzählige Handlungen die Gefahr einer Rechtsgutsverletzung in sich. Immer, wenn sich ein so prognostizierbarer Erfolg verwirklichte, müßte der Handelnde eine Strafe wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts gewärtigen, auch wenn er lediglich so agiert hätte, wie unzählige seiner Zeitgenossen gleich ihm, nämlich im Einklang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, so etwa beim Führen eines Kraftfahrzeuges im Straßenverkehr. I. Der Begriff des „erlaubten Risikos" Es entspricht einhelliger Ansicht, daß in der praktischen Anwendung die Gefahrprognose einer Korrektur bedarf. Deshalb finden sich in der gesamten Literatur zum Fahrlässigkeitsdelikt Sätze wie: „Dem Recht kann es nicht darum gehen, Gefährdungen überhaupt auszuschalten, sondern nur darum, sie auf ein sinnvolles Maß zu begrenzen."1 „Der Gedanke des erlaubten Risikos findet sich zumeist im Hinblick auf gefahrgeneigte Handlungen, die wegen ihres sozialen Nutzens im Leben nicht entbehrt werden können."2 Wegen dieses Nutzens wird der unvermeidliche Rest der mit ihnen typischerweise verbundenen Gefahren von der Rechtsordnung hingenommen."3 Diese Gedanken sind nicht neu und haben ihren Ursprung auch nicht im 20. Jahrhundert, sondern entstammen dem Zeitalter der beginnenden Industrialisie-
1 2 3
Burgstaller, S. 40. Jescheck S. 524. Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 145.
80
E. Das „erlaubte Risiko"
rung. So formulierte v. Bar - wohl als erster 4 - aus, daß es „gewisse, gefährliche, aber für das Leben nothwendige Gewerbebetriebe (gibt), bei denen man statistisch wahrnehmen könnte, daß im Laufe einer Reihe von Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach eine Anzahl Menschen, und zwar nicht nur solche, die freiwillig sich beim Betriebe beteiligen, das Leben verlieren." 5 Er führt dazu Beispiele an (Gasanstalt, Eisenbahn), die auch heute noch die Lehrbuch- und Kommentarliteratur dominieren. Dabei kommt v. Bar in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis, daß, sofern die besagten Einrichtungen mit allen regelrechten Vorsichtsmaßnahmen versehen sind und sie einem regelmäßigen Bedürfnis des Lebens entsprechen, nicht die Rede davon sein kann, daß ihr Urheber auch die dadurch veranlaßten Unglücksfalle verursacht hat.6 In der Rechtsprechung fand dieses Problem ebenfalls sehr früh Beachtung. So führte das Reichsgericht im sog. „Leinenfangerfall", der seine Bekanntheit im Zusammenhang mit dem Problem der „Zumutbarkeit" gewonnen hat, aus: „Wollte man den Satz aufstellen, es müsse zur Vermeidung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen Fahrlässigkeit jede Handlung unterlassen werden, bezüglich deren die Möglichkeit gegeben und vorhersehbar ist, daß sie für einen rechtswidrigen Erfolg kausal werden kann, so würde dies zu Konsequenzen führen, deren Unvereinbarkeit mit den bestehenden Lebensverhältnissen und den Bedürfnissen des Verkehrs offensichtlich ist." 7 Anders als v. Bar lies das Reichsgericht in diesen Fällen jedoch nicht die Kausalität entfallen, sondern verlangte als weitere Voraussetzung der Fahrlässigkeit - neben der Vorhersehbarkeit des Erfolges -, daß sich die Vornahme der Handlung als Nichterfüllung desjenigen Maßes von Aufmerksamkeit und Rücksicht auf das Allgemeinwohl darstellte, das üblicherweise erwartet werden dürfe. Wenn auch das hier angesprochene Problem, eine wie auch immer geartete Einschränkung des Fahrlässigkeitstatbestandes herbeizuführen, bereits früh erkannt wurde, so beschäftigt es dennoch seit damals die Rechtslehre. Ein Blick auf die verschiedenen Termini, mit denen es im Laufe der Zeit belegt wurde und noch wird, deutet schon an, daß es in diesem Bereich im Laufe der Zeit zu einer fast babylonisch zu nennenden Verwirrung gekommen ist. Allgemein gebräuchlich für dieses die Haftung einschränkende Rechtsinstitut - sofern es eines ist, auch dies ist bestritten -, ist der Begriff „erlaubtes Risiko". In der weiteren Dar-
4 5 6 7
So übereinstimmend: Rehberg, S. 21 f.; Meckel, S. 2 f.; Roeder, S. 28; Preuß, S. 32 f. v. Bar, S. 14. v. Bar, S. 14. RGSt 30, S. 25, 27.
I. Der
des „erlaubten Risikos"
81
Stellung soll dieser Begriff auch hier verwandt werden, da er der wohl am weitesten verbreitete ist. Daneben haben sich u. a. aber auch noch die Bezeichnungen „maßvolles"8, „sozialadäquates"9, „toleriertes" 10 und „unverbotenes" 11 Risiko eingebürgert. Die Struktur des „erlaubten Risikos" zu bestimmen, gestaltet sich nicht einfach. Insoweit sei nur auf Lackner verwiesen: „Das erlaubte Risiko ist nach Rechtsnatur, Umfang und Grenzen umstritten." 12 Überwiegend wird zwar vertreten, daß das Phänomen, das sich hinter dem Begriff verbirgt, eine in irgendeiner Form die Strafbarkeit ausschließende Rolle spielt 13 , ohne daß damit jedoch eine abschließende Positions- oder Funktionsbestimmung vorgenommen worden wäre. Dies findet allerdings seinen Grund nicht etwa darin, daß das „erlaubte Risiko" das Stiefkind der Strafrechtslehre gewesen wäre. Wenn es auch nicht gerade eines der in der juristischen Literatur meistbeachteten Probleme ist 14 , so hat es dennoch gehörige Aufmerksamkeit erfahren. Das Spektrum der dazu vertretenen Ansichten ist weit. Es reicht von Binding, der die Meinung vertrat, das „erlaubte (maßvolle) Risiko" sei ein zeitloses Problem und großer universeller Rechtsgedanke, der auch schon früheren Zeitaltern bereits bekannt gewesen sei 15 , bis zu Kienapfel, für den das „erlaubte Risiko" nichts anderes als eine entbehrliche Formel ist, die weder einen eigenen systematischen noch erkenntnistheoretischen noch irgendeinen praktischen Wert hätte. Der Begriff sei ein randloses Sammelbecken der Straffreiheit und von unterschiedlichster dogmatischer Schattierung. Das „erlaubte Risiko" gehöre zu jenen verführerischen Vokabeln, die bei der Auslegung nur das enthüllten, was vorher an wünschenswerten Ergebnissen in sie hineingelegt worden sei. 16
8
Binding, S. 432 ff.; Welzel, LB, S. 132. Roeder, S. 28; vgl. auch Welzel, Studien, S. 518: „erlaubtes Risiko" als Unterfall der sozialen Adäquanz. 10 Lotheissen, S. 5. 11 Hirsch, S. 99. 12 Lackner vor § 32 Rdnr. 29. 13 Maiwald, S. 405 u. 407. 14 So aber Preuß, S. 15. 15 S. 436 f.; Binding beruft sich dabei auf das römische Recht, das sog. „NotstandsVerletzungen" bei öffentlichen Wettkämpfen ausdrücklich billigte und auf den Wahlspruch der Hanse „Navigare necesse est, vivere non necesse" . 16 Kienapfel, S. 28 f. Siehe dazu aus neuerer Zeit auch Prittwitz, S. 280: "Zutreffend dürfte sein, daß der Glaube an ein großes Rechtsprinzip des erlaubten Risikos (Binding) dazu verfuhrt hat, immer neue Fälle darunter zu subsumieren. Die Vielzahl der Fälle hat dann die Möglichkeit, das Problem auf vielen verbrechenssystematischen Ebenen zu 9
6 Brinkmann
82
E. Das „erlaubte Risiko"
So weitgefächert wie die dazu vertretenen Meinungen stellen sich auch die Anwendungsbereiche des Begriffes dar. Das „erlaubte Risiko" soll nach ganz herrschender Ansicht im Rahmen der Fahrlässigkeit und - nach Teilen der Literatur - darüber hinaus auch in verschiedenen Fallkonstellationen vorsätzlichen Handelns Anwendung finden. II. Die Struktur des „erlaubten Risikos" im Rahmen des Vorsatzdelikts Ob das „erlaubte Risiko" im Rahmen der Vorsatzdelikte eine einheitliche Struktur aufzuweisen vermag, erschließt sich dem Betrachter nicht ohne weiteres, verstellt doch die Heterogenität der unterschiedlichen Fallgruppen, in denen es Anwendung finden soll, den Blick auf ein eventuell tatsächlich vorhandenes, zugrundeliegendes Prinzip. 1. Riskante Rettungshandlungen So sollen unter das „erlaubte Risiko" u.a. riskante Rettungshandlungen fallen. Das „erlaubte Risiko" soll dann bemüht werden, wenn nicht sicher ist, ob die vom Täter vorgenommene Handlung das einzige, bzw. das am wenigsten gefährliche Mittel zur Rettung ist. Kommen dabei andere Rechtsgüter des zu Rettenden oder gar er selber zu Schaden, soll der Retter aus diesem Gesichtspunkt auch dann straflos bleiben, wenn möglicherweise auch eine weniger riskante Rettungshandlung machbar gewesen wäre. 17 Mit dem Rechtsgedanken des „erlaubten Risikos" soll dabei die Lücke geschlossen werden, die sich eventuell dann auftäte, wenn die Reichweite der Einwilligung des Geretteten die riskante oder riskantere Handlung nicht mehr deckte.18 2. Risiken bei sportlicher Betätigung Auch die Risiken bei sportlicher Betätigung, insbesondere bei der Ausübung von Kampfsportarten sollen durch das „erlaubte Risiko" gedeckt sein. Nach Meckel sollen darunter diejenigen Verletzungsgefahren fallen, die durch Verhaltensweisen entstehen, die nach den allgemein anerkannten Regeln der jeweiligen
lozieren, erleichtert. Die - wiederum immanent dogmatisch motivierte - Gegenbewegung, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, hat dann endgültig zu der inhaltsleeren Generalklausel geführt." Das „erlaubte Risiko" als Prinzip bejahend: Kindhäuser, S. 216. 17 Preuß, S. 23; Maiwald, S. 413. 18 Zitiert nach Maiwald, S. 413 f.; zu seiner Kritik an dieser Ansicht siehe ebenda.
II. Die Struktur des „erlaubten Risikos" im Rahmen des Vorsatzdelikts
83
Sportart vorgenommen werden dürfen. Das Zusammenwirken der Einwilligung des Gegners und des „erlaubten Risikos" soll dabei zur Straflosigkeit des gefährlichen Verhaltens führen. 19 Meckel führt in diesem Zusammenhang allerdings nicht aus, wie sich diese Interaktion zwischen dem von ihm auf Tatbestandsebene angesiedeltem „erlaubten Risiko" und der Einwilligung des Gegners in die Verletzungshandlung, die ihre Wirkung erst auf der Ebene der Rechtfertigung entfaltet, gestalten soll. Darüber hinaus ist eine praktische Relevanz der von Meckel vertretenen Ansicht nicht ersichtlich, da im Ergebnis - auch nach Meckel - sowohl das „erlaubte Risiko" als auch die Einwilligung des Verletzten jeweils zur Straflosigkeit führen. 3. Wahrnehmung berechtigter Interessen nach §193 StGB Eine besondere Ausprägung soll der Grundgedanke des „erlaubten Risikos" in der Form des Rechtfertigungsgrundes der Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB gefunden haben.20 Allein aus diesem Gedanken heraus könne erklärt werden, warum eine Ehrverletzung gerechtfertigt sei, obwohl der Täter im Ergebnis unrichtig gehandelt habe.21 Der Unterschied, den diese spezialgesetzliche Regelung gegenüber den übrigen Fallkonstellationen aufweise, liege aber darin, daß in den übrigen Fällen zur Zeit der Tathandlung eine Ungewißheit hinsichtlich einer künftigen Entwicklung bestehe, bei der durch § 193 StGB zu rechtfertigenden ehrenrührigen Behauptung aber im Hinblick auf die gegenwärtige Sachlage.22
19
Meckel, S. 127; ähnlich: Roeder, S. 41. Für Baumann/Weber, 9. Aufl., (S. 321), ist das „erlaubte Risiko" sowohl beim Vorsatz als auch bei der Fahrlässigkiet per se ein Unterfall der mutmaßlichen oder erteilten Einwilligung. Bezeichnenderweise werden dort nur Beispiele aus dem Sport bemüht. Anders nunmehr in der 10. Aufl.: Den Begriffen „Sozialadäquanz" und „erlaubtes Risiko" werden dort keine eigenständigen Funktionen mehr zugeordnet. Äußerst originell auch Schild (S. 585 ff.), der den Sportbetrieb als „ rechtsentlassenen Raum" sieht. Dort enthalte sich die Rechtsordnung wegen der Anerkennung des Eigenbereichs des Sports der rechtlichen Bewertung. 20 Gallas, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. 9, S. 71 f.; sich ihm anschließend: Lenckner, Rechtfertigung, S. 179 f. und Heinitz, S. 282. 21 Lenckner, Rechtfertigung, S. 180. 22 Meckel, S. 110 (wohl fraglich).
*
84
E. Das „erlaubte Risiko" 4. Risikogeschäfte
im Rahmen des § 266 StGB
Nach einigen Stimmen, insbesondere in der älteren Literatur, fällt auch das Risikogeschäft im Rahmen des § 266 StGB unter den Anwendungsbereich des „erlaubten Risikos". Riskante Geschäfte sollen auch bei Überschreitung der dem zur Vermögensbetreuung Verpflichteten gezogenen Grenzen einer vorsichtigen Geschäftsführung dann nicht unter § 266 StGB fallen, wenn die Grenzen des „verkehrsüblichen Risikos" nicht überschritten werden. 23 Die Frage nach dem erlaubten Risiko könne schließlich überall im Strafrecht gestellt werden, so daß auch das Risikogeschäft sich daran messen lassen müsse. Es zeige sich dabei eine Parallele zur Haftung des behandelnden Arztes, der ebenfalls freigesprochen werde, wenn der Patient an den Folgen einer Operation sterbe, der Arzt aber innerhalb der Grenzen des „erlaubten Risikos" gehandelt habe.24 5. Verfolgung
Unschuldiger gem. § 344 Abs. 1 StGB
Nach Herzberg soll das „erlaubte Risiko" auch in den Tatbestand des § 344 Abs. 1 StGB eingreifen. Zwar sei die notwendige Einschränkung von dem Gesetzgeber auf der inneren Tatseite durch Aussparung des dolus eventualis vorgenommen worden, jedoch habe die Restriktion des Anwendungsbereiches der Norm bereits im objektiven Tatbestand durch das „erlaubte Risiko" zu erfolgen, da es sich dabei um eine allgemeine Tatbestandseinschränkung handele. Die geltende Fassung des § 344 Abs. 1 StGB sei im Hinblick darauf sachwidrig. 25 6. Fälle „ unvorhersehbarer
Kausalität"
Nicht zuletzt sollen auch Fälle sog. „unvorhersehbarer Kausalität" einschlägig sein, etwa die verschiedenen Varianten des „Erbonkel-Falles". 26 Im Rahmen der objektiven Zurechnung soll hier das „erlaubte Risiko" über die Möglichkeit der
23
Aus jüngerer Zeit: Schreiber/Beulke,
S. 658; siehe dazu auch Schaffstein,
ZStW, S.
374. 24
Kohlrausch-Lange § 266 Anm. V; deutliche Kritik an dieser Ansicht bei Hillenkamp, S. 164 m.w.N. Daß auch der ärztliche Heileingriff ein Anwendungsgebiet des „erlaubten Risikos" sein soll, klingt zwar bei Maiwald (S. 414) an, jedoch wird diese Ansicht in der zeitgenössischen Literatur - soweit ersichtlich - nicht vertreten. 25 Herzberg, S. 9.
II. Die Struktur des „erlaubten Risikos" im Rahmen des Vorsatzdelikts
85
Zurechnung des Erfolges zum objektiven Tatbestand entscheiden. Dies könne nämlich nur dann geschehen, wenn sich der Erfolg als die Verwirklichung einer vom Täter geschaffenen, allgemein unerlaubten Gefahr darstelle. Die verschiedenen „Erbonkel-Fälle", der Beischlaf mit einer lungenkranken Frau, die später an den Folgen der Kindgeburt sterbe, der Fall der Frau, die sich ihres Mannes dadurch entledige, daß sie ihn überrede, gefährliche Arbeiten in einem Steinbruch zu übernehmen, glichen sich darin, daß der Handelnde allenfalls eine im Rahmen des „erlaubten Risikos" liegende Gefahr für das geschützte Rechtsgut geschaffen habe, so daß der Erfolg dem Verursacher schon aus diesem Grunde nicht zugerechnet werden könne. 27 7. Zusammenfassung Bereits diese kurze Auflistung verdeutlicht, daß die einzelnen Fallkonstellationen kaum miteinander zu vergleichen sind, werden doch die jeweiligen Probleme - denkt man sich die Figur des „erlaubten Risikos" hinweg - üblicherweise in anderen Zusammenhängen diskutiert: So stellt sich hinsichtlich der riskanten Betätigungen im Rahmen von Rettungshandlungen oder im Sport eher die Frage nach der Reichweite der mutmaßlich oder tatsächlich erteilten Einwilligung. Die Wahrnehmung der berechtigten Interessen nach § 193 StGB ist ein gesetzlich fixierter Rechtfertigungsgrund, wohingegen der zu § 266 StGB angesprochene Problemkreis die Auslegung des Tatbestandes berührt. Der weit gefaßte objektive Tatbestand des § 344 Abs. 1 StGB erhält sein Korrektiv auf der subjektiven Seite dadurch, daß nur die Fälle wissentlichen oder absichtlichen Handelns darunter fallen. Letztendlich werden die Fälle „unvorhersehbarer" Kausalität in Verbindung mit der nicht unumstrittenen Lehre von der „objektiven Zurechnung" behandelt, bei
26
„In diesen Fällen schlägt der Neffe dem Erbonkel - je nach Geburtsdatum, individuellen Phantasien und vielleicht Phobien des Autors - eine Reise mit dem Auto, der Bahn oder dem Flugzeug vor, dies natürlich in der Hoffnung, auf den durch ein - nie auszuschließendes, aber eben auch nicht vorhersehbares - Unglück verursachten Erbfall." (Prittwitz, S. 274, Fn. 51). 27 Roxin, Soziale Adäquanz, S. 310 f.; ders., AT 1, S. 308; Kühl, S. 341 („unbestrittenes Ergebnis").
86
E. Das „erlaubte Risiko"
der sich allerdings die Frage aufdrängt, ob diese tatsächlich etwas „objektives" innerhalb des objektiven Tatbestandes zurechnet. Jedenfalls würden deren Vertreter nicht an der Zurechnung des Erfolges zur Handlung des Neffen im „Erbonkel-Fall" zweifeln, wenn dieser in voller Kenntnis der äußerst schwachen technischen Konstitution eines Flugzeugs seinem Onkel einen Platz auf dem „finalen" Flug der Maschine bucht und diese, wie vorher von dem kundigen Neffen als sicher prognostiziert, abstürzt.28 Die sog. „unvorhersehbare Kausalität" wird dann sehr wohl vorhersehbar, wenn der Täter die genaue Umstandskenntnis i. S. des § 16 StGB besitzt. Daher dürften diese Konstellationen ihren Problemschwerpunkt eher im Vorsatzbereich haben und die Bezeichnung „objektive Zurechnung" zu einem Beispielsfall des Satzes „falsa demonstratio non nocet" werden lassen, da unter falscher systematischer Kategorisierung in der Regel zutreffende Ergebnisse erzielt werden, weil auch das sog. Sonderwissen Berücksichtigung findet. Wie aufgezeigt, lassen sich die hier angeführten Fallkonstellationen bereits in anderen dogmatischen Kategorien lösen, ohne ein weiteres Institut bemühen zu müssen, und es drängt sich die Vermutung auf, daß es sich im Bereich vorsätzlichen Handelns bei dem „erlaubten Risiko" tatsächlich um einen „strukturlosen Sammelbegriff für zahlreiche straffreie Verhaltensweisen, deren Straflosigkeit sich aus ganz unterschiedlichen Erwägungen herleiten" 29 , handelt. Es soll an dieser Stelle aber noch kein endgültiges Urteil darüber gefallt werden, ob und wie diese Figur im Bereich des Vorsatzdelikts Anwendung finden kann, solange die Struktur des „erlaubten Risikos" nicht näher analysiert ist. Diese weitergehende Analyse soll erst mit der Behandlung seiner Funktion im fahrlässigen Delikt erfolgen. I I I . Die Struktur des „erlaubten Risikos" in der Fahrlässigkeit Ähnliche Schwierigkeiten wie im Bereich des Vorsatzes tauchen auch auf, wenn es um die dogmatische Einordnung und die Erfassung der Struktur des „erlaubten Risikos" in der Fahrlässigkeit geht. Im Ergebnis besteht zwar Einigkeit, daß der allein auf die Gefahrprognose gegründete Fahrlässigkeitstatbestand zu weit gefaßt ist, aber es herrscht Streit, ob das „erlaubte Risiko" als eigenständige Rechtsfigur
28 29
Näher dazu Armin Kaufmann, Jescheck FS, S. 261 ff. Kienapfel, S. 22.
I I . Die Struktur des „erlaubten Risikos" in
d e r a l i k t 8 7
überhaupt Anwendung finden soll oder ob es sich bei der Einschränkung des Tatbestandes lediglich um die nähere Bestimmung der Sorgfaltspflicht handelt.30 Diese Kontroverse soll aber vorerst dahingestellt bleiben und die Wirkungsweise des „erlaubten Risikos" innerhalb der Fahrlässigkeit näher betrachtet werden und zwar ausgehend von der - vorläufigen - Prämisse, daß es dort tatsächlich selbständige Wirkung entfaltet. 1. Die verbrechenssystematische
Einordnung des „ erlaubten Risikos "
Ebenso umstritten wie seine Existenz scheint auch die dogmatische Einordnung dieses Instituts zu sein. So spottete Preuß 31, daß „kein Verbrechensmerkmal im weiteren Sinne" „verschont" worden sei, „angesichts des Versuchs der Strafrechtswissenschaft, die verbrechenssystematische sedes materiae zu lokalisieren". 32 In der Tat existieren zahlreiche Lösungsansätze, die darauf untersucht werden sollen, ob ihnen eine Gemeinsamkeit innewohnt. a) Das „erlaubte Risiko" in den heute vertretenen Fahrlässigkeitskonzeptionen Nach heute allgemeiner Ansicht greift das „erlaubte Risiko" bereits auf der Ebene des Tatbestandes ein, indem es dort die Sorgfaltspflicht beschränkt, d. h., daß der vorgesetzliche Imperativ, die Bestimmungsnorm, a priori ein Verhalten ausklammert, das durch die Figur des „erlaubten Risikos" gedeckt ist. Dabei macht es keinen Unterschied, von welchem tatsächlichen Standpunkt aus und an welcher Stelle des Tatbestandes diese Sorgfaltspflicht bestimmt wird, sie findet auf jeden Fall ihre Grenzen im „erlaubten Risiko". 33 Nach heute hA handelt es sich bei dem „erlaubten Risiko" um einen Oberbegriff für generelle Erlaubnisse, die - sofern sie nicht überschritten werden - geeignet sind, das Handlungsunrecht bereits in der Entstehung zu verhindern. 34
30
So z. B. Kienapfel S. 28. Preuß, S. 18. 32 Siehe dazu auch Prittwitz, S. 275. 33 Statt vieler: Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 144; SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 16. Der Sache nach auch anerkannt von Struensee, JZ, der dabei zwischen „tolerabler", also vom „erlaubten Risiko" gedeckter, und „nicht tolerabler", also nicht mehr gedeckter, Gefahr unterscheidet. 34 Vgl. u. a. Welzel, Fahrlässigkeit, S. 17 f.; Jakobs, Teheran-Beiheft, S. 15; Schaffstein, Welzel-FS, S. 559; LK-Sehroeder § 16 Rdnr. 159; Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 146. 31
88
E. Das „erlaubte Risiko"
Die Begründungen für diese Systematisierung sind jedoch uneinheitlich. So begründet beispielsweise Engisch diese Ansicht damit, daß, indem die Rechtsordnung den gefahrvollen Verkehr zulasse und den Teilnehmern im einzelnen vorschreibe, wie sie ihr Verhalten einzurichten haben, sie gleichzeitig ausspreche, daß sich ein Verhalten unter Beachtung dieser Vorschriften im Rahmen des Rechts halte. Da die Norm auf die Innehaltung der gebotenen Sorgfalt gerichtet sei, könne nur ein Verhalten unrechtstatbestandsmäßig sein, das zugleich die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt darstelle. Da sich die Norm am Zeitpunkt des Handlungsvollzuges ausrichten müsse, könne nur ein Verhalten, das ex ante gesehen richtig sei, geboten und umgekehrt nur ein Verhalten, das ex ante gesehen unrichtig sei, verboten sein.35 Anders geht Zipf das Problem an 36 , indem er darauf abstellt, daß ebenso wie Straftatbestände negative Verhaltensmuster darstellten 37, es gleichsam auch positive Verhaltensmodelle gebe, nämlich den Bereich des verkehrsrichtigen Verhaltens. Da es nicht möglich sei, daß ein und dasselbe Verhalten durch eine positive Norm gedeckt38 und gleichzeitig verboten sei, müsse dieses demnach dem positiven Bereich zugerechnet werden. Burgstaller vertritt in diesem Zusammenhang die Ansicht, daß der Standort des Erlaubnissatzes des „erlaubten Risikos" nicht erst in der Rechtswidrigkeit gefunden werden könne, vielmehr müsse dieser sich schon im Tatbestand befinden, da zwischen den Rechtfertigungsgründen und dem „erlaubten Risiko" ein systematischer Unterschied bestehe. Rechtfertigungsgründe böten spezielle Erlaubnissätze für Interessenkollisionen im Einzelfall an, während Handlungen im „erlaubten Risiko" vom Deliktstypus Fahrlässigkeit erst gar nicht erfaßt würden, da bereits kein typischer Fall generell verbotenen Verhaltens vorliege. 39 Ohne auf die einzelnen Begründungen näher eingehen zu wollen und auch zu müssen, ist jedenfalls festzuhalten, daß nach hA, die hier nicht weiter differenziert werden muß, das „erlaubte Risiko" auf Tatbestandsebene eingreift und die gleich nach welcher Ansicht bestimmte - Sorgfaltspflicht begrenzt. Kern dieser Sorgfaltspflicht ist, wie bereits oben bei der Analyse dieses Begriffs herausgearbeitet wurde, die Prognose, daß die zu begutachtende Handlung eine Gefahr für 35
Engisch, DJT-FS, S. 418 f.; ähnlich Schöne, S. 671. Zipf, S. 647. 37 Welzel, LB, S. 49. 38 Zipf, S. 647, spricht hier vom „gebotenen" Verhalten. 39 Burgstaller, S. 26; siehe zu den verschiedenen Begründungen auch Stratenwerth, LB, S. 117: „Die Grenze zwischen sozialer Adäquanz und einer Rechtfertigung durch besondere Unrechtsausschlußgründe ist im übrigen fließend." 36
I I . Die Struktur des „erlaubten Risikos" in
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ein Rechtsgut begründet, kurz: die Gefahrprognose, und nach der hM soll das „erlaubte Risiko" normativ auf diese Einfluß nehmen. b) Das „erlaubte Risiko" als Problem der Schuld Insbesondere die ältere Literatur siedelte das „erlaubte Risiko" bei der Schuld an, eben dort, wo für sie auch die Fahrlässigkeit lokalisiert war, nämlich als weitere Schuldform neben dem Vorsatz. In der klassischen Fahrlässigkeitskonzeption finden sich in der Schuldform „Fahrlässigkeit" die bereits aus der Darstellung der heute herrschenden Ansicht bekannten Elemente „objektive" und „subjektive Sorgfaltspflichtverletzung" wieder. Jedoch befinden diese sich nicht auf verschiedenen Ebenen des Verbrechensaufbaus, sondern sind nach dieser Ansicht Elemente der Fahrlässigkeitsschuld. Die Komponenten „objektive" und „subjektive Vorhersehbarkeit" des Erfolges waren auch nach dem klassischen Fahrlässigkeitsbegriff Grundlage der jeweiligen Sorgfaltspflichtverletzung. Anschaulich dargestellt ist dies in der 23. Auflage des Lehrbuchs von v. LisztSchmidt40: Danach gehören zum Begriff der Fahrlässigkeit einerseits der Mangel an Vorsicht bei der Willensbetätigung, also die Außerachtlassung der durch die Rechtsordnung gebotenen und nach Lage der Umstände erforderlichen - objektiv zu bestimmenden - Sorgfalt. Andererseits muß ein Mangel an Voraussicht hinzutreten, d. h., es muß dem Handelnden möglich gewesen sein, sowohl den Kausalverlauf als auch den Erfolg vorherzusehen. Bei der Prüfung, ob dem Handelnden der Erfolg vorhersehbar war, haben dessen Kenntnisse und geistige Fähigkeiten zugrundezuliegen, das Maß dieser Sorgfalt bestimmt sich also subjektiv. 4 1 Nach einigen Vertretern dieser Ansicht sollte das „erlaubte Risiko" innerhalb der Schuld mit der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung in Wechselwirkung treten und diese im Falle seines Eingreifens ausschließen.42 Die dabei verwandte Terminologie ist nicht ganz eindeutig, da sie sowohl den Schluß auf einen Rechtfertigungs- wie auch auf einen Schuldausschließungsgrund zuläßt. Eine
40
In späteren Auflagen tritt dahingegen die Systematik hinter die Kasuistik zurück. v. Liszt-Schmidt, S. 185 f.; siehe auch statt vieler: v. Hippel, S. 361 f. u. Frank § 59 Anm. V I I I 3-6 jeweils m.w.N. 42 U. a. Frank § 59 V I I I Nr. 4 - 6; v. Hippel, S. 361 f.; Mezger, S. 358; siehe auch aus neuerer Zeit Roeder, S. 65 ff. („mit antiquierten Argumenten zur Notwehr", Jakobs, LB, S. 202 Fn 67). 41
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E. Das „erlaubte Risiko"
inhaltliche Betrachtung zeigt jedoch, daß nach dieser Ansicht das „erlaubte Risiko" seinen Platz innerhalb der Schuld haben soll. „Die Verkehrssitte gestattet schließlich ein gewisses Risiko, und die Rechtsordnung erklärt zahlreiche riskante Handlungen sogar für erlaubt. Erst wenn die durch Rechtssätze oder die Verkehrssitte gebotene Vorsicht vernachlässigt wird, hört die Rechtmäßigkeit auf und es entsteht die Frage der Verantwortlichkeit." 43 Ebenso wie der erwähnte Teil der Literatur löste auch das RG das Problem des „erlaubten Risikos" im Rahmen der Schuld. Exemplarisch dafür steht der bereits eingangs des Kapitels erwähnte „Leinenfängerfall" 44 , in dem das Reichsgericht ausdrücklich darauf abstellt, daß nicht jede Handlung unterlassen werden müsse, bei der vorhersehbar sei, daß sie für einen Erfolg kausal werden könne. Diese Handlungen als fahrlässig zu qualifizieren entspreche nicht der Absicht des Gesetzes.45 In Ergänzung dazu ist die Entscheidung des RG im 57. Band 46 zu sehen, in der ausgeführt wird, daß nicht jede Vornahme einer gefährlichen Handlung allein wegen der ihr innewohnenden Gefährlichkeit eine Pflichtverletzung darstelle, je nach den Umständen könne diese vielmehr pflichtgemäß oder zumindest keiner Pflicht widersprechend sein.47 Zwei Punkte sind festzuhalten: Zum einen stellte bereits die Literatur zur klassischen Fahrlässigkeitssystematik und mehr noch das RG deutlich heraus, daß es sich bei dem rechtlichen Kern der Fahrlässigkeit um eine Gefahrprognose handelt48. Zum anderen wirkt das „erlaubte Risiko" nach den Vertretern der hier referierten Ansicht und nach der Rechtsprechung des RG auf diese Prognose ein und ist im Falle seines Eingreifens geeignet, diese rechtlich zu neutralisieren. c) Das „erlaubte Risiko" als Problem der Rechtswidrigkeit Anders als nach dem bisher Gesagten sehen einige Stimmen in der Literatur den Standort des „erlaubten Risikos" auf der Ebene der Rechtswidrigkeit. Die Darstellung dieser Ansicht kann jedoch nicht einheitlich geschehen, da die Ausgangs-
43
Frank § 59 V I I I Nr. 4. RGSt 30, S. 25. 45 RGSt 30, S. 25, 27. 46 RGSt 57, S. 172. 47 RGSt 57, S. 172, 173. 48 Eine Tatsache, die in späterer Zeit, wenn auch nicht vollständig in Vergessenheit geraten ist, so doch - wie bereits oben ausgeführt wurde - durch Hilfsüberlegungen soweit verschüttet wurde, daß sie in der zeitgenössischen Fahrlässigkeitsdogmatik allenfalls nachrangig behandelt wird. 44
I I . Die Struktur des „erlaubten Risikos" in
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punkte der einzelnen Meinungen voneinander verschieden sind. Die einen bewegen sich im klassischen Fahrlässigkeitsaufbau, wohingegen andere der heute herrschenden Meinung folgen. Während die „Klassiker" systematisch betrachtet das Problem zumindest nominell der Sorgfaltspflichtverletzung vorgelagert sehen, schließt es für die Anhänger der heutigen hM an diese an. aa) Das „ erlaubte Risiko " als Problem der Rechtswidrigkeit im Fahrlässigkeitsaufbau der heute hA Nach einem Teil der Literatur, die grundsätzlich auch die Fahrlässigkeitskonzeption der heute h M vertritt, ist das „erlaubte Risiko" ein Problem der Rechtswidrigkeit. Ebenso wie nach der hM 4 9 zu diesem Problemkreis soll es auch nach dieser Ansicht in Wechselwirkung mit der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung - eben der Gefahrprognose - treten, und bezeichnenderweise sind auch die erzielten Ergebnisse vollständig deckungsgleich. Mit der Einordnung in die Rechtswidrigkeit soll lediglich herausgestrichen werden, daß es sich bei der „Pflichtwidrigkeit", der Gefahrsetzung, typischerweise um Unrecht handelt und nur in Ausnähmefällen der Rechtfertigungsgrund des „erlaubten Risikos" eingreift, um auf diese Weise die Verbotsmaterie stärker in den Vordergrund zu rücken und so das Augenmerk darauf zu richten, daß die Gefährdung nur in Ausnahmefällen erlaubt ist. 50 bb) Das „ erlaubte Risiko " als Problem der Rechtswidrigkeit im klassischen Fahrlässigkeitsaufbau Die bisher vorgestellten Ansichten zum „erlaubten Risiko" setzten dieses Institut in Relation zu der Gefahrprognose. Auf den ersten Blick scheint es jedoch, daß diejenigen Vertreter der klassischen Fahrlässigkeitskonzeption, die das „erlaubte Risiko" in der Rechtswidrigkeit lokalisiert sehen, offensichtlich einen anderen Weg eingeschlagen haben, befindet es sich dann doch auf einer der Schuld vorgelagerten verbrechenssystematischen Stufe. Es erscheint vordergründig somit nicht möglich, die bis dahin aufgezeigte Beziehung auch hier festzustellen, hieße es doch bei streng systematischer Betrachtungsweise die
49
S. o. a). So Nowakowski, S. 390; vgl. auch Gallas, S. 21; Noll, S. 30 f.; Oehler, S. 242 f.; Engisch, Untersuchungen, S. 286 f., anders später in DJT-FS, S. 418, wo er sich der h M anschließt. 50
92
E. Das „erlaubte Risiko"
Gefährdungserlaubnis vor dem Gefahrurteil zu prüfen, also den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Gerade dies scheinen die Vertreter dieser Ansicht jedoch zu vollziehen. Bei näherer Betrachtung wandelt sich jedoch das Bild. Einhellig geht man innerhalb dieser Ansicht davon aus, daß der (objektive) Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts ein Gefahrurteil beinhaltet. Allgemein wird nämlich dort die Frage aufgeworfen, ob und in welchem Maße die Tathandlung geeignet war, eine Gefahr für das geschützte Rechtsgut heraufzubeschwören. 51 Bezeichnenderweise geht man auch davon aus, daß es sich bei diesem Gefahrurteil um eine Prognose handeln muß. Beispielhaft dafür steht M. L. Müller, der in diesem Zusammenhang ausführt: „Objektiv rechtsnormwidrig kann nur ein solches Verhalten eines Menschen sein, welches den ihm in einer Rechtsnorm gesetzten Zweck (eine Tatsache gewisser Art zu verursachen oder nicht zu verursachen) vom Standpunkt objektiver Prognose in beachtlicher Weise gefährdet." 52 Das „erlaubte Risiko" tritt nach dieser Ansicht dann auf der Ebene der Rechtswidrigkeit mit der Gefahrprognose derart in Beziehung, daß, solange sich die Gefährdung innerhalb des dadurch abgesteckten Rahmens gehalten hat, der Täter straffrei bleibt. Überschreitet der Täter jedoch diesen Rahmen, beachtet er somit die gebotene Vorsicht nicht, handelt er rechtswidrig. 53 d) Das „erlaubte Risiko" als Problem der Kausalität Wie bereits angesprochen geht der Gedanke des „erlaubten Risikos" auf v. Bar zurück. Für ihn stellte es sich als ein Problem des objektiven Tatbestandes und dort der Kausalität dar. In den angesprochenen Fällen sollte seiner Ansicht nach der Handelnde zwar eine Bedingung für den Erfolg, aber keine Ursache im Rechtssinne gesetzt haben.54
51
Müller, S. 39; Torp, S. 100; Tarnowski, S. 266, 268 f.; Graf zu Dohna, S. 327; so wohl auch Binding, S. 440; Exner, Fahrlässigkeit, S. 193 ff., der zwar nominell auf ein Zusammenspiel von Rechtswidrigkeit und Schuld in diesem Punkt abstellt: „Es handelt sich das Problem der Rechtswidrigkeit, mit dem der Schuld in diesem Punkt untrennbar verknüpft", inhaltlich jedoch das Gefahrurteil im Tatbestand sieht (siehe insb. S. 195 f.). 52 Müller, S. 42; ähnlich Exner, Fahrlässigkeit, S. 195 und Tarnowski, S. 269. 53 Exner, Fahrlässigkeit, S. 196. 54 v. Bar, S. 14.
I I . Die Struktur des „erlaubten Risikos" in d e r a l i k t
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A u f dem Boden der von ihm vertretenen Variante der Adäquanztheorie 55 war dies einer der möglichen Lösungswege: Bei den von v. Bar angeführten „gefährlichen" Betrieben sind Erfolge der genannten Art stets vorhersehbar, so daß allein das Adäquanzurteil in diesen Fällen als Korrektiv nicht ausreicht, will man im Ergebnis, daß der Handelnde straflos bleibt. Schränkt man darüber hinaus durch Anwendung des „erlaubten Risikos" in den angesprochenen Fällen das Adäquanzurteil noch weiter ein, indem man Handlungen unberücksichtigt läßt, die dem regelmäßigen, d. h. den Verhaltensregeln entsprechendem, Bedürfnis des Lebens entsprechen, wie v. Bar es fordert 56, setzt der Handelnde zwar im Ergebnis im Sinne der Äquivalenz- und der einfachen Adäquanztheorie eine Bedingung für den Erfolg, hat ihn dann aber aufgrund der vorgenommenen Modifikation trotzdem nicht verursacht. Die Antwort auf die Frage, an welchem Punkt dieses Korrektiv eingreifen soll, ergibt sich aus den Grundlagen der Adäquanztheorie. Danach ist eine sich als conditio sine qua non eines bestimmten Erfolges erweisende Handlung adäquate Bedingung, wenn sie den Erfolg von der Art des eingetretenen vorhersehen läßt, wenn sie also generell begünstigender Umstand ist, d. h., wenn sie die objektive Möglichkeit eines Erfolges von der Art des eingetretenen generell in nicht unerheblicher Weise erhöht. 57 Der Kern dieser „Zurechnungslehre" ist dabei das Möglichkeitsurteil, entscheidet es doch darüber, ob einer Handlung die Qualität „Ursache" zugesprochen wird oder nicht. Das „erlaubte Risiko" wirkt also nach v. Bar - in welcher Form auch immer 58 - auf dieses Möglichkeitsurteil ein.
55
Üblicherweise wird v. Bar mit der Adäquanztheorie nicht unmittelbar in Verbindung gebracht, da diese entweder auf Merkel (so u. a. v. Hippel, S. 144) oder v. Kries (so u. a. Müller, S. 29; Engisch, Kausalität, S. 41 und aus neuerer Zeit Jescheck, S. 256) zurückgeführt wird. Ein Vergleich zwischen v. Bars Ansatz und den Ausführungen Merkels und v. Kries 1 zeigt jedoch, daß im Grundsätzlichen keine entscheidende Divergenz besteht und lediglich graduelle Unterschiede aufzuzeigen sind. So räumen auch v. Kries (S. 227 Fn. 1) und Merkel (S. 106) die Nähe zu v. Bar ein. Zur Vereinfachung soll deshalb die v. Bar'sche Variante dieser Zurechnungslehre in dem hier zu erörternden Zusammenhang ebenfalls unter den Begriff „Adäquanztheorie" fallen, (näher dazu: Rümelin, S. 43). 56 v. Bar, S. 11 f. 57 Traeger, S. 159. Hier unterscheidet sich v. Bar mit seiner Theorie von den Vertretern der Adäquanztheorie. Im Gegensatz zu diesen sind für ihn nur diejenigen Handlungen Ursache, durch die der regelmäßig, d. h., den Verhaltensregeln entsprechend, gedachte Verlauf der Erscheinungen des menschlichen Lebens ein anderer wird. (v. Bar, S.l 1) Er läßt also insofern bereits Rechtswidrigkeitsgesichtspunkte in das Kausalurteil mit einfließen. Für den hier zu erörternden Zusammenhang macht das aber keinen Unterschied, (zur Kritik vgl. schon Merkel, S. 105 f.). 58 v. Bar geht darauf nicht näher ein.
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E. Das „erlaubte Risiko"
Dieses Urteil ist ein Gefahrurteil, gleich dem, das dem Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung zugrundeliegt. Hier wie dort geht es darum, ex ante eine Prognose zu erstellen, ob aus einer bestimmten Handlung eine Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgut resultiert. Dabei bleibt auch die Methode dieselbe59, lediglich die systematische Stellung ist eine andere. Einmal wird die Prognose im Rahmen der Untersuchung der Sorgfaltspflichtverletzung erstellt, und nach der Adäquanztheorie, um zu prüfen, ob ein bestimmtes Verhalten kausal für einen Erfolg geworden ist. Das Haftungskorrektiv, das nach v. Bar in die Frage der Kausalität integriert werden soll, steht demnach in unmittelbarer Beziehung mit der Gefahrprognose, die nach diesem Modell bereits bei der Ermittlung der Verursachung zu stellen ist. e) Das „erlaubte Risiko" als Problem der Tatverantwortung Nach Maurach 60 und Rehberg 61, der sich ihm anschließt, wirkt das erlaubte Risiko nicht auf einer der bekannten Stufen des Verbrechensaufbaus, sondern in einer eigenständigen systematischen Kategorie, der sog. „Tatverantwortung". Diese „Tatverantwortung" soll eine eigenständige Stufe darstellen und partiell die Schuld im tradierten Sinne mitumfassen. Ohne in die Einzelheiten dieser von Maurach begründeten Lehre, die - soweit ersichtlich - bis auf Rehberg keinen Anhänger gefunden hat, eingehen zu wollen, sei sie dennoch kurz dargestellt, soweit sie für den hier zu erörternden Zusammenhang von Interesse ist. Maurach lehnte es strikt ab, die „objektive Fahrlässigkeit" im objektiven Tatbestand oder in der Rechtswidrigkeit zu lokalisieren, da es ansonsten zu dem für ihn unhaltbaren Ergebnis kommen könne, daß ein sich sorgfaltsgemäß verhaltender Täter den Tod eines Opfers rechtmäßig, bzw. gerechtfertigt herbeiführen könne, ohne daß dem Opfer ein Notwehr- oder einem Dritten ein Nothilferecht zur Seite stehen würde. Da nach Maurachs Ansicht derartige Erfolge aber stets rechtswidrig sind, war es für ihn unmöglich, auf den genannten Stufen des Verbrechensaufbaus den Standort der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung zu sehen. Allerdings vermochte er ihn auch nicht in der Schuld zu lozieren, da mit der Feststellung der „Außerachtlassung der verkehrsgebotenen Sorgfalt" nur gesagt sei, daß der Täter hinter seinem am Können des Durchschnitts bestimmten Sollen
59 60 61
Siehe nur Traeger, S. 159. Maurach, S. 554 ff. Rehberg, S. 180.
I I . Die Struktur des „erlaubten Risikos" in
d e r a l i k t 9 5
zurückgeblieben sei, nicht aber, daß sein Verhalten die ihm persönlich mögliche Leistung nicht erbracht habe.62 Da für Maurach die Schuld ausschließlich einen persönlichen Vorwurf beinhaltete, an das Täterverhalten hinsichtlich der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung aber objektive Maßstäbe angelegt werden, war es für ihn notwendig, dafür eine neue Systemkategorie zu bilden. Beachtenswert in dem hier zu behandelnden Zusammenhang ist dabei, daß insbesondere die Fälle des „erlaubten Risikos" es waren, die Maurach zwangen, wollte er seine Prämissen nicht aufgeben, diese neue Kategorie im Deliktsaufbau zu schaffen und die objektive Sorgfaltspflicht dort anzusiedeln. Es sei insoweit auf Rehberg verwiesen: „ M i t dieser Konzeption weist Maurach dem Handlungsunwert die nach geltendem Recht einzig mögliche Stellung im Verbrechensaufbau zu. [...] Namentlich läßt sich damit die unsinnige Konsequenz einer 'erlaubten' Tötung oder Körperverletzung bei der Konstruktion des ER 63 als Rechtfertigungsgrund vermeiden. Das Verhalten des Täters ist und bleibt rechtswidrig und notwehrfähig." 64 Den Inhalt der sog. objektiven Sorgfaltspflicht bestimmt Maurach dahingegen nicht anders als die heute hM. Auch für ihn ist, nachdem man die umfangreiche Kasuistik abgeschichtet hat, mit der er den Blick auf die eigentliche Aussage erschwert, die Vorhersehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges und damit das Gefahrurteil der eigentliche Fahrlässigkeitskern. 65 Auf diese dadurch erst grob umrissene Sorgfaltspflicht soll das „erlaubte Risiko" einwirken und sie so näher bestimmen.66 2. Zusammenfassung Das Ergebnis der Auswertung der zahlreichen verschiedenen Ansichten zur verbrechenssystematischen Einordnung des „erlaubten Risikos" überrascht nicht. Die enge Beziehung dieses Instituts mit der Gefahrprognose, die nach jeder der hier referierten Ansichten besteht, kann und muß sich daraus ergeben, daß dem „erlaubten Risiko" die Aufgabe zugewiesen sein soll, die Fahrlässigkeitshaftung zu beschränken. Dieser Aufgabe kann es aber nur dann gerecht werden, wenn es
62 63 64 65 66
Maurach, S. 556. Die von Rehberg benutzte Abkürzung für das „erlaubte Risiko". Rehberg, S. 179; so auch Roeder, S. 77. Maurach, S. 556 ff., insb. S. 559. Maurach, S. 558.
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E. Das „erlaubte Risiko"
im Wechselspiel mit dem Tatbestandskern, der sich üblicherweise hinter dem Begriff Sorgfaltspflichtverletzung verbirgt, also dem Gefahrurteil, steht. Nach allen Ansichten hat das „erlaubte Risiko" die Aufgabe, dieses Urteil zu beeinflussen, also die sog. Sorgfaltspflicht zu bestimmen. So findet auch die Einordnung in die verschiedensten verbrechenssystematischen Kategorien in eben dieser Tatsache ihren Grund: Das „erlaubte Risiko" folgte in der Geschichte der Fahrlässigkeitsdogmatik stets der sog. Sorgfaltspflichtverletzung. Den Platz im Verbrechensaufbau, der dieser zugewiesen wurde, nahm auch das „erlaubte Risiko" ein. Dabei sollten insbesondere nicht die Ansichten irritieren, die den Standpunkt dieses Instituts in der Rechtswidrigkeit sehen. Ohne spätere Ergebnisse vorwegnehmen zu wollen, kann bereits hier gesagt werden, daß im Unterschied zu den „klassischen" Rechtfertigungsgründen das „erlaubte Risiko" stets mit einer Handlung in Relation steht, die eine Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgut zwar prognostizieren aber die Rechtsgutsverletzung (noch) nicht als möglich vorhersehen läßt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Erfolg später eintritt oder nicht. Dies verdeutlichen die eingangs genannten Beispiele (Straßenverkehr, gefährliche Betriebe usw.), bei denen zwar eine Rechtsgutsverletzung mit einem gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren ist, die jedoch nicht mehr vom „erlaubten Risiko" gedeckt wären, würde sich die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit wandeln. Niemand würde in diesen Fällen mehr von einer Risikoerlaubnis sprechen. Das „erlaubte Risiko" kann also von seiner Konzeption her nur einen Gefährdungs- nicht aber einen Verletzungstatbestand rechtfertigen. D. h., selbst wenn man es als Rechtfertigungsgrund konstruierte, würde es nur den Tatbestandsausschnitt decken, der der Gefahrprognose zugrundeliegt. Dieser Rechtfertigungsgrund würde zwar ein gefährliches Handeln erlauben, jedoch nicht eines, bei dem der Erfolgseintritt als sicher vorhergesehen werden kann. Dies soll aber einer späteren Erörterung vorbehalten sein.67 Für den hier interessierenden Punkt bleibt nur festzustellen, daß auch eine Einordnung des „erlaubten Risikos" in die Rechtswidrigkeit die bisher gewonnenen Ergebnisse nicht zu ändern vermag. Auch in dieser Konstruktion steht das „erlaubte Risiko" allein in Beziehung zur Gefahrprognose und deren tatsächlicher Grundlage. Darauf rekurrieren auch sämtliche Vertreter dieser Ansicht, so daß die Einordnung in die Rechtswidrigkeit eher deklaratorischen als konstitutiven Charakter zu haben scheint.
67
S. u. IV. 3.
I . Die
rku
des „erlaubten Risikos"
97
IV. Die Wirkungsweise des „erlaubten Risikos" Nachdem der Standort des „erlaubten Risikos" im Fahrlässigkeitsaufbau erörtert wurde, soll der Blick auf dessen Wirkung gelenkt werden. Dadurch, daß das „erlaubte Risiko" in Beziehung mit der sog. Sorgfaltspflicht, wie sie auch immer bezeichnet oder bestimmt werden mag, steht, kann das Ergebnis soweit vorweggenommen werden: Das „erlaubte Risiko" limitiert diese Sorgfaltspflicht oder mit anderen Worten, sobald oder solange es eingreift, ist das zu untersuchende Verhalten „sorgfaltsgemäß", der Täter setzt lediglich eine tolerable Gefahr. Das ist einhellige Ansicht und an sich nicht weiter interessant. Interessant jedoch ist es, näher zu untersuchen, wie diese Beziehung zwischen Sorgfaltspflicht und „erlaubtem Risiko" sich im einzelnen gestaltet. Die Diskussion innerhalb der Rechtslehre wird, soweit ersichtlich, über die Anwendung in bestimmten Fallkonstellationen68, über den Standort 69 und über die Begründung 70 des „erlaubten Risikos" geführt, jedoch nicht darüber, wie und an welcher systematischen Position sich dieser Prozeß der „Sorfaltslimitierung" vollzieht. Es liegt hier die Vermutung nahe, daß die herrschende Ansicht, die das zentrale Element der Fahrlässigkeit in der Sorgfaltspflichtverletzung sieht (oben als objektive Theorie bezeichnet), sich auch an dieser Stelle den Blick, wie in der bereits angesprochenen Diskussion über den Schutzzweck der Norm, selber verstellt hat. Dadurch, daß ein großer Teil innerhalb der hM, wie auch die Rechtsprechung, bereits in jedem Verstoß gegen eine Sondernorm eine Sorgfaltspflichtverletzung sieht, bekommt diese Verletzung der „Sorgfalt" in ihrer Darstellung Züge, die denen der ursprünglichen und im grundsätzlichen zutreffenden Lehre 71 in kaum noch etwas entsprechen. Während der Verstoß gegen eine Sondernorm ursprünglich nur indizielle Wirkung für die Sorgfaltspflichtverletzung hatte, liegt diese nunmehr nach hM und Rechtsprechung in der Sondernormverletzung. Aus einer Beweisregel ist ein unrechtsbegründendes Merkmal geworden. 72 Aus diesem Grunde ist es notwendig, die verschiedenen Erscheinungsformen des „erlaubten Risikos" in Relation zu den einzelnen Elementen des eigentlichen Fahrlässigkeitskerns, der Gefahrprognose, zu setzen. An dieser Stelle muß zur
68
S. o. II.
69
S. o. III.
70
Vgl. den Überblick bei Prittwitz,
71
Vgl. nur Engisch, S. 341 ff.
72
Siehe oben D. I. 1. b) und 2.
7 Brinkmann
S. 279 ff. m.w.N.
98
E. Das „erlaubte Risiko"
Klarstellung angemerkt werden, daß es sich dabei ebenfalls um eine Verkürzung handelt. Auch auf die Gefahr der Wiederholung hin ist zu betonen, daß die Gefahrprognose nicht isoliert erstellt werden kann und auch nicht aufgrund von Bestimmungen, die außerhalb des Fahrlässigkeitsdelikts stehen, gewonnen wird, sondern ein Urteil über eine konkrete Handlung ist. Es handelt sich dabei um ein durch einen Erkenntnisprozeß gewonnenes Urteil, daß eine bestimmte Handlung eine rechtlich relevante Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgut hervorrufen kann. Es ist also die ex ante gefährliche Handlung, die die Fahrlässigkeit im Kern ausmacht. Da diese Umschreibung, wollte man sie jedesmal anwenden, das Verständnis unnötig erschweren würde, werden aus Gründen der darstellerischen Klarheit im weiteren die Gefahrprognose und ihre Synonyme als eigenständige Begriffe benutzt, die für den Beurteilungsvorgang mit seinen tatsächlichen Grundlagen stehen sollen. 1. Sondernormen Ein großer Teil des Anwendungsbereiches des „erlaubten Risikos" wird durch die sog. Sondernormen bestimmt. Der Begriff der Sondernorm ist bereits oben hinsichtlich ihrer fahrlässigkeitsindizierenden Wirkung angesprochen worden. Bei näherer Betrachtung ist aber festzustellen, daß ihre Wirkimg in umgekehrter Richtung wesentlich konkreter ist. Während ein Überschreiten der durch Sondernormen bezeichneten Grenzen regelmäßig nur ein Indiz sein kann, ob der Handelnde sich „unsorgfältig" geriert hat, sie somit fahrlässigkeitsbegründend lediglich prozessuale Wirkung zu entfalten vermögen, schließt ihre Einhaltung aber nach einhelliger Ansicht die Fahrlässigkeitshaftung aus. Wenn dieser Satz auch, wie sich sogleich zeigen wird, nicht unmodifiziert stehen gelassen werden kann, soll er gleichwohl vorerst als Grundlage für die weiteren Ausführungen dienen. Die literarische Behandlung der Sondernormen zeigt sich in diesem Zusammenhang recht einheitlich; als Beispiel dafür soll die Kommentierung von Cramer 73 stehen: „Wegen des mit dem Betrieb dieser gefährlichen Unternehmungen verbundenen sozialen Nutzens wird der unvermeidliche Rest der mit ihnen typischerweise verbundenen Gefahren von der Rechtsordnung hingenommen [...]. Das jeder Rechtsordnung immanente 'neminem laede' erfährt hier eine Modifikation, die sich [...] in der Aufstellung konkretisierter Sorgfaltspflichten, wie der StVO,
73
In Sch-Sch § 15 Rdnr. 145 ff.
I . Die
rku
des „erlaubten Risikos"
99
StVZO, Arbeitsschutzbestimmungen, Feuerschutzbestimmungen, Bauregeln, technische Vorschriften, den mit einer Betriebserlaubnis verbundenen Auflagen nach dem BImSchG usw., niederschlägt. Aus diesen Bestimmungen läßt sich dann im einzelnen entnehmen, wie weit hier wegen des Risikos von Verletzungen die für den fraglichen Lebensbereich geltenden generellen Sorgfaltspflichten reichen. Insofern begrenzt der Gesichtspunkt des sozialadäquaten Risikos von Verletzungen schon das Maß der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. [...] Die Grundsätze des [...] erlaubten Risikos erfahren allerdings eine Ausnahme, wenn im Einzelfall erkennbar wird, daß ein Vertrauen auf das Funktionieren der zur Gefahrbegrenzung konkretisierten Sorgfaltsregeln nicht oder nicht mehr gerechtfertigt ist. Wird z. B. erkennbar, daß für einen bestimmten Betrieb vorgeschriebene Maßnahmen feuerpolizeilicher Art wegen des Eintritts ungünstiger Umstände nicht mehr ausreichen, um eine Brandgefahr auf das noch tolerierbare Mindestmaß zu reduzieren, so darf der Betrieb ohne zusätzliche Maßnahmen nicht weitergeführt werden; das Eingehen dieser erhöhten Gefahr ist kein erlaubtes Risiko mehr und daher auch nicht durch soziale Adäquanz gedeckt." So oder ähnlich findet sich die Behandlung der Sondernormen in weiten Teilen der Literatur. 74 Abgesehen davon, daß sich das bereits oben Gesagte durch dieses Zitat belegen läßt, soll aber der Blick auf einige Einzelheiten gelenkt werden. Erstens geht Cramer wie die übrige hM davon aus, daß bereits der Verstoß gegen die Sondernorm die Sorgfaltspflichtverletzung begründet. Zweitens begrenzen auch nach seiner Ansicht die Sondernormen die Sorgfaltspflicht. Drittens - und das ist das Bemerkenswerte - soll das „erlaubte Risiko" das riskante Verhalten dann nicht mehr decken, wenn sich der Handelnde außerhalb einer Standardsituation befindet, wenn also vorhersehbar ist, daß er eine über das normale Maß hinaus erhöhte Gefahr setzt.75 Die die Fahrlässigkeitshaftung ausschließende Begrenzungsfunktion der Sondernorm findet also ihre immanente Schranke in der Voraussetzung des standardisierten Lebenssachverhaltes. Die hier in Rede stehenden Sondernormen sind in den verschiedensten Lebensbereichen zu finden. Sie sind jedoch nur zu einem Teil formlich kodifiziert, ein anderer Teil findet sich zwar in technischen Regelwerken, wie etwa DIN- und VDE-Vorschriften, entbehrt aber förmlicher staatlicher Legitimation, wohingegen
74 SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 20; LK-Sehroeder § 16 Rdnr. 163 ff; Roxin, A T 1, S. 895; Wessels, S. 196 f.; Schünemann, GA, S. 359 jeweils m.w.N. 75
So auch die allgemeine Ansicht, vgl. nur BGHSt 37, S. 184, 189.
100
E. Das „erlaubte Risiko"
andere der nach allgemeiner Ansicht unter diesen Begriff fallenden Normen nicht einmal schriftlich gefaßt sind. a) Kodifizierte Sondernormen Das in der Literatur am häufigsten bemühte Beispiel fur das Eingreifen von Sondernormen sind die kodifizierten Regeln des Straßenverkehrsrechts. So führte bereits Binding 76 für seine Theorie des „maßvollen Risikos" u. a. die damals sicherlich noch nicht so fein ziselierten Regeln des Fahrzeugverkehrs an. In diese Tradition soll sich auch diese Darstellung einreihen. Der Betrieb eines Kraftfahrzeuges ist potentiell gefährlich. Der Gesetzgeber hat dieser Überlegung durch die Regelung des § 7 StVG Rechnung getragen. Grundsätzlich ist auch vorhersehbar, daß durch den Betrieb eines Kraftfahrzeuges im Straßenverkehr Rechtsgüter, insbesondere Leib oder Leben Dritter, gefährdet werden. Bereits der Betrieb eines Kraftfahrzeuges rechtfertigte somit nach den oben aufgestellten Grundsätzen eine Gefahrprognose. Trotz der prognostizierbaren Gefahr ist der Betrieb von Kraftfahrzeugen gesetzlich erlaubt und zwar nach den Regeln des StVG, der StVO und der StVZO. Solange der Fahrzeugführer sein Verhalten bei seiner Fahrt an den genannten Bestimmungen ausrichtet, toleriert die Gesellschaft sein Tun als erlaubtes Risiko.'Es greift aber, wie bereits erwähnt, eine Ausnahme ein, „wenn im Einzelfall erkennbar wird, daß ein Vertrauen auf das Funktionieren der zur Gefahrbegrenzung konkretisierten Sorgfaltsregeln [...] nicht mehr gerechtfertigt ist". 77 Nach hM ist „das Eingehen dieser erhöhten Gefahr dann kein erlaubtes Risiko mehr und daher auch nicht durch soziale Adäquanz gedeckt".78 Eine nähere Erklärung dieses Regel-/Ausnahmeprinzips bleibt die hM jedoch schuldig. Die sorgfaltslimitierende Funktion der Sondernorm und das oben erwähnte Regel-/Ausnahmeprinzip zu erklären soll hier versucht werden. Dazu wird von dem oben gewonnenen Ergebnis ausgegangen, nach dem das „erlaubte Risiko" mit der Sorgfaltspflicht in der Art korrespondiert, daß es geeignet ist, diese einzuschränken. Wie bereits festgestellt wurde, liegt eine Sorgfaltspflichtverletzung vor, wenn vorhersehbar ist, daß durch das zu begutachtende Handlungsprojekt eine rechtlich
76
Binding, S. 437 f.
77
Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 147.
78
Statt vieler: Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 147.
I . Die
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des „erlaubten Risikos"
101
relevante Gefahr für ein durch die Fahrlässigkeitsnorm geschütztes Rechtsgut geschaffen wird. Insofern ist der Begriff Sorgfaltspflichtverletzung irreführend, weil er nicht zum Ausdruck bringt, daß diese „Verletzung" eine Handlung ist, die von der Rechtsordnung als gefährlich bewertet wird. Eine „Verletzung" kann allenfalls darin liegen, daß der Handelnde gegen eine Bestimmungsnorm verstoßen sie verletzt - hat, aber nicht, wie es der Begriff vielleicht nahelegen könnte, daß eine Rechtsgutsverletzung eingetreten wäre. Die Grundlage für das dem Begriff „Sorgfaltspflichtverletzung" zugrunde liegenden Gefahrurteil ist die Verknüpfung von ontologischer und nomologischer Basis. 79 Als Ergebnis dieser Verknüpfung erhält man eine Prognose, daß der Eintritt einer Rechtsgutsverletzung mehr oder weniger wahrscheinlich, daß die Gefahr für das durch die Fahrlässigkeitsnorm geschützte Rechtsgut mehr oder weniger groß ist. Mit dieser Gefahrprognose ist jedoch noch nicht gesagt, daß die Gefahr auch (straf-)rechtlich relevant ist. Um von der Gefahrprognose zum Gefahrurteil zu gelangen, ist an die Prognose ein normativer Maßstab anzulegen. Wenn unter Wertungsgesichtspunkten dann das Urteil „intolerable Gefahr" gefällt werden kann, so ist die zu begutachtende Handlung unsorgfältig. A u f den normativen Maßstab, der an die Gefahrprognose angelegt wird, um zum Gefahrurteil zu gelangen, soll unten im Rahmen der Behandlung der „sozialen Adäquanz" 80 noch näher eingegangen werden. Es existieren also drei mögliche Punkte, an denen die Sondernorm ihre Wirkung entfalten kann, um die Limitierung der Sorgfaltspflicht herbeizuführen. Die Sondernorm kann auf der ontologischen oder auf der nomologischen Ebene wirken; sie könnte aber auch einen Bestandteil des normativen Maßstabs darstellen, der an die Gefahrprognose angelegt wird. Von vornherein auszuschließen ist, daß die Sondernorm die nomologische Basis beeinflußt. In die nomologische Basis werden ausschließlich Naturgesetze und Erfahrungsregeln eingebracht, wohingegen die Sondernorm Gefahrsachverhalte abstrakt beschreibt, also Handlungen, die zwar als gefährlich angesehen werden, deren Vornahme die Rechtsordnung aber trotzdem toleriert. Die Sondernorm
79
Anzumerken ist an diesem Punkt, daß nach der finalen Fahrlässigkeitskonzeption die ontologische und die nomologische Basis nicht nur unterschiedliche systematische Standorte innerhalb der sog. Sorgfaltspflicht bezeichnen, sondern auch zwei verschiedenen Subjekten zugeschrieben werden. Das zu begutachtende Tatsachenmaterial, also die Kenntnisse des Handelnden von gefahrerhöhenden Umständen, wird mit dem nomologischen Wissen des Beurteilers verknüpft. Siehe dazu Struensee, JZ, S. 61. 80
In diesem Abschnitt unter 2.
102
E. Das „erlaubte Risiko"
sagt also aus, daß bestimmte Handlungen unter bestimmten Bedingungen vorgenommen werden dürfen, nicht aber, daß bei der Begutachtung einzelner Handlungen bestimmte Naturgesetze oder Erfahrungsregeln keine Berücksichtigung finden. Fraglich ist auch, ob eine Sondernorm unmittelbar auf die normative Komponente, den Maßstab, der an die Gefahrprognose angelegt wird, Einfluß nehmen kann. Die Frage soll am Beispiel von § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO geklärt werden. Bei dieser Bestimmung handelt es sich zweifellos um eine, die Sorgfaltspflicht limitierende, Sondernorm. Nach § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO ist es grundsätzlich verboten, innerhalb von geschlossenen Ortschaften mit einer Geschwindigkeit von mehr als 50 km/h zu fahren. Als Kehrseite dieses Verbots findet sich die Erlaubnis, unter bestimmten Bedingungen innerhalb geschlossener Ortschaften eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h einzuhalten. Aus der genannten Bestimmung ist also im Umkehrschluß eine abstrakte Sachverhaltsbeschreibung, ein Erlaubnistatbestand, herauszulesen. Sofern die tatsächlichen Voraussetzungen dieses Tatbestandes vorliegen, ist das Verhalten erlaubt. Diese abstrakte Sachverhaltsbeschreibung kann jedoch nicht mit der normativen Komponente, die zur Fällung des Gefahrurteils herangezogen wird, korrespondieren. Dies sei näher verdeutlicht: Aus der Verknüpfung aus Tatsachen mit Erfahrungsregeln und Naturgesetzen ergibt sich eine gewisse Wahrscheinlichkeit einer Gefahr für ein Rechtsgut. Ob diese Gefahr für die Rechtsordnung tolerabel oder intolerabel ist, ergibt sich erst in einem weiteren Schritt, nämlich der wertenden Betrachtung der erstellten Prognose. Ohne spätere Ergebnisse vorwegnehmen zu wollen, sei bereits jetzt schon gesagt, daß die Wertung, durch die aus der Gefahrprognose das rechtlich relevante Urteil „intolerable Gefahr" entsteht, die Größe der Gefahr, nicht aber die Umstände ihrer Begründung zur Grundlage hat. 81 Die Sondernorm entfaltet vielmehr ihre Wirkung auf der ontologischen Basis, weil sich dort der systematische Standort, an dem der zu begutachtende Tatsachenstoff eingebracht wird, befindet. Dies wurde bereits oben festgestellt. 82 Je breiter diese Tatsachenbasis ist, je mehr gefahrerhöhende Umstände bekannt sind, desto höher ist, das Vorliegen der entsprechenden Naturgesetze und Erfahrungsregeln vorausgesetzt, die Wahrscheinlichkeit eines möglichen Erfolgseintritts. Durch die Wirkung der Sondernorm finden jedoch gewisse gefahrbegründende Tatsachen bei der Erstellung der Prognose keine Berücksichtigung mehr, so daß
81
Siehe dazu unten, in diesem Abschnitt 2.
82
Siehe oben D. IV.
I . Die
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des „erlaubten Risikos"
103
die prognostizierte Gefahr rechtlich irrelevant wird. Dies sei auf der Basis der finalen Fahrlässigkeitskonzeption, wie sie oben bereits vorgestellt wurde, verdeutlicht: 83 Ein Kraftfahrer befährt mit 50 km/h eine innerörtliche Straße, ohne daß er ein darüber hinaus gehendes Faktenwissen hat. Die Situation soll desweiteren so gedacht werden, daß sie keine erhöhte Aufmerksamkeit (weitere Sachverhaltsaufklärung) fordert. Läuft dann ein Kind aus einem Hauseingang direkt vor den Wagen, das erfaßt und tödlich verletzt wird, so läßt der Kenntnisstand des Fahrers nur den Schluß auf eine tolerable Gefahr zu. Die Fakten, die der Kraftfahrer in sein Bewußtsein aufgenommen hat - Fahren mit 50 km/h innerhalb einer geschlossenen Ortschaft - lassen auf einen Gefahrsachverhalt schließen, doch handelt es sich dabei um eine Gefahr, die von der Rechtsordnung toleriert wird. Es liegt zwar nicht außerhalb jeder Erfahrung, daß Kinder plötzlich und in einem so geringen Abstand vor einem Kraftfahrzeug auf die Straße laufen, daß der Anhalteweg bei 50 km/h nicht mehr ausreicht, jedoch ist es gem. § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO grundsätzlich erlaubt unter günstigsten Umständen - die hier unterstellt sein sollen - mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h durch eine geschlossene Ortschaft zu fahren. Die damit verbundenen Gefahren toleriert die Rechtsordnung als „erlaubtes Risiko". Die Sondernormen stecken also den Rahmen des „erlaubten Risikos" ab. Reicht das Wissen des Täters hinsichtlich risikoerhöhender Faktoren nicht über die tatbestandliche Beschreibung der Sondernorm hinaus, so handelt er innerhalb des durch die Sondernorm geregelten und damit erlaubten Risikos. Aus der Sicht des Beurteilers setzt der Täter dann eine tolerable Gefahr. So erklärt sich auch das angesprochene Regel-/Ausnahmeprinzip der Sondernormen, es entspricht der mathematischen Gaußklammer-Funktion: Übersteigt das Faktenwissen des Täters die abstrakte Sachverhaltsbeschreibung, hat er auch nur einen darüber hinaus gehenden Risikofaktor erkannt, ist die Grenzlinie zwischen tolerabler und intolerabler Gefahr überschritten. Die tolerable Gefahr stellt aber ein normatives Nullum dar. Der subjektive Tatbestand ist also nur dann erfüllt, wenn der Täter mit einem Mehr an Wissen um risikoerhöhende Faktoren handelt, als von der Rechtsordnung gerade noch toleriert wird.
83
Die Beispiele können ebenso auf der Basis der herrschenden „objektiven" und der „subjektiven" Theorie mit denselben Ergebnissen gebildet werden, da es bei der Behandlung des Themas der „Sondernormen" und des „erlaubten Risikos" nur auf die Art und Weise des Beurteilungsvorganges ankommt, der nach allen Theorien identisch ist.
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E. Das „erlaubte Risiko"
Wußte der Kraftfahrer, in Abwandlung des oben genannten Beispielsfalls, daß er an einer Schule vorüberfährt, so hätte er durch sein Handeln eine intolerable Gefahr gesetzt. Der einsichtige Beobachter hätte den Erfahrungssatz gekannt, daß Kinder nach Schulschluß, ihrem natürlichen Bewegungsdrang folgend, aus dem Gebäude laufen und dabei auf die Fahrbahn geraten können. b) Nicht-kodifizierte Sondernormen Neben den kodifizierten existieren nach herrschender Meinung auch nichtkodifizierte Sondernormen, „Normen" also, die nicht in einem förmlichen Verfahren als Gesetz oder Verordnung erlassen worden sind, aber trotzdem die Sorgfaltspflicht limitieren sollen. Bekannteste Beispiele für diese nicht-kodifizierten „Normen" sind die Regeln der ärztlichen Kunst, aber nach hM auch der Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr. 84 Daneben sind ferner technische Anleitungen anzuführen, etwa VDE-, V D I und DIN-Normen. Diese Kunstregeln sind keine Rechtsnormen, von ihnen geht keine direkte Regelungswirkung aus. Ihre mittelbare Wirkung sollen sie dadurch entfalten, daß sie ebenso beim Publikum wie auch bei dem Gesetzgeber allgemeine Anerkennung gefunden haben.85 Als Beispiel dafür sei § 323 StGB angeführt, der in den Absätzen 1 und 2 auf die anerkannten Regeln der Technik, zu denen die letztgenannten Anleitungen nach der hM gehören 86, Bezug nimmt. 87 Darüber hinaus machen einen nicht unerheblichen quantitativen Anteil der nichtkodifizierten Sondernormen auch behördliche Genehmigungen aus, die ihre gesetzgeberische Anerkennung im Umwelt- und Nebenstrafrecht gefunden haben.88 Im Fahrlässigkeitsbereich können sie vorerst den übrigen nicht-kodifizierten Sondernormen gleichgestellt werden, zumindest soweit es sich um ordnungsrechtliche Genehmigungen handelt. Hinsichtlich des „erlaubten Risikos" haben diese nicht-kodifizierten Sondernormen nach der hM dieselbe Wirkung wie die kodifizierten. Allgemein ist anerkannt, daß auch sie die Sorgfaltspflicht begrenzen und so den Bereich des „er-
84
Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 149.
85
Näher dazu: Lenckner, Technische Normen, S. 490 ff., insb. S. 499 ff.
86
Kritisch dazu: Lenckner, Technische Normen, S. 502.
87
Siehe dazu Sch-Sch Cramer § 323 Rdnr. 4.
88
Vgl. Prittwitz,
S. 284.
I . Die
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des „erlaubten Risikos"
105
laubten Risikos" definieren. 89 Im Ergebnis ist dies vertretbar, da sämtliche hier aufgeführten Regelungen sich im grundsätzlichen - anders als in ihrer rechtlichen Legitimation - in der ihnen von der hM gegebenen Struktur nicht von den kodifizierten unterscheiden. Ob sie aber tatsächlich dieselbe rechtliche Wirkung entfalten können, sei der späteren Darstellung vorbehalten. 90 Als Zwischenergebnis ist für den hier interessierenden Bereich des „erlaubten Risikos" festzuhalten, daß nach den Prämissen der hM auf eine mögliche Tatbestandsbildung abzustellen ist. Wenn die hier aufgeführten „Normen" auch keine direkten Rechtsfolgen zu entfalten vermögen, so beschreiben sie doch in abstracto bestimmte gefährliche Vorgänge und die Voraussetzungen unter denen sie von der Allgemeinheit hingenommen werden. 2.Soziale Adäquanz Ob sich vor dem Hintergrund der oben gefundenen Ergebnisse auch ein Prinzip der sozialen Adäquanz auf gleichem Wege in den Bereich des „erlaubten Risikos" einreihen läßt, ist fraglich. Soll doch über das Institut der „Sozialadäquanz" eine Haftungsbeschränkung vorgenommen werden, die von einer „tatbestandlichen" Vertypung abgelöst ist. Verhaltensweisen, die so allgemein die Billigung der Rechtsunterworfenen gefunden haben, daß sie als sozial adäquat angesehen werden, sollen nicht haftungsbegründend wirken können.91 Die Beispiele dafür zeigen bereits die Richtung an, in der sich die Lösung finden läßt. So wird z. B. das Händeschütteln bemüht, bei dem ansteckende Krankheiten übertragen werden können92, oder auch der Lehrbuchfall, in dem ein Knecht bei Gewitter aufs Feld geschickt wird und in denselben der Blitz einfährt. 93 Da es keine Sondernormen gibt, weder kodifizierte noch nicht-kodifizierte, die das Verhalten beim Händeschütteln oder bei der Beauftragung eines landwirtschaftlichen Erntehelfers regeln, kann auf diese nicht zurückgegriffen werden. Nach der Intention der Lehre von der Sozialadäquanz soll es das auch gar nicht, weil diese sich nicht auf vertypte Sachverhalte stützen will, sondern auf ein übergeordnetes Prinzip. Dieses wertende Prinzip kann aber nicht auf einer Ebene
89 90
Vgl. Bohnert, Fahrlässigkeit, S. 10 f. Siehe unten G.
91
Welzel, Studien, S. 515 ff.; Schaffstein,
92
Maiwald, S. 408.
93
Roxin, A T 1, S. 235.
ZStW, S. 369.
106
E. Das „erlaubte Risiko"
eingreifen, die einer Wertung nicht zugänglich ist, nämlich auf der Ebene der Tatsachenfeststellung, der ontologischen Basis, sondern nur dort, wo eine Wertung angebracht ist, nämlich bei dem Urteil, ob es sich bei der Möglichkeit des Erfolgseintritts um eine rechtlich relevante, eine intolerable, Gefahr handelt. Ähnlich wie bei der Funktion der Sondernormen greift auch hier wieder dem Grundsatz nach die mathematische Gaußklammerfunktion ein. Wenn sich die Gefahrprognose als Ergebnis der Verknüpfung von ontologischer und nomologischer Basis darstellt, ist es theoretisch möglich, dieses Ergebnis in einem Zahlenwert darzustellen; dies natürlich unter der Voraussetzung, daß auch die einzelnen Faktoren mit Zahlenwerten belegt sind. Die Lehre von der Sozialadäquanz würde in diesem Fall postulieren, daß eine Möglichkeit des Erfolgseintritts von Null bis zu einem gewissen Zahlenwert als Nicht-Gefahr zu gelten hätte. Sobald aber der (Zahlen-) Wert der Möglichkeit diesen Grenzwert übersteigt, muß das Urteil unweigerlich lauten, daß eine rechtlich relevante Gefahr vorläge. So abstrakt sich diese Überlegung auch darstellen mag, vollzieht sie doch nichts anderes, als das, was tagtäglich bei der Rechtsanwendung geschieht. Dafür sei das Beispiel des Händeschüttelns bemüht: Durch das Schütteln der Hände berühren sich die Handflächen von zwei Personen (ontologische Basis). Es ist bekannt, daß Krankheiten durch das Händeschütteln übertragen werden können. Ferner ist bekannt, daß der Mensch Wirt für allerlei Mikroben ist, von denen einige bei anderen Menschen Krankheiten hervorrufen können, auch ohne daß der Übertrager davon befallen wäre (nomologische Basis). Also ist das Händschütteln gefährlich (Gefahrprognose). Diese Gefahr ist jedoch relativ gering. Anders würde sich die Gefahrprognose darstellen, wenn in ihre Faktenbasis eingeht, daß einer der beiden Beteiligten alle Symptome einer hoch ansteckenden Krankheit hätte, die durch Hautkontakt übertragen würde. Die ontologische Basis wäre breiter und das Ergebnis einer Verknüpfung mit der nomologischen wäre im zweiten Fall ungleich höher. Niemand käme dann auf den Gedanken diese Handlung noch als sozialadäquat zu bezeichnen. Durch die Sozialadäquanz werden also auf normativem Wege Fallkonstellationen ausgeschieden, bei denen die Gefahrprognose vergleichsweise niedrig ausfällt, wohingegen die Sondernormen bereits auf der Tatsachenebene eingreifen und den Erkenntnisprozeß dadurch beeinflussen, daß die in ihnen beschriebenen Sachverhalte unter den oben genannten Voraussetzungen keine Berücksichtigung bei der Erstellung des Gefahrurteils finden. Eine Differenz zwischen Sozialadäquanz und Sondernorm entsteht dann nicht, wenn die Sondernorm als eine Auswirkung des allgemeineren Prinzips der Sozialadäquanz angesehen wird. Grundsätzlich wird das Grundrisiko, das sich
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unweigerlich und immer daraus ergibt, daß verschiedene Personen in sozialen Kontakt miteinander treten, durch das Prinzip der Sozialadäquanz gedeckt. Die Rechtsordnung toleriert diese Grundgefahr, um überhaupt ein Zusammenleben zu ermöglichen. In einigen riskanten, aber für die Gemeinschaft nützlichen Bereichen wird die sozialadäquate, die tolerierte, Gefahr überschritten, gleichwohl hat die Gesellschaft ein Interesse daran, daß es dem Einzelnen möglich ist, dort tätig zu sein. Es war deshalb notwendig aus der allgemeineren Handlungserlaubnis vertypte speziellere Erlaubnisse für gewisse riskante Lebensbereiche abzuleiten, die haftungslimitierenden Sondernormen. Aufgrund ihrer Vertypung, der abstrakten Sachverhaltsbeschreibung, greifen diese spezielleren Erlaubnisse aber auf einer anderen systematischen Ebene als der allgemeinere Grundsatz der Sozialadäquanz. So erklärt sich auch die allerorts zu findende Formulierung des „erlaubten Risikos" als Unterfall der sozialen Adäquanz.94 3. Sozialadäquanz und „ erlaubtes Risiko " im Vorsatzdelikt Nachdem die Begriffe „erlaubtes Risiko" und „Sozialadäquanz" und ihre Anwendung im Fahrlässigkeitsbereich analysiert worden sind, erscheint es mehr als fraglich, ob die Inhalte dieser Begriffe beim Vorsatzdelikt überhaupt eine Bedeutung erhalten können. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Fahrlässigkeits- und dem Vorsatzdelikt liegt darin, daß der Täter beim letzteren ein Mehr an Wissen hat. Vergleicht man die §§ 212 und 220 StGB, so sind die objektiven Tatbestände prinzipiell deckungsgleich. Die eine wie in die andere Norm sanktioniert ein menschliches Verhalten, das den Tod eines Menschen herbeiführt. Ein außenstehender Dritter könnte deshalb allein durch Beobachtung einer Tötungshandlung nicht unterscheiden, welchen der beiden Tatbestände der Täter verwirklicht hat, solange er die Täterpsyche nicht kennt. Darin stimmen übrigens sämtliche Fahrlässigkeitskonzeptionen mit Einschluß der objektiven überein. Handelte der Täter in Kenntnis der Tatumstände, § 16 StGB, handelte er vorsätzlich. Hatte er die fragliche Kenntnis jedoch nicht, wäre in der Fallbearbeitung weiter zu prüfen, ob er fahrlässig gehandelt hat. Die Fahrlässigkeit, die bisher im Mittelpunkt der Bearbeitung stand, ist also stets ein Fall der mangelnden Kenntnis, ein Irrtumsfall. 95 Weil der Täter nicht weiß, wird die Kenntnis durch ein
94
Vgl. statt vieler: Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 146.
95
Näher zur Strukturgleichheit von Vorsatz und Fahrlässigkeit: Struensee, JZ, S. 57 ff.
108
E. Das „erlaubte Risiko"
Kennenkönnen oder Kennenmüssen ersetzt, deshalb steht die Gefahrprognose im Mittelpunkt dieser Deliktsart. Diese Prognose findet sich jedoch auch im Vorsatzdelikt wieder. Als Ausgangspunkt soll § 16 StGB dienen. Der Täter muß in Kenntnis der Umstände gehandelt haben. Die Tatumstände des § 16 StGB sind die konkreten realen Tatsachen, die sich unter die Tatbestandsmerkmale subsumieren lassen.96 Kenntnis ist dabei die Übereinstimmung der substantiiert 97 gewonnenen Vorstellungen des Täters mit der Wirklichkeit. Kurz gefaßt heißt das, daß der Täter immer dann vorsätzlich gehandelt hat, wenn seine Vorstellungen und das wirkliche Geschehen deckungsgleich waren. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorsatzes kann jedoch nur der Handlungsvollzug sein.98 Wüßte der Täter erst im nachhinein, was er in Gang gesetzt hat, läge ein Fall des - unbeachtlichen - dolus subsequens vor. Gleiches gilt für den Fall, daß der Täter zwar in irgendeinem Zeitpunkt vor der Handlung gewußt hat, was diese, würde er sie vollziehen, bewirken kann, diese Kenntnis im Zeitpunkt der Handlung jedoch abhandengekommen ist. Dieser Fall wird in der Literatur als dolus antecedens bezeichnet. In diesen beiden Fällen kann der Normappell den Täter zur Zeit der Tat(-handlung) nicht erreichen. Wenn die Kenntnis im Zeitpunkt der Handlung und nur dann vorliegen muß, heißt das nichts anderes, als daß der Täter in diesem Zeitpunkt den Kausalverlauf und den Erfolgseintritt prognostizieren muß.99 Er muß, um vorsätzlich zu handeln, ein Gefahrurteil fällen. Gibt der geübte Schütze einen Schuß auf einen Menschen ab, so stellt er sich in dem Augenblick, in dem er den Abzug betätigt, vor, daß der Schuß sich lösen, die Kugel den Lauf verlassen, das anvisierte Objekt treffen und tödlich verletzen wird. Mit letzter Sicherheit wird er es jedoch nie wissen. So kann eine plötzliche Bewegung des anderen diesen aus der Schußbahn bringen, das Pulver könnte naß und damit weniger effizient sein, so daß die Kugel ihr Ziel nicht erreicht. Trotzdem sprechen wir, wenn alles dem Tatplan entsprechend verlaufen ist, von vorsätzlicher Vollendung. Die Tätervorstellungen, die wir ausreichen lassen, um den Vorsatz zu bejahen, sind nichts anderes als eine in der Täterpsyche vorgenommene Prognose.
96
So bereits Beling, S. 112.
97
Schumann, Voluntatives Element, S. 432.
98
Näher dazu W. Frisch, S. 57 f.
99 Schumann, Voluntatives Element, S. 432; in diesem Punkt mit Schumann übereinstimmend W. Frisch, S. 57 f.
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Zu beachten ist die Ähnlichkeit zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit. Kernstück beider Deliktsarten ist die Gefahrprognose, bei ersterer ist lediglich die ontologische Basis ungleich breiter. 100 Damit ist auch die Frage nach der Funktion der Sondernormen und der Sozialadäquanz beim Vorsatzdelikt beantwortet. Die Sondernorm beschreibt Sachverhalte, von denen eine für die Gesellschaft noch tolerable Gefahr ausgeht; übersteigt das Täterwissen den durch die Sondernorm beschriebenen Bereich, greift diese nicht mehr ein. Sobald der Täter so viele Kausalfaktoren erkannt hat, sich also den Kausalverlauf so konkret vorstellen prognostizieren - kann, daß der Vorsatz bejaht wird, geht die Tatsachenkenntnis weit über den Bereich der Sondernorm hinaus. Ebenso verhält es sich bei der Sozialadäquanz. Der den Erfolgseintritt und den Kausalverlauf überdeterminierende Täter erstellt eine Gefahrprognose, die, bringt man diese Prognose in eine Werteskala ein, so konkret ist, daß sie unmöglich noch von der Sozialadäquanz gedeckt werden kann. Es ist als Ergebnis festzuhalten, daß das Institut des „erlaubten Risikos" sich zwar zwanglos gedanklich in das Vorsatzdelikt eingegliedern läßt, es dort jedoch keinerlei Wirkung entfalten kann. Für die von der Gegenansicht angeführten Haftungsrestriktionen für bestimmte Fallkonstellationen101 müssen andere Erklärungen gesucht werden, auf das „erlaubte Risiko" können diese nicht zurückgeführt werden.
100
Ähnlich Puppe, S. 35 ff: Puppe definiert Vorsatz als wissentliche Setzung einer (in Relation zur Fahrlässigkeit) qualifizierten Gefahr. Eine „Vorsatzgefahr" liege dann vor, wenn sich das vom Täter geplante Verhalten auf der Basis der ihm bekannten (ontologischen) Faktoren als Strategie zur Herbeiführung des Erfolges eignen würde. 101
Siehe oben, in diesem Kapitel II.
F. Der Vertrauensgrundsatz Nach ganz herrschender Ansicht bildet der Vertrauensgrundsatz 1 einen Unterfall des „erlaubten Risikos".2 Umstritten bleiben aber seine Anwendungsbereiche und seine Begründung. Nimmt man zur Bestimmung die (kern-) strafrechtliche Literatur und die Rechtsprechung zur Grundlage, liegt die Domäne des Vertrauensgrundsatzes im Straßenverkehrsrecht. In anderen Rechtsgebieten soll er zwar nach zahlreichen Stimmen im Schrifttum 3 ebenfalls und ungeschmälert Anwendung finden, einhellige Zustimmung hat diese Ansicht jedoch bisher nicht gefunden, wie allein die lebensmittelstrafrechtliche Literatur und Rechtsprechung eindrücklich belegen.4 Bis heute hat der Vertrauensgrundsatz außerhalb des Straßenverkehrsrechts nur auf dem Gebiet der medizinischen Arbeitsteilung unbestrittene Geltung erlangt. 5 Für die Frage, ob dem Vertrauensgrundsatz ein allgemeiner Grundsatz zugrundeliegt, der es erlaubt, diesen außerhalb des Straßenverkehrsrechts, insbesondere im Lebensmittelrecht, anzuwenden, bedarf es deshalb einer eingehenderen Analyse und Aufarbeitung dieses Rechtssatzes und der einzelnen dazu vertretenen Ansichten, bzw. Begründungsversuche. Stellt sich dabei heraus, daß ein über die spezielle Materie des Straßenverkehrsrechts hinausgehendes Prinzip tatsächlich existiert, muß dieses Prinzip im gesamten Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht gelten. Stellt sich jedoch bei der Untersuchung heraus, daß für den Vertrauensgrundsatz keine tragfähige Grundlage in einem übergeordneten Prinzip
1
Terminologische Bedenken bei Kirschbaum, S. 220 f.
2
Vgl. u. a. SK-Äz/wscw Anh. zu § 16 Rdnr. 21; LK-Schroeder § 16 Rdnr. 170 a.E.; SchSch Cramer § 15 Rdnr. 149; Kirschbaum, S. 182 ff., 209 ff. jeweils m.w.N. Nach aA, vgl. Stratenwerth, Eb. Schmidt FS, S. 388 f., fallen Vertrauensgrundsatz und „erlaubtes Risiko" auseinander. Siehe dazu aber unten Fn. 15. Puppe in N K vor § 13 Rdnr. 152 bezweifelt grundsätzlich die Existenz eines Vertrauensgrundsatzes. 3
Vgl. nur Stratenwerth, Eb. Schmidt FS, 387 ff.; Schumann, Handlungsunrecht, S. 19 ff.; Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 151 jeweils m.w.N. 4
Siehe dazu auch Schmidhäuser, S. 312: Eine „Erstreckung des Vertrauensgrundsatzes auf andere Sachverhalte ist höchst fragwürdig." 5 Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 152 f.; siehe dazu auch die Monographien von Kamps, Wilhelm, Peter und Umbreit.
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gefunden werden kann, muß nach anderen Lösungsansätzen gesucht werden, um das Phänomen des Vertrauensgrundsatzes zu erklären. I. Der Vertrauensgrundsatz als Unterfall des „erlaubten Risikos" Während noch zu Beginn der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts in der straßenverkehrsrechtlichen Rechtsprechung der Mißtrauensgrundsatz vorherrschte, entwickelte sich in der Literatur und der Rechtsprechung in den späteren Jahren der straßenverkehrsrechtliche Vertrauensgrundsatz. Verlangte die Rechtsprechung in der Anfangszeit des motorisierten Verkehrs noch vom Autofahrer, er müsse, da dies „nicht außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung" 6liege, auch mit unverständigem Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer rechnen 7, gilt heute das Gegenteil8, obwohl, so der BGH, „die Erfahrung lehrt, daß selbst völlig unvernünftiges Verhalten im Straßenverkehr keine Seltenheit geworden ist" 9 . „Mußte der Vorfahrtsberechtigte nach der älteren Rechtsprechung mit der Verletzung seines Rechts rechnen und sich daher dem Kreuzungsbereich so langsam nähern, daß er sein Fahrzeug auf kürzeste Entfernung zum Stehen bringen konnte, so kann er sich nach dem Vertrauensgrundsatz darauf verlassen, daß Wartepflichtige seinen Vorrang beachten werden, und braucht folglich seine Geschwindigkeit beim Heranfahren an eine Kreuzung oder Einmündung, auch wenn diese unübersichtlich ist, nicht herabzusetzen. Während der Autofahrer nach der früheren Auffassung insbesondere mit Unbesonnenheiten von Fußgängern sollte rechnen müssen, kann er heute davon ausgehen, daß sie sich verkehrsrichtig verhalten, und braucht z. B. nicht darauf gefaßt zu sein, daß ihm ein Fußgänger plötzlich vom Gehweg in die Fahrbahn tritt. Ferner braucht z. B. der Überholende nicht damit zu rechnen, daß der Eingeholte plötzlich nach links ausschert oder durch Beschleunigen seinen Abstand zu einem Vorausfahrenden so verkürzt, daß für den Überholenden das Wiedereinscheren unmöglich wird. Schließlich ist ein innerorts abgestelltes Fahrzeug dann durch die Straßenbeleuchtung 'auf ausreichende Entfernung deutlich sichtbar' und braucht nicht mit eigener Lichtquelle beleuchtet zu werden (§ 17 Abs. 4 S. 1 StVO), wenn es für andere
6
RG JW 1928, S. 879 f., S. 3187
7
RGSt 59, S. 318; 61, S. 120; 65, S. 135.
8
Schumann, Handlungsunrecht, S. 7.
9
BGHSt 8, S. 200, 203.
112
F. Der Vertrauensgrundsatz
Verkehrsteilnehmer, die sich selbst verkehrsgerecht verhalten, rechtzeitig erkennbar ist." 10 Im Verlaufe seiner Entwicklung erhielt der Vertrauensgrundsatz dabei folgende, heute 11 allgemein vertretene Ausprägung: Jeder darf grundsätzlich auf das verkehrsgerechte Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer vertrauen, er muß also sein Verhalten nicht darauf einrichten, daß andere sich ordnungswidrig oder unvernünftig verhalten werden. Dies soll aber in den Fällen nicht gelten, in denen dem Vertrauen auf richtiges Verhalten der anderen erkennbar die Grundlage entzogen ist, oder in denen sich der Verkehrsteilnehmer selbst verkehrswidrig verhält. 12 Eine weitere darüber hinaus gehende Ausnahme will die Rechtsprechung auch dann machen, wenn in bestimmten Situationen besonders häufig mit verkehrswidrigem Verhalten gerechnet werden muß. 13 1. Der Vertrauensgrundsatz
als nicht-kodifizierte
Sondernorm
Dadurch, daß der Vertrauensgrundsatz von der hM als Unterfall des „erlaubten Risikos" gesehen wird, ist ihm im grundsätzlichen das Gepräge einer nichtkodifizierten sorgfaltslimitierenden Sondernorm gegeben worden. Er sagt nämlich aus, daß es grundsätzlich erlaubt ist, sich im Straßenverkehr so zu bewegen, als ob die anderen Verkehrsteilnehmer sich an die Verkehrsregeln hielten. Bemerkenswert ist, daß, so wie der Vertrauensgrundsatz von der Literatur und Rechtsprechung dargestellt und angewandt wird, sich die für die Sondernorm typische Tatbestandsbildung wegen der stets mitformulierten Ausnahmen, daß z. B. ein Fehlverhalten anderer nicht erkennbar sein darf, und daß sich der Verkehrsteilnehmer selbst an die Verkehrsregeln hält, nicht auf den ersten Blick erschließt. Geht man jedoch mit der hM von der Annahme aus, daß es sich dabei tatsächlich um einen Unterfall des „erlaubten Risikos" handelt, verbleibt aus fahrlässigkeitssystematischer Sicht keine Alternative. Die Möglichkeit, den Vertrauensgrundsatz als spezielle Ausprägung der Sozialadäquanz, wie sie oben dargestellt wurde, zu verstehen, ist von vornherein ver-
10 Schumann, Handlungsunrecht, S. 7 f., mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 11 Noch 1964 gegen den Vertrauensgrundsatz, allerdings unter Verkennung seiner Funktion, und für eine Rückkehr zum Mißtrauensgrundsatzes: Clauß, S. 207 ff. mit weitgehend verfehlten Beispielen. 12
Statt vieler Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 149.
13
BGH 12, S. 81, 83; 17, S. 299, 301; VRS 33, S. 370; 35, S. 116, 181.
I. D e r t r
des „erlaubten R i s i k o s " 1 1 3
wehrt. Dies setzte nämlich voraus, daß der Vertrauensgrundsatz direkt in die Bewertung der Gefahrprognose einfließen müßte. Wegen der Bindung an tatsächliche Gegebenheiten (Straßenverkehr, andere Verkehrsteilnehmer, Verhalten) ist dies aber nicht möglich, da der Maßstab der Sozialadäquanz, der an die Gefahrprognose angelegt wird, um zum Gefahrurteil zu gelangen ein ausschließlich normativ zu bestimmender ist. 14 Ein Satz, der den speziellen Umständen des Straßenverkehrs Rechnung tragen und in der systematischen Kategorie der Sozialadäquanz, wie sie hier verstanden wird, Wirkung entfalten soll, müßte etwa lauten, daß prognostizierbare Gefahren im Straßenverkehr erst ab einem gewissen Grade rechtliche Relevanz erhalten sollen. Dieser Inhalt ist dem Vertrauensgrundsatz aber nicht zu entnehmen, ein Urteil über die Intensität der Gefahr wird nicht an- oder ausgesprochen und auf ein solches kann auch nicht aus dem Regelungsinhalt geschlossen werden. Wenn der Vertrauensgrundsatz ein Unterfall des „erlaubten Risikos" sein soll, kann er auch nicht Bestandteil der nomologischen Basis sein. Das versteht sich beinahe von selbst, da die nomologische Basis allein aus Erfahrungsregeln und Naturgesetzen gebildet wird. Dabei handelt es sich um Kategorien, die einer rechtlichen Wertung entzogen sind. Wie aber bereits festgestellt wurde, soll das „erlaubte Risiko" das Ergebnis einer solchen Wertung darstellen. 2. Der Vertrauensgrundsatz
im Straßenverkehr
Unterstellt also, es handelt sich beim Vertrauensgrundsatz tatsächlich um eine Sondernorm 15, so ist deren Grundaussage ziemlich einfach: Sie erlaubt nämlich, sich im Straßenverkehr, also im potentiellen oder konkreten, direkten oder indirekten Kontakt mit anderen Verkehrsteilnehmern, den übrigen Normen des Straßenverkehrsrechts entsprechend zu bewegen und straßenverkehrsrechtliche
14
Siehe dazu oben E.IV.2.
15
Dieses Ergebnis läßt sich auch unter Zugrundelegung der Ansicht Stratenwerths, Eb. Schmidt FS, S. 390 f., erzielen. Die von ihm vorgenommene Unterscheidung von Vertrauensgrundsatz und „erlaubtem Risiko" begründet sich darin, daß, nach seiner Ansicht, das „erlaubte Risiko" und die von ihm vertretene Lehre von den Verantwortungsbereichen auf zwei verschiedenen Prinzipien basieren. Sieht man aber, wie hier, das „erlaubte Risiko" als systematische Kategorie, deren Inhalt innerhalb der „Sorgfaltspflicht" wirkt, indem es die Gefahrprognose beeinflußt, an, so muß auch die Konstruktion Stratenwerths darunter gefaßt werden. Erstens limitiert auch nach Stratenwerth (Eb. Schmidt FS, S. 392) die „Lehre von den Verantwortungsbereichen" die „Sorgfalt" und zweitens ist auch nach ihr eine Sondernormbildung möglich.
8 Brinkmann
114
F. Der Vertrauensgrundsatz
Gestattungen auszuüben. So ist es nach diesem Satz einem Verkehrsteilnehmer z. B. erlaubt, sein Vorfahrtsrecht wahrzunehmen oder eine beampelte Kreuzung bei Grünlicht zu passieren, ohne sich vorher nach links oder rechts vergewissert zu haben, daß der Querverkehr auch tatsächlich anhält und ihm den Vorrang einräumt. So schlicht diese Aussage auch klingen mag, so ist sie vor dem Hintergrund der bisher erarbeiteten Ergebnisse beileibe keine Selbstverständlichkeit. Exemplarisch soll dafür die „grüne Ampel" stehen: An bekannten Tatsachen16 wäre in einer Fallprüfung vorauszusetzen, daß ein Verkehrsteilnehmer auf einer öffentlichen Straße ein Fahrzeug führt, daß er sich einer Ampelkreuzung nähert, und daß diese Ampel für ihn grünes Licht zeigt. Bringt man diese Tatsachen mit den Erfahrungsregeln, daß es auf der nachrangigen Straße ebenfalls Kraftfahrzeugverkehr geben kann und daß es Kraftfahrer gibt, die das Rotlicht mißachten, in Verbindung, so kommt man zu dem Urteil, daß dieser Verkehrsteilnehmer mit seinem Handeln eine Gefahr von gewisser Größenordnung setzt. Spricht man nun dem Vertrauensgrundsatz die Qualität einer Sondernorm zu, so entfiele im Falle eines Unfalles wegen eines Rotlichtverstoßes des aus der Nebenstraße Kommenden die Fahrlässigkeitshaftung des Fahrzeugführers aufgrund des Eingreifens dieser Norm. An Fakten, die in den Beurteilungsvorgang einfließen, sind nämlich nicht mehr bekannt, als in dem „Tatbestand" der Sondernorm abstrakt beschrieben. So erklären sich auch die Ausnahmen, daß der Vertrauensgrundsatz dort nicht gelten soll, wo entweder dem Vertrauen auf richtiges Verhalten der anderen erkennbar die Grundlage entzogen oder wo, so die Rechtsprechung, besonders häufig mit verkehrswidrigem Verhalten zu rechnen sei. Handelt es sich bei dem Vertrauensgrundsatz tatsächlich um eine Sondernorm, so umschreibt diese abstrakt eine Situation, die ein typisches Grundrisiko beinhaltet. Sofern der Kenntnisstand, der, auf welcher Grundlage er auch immer gewonnen sein mag, zur Beurteilung herangezogen wird, die diese Situation beschreibenden Tatsachen nicht überschreitet, ist er haftungsunschädlich. Ein über den Normalfall hinausgehendes Wissen, wem es auch zugeschrieben werden mag, verbreitert jedoch die ontologische Basis über das von der Sondernorm beschriebene Maß hinaus. Es ist also ein Mehr an Tatsachenwissen vorhanden, als die abstrakte Beschreibung des Erlaubnissatzes erfaßt. Die Sondernorm kann in diesen Fällen nicht
16
A u f welcher Grundlage sie auch immer gewonnen worden wären.
I. D e r t r
des „erlaubten R i s i k o s " 1 1 5
mehr greifen. 17 Dabei handelt es sich auch nicht um eine „Kapitulation vor der normativen Kraft des Faktischen", sondern lediglich um eine immanente Schranke der Sondernorm. Grundsätzlich ist es also überflüssig, die oben aufgeführten Ausnahmen, also Fälle, in denen ein Mehr an gefahrerhöhenden Umständen bekannt ist, als in der Sondernorm abstrakt beschrieben, ausdrücklich anzusprechen. Zur Ergänzung sei noch angemerkt, daß in dem Beispielsfall der Fahrzeugführer allein wegen des Eingreifens des Vertrauensgrundsatzes nicht haftet. Würde der Vertrauensgrundsatz ersatzlos entfallen, wäre es dem Kraftfahrer verwehrt, ohne nähere Sachverhaltsaufklärung trotz des Grünlichts in die Kreuzung einzufahren. Die Gestattung nach § 37 Abs. 2 Nr. 1 StVO, eine Ampelkreuzung zu passieren, sofern die Lichtzeichenanlage grün zeigt, kann in diesem Fall nicht als sorgfaltsbegrenzende Sondernorm fungieren, da sie stets nur unter dem Vorbehalt des § 1 Abs. 2 StVO, des allgemeinen straßenverkehrsrechtlichen Gefährdungsverbots, ergeht. 3. Der allgemeinere Vertrauensgrundsatz Die speziell für die Bedürfnisse des Straßenverkehrs zugeschnittene Fassung des Vertrauensgrundsatzes läßt sich zumindest theoretisch durch weitere Abstraktion auf einen eventuell existierenden allgemeineren Vertrauensgrundsatz zurückführen. Um diesen allgemeineren Satz zu finden, ist lediglich die Grundkonstellation, die der speziellere beschreibt, soweit aufzuarbeiten, daß sie auch auf anderen Gebiete außerhalb des Straßenverkehrsrecht Anwendung finden kann. Im nächsten Abstraktionsschritt und vom Straßenverkehrsrecht gelöst sagt der Vertrauensgrundsatz dann aus, daß man bei der rechtlichen Bewertung einer
17 Vgl. dazu Krümpelmann, S. 304 ff.; Krümpelmann will jedoch nicht, wie von der h M vertreten, in jedem Fall, in dem „negative Verhaltensindizien" fehlen, den Vertrauensgrundsatz gelten lassen, sondern verlangt, daß in bestimmten Situationen, wenn z. B. ältere Personen oder Kinder erkennbar sind, zuzuwarten sei, bis „positive Verhaltensindizien" vorlägen. Die Argumentation, daß in diesen Situationen nicht von vornherein erkennbar sei, ob die angesprochenen Personengruppen sich verkehrsgerecht verhalten werden, vermag diese - vermeintliche - Ausnahme von der Grundregel jedoch nicht zu tragen, da es sich dabei - auch unter Zugrundelegung der Ansicht Krümpelmanns - nur um solche Fälle handelt, in denen aus ex ante Sicht über den Normalfall hinaus Risikofaktoren erkennbar sind, die ontologische Basis mithin breiter ist, als in der „Sondernorm" beschrieben.
8*
116
F. Der Vertrauensgrundsatz
Handlung, die sich im direkten, indirekten oder potentiellen und gegenwärtigen Zusammenwirken mit Handlungen anderer vollzieht, ein eventuelles Fehlverhalten der anderen nicht einzukalkulieren hat, solange keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen. 18 Die weitere Voraussetzung, daß sich der Handelnde selber an etwaige vorgegebene Regeln zu halten hätte, soll vorerst ohne Berücksichtigung bleiben, da darauf später im Rahmen der sog. Prämientheorie 19 noch eingegangen werden soll. Zur Klarstellung soll daraufhingewiesen werden, daß nach dem hier vertretenen Verständnis des Vertrauensgrundsatzes die sog. „Regreßverbots-Fälle" nicht von der so gefaßten Regel erfaßt sein sollen.20 In diesen Fällen knüpft ein Dritter an einen vom Handelnden in Gang gesetzten Kausalverlauf an und ändert ihn durch sein Verhalten in irgendeiner Form ab. Es handelt sich dabei also um Fälle, in denen der Handelnde, ähnlich wie bei dem beendeten Versuch, den Kausalverlauf bereits aus den Händen gegeben hat. Der Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr sagt jedoch nichts über ein zukünftiges Verhalten Dritter nach dem „aus den Händen geben" aus, sondern beschreibt nur Vorgänge der Tätergegenwart, nämlich, wie weit bei der Fällung des Gefahrurteils die von Dritten in der Vergangenheit oder in der Gegenwart eventuell ausgelösten Kausalverläufe Berücksichtigung finden müssen. Es handelt sich bei diesen Konstellationen also nicht um das spätere Anknüpfen eines Dritten an die Handlung des Täters, sondern vielmehr um die Integration eines früheren oder gleichzeitigen Verhaltens eines anderen in die Täterhandlung. Inwieweit auch eine andere Interpretation, die auch Fälle des „Regreßverbots" mit einschließt, möglich oder vielleicht sogar geboten ist, soll hier nicht näher vertieft und in diesem Zusammenhang auch dahingestellt bleiben, da für die hier interessierenden Fälle der lebensmittelrechtlichen Leistungskette das Problem des „Regreßverbots" keine Relevanz hat.
18
Vgl. Schumann, Handlungsunrecht, S. 21: Es gehe dabei darum, „welche Pflichten man hat, wenn man Leistungen oder Arbeitsergebnisse anderer in seinem Handeln wirksam werden läßt." 19 20
Siehe in diesem Kapitel II. 1.
Anders als hier z. B. Jakobs, Regreßverbot, S. 13 ff.: „Vertrauensgrundsatz als Unterfall des Regreßverbots" und Roxin, Tröndle-FS, S. 186 f.: „Regreßverbot als Unterfall des Vertrauensgrundsatzes".
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
117
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes Ob und wie weit es zulässig ist, von dem straßenverkehrsrechtlichen Vertrauensgrundsatz auf einen diesem eventuell zugrundeliegenden allgemeineren zurückzuschließen, hängt davon ab, ob sich der Vertrauensgrundsatz auf ein allgemeines Prinzip zurückfuhren läßt. Die verschiedenen im Schrifttum und in der Rechtsprechung gegebenen Begründungen gehen sehr weit auseinander. /. Die Prämientheorie Nach der Prämientheorie ist die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes abhängig von dem eigenen Wohlverhalten des Verkehrsteilnehmers für den er zur Anwendung kommen soll. Dann sei er eine Belohnung, eine Prämie, für denjenigen, der sorgfältig handele und dessen Einsatz für die Durchsetzung der allgemeinen Verkehrsdisziplin. 21 Ausformuliert wurde diese Theorie bereits im Jahre 1938 von Gülde: „Ließe man gegenüber den Schwachen die Zügel locker, so forderte man diejenigen, welche ihre Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft mangelhaft oder gar nicht erfüllen und dadurch ihr Volk schädigen, zum Nachteil der pflichtgetreuen Volksgenossen. [...] A u f das Straßenverkehrsrecht angewendet heißt das: Entschiedener Kampf den Verkehrswidrigkeiten und Schluß mit jeder schwächlichen Nachsicht gegenüber den Verkehrssündern!" 22 Die Begründung für den Vertrauensgrundsatz sah Gülde einerseits in der von ihm deutlich vertretenen nationalsozialistischen Ideologie 23 , auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, andererseits aber auch darin, daß durch seine Anwendung mittelbar der Rechtsordnung Geltung verschafft würde. Mit dem Gedanken einer - nationalsozialistischen - Rechtsordnung sei es unvereinbar,
21
LK-Schroeder § 16 Rdnr. 168.
22
JW, S. 2785 ff.; nach Schroeder, L K § 16 Rdnr. 168, soll der Vertrauensgrundsatz von Gülde 1938 „entwickelt" worden sein, siehe aber nur Exner, Frank-FG, S. 582 aus dem Jahr 1930. 23 Anders L K -Schroeder § 16 Rdnr. 168: „zeitbedingte Terminologie", vgl. dazu aber Gülde, JW, S. 2785: „Hieraus folgt zwingend: der nationalsozialistischen Rechtsauffassung im Straßenverkehrsrecht entspricht nur der Grundsatz, daß der Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen darf, daß auch die anderen Verkehrsteilnehmer ihre Pflicht erfüllen. Aufschlußreich dazu auch Gülde, ZVkS, S. 259, im Jahre 1952: „ M i t dem Vertrauen aller auf das rechtmäßige Verhalten jedes einzelnen erhält sie (nunmehr die Rechtsordnung der Bundesrepublik) ihren letzten Sinn und ihre Krönung."
118
F. Der Vertrauensgrundsatz
wolle man von Verkehrsteilnehmern, welche ihre Rechtspflichten gehörig erfüllen, verlangen, sich regelmäßig und grundsätzlich darauf einzustellen, daß die anderen das oft nicht täten. Weil sich nun die einen innerhalb und die anderen außerhalb dieser Rechtsordnung bewegten, verdienten die ersteren Schutz24, werden also durch die Gewährung des Vertrauensgrundsatzes gewissermaßen für ihre Treue zur Rechtsordnung belohnt. Diese Belohnung sollte jedoch nicht allein dem Selbstzweck dienen, vielmehr versprach sich Gülde davon auch eine positive Verstärkung, durch die die Allgemeinheit zu verkehrsrichtigem Verhalten erzogen werde. 25 Krumme 26 , Martin 27 und Kirschbaum 28 begründen die Prämientheorie mit der Idee der Gerechtigkeit und der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme als „goldener Regel" 29 des Straßenverkehrs und in Anlehnung an den Sinnspruch: „Alles, was ihr wollt, daß euch die andern (in der gleichen Verkehrslage) tun sollen, das tuet ihnen auch!" 30 Aus dem Inhalt des dem Vertrauensgrundsatz zugrundeliegenden „Gleichheitsprinzips des § 1 StVO" ergebe sich danach folgendes: „Wer selbst verkehrswidrig fährt, genießt keinen Vertrauensschutz, weil er von anderen nicht mehr Rücksichtnahme verlangen darf, als er selbst übt. Er kann sich nicht darauf verlassen, daß andere sich auf seine Verkehrsverstöße von seiner Seite gefaßt machen und die von ihm heraufbeschworenen Verkehrsgefahren schon abwenden werden; denn auch die anderen sich verkehrsgerecht verhaltenden Verkehrsteilnehmer dürfen sich im Rahmen der Verkehrsregeln ebenso frei bewegen, wie er selbst und können ebenfalls den Schutz ihres Vertrauens auf das vorschriftsgemäße Verhalten der übrigen beanspruchen." 31 So wird der Vertrauensgrundsatz zur Konsequenz des eigenen Wohlverhaltens. Die bereits oben angesprochenen Ausnahmen vom Vertrauensgrundsatz verlieren ihre Relevanz auch nicht unter Zugrundelegung der Prämientheorie, d. h. der Vertrauensgrundsatz soll in den Fällen nicht gelten, in denen keine Basis für ein
24
Gülde, JW, S. 2785 f.
25
Gülde, JW, S. 2785.
26
Krumme, S. 1 ff.
27
Martin, S. 165.
28
Kirschbaum, S. 120.
29
Krumme, S. 1.
30
Krumme, S. 1.
31
Krumme, S. 2; ähnlich Martin, S. 165; Kirschbaum, S. 120 (unter Berufung auf Krumme).
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
119
Vertrauen gegeben ist, wenn also erkennbar mit einem Fehlverhalten des anderen Verkehrsteilnehmers gerechnet werden muß. 32 Insoweit unterscheidet sich der Anwendungsbereich des Vertrauensgrundsatzes, wie er von den Vertretern der Prämientheorie gebraucht wird, nicht von dem bisher bekannten. Auch nach dieser Theorie passen sich die Ausnahmen in den Sondernormcharakter, der diesem Rechtsatz gegeben wurde, ein. Ein Mehr an Kenntnis von gefahrerhöhenden Tatsachen, das die abstrakte Beschreibung der „Sondernorm" überschreitet, läßt deren haftungsausschließende Wirkung entfallen. Fraglich ist aber, wie sich das „Wohlverhalten" desjenigen, der sich auf den Vertrauensgrundsatz berufen will, in das oben entwickelte Modell eingliedern läßt, da nach der Prämientheorie das ordnungsgemäße Verhalten des Verkehrsteilnehmers Voraussetzung dafür ist, daß ihm die Belohnung des Haftungsausschlusses gewährt werden kann. Es stellt sich die Frage, ob jedes verkehrsordnungswidrige Verhalten geeignet ist, die Belohnung zu verwirken. Triebe man es auf die Spitze und wendete man die Prämientheorie konsequent an, hätte ein Kraftfahrer, dessen Verhalten im übrigen im Einklang mit der Straßenverkehrsordnung stünde, das Recht verwirkt, sich auf den Vertrauensgrundsatz zu berufen, wenn er sich mit defekter Kennzeichenbeleuchtung, und ohne ein Warndreieck im Fahrzeug mitzuführen, einer Kreuzung näherte, an der mit einer eventuellen Vorfahrtsverletzung des Querverkehrs zu rechnen wäre. 33 Jedoch ist kein Vertreter dieser Theorie bereit, diese Konsequenz zu ziehen.34 Einhellig - und zu Recht - gehen die Vertreter der „Prämientheorie" davon aus, daß nicht jedes verkehrswidrige Verhalten den Vertrauensgrundsatz entfallen läßt, sondern nur ein solches, das spezifische Bedingungen erfüllt. Es sollen deshalb lediglich solche Verkehrswidrigkeiten in diesem Zusammenhang Berücksichtigung finden, die pflichtwidrig und voraussehbar das verkehrswidrige Verhalten eines Dritten ausgelöst haben. Der Schutz des Vertrauens bliebe also nur in denjenigen Fällen versagt, in denen sich andere auf Verkehrsverstöße von der Seite des Verkehrsteilnehmers einstellen müßten, um die von ihm beschworenen
32
Gülde, JW, S. 2786 ff. und ZVkS, S. 262 ff.; Martin, S. 166 ff.; Krumme, S. 4 ff.; Kirschbaum, S. 113 ff. 33
Beispiel in Anlehnung an Niewenhuis, S. 113.
34
Verkannt von Niewenhuis, S. 113.
120
F. Der Vertrauensgrundsatz
Gefahren abzuwenden.35 Auf den Vertrauensgrundsatz könnte sich danach ein Kraftfahrer nicht berufen, der mit weit überhöhter Geschwindigkeit an eine Kreuzung heranfährt. Der nachrangige Verkehr rechnet dort eventuell noch mit einer leichten Geschwindigkeitsüberschreitung, wird in aller Regel jedoch nicht berücksichtigen, daß sich der Verkehr auf der bevorrechtigten Straße mit so hoher, unerlaubter Geschwindigkeit nähert, daß ein gefahrloses Passieren der Kreuzung in gewohnter Manier nicht mehr möglich ist. Nach der Prämientheorie streitet also für denjenigen der Vertrauensgrundsatz nicht mehr, der sich in einer Art verkehrswidrig verhält, daß sich der andere Verkehrsteilnehmer nicht mehr darauf einstellen kann oder muß, weil auch für ihn der Vertrauensgrundsatz gilt. Weil sich der andere aber nicht auf die Verkehrswidrigkeit einstellen kann oder muß, gerät auch er in die Gefahr, sich selbst verkehrswidrig zu verhalten. Wenn sich z. B. ein die nachrangige Straße befahrender Kraftfahrer wegen einer wesentlichen Geschwindigkeitsüberschreitung des die bevorrechtigte Straße benutzenden Fahrers verschätzt und in die Kreuzung einfahrt, weil er meint, daß der andere noch ausreichend weit entfernt ist, so verstößt er gegen § 8 StVO und verhält sich verkehrswidrig, indem er das Vorfahrtsrecht des Schnellfahrers verletzt. Geht man von der Annahme aus, es handelt sich bei dem Vertrauensgrundsatz um eine nicht-kodifizierte Sondernorm, umschreibt diese Aussage der Prämientheorie aber nichts anderes als eine der normimmanenten Schranken. Der Vertrauensgrundsatz erlaubt in der Regel, d. h., wenn keine weiteren gefahrerhöhenden Faktoren erkennbar sind, sich im Verkehr zu bewegen, als ob sich auch die anderen Verkehrsteilnehmer an die jeweiligen Vorschriften hielten. Er deckt die dem Verkehr innewohnende Grundgefahr des verkehrswidrigen Verhaltens anderer. Die Sondernorm greift aber dann nicht mehr, wenn ein Überhang an Kenntnissen von gefahrerhöhenden Umständen gegenüber der abstrakten Handlungs- und Zustandsbeschreibung vorhanden ist. Das ist bei dem hier in Frage stehenden verkehrswidrigen Verhalten aber stets der Fall. Wenn nicht alle Verkehrswidrigkeiten, sondern nur diejenigen, die geeignet sind, daß andere sich deshalb verkehrswidrig verhalten könnten, die Folge auszulösen vermögen, daß bei deren Vorliegen die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes entfällt, so hat
35
Martin, S. 165; Krumme, S. 2; Kirschbaum S. 120. Daß Kirschbaum einen in diesem Punkt „radikaleren" Ansatz verfolge (Krümpelmann, S. 298 FN 37), läßt sich so nicht halten. Von den anderen Vertretern der „Prämientheorie" weicht er nur insoweit ab, daß er bei kumulativem verkehrswidrigen Verhalten mehrerer sämtlichen Beteiligten den Vertrauensschutz entziehen will.
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
121
der Beurteiler immer ein Mehr an Wissen hinsichtlich gefahrerhöhender Faktoren als der Vertrauensgrundsatz beschreibt. Der Beurteiler kennt nämlich die verkehrswidrige Handlung aus der ein Fehlverhalten anderer resultieren kann. Die Prämientheorie zieht also zur dogmatischen Begründung des Vertrauensgrundsatzes eine seiner immanenten Schranken heran. Da sich aber die Schranken nur durch die Bestimmung des Inhalts definieren lassen - sie markieren nichts anderes als die Grenzen des Anwendungsbereichs -, kann man nür zu dem Ergebnis gelangen, daß die Prämientheorie den Vertrauensgrundsatz aus sich selbst heraus begründet: Weil der Vertrauensgrundsatz u. a. auch bei verkehrswidrigem Verhalten nicht eingreift, belohnt er das Wohlverhalten. Weil er das Wohlverhalten prämiert, findet er seine Legitimation im Prämiengedanken. Der Prämiengedanke entspringt aber dem Vertrauensgrundsatz. Es handelt sich also um einen Zirkelschluß, der nicht geeignet ist, eine Begründung für die Existenz des Vertrauensgrundsatzes zu liefern, formuliert er doch nur dessen Inhalt. 36 Im übrigen ließe sich schlechthin jede Sondernorm, ob kodifiziert oder nicht, mit dem Prämiengedanken begründen. Solange der Handelnde sich in den vorgegebenen Grenzen der Tatbestandsbeschreibung, welcher Sondernorm auch immer, hält, bewegt er sich im Bereich des „erlaubten Risikos", der tolerierten Gefahr. Erst wenn ein Mehr an risikoerhöhenden Faktoren bekannt ist, verläßt er diesen Bereich und setzt sich dem Vorwurf der Fahrlässigkeit aus. Mittelbar prämiert also jede Sondernorm, welchem Bereich sie auch entnommen werden mag, denjenigen, der sich an sie hält. Dabei handelt es sich jedoch um eine zwangsläufige Wirkung und nicht um die Ursache. Man erzielte merkwürdig anmutende Ergebnisse, ginge man von der Annahme aus, sämtliche Sondernormen gründeten sich auf diesen Gedanken, weil sie alle insoweit identische Wirkungen zu entfalten vermögen. So ist es z. B. nur äußerst schwer vorstellbar, daß das Atomgesetz auch aus dem Grunde erlassen wurde, den ihm unterworfenen Kernkraftwerksbetreiber im Eventualfall mit Straffreiheit zu belohnen und dadurch alle anderen Betreiberunternehmen zu mehr Rechtstreue anzuhalten, wenn man sich vor Augen hält, daß dieser Eventualfall stets mit einer Rechtsgutsverletzung bei - im Regelfall dann vollkommen unbeteiligten - Dritten verbunden ist.
36
Vgl. dazu auch die fahrlässigkeitssystematischen Überlegungen bei Krümpelmann, S. 298 ff., der jedoch von der Prämisse ausgeht, daß der Vertrauensgrundsatz als Unterfall des „erlaubten Risikos" auf einer Abwägung von Interessen basiert.
122
F. Der Vertrauensgrundsatz 2. Die Interessentheorie
Überwiegend wird der oben dargestellten Prämientheorie nicht gefolgt und der Vertrauensgrundsatz damit begründet, daß er einen Unterfall des „erlaubten Risikos" darstelle. 37 Der Vertrauensgrundsatz wird aus dem „erlaubten Risiko" abgeleitet und soll auf denselben Prinzipien basieren. Während bisher das Hauptaugenmerk auf der Struktur des „erlaubten Risikos" lag, muß der Blick nunmehr auf die Begründung gelenkt werden, die diesem von der h M gegeben wurde. Das „erlaubte Risiko" soll sich nach herrschender Ansicht inhaltlich darauf gründen, daß sich in unserer hochtechnisierten Gesellschaft in einigen Lebensbereichen die Gefährdung anderer nicht vollständig verbieten lasse, also das allgemeine Gefährdungsverbot, daß sich an Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit orientiere, nicht ohne Einschränkung bleiben könne. Deshalb werde der unvermeidliche Rest der mit gewissen Verrichtungen typischerweise verbundenen Gefahren wegen der sozialen Nützlichkeit dieser Betätigungen von der Rechtsordnung hingenommen.38 Bei der so verstandenen Figur des „erlaubten Risikos" handele es sich um das Ergebnis eines „notstandsähnlichen" Falls der Interessenabwägung. 39 Ob sich diese Aussage in ihrer Allgemeinheit halten läßt, ist vor dem Hintergrund der oben erarbeiteten Ergebnisse äußerst fraglich. Es kommen erhebliche Zweifel auf, ob sämtliche der möglichen Sondernormen ihre Legitimation tatsächlich in einer Interessenabwägung finden können. Das Problem der universellen materiellen Begründung - so es denn eine gibt - der Figur des „erlaubten Risikos" soll hier aber dahingestellt bleiben, da dieses Institut zu facettenreich ist, um es im Rahmen dieser Bearbeitung diskutieren zu können, und es für das hier interessierende Problem lediglich auf den kleinen Ausschnitt des Vertrauensgrundsatzes ankommt. Festzuhalten bleibt, daß, sofern man davon ausgeht, der Vertrauensgrundsatz leite sich aus dem „erlaubten Risiko" dieser Prägung und dieses materiellen Inhalts ab, er selbstverständlich denselben Prinzipien folgen muß. Wenn sich nun der Vertrauensgrundsatz tatsächlich als das Ergebnis einer Abwägung widerstreitender Interessen darstellt und sich darauf gründet, daß ein Interesse das
37 BGHSt 3, S. 49, 51; 7, S. 118, 124 f.; 12, S.81,83; 13, S. 169, 176 f.; 14, S. 201,210; SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 21; Jagusch/Hentschel § 1 StVO Rdnr. 20 ff.; Schmidhäuser, S. 311; Welzel, LB, S. 132; Burgstaller, S. 63. 38
Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 144 f.
39
So ausdrücklich SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 19; Schünemann, JA, S. 575 f.
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
123
andere überwiegt, wirft dies die Frage auf, um welche Interessen es sich handelt, die bei der Abwägung zu berücksichtigen sind. 40 Das durch den Vertrauensgrundsatz eingeschränkte Interesse bestimmt sich dabei sehr einfach. Auf dieser Seite der Abwägung können sich nur die Rechtsgüter Leben, körperliche Integrität und Vermögen der Verkehrsteilnehmer in der Waagschale befinden. Dadurch, daß dem Vertrauensgrundsatz von den Vertretern der Theorie des überwiegenden Interesses die Gestalt und Funktion einer Sondernorm gegeben wurde, schränkt er nach tradierter Terminologie die Sorgfaltspflicht ein, indem er mittelbar die Erlaubnis gibt, in gefährlichen Situationen zu handeln, jedoch stets mit der immanenten Einschränkung, daß kein Mehr an Kenntnissen gefahrerhöhender Umstände vorhanden ist, als die abstrakte Beschreibung im „Tatbestand" ausmacht. Es soll noch einmal betont werden, daß den hier angesprochenen gefährlichen Situationen nicht eine abstrakte Gefahr für alle erdenklichen nicht näher zu bestimmenden Rechtsgüter innewohnt, sondern von ihnen stets eine Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgut ausgeht. Da das Führen eines Fahrzeugs im Straßenverkehr für Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer grundsätzlich gefährlich ist, schränkt der Vertrauensgrundsatz die Bestimmungsnorm „Unterlasse Handlungen, die die gesetzlich umschriebenen Rechtsgüter der §§ 222 und 230 StGB verletzen können!" dahingehend ein, daß er nach der hier vorgestellten Konzeption eine Gefährdungserlaubnis gibt, die den Normbefehl in bestimmten Fallkonstellationen reduziert. Angesichts einer Unfallstatistik, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland allein für das Jahr 1993 die Zahl von 515.540 Toten und Verletzten 41 im Straßenverkehr ausweist, muß das hier überwiegende Interesse schon von ziemlicher Bedeutung für die Allgemeinheit sein, nimmt sie doch eine beachtliche Anzahl von Opfern in Kauf. 42 Fraglich ist, worin ein solches Interesse gesehen werden kann, das es erlaubt, um seiner Erreichung willen Jahr für Jahr die Einwohnerzahl einer mittleren
40
In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß die Darstellungen des Vertrauensgrundsatzes in der zeitgenössischen Literatur, soweit sie diesen auf eine Interessenabwägung zurückführen, dieses Problem nicht behandeln. 41
Davon 9.949 Tote und 505.591 Verletzte; Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1994. 42
Bei einer Gesamtzahl polizeilich erfaßter Unfälle mit Sach- und/oder Personenschäden von 2.345.813 waren 70.731 auf die Nichtbeachtung des Vorfahrtrechts zurückzuführen (Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1994), also auf eine Situation in der nach h M der Vertrauensgrundsatz Geltung beansprucht.
124
F. Der Vertrauensgrundsatz
Großstadt zu töten oder zu verletzen. Mehr als zynisch würde es klingen, sähe man dieses Interesse allein in der Flüssigkeit des Straßenverkehrs, erinnerte der dann darin zum Ausdruck gekommene Gedanke doch zu sehr an den Wahlspruch der Hanse „navigare necesse est, vivere non necesse".43 Dieser Satz mag noch zu Zeiten Bindings als „großer Rechtsgedanke"44 gegolten haben, doch erscheint er heute im Wandel der Anschauungen eher unzeitgemäß. Und doch wird der Vertrauensgrundsatz von einigen Stimmen in der Literatur und der Rechtsprechung auf diese Erwägung gestützt, indem sie dem Bedürfnis nach Schnelligkeit im Verkehr den Vorrang vor der Sicherheit einräumen, da es bei dem heutigen schnellen Massenverkehr den Verkehrsteilnehmern unmöglich zugemutet werden könne, ihre Fahrweise darauf einzustellen, daß die anderen möglicherweise verkehrswidrig fuhren. 45 Selbst wenn man die soeben geäußerten Bedenken hintanzustellen vermag, läßt sich dennoch aus der so gemachten Abwägung der Vertrauensgrundsatz nicht ableiten, denn erstens soll dieser, wie oben erwähnt, auch in den Fällen des § 17 Abs. 4 StVO Anwendung finden 46 und zweitens kommt er auch dem Vorfahrtsberechtigten zugute, dem keine anderen Fahrzeuge folgen. 47 In beiden Fällen kann von einer Beeinträchtigung der Schnelligkeit des Verkehrs nicht gesprochen werden. Die Reihe der möglichen Beispiele läßt sich beliebig verlängern. So findet der Vertrauensgrundsatz auch zur späten Nachtzeit auf den Landstraßen in den dünn besiedelten Gebieten der Oberpfalz und des Bayerischen Waldes Anwendung. In diesen Gegenden findet aber zu dieser Zeit ein nennenswerter Fahrzeugverkehr, dessen Flüssigkeit und Geschwindigkeit in irgendeiner Weise beeinträchtigt werden könnte, nicht mehr statt. In der Regel wird der Vertrauensgrundsatz auch nicht mit der so vollzogenen Abwägung begründet. Vielmehr hat der BGH das vom Reichsgericht 48 zur Begründung des Mißtrauensgrundsatzes formulierte Prinzip, „die Rücksicht auf Wünsche und vermeintliche oder wirkliche Bedürfhisse des Verkehrs [müssen]
43
Schumann, Handlungsunrecht, S. 9.
44
Binding, S. 437.
45
Böhmer, S. 292; Full/Möhl/Rüth
§ 1 StVO Rdnr. 12; BGHSt 3, S. 49, 51.
46
Vgl. dazu OLG Hamburg VRS 32, S. 121, 125: Ein innerorts abgestelltes Fahrzeug ist dann durch die Straßenbeleuchtung „auf ausreichende Entfernung deutlich sichtbar" und braucht nicht mit eigener Lichtquelle beleuchtet zu werden, wenn es für andere Verkehrsteilnehmer, die sich selbst verkehrsgerecht verhalten, rechtzeitig erkennbar ist. 47
Schumann, Handlungsunrecht, S. 9.
48
RGSt 65, S. 135, 139.
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
125
zurücktreten hinter die Sicherheit des Menschenlebens auf der Straße", in zwei seiner grundsätzlichen Entscheidungen49 bestätigt.50 „Das Menschenleben ist unantastbar. Sein Schutz ist die wichtigste Aufgabe der Rechtsgemeinschaft. Er beansprucht daher auch im Straßenverkehr den Vorrang vor dem Wunsch des Einzelnen, besonders rasch vorwärts zu kommen. Der Einwand, daß der moderne Schnellverkehr ohne Blutopfer nicht denkbar sei und daß Verluste an Menschenleben und -gesundheit dort in Kauf zu nehmen seien, wo deren Verhütung eine der Zweckbestimmung von Schnellverkehrsstraßen zuwiderlaufende Drosselung der Geschwindigkeit erforderlich würde, kann nicht anerkannt werden. Das Menschenleben und das Bedürfnis nach rascher Fortbewegung sind, von Notständen abgesehen, keine vergleichbaren Werte." 51 Insbesondere in seiner Entscheidung im 7. Band hat der BGH den Versuch gemacht, den Vertrauensgrundsatz mit dem Primat der Verkehrssicherheit in Einklang zu bringen. Zwar erscheine durch eine Anwendung des Mißtrauensgrundsatzes die Gefahr eines Zusammenstoßes zwischen vorfahrtberechtigtem und wartepflichtigem Fahrzeug herabgemindert, doch träten dafür an anderer Stelle neue Gefahren auf. Müßten in den Großstädten dicht aufeinanderfolgende Fahrzeuge immer wieder auf Anhaltegeschwindigkeit heruntergehen, so führe dies zu einer Verstopfung der Straßen, die durch Beschilderung für einen zügigen Verkehr eigens vorgesehen wären. Solche Verstopfungen wären aber der Sicherheit des Straßenverkehrs abträglich, da durch die ständigen Unterbrechungen des laufenden Verkehres nachfolgende Kraftfahrer zu waghalsigen Überholmanövern provoziert würden. Es würde also eine ernstzunehmende Gefahrenquelle geschaffen. Eine Beeinträchtigung der Verkehrsflüssigkeit könne somit zum Gegenteil des erstrebten Erfolges führen. 52 Auch mit diesem Argument läßt sich der Vertrauensgrundsatz nicht auf das Güterabwägungsprinzip stützen, wie bereits von Schumann nachgewiesen wurde. 53 So dürfte die Aussicht, daß sich bei der Rückkehr zum Mißtrauensgrundsatz die Zahl der Vorfahrtunfälle verringern ließe, wohl um einiges konkreter sein, als die Gefahr durch riskante Überholmanöver der dem Vorfahrtsberechtigten Fahrzeuge. „Entscheidend ist vielmehr, daß diese Gefahr nur bei einer gewis-
49
BGHSt 7, S. 118, 124 f.; 16, S. 145, 149; anders noch BGHSt 3, S. 49,51.
50
Schumann, Handlungsunrecht, S. 10.
51
BGHSt 16, S. 145, 149, siehe dazu auch Sanders, S. 8 ff.
52
BGHSt 7, S. 118, 124 f.
53
Schumann, Handlungsunrecht, S. 10.
126
F. Der Vertrauensgrundsatz
sen Verkehrsdichte auftreten kann, der Vertrauensgrundsatz unbestritten jedoch auch dann gilt, wenn dem Vorfahrtsberechtigten auf weite Entfernung kein anderes Fahrzeug nachfolgt, jenes Risiko also ausgeschlossen ist." 54 3. Die „ erweiterte " Interessentheorie Eine andere Meinung vertritt Kuhlen. Nach Kuhlen basiert der Vertrauensgrundsatz zwar auch auf einer Interessenabwägung, diese soll aber nicht allein auf den Rechtsgüterschutz gestüzt werden, sondern neben diesem Aspekt auch den der Eigenverantwortlichkeit der anderen und der Handlungsfreiheit des Sorgfaltspflichtigen berücksichtigen. Nach Kuhlens Ansicht läßt sich der strafrechtliche Vertrauensgrundsatz und seine legitimen Beschränkungen daraus zwar nicht „zwingend" ableiten, erweist sich aber doch als sehr plausible Wertung, als Kompromiß im Spannungsfeld zwischen liberalistischer Betonung der individuellen Handlungsfreiheit und sozialstaatlichem Solidaritätspostulat. 55 Daß sich der Vertrauensgrundsatz aus seinem Ansatz nicht „zwingend" ableiten lasse, begründet Kuhlen damit, daß der Vertrauensgrundsatz immer dann keine Geltung habe, wenn seine Anwendung mit der Ausgestaltung bestimmter sozialer Rollen inkompatibel sei.56 „Wer die Aufgabe hat, die Tätigkeit anderer zu beaufsichtigen oder zu kontrollieren, wie etwa der ausbildende gegenüber dem erstmals operierenden Arzt oder ein Wirtschaftsprüfer gegenüber einem Unternehmen, darf sich selbstverständlich nicht auf korrektes Verhalten des zu Überwachenden einstellen. Das gleiche gilt offensichtlich für denjenigen, zu dessen Rolle die Obhut für einen anderen gehört, also für einen Bergführer gegenüber dem Geführten." 57 Es werden von Kuhlen aber nur Fälle angeführt, in denen rein überwachende Tätigkeiten ausgeübt werden. In diesen Fällen wird nicht eine fremde Handlung in die eigene Handlung integriert, sondern die Handlung eines anderen überwacht, so daß bereits deshalb der Vertrauensgrundsatz nach der hier vertretenen Ansicht keine Anwendung finden kann. Wandelt man aber die Beispielsfälle so ab, daß dort Arbeitsergebnisse anderer in das Ergebnis der eigenen Arbeit einfließen, wenn z. B. der unerfahrene Chirurg dem erfahrenen Operateur einige Arbeitsschritte abnimmt, oder der Bergtourist
54
Schumann, Handlungsunrecht, S. 10.
55
Kuhlen, S. 133.
56
Kuhlen, S. 133.
51
Kuhlen, S. 133.
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
127
statt des Bergführers Nägel für die Seilschaft in die Steilwand einschlägt, gelangt man zu Lösungen, die innerhalb der Systematik des Vertrauensgrundsatzes zu finden sind. Auch nach dem hier beschriebenen Ansatz Kuhlens wird dem Vertrauensgrundsatz Sondernormcharakter gegeben und schon aus dieser Funktion heraus lassen sich die so abgewandelten Beispielsfälle lösen. Es soll hier nicht noch einmal die Funktion einer Sondernorm aufgezeigt werden, weshalb es mit der Bemerkung, daß sie dann nicht eingreift, wenn ein Mehr an Wissen um gefahrerhöhende Umstände vorhanden ist, als die Norm abstrakt beschreibt, sein Bewenden haben soll. In den von Kuhlen erwähnten Fällen handelt es sich bei dem anderen, dem erstmals operierenden Arzt oder dem im Berg Geführten, um eine Person, die in dem fraglichen Tätigkeitsbereich unerfahren ist. D. h., wegen der dem Beurteiler bekannten Unerfahrenheit des anderen ist bereits ein Mehr an Kenntnis an gefahrerhöhenden Umständen vorhanden, als die Sondernorm zu decken in der Lage ist. Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang die von Kuhlen erwähnte Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers. Die dem Wirtschaftsprüfer von dem zu prüfenden Unternehmen überlassenen Daten und Unterlagen bilden die Grundlage seines Prüfberichts, die Arbeitsergebnisse des Unternehmens fließen also in sein eigenes Arbeitsergebnis ein. Grundsätzlich spräche nichts gegen die Anwendung eines allgemeinen Vertrauensgrundsatzes, sofern dieser existiert, wenn keine weiteren gefahrerhöhenden Umstände ersichtlich sind. Doch kann ein allgemeiner Vertrauensgrundsatz in dem hier angesprochenen Bereich keine Berücksichtigung finden, weil die Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers gesetzlich normiert ist. Sie richtet sich nach den einschlägigen handelsrechtlichen Vorschriften. Diese gesetzlichen Regelungen, z. B. § 323 Abs. 1 HGB, verpflichten den Wirtschaftsprüfer zur sorgfältigen und gewissenhaften Prüfung der ihm von dem Unternehmen überlassenen Daten und Unterlagen. Der Wirtschaftsprüfer wird gewissermaßen vom Gesetz dazu angehalten, dem zu prüfenden Unternehmen zu mißtrauen. Sobald aber ein gesetzlich verankerter „Mißtrauensgrundsatz" eingreift, wird ein eventuell existierender - nicht kodifizierter - allgemeiner Vertrauensgrundsatz außer Kraft gesetzt. Auch die anderen Fälle, von denen Kuhlen meint, sie durchbrächen das System des Vertrauensgrundsatzes, finden ihre Erklärung in der Systematik des Vertrauensgrundsatzes, wie er von der h M verstanden wird. Kuhlen führt dazu zum einen als Beispiel Situationen an, in denen Personen agieren, die nicht in der Lage sind, voll verantwortlich zu handeln, wie etwa kleine Kinder im Straßenverkehr. Deren Schutzinteressen sollen diejenigen, die den Vertrauensgrundsatz stützen, überwiegen und so eine Solidaritätspflicht des
128
F. Der Vertrauensgrundsatz
Handelnden zur Rücksichtnahme begründen. 58 Aber auch hier handelt es sich schlicht um ein Mehr an Wissen als dasjenige, das der Vertrauensgrundsatz beschreibt, noch abzudecken vermag. Ebenso verhält es sich in den von Kuhlen als weiteres Beispiel für die Druchbrechung des Vertrauensgrundsatzes angeführten Situationen, in denen, so Kuhlen, erkennbar sei, daß sich Dritte nicht den Regeln entsprechend verhalten werden. Auch diese sollen nach seiner Ansicht Ausnahmen vom Vertrauensgrundsatz darstellen. Diese - vermeintlichen - Ausnahmen sollen darin begründet sein, daß es einen „fürsorglich-solidarischen" Gedanken gebe, den anderen vor Verletzungen zu schützen, obwohl er nach dem Urteil der Rechtsordnung den ihm zumutbaren Selbstschutz unterlasse. 59 Aber auch in diesem Beispiel findet die Nichtanwendung des Vertrauensgrundsatzes ihre Erklärung wiederum in dem Sondernormcharakter, der ihm von der h M gegeben wird. Auch hier übersteigt das Wissen an gefahrerhöhenden Umständen die abstrakte Sachverhaltsbeschreibung der Sondernorm. Nachdem die von Kuhlen gegen seinen eigenen Ansatz geäußerten Einwände entkräftet wurden, soll die Theorie der „erweiterten Interessenabwägung" näher daraufhin untersucht werden, ob sie eine tragfähige Grundlage für den Vertrauensgrundsatz bilden kann. Basieren soll der Vertrauensgrundsatz darauf, daß er die jedem rechtlich zugebilligte Handlungsfreiheit erweitere. Diese Erweiterung sei schon für sich eine in der liberalen Rechtsordnung positive und nicht gering zu bewertende Folge seiner Anerkennung. Sie habe auch im Regelfall erwünschte soziale Auswirkungen. Würde man nämlich vom Recht zum Mißtrauen gezwungen, würde für viele Handlungsbereiche die Erreichung des jeweiligen als „sozial erwünscht und vom Recht als wertvoll anerkannten Zustandes"60 empfindlich gestört. Diese Empfindlichkeit sei um so größer, je stärker die Effizienz eines Handlungsbereichs davon abhänge, daß man anderen vertrauen könne, besonders ausgeprägt etwa im Bereich des Straßenverkehrs oder des arbeitsteiligem Zusammenwirkens. Hinter dem Vertrauensgrundsatz ständen gewichtige Gründe: das Interesse an einem möglichst großen individuellen Handlungsspielraum und das Interesse an allein durch seine Respektierung ermöglichten sozialen Leistungen.61
58
Kuhlen, S. 134.
59
Kuhlen, S. 134.
60
Kuhlen, S. 133.
61
Kuhlen, S. 133.
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
129
Auch Kuhlen fuhrt den Vertrauensgrundsatz auf eine Interessenabwägung zurück, nur daß er sich, im Unterschied zu der „Interessentheorie", im Rahmen der von ihm so benannten „erweiterten" Interessenabwägung von der Materie des Straßenverkehrsrechts löst und den Versuch macht, dem Satz eine allgemeinere Bedeutung zu geben. Die hier gemachte Güterabwägung steht zwar auf der einen Seite auf einer breiteren Basis, nicht der Schnellverkehr wird mehr eingebracht, sondern der individuelle Handlungsspielraum und die allein durch seine Respektierung ermöglichten sozialen Leistungen. Auf der anderen Seite stehen jedoch auch hier die bereits oben angesprochenen Rechtsgüter, die aufgrund des Vertrauensgrundsatzes Einschränkungen hinnehmen müssen, im Falle der §§ 222, 230 StGB also das Leben und die körperliche Unversehrtheit. Aber auch eine so angestellte Abwägung kann nicht zugunsten der überindividuellen Interessen entschieden werden. Dies soll anhand der §§ 222, 230 StGB verdeutlicht werden. Im Falle der §§ 222, 230 StGB steht den Schutzgütern des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit zum einen der Handlungsspielraum des Einzelnen und zum anderen das Interesse der Allgemeinheit an der zügigen Vornahme gewisser Handlungen, sei es der Kraftfahrzeugverkehr, seien es arbeitsteilige Verrichtungen, gegenüber. Die so ausgestaltete Abwägung kann zwar prima vista nicht so eindeutig und schnell angestellt werden, wie die oben im Rahmen der Interessentheorie vorgenommene, da die eingebrachten Gegeninteressen eine breitere Basis bilden, als es allein das Interesse der Allgemeinheit am Schnellverkehr vermag, im Ergebnis ändert sich jedoch nichts. Ein wichtiger Aspekt ist in die so angestellte Abwägung nicht eingebracht worden. Es handelt sich um den Aspekt, daß der Träger des beeinträchtigten Individualrechtsguts ein Sonderopfer für die Gemeinschaft zu erbringen hat. Um dies zu verdeutlichen soll noch einmal auf die Bestimmungsnorm eingegangen werden. Im Falle des § 222 StGB lautet sie: „Handele nicht so, daß Du das Leben eines anderen gefährdest!" Wenn ein Kraftfahrer auf der vorrangigen Straße mit unverminderter Geschwindigkeit auf eine Kreuzung zu fährt, so ist es ihm nach h M nur deshalb gestattet, weil für ihn der Vertrauensgrundsatz gilt. Der Vertrauensgrundsatz erweitert auf der einen Seite, wenn ihm tatsächlich Sondernormcharakter zugesprochen wird, den Handlungsspielraum des Einzelnen über den vom Strafgesetz zugebilligten Rahmen hinaus, indem ihm nicht, wie in dem Beispielsfall, geboten wird, die Geschwindigkeit zu reduzieren. A u f der anderen Seite verlangt der Vertrauensgrundsatz als Sondernorm, dadurch daß er über die Einschränkung der Sorgfaltspflicht Gefährdungshandlungen erlaubt, von dem Träger des bedrohten Individualrechtsguts ein Sonderopfer. Nur um den Preis
9 Brinkmann
130
F. Der Vertrauensgrundsatz
dieses Sonderopfers kann der Handlungsspielraum der anderen erweitert werden. Dieser Aspekt findet in der Regel keine Erwähnung. 6 2 Wenn dem Vertrauensgrundsatz tatsächlich eine A b w ä g u n g zugrundeliegen sollte, ist es aber unabdingbar, in diese einzubeziehen, daß derjenige, dessen Rechtsgüter daraufhin gefährdet oder gar verletzt werden, ein Sonderopfer für einen anderen oder die Allgemeinheit erbringen muß. Unter Einbeziehung dieser Überlegung muß i m Rahmen der §§ 222, 230 StGB die A b w ä g u n g stets zugunsten der Rechtsgüter Leben und körperliche Integrität getroffen werden, da dem Einzelnen nicht zugemutet werden kann, nur u m der bloßen Erweiterung des Handlungsspielraums anderer, eine - nicht kodifizierte - Einschränkung seiner höchstpersönlichen Rechtsgüter hinzunehmen. Eine Verschiebung der Gewichtung kann nur dann eintreten, wenn andere Rechtsgüter, als die von Kuhlen genannten, in die Abwägung eingebracht und berücksichtigt werden. Jedoch ist nicht ersichtlich, u m welche Rechtsgüter es sich dabei handeln sollte, damit in diesem Fall der Vertrauensgrundsatz für sie stritte, müßten sie dann doch dem Vergleich m i t dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit des Einzelnen standhalten.
62
An dieser Stelle sei angemerkt, daß es sich bei dem Vertrauensgrundsatz, falls dieser tatsächlich ein Unterfall des „erlaubten Risikos" sein sollte, eben nicht um einen „notstandsähnlichen Fall" (so aber SK-Samson Anh. zu § 16 Rdnr. 19) handelt, da die Grundkonstellationen vollkommen unterschiedlich sind. Voraussetzung für die Anwendung des § 34 StGB ist eine Gefahr für ein geschütztes Rechtsgut. Nur um diese Gefahr abzuwenden ist ein Handeln erlaubt, das typischerweise Unrecht ist. Um den Grundgedanken des § 34 StGB heranziehen zu können, muß also die Gefahr bestehen, daß der Handlungsspielraum des Einzelnen eine Einschränkung erfahren würde, entfiele der Vertrauensgrundsatz. Diese Gefahr droht jedoch nicht. Die Definition des Rechtsguts erfolgt u. a. auch durch seine gesetzlichen Schranken. So findet die allgemeine Handlungsfreiheit ihrer Schranken auch in §§ 222, 230 StGB. Das Strafrecht verbietet, so zu handeln, daß die Gefahr besteht, daß andere Menschen um ihr Leben kommen oder in ihrer körperlichen Integrität beeinträchtigt werden können, und beschränkt so den Spielraum der Rechtsunterworfenen. Zugegebenermaßen ist dies ein äußerst enger Spielraum, aber der durch Gesetz so und nicht anders bestimmte. Der Mißtrauensgrundsatz beschreibt also nur eine durch das Strafgesetz bezeichnete Schranke, stellt aber keinen selbständigen Angriff auf das Rechtsgut der Handlungsfreiheit oder irgendein anderes Rechtsgut dar. Der von Kuhlen mit einer vollständig anderen Intention gebildete Satz erweist sich als zutreffend: Der einzelne wird „vom Recht zum Mißtrauen gezwungen". Wenn der Vertrauensgrundsatz, immer vorausgesetzt, es handelt sich dabei tatsächlich um eine Sondernorm, zur Anwendung kommt, dient er somit nicht zur Verteidigung, sondern zur Ausdehnung des gesetzlich zugestandenen Spielraums des Einzelnen und der Gesellschaft. Vgl. Kuhlen, S. 133.
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
131
Zusammenfassend sei festgehalten, daß die Begründung, dem Vertrauensgrundsatz liege eine Abwägung widerstreitender Interessen zugrunde, sich als nicht haltbar erwiesen hat. Eine Anwendung eines Vertrauensgrundsatzes mit dieser Herleitung scheitert bereits im Rahmen der §§ 222, 230 StGB. Zumindest für diese Delikte würde der Mißtrauensgrundsatz weiterhin Geltung beanspruchen. Die Annahme, dem Institut des Vertrauensgrundsatzes liege eine engere oder weitere Interessenabwägung zugrunde, erlaubt es also nicht, eine Allgemeingültigkeit des Vertrauensgrundsatzes für sämtliche Gebiete und Delikte des Kernund Nebenstrafrechts herzuleiten. 4. Die Lehre von den Verantwortungsbereichen Einen vollständig anderen Weg beschreiten die Vertreter der Lehre von den Verantwortungsbereichen. Ohne eine Interessenabwägung anzustellen, führen sie den Vertrauensgrundsatz auf das Prinzip der Selbstverantwortung zurück. Die Konsequenz dieses Prinzips liege darin, daß der Verantwortungsbereich jedes einzelnen sich grundsätzlich auf sein eigenes Handeln beschränke und nur unter besonderen Umständen auch dasjenige anderer umfasse. Jeder habe darauf zu achten, daß er selbst geschützte Rechtsgüter nicht verletze, nicht aber darauf, daß andere das nicht täten, weil dies allein unter deren Zuständigkeit falle. 63 Erste Ansätze zu dieser Lehre von den Verantwortungsbereichen findet man bereits bei Eb. Schmidt, der die Haftung von arbeitsteilig tätigen Medizinalpersonen untersuchte und dabei den Begriff „Abwendungsbereich" prägte, zur Begründung einer Abgrenzung dieser „Abwendungsbereiche" verschiedener Personen voneinander allerdings nur allgemeine Gerechtigkeitsgesichtspunkte heranzog. 64 Die heute vertretenene Variante dieser Lehre basiert dagegen auf dem Prinzip der Selbstverantwortung. Das Prinzip der Selbstverantwortung leitet sich aus der Grundentscheidung unserer Rechtsordnung ab, von der Freiheit als Voraussetzung des Handelns auszugehen. Aus dieser Grundentscheidung ergibt sich nicht nur die Möglichkeit, dem einzelnen, sofern nicht Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründe eingreifen, aus seinem rechtswidrigen Handeln einen Vorwurf zu machen. „Vielmehr folgt daraus zugleich auch eine grundsätzliche Abgrenzung des dem einzelnen von Rechts wegen zugewiesenen Verantwortungsbereichs, die vor allem -
9*
63
Lenckner, Technische Normen, S. 506; Schumann, Handlungsunrecht, S. 6.
64
Eb. Schmidt, S. 188 ff, insb. S. 191.
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F. Der Vertrauensgrundsatz
aber nicht nur - dann von Bedeutung ist, wenn der Kausalverlauf zwischen einer Handlung und einem tatbestandsmäßigen Erfolg durch andere, sei es durch den Verletzten oder Dritte vermittelt wird." 65 Da Jedermann prinzipiell als verantwortlicher Rechtsgenosse" zu behandeln sei, der selbst für die Erfüllung seiner Pflichten anderen gegenüber wie auch für die Wahrung seiner eigenen Belange einzustehen habe, seien auch der dem einzelnen zugewiesene Verantwortungsbereich und die ihm zugewiesenen Verhaltenspflichten in der Weise zu begrenzen, daß man sich grundsätzlich nicht darauf einstellen müsse, andere könnten sich Dritten oder sich selbst gegenüber sorgfaltswidrig verhalten. Anders zu entscheiden sei nicht nur widersprüchlich, sondern würde auch die Handlungsfreiheit nahezu aufheben. Denn mit pflichtwidrigem Handeln anderer und mit „Verschulden gegen sich selbst" sei nicht nur tatsächlich in großem Umfang zu rechnen, sondern es müsse, wenn man von der Willensfreiheit des Menschen ausgehe, auch als jederzeit möglich und vorhersehbar gelten, da freies menschliches Handeln sich anders als Naturkausalität letztlich exakter Berechenbarkeit entziehe. Die Entscheidung zugunsten des Indeterminismus mache es daher notwendig, bei der Frage nach der Pflicht zur Rücksichtnahme auf mögliches Fehlverhalten anderer von der mit der Willensfreiheit zugleich postulierten Verantwortlichkeit dieser anderen auszugehen.66 Wenn dieser Ansatz auch, im Unterschied zu den bisher erörterten, von jeglicher Interessenabwägung losgelöst ist, so vermag er es dennoch nicht, einen allgemeinen Vertrauensgrundsatz, wie er oben formuliert wurde, lückenlos zu begründen. In diesem Zusammenhang sei nur am Rande vermerkt, daß diese Lehre ihre hier nicht zu bestreitenden Stärken im Rahmen der sog. „Regreßverbotsfalle" entwickelt, also in Fällen, in denen sich die Frage stellt, „unter welchen Voraussetzungen es prinzipiell berechtigt ist, jemandem ein Verhalten zum Vorwurf zu machen, an das die von einer anderen Person begangene fahrlässige Rechtsgutsverletzung angeknüpft hat." 67 Dabei handelt es sich um Fallkonstellationen, in denen der Hintermann das Geschehen nicht mehr in der Hand hält, keinen direkten Einfluß mehr auf das Ergebnis hat, in das seine vorangegangene Leistung auf die eine oder andere Art und Weise eingeflossen ist. Hier die Trennung zwischen den Sphären der nacheinander die Kausalkette modifizierenden Personen aufgrund des Selbstverantwortungsprinzips zu machen, ist zutreffend,
65
Schumann, Handlungsunrecht, S. 1; vgl. auch Stratenwerth,
66
Schumann, Handlungsunrecht, S. 4 f.
67
Eb. Schmidt FS, S. 392 f.
Stratenwerth, Eb. Schmidt FS, S. 391; Welp, S. 314 f.; siehe auch den Beispielsfall bei Lenckner, Technische Normen, S. 505 f.
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
133
denn „der Mensch ist dem Recht verantwortlich [...] für das, was er thut, und nicht für das, was ein anderer thut." 68 Bei den hier zur Debatte stehenden Fällen des Vertrauensgrundsatzes liegt aber eine andere Fallkonstellation vor. In diesen Fällen geht es darum, daß unter Hinzuziehung und eventuell auch Verwendung der (Vor-) Leistung eines Dritten eine eigene erbracht wird. 69 Dies sei am traditionellen Anwendungsbereich des Vertrauensgrundsatzes, dem Straßenverkehr, erläutert: Die Teilnahme am Kraftfahrzeugverkehr ist, damit sie reibungslos, d. h. unfallfrei, abläuft, abhängig von zahlreichen Imponderabilien, so u. a. auch von dem ordnungsgemäßen Verhalten anderer. Passiert der Kraftfahrer eine für ihn bevorrechtigte Kreuzung, so ist seine eigene Leistung die Ortsveränderung von Punkt A zu Punkt B. Da diese Leistung mit der von der Rechtsordnung geforderten zusätzlichen Erschwernis verbunden ist, bei der Leistungserbringung keine Rechtsgüter zu verletzen, ist ihre ordnungsgemäße Erbringung davon abhängig, daß sich die Fahrzeugführer, die sich auf der nachrangigen Straße der Kreuzung nähern, rechtstreu verhalten, also die Vorfahrt des Querverkehrs achten. Würden sie dies nicht tun, käme es zu einem Unfall. Die ordnungsgemäße Erbringung der Leistung des Kraftfahrers in dem Beispielsfall ist also davon abhängig, daß auch der Kraftfahrer auf der nachrangigen Straße seine Leistung ordnungsgemäß erbringt. Der vorfahrtberechtigte Kraftfahrer übernimmt folglich die Leistung des Fahrers auf der nachrangigen Straße, die, wie hier, auch in einem Unterlassen bestehen kann. Wenn aber die Leistung eines anderen übernommen und in das Ergebnis der eigenen Leistung integriert wird, so wird die fremde Leistung zu einem Teil der eigenen. Das fremde Handeln geht also in dem eigenen Handeln auf. Nach den oben skizzierten Grundsätzen der Lehre von den Verantwortungsbereichen, liegt das eigene Handeln stets im eigenen Verantwortungsbereich. Bereits an diesem Punkt der Überlegung zeigen sich die Schwierigkeiten, die die hier erörterte Lehre mit der Begründung des Vertrauensgrundsatzes hat. Nach diesem darf man grundsätzlich darauf vertrauen, daß der andere sich ordnungsgemäß verhält, der Handelnde wird also prinzipiell von der Verantwortung für die Handlungen Dritter freigestellt. Durch die Zuweisung des Verantwortungsbereichs für die
68 69
Mayer, S. 104.
Der Unterschied zwischen den beiden Fallkonstellationen tritt bei deren Behandlung in der Literatur nicht immer mit der gebotenen Deutlichkeit hervor. Vgl. dazu Wehrle, S. 57 f f , der auch diese Konstellationen unter das Stichwort „Regreßverbot" faßt, Stratenwerth, LB, S. 306 f f , der seine Beispielsfälle ausschließlich dem Bereich des „Regreßverbots" entnimmt, und Jakobs, LB, S. 209 ff.
134
F. Der Vertrauensgrundsatz
eigene Handlung wird dem Handelnden aber die Verantwortung für die Handlung des Dritten aufgebürdet, wenn diese in sein eigenes Handeln integriert wird, weil sie dann untrennbarer Bestandteil des eigenen Handelns ist. Entgegen den soeben geäußerten Bedenken läßt sich die Lehre von den Verantwortungsbereichen im Straßenverkehr gleichwohl friktionslos anwenden. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, daß es sich bei dem Straßenverkehr um einen vollständig durchnormierten Bereich handelt, in dem jedem Verkehrsteilnehmer sein Verhalten durch die verschiedensten Regelungen vorgegeben ist. Auf diesem Gebiet ist also jedem einzelnen durch die Verkehrsregeln ein eigener Verantwortungsbereich zugewiesen.70 Diese Lösung hat ihren Ausgangspunkt jedoch nicht im reinen Selbstverantwortungsprinzip, sondern im Regelwerk der StVO und kann somit nur auf ähnlich streng reglementierte und durchnormierte Rechtsgebiete übertragen werden. 71 Daß das Selbstverantwortungsprinzip die Grundlage für einen allgemeinen Vertrauensgrundsatz nicht zu bilden vermag, zeigt die nähere Betrachtung einer anderen, typischen Konstellation: Problematisch wird nämlich die Begründung des Vertrauensgrundsatzes durch das Selbstverantwortungsprinzip bei der Frage, warum der Verwender einer fremden Leistung darauf soll vertrauen dürfen, daß der Erbringer der Leistung diese ordnungsgemäß erbracht hat. Dieses Problem taucht im Rahmen der strafrechtlichen Produkthaftung auf. Es handelt sich dabei auch um die Ausgangssituation bei der lebensmittelrechtlichen Leistungskette, in der der Groß- oder Einzelhändler ein von seinem Vordermann hergestelltes oder vertriebenes Lebensmittel weiter absetzen will oder in der ein Lebensmittelhersteller Zutaten eines anderen Herstellers verwendet. Ebensogut kann, um einen anderen Bereich der strafrechtlichen Produkthaftung anzusprechen, auch das Beispiel des Kraftfahrzeugherstellers bemüht werden, der von einem Lieferanten Teile für die Bremsanlage der von ihm gefertigten Kraftfahrzeuge bezieht. Nimmt man die Lehre von den Verantwortungsbereichen wörtlich, so dürfte der Vertrauensgrundsatz in keinem dieser Beispiele Anwendung finden. Das fremde Handeln fließt in jedem dieser Fälle in das eigene Handeln ein und wird zu einem Teil davon. Das Ergebnis der eigenen Handlung ist dann nicht mehr frei von
70
Diese Zuweisung der Verantwortungsbereiche wird auch nicht durch § 1 Abs. 2 StVO wieder aufgehoben. Diese Norm ist ein subsidiärer Auffangtatbestand für den Fall, daß die Spezialvorschriften der §§ 2 ff. StVO keine Regelung enthalten. (Mühlhaus/Janiszewski § 1 StVO Rdnr. 3 m.w.N.) 71
Daraus zieht P. Frisch, S. 100 f f , die Konsequenz, daß der Vertrauensgrundsatz nur auf ähnlich durchnormierte Bereiche Anwendung finden kann.
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
135
Fehlern, wenn die zugelieferte Ware nicht mängelfrei und davon die eigene Leistung, bestünde sie in der Herstellung einer anderen Ware oder in dem Weiterverkauf, betroffen wäre. Nach der Grundaussage der Lehre von den Verantwortungsbereichen, daß ein jeder für sein eigenes Handeln selbst verantwortlich sei, liegt die strafrechtliche Verantwortung dann bei dem Verwender der fehlerhaften Leistung. 72 Die Verantwortung erstreckt sich auch nicht auf den Erbringer der Leistung, da dieser nach der Lehre von den Verantwortungsbereichen von der Haftung für die Fehler des Verwenders freigestellt wird. Dennoch soll der Vertrauensgrundsatz nach der Lehre von den Verantwortungsbereichen auch in diesen Fällen gelten. Bei der Übernahme fremder Leistungen in das eigene Handeln komme die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes dann in Betracht, wenn den Hintermann eine über das Normale hinausgehende Pflicht treffe. Das soll immer dann der Fall sein, wenn seine Pflicht nämlich gerade darin besteht, den Vordermann von Sorgfaltsmaßnahmen, die an sich in dessen Zuständigkeit fallen, zu entlasten und auf diese Weise sein Verantwortungsbereich in den des Vordermannes hineinreicht. 73 Diese Figur der „Verantwortungserstrekkung" des Hintermannes soll sich ebenfalls aus dem Selbstverantwortungsprinzip ableiten. Die Pflicht, den Vordermann zu entlasten, könne sich dabei zum einen aus der Übernahme einer entsprechenden Aufgabe, zum anderen aus Verkehrssicherungspflichten ergeben. Jedoch verbleibe beim Vordermann die Pflicht denjenigen, dessen Leistung er übernehmen will, sorgfältig auszusuchen; unter Umständen müsse er die Arbeit oder das Arbeitsergebnis des anderen auch in gewissem Umfang überwachen bzw. kontrollieren. 74 Schwierigkeiten ergeben sich, wenn man versucht, diese Verantwortungserstreckung mit der Grundaussage des Vertrauensgrundsatzes in Einklang zu bringen. Nach dem Vertrauensgrundsatz kann und darf sich der einzelne darauf verlassen, daß der andere sorgfältig handeln werde. Das ist nach der Lehre von den Verantwortungsbereichen dem Vordermann aber verwehrt. Wenn ihm weiterhin Prüfungs- und Kontrollpflichten obliegen, verbleibt die Sorgfaltspflicht ebenfalls bei diesem. Jedoch wird auch die Konstruktion der „Verantwortungserstreckung" in den zum Verantwortungsprinzip gebildeten Beispielen nicht konsequent beibehalten, gelangt man doch auch dort von Fall zu Fall zu anderen Ergebnissen. So soll es
72
So auch Schumann, Handlungsunrecht, S. 24.
73
Schumann, Handlungsunrecht, S. 22.
74
Schumann, Handlungsunrecht, S. 23 f.; Stratenwerth,
Eb. Schmidt FS, S. 394 f.
F. Der Vertrauensgrundsatz
136
in den Pflichtenkreis des Arztes, der sich bei seinen Tätigkeiten der Hilfe anderer Personen bedient, gehören, gegen die auf Qualifikationsmängeln der Mitarbeiter beruhenden Gefahren ausreichende Vorsorge zu treffen. Sollte die Qualifikation der Hilfsperson zweifelhaft sein, so dürfe der Arzt die Verrichtung dem Pflegepersonal nicht überlassen. Anders verhalte es sich dagegen, wenn er einen approbierten Arzt, insbesondere einen Facharzt, hinzuziehe.75 Das Selbstverantwortungsprinzip entbinde einen Journalisten nicht von der Pflicht, die Information eines Zuträgers zu überprüfen, schließlich sei ihm dadurch nicht seine Sorgfaltspflicht abgenommen. Dies gelte jedoch nicht, wenn der Journalist die Meldung einer Nachrichtenagentur übernehme. 76 Fraglich ist, wo der prinzipielle Unterschied zwischen Arzt und Krankenschwester, zwischen Informanten und Nachrichtenagentur liegen soll. Gesucht wird ein Kriterium, das in dem einen Fall ein Vertrauen rechtfertigt, in dem anderen aber nicht. Ein solches Unterscheidungskriterium kann die Lehre von den Verantwortungsbereichen jedoch nicht anbieten. So soll z. B. im Falle des Journalisten der Unterschied zum Informanten darin liegen, daß die Agentur ihre Dienste gerade zur Lieferung publikationsfähiger Nachrichten anbiete.77 Dieses Argument kann zur Bestimmung des Kriteriums aber nicht herangezogen werden. Denkt man den Fall, der Informant böte seine Zuträgerdienste unter der Firma einer vollkommen unbekannten Agentur an, so erfüllte er bereits die genannte Voraussetzung. Sonstige Merkmale, die dazu dienen könnten, die Fälle der Verantwortungserstreckung von den anderen Fällen zu unterscheiden, sind aber nicht ersichtlich. Solange die Voraussetzungen einer „Verantwortungserstrekkung" im Unklaren bleiben, kann dieses Instrument nicht bemüht werden, um den Vertrauensgrundsatz auf der Grundlage der Lehre von den Verantwortungsbereichen zu rechtfertigen. Die Lösung für die Beispielsfälle wird auch vielmehr darin zu finden sein, daß eingeführte Nachrichtenagenturen als zuverlässig bekannt sind und es auch bekannt ist, daß diese ihre Nachrichten überprüfen, bevor sie sie absetzen, einem unbekannten Informanten oder einer unbekannten Agentur aber in der Regel nach der Lebenserfahrung nicht zu trauen ist. Die Arbeit eines anerkannten Facharztes mit Berufserfahrung wird wahrscheinlich ex ante als zuverlässiger zu beurteilen sein als die einer neu eingestellten, jungen Krankenschwester. Eine konsequente
75
Stratenwerth,
76
Schumann, Handlungsunrecht, S. 22.
77
Schumann, Handlungsunrecht, S. 22.
Eb. Schmidt FS, S. 393 f.
II. Die Begründung des Vertrauensgrundsatzes
137
Anwendung des Vertrauensgrundsatzes - auch unter der Prämisse der „Verantwortungserstreckung" - würde aber den Informanten wie die Agentur, den Arzt wie die Krankenschwester gleich behandeln, sofern keine Anhaltspunkte für eine „unsorgfältige" Handlung ersichtlich sind. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß das Prinzip der Selbstverantwortung und die auf diesem basierende Lehre von den Verantwortungsbereichen zwar imstande sind, das sogenannte „Regreßverbot" zu erklären, aber eine mögliche Anwendung des Vertrauensgrundsatzes in der lebensmittelrechtlichen Kette, wie auch in den anderen Fällen der Übernahme fremder Leistungen, in den verschiedenen Bereichen der strafrechtlichen Produkthaftung nicht zu begründen vermögen.
G. Der Vertrauensgrundsatz als Erfahrungsregel Keine der zur Begründung des Vertrauensgrundsatzes bisher aufgestellten Theorien vermochte diesem eine Basis zu geben, von der er sich ableiten ließe. Der Grund fur das Scheitern sämtlicher Erklärungsversuche ist jedoch nicht darin zu finden, daß sich dieses „Institut" nicht begründen ließe, sondern darin, daß der Vertrauensgrundsatz in einer auf ihn nicht zutreffenden systematischen Kategorie lokalisiert wurde. Es wurde ihm zu Unrecht die Gestalt einer nicht-kodifizierten Sondernorm gegeben. Dabei ist höchst zweifelhaft, ob es neben den oben erwähnten behördlichen Erlaubnissen überhaupt andere nicht-kodifizierte Sondernormen geben kann, da diese, um ihre Wirkung, die sie anscheinend in irgendeiner Weise entfalten, zu rechtfertigen, einer rechtlich haltbaren Begründung bedürften. Eine allgemeine oder auch speziellere theoretische Grundlage fur die breite Palette der angeblichen nicht-kodifizierten Sondernormen von den ärztlichen Kunstregeln bis zu den DIN-Normen ist jedoch nicht ersichtlich. Einzig die behördlichen Erlaubnisse leiten sich aus Gesetzesrecht ab, insofern bilden sie eine Ausnahme. Wenn dieser bunte Fächer von angeblichen Regulatorien aber tatsächlich den Charakter von Sondernormen haben sollte, so ist eine Begründung dafür unabdingbar, weiten sie doch den Handlungsspielraum des einzelnen über das abstrakte Normgebot aus, aber das nur um den Preis, daß Individualrechtsgüter Dritter dadurch stärker gefährdet werden, als die Strafnorm grundsätzlich gestattet. Bei diesen Überlegungen soll es jedoch sein Bewenden haben, eine Vertiefung dieses Problemkreises würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Festzuhalten ist nur, daß dem Vertrauensgrundsatz von der allgemeinen Ansicht eine Gestalt und eine Funktion gegeben wurden, die nicht zu begründen sind. Nun liegt aber die Situation vor, daß der Vertrauensgrundsatz faktisch Anwendung findet. Verfehlt wäre es, aus seinem bloßen Vorhandensein eine normative Kraft des Faktischen abzuleiten. Eine schlüssige Begründung findet der Vertrauensgrundsatz vielmehr erst dann, wenn man ihm den Charakter einer Sondernorm abspricht und davon ausgeht, daß es sich um eine schlichte Erfahrungsregel handelt. So basiert nach der hier vertretenen Ansicht der Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr allein darauf, daß sich der Autofahrer in der Bundesrepublik Deutschland weitaus disziplinierter verhält als sein Pendant in vielen anderen Ländern, in denen - dann selbstverständlich - der Vertrauensgrundsatz nicht gilt und auch nicht gelten kann.
I. Erfahrungsregeln
139
Zur Verdeutlichung dafür sei ein Reiseführer zitiert: „Vorfahrt: Vergessen Sie die sonst allgemeine Regel 'rechts vor links'. An Kreuzungen gilt folgende Hackordnung: zuerst die heranpreschenden Colectivos, die dröhnenden, gewaltig rußenden Busse, dann die Taxen, alte Ami-Kreuzer vor Neuwagen, Furchtlose vor Ängstlichen, Männer vor Frauen. [...] Verlierer in diesem Kreuzungsnahkampf sind, wie überall im südamerikanischen Straßenverkehr, die völlig rechtlosen Fußgänger, die von Autofahrern wie Freiwild gejagt werden." 1 Man kann sicher sein, daß unter solchen faktischen Verhältnissen, niemand den Gedanken eines Vertrauensgrundsatzes im Straßenverkehr vertreten, geschweige denn den Versuch unternehmen würde, einen solchen zu begründen. I. Erfahrungsregeln Da es sich bei dem Vertrauensgrundsatz um die Anwendung von Erfahrungsregeln handelt, sollen diese einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Um es noch einmal - kurz - anzusprechen: Die Vorhersehbarkeit oder Erkennbarkeit eines Gefahrsachverhalts als zentraler Punkt des Fahrlässigkeitstatbestandes läßt sich als Verknüpfung von ontologischer und nomologischer Basis darstellen. Bestandteil des nomologischen Wissens sind dabei nicht nur naturgesetzliche, sondern auch auch die Regeln, die die Erfahrung lehrt. 2 An sie kann nicht der strenge Maßstab eines Naturgesetzes, das bis zu seiner Widerlegung unbedingte Geltung beansprucht, angelegt werden. Es handelt sich vielmehr um Aussagen, die durch Erfahrung gewonnen werden und einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Ereignisses beim Vorliegen bestimmter faktischer Voraussetzungen erwarten lassen. Die Erfahrungsregel, die im Rahmen des Fahrlässigkeitsdelikts zur Erstellung der Gefahrprognose herangezogen wird, unterscheidet sich dabei von dem „allgemeinen Erfahrungssatz", wie er aus Rechtsprechung und Literatur zum Strafprozeß bekannt ist, in dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Ereignisses. Während die strafprozessualen allgemeinen Erfahrungssätze, die
1
GEO Special Nr. 3 - Argentinien -, Juni 1994, S. 124. Anzumerken ist hier, daß auch Naturgesetze unter den Begriff der Erfahrungsregel fallen, da sie ebenfalls aus der Erfahrung heraus gewonnen werden. Jedoch ist die Regelaussage bei einem Naturgesetz wesentlich konkreter: Das Naturgesetz sagt nicht aus, daß ein Ereignis mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten werde, sondern, daß dessen Eintreten sicher sei. Deshalb soll aus Darstellungsgründen hier und im folgenden an der Unterscheidung zwischen Naturgesetz und Erfahrungsregel festgehalten werden. 2
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G. Der Vertrauensgrundsatz als Erfahrungsregel
herangezogen werden können, um einen Schuldspruch zu begründen, ähnlich den Naturgesetzen im praktischen Anwendungsbereich mit einer der Sicherheit gleichzuachtenden Wahrscheinlichkeit gelten3, kann der Grad der Wahrscheinlichkeit, mit dem die Erfahrungsregelaussage eintrifft, wesentlich geringer sein.4 Eine weitere Eingrenzung oder gar endgültige Definition der Erfahrungsregel ist nicht möglich. Allenfalls wird man sagen können, daß eine Erfahrungsregel eine Erfahrung ausdrückt, bei der die künftige Wiederholung der Erfahrungstatsache unter gleichen Umständen in hohem Grade wahrscheinlich ist.5 Der inhaltliche Unterschied zwischen Erfahrungssatz und -regel begründet sich aus den verschiedenen Funktionen, die ihnen zugedacht sind. Während der allgemeine Erfahrungssatz im Strafprozeß herangezogen wird, um im Rahmen der Beweiswürdigung zur Überzeugungsbildung des Gerichtes beizutragen, und somit jeder Zweifel zugunsten des Angeklagten zu Buche schlagen muß, geht es im Rahmen der Fahrlässigkeit darum, aus einer Sicht ex ante das Normverbot zu konkretisieren, das untersagt, bestimmte für ein bestimmtes Rechtsgut gefährliche Handlungen vorzunehmen. Eine Beschränkung der nomologischen Prognosebasis auf allgemeine Erfahrungssätze hieße den Anwendungsbereich der Fahrlässigkeit drastisch zu verkürzen. 1. Die Anwendungsbereiche von Erfahrungsregeln Für die Fahrlässigkeit relevante Erfahrungsregeln lassen sich in drei Bereichen finden: Der erste Bereich in denen sie Anwendung finden können, ist dabei allerdings von allenfalls theoretischem Interesse. Sie können nämlich an der Stelle von Naturgesetzen stehen, wenn das vermutete Kausalgesetz nicht ausreichend erforscht ist und die „Wenn-Dann-Verknüpfung" nur mit einem gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit zu treffen ist. Als Beispiel dafür soll der „Contergan-Fall" abgewandelt werden: Wenn bei Verkauf des Präparates zwar noch nicht die Wirkung des Inhaltsstoffes mit letzter Sicherheit bekannt war, aber eine auffällige Häufung der Zahl geschädigter Neugeborener mit einer Contergan-Einnahme der Mütter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden konnte, so hätte ein gewisser Grad von Wahrscheinlichkeit für eine ursächliche Beziehung
3
Statt vieler: LR-Gollwitzer § 261 Rdnr. 45; KK-Hürxthal § 261 Rdnr. 48. Siehe zum Beweisrecht Schweling, S. 447 ff., der neun Stufen vom ausnahmslos geltenden Erfahrungssatz bis zur weniger sicheren Erfahrung unterscheidet. 5 In Anlehnung an Schweling, S. 448. 4
I. Erfahrungsregeln
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zwischen der Einnahme von Contergan und den Mißbildungen der Kinder gesprochen. Hier hätte dann aufgrund der Erfahrungsregel „Es ist wahrscheinlich, daß Contergan Kinder im Mutterleib schädigt" das Gefahrurteil begründet werden können. Dieses hätte jedoch isoliert stehen bleiben müssen, da andere tatbestandliche Voraussetzungen, insbesondere die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg, zu verneinen gewesen wären. 6 Erfahrungsregeln können aber auch an der Stelle von Naturgesetzen stehen, wenn zwar das entsprechende Kausalgesetz bekannt ist, die Tatsachenbasis des Beurteilers aber nicht ausreicht, ihm das Eintreffen einer naturgesetzlichen Verknüpfung mit Sicherheit zu prognostizieren, sondern wegen des Defizits in dem zur Beurteilung zur Verfügung stehenden Tatsachenmaterial nur mit einem gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit. Ferner findet man Erfahrungsregeln in Bereichen, die sich einer naturgesetzlichen Kausalität entziehen. Wie Menschen oder Tiere in bestimmten Situationen reagieren, ist nie mit Sicherheit vorauszusagen. Aber unter Heranziehung aus der Erfahrung gewonnener Regeln vermag man das Verhalten auch hier mit einem gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren. 2. Die Wirkungsweise
von Erfahrungsregeln
Die Erfahrungsregel ist stets rechtlich neutral, weil sie im Tatsächlichen angesiedelt ist. Sie besagt letztendlich nichts anderes, als daß beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen ein Ereignis eintreten kann. Erfahrungsregeln wären etwa, daß ein Hund wahrscheinlich zuschnappen wird, tritt man ihm auf den Schwanz, oder daß ein stadtbekannter Wüterich in der Regel auf den Provokateur einschlägt, reizt man ihn mit Verbalinjurien. Erfahrungsregeln wirken auf den Erkenntnisprozeß ein, an dessen Ende das Gefahrurteil steht. Erfahrungsregeln können dabei zwei verschiedene Wirkungen haben. Man kann sie einerseits heranziehen, um eine Gefahrprognose zu begründen, z. B. die Regel, daß es bekannt ist, daß sich aus Schußwaffen ein Schuß lösen kann, wenn man mit ihnen herumspielt. Erfahrungsregeln können andererseits aber auch die Erstellung einer Gefahrprognose hindern, so z. B. der Satz, daß kugelsicheres Glas üblicherweise das Geschoß einer Kleinkaliberpistole aufhält. Der Einfachheit halber sollen dafür in der Darstellung die Begriffe „risikoerhöhende" und „risikovermindernde" Erfahrungsregel verwandt werden.
6
Siehe dazu Armin Kaufmann, JZ, S. 574.
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G. Der Vertrauensgrundsatz als Erfahrungsregel
Bemerkenswert ist, daß in der Literatur zum Fahrlässigkeitsdelikt ausschließlich die erstgenannten, „risikoerhöhenden" Erfahrungsregeln Erwähnung finden. 7 Nun ist es zwar eine blanke Selbstverständlichkeit, daß bei der Gefahrprognose auch auf risikovermindernde Regeln zurückgegriffen werden muß, dennoch soll deren Zusammenspiel in einem Beispielsfall näher verdeutlicht werden: Schüler S will seiner Schule einen Streich spielen und entzündet in einem mit Rauchmelder und Sprinkleranlage ausgestatteten Schulraum auf einer Metallunterlage ein kleines Feuer. Er geht davon aus, daß der Rauchmelder Alarm auslöst und alle Schüler die Schule verlassen müssen. Tatsächlich versagen sowohl der Rauchmelder als auch die Sprinkleranlage. Durch Funkenflug fangen die Möbel in dem Raum Feuer, das schnell um sich greift. Die Schule brennt ab. Welcher Ansicht zur Systematik des Fahrlässigkeitsdelikts man auch folgen mag, berücksichtigt man nur Naturgesetze und risikoerhöhende Erfahrungsregeln, läßt sich bei einer ex ante - Betrachtung des Handlungsprojekts des S ohne weiteres das Gefahrurteil auf der Basis „Entzünden eines offenen Feuers im geschlossenen Raum" fällen. Zu beachten ist, daß dieser Gefahrprognose kein Naturgesetz zugrundeliegen kann. Ob man auf den einsichtigen Beobachter mit dem Täterwissen oder auf die objektive Maßfigur der h M abstellt, es ergibt sich, daß für eine Prognose auf naturgesetzlicher Basis das notwendige Faktenwissen fehlt. Da in dem Beispielsfall keine weiteren Einzelheiten mitgeteilt wurden, waren weder die Sorte und das Abbrennverhalten des Holzes, noch die Stärke und Richtung der Luftzirkulation im Raum, noch andere Einzelheiten bekannt. Zur Erstellung der Gefahrprognose wurden also ausschließlich Erfahrungsregeln herangezogen. Berücksichtigt man nun auch zusätzlich risikovermindernde Erfahrungsregeln, muß die Prognose anders ausfallen: In dem Raum befand sich eine Sprinkleranlage. Mit naturgesetzlicher Sicherheit war allerdings ex ante nicht vorherzusagen, daß diese das Feuer wird bekämpfen können, dafür fehlte wiederum das nötige Faktenwissen. Ex ante konnte aber der Satz aufgestellt werden, daß ein ausbrechendes Feuer in dem fraglichen Raum mit einem gewissen Grad von Sicherheit gelöscht werden würde. Eine derartige Anlage gehört zur Feuerschutzausrüstung eines Gebäudes und ist deshalb regelmäßiger Kontrolle unterworfen, so daß wiederum die Erfahrung sagt, von der Funktionsfähigkeit der Anlage könne in der Regel ausgegangen werden. Unter Berücksichtigung risikovermin-
7
Anders beim bedingten Vorsatz, siehe Schumann, Voluntatives Element, S. 434 Fn. 70.
I. Erfahrungsregeln
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dernder Erfahrungsregeln ist die ursprüngliche, nur auf der Basis der risikoerhöhenden Erfahrungsregeln erstellte Gefahrprognose nicht mehr zu halten. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, welchen Grad von Gewißheit die risikovermindernden Erfahrungsregeln vermitteln müssen, um ein eventuelles Gefahrurteil zu neutralisieren. Die Antwort kann nicht mathematisch exakt ermittelt werden, handelt es sich letztendlich doch um ein normatives Problem. Steht dem aufgrund der risikoerhöhenden Regeln gefällten Urteil eine risikovermindernde Regel gegenüber, so muß aber auf jeden Fall die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der risikovermindernden Regelaussage deutlich höher sein als die der risikoerhöhenden. Wären die Grade der Wahrscheinlichkeit identisch, läge ein non liquet vor und das Gefahrurteil wäre weiterhin gerechtfertigt. Eine offene, ungewisse Situation birgt das Gefahrurteil in sich.8 Das Zusammenspiel von risikoerhöhenden und -vermindernden Erfahrungsregeln, soll an einigen typischen Fällen verdeutlicht werden, die üblicherweise zum Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr gebildet werden: Ein Kraftfahrer nähert sich einer Kreuzung auf der bevorrechtigten Straße. Die risikoerhöhende Erfahrungsregeln lauten hier: Das Führen eines Fahrzeugs birgt Gefahren in sich, es kann zur Mißachtung des Vorfahrtrechts durch andere kommen, bekanntlich gehören Vorfahrtsverletzungen zu den häufigsten Unfallursachen. Die risikovermindernde Erfahrungsregel lautet hier: Gewöhnlich beachten Kraftfahrer die Vorfahrt. An diesem Punkt wird sich Widerstand regen, behauptet doch jeder in seinem Automobilistendasein Opfer hunderter von Vorfahrtsverletzungen geworden zu sein. Dieser scheinbare Widerspruch findet seine Auflösung aber schon in der Antwort auf die Frage, wieviele Kreuzungen der einzelne als Kraftfahrer passiert hat, an denen der nachrangige Verkehr die Vorfahrt beachtet hat. Deren Zahl wird sicherlich extrem groß sein. Setzt man diese beiden Werte nun in Relation, so spricht alles dafür, daß der nachrangige Verkehr auch an der nächsten Kreuzung das Vorfahrtsrecht mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit beachten wird. Es kann also kein Gefahrurteil gefällt werden. Diese Aussage läßt sich auch anhand von Zahlen belegen. Am Ol. Januar 1994 waren in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt 45.770.300 Kraftfahrzeuge zugelassen. In demselben Jahr ereigneten sich 70.731 polizeilich erfaßte Unfälle, die auf eine Nichtbeachtung des Vorfahrtsrechts zurückzuführen waren. Unterstellt man nun eine durchschnittliche Jahresfahrleistung jedes Kraftfahrzeuges
8
Vgl. dazu oben D. III.
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G. Der Vertrauensgrundsatz als Erfahrungsregel
von 10.000 km, wobei diese Zahl absichtlich niedrig angesetzt wurde, berücksichtigt man die Tatsache, daß die Zahl von L K W und Bussen zum Stichtag ca. 2.150.000 betrug und diese Fahrzeuge weitaus höhere Kilometerleistungen erbringen als PKW, so ereignete sich alle 6.470.000 km ein Vorfahrtunfall. 9 Ein Kraftfahrer mit durchschnittlicher Kilometerleistung hat also ausweislich der Statistik sehr gute Chancen, niemals in seinem Leben in einen solchen Unfall verwickelt zu werden. Dieses Ergebnis ist auch mit dem subjektiven Empfinden des einzelnen, der sich als Opfer unzähliger Verkehrsrowdys sieht, in Übereinstimmung zu bringen. Bei dem subjektiven Empfinden des Einzelnen muß die beschränkte, selektive Wahrnehmungsfähigkeit, die dem Menschen zu eigen ist, berücksichtigt werden. In das Gedächtnis prägt sich das außergewöhnliche ein, aber nicht das normale. Eine gefährliche Situation im Straßenverkehr bekommt in der Retrospektive eine wesentlich höhere Bedeutung als die unzähligen anderen, in denen sich die übrigen Kraftfahrer diszipliniert verhalten haben. Darüber hinaus wird es dabei zahlreiche Situationen gegeben haben, die allein durch die Geistesgegenwart des die Vorfahrt innehabenden gemeistert wurden oder einfach durch sog. defensives Fahren. Das sind aber Situationen, in denen nach keiner der bisher zum Vertrauensgrundsatz vertretenen Ansichten dieser Anwendung finden konnte. Wenn die Situation zu beherrschen war und dem drohenden Unfall ausgewichen werden konnte, muß der Fahrzeugführer Anhaltspunkte für die sich abzeichnende Gefahr eines Zusammenstoßes bemerkt haben. Es waren also ex ante so viele gefahrerhöhende Tatsachen bekannt, daß der Kraftfahrer nicht mehr auf den Vertrauensgrundsatz als nicht-kodifizierte Sondernorm vertrauen durfte. Ähnlich verhält es sich bei dem sog. defensiven Fahren. Dabei ist zu beachten, daß dem Begriff des „defensiven Fahrens" zwei unterschiedliche Bedeutungen gegeben werden. Bei Jagusch/Hentschel ist dafür z. B. folgende Definition zu finden: „Defensive Fahrweise ist durch weitgehenden Verzicht auf das Vertrauen in richtiges Verhalten des übrigen Verkehrs gekennzeichnet."10 Danach ist defensives Fahren ein am Mißtrauensgrundsatz ausgerichtetes Verhalten im Verkehr. In der Umgangssprache fällt unter den Begriff des „defensiven Fahrens" das
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Quelle für die im Text genannten Daten mit Ausnahme der geschätzten Jahresfahrleistung: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1994. Die durchschnittliche Jahresfahrleistung betrug im Jahre 1993 bei PKW 12.700 km, bei L K W 24.400 km, bei Sattelzugmaschinen 79.300 km und bei Bussen 54.500 km. Quelle: ADAC. 10 Jagusch/Hentschel StVO § 1 Rdnr. 25 m.w.N.
I. Erfahrungsregeln
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Führen eines Fahrzeugs mit antizipierter Reaktion auf gefährliche Verkehrssituationen. Wollte man defensiv fahren, wie es die Literatur versteht, also ein Fahrzeug unter dem Primat des Mißtrauensgrundsatzes lenken, so müßte man z. B. vor ausnahmslos jeder Kreuzung die Geschwindigkeit so weit verringern, daß ein Anhalten bei einer unvermittelt durch den Querverkehr drohenden Gefahr noch möglich ist. Eine solche Fahrweise wäre aber äußerst ungewöhnlich. Das defensive Fahren in der umgangssprachlichen Bedeutung des Begriffes, wie es auch praktiziert wird, und auf das hier eingegangen werden soll, wird zwar ebenfalls durch ein vorsichtiges Verhalten charakterisiert, jedoch beschränkt auf Situationen, die typischerweise erhöhte Gefahren in sich bergen. Defensives Fahren in diesem Sinne würde beispielsweise bedeuten, in einem Wohngebiet, in dem sich ausschließlich Kreuzungen ohne besondere Vorfahrtsregelung befinden, vor jeder einzelnen Kreuzung die Geschwindigkeit zu verringern, um sich auch nach links zu versichern, daß von dort niemand kommt, der eventuell die Vorfahrt nicht beachtet, weil es sich dabei um eine Verkehrssituation handelt, in der häufig mit Vorfahrtverstößen zu rechnen ist. Eine beampelte Kreuzung auf einer Hauptverkehrsstraße wird derselbe defensive Fahrer aber zügig überqueren, wenn die Lichtzeichenanlage Grün zeigt, weil Rotlichtverstöße weitaus seltener vorkommen. Diese Art des defensiven Fahrens trägt der Tatsache Rechnung, daß unter bestimmten Voraussetzungen, eine auffällige Häufung von Verkehrsverstößen zu registrieren ist. Dabei handelt es sich aber stets um Situationen, in denen nach einem Teil der Rechtsprechung und Literatur der Vertrauensgrundsatz nicht gilt, weil der Verkehrsteilnehmer sich trotz des Vertrauensgrundsatzes auf die oben erwähnten Verstöße einzustellen hat. Dies ließe sich auch mit dem oben aufgezeigten Sondernormcharakter, der dem Vertrauensgrundsatz von der hM gegeben wurde, schlüssig erklären, doch dürfte es, da diese Ausnahmen in der Literatur und Rechtsprechung nicht begründet werden 11, wahrscheinlicher sein, daß damit faktisch die hier gegebene Herleitung anerkannt ist. Erklären kann man sie nämlich auch nach diesem Modell - ohne Berücksichtigung eines Vertrauensgrundsatzes - durch das Zusammenspiel von „risikoerhöhenden" und „risikovermindernden" Erfahrungsregeln. Ein Zusammenspiel, das in diesen Fällen gerade nicht stattfindet, weil keine risikoverringernden Erfahrungsregeln eingreifen. Bei Vorliegen dieser tatsächlichen Konstellationen sagt die Erfahrung, daß sich die anderen in der Regel undiszipliniert
11 Vgl. statt vieler BGHSt 12, S. 81, 83; 13, S. 169, 172; Sch-Sch Cramer § 15 Rdnr. 214; LK-Schroeder § 16 Rdnr. 174; Roxin, A T 1, S. 897.
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G. Der Vertrauensgrundsatz als Erfahrungsregel
verhalten. Das Gefahrurteil ist dann also berechtigt, nach der Erfahrung ist der „Mißtrauensgrundsatz" begründet. Nicht anders verhält es sich mit Verstößen, die mit einer solchen Regelmäßigkeit vorkommen, daß man auch dort von gesicherter Erfahrung sprechen kann. So ist z. B. der § 18 Abs. 3 StVO faktisch außer Kraft gesetzt. Die Vorschrift besagt, daß auf der Autobahn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn die Vorfahrt innehat. Daß diese Norm nur noch auf dem Papier existiert, wird jeder bestätigen können, der bereits eine Bundesautobahn befahren hat. Dadurch, daß sich die (Un-)Sitte eingebürgert hat, dem auffahrenden Verkehr den Fahrstreifen zu räumen und auf die linke Spur auszuweichen, hat sich offenbar in Köpfen zahlreicher Kraftfahrer festgesetzt, daß der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn den Nachrang hat. Nicht wenige fahren auf die Autobahn auf, ohne den rückwärtigen Verkehr zu beachten, weil sie meinen, ein ihnen nicht zustehendes Vorfahrtrecht auszuüben - und durchsetzen zu müssen -, und das auch dann, wenn es dem auf der Normalspur Fahrenden nicht möglich ist, den Fahrstreifen zu wechseln, weil er seinerseits gerade überholt wird. Die Reihe der Beispiele aus dem Straßenverkehr ließe sich beliebig fortsetzen, und es ist nur schwerlich ein Fall denkbar, in dem unter Zugrundelegung des hier entwickelten Ansatzes andere Ergebnissse erzielt würden, als unter der Anwendung eines als Sondernorm ausgebildeten Vertrauensgrundsatzes mit seinen aus dieser Funktion und Wirkung resultierenden „Ausnahmen". Der Unterschied liegt allein in der Herleitung und der systematischen Kategorisierung. 3. Die Bildung von Erfahrungsregeln Erfahrungsregeln sind nicht statisch, vielmehr wohnt ihnen eine eigene Dynamik inne, die sie gleichsam wachsen, aber auch wieder verschwinden lassen kann. Dies erklärt sich aus ihrer Ableitung aus der Erfahrung. Ebenso wie sich die Erfahrung ändert, ändert sich auch die Regel. Was heute noch gilt, kann morgen bereits überholt sein. Dies hat den Vorteil, daß ein so verstandener Vertrauensgrundsatz ein äußerst flexibeles Instrument ist, jedoch verbunden mit dem Nachteil, daß es einen allgemeinen Vertrauensgrundsatz nicht gibt und in jedem Einzelfall erneut geprüft werden muß, ob einem anderen vertraut werden durfte. Dieser dynamische Prozeß verläuft durch die Summierung einzelner Schritte. Ebensowenig wie man einem vollkommen Unbekannten eine größere Summe Bargeld aushändigen würde, vermag man einem Zulieferer ohne irgendwelche Referenzen oder dem oben erwähnten Presse-Informanten vernünftigerweise Vertrauen zu schenken, da eine Erfahrungsregel „Alle Menschen sind zuverlässig" nicht existiert. Das Gegenteil ist nur allzu häufig der Fall. Aber ebenso, wie
I. Erfahrungsregeln
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man einem guten Freund, der sich als zuverlässig erwiesen hat, ohne zu zögern den Geldbetrag aushändigen würde, wird man auf die Verläßlichkeit einer alten, gut eingeführten Zulieferfirma oder einer namhaften Presseagentur vertrauen dürfen, da in diesen konkreten Fällen die Erfahrungsregel „Dieser spezielle Partner ist zuverlässig" entstanden ist. Diese Regel gilt aber in dem Augenblick nicht mehr, in dem Anlaß besteht, das Gegenteil zu vermuten. Bereits die soeben gemachten Gegenüberstellungen zeigen, daß Erfahrungsregeln wachsen können, sie zeigt aber auch, daß es zwei zu unterscheidende Erfahrungen gibt, aus denen sich Regeln ableiten lassen, die kollektive und die individuelle. Bei diesen unterscheidet sich aber nur der Gewinnungsprozeß, nicht aber die Wirkung. Im Endeffekt macht es keinen Unterschied, ob ein Unternehmen als zuverlässig bekannt ist, weil eine Personenmehrheit über eine gewisse Dauer „gute" Erfahrungen mit diesem gemacht hat, oder ob für den einzelnen im Laufe der Zeit die entsprechende Regel entstanden ist. Auch für das Individuum hat die kollektive Regel Gültigkeit. Das entspricht ebenfalls der Praxis des täglichen Lebens: Niemand käme auf den Gedanken, sein Geld einer namhaften Großbank deshalb nicht anzuvertrauen, oder nur mit einer geringen Summe zu beginnen, weil er bisher dort noch kein Konto gehabt hat. Die kollektive Erfahrung sagt in diesem Fall, daß die Bank - in der Regel - mit dem anvertrauten Geld zuverlässig umgehen wird. Verwiesen sei hier auch auf die oben angeführten Beispiele aus dem Straßenverkehr. Die in diesem Bereich entstandenen Erfahrungsregeln basieren in der Hauptsache auf kollektiver Erfahrung. Das schließt jedoch die Berücksichtigung individueller Erfahrungen nicht aus, wenn z. B. ein Kraftfahrer „Sonderwissen" hinsichtlich der Gefährlichkeit eines bestimmten Straßenstückes hat. Die eigentliche Regelbildung verläuft im kollektiven und im individuellen Prozeß identisch. Zu Beginn ist die Situation offen, das heißt, es kann keine Regel gebildet werden. Im Laufe der Zeit wird sich durch die Summe der individuell oder kollektiv gemachten Erfahrungen entweder herauskristallisieren, daß man dem anderen in der Regel vertrauen kann, daß man ihm mißtrauen muß, oder daß die Situation offen bleibt. Nur im ersten Fall kann dann der Vertrauensgrundsatz als Erfahrungsregel Anwendung finden. 4. Die Erfahrungsregel
in der praktischen Anwendung
Die gewonnenen Ergebnisse können ohne weiteres in die praktische Anwendung übertragen werden. Es ergeben sich dabei durchweg praktikable und flexible Lösungen auch für Fälle, in denen der überkommene Vertrauensgrundsatz nicht friktionsfrei angewandt werden konnte.
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G. Der Vertrauensgrundsatz als Erfahrungsregel
Man nehme nur den Fall des jungen Assistenzarztes, der soeben approbiert an ein Krankenhaus kommt und dort dem Operateur assistieren muß. Der Chirurg wird sich auf die im Rahmen der universitären und praktischen Ausbildung standardmäßig erworbenen Fähigkeiten des jungen Arztes verlassen dürfen, wenn dieser seine Zeugnisse vorgelegt hat. Sollte eine solche Leistung des Assistenten fehlerhaft gewesen und in das Operationsergebnis mit letalem Ausgang eingeflossen sein, streitet für den Chirurgen die Erfahrungsregel, daß mit der Approbation den Ärzten bestimmte Standardfähigkeiten attestiert werden, die diese in aller Regel beherrschen. Anders läge der Fall, könnte der Assistenzarzt kein Zeugnis vorlegen, da eine Erfahrungsregel, daß jeder, der von sich behauptet Arzt zu sein, nur seine Zeugnisse nicht vorlegen kann, auch wirklich Arzt ist, nicht ersichtlich ist. Die Situation bleibt offen und begründet das Gefahrurteil. Ebenso offen ist die Situation in der der junge, frisch approbierte Assistenzarzt sich besonderer Fähigkeiten rühmt, die üblicherweise einige Berufserfahrung voraussetzen. A u f diese Fähigkeiten wird der Chirurg dann vertrauen dürfen, wenn der Assistent diese mehr als einmal unter Beweis gestellt hat, da dann die Erfahrung sagt, daß der fragliche Assistent diese Methode in aller Regel wird beherrschen können. In der Erfahrung begründet liegt auch der Unterschied, der in der Literatur zwischen dem Facharzt mit mehreren Berufsjahren und dem jungen Assistenten gemacht wird. 12 Der erste wird regelmäßig zuverlässiger arbeiten als der zweite, da diesem zu bestimmten Verrichtungen die nötige Routine fehlen wird. Nicht anders verhält es sich im Rahmen der strafrechtlichen Produkthaftung. 13 Der Unternehmer, der Leistungen von einem Zulieferer übernimmt, in welcher Form diese auch erbracht werden mögen, steht zu Beginn der Geschäftsbeziehung in einem regellosen Vakuum, sollte es sich bei dem Zulieferer nicht um ein eingeführtes, als zuverlässig bekanntes Unternehmen handeln. Er wird die Leistungen, beispielsweise Bremsenteile, vor ihrer Verwendung prüfen müssen, will er nicht, daß seine Handlung mit dem Gefahrurteil belegt wird. Hat er die Teile untersucht, so kann er mit der Zeit und fortgesetzten Untersuchungen die Erfahrung machen, daß dem Zulieferer vertraut werden kann. Die Erfahrungsregel „Dieser Zulieferer ist zuverlässig, man kann auf seine Leistung vertrauen" ist dann entstanden.
12
Stratenwerth, Eb. Schmidt FS, S. 393 ff. Vgl. für den Bereich der strafrechtlichen Produkthaftung die Beispiele bei SchmidtSalzer, S. 152. 13
II. Die Erfahrungsregel in der lebensmittelrechtlichen Kette
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Zur Klarstellung ist noch anzumerken, daß den Unternehmer keine Untersuchungspflicht schlechthin trifft, wie insbesondere im Lebensmittelrecht aus einem falsch verstandenen Fahrlässigkeitsverständnis stetig propagiert wird, sondern daß diese „Untersuchungspflicht" Resultat der Anwendung von Erfahrungsregeln ist. Ohne den Prozeß der Gewinnung des Gefahrurteils im Einzelnen nachzuvollziehen, handelt es sich im Fall der Bremsenteile, die von einem unbekannten Hersteller bezogen werden, um eine offene Situation, die das Gefahrurteil rechtfertigt. Es ist bekannt, daß Menschen durch defekte Bremsen an Kraftfahrzeugen zu Schaden kommen können. Ferner ist bekannt, daß Hersteller qualitativ mangelhafte Leistungen erbringen können. Stellt man allerdings aufgrund einer Untersuchung fest, daß die Bremsenteile einwandfrei sind, greift die Regel ein, daß diese Teile mit hoher Wahrscheinlichkeit im praktischen Einsatz nicht versagen werden. Eine Pflicht zu testen oder zu untersuchen besteht nicht, jedoch muß man, will man der Fahrlässigkeitsnorm nicht zuwiderhandeln, in diesem Fall den Bau und Verkauf von Kraftfahrzeugen unterlassen. Im Laufe einer andauernden Geschäftsbeziehung ohne Auffälligkeiten wird sodann die eine Regel durch die andere - dann gewachsene - Regel ersetzt, nämlich diejenige, daß man dem Geschäftspartner vertrauen darf. Diese Ausfuhrungen beziehen sich allein auf die nomologische Basis. Sollte der Fall vorliegen, daß ein Mehr an „gefahrerhöhenden" Umständen bekannt ist, als von der Erfahrungsregel gedeckt wird, greift die „risikovermindernde" Erfahrungsregel nicht mehr ein, da durch das „Mehr" an Tatsachen die Anwendung einer „risikoerhöhenden" Regel gerechtfertigt wird, die die „risikovermindernde" zu neutralisieren vermag. Ein Mehr an „gefahrerhöhenden" Umständen ist z. B. im Flugzeugbau gegeben. Gegenüber dem Hersteller von Haushaltsgeräten wird der Hersteller von Flugzeugen seine Lieferanten sicherheitsrelvanter Teile intensiver überwachen müssen, will er Flugzeuge verkaufen, ohne daß ihm der Vorwurf unsorgfältigen Handelns gemacht werden soll. Die Gefahr, daß Menschen wegen eines defekten Flugzeuges zu Schaden kommen, ist wesentlich größer als die Gefahr, daß ein Käufer durch eine schadhafte Waschmaschine stirbt. II. Die Erfahrungsregel in der lebensmittelrechtlichen Kette Die Übertragung der gewonnenen Ergebnisse auf das Lebensmittelrecht gestaltet sich einfach. Da die Erfahrungsregel ontologischen Ursprungs ist - sie sagt lediglich aus, daß eine bestimmte Situation eine bestimmte Erfahrungsaussage zuläßt -, ist sie der rechtlichen Wertung entzogen. Es kann zwar darüber gestritten werden, ob eine Erfahrungsregel mit einer bestimmten Aussage vorliegt oder nicht, der Streit kann aber nicht darüber gefuhrt werden, ob eine einmal fest-
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G. Der Vertrauensgrundsatz als Erfahrungsregel
gestellte Erfahrungsregel nur in bestimmten Rechtsgebieten Geltung haben soll. Da im gesamten Gebiet des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts ein einheitlicher Fahrlässigkeitsbegriff gebraucht wird und sich denknotwendig der Kern des Fahrlässigkeitstatbestandes als Gefahrurteil darstellt, muß die hier dargestellte Ansicht auch im Lebensmittelstrafrecht Anwendung finden. Es ist logisch unmöglich, einzelne Gebiete der Fahrlässigkeit daraus auszuklammern. In der gesamten lebensmittelrechtlichen Kette, vom Hersteller über den Importeur bis zum Einzelhändler findet also der auf Erfahrung basierende Vertrauensgrundsatz Anwendung, wenn sich in dem jeweils zu untersuchenden Einzelfall herausstellt, daß eine entsprechende Erfahrungsregel besteht. Diese kann auf kollektiven oder auf individuellen Erfahrungen basieren. So hat z. B. der BGH nach der hier vertretenen Ansicht richtig entschieden, als er 1959 aussprach, daß der Abnehmer darauf vertrauen kann, daß ein bedeutendes Unternehmen von gutem Ruf nicht unzulässige Ware vertreiben werde. 14 Zur Egänzung sei noch angemerkt, daß man ebensogut auch dem ausländischen Hersteller, mit dem eine langjährige und beanstandungslose Geschäftsbeziehung besteht, vertrauen darf, weil gerade keine Erfahrungsregel vorliegt, die aussagt, daß alle ausländischen Produzenten von Lebensmitteln gegen deutsche lebensmittelrechtliche Vorschriften verstoßen15, vielmehr die individuelle Erfahrung die Grundlage der möglichen Regel bildet, daß dieser konkrete Geschäftspartner, welcher Nationalität er auch immer angehören mag, zuverlässig ist.
14
BGH LRE 2, S. 241 Diese Aussage ist ebenso absurd, wie die Aussage „Alle Türken lügen"; vgl. OLG Karlsruhe VRS 56, S. 359. 15
Fazit Es hat sich herausgestellt, daß der Vertrauensgrundsatz als nicht-kodifizierte Sondernorm oder als Unterfall des „erlaubten Risikos" nicht existiert, zumindest vermag man ihn innerhalb dieser Kategorien nicht zu begründen. Vielmehr handelt es sich bei seiner Anwendung um die einer Erfahrungsregel. Damit gehört er zwar nicht mehr zu dem Kreis der Sondernormen, sondern wurde zu einer unter vielen Regeln, die aus der Erfahrung abgeleitet werden. Dadurch hat der Vertrauensgrundsatz aber eine schlüssige Herleitung gefunden. Da der Herleitung keine normative Komponente innewohnt, kann der Vertrauensgrundsatz überall dort Anwendung finden, wo die tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen. Mit vernünftigen Argumenten kann sie nicht mehr ausgeschlossen werden, wenn die Erfahrung gemacht wurde, daß jemand sich in der Regel zuverlässig verhält. Somit steht auch der Anwendung des Vertrauensgrundsatzes als Erfahrungsregel im Lebensmittelrecht nichts entgegen. Bei der Frage, ob man auf die Zuverlässigkeit eines anderen vertrauen darf, ist ausschließlich auf die individuelle oder kollektive Erfahrung abzustellen, die man mit dem anderen gemacht hat, und nicht auf die Vorfrage der abstrakten Abwägung äußerst diffus gefaßter Interessen. Es kann also festgehalten werden, daß die Aussage, der Vertrauensgrundsatz „gelte" im Lebensmittelstrafrecht nicht oder könne nur eingeschränkt verwendet werden 1, sich fahrlässigkeitssystematisch nicht halten läßt. Allenfalls könnte sie noch mit der Modifikation aufrechterhalten werden, daß eine Erfahrungsregel, die z. B. im Falle des Automobilherstellers oder des Verkehrsteilnehmers ausreicht, das Urteil „sorgfaltsgemäß" zu tragen, im Lebensmittelrecht zwar strukturell Anwendung finden, aber trotzdem nicht geeignet sein solle, das Gefahrurteil unter die Schwelle der rechtlich intolerablen Gefahr zu drücken. Eine so formulierte Aussage würde aber bedeuten, innerhalb des Lebensmittelstrafrechts einen strengeren Fahrlässigkeitsmaßstab anzulegen als in den übrigen Gebieten des Strafrechts. Da es in den genannten Bereichen letztendlich um gleichartige Gefahren für identische Rechtsgüter - Leib, Leben und Vermögen - geht, wäre es
1
Siehe oben unter B.
152
Fazit
aber notwendig, eine solche normative Differenz im Rahmen eines einheitlichen Rechts zu begründen. Die Begründungslast liegt dabei bei denjenigen, die diese normative Differenz behaupten.
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averzeichnis Abschlußvermittler 23
- geronnene 60 f.
Abwendungsbereich 127
-kollektive 143 ff., 147
Adäquanztheorie 90 f.
-individuelle 143 ff., 147
Analyse, lebensmittelchemische 43
Erfahrungsregeln 78 ff., 99, 135 ff.
Anbieten 21 f.
- risikoerhöhende 138 ff.
Anleitungen, technische 101
-risikovermindernde 138 ff.
Arbeitsteilung, medizinische 106, 136,
Erfahrungssätze, allgemeine 136
141
Erlaubnissätze 86
Arzneimittel 20
Erlaubnistatbestand 99
Ausfullungsnorm 16 f.
Erscheinungsbild, äußeres 19
Beschaffenheit, gesetzmäßige 43
Fahren, defensives 140 f.
Besitz, mittelbarer 22
Fahrlässigkeitsbegriff, einheitlicher 51 f.,
Bestimmungsnormen 54 f., 62 f. Betriebsleiter 41 Bewertungsnormen 54
146 Fahrlässigkeitsdogmatik, lebensmittelrechtliche 37
Blankettgesetze 16 f., 17
Fahrlässigkeitskonzeption, klassische 86
Bußgeldverfahren 51
Feilhalten 23 f. Fertigpackungskennzeichnung 44
Contergan-Fall 136 f. EG-Vermarktungsnormen 15 Ehrschutz 81 Einwilligung 80 Einzelhändler 40, 45 ff. Erbonkel-Fall 82 Erfahrung
Futtermittel 18, 20 Garantenstellung 37 Gebrauchswert 28 Gefahr - intolerable 66 ff., 69, 98 f. - tolerable 94, 110
Sachverzeichnis Gefahrprognose 71 f f , 77 f f , 87 f f , 93f., 135 f f
161
-naturgesetzliche 137 - unvorhersehbare 82 , 83 f.
Gefahrsachverhalte 98
Kausalzusammenhang 69
Gefahrurteil 70 f f , 77 f f , 93 f., 137 f.
Kenntlichmachung 34
Genußwert 28
Kennzeichnung, ausreichende 33
Genußuntauglichkeit 32 f.
Kennzeichnungsvorschriften 17
Gesundheitsschädigung 25 f.
Kettenverantwortung 38 ff.
Großhändler 40, 44 ff.
Kinder 26
Güterabwägungsprinzip 121
Kongruenzprobleme 69 Kosmetik 20
Halbfabrikate 19 Handelsbräuche 32
Lebensmittel 18ff.
Handelsmarke 45
- nachgemachte 30
Handlungen, gefahrgeneigte Iii.
- wertgeminderte 31
Handlungsfreiheit, individuelle 122
Lebensmittelkontrolle 47
Handlungsprojekt 97
Lehre von den Verantwortungsbereichen
Handlungsunrecht 85
127 ff.
Handlungsunwert 65
Leinenfängerfall 78, 87
Hersteller 39, 40 ff.
Leistungen, soziale 124
- ausländischer 43, 147
Leistungskette, lebensmittelrechtliche
Höchstmengen 46
112, 146 f.
Importeur 39, 42 ff.
Manipulationsmöglichkeit 43
Indeterminismus 128
Maßfigur, objektive 57, 60
Interessenkollision 86
Mindesthaltbarkeitsdatum 45
Interessentheorie 117 ff.
Mißtrauensgrundsatz 47, 50, 142
- erweiterte 121 f f
Möglichkeitsurteil 71 f., 91
Inverkehrbringer 20 ff. 38 ff.
Nahrungsmittelabsatzkette 40 Nährwert 28
Kampfsport 80 Kausalität 90 ff.
Naturgesetze 78 ff., 99, 135 ff. Normen
162
averzeichnis
-horizontale 16
Sanktionsnormen 16
-vertikale 16
Scherzartikel 20
- erzeugerorientierte 15
Schranken, normimmanente 116 f.
Notwehr 92 f.
Schutzgesetze 15 Schutzzweck der Norm 60 f., 64
Pflanzenschutzmittel 17 Pflichtwidrigkeit, objektive 53 ff., 57,
88 Pflichtwidrigkeitszusammenhang 59 f., 64 f. Prämientheorie 113 ff. Prinzip der Selbstverantwortung 127 ff. Privathaushalt 24 Produkthaftung, strafrechtliche 144 f. Prüfung, sensorische 45 Qualitätsanforderungen 41
Solidaritätspostulat 122 Sollbeschaffenheit 32 Sonderdelikte 47 Sondernormen 58 ff., 95 f f , 118 - kodifizierte 97 ff. - nicht-kodifizierte 100 f f , 108 ff., 134, 140 Sonderwissen 57 f., 67 Sorgfalt, maßgebliche 56 Sorgfaltslimitierung 94 Sorgfaltsmaßnahmen 131 Sorgfaltsmaßstab 55 ff., 63 f.
Rechtsprechung, kasuistische 37
Sorgfaltspflicht 53 ff.
Rechtswidrigkeit 88 ff.
Sorgfaltspflichtverletzung
Regreßverbot 112, 128, 133
- objektive 53 ff., 57, 86 f.
Rettungshandlungen 80
- subjektive 62 f f , 86
Risiko
Sorgfaltsregeln 97
- erlaubtes 77 ff., 94 ff., 107 ff.
Sozialadäquanz 98, 101 ff., 105
- maßvolles 79
Sphärenhaftung 39
- sozialadäquates 79
Stichprobenuntersuchung 45
- toleriertes 79
Straßenverkehr 107, 109 ff.
- unerlaubtes 65 ff., 67 - unverbotenes 79 Risikogeschäft 81 Risikosyndrom 66 f.
Tabakerzeugnisse 20 Tatbestandsauslegung 37 Tatbestandskern 53 ff.
Sachverzeichnis
163
Tätervorstellungen 104
Verkehrsbezeichnung 35
Tätigkeiten, arbeitsteilige 127 ff.
Verkehrskreis 56
Tätigkeitsdelikt, fahrlässiges 73 ff.
Verkehrsteilnehmer 113 f.
Tatverantwortung 91 f.
Verkehrsverbot 30
Theorie der objectiven Möglichkeit 71 f.
Vertrauensgrundsatz 53, 106 f f , 134 ff.
Theorie vom Primat der
- allgemeiner 111 ff.
Bestimmungsnorm 53 f.
- lebensmittelrechtlicher 48 f.
Tierpharmazeutika 17
- straßenverkehrsrechtlicher 112 ff. Verzehr 18 f.
Übervorteilung, wirtschaftliche 39 Unfallstatistik 119 Ungehorsamsdelikte 63 Unterlassungsdelikte 37 Untersuchungszeugnisse 41 Verantwortlichkeit, unmittelbare 39 Verantwortungserstreckung 131 f. Verbrauchererwartung 32 f. Verbesserung, scheinbare 33
Vorfahrtsverletzungen 107 f., 115 f., 120, 129, 139, 145 f. Vorhersehbarkeit 57 f., 86 f., 135 Vormischungen 19 Vorrätighalten 22 f. Werbung 35 Wertminderung 33 Wirtschaftsprüfer 122, 123 f. Wohlverhalten 115 f.
Verbraucherschutz 39 Verdauung 18
Zumutbarkeit 40, 43, 46, 62
Verkaufswille, mangelnder 23
Zurechnung, objektive 56, 64, 83 f.
Verkehrsauffassung 29, 31 ff.
Zurechnungselemente 56