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German Pages 583 Year 2014
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1270
Der Schulversuch Historische Entwicklung und geltendes Recht Von
Günter Winands
Duncker & Humblot · Berlin
GÜNTER WINANDS
Der Schulversuch
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1270
Der Schulversuch Historische Entwicklung und geltendes Recht
Von
Günter Winands
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.
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Vorwort Die vorliegende Arbeit zum Schulversuch wurde im Wintersemester 2013/ 2014 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Das Promotionsthema war im Nachgang erwachsen aus der Abfassung eines Fachaufsatzes, den ich im Januar 2011 zu einem damals geplanten nordrheinwestfälischen Schulversuch veröffentlicht hatte (Die „Gemeinschaftsschule“ in Nordrhein-Westfalen: Grenzen eines Schulversuchs, in: DÖV 2011, S. 45-53). Dieser Schulversuch wurde später auch unter Bezugnahme auf jenen Aufsatz obergerichtlich angehalten. Die erste, rein juristische Beschäftigung mit der Thematik Schulversuche weckte mein Interesse an einer tiefgreifenden wissenschaftlichen Untersuchung. Eigene Erfahrungen als ehemaliger Amtschef des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2005–2010) verwertend, gepaart mit historischem und pädagogischem Inte resse, ist eine Arbeit entstanden, die vor allem auch den rechts- und bildungshistorischen Hintergrund der heutigen Schulversuchsregelungen in den Ländern aufzeigt. Dessen Kenntnis erleichtert nicht nur das Verständnis für die Gelingensbedingungen von Schulversuchen, sondern kann gleichzeitig ein Beitrag zur schulrechtlichen wie bildungspolitischen Orientierung bei dem nicht immer unumstrittenen Thema des Experiments in der Schule sein. Ein besonders großer Dank gebührt meinem verehrten Doktorvater Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Isensee. Während meiner Zeit als junger wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Bonner Lehrstuhl in den 1980er Jahren hat er in einer wichtigen Phase mein juristisches Denken und Handeln entscheidend geprägt. Stets durfte ich mich seitdem seiner Verbundenheit sicher sein und insbesondere seiner Förderung auch bei dem nun umgesetzten Vorhaben einer Promotion, das wegen immer wieder neuer beruflicher Herausforderungen über die Jahre mehrfach zurückgestellt worden war. Nach einer Versetzung als beamteter Staatssekretär in den einstweiligen Ruhestand im Zuge des Regierungswechsels in Nordrhein-Westfalen tat sich 2010 vorübergehend ein Zeitfenster auf, in dem das Fundament für diese Arbeit gelegt werden konnte. Danken möchte ich ebenfalls Herrn Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz für die überaus interessierte Auseinandersetzung mit meiner Dissertation im Rahmen des Zweitgutachtens und Herrn Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio für den anregenden Vorsitz bei der abschließenden Disputation.
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Vorwort
Von Herzen danke ich meiner Ehefrau Petra Winands, ohne deren großes Verständnis und in vielfältiger Weise tatkräftige Unterstützung diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre. Sie hat nicht nur Korrektur gelesen, sondern als Grundschullehrerin und ständige Gesprächspartnerin auch inhaltlich wertvolle Anregungen gegeben. Meine beiden erwachsenen Kinder Sarah und David haben mich gleichfalls stets darin bestärkt, mein Promotionsvorhaben umzusetzen, und dadurch ihrerseits zum Gelingen beigetragen. Gewidmet ist die Arbeit schließlich ebenfalls meinen liebevollen Eltern, meiner Mutter Käthe Winands und meinem während der Promotionszeit verstorbenen Vater Josef Winands. Bornheim, im Frühjahr 2014 Dr. Günter Winands
Inhaltsverzeichnis Einleitung Historie, Pädagogik und Recht I.
Schulversuche im Diskurs: zwischen „Keimzellen“ der Schulreform und hübschen „Erziehungsoasen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 II. Gegenstand und Rahmen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Schulversuch im juristischen und weiter gefassten pädagogischen Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Im Zentrum der Untersuchung: Preußen und Nordrhein-Westfalen sowie länderübergreifende Reformbestreben und Vereinbarungen. . . . . 29
Erster Teil Der Schulversuch im deutschen, zumal im preußischen Schulwesen bis 1945 Erstes Kapitel Verstaatlichung und Modernisierung des Schulwesens im 19. Jahrhundert 31 I. Das deutsche Schulwesen im Mittelalter und der frühen Neuzeit . . . . . . . . . 31 II. Erste Schulversuche als Impulsgeber für eine Modernisierung und Verstaatlichung des Schulwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 III. Die Humboldt’sche Bildungsreform – ein administrativ gesteuerter Modernisierungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Neuhumanistisches Bildungsideal einer allgemeinen Menschenbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Herausbildung des preußischen Gymnasiums im Schraubstock ministerieller Vorgaben und schulaufsichtlicher Kontrolle. . . . . . . . . . . 40 a) Wiederbelebung der alten Sprachen und der antiken Kultur . . . . . . 40 b) Normierung des Abiturs und Einführung einer Gymnasiallehrerprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 c) Schaffung effektiver schulaufsichtlicher Strukturen speziell im Gymnasialbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 d) Einführung und Umsetzung eines verpflichtenden Lehrplans . . . . 45
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3. Realschulen und Mittelschulen – Entwicklungsprozess im Schatten elementarer und neuhumanistisch-gymnasialer Bildung . . . . . . . . . . . . 48 a) „Reale“ Bildung als Antwort auf wirtschaftlichen und technischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Etablierung von Real- und Bürgerschule, Oberrealschule und Realgymnasium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 c) Zulassung von Versuchen und Modifikationen im preußischen Realschulwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 d) Preußische Mittelschule als unvollkommene Schule des Mittelstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4. Beschwerlicher Aufbruch der preußischen Elementarschulen in die pädagogische Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 a) Anstrengungen und Widrigkeiten zur Verbesserung der Elementarbildung im Zuge der Humboldt’schen Bildungs- reform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 b) Einführung einer Volksschullehrerbildung als wichtiger Modernisierungsschub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 c) Restauration und Eindämmung von Reformversuchen durch die Stiehl’schen Regulativen von 1854 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5. Zusammenfassende Bewertung der Humboldt’schen Bildungsreform . . 59 IV. Nichtumsetzung des Auftrags der Preußischen Verfassung zur Schaffung eines allgemeinen Unterrichtsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 V. Verstaatlichung des Schulwesens und Reformen „von oben“ in der Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1. Preußisches Schulwesen in fester und allgemein akzeptierter Hand der staatlichen Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2. Jahrelange Reformdiskussionen über die Inhalte der gymnasialen Bildung und hierauf beruhende exekutive Reformen . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. Die Schule als „besonderes Gewaltverhältnis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4. Zulassung von Reformschulen und Versuchsschulen durch ministerielle Ausnahmegenehmigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5. Aufwertung der Volksschulbildung ab 1872 bei gleichzeitigem Fortbestand des Stadt-Land-Gefälles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Zweites Kapitel Reformpädagogische Schulversuche im wilhelminischen Deutschland I.
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Anfänge der Reformpädagogik Ende des 19. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . 84 1. Vielfalt der reformpädagogischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Verflechtung mit anderen neuen gesellschaftlichen Bewegungen und der aufkeimenden Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
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3. Identitätsstiftende Pädagogik „vom Kinde aus“ (Ellen Key, Berthold Otto) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 II. Hauptströmungen der reformpädagogischen Bewegung. . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Landerziehungsheimbewegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Arbeitsschulbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Kunsterziehungsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Einheitsschulbewegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 III. Plädoyer für Schulversuche durch den „Bund für Schulreform“. . . . . . . . . . 100 IV. Einzelne reformpädagogische Schulversuche in der Kaiserzeit . . . . . . . . . . 103 1. Hamburger Versuchsschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Leipziger Versuchsklassen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Mannheimer Schulsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Sonstige Versuche (Münchener Versuchsschulen, Berliner „Linkskultur“-Versuch, Waldschulen, Gartenarbeitsschulen, Schülerausschuss, Gymnasialkurse für Mädchen). . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Drittes Kapitel Die Hochkonjunktur des Schulversuchs und der Reformpädagogik in der Weimarer Zeit 112 I.
Rechtliche Rahmenbedingungen: Reichsverfassung, schulgesetzliche Defizite und Aufsichtsmacht der Landesschulbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Schulrechtsartikel der Weimarer Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Unerledigter Verfassungsauftrag für ein grundsatzsetzendes Reichs schulgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3. Fehlende allgemeine Schulgesetze in den Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4. Weiterbestehende Dominanz der Landesschulbehörden. . . . . . . . . . . . . 117 II. Allseitiger Ruf reforminteressierter Pädagogen nach mehr Schulversuchen und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1. Versuchseuphorie auf der Reichsschulkonferenz 1920 . . . . . . . . . . . . . . 119 2. Förderung von Schulversuchen durch die Reichsregierung . . . . . . . . . . 122 3. Ablehnung von Schulversuchen durch den „Bund Entschiedener Schulreformer“ und seitens der KPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4. Deutliche Zunahme von reformpädagogischen Schulversuchen in der Weimarer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 5. „Die Wiederentdeckung der Grenze“ (reform)pädagogischer Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 III. Zur Genehmigung von und Aufsicht über Versuchsschulen durch die Schulverwaltungen der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Allgemeiner Schulversuchserlass des preußischen Kultusministeriums vom 04.07.1923. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Richtlinien und Grundsätze der Berliner Schulaufsicht zur Errichtung von Versuchsschulen (Lebensgemeinschaftsschulen). . . . . . . . . . . . . . . 134
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3. Versuchsschule ohne offiziellen Versuchsschulstatus: Die Neuköllner Karl-Marx-Schule des Schulreformers Fritz Karsen . . . . . . . . . . . . . . . 140 4. Versuchsförderung auf höchster Ministerialebene: Abiturberechtigung der „Schulfarm Insel Scharfenberg“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5. Einhaltung von Leistungsanforderungen: Auseinandersetzungen Hamburger Versuchsschulen mit der Schulaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . 144 6. Schulbezirksgrenzen für Versuchsschulen: Kontroversen in Leipzig, Magdeburg und Chemnitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 7. Ablehnung privilegierter Versuchsbedingungen durch den Leipziger Lehrerverein und dessen Eintreten für eine gesetzliche Garantie von Schulversuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 IV. Reformpädagogische Richtungen und deren Bedeutung für das Schulwesen und die Versuchspraxis der Weimarer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1. Beachtlicher Einflussgewinn der Einheitsschulbewegung . . . . . . . . . . . 150 2. Umsetzung von Gedankengut der „Arbeitsschule“. . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Aufkommen neuer reformpädagogischer Ansätze in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Waldorfschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Jena-Plan-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 c) Montessori-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4. Inkurs: Die Konzeption einer selbstverwalteten Schule des Berliner Pädagogen Ferdinand Jakob Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 V. Vereinbarungen der Länder über die Durchführung von Schulversuchen und deren Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 1. Zusammenarbeit der Länder im Schulwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2. Gegenseitige Anerkennung der Schulabschlüsse an Versuchsschulen . . 164 3. Freiere Gestaltung des Unterrichts in der Oberstufe der höheren Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4. Vereinbarungen über zwei Schulversuche: Aufbauschule und Deutsche Oberschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Viertes Kapitel Bildungspolitische Zäsur im Nationalsozialismus: Schließung und Gleichschaltung der Versuchsschulen und Ablehnung von Schulversuchen 174 I.
Nationalsozialistisches Schulwesen in seinen Grundzügen . . . . . . . . . . . . . 174 1. Einzug völkisch-autoritären Denkens in die Schule . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Vereinfachung des mittleren und höheren Schulwesens ab 1938 . . . . . . 176 3. Zentralisierung und Gleichschaltung der Schuladministration . . . . . . . . 178 II. Reformpädagogik: Wegbereiter des Nationalsozialismus? . . . . . . . . . . . . . . 179 III. Nationalsozialistische Absage an die Reformpädagogik und Schließung von Versuchsschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
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1. Anpassung und Signale der Kooperationsbereitschaft führender Reformpädagogen nach der Machtergreifung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2. Verschmähte Andienung des Jena-Plans durch Peter Petersen . . . . . . . . 185 3. Ende der Reformpädagogik im öffentlichen Schulwesen . . . . . . . . . . . . 187 4. Unvereinbarkeit von Reformpädagogik und Nationalsozialismus aus Sicht der NS-Pädagogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 5. Landerziehungsheime, Waldorfschulen und einzelne ländliche Versuchsschulen in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 a) Landerziehungsheime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 b) Waldorfschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 c) Ländliche Versuchsschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Zweiter Teil Der Schulversuch im deutschen Schulwesen von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart Erstes Kapitel Vorbemerkungen zum Wiederaufbau des Schulwesens und der seitherigen allgemeinen schulgesetzlichen Entwicklung 212 I.
Schulpolitische Ausgangssituation der Nachkriegszeit in West- und Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 II. Grundgesetz und Schule: Länderzuständigkeit und weitgehender Verzicht auf bundeseinheitliche Strukturvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 III. Phasen der schulgesetzlichen Entwicklung in der Bundesrepublik . . . . . . . 220 Zweites Kapitel Erste gesetzliche Regelungen zum Schulversuch in den Stadtstaaten und in Hessen 227 I.
Umfassende schulgesetzliche Versuchsermöglichung in West-Berlin, Bremen und Hamburg 1948/1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Zum Einfluss reformpädagogischer Kräfte der 1920er Jahre in den neuen Schulverwaltungen und auf die Schulgesetzgebung . . . . . . . . . . 227 2. Wortlaut und Inhalt der schulgesetzlichen Versuchsvorschriften . . . . . . 228 3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Versuchsklauseln . . . . . . . . . . 230 4. Geringe Inanspruchnahme der Ermächtigungen zu Schulversuchen bis Mitte der 1950er Jahre in Bremen und Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . 231 5. Reformanstöße „von oben“ und geringes Reforminteresse in den Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 6. Wiederbelebung vereinzelter Versuchsschulen der Weimarer Zeit in West-Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
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II. „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“ in der Landesverfassung Hessens und Schulgesetzentwurf von 1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Drittes Kapitel Schulversuche und Versuchsschulen in der SBZ und der DDR 240 I. Frühes „Aus“ für reformpädagogische Versuchsschulen . . . . . . . . . . . . . . . 240 II. Abkehr von der Reformpädagogik als Ausfluss des Totalitätsanspruches sozialistischer Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 III. Zum Charakter des Schulversuchs im damaligen sozialistischen Bildungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 IV. Zentralstaatlich gelenkte Schulversuche seit Mitte der 1950er Jahre bis zum Ende der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Viertes Kapitel Forderungen nach mehr Schulversuchen in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre und die Restriktionen des „Düsseldorfer Abkommens“ 255 I. Versuchsschul-Memorandum von Herbert Chiout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 II. Tübinger Resolution zu Modellschulen von 1951. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 III. Empfehlung des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ zur Errichtung von Versuchsschulen (1954) . . . . . . . . . . . 259 IV. „Düsseldorfer Abkommen“: Restriktive Versuchsklausel und Reaktion des Deutschen Ausschusses (1955) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 V. Versuchsschulpraxis im höheren Schulwesen nach Verabschiedung des „Düsseldorfer Abkommens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 VI. Niedersächsischer Schulversuch zum „Differenzierten Mittelbau“ in der Volksschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 VII. Versuchsschulvorschrift im „Modell eines Gesetzes zur Ordnung des Schulwesens“ (1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 VIII. Förderung von Versuchs- und Modellschulen nach dem Hessischen Schulverwaltungsgesetz (1961). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 IX. „Rahmenplan“ des Deutschen Ausschusses (1959) und dessen Erprobung in Versuchs- und Modellschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
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Fünftes Kapitel Der Durchbruch für Schulversuche durch das „Hamburger Abkommen“ und das seitdem praktizierte KMK-Verfahren 278 I.
Im Vorfeld: Öffnung für Schulversuche und neue bildungspolitische Wege durch die „Berliner Erklärung“ der Kultusministerkonferenz (1964). 278 II. Schulversuchsklausel im „Hamburger Abkommen“ vom 28.10.1964 i.d.F. vom 14.10.1971 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 III. KMK-Vereinbarung „Durchführung von Schulversuchen und gegenseitige Anerkennung der entsprechenden Abschlüsse“. . . . . . . . . . . . . 289 1. KMK-Beschluss vom 16.02.1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 2. KMK-Beschluss in der Fassung vom 22.10.1999. . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 3. KMK-Beschluss in der geltenden Fassung vom 21.06.2012. . . . . . . . . . 292 4. Liste der angezeigten Schulversuche gemäß der KMK-Vereinbarung . . 295 Sechstes Kapitel Schrittweise Normalisierung des Schulversuches als bildungspolitisches Instrument 298 I. Bestandserhebung der Schulversuche im Schuljahr 1965/1966 (DIPF) . . . . 298 II. Empfehlungen des „Deutschen Bildungsrates“ für ein Experimentalprogramm mit Ganztagsschulen und Gesamtschulen sowie dessen Umsetzung . 301 1. Neue Idee eines Experimentalprogramms – über Schulversuche zur Schulreform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2. Schulversuche mit Ganztagsschulen (ab 1968). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 3. Schulversuche mit Gesamtschulen (ab 1969) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 III. Modellversuche auf Initiative der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (1971–2009). . . . . . . . . . . . . . . 316 1. Rechtsgrundlage, Zusammensetzung und Aufgaben der BLK . . . . . . . . 316 2. Modellversuche als Hauptbetätigungsfeld der BLK . . . . . . . . . . . . . . . . 319 3. Umfang und Schwerpunkte der Modellversuche bis 1997 . . . . . . . . . . . 321 4. Neuausrichtung auf Versuchsprogramme ab 1998. . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 5. Ende der Modellversuche durch die Föderalismusreform I. . . . . . . . . . . 325 6. Zur Wirksamkeit der Modellversuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Siebtes Kapitel Überblick zu den Schulversuchen der letzten fünfzig Jahre und aktuelle Situation 332 I. Schulversuche in den westdeutschen Ländern bis 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . 332 II. Schulversuche in den Ländern seit der Wiedervereinigung. . . . . . . . . . . . . . 336 III. Exemplarisch: Schulversuche in Nordrhein-Westfalen. . . . . . . . . . . . . . . . . 337
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Inhaltsverzeichnis Achtes Kapitel Versuchsvorschriften im „Entwurf für ein Landesschulgesetz“ der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages (1981) 345 Neuntes Kapitel
Schulgesetzliche Entwicklung des Schulversuchs in Nordrhein-Westfalen. Exemplarische Darstellung 348 I.
Erste gesetzliche Schulversuchsregelung 1958 im Schulverwaltungsgesetz . 348 1. Inhalt der Regelung des § 4 Abs. 5 SchVG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 2. Entstehungsgeschichte der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 3. Annex-Regelungen sowie Veränderungen der Grundnorm bis Ende der 1960er Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 II. Grundlegende Neuregelung 1975 mit Schaffung einer eigenen Schulversuchsvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1. Inhalt der Neuregelung des § 4b SchVG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 2. Besondere Ermächtigung für Schulversuche mit Gesamtschulen und Kollegschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 III. Normative Regelungen zu Schulversuchen zwischen 1975 und 2004. . . . . . 356 1. Kleinere Ergänzungen und Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 2. Aufhebung der speziellen Versuchsermächtigungen für Gesamtschulen und Kollegschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 3. Besondere Ermächtigung für den Schulversuch „Selbstständige Schule“ durch das Schulentwicklungsgesetz (2001) und die VOSS (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 IV. Ermächtigung zu Schulversuchen gemäß § 25 SchulG (seit 2005 / 2006) und ergänzende Bestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 1. Inhalt der Grundnorm § 25 SchulG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 2. Ergänzende allgemeine Vorschriften für Schulversuche im Schulgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 3. Bestandsschutz für den Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ durch Schulgesetzänderung 2011. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 4. Schulgesetzliche Regelung eines Schulversuchs zum Zusammenschluss von Grundschulen und weiterführenden Schulen (2011) . . . . . . 367
Inhaltsverzeichnis
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Dritter Teil Die Ausgestaltung des Schulversuchs im geltenden Recht Erstes Kapitel Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung des Schulversuchs in den Ländern 369 I. Die Vorschriften in den Landesschulgesetzen im Überblick. . . . . . . . . . . . . 369 II. Verfassungsrechtliche Anforderungen nach dem „Vorrang des Gesetzes“ . . 371 1. Konnexität des Schulversuchs mit der Verrechtlichung des Schulwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 2. Entbehrlichkeit von Schulversuchen durch mehr Schulautonomie. . . . . 372 3. Infragestellung des Gesetzesvorrangs durch exzessive Versuchspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 III. Verfassungsrechtliche Anforderungen nach dem des „Vorbehalt des Gesetzes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 1. Zur notwendigen Regelungsdichte von Schulversuchsklauseln aufgrund der Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 2. Freiwilligkeit der Teilnahme als Prämisse generalklauselartiger Versuchsermächtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 a) Keine (Schul-)pflicht zur Teilnahme an Versuchen . . . . . . . . . . . . . 378 b) Ausschluss grundrechtswesentlicher Versuchsauswirkungen durch Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 c) Die schulgesetzlichen Regelungen zur Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . 384 3. Analogie zu Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG: Bestimmbarkeit von Inhalt, Zweck und Ausmaß der Versuchsermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 4. Grenzen einer allgemeinen Schulversuchsklausel und Erfordernis einer besonderen Ermächtigung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 a) Flächendeckende Schulversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 b) Obergrenze teilnehmender Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 c) Strukturversuche und Grenzen inhaltlicher Art . . . . . . . . . . . . . . . . 403 d) Zeitliche Grenze von Schulversuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 5. Inkurs: Dauerhafte Umwandlung von Versuchsschulen in (Reform-) Schulen besonderer Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 IV. Entbehrlichkeit eines Versuchsschulstatus für Schulmodelle der reformpädagogischen Bewegungen der 1920er Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 1. Waldorfschulen und Landerziehungsheime als genehmigte Ersatzschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 2. Umsetzung von Jena-Plan und Montessori-Pädagogik vorwiegend im öffentlichen Schulwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
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Inhaltsverzeichnis Zweites Kapitel
Die Genehmigung von Schulversuchen aufgrund schulgesetzlicher Ermächtigungen insbesondere am Beispiel § 25 SchulG NRW 424 I.
Tatbestandsvoraussetzungen einer Versuchsgenehmigung . . . . . . . . . . . . . . 424 1. Notwendigkeit einer schulrechtlichen Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 2. Vorhaben zur „Weiterentwicklung des Schulwesens“. . . . . . . . . . . . . . . 425 3. Erprobungsbedürftigkeit der Reformmaßnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 4. Freiwilligkeit der Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 5. Zusatzanforderungen für Versuchsschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 a) §§ 25 Abs. 2, 78 Abs. 7 Satz 2 SchulG NRW . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 b) Errichtungserfordernisse gemäß §§ 78–81 SchulG NRW . . . . . . . . 437 aa) Beachtung Rücksichtnahmegebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 bb) Auflösung oder Umwandlung bestehender Schulen zugunsten von Versuchsschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 cc) Keine Bestandsgefährdung der Schule eines anderen Schulträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 dd) Rücksichtnahmegebot gegenüber Ersatzschulen . . . . . . . . . . . 444 ee) Mindestgrößen von Versuchsschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 ff) Ausreichende Verwaltungs- und Finanzkraft des Schulträgers. 449 6. Antragsbefugnis und Beteiligungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 a) Divergierende schulgesetzliche Regelungen zur Antragstellung. . . 450 b) Antragsrecht des Schulträgers in Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . 453 c) Beteiligung der Schule, der Nachbarkommunen und sonstiger Einzubeziehender. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 7. Möglichkeit von Schulversuchen in Ersatzschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . 459 II. Rechtsfolgenseite der Schulversuchsgenehmigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 1. Genehmigungsermessen für schulrechtliche Abweichungen . . . . . . . . . 462 2. Begrenzung von Dauer und Umfang der Abweichungen. . . . . . . . . . . . 466 3. Festlegung von Inhalt, Ziel, Durchführung und Dauer im Genehmigungsbescheid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 4. Erreichen regulärer und bundesweit anerkannter Bildungsabschlüsse . . 467 5. Experimentierklausel: Erprobung neuer Modelle erweiterter Selbstverwaltung und schulischer Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . 469 a) Regelungsinhalt der Experimentierklausel (§ 25 Abs. 3 SchulG NRW) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 b) Runderlass „Mehr Freiräume für innovative schulische Vorhaben“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
Inhaltsverzeichnis
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Drittes Kapitel Rechtsfragen der Durchführung von Schulversuchen 475 I. II. III. IV.
Teilnahmemöglichkeit von Schülern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Beteiligung der Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Gewährung besonderer Versuchsressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Einflussnahme Dritter auf Schulversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Viertes Kapitel
Beendigung von Schulversuchen 492 I. II.
Nach Auslaufen des Versuchs: Handlungsoptionen und Übertragbarkeit . . . 492 Vorzeitiger Abbruch des Versuchs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
Schlussbemerkungen 503 Anhang 510 I.
Synopse der aktuellen Schulversuchsvorschriften in den deutschen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 II. „Entwurf für ein Landesschulgesetz“ der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages (1981). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 III. Verfahrensregelung der Kultusministerkonferenz zu Schulversuchen. . . . . . 523 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570
Abkürzungen ABl. Amtsblatt ABl. NRW Amtsblatt des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (ab 2005 als Teil der Zeitschrift „Schule NRW“) ABl. RMWEV Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Amtsblatt des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der Länder (1935–1945) ALR Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten v. 01.06.1794 AO-GS Verordnung über den Ausbildungsgang in der Grundschule (Ausbildungsordnung Grundschule) v. 23.03.2005 (GV. NRW S. 269) i.d.F. v. 02.11.2012 (GV. NRW S. 488/BASS 13–11 Nr. 1.1) AöR Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) APO S I Verordnung über die Ausbildung und die Abschlussprüfungen in der Sekundarstufe I (Ausbildungs- und Prüfungsordnung Sekundarstufe I v. 02.11.2012 (GV. NRW S. 488/BASS 13–21 Nr. 1.1) APr Ausschussprotokoll BAG Bundesarbeitsgericht BAnz Bundesanzeiger BASS Bereinigte Amtliche Sammlung der Schulvorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen BayEUG Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen BB Brandenburg BBAW Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften BE Berlin BGBl. Bundesgesetzblatt BLK Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung Buchholz Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Amtliche Sammlung) BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVerwGE Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Amtliche Sammlung) BW Baden-Württemberg BY Bayern DBl. Dienstblatt (DBl.) des Senats von Berlin DIPF Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung
Abkürzungen DÖV DVBl. EMRK
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Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) FS Festschrift GABl. Gemeinsames Amtsblatt GABl. NRW Gemeinsames Amtsblatt des Kultusministeriums und des Minis teriums für Wissenschaft und Forschung des Landes NordrheinWestfalen GBl. Gesetzesblatt GG Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland GMBl. Gemeinsames Ministerialblatt (amtliches Publikationsorgan der Bundesregierung, hrsg. vom Bundesministerium des Innern) GO Gemeindeordnung GS. NW Sammlung des bereinigten Landesrechts Nordrhein-Westfalen 1945–1956 GsVO Verordnung über den Bildungsgang der Grundschule des Landes Berlin (Grundschulverordnung) GVBl. Gesetz- und Verordnungsblatt GV. NRW Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen HB Bremen HE Hessen HessVGRspr. Rechtsprechung der hessischen Verwaltungsgerichte HH Hamburg HIPF Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung IGLU Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung JR Juristische Rundschau (Zeitschrift) juris Rechtsportal Juris.de (Internet-Datenbank Rechtsprechung) JZ Juristenzeitung (Zeitschrift) KG Kammergericht KMK Kultusministerkonferenz KMK-Sammlung Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (Hrsg.): Sammlung der Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Kultus minister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Loseblattsammlung, 3. Aufl., Kronach (Stand 2013) KWMBl. Amtsblatt der Bayerischen Staatsministerien für Unterricht und Kultus und Wissenschaft, Forschung und Kunst LBG Landesbeamtengesetz lehrer nrw Mitgliederzeitschrift des lehrer nrw-Verbandes für den Sekundarbereich LOG Landesorganisationsgesetz LVerf Landesverfassung MBl. Ministerialblatt MSJK Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nord rhein-Westfalen (2002–2005) MSPD Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands MSW Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NordrheinWestfalen (1995–1998, ab 2005)
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Abkürzungen
MV Mecklenburg-Vorpommern NI Niedersachsen NJW Neue juristische Wochenschrift (Zeitschrift) NordÖR Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland NRW Nordrhein-Westfalen nrwe Internet-Rechtsprechungsdatenbank (NRWEntscheidungen) des Landes Nordrhein-Westfalen NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ-RR Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungsreport NWVBl. Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) OS Offizielle Sammlung der Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich (Schweiz) OVG Oberverwaltungsgericht OVGE Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte für das Land Nord rhein-Westfalen in Münster sowie für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein in Lüneburg (Amtliche Sammlung) PersV Die Personalvertretung (Zeitschrift) PISA Programme for International Student Assessment PrGS Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, ab 1907 (bis 1945) Preußische Gesetzsammlung RdErl. Runderlass RdJB Recht der Jugend und des Bildungswesens (Zeitschrift) RGBl. Reichsgesetzblatt RGSt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (Amtliche Sammlung) RGZ Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (Amtliche Sammlung) RiA Das Recht im Amt (Zeitschrift) RMBl. Zentralblatt für das Deutsche Reich, ab 1923 (bis 1945) Reichs ministerialblatt RP Rheinland-Pfalz RVerf Reichsverfassung SächsVBl. Sächsische Verwaltungsblätter. Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung SchKG Schulkostengesetz SchMG Schulmitwirkungsgesetz SchOG Schulordnungsgesetz Schule NRW Schule NRW. Fachzeitschrift des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes NRW, gleichzeitig Amtsblatt des Minis teriums SchVG Schulverwaltungsgesetz SchVw BW SchulVerwaltung Baden-Württemberg (Zeitschrift) SchVw NRW SchulVerwaltung Nordrhein-Westfalen (Zeitschrift) SGB Sozialgesetzbuch SGV. NRW Sammlung des bereinigten Gesetz- und Verordnungsblattes für das Land Nordrhein-Westfalen SH Schleswig-Holstein SL Saarland
Abkürzungen
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SMAD SMBl. NRW
Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sammlung des Bereinigten Ministerialblattes für das Land Nord rhein-Westfalen SN Sachsen ST Sachsen-Anhalt St Strafsachen TH Thüringen TIMMS Trends in International Mathematics and Science Study USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands VerfGH Verfassungsgerichtshof VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof VOBl. Verordnungsblatt VV Verwaltungsvorschriften VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz WP Wahlperiode WRV Verfassung des Deutschen Reiches v. 11.08.1919 (Weimarer Reichsverfassung) ZblUV Zentralblatt (anfangs: Centralblatt) für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1859–1934) ZBR Zeitschrift für Beamtenrecht ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZTR Zeitschrift für Tarifrecht Im Übrigen wird auf Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 6. Aufl., Berlin 2008 verwiesen.
Einleitung
Historie, Pädagogik und Recht I. Schulversuche im Diskurs: zwischen „Keimzellen“ der Schulreform und hübschen „Erziehungsoasen“ „Erst muß man Experimentalschulen errichten, ehe man Normalschulen errichten kann.“ Mit diesem Kernsatz Immanuel Kants aus dessen Königsberger Universitätsvorträgen „Über Pädagogik“1 überschrieb der Studienrat Wilhelm Blume vom Städtischen Humboldtgymnasium in Berlin Anfang Februar 1922 ein Gesuch an den Berliner Magistrat um den Ausbau einer 1921 für das Humboldtgymnasium begründeten Sommerschule auf der Insel Scharfenberg im Tegeler See zu einer Versuchs-Oberschule.2 Vor und nach dem Ersten Weltkrieg war die pädagogische Diskussion in Deutschland beherrscht von dem Gedanken, über Versuchsschulen und dort gewagter pädagogischer Experimente zu umfassenden Schulreformen zu kommen. Es war die Blütezeit der Reformpädagogik, nicht zuletzt in der Hauptstadt Berlin. Versuchsschulen sollten „Keimzellen“ für die Umgestaltung des gesamten Schulwesens werden.3 Doch liegen die Ursprünge für eine auf Versuchserfahrung gestützte Pädagogik, wie das Eintreten Kants hierfür zeigt, schon in einer Zeit, als das Schulwesen noch wenig 1 Zitat:
Immanuel Kant, Über Pädagogik, hrsg. v. D. Friedrich Theodor Rink, Königsberg 1803, S. 23. – Wiederabdruck in: Immanuel Kant’s sämtliche Werke, hrsg. v. Karl Rosenkranz/Friedrich Wilhelm Schubert, Neunter Theil, Leipzig 1838, S. 367 (S. 381); jüngerer Abdruck: Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1964 (7. unv. Aufl., Darmstadt 2011), S. 691 (S. 708). 2 Das Dokument befindet sich heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, archiviert unter: I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 14 z, Nr. 48 II, Bl. 76-134. Online-Veröffentlichung, eingestellt durch Dietmar Haubfleisch: http://archiv.ub.unimarburg.de/sonst/1999/0001/q12.html. Hinweis hierauf bei: Dietmar Haubfleisch, Schulfarm Insel Scharfenberg. Mikroanalyse der reformpädagogischen Unterrichtsund Erziehungsrealität einer demokratischen Versuchsschule im Berlin der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 199 f. 3 So das Postulat eines bekannten Reformpädagogen der Weimarer Zeit: Franz Hilker, Versuchsschulen und allgemeine Schulreform, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 448.
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Einleitung: Historie, Pädagogik und Recht
geordnet und nicht unter der Aufsicht des Staates stand. Die vorliegende Arbeit geht den Ursprüngen des Schulversuchs nach. Sie zeigt dessen Beitrag zur „Verstaatlichung“ der Schule auf und zeichnet eine bis heute anzutreffende Entwicklung nach, die immer wieder zwischen dem Schulversuch als Teil kontrollierter Reformen „von oben“ im staatlichen Schulsystem und als Instrument einer Schulreform „von unten“, als Werkzeug des sich aus staatlichen Fesseln befreien wollenden pädagogischen Reformers schwankt. Über die Sinnhaftigkeit von Schulversuchen und Versuchsschulen gehen allerdings ebenfalls bis heute die Meinungen auseinander. Sofern sie mit Reformbestrebungen amtlicher Schulpolitik oder Schulverwaltung zusammenhängen, kritisieren Lehrkräfte von jeher die damit verbundene Unruhe in den Schulen, ein Ungeordnetsein des Unterrichtsbetriebs und eine Wechselhaftigkeit der pädagogischen Ansage. Die Rede ist vom ständigen „Hü und Hott“ in der Schulpolitik. Ein Zeitungskolumnist meinte dazu jüngst bezogen auf NordrheinWestfalen: „Bei der Flut von Schulversuchen und -modellen steigen viele Eltern schon lange nicht mehr durch.“4 Mit einer experimentierfreudigen Schulpolitik gehen vor allem auch Befürchtungen einher, Klassen- und Lehrerzimmer könnten zu einem Labor, Kinder und Lehrkräfte als die sprichwörtlichen „Versuchskaninchen“ benutzt werden.5 Dabei werden viele Schulpraktiker der ironischen Feststellung des amtierenden Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, beipflichten, dass, weil man sich in der Schulpädagogik nie irren könne, „noch alle Modellversuche zum Erfolg verurteilt waren“.6 Auch diesem angeblichen Phänomen geht die Arbeit nach und versucht hierbei zugleich aufzuzeigen, welche rechtlichen Vorkehrungen diesbezüglich in der Vergangenheit getroffen wurden und notwendig sind. Dass, wenn die Ergebnisoffenheit eines Versuchs nicht gewahrt wird, dies durchaus gravierende rechtliche Folgen nach sich ziehen kann, mussten erst unlängst die schulpolitischen Verantwortlichen in Nordrhein-Westfalen erfahren. Das dortige Oberverwaltungsgericht stoppte im Juni 2011 das ursprünglich zentrale bildungspolitische Vorhaben der von SPD und Bündnis 90/Die Grünen getragenen Landesregierung, den Schulversuch „Gemeinschaftsschule“. Wesensmerkmal und schulgesetzliche Tatbestandsvoraussetzung eines Schulver4 Zitat: Wilfried Goebels, Fürs Leben. Schulbeginn in NRW, in: General Anzeiger Bonn v. 07.09.2011, S. 2. 5 So zur früheren Schulpolitik im Land Berlin: Ulrich Zawatka-Gerlach, Unterricht in Ruhe. Berliner Koalition, in: Der Tagesspiegel v. 07.11.2011, S. 8. 6 Zitat: Josef Kraus, Ist die Bildung noch zu retten? Eine Streitschrift, München 2009, S. 68. – Das Verdammt-Sein zum Erfolg gilt offensichtlich aber auch für andere gesetzliche Testversuche. Siehe etwa: Wolfgang Hoffmann-Riem, Modellversuch als Scheintest. Zur geplanten Einführung der Kabelkommunikation in Ludwigshafen, in: ZRP 1980, S. 32.
Einleitung: Historie, Pädagogik und Recht
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suchs sei, dass er der Erprobung von Reformmaßnahmen diene; stehe aber für die Schulverwaltung das Erreichen der Reformziele bereits unzweifelhaft fest, fehle es hieran und der Versuch sei mangels Erprobung rechtswidrig.7 Dabei zitierte das Gericht in seiner Begründung einen Fachaufsatz des Verfassers,8 im Zuge dessen Ausarbeitung, wie bereits im Vorwort erwähnt, die Idee für eine umfassende juristische Auseinandersetzung mit der geltenden Rechtslage zum Schulversuch wie auch zu einer Beleuchtung des rechts- und bildungshistorischen Hintergrunds9 entstand. Selbst bei Befürwortern von Schulversuchen kehrt häufig Ernüchterung ein, wenn sich, wie etwa bei einem der größten Schulversuche der Nachkriegszeit, dem Experimentalprogramm der Kultusministerkonferenz mit Gesamtschulen vor über 30 Jahren, die pädagogischen Hypothesen des Versuchs am Ende durch dessen Ergebnisse wissenschaftlich nicht hinreichend erhärten lassen. Andererseits zeigt gerade das weitere Festhalten der damaligen Schulpolitik an der 7 Siehe: OVG NRW, Beschl. v. 09.06.2011 – 19 B 478/11, 19 B 479/11, NWVBl. 2011, 436; DVBl. 2011, 1182 L – Zu den politischen Reaktionen statt vieler: Katja Irle, Schlappe für Schulpolitik in NRW. Gericht stoppt Gemeinschaftsschule, in: Frankfurter Rundschau Online v. 11.06.2011 (http://www.fr-online.de/wissenschaft/schule/ schlappe-fuer-schulpolitik-in-nrw/-/5024182/8545940/-/index.html). 8 Günter Winands, Die „Gemeinschaftsschule“ in Nordrhein-Westfalen: Grenzen eines Schulversuchs, in: DÖV 2011, S. 45-53. Später nochmals aktualisierte Fassung: Günter Winands, Die „Gemeinschaftsschule“ in Nordrhein-Westfalen. Ein Schein-Versuch auf rechtlich ungesicherter Grundlage, in: lehrer nrw, Heft 2/2011, S. 13-16. 9 Bisher gibt es keine rechtshistorische, aber auch keine über einzelne Epochen hinausgehende zusammenhängende bildungshistorische Darstellung des Schulversuchs in Deutschland. Dies gilt zum einen – trotz des Titels – für ein Werk wie dasjenige von: Rudolf Lassahn/Reinhard Stach, Geschichte der Schulversuche, Heidelberg 1979. Dieses beleuchtet ausgewählte Reformimpulse bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Hanno Schmitt [Versuchsschulen als Instrumente schulpädagogischer Innovation vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 1 (1993), S. 153-178] sieht in seinem Aufsatz lediglich „Vorarbeiten für eine noch zu schreibende Geschichte der Versuchsschulen seit der Epoche der Aufklärung“ und endet bei den Schulversuchen der Weimarer Zeit. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird nur in einer Nachbemerkung mit wenigen Sätzen angerissen und auch nur für die Zeit bis Mitte der 1960er Jahre. Die dreiteilige Studie von Dietrich Benner/Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2002–2007 mit den dazu von diesen jeweils herausgegebenen Quellentextbänden verschafft grundlegende historische Zugänge, verfolgt allerdings methodisch einen problemgeschichtlichen Ansatz, indem – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – erziehungs-, bildungs- und schultheoretische Fragestellungen theoriegeschichtlich an herausragenden reformpädagogischen Positionen und Reformbeispielen analysiert und reflektiert werden. Im Übrigen konstatiert generell das Fehlen einer „Geschichte des Schulrechts“: Heinz-Elmar Tenorth, „Schulrecht“ – Perspektiven ihrer Histiographie, in: RdJB 2012, S. 399-413.
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Gesamtschule, die mit Auslaufen des Versuchs dennoch in fast allen Bundesländern zu einer zusätzlichen Regelschulform umgewandelt wurde, dass Schulpolitik Versuchsergebnisse nur bedingt zur Grundlage späteren Handelns macht und damit nach anderen Gesetzmäßigkeiten funktioniert als die Wissenschaft. Schulversuche werden mitunter eben auch nur als zeitweiliger „Konfliktpuffer“ eingesetzt.10 Ein führender Reformpädagoge der Weimarer Zeit, der damalige Vorsitzende des „Bundes Entschiedener Schulreformer“, Paul Oestreich, mutierte angesichts der beschränkten Wirksamkeit von Schulversuchen sogar vom flammenden Verfechter dieses pädagogischen Instruments auf der Reichsschulkonferenz 1920 zum schärfsten Kritiker. Etwa vier Jahre später schrieb er an den Leipziger und späteren Bonner Erziehungswissenschaftler Theodor Litt: „Wenn man so, wie ich das tue, die Problematik der Weltlage sieht, so können einem ‚Versuchsschulen‘ wenig nützen. ‚Erziehungsoasen‘ sind hübsche mittelalterliche Klostervisionen.“11
II. Gegenstand und Rahmen der Untersuchung 1. Schulversuch im juristischen und weiter gefassten pädagogischen Verständnis Unter einem „Schulversuch“ wird juristisch ein Vorhaben in einer Schule bezeichnet, das zur Erprobung neuer pädagogischer oder organisatorischer Ideen von bindenden allgemeinen rechtlichen, insbesondere schulrechtlichen Vorgaben abweicht und deswegen zur Durchführung einer besonderen rechtlichen Erlaubnis bedarf. Der Schulversuch stellt einerseits eine rechtlich zu regelnde Ausnahme vom Regelsystem dar, andererseits zielt er auf die innovative Fortentwicklung des Regelsystems. Im Gegensatz zum verwaltungsrechtlichen Dispens, der etwa im Abgabenrecht zum Zweck der Vermeidung unbilliger Härten in atypischen Einzelfällen Ausnahmen von der Regel zulässt,12 ist die Abwei10 So
plastisch: Hoffmann-Riem, Modellversuch, ZRP 1980, S. 31. war dies die Replik auf einen an ihn gerichteten, in der Zeitschrift des Bundes Entschiedener Schulreformer „Die neue Erziehung“ vorher abgedruckten kritischen „Offenen Brief“ Litts. Siehe: Paul Oestreich, Offene Antwort, in: Die neue Erziehung 6 (1924), S. 374-378; Wiederabdruck: Dietrich Benner/Herwart Kemper (Hrsg.), Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Teil 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik, Weinheim 2001, S. 487-490. 12 Zur Rechtsfigur des Dispenses: Reinhard Mußgnug, Der Dispens von gesetz lichen Vorschriften, Heidelberg 1964; Albert Bleckmann, Zum Dispens im Verwaltungsrecht, in: DÖV 2003, S. 155 ff. – Speziell zum Steuererlass: Josef Isensee, Das Billig11 Es
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chung nicht auf Dauer angelegt, sondern nur für eine Versuchsphase. An deren Ende steht entweder die Bewährung, der Versuchserfolg, und damit rechtlich eine Änderung des Regelsystems, gegebenenfalls auch nur in Teilbereichen, oder aber die Beendigung der Versuchsmaßnahme und Beibehaltung des etablierten Rechtszustandes. Der Schulversuch reiht sich ein in den Kreis der Experimentierklauseln, wie sie – unterschiedlich ausgestaltet – auch in vielen anderen Bereichen des Verwaltungsrechts anzutreffen sind, insbesondere in fast allen Ländern zur Erprobung neuer Steuerungsmodelle und zur Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung mit befristeten Ausnahmen von geltendem Haushalts- und Organisationsrecht der Gemeinden.13 Weitere Erscheinungsformen von Experimentierklauseln finden sich vielfach im Hochschul- und Ausbildungsrecht,14 aber etwa auch im Beamtenrecht, Tierschutzrecht, Personenbeförderungsrecht, Gaststättenrecht oder Sozialrecht.15 Eine vergleichbare Zielsetzung haben schließlich keitskorrektiv des Steuergesetzes. Rechtfertigung und Reichweite des Steuererlasses im Rechtssystem des Grundgesetzes, in: Horst Heinrich Jakobs/Brigitte Knobbe-Keuk/ Eduard Picker/Jan Wilhelm (Hrsg.), Festschrift für Werner Flume zum 70. Geburtstag, Bd. II, Köln 1978, S. 129-147. 13 Beispiel: § 129 Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen v. 14.07.1994 (GV. NRW 1994 S. 666) i.d.F. v. 13.12.2011 (GV. NRW S. 685). Überblick hinsichtlich der einzelnen Ländervorschriften: Armin Ludwig Göhring, Experimentierklauseln im Kommunalrecht. Rechtsprobleme im Spannungsfeld zwischen Regelungswut und „laisser faire“, Diss. Würzburg 2003 (Online-Ressource: http:// opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de/volltexte/2003/640/pdf/Dissertation.pdf), S. 185 ff. Dazu außerdem: Klaus Lange, Die kommunalrechtliche Experimentierklausel, in: DÖV 1995, S. 770-773; Christoph Brüning, Die kommunalrechtlichen Experimentierklauseln. Meilensteine auf dem Weg zur Gemeindeverwaltung als Dienstleistungsunternehmen oder Freibriefe für die öffentliche Verwaltung?, in: DÖV 1997, S. 278 ff. Allgemein: Volker Maaß, Experimentierklauseln für die Verwaltung und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen. Zugleich ein Beitrag zu § 7a BerlHG, Berlin 2001; Hans J. Wolff/Otto Bachof/Rolf Stober/Winfried Kluth, Verwaltungsrecht. Ein Studienbuch, Bd. II, 7. Aufl., München 2010, § 81 Rn. 94 ff. 14 Beispiele: § 31 Abs. 2 Hessisches Hochschulgesetz v. 14.12.2009 (GVBl. I S. 666): Erprobung neuer Organisationsmodelle und Steuerungssysteme der Hochschulen; § 6 Berufsbildungsgesetz v. 23.03.2005 (BGBl. I S. 931) i.d.F. v. 20.12.2011 (BGBl. I S. 2854): Erprobung neuer Ausbildungsberufe sowie Ausbildungs- und Prüfungsformen. 15 Beispiel: § 7a VO über die Arbeitszeit der Beamtinnen und Beamte des Bundes v. 23.02.2006 (BGBl. I S. 427) i.d.F. v. 16.12.2010 (BAnz. 2010 Nr. 194, S. 4262): Erprobung von Arbeitszeit-Langzeitkonten zum Ansparen von Zeitguthaben für spätere Freistellungszeiten; § 15 VO zum Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere und anderer zur Erzeugung tierischer Produkte gehaltener Tiere bei ihrer Haltung (Tierschutz-NutztierhaltungsVO) v. 22.08.2006 (BGBl. I S. 2043) i.d.F. v. 01.10.2009 (BGBl. I S. 3223): Erprobung neuer Haltungseinrichtungen für Legehennen; § 2 Abs. 7 Personenbeför-
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kommunalrechtliche Öffnungsklauseln in sogenannten Standardanpassungsgesetzen einiger Länder, durch die im Einzelfall zeitlich befristet von verwaltungsrechtlichen Standardvorgaben für kommunale Einrichtungen abgewichen werden kann.16 Über die juristische Begriffsbestimmung des Schulversuchs geht der päda gogische Sprachgebrauch deutlich hinaus. Hier wird darunter generell die Erprobung eines neuen, bisher in den Schulen eines Landes nicht praktizierten pädagogischen oder organisatorischen Konzepts verstanden, unabhängig davon, ob diese Innovation im Rahmen des geltenden allgemeinen Rechts erfolgt oder nicht. Dabei kann der Umfang reichen von auf bestimmte pädagogische Fragestellungen begrenzte Neuerungen im Rahmen des herkömmlichen Schulsystems, insbesondere im Bereich der Unterrichtsformen und Curricula, bis zur Einrichtung einer in Struktur und Curriculum neuartigen Modellschule, die ein umfassendes neues Schulkonzept verfolgt. Wie im juristischen Sprachgebrauch wird für letztere dann ebenfalls der Begriff Versuchsschule, vielfach aber auch Modellschule gewählt. Ein gänzlich anderer, hier nicht weiter zu vertiefender Begriffsinhalt verbindet sich mit dem „Schulversuch“, wenn er in den naturwissenschaftlichen und derungsgesetz v. 08.08.1990 (BGBl. I S. 1690) i.d.F. v. 22.11.2011 (BGBl. I S. 2272): Abweichungen zur Erprobung neuer Verkehrsarten oder Verkehrsmittel; § 32 Gaststättengesetz v. 20.11.1998 (BGBl. I S. 2246) i.d.F. v. 07.09.2007 (BGBl. I S. 2246): Erprobungsklausel für Ausnahmen von Berufsausübungsregelungen; § 6c Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) a.F.: Zeitlich befristete Option einer kommunalen Trägerschaft der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Dazu: Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht zur Evaluation der Experimentierklausel nach § 6c des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Deutscher Bundestag, 16. WP, BT-Drs. 16/11488 v. 18.12.2008; § 137e Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) v. 20.12.1988 (BGBl. I S. 2477) i.d.F. v. 22.12.2011 (BGBl. I S. 3057): Erprobung von medizinischen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zulasten der Krankenkassen. 16 Beispiele: Gesetz des Landes Brandenburg zur Erprobung der Abweichung von landesrechtlichen Standards in Kommunen sowie von landesrechtlichen Zuständigkeitszuweisungen (Brandenburgisches Standarderprobungsgesetz) v. 28.06.2006, (GVBl. I S. 74), zul. geändert durch Gesetz zur weiteren Flexibilisierung von landesrechtlichen Standards in den Kommunen v. 08.07.2011 (GVBl. I Nr. 13 S. 1); Gesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Erprobung der Öffnung von landesrechtlichen Standards für kommunale Körperschaften (Kommunales Standarderprobungsgesetz) v. 28.10.2010 (GVBl. S. 615). Beide Gesetze befristen die Abweichung auf vier Jahre. Eine Befreiung bis zu fünf Jahren enthielt das Gesetz zur Befreiung von kommunalbelastenden landesrechtlichen Standards für das Land Nordrhein-Westfalen (Standardbefreiungsgesetz NRW) v.17.10.2006 (GV. NRW S. 458), das allerdings mit Ablauf des 31.12.2011 gemäß § 3 des Gesetzes (ersatzlos) außer Kraft getreten ist. Dazu: Bernd Grzeszick, Öffnungsklauseln für die Kommunalverwaltung, in: Die Verwaltung 30 (1997), S. 545-572.
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technischen Fächern als Synonym für ein physikalisches oder chemisches Experiment im Unterricht verwandt wird. Häufig findet sich in den naturwissenschaftlichen Lehrbüchern hierfür außerdem, insoweit ohne Verwechslungsgefahr, die Bezeichnung „Schülerversuch“. 2. Im Zentrum der Untersuchung: Preußen und Nordrhein-Westfalen sowie länderübergreifende Reformbestreben und Vereinbarungen Die Geschichte des Schulversuchs ist in Deutschland maßgeblich mit der Entwicklung des Schulwesens und Schulrechts in Preußen verbunden. Preußen war seit Anfang des 19. Jahrhunderts nicht nur der größte und mächtigste deutsche Territorialstaat, dessen König seit der Reichsgründung 1871 zudem in Personalunion deutscher Kaiser war. Seit den eng mit dem Namen Wilhelm von Humboldt verknüpften Bildungsreformen übernahm Preußen überdies eine nicht nur in den deutschen Ländern, sondern sogar in den europäischen Nachbarländern allgemein anerkannte Vorreiterrolle bei der Herausbildung eines funktionierenden staatlichen Schulsystems, gipfelnd in dem Mythos, das „klassische Land der Schulen und Kasernen“ zu sein. Die für das Schulwesen richtunggebende Bedeutung Preußens hielt in Deutschland bis zum Ende der Weimarer Republik an. Die vorliegende Darstellung konzentriert sich deshalb auf die Entwicklung in Preußen, beginnend mit der Umbruchzeit rund 30 Jahre vor und nach 1800, in der im deutschen Schulwesen entscheidende Modernisierungsprozesse stattfanden.17 Sie geht aber punktuell auch auf die Entwicklung in anderen deutschen Ländern ein, etwa in den versuchsfreudigen Stadtstaaten Bremen und Hamburg vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Bedingt durch die deutsche Geschichte und der durch sie geprägten föderativen kulturstaatlichen Tradition wird deutsche Bildungsgeschichte bis heute vor allem in den Ländern geschrieben. Die Arbeit zeigt indes auch die Zäsuren in den beiden zentralistisch organisierten Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf. Sie beleuchtet die „Gleichschaltung“ des Schulwesens sowohl im Nationalsozialismus wie auch in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. Deutschen Demokratischen Republik und die damit in beiden Unrechtssystemen einhergegangene rigorose Absage an jedwede abweichende pädagogische Gedanken und deren ergebnisoffene Erprobung. Schließlich behandelt die Studie eingehend die Entwicklung und aktuelle Bedeutung des Schulversuchs in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei wird erneut ein Schwerpunkt auf das bevölkerungsreichste Land mit den mit Abstand meisten 17 Vgl.
zu letzterer Einschätzung: Heinrich Bosse, in: Nacim Ghanbari, Die Erfindung der Bildung. Gespräch mit Heinrich Bosse, in: Merkur. Zeitschrift für europä isches Denken 66 (2012), S. 691 ff.
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Einleitung: Historie, Pädagogik und Recht
Schulen und Schülern18 gelegt, Nordrhein-Westfalen. Dieses liegt überdies fast ausschließlich auf ehemals preußischem Gebiet, weshalb hier noch lange Zeit Teile des preußischen Schulrechts galten wie auch preußische Verwaltungsstrukturen und -traditionen fortwirkten. Schließlich gehört Nordrhein-Westfalen auch zu denjenigen Ländern, die das Instrument des Schulversuchs seit Jahrzehnten überdurchschnittlich zur Weiterentwicklung des Schulsystems nutzen. Aufgezeigt werden in der Arbeit die seit Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen unterschiedlichen reformpädagogischen Strömungen. Fast allesamt haben sich diese das Instrument des Schulversuchs zu eigen gemacht. Reformpädagogik und Schulversuch bildeten über Jahrzehnte eine untrennbare Einheit. Ohne Kenntnis der gerade in Deutschland ausgeprägten reformpädagogischen Bewegungen lässt sich die Bedeutung des Schulversuchs für die Herausbildung unseres heutigen modernen Schulwesens nicht erschließen. Aber auch staatliche Schulpolitik, in der Monarchie wie in der Demokratie Weimars und der Bundesrepublik gleichermaßen, setzte Schulversuche gezielt ein, um Reformideen in den Schulen zu erproben. Letzteres wird insbesondere vertieft behandelt für die Bildungsreformen der zurückliegenden 60 Jahre in West- und danach im wiedervereinigten Deutschland. Dabei wird im Einzelnen zu untersuchen sein, inwieweit der deutsche Bildungsföderalismus länderübergreifende Gemeinsamkeiten zugelassen hat und welche Verfahren der Koordinierung entwickelt wurden. Die getroffenen Vereinbarungen der Länder im Schulbereich seit Mitte der 1950er Jahre, aber auch schon Vorläufe im Kaiserreich und der Weimarer Republik sowie die besondere Rolle der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) werden zu beleuchten sein. Die vorliegende Arbeit zeigt eingehend die Gegenstände und Rahmenbedingungen von Schulversuchen bis in die heutige Zeit auf, wobei exemplarisch ein vollständiger Überblick über die aktuellen Schulversuche in Nordrhein-Westfalen gegeben wird. Abgerundet wird diese Arbeit in einem abschließenden Teil durch eine ausführliche Darstellung und Untersuchung der gegenwärtigen verfassungsrechtlichen und schulgesetzlichen Grundlagen des Schulversuchs. Auch hierbei steht exemplarisch die Verankerung im nordrhein-westfälischen Schulwesen im Mittelpunkt.
18 Die
nachfolgend verwendete männliche Form bezieht wie bei dem ebenfalls häufig verwendeten Begriff „Lehrer“ selbstverständlich die weibliche Form mit ein. Auf die Verwendung beider Geschlechterformen wird – mit Ausnahme von wörtlich wiedergegebenen Zitaten – lediglich mit Blick auf die bessere Lesbarkeit des Textes verzichtet.
Erster Teil
Der Schulversuch im deutschen, zumal im preußischen Schulwesen bis 1945 Erstes Kapitel
Verstaatlichung und Modernisierung des Schulwesens im 19. Jahrhundert I. Das deutsche Schulwesen im Mittelalter und der frühen Neuzeit Bis in das 19. Jahrhundert hinein gab es in Deutschland kein durchorganisiertes staatliches Schulwesen.1 Bildung und insbesondere „Schule halten“ war über Jahrhunderte aus Sicht der weltlichen Herrscher keine originäre Staatsaufgabe. Nur in kleinen Schritten und eher zögerlich hat sich der Staat nach Reformation und Aufklärung dieser Aufgabe angenommen und für die Gewährleistung eines geordneten Schulwesens in die Pflicht nehmen lassen.
1 Zur
Geschichte des deutschen Schulwesens bis zum 19. Jahrhundert allgemein: Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 2 Bde., 3. Aufl., Berlin/Leipzig 1919/1921; Albert Reble, Geschichte der Pädagogik, 22. Aufl., Stuttgart 2009; Martin Fuhrmann, Latein und Europa. Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem Großen bis Wilhelm II., 2. Aufl., Köln 2001; Notker Hammerstein/Ulrich Herrmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005; Karl-Ernst Jeismann/Peter Lundgreen (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band III: 1800–1870. Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches, München 1987; Gerhard Giese, Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800, Göttingen u.a. 1961; Leonhard Froese/Werner Krawietz, Deutsche Schulgesetzgebung, Bd. I: Brandenburg, Preußen und Deutsches Reich bis 1945, Weinheim u.a. 1968; Wolfgang Neugebauer, Norm und Konsens. Das vormoderne Schul- und Bildungsrecht in Mitteleuropa vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: RdJB 2012, S. 413-431.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
Im Mittelalter entstanden zunächst kirchliche „Lateinschulen“ in Form von Kloster-, Dom- und Stiftsschulen. Diese vermittelten vornehmlich die Grundbildung für geistliche Ämter, aber in einem allmählichen Prozess zunehmend auch für sonstige „gelehrte“ Berufe, insbesondere Juristen und Mediziner. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Städtewesens und dem Erstarken des Bürgertums im späten Mittelalter kam es zusätzlich zur Errichtung von Stadtoder Ratsschulen. In diesen war Latein ebenfalls zunächst alleinige Unterrichtssprache. Denn das Lateinische war nicht nur die Sprache der Kirche, sondern europaweit bis ins 17. Jahrhundert auch die Lingua franca von Wissenschaft, Verwaltung und Literatur. Bildung war ein Standesprivileg der – männlichen – Oberschicht. Schulen, die der allgemeinen Volksbildung dienten, wurden für alle anderen gesellschaftlichen Schichten im Mittelalter als nicht notwendig erachtet. Erst zu Beginn der Neuzeit wurden „deutsche“ Lese-, Schreib- und Rechenschulen gegründet, also mit Deutsch und nicht mehr Latein als Unterrichtssprache. Diese Schulen für weitere emporwachsende Kreise des Bürgertums waren die folgerichtige Reaktion auf gestiegene Anforderungen in Gewerbe und Handel. Sie wurden daher getragen von den Städten und oft auch den Zünften. Ein Großteil der Bevölkerung, vor allem in den ländlichen Gebieten, besuchte indes auch weiterhin gar keine Schule. Eine grundlegende Wende setzte mit der Reformation ein; die kurfürstlichen Landesherren in den protestantischen Territorien brachten nach und nach die Schulen unter ihre Obhut.2 Sie nahmen sich – auch in Anbetracht der ihnen überantworteten Leitungsgewalt über das evangelische Kirchenwesen – der neuen Aufgabe zunächst als einer Christenpflicht an. Sie stützen sich dabei auf Luther, der die weltliche Obrigkeit, d.h. den christlichen Adel und die Ratsherren aller Städte, aufgefordert hatte, für einen Unterricht in christlichen Schulen sowohl zum Verständnis der Heiligen Schrift wie auch wegen seiner Unentbehrlichkeit für das weltliche Leben Sorge zu tragen.3 Später sahen die Landesherren 2 Dazu eingehend: Achim Leschinsky/Peter Martin Roeder, Schule im historischen Prozeß. Zum Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Entwicklung, Stuttgart 1976, S. 39 ff. 3 Grundlegend sind zwei Schulschriften Luthers: Martin Luther, An die Ratsherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollen (1524), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 15, Weimar 1899, S. 9-53; Martin Luther, Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle (1530), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 30 II, Weimar 1909, S. 508588. Neuere Wiederabdrucke in: Karl Ernst Nipkow/Friedrich Schweitzer (Hrsg.), Religionspädagogik. Texte zur evangelischen Erziehungs- und Bildungsverantwortung seit der Reformation. Bd. 1: Von Luther bis Schleiermacher, München 1991, S. 46-57 bzw. S. 57-69. – Zur Bedeutung dieser Schulschriften: F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. I, S. 203-210; Giese, Quellen, S. 12; Horst F. Rupp, Schule/Schul-
1. Kap.: Modernisierung im 19. Jahrhundert
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die Schulen vorrangig als ein Instrument zur Erziehung ihrer Untertanen an,4 beeinflusst im Zeitalter des Merkantilismus nicht zuletzt auch aus ökonomischen Motiven. In den protestantischen Ländern unternahm man folgerichtig zudem die ersten Anläufe, die Bildung und damit Erziehung auf alle, also auch auf die unteren Schichten der Bevölkerung auszuweiten. Preußen führte 1717 durch königliche Verordnung in Ansätzen eine allgemeine Volksschulpflicht ein.5 Aufbauend auf dem sogenannten Generallandschulregiment von 17636 wurde diese erstmals kodifiziert in den §§ 43 bis 46 II 12 des Preußischen Allgemeinen Landrechts (ALR) von 1794. Gleichzeitig war im Schulkapitel des Allgemeinen Landrechts „Von niedern und höhern Schulen“ geregelt, dass die Schulen „Veranstaltungen des Staates“ waren, die – gleich ob öffentlich oder privat – nur mit dessen Genehmigung errichtet werden konnten und dessen Aufsicht unterlagen (§§ 1, 2, 4 und
wesen, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller, Theologische Realenzyklopädie, Bd. 30, Berlin/New York 1999, S. 599 f.; Henning Schluss, Martin Luther und die Pädagogik – Versuch einer Re-konstruktion, in: Vierteljahreschrift für wissenschaftliche Pädagogik 76 (2000), S. 321-353. 4 Dieser Beweggrund ist seitdem in Deutschland, unabhängig von der Staatsform, immer von zentraler Bedeutung geblieben. „Polizeistaat wie Demokratie haben im allgemeinen Schulzwang wie in der allgemeinen Wehrpflicht die wirksamsten Machtinstrumente zur gleichschaltenden Erziehung ihrer Untertanen gesehen.“ Zitat: Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, Berlin 1968, S. 200. – Siehe auch die Feststellung des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung 1969: „Die Schule der Nation ist die Schule“ (Deutscher Bundestag, 5. WP, Stenogr. Protokoll der 5. Plenarsitzung v. 28.10.1969, S. 27). 5 „Verordnung, dass die Eltern ihre Kinder zur Schule, und die Prediger die Catechisationes, halten sollen“ des Königs Friedrich Wilhelm I. v. 28.09.1717 (Corpus Constitutionum Marchicarum, Teil I, Abt. I, Nr. XCVII, Sp. 527–530; online einsehbar: http://web-archiv.staatsbibliothek-berlin.de/altedrucke.staatsbibliothek-berlin.de/ Rechtsquellen/CCMT11/start.html.), abgedruckt auch bei: Froese/Krawietz, Schulgesetzgebung, S. 91. – Zur weitgehenden Wirkungslosigkeit dieses Edikts: Wolfgang Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preussen, Berlin 1985, S. 172 f. 6 „General-Land-Schul-Reglement“ Friedrichs des Großen v. 12.08.1763 (Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium praecipue Marchicarum, Bd. 3, Nr. 53, Sp. 265-282; online einsehbar: http://web-archiv.staatsbibliothek-berlin.de/altedrucke.staatsbibliothek-berlin.de/Rechtsquellen/NCCT31763/start.html), abgedruckt auch bei: Froese/Krawietz, Schulgesetzgebung, S. 105 ff. – Zur Bedeutung ebenfalls: Neugebauer, ebenda, S. 178 f.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
9 II 12 ALR).7 Der hierin erhobene staatliche Anspruch entsprach aber durchweg noch längst nicht der Schulwirklichkeit.8 Die „höheren“ Schulen, auch im aufstrebenden Preußen, waren und blieben zunächst ein bunter Flickenteppich von Bildungsanstalten unterschiedlichster Größenordnung. Sie waren in ihren pädagogischen Ausrichtungen und Möglichkeiten geprägt und abhängig von den jeweiligen verschiedenen Trägern, also vor allem von den Städten, aber auch von Bistümern, Kirchengemeinden, Orden, Stiftungen, Gutsbesitzern, einzelnen vermögenden Privatleuten oder Adelshäusern. Staatlicherseits waren weder ein einheitlicher Fächerkanon vorgegeben noch vergleichbare Lerninhalte.9 Die Zustände in den „niederen“ Schulen, soweit es in ländlichen Gebieten solche überhaupt gab, waren noch kläglicher: überfüllte Klassen allerorten, dürftige, nicht anspruchsvolle Lerninhalte, unregelmäßiger Unterricht sowie schlecht ausgebildete Lehrpersonen, die oft nur mit Naturalien bezahlt wurden.10 Der preußische Staat stellte genauso für die sich als unterste Schulform schrittweise herausbildenden Volksschulen zunächst keine finanzielle Unterstützung bereit; sie wurden nur aus lokalen Mitteln finanziert. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts betrugen die Zuschüsse des preußischen Staates zu den Schulkosten weniger als 5 % der Gesamtkosten, während knapp 75 % von den Kommunen und mehr als 20 % durch Schulgeld der Eltern aufgebracht wurden.11 Die Schulgeldfreiheit für Volksschüler wurde in Preußen erst 1888 eingeführt. 7 Siehe: Allgemeines Landrecht für die preussischen Staaten von 1794, Textausgabe hrsg. v. Hans Hattenhauer/Günther Bernert, 3. Aufl., Neuwied 1996; Abdruck nur der schulrechtlichen Vorschriften des ALR, Teil II, 12. Titel „Von niedern und höhern Schulen“ bei: Froese/Krawietz, Schulgesetzgebung, S. 127 ff. 8 Vgl. auch: Giese, Quellen, S. 14.; Bärbel Holtz/Christina Rathgeber/Hartwin Spenkuch/Reinhold Zilch, Die Politik des Kultusministeriums gegenüber dem schulischen Bildungswesen. Einleitung, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Acta Borussica. Neue Folge. 2. Reihe: Preussen als Kulturstaat, Abteilung I. Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Bd. 2.1: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen. Darstellung, Berlin 2010, S. 3. 9 Siehe dazu insbesondere: Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft, Bd. 1: Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten 1787–1817, 2. Aufl., Stuttgart 1996, S. 44-68. 10 Vgl.: Gerd Friedrich, Das niedere Schulwesen, in: Jeismann/Lundgreen, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. III, S. 123-152; Wolfgang Neugebauer, Schule und Absolutismus in Preußen. Akten zum preußischen Elementarschulwesen bis 1806, Berlin/New York 1992 (Einführung); ders., Schulwirklichkeit, S. 209 ff. 11 Zu den Zahlenangaben: Hans-Georg Herrlitz/Wulf Hopf/Hartmut Tietze/Ernst Cloer, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart, 5. Aufl., Weinheim/ München 2009, S. 53; Ekkehard Stein/Monika Roell, Handbuch des Schulrechts,
1. Kap.: Modernisierung im 19. Jahrhundert
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Um 1800 besuchte in Preußen nur die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder eine Schule, im Jahre 1816 waren es durchschnittlich auch nur rund 60 %, allerdings 1846 dann immerhin schon 86 % und ein 100 %iger Schulbesuch wurde in den 1880er Jahren erreicht.12
II. Erste Schulversuche als Impulsgeber für eine Modernisierung und Verstaatlichung des Schulwesens In dieser ungeordneten schulischen Situation der frühen Neuzeit entwickelten einzelne Pädagogen, Theologen oder Privatleute Reformideen und führten erste „Versuche“ mit neuen Schulformen und Unterrichtsmethoden durch. Sie gründeten dazu häufig auch eigene Schulen. Da es freilich noch kein staatliches Schulwesen gab, waren dies keine Schulversuche im heutigen juristischen Verständnis, sondern nur in einem rein pädagogischen Sinne. Die Reformer trugen – ganz im Gegenteil – ihre pädagogischen Vorstellungen als Forderungen an den Staat heran mit dem Ziel, diesen stärker in die Verantwortung für ein geordnetes Schulwesen zu nehmen. Früheste Beispiele13: ● Johann Julius Hecker, Einrichtung einer ökonomisch-mathematisch orientierten Realschule in Berlin, 1747;14
2. Aufl., Bottighofen am Bodensee 1992, S. 14. – Zur Einführung der Schulgeldfreiheit näher in diesem Kapitel unter III 4) b). 12 Zu den Schulbesuchsquoten: Volkmar Wittmütz, Die Preußische Elementarschule im 19. Jahrhundert, in: Stefan Fisch/Florence Gauzy/Chantal Metzger (Hrsg.), Lernen und Lehren in Frankreich und Deutschland, Stuttgart 2007, S. 23; Herrlitz u.a., Schulgeschichte, S. 50 f.; Bärbel Holtz/Christina Rathgeber, Zwischen Bildungskonzept und Bildungsweg – Lokale Schulhoheit und Intensivierung des Staatsdurchgriffs (1817 bis 1866), in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat, Bd. 2.1, S. 30 (mit Quellenangabe der amtlichen preußischen Statistik). 13 Näher dazu: Lassahn/Stach, Schulversuche, insb. S. 11 ff., 29 ff., 85 ff. m.w.N.; Dietrich Benner/Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus, 3. Aufl., Weinheim/Basel 2009, S. 85 ff.; Leschinsky/Roeder, Schule, S. 174 ff., 344 ff.; Schmitt, Versuchsschulen, S. 154 ff. 14 Siehe dazu auch: Johann Julius Hecker, Nachricht von einer OeconomischMathematischen Real-Schule (1747) in: Berthold Michael/Heinz-Hermann Schepp (Hrsg.), Politik und Schule von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Eine Quellensammlung zum Verhältnis von Gesellschaft, Schule und Staat im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1973, S. 83-87.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
● Friedrich Eberhard von Rochow, Gründung einer Muster-Dorfschule in Reckahn/Brandenburg zur Verbesserung des Landschulwesens (Vorläufer der preußischen Volksschule), 1773; ● Johann Bernhard Basedow, Gründung des Philanthropinums in Dessau als philanthropische Musterschule im höheren Schulwesen, 1774;15 ● Reinhold Bernhard Jachmann / Franz Ludwig Carl Friedrich Passow, Etablierung eines der ersten neuzeitlichen humanistischen Gymnasien am Conradinum in Jenkau bei Danzig, 1801/1810. Die Staatlichkeit der Schule galt als „Bürgschaft für die Freiheit der Schule“.16 Oder anders ausgedrückt: „Nur vom Staat konnte man erwarten, daß er gegen15 Immanuel Kant, der, wie eingangs zitiert, eine Wertschätzung für Experimentalschulen zeigte, hob in seinen zeitgenössischen Universitätsvorträgen „Über Pädagogik“ besonders das Philanthropinum in Dessau hervor, weil es den Lehrern ausreichende pädagogische Freiheit gelassen habe: „Man bildet sich zwar insgemein ein, daß Experimente bei der Erziehung nicht nötig wären, und daß man schon aus der Vernunft urteilen könne, ob etwas gut, oder nicht gut sein werde. Man irret hierin aber sehr, und die Erfahrung lehrt, daß sich oft bei unsern Versuchen ganz entgegengesetzte Wirkungen zeigen von denen, die man erwartete. Man sieht also, daß, da es auf Experimente ankommt, kein Menschenalter einen völligen Erziehungsplan darstellen kann. Die einzige Experimentalschule, die hier gewissermassen den Anfang machte, die Bahn zu brechen, war das Dessauische Institut. Man muß ihm diesen Ruhm lassen, ohngeachtet der vielen Fehler, die man ihm zum Vorwurf machen könnte; Fehler, die sich bei allen Schlüssen, die man aus Versuchen macht, vorfinden, daß nämlich noch immer neue Versuche dazu gehören. Es war in gewisser Weise die einzige Schule, bei der die Lehrer die Freiheit hatten, nach eigenen Methoden und Planen zu arbeiten, und wo sie unter sich sowohl, als auch mit allen Gelehrten in Deutschland in Verbindung standen.“ Zitiert in der Fassung: Kant, Über Pädagogik, Werke in sechs Bänden, Bd. VI, S. 708 f. 16 So prägnant für die preußischen Schulreformer Anfang des 19. Jahrhunderts: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I: Reform und Restauration 1789–1830, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1967, S. 265: „Die ausschließliche Bindung der Schule an den Staat bedeutete den Reformern zugleich eine Bürgschaft für die Freiheit der Schule, weil nach wie vor der gegenüber Konfessionen und Ideologien neutrale Staat als der Garant der Freiheit im Bildungswesen erschien.“ – Siehe auch: ders., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV: Struktur und Krisen des Kaiserreiches, Stuttgart 1969, S. 894. Vgl. auch: Neugebauer, Schulwirklichkeit, S. 621; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1994, S. 532. Ein späteres beeindruckendes Dokument hierzu ist der Antrag von 23 Abgeordneten der Verfassungsgebenden Preußischen Nationalversammlung im Zuge der Beratungen der preußischen Verfassungsurkunde von 1848/1850. Die meisten waren von Beruf Lehrer, am bekanntesten der fortschrittliche Pädagoge Adolph Diesterweg. In ihrem Antrag v. 21.07.1848 hieß es in § 1: „Die Schule ist Staatsanstalt; sie ist von der Kirche unabhängig.“ § 2 lautete: „Der Staat gewährleistet dem Kinde jedes Preußen den zur allgemeinen Menschen-, Bürger- und Nationalbildung erforderlichen Unterricht.“ Und
1. Kap.: Modernisierung im 19. Jahrhundert
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über privaten Winkelschulen, Geistlichenherrschaft und lokalem Filz die Sachlichkeit und Unabhängigkeit durchsetzte, die das Schulwesen brauchte. Nur der Staat konnte ein allgemeines und ‚modernes‘ Bildungswesen garantieren.“17 In der Geschichte der deutschen Pädagogik steht der Begriff Schulversuch deshalb nicht nur für Reformen im Rahmen eines staatlich regulierten und beaufsichtigten Schulsystems. Im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts hatten Schulversuche oder Schulreformen häufig eine diametral entgegengesetzte Stoßrichtung: die staatliche Durchdringung des bis dahin von den Kirchen und lokalen Schulträgern geprägten Schulwesens.18 Solange die staatliche Schulhoheit aber noch nicht durchgesetzt war, stellte sich bei pädagogischen Schulversuchen nicht die Frage einer Abweichung von schulgesetzlichen oder sonstigen schulrechtlichen Regelungen. In Preußen waren in den Schulvorschriften des Allgemeinen Landrechts neben der Schulpflicht und der Schulaufsicht nur noch rudimentär einzelne Fragen der Schulgliederung und -ordnung, die Rechtsverhältnisse der Lehrer und „Schulaufseher“ sowie der Unterhalt der Schulgebäude geregelt.19 Dabei ist zwar zu beachten, dass ältere, schließlich § 6: „Der Staat überwacht alle Erziehungs- und Unterrichtsanstalten ohne Ausnahme.“ Abdruck: Zur Schulfrage – „Antrag der 23“ (1848), in: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 345. Siehe auch das „Manifest des Berliner Arbeiterkongresses an die deutsche Natio nalversammlung und Schulforderungen“ aus dem Jahre 1848, dessen § 1 fast wortgleich war: „Die Schule ist Staatsanstalt und wird als solche von der Kirche getrennt.“ Abdruck bei: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 367-371. 17 Zitat: Andreas Flitner, Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts, 3. Aufl., Weinheim/Basel 2001, S. 16. 18 In Preußen führte die zunehmende Verstaatlichung des Schulwesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts später sogar dazu, dass dort das private Volksschulwesen nur noch als nachrangig festgeschrieben wurde. In einem Ministerialerlass v. 31.12.1839 wurde für den Bereich der Volksschule der Vorrang der öffentlichen Schule proklamiert: „Privatschulen und Privaterziehungsanstalten sollen nur da, wo sie einem wirklichen Bedürfnisse entsprechen, also nur an solchen Orten gestattet werden, wo für den Unterricht der schulpflichtigen Jugend durch die örtlichen Anstalten nicht ausreichend gesorgt ist. … Das in der öffentlichen Schule verkörperte Gemeininteresse geht allen entgegenstehenden privaten Interessen voran.“ Zitiert nach: Georg Wolff, Die rechtlichen Beziehungen der Schule zu Familie, Gemeinde, Kirche und Staat, in: Herman Nohl/Ludwig Pallat (Hrsg.), Handbuch der Pädagogik, Bd. IV: Die Theorie der Schule und der Schulaufbau, Langensalza 1928 (Nachdruck Weinheim 1966), S. 60. – Siehe zum Ruf nach öffentlicher Staatserziehung durch Schulreformer Ende des 18. Jahrhunderts auch: Jeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 68-76. 19 Zum ALR gab es allerdings eine Vielzahl von normausführenden und -interpretierenden Verordnungen und Ministerialverfügungen. Siehe deren Sammlung und Abdruck bei: Johann Daniel Ferdinand Neigebaur, Sammlung der auf den öffentlichen Unterricht in den Königl. Preußischen Staaten sich beziehenden Gesetze und Verordnungen, Hamm 1826; Nachdruck mit einer Einleitung, hrsg. v. Wolfgang Neugebauer,
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
auch provinziale Vorschriften zum Schulwesen, soweit sie nicht im Widerspruch zum ALR standen, durch dieses nicht aufgehoben wurden und demzufolge fortgalten.20 Aber auch in diesen Rechtsquellen wird man nicht fündig. Ein 1819 von Johann Wilhelm Süvern (1775–1829), einem hohen Schulbeamten im preußischen Innenministerium, verfasster, maßgeblich von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) beeinflusster Entwurf eines allgemeinen Schul gesetzes wurde nicht verabschiedet. Wegen seiner liberalen Prinzipien stieß er insbesondere auf den Widerspruch der Kirchen und restaurativer Kräfte.21 Im damaligen Preußen „wurden grundsätzliche schulpolitische Fragen, wie beispielsweise zur Lehrerbildung, zum Schulbesuch und Lehrstoff, zu Prüfungen sowie zur Finanzierung der Schulen, nicht gesetzlich geregelt, sondern auf dem Weg der Spezialgesetzgebung sowie durch Einzelanordnungen administrativ entschieden“.22
Köln/Wien 1988; Adolph Heckert (Hrsg.), Handbuch der Schulgesetzgebung Preußens, Berlin 1847, S. 1-71. 20 Vgl.: Reinhard Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 2. Aufl., Stuttgart 1975, S. 38 ff.; Neugebauer, Einleitung, ebenda, S. IX m.w.N., auch aus dem zeitgenössischen Schrifttum. 21 „Entwurf eines allgemeinen Gesetzes über die Verfassung des Schulwesens im preußischen Staat“ v. 27.06.1819, abgedruckt in: Die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Unterrichtswesens in Preußen von 1817 bis 1868, Amtlich, Berlin 1869, S. 17 ff.; auszugsweise bei: Albert Reble, Geschichte der Pädagogik. Dokumentationsband, 4. Aufl., Stuttgart 1999, S. 423 ff. – Der Gesetzentwurf gliederte sich in zwei Teile (öffentliche allgemeine Schule, Privatschule) und baute die öffentlichen Schulen – als Grundlage der gesamten „Nationalerziehung“ – in drei Stufen (allgemeine Elementarschule, allgemeine Stadtschule und Gymnasium) auf. Dazu ausführlich: Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft, Bd. 2: Höhere Bildung zwischen Reform und Reaktion 1817–1859, Stuttgart 1996, S. 103-115. Der Entwurf scheiterte auch am konservativen Widerstand innerhalb des Kultusministeriums. Bekanntheit erlangte die ablehnende Stellungnahme des Ministerialbeamten Ludolph von Beckedorff (1778–1858), der ab 1821 die Leitung der für das Volksschulwesen zuständigen Arbeitseinheit übernahm. Wegen der naturgemäßen Ungleichheit der Menschen forderte er die Beibehaltung von verschiedenartigen Berufs- und Standesschulen und wandte sich gegen ein Konzept gleicher allgemeiner Bildung. Abdruck in: Lothar Schweim (Hrsg.), Schulreform in Preußen 1809–1819. Entwürfe und Gutachten, Weinheim 1966, S. 222-244. Ausführlich zum damaligen Konflikt: Lothar Dittmer, Beamtenkonservatismus und Modernisierung. Untersuchungen zur Vorgeschichte der Konservativen Partei in Preußen 1810–1848/49, Stuttgart 1992, S. 99 ff.; Holtz/ Rathgeber, Bildungskonzept (Fn. 12), S. 13 ff. 22 Zitat: Holtz/Rathgeber, ebenda, S. 20.
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III. Die Humboldt’sche Bildungsreform – ein administrativ gesteuerter Modernisierungsversuch 1. Neuhumanistisches Bildungsideal einer allgemeinen Menschenbildung Obwohl der erste umfassende preußische Schulgesetzentwurf 1823 scheiterte, wurde das hinter diesem stehende, von Humboldt in seiner kurzen Zeit als erster Leiter der neu geschaffenen Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht im preußischen Innenministerium (Februar 1809–Juni 1810) auf den Weg gebrachte bildungspolitische Erneuerungskonzept dafür auf der administrativen Ebene umso nachhaltiger verfolgt. Dies geschah insbesondere bei der Reform der Gymnasien, wie ab 1812 in Preußen die leistungsfähigeren größeren Lateinschulen amtlich firmierten. Die Humboldt’sche Bildungsreform war ein wesentlicher Eckpfeiler der Reorganisation des preußischen Staates nach dem nationalen Trauma der Niederlage von 1806/1807 gegen das Frankreich Napoleons. Sie stand in einem engen Zusammenhang mit den anderen Teilen des Stein-Hardenberg’schen Staatsreformprogramms in der damaligen Krisensituation: Bauernbefreiung, Judenemanzipation, Gewerbefreiheit, Reform der Gemeindeordnung, Verwaltungsreform, Heeresreform. Alle diese Reformen erforderten, um erfolgreich zu sein, den gebildeten Staatsbürger. Außerdem machte man für die Niederlage gegen Frankreich nicht nur militärische, sondern auch politisch-moralische Ursachen verantwortlich.23 Ein Synonym für den Willen zu umfassenden Reformen nicht zuletzt im Erziehungswesen wurde der Ausspruch des damaligen preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) im Jahre 1807: „Der Staat muß durch geistige Kraft ersetzen, was er an physischer verloren hat.“24
23 Vgl.:
Fuhrmann, Geschichte des gelehrten Unterrichts, S. 137. nach: Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 64. – Den berühmten Ausspruch soll König Friedrich Wilhelm III. am 10.08.1807 in der ostpreußischen Stadt Memel, wohin König und Regierung nach der Niederlage gegen Frankreich in der Schlacht von Jena und Auerstedt geflohen waren, bei einer Audienz für eine Deputation von Professoren der durch Napoleon aufgelösten Universität Halle getätigt haben. Diese hatten um eine Verlegung ihrer Universität nach Berlin ersucht. Der König hatte freilich mit seiner Forderung, wie sich kurz darauf herausstellte, die 1810 erfolgte Neugründung einer Universität in Berlin im Sinn, der später nach ihm benannten Berliner „Friedrich Wilhelms Universität“ und (seit 1949) heutigen Humboldt-Universität. Vgl.: Wilhelm Paszkowski, Berlin in Wissenschaft und Kunst. Ein Akademisches Auskunftsbuch nebst Angaben über akademische Berufe, Berlin 1910, S. 7; dort ebenfalls auch Wiedergabe des Zitats. Zur Universitätsgründung auch: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 288. 24 Zitiert
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Humboldt und seine Mitreformer verwarfen das utilitaristische, der Aufklärung verhaftete französische Schul- und Hochschulmodell einer auf unmittelbare Verwertung für das praktische Leben, Beruf und Gewerbe ausgerichteten Wissensvermittlung, das bis dahin weitgehend ebenfalls die Schulwirklichkeit in den deutschen Ländern bestimmt hatte. Sie setzten dem das Ideal einer ganzheit lichen Bildung im Sinne des deutschen Idealismus, der Weimarer Klassik und des Neuhumanismus entgegen. Statt Orte reiner Wissensvermittlung zu sein sollten Schulen (und Universitäten) eine umfassende Bildung des jungen Menschen, die „allgemeine Menschenbildung“, zum Ziel haben. Allgemeinbildung soll der (fachlichen) Berufsbildung vorausgehen und von dieser getrennt sein. Nicht der gesellschaftliche Nutzen der Bildung steht im Vordergrund, sondern dessen Wert für die Entfaltung des Individuums. „Sich-bilden“ wird nicht betrieben, um ein materielles Ziel zu erreichen, sondern um der eigenen Vervollkommnung willen.25 Zwar strebte Humboldt eine humanistische Bildung für Kinder aller Schichten der Bevölkerung an. In der Praxis wurde dieses Ideal aber zunächst nur für eine Minderheit von unter 10 % verwirklicht, den Söhnen vorwiegend aus den oberen Gesellschaftsschichten in den höheren Schulen und hier speziell der Gymnasien, dort allerdings mit lang andauernder Wirkung bis ins 20. Jahrhundert.26 2. Herausbildung des preußischen Gymnasiums im Schraubstock ministerieller Vorgaben und schulaufsichtlicher Kontrolle a) Wiederbelebung der alten Sprachen und der antiken Kultur Im neuhumanistischen Gymnasium des 19. Jahrhunderts nahmen die alten Sprachen Latein und Griechisch und das hierdurch angestrebte Eindringen in die 25 Siehe zum Humboldt’schen Bildungsideal statt vieler: Clemens Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover u.a. 1975; Dietrich Benner, Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, Weinheim 1990; Rudolf Valentin, Wilhelm von Humboldts Bildungs- und Erziehungskonzept. Eine politisch motivierte Gegenposition zum Utilitarismus der Aufklärungspädagogik, München 1999. – Zu Recht weist Fuhrmann (Geschichte des gelehrten Unterrichts, S. 140) darauf hin, dass heute vieles Humboldt zugesprochen werde, was andere Reformer mit angestoßen oder umgesetzt hätten, andererseits er aber der führende, integrierende Geist der großen preußischen Bildungsreform gewesen sei. 26 Mit seinem Ziel, ein einheitliches, vollkommen integriertes Schulsystem zu schaffen, scheiterte Humboldt. Dieser Aspekt der Humboldt’schen Bildungsreform wurde in der rückblickenden Bewertung früher oftmals ausgeblendet.
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antike Kultur breiten Raum ein. Sie füllten – jedenfalls nach den Lehrplänen – in der Unterstufe rund ein Drittel und in der Mittel- und Oberstufe fast die Hälfte des Stundenplans.27 Das Studium insbesondere des auf Humboldts Einflussnahme wiederentdeckten griechischen Altertums galt als Weg zur Erneuerung von Mensch, Gesellschaft und Staat.28 Damit einher gingen eine Aufwertung des muttersprachlichen Unterrichts und eine Zurückdrängung des Französischen, das 1818 aus dem Fächerkanon des humanistischen Gymnasiums gestrichen wurde. Der adlig-barocken, als Überfremdung und selbstsüchtig empfundenen „französischen“ Erziehung wurde die „deutsche“ des Bürgers gegenüber gestellt.29 Bildung wird zur Nationalerziehung, so wie von Johann Gottlieb Fichte (1762– 1814) in seinen „Reden an die deutsche Nation“ (1807/1808) mit erheblicher öffentlicher Breitenwirkung eingefordert. 30 b) Normierung des Abiturs und Einführung einer Gymnasiallehrerprüfung Zwar hatte Preußen bereits 1788 als erstes deutsches Land das Abitur als Abschlussprüfung an den höheren Schulen eingeführt. Nach den Ideen Humboldts wurde 1812 allerdings erstmals genau in einer Abiturprüfungsordnung 27 Siehe preußische Gymnasial-Lehrplanempfehlung v. 1816, (abgedruckt bei: Fuhrmann, Geschichte des gelehrten Unterrichts, S. 149; Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 708 f.; zur konkreten Umsetzung: Roland Götz, Das Archigymnasium in Soest 1789–1820, Münster 2009, S. 335) und preußischer Gymnasial-Lehrplan v. 1837 (abgedruckt bei: Jeismann, ebenda, S. 710). – Für das württembergische Schulwesen: Jürgen Oelkers, Das Gymnasium: Ein auslaufendes Modell?, 2010 (Online-Ressource: http:// paed-services.uzh.ch/user_downloads/1832/WienGymnasium.pdf), S. 12. In Bayern wurden in den „lateinischen Zweigen“ der Gymnasien mehr als 60 % des Unterrichts auf die alten Sprachen verwandt. Siehe Hinweis bei: Heinz-Elmar Tenorth, Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, 5. Aufl., Weinheim/München 2010, S. 146. 28 Zur anfänglichen zeitgenössischen kirchlichen Kritik, insbesondere aus Kreisen der katholischen Kirche, gegen die neuhumanistische Begeisterung für das „heidnische“ griechische Altertum: Hans-Michael Körner, Der Humanismus-Realismus-Streit des 19. Jahrhunderts und seine kirchlich-religiöse Dimension, in: Rudolf Schieffer (Hrsg.), Kirche und Bildung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2001, S. 53-66, insb. S. 57 ff. 29 Vgl.: Jeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 239, 380. 30 Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation (Berlin 1808), neu hrsg. v. Fritz Medicus, Leipzig 1919. – Dazu eingehend: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 271 ff.; Jeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 236 ff.; Ulrich Herrmann, Von der „Staatserziehung“ zur „Nationalbildung“. Nationalerziehung, Menschenbildung und Nationalbildung um 1800 am Beispiel von Preußen, in: ders. (Hrsg.), Volk – Nation – Vaterland, Hamburg 1996, S. 207-220, insb. S. 216 ff.
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festgelegt, welche Inhalte überprüft werden sollten, wobei erst 1834 das Abitur („Maturitäts-Zeugnis“) als Zugangsvoraussetzung für die Universität festgeschrieben wurde.31 Die Prüfungsordnung „war ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Durchsetzung bürgerlicher Bildungs- und Leistungsvorstellungen und zur Förderung bürgerlichen Aufstiegs auf dem Weg über Bildung.“32 Auf Humboldt geht ebenfalls die Einführung einer eigenen Berufseingangsprüfung für Gymnasiallehrer im Jahre 1810 als Vorläufer des späteren Staatsexamens zurück.33 Dadurch kam ein eigener Stand der Gymnasiallehrer als höherer Staatsdiener auf. Gleichzeitig wurde ein Schlussstrich unter eine bereits vorher begonnene Verselbstständigung von den jahrhundertelang das gelehrte Schulwesen dominierenden Theologen gezogen. 1826 führte das preußische Kultusministerium sodann noch ein Probejahr für angehende Gymnasiallehrer mit einer abschließenden pädagogischen Prüfung, das Zweite Staatsexamen, ein.34
31 Abdruck
Abiturreglement v. 1834: Heckert, Handbuch der Schulgesetzgebung, S. 521. – Nach den Abiturreglements von 1788 und 1812 war nur die Ablegung einer Abiturprüfung verpflichtend. Man erhielt bei Nichtbestehen ein Zeugnis der „Untüchtigkeit“, konnte aber trotzdem auch ein Studium aufnehmen. Diese „Abiturienten“ blieben allerdings von Stipendien ausgeschlossen. Sie mussten die Prüfung bis zum Abschluss eines Studiums durch ein Staatsexamen nachholen, was ursprünglich bei einer Prüfungskommission an der Universität, ab 1812 aber nur vor einer gemischten Kommission aus Gymnasialdirektoren und Universitätsprofessoren möglich war. Siehe: Jeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 107 ff., 376 ff. und Bd. 2, S. 209 ff.; Fuhrmann, Geschichte des gelehrten Unterrichts, S. 147 f.; Rainer Bölling, Kleine Geschichte des Abiturs, Paderborn 2010, S. 29 ff.; Holtz/Rathgeber, Bildungskonzept (Fn. 12), S. 47 f. 32 Zitat: Jeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 378. 33 „Edikt v. 12.07.1810, betr. die Prüfung der Schulamtscandidaten und der zu Schulämtern vorgeschlagenen Subjecte“, abgedruckt in: Ludwig von Rönne, Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates, Zweiter oder besonderer Teil, Bd. 2: Die höheren Schulen und die Universitäten des Preußischen Staates, Berlin 1855, S. 22; Heckert, Handbuch, S. 508; auszugsweise bei: Reble, Geschichte der Pädagogik. Dokumentationsband, S. 407. 34 „Rescript v. 24.09.1826, daß die Schulamtscandidaten sich vor ihrer definitiven Anstellung im practischen Unterrichte üben sollen“, abgedruckt in: Heckert, Handbuch der Schulgesetzgebung, S. 512; später als § 33 in das Edikt v. 1810 wegen Prüfungen für das höhere Lehramt aufgenommen, Abdruck bei: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 2, S. 50. – Siehe dazu: Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 247; Jeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 333 ff., wobei Letzterer darauf hinweist, dass zunächst auch beabsichtigt gewesen war, für Lehrer an Volks- und niederen Bürgerschulen eine Staatsprüfung einzurichten, zu der es aber nicht mehr kam. Dies trug maßgeblich dazu bei, dass sich der Gymnasiallehrerstand im sozialen Status und Ansehen immer stärker von den anderen Lehrern abheben konnte.
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c) Schaffung effektiver schulaufsichtlicher Strukturen speziell im Gymnasialbereich Aus der einstmals von Humboldt geleiteten Kultussektion im Innenministerium war 1817 das preußische Kultusministerium („Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“) erwachsen35 und damit eine der wichtigsten institutionellen Voraussetzungen für eine staatliche Bildungspolitik geschaffen worden.36 Bereits in den Jahren zuvor hatte man mit dem Aufbau einer umfassenden und immer effektiver arbeitenden nachgeordneten staatlichen Schulaufsichtsverwaltung begonnen. Hierbei wurden die kommunalen Mitwirkungsrechte sukzessive – wie im heutigen deutschen Schulwesen – auf die äußeren Schulangelegenheiten einschließlich der finanziellen Schulträgerschaft reduziert. Im Jahre 1817 fand nunmehr gleichzeitig auf der Ebene der staatlichen Mittelbehörden eine für die Weiterentwicklung der Schulformen folgenschwere Trennung statt. Die höheren Schulen unterstanden ab jetzt unmittelbar einer eigenen, auch mit Pädagogen besetzten Staatsaufsicht in den Provinzialverwaltungen, sogenannten Konsistorien, und ab 1825 sogar nur noch acht allein für die höheren Schulen zuständigen „Provinzialschulkollegien“.37 Die Elementar- und Bürgerschulen sowie die Privaterziehungsanstalten standen hingegen unter einer allgemeinen Verwaltungsaufsicht in den – den Provinzialverwaltungen nachgeordneten – Königlichen Regierungen der 26 Regierungsbezirke, wenn auch mit
35 Die Einrichtung des Kultusministeriums erfolgte mit Kabinettsorder des Königs v. 03.11.1817, abgedruckt in: PrGS 1817, S. 289. Abdruck auch in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Acta Borussica. Neue Folge. 2. Reihe: Preussen als Kulturstaat, Abteilung I. Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Bd. 1.2: Die Behörde und ihr höheres Personal. Dokumente, Berlin 2009, S. 16. – Zur Gründungsgeschichte: Christina Rathgeber, Strukturelle Vorgeschichte und Gründung des Kultusministeriums, in: BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Acta Borussica. Neue Folge. 2. Reihe: Preussen als Kulturstaat, Abteilung I. Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Bd. 1.1: Die Behörde und ihr höheres Personal. Darstellung, Berlin 2009, S. 4 ff. 36 Siehe dazu eingehend: Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 43 ff.; Holtz/Rathgeber, Bildungskonzept (Fn. 12), S. 11 ff. – Erstmals war eine zentrale staatliche Behörde für die Unterrichtsverwaltung, allerdings mit noch sehr beschränkten Befugnissen, 1787 mit dem „Oberschulkollegium“ in Berlin eingerichtet worden. Auf ministerieller Ebene bildete die Spitze der preußischen Unterrichtsverwaltung seit Beginn des 18. Jahrhunderts das „Departement der geistlichen Sachen“ im Justizministerium. Siehe dazu: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 277 ff.; Jeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 101 ff. 37 „Instruction für die Consitorien v. 23.10.1817“ und „Cabinets-Ordre v. 31.12.1825, betr. einige Abänderungen in der bisherigen Organisation der Verwaltungsbehörden“, abgedruckt in: Heckert, Handbuch, S. 450 bzw. S. 460; Neigebaur, Sammlung, S. 5 und 455.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
den Provinzialschulkollegien als oberer Aufsicht in inneren Schulangelegen heiten.38 Zudem blieben die sämtlich konfessionellen Elementarschulen in den ländlichen Gemeinden weiterhin – wie schon seit dem 18. Jahrhundert – unter der örtlichen Aufsicht eines mit Vertretern der Pfarrgemeinden besetzten Schulvorstandes, mitunter auch eines Guts- und Großgrundbesitzers als kirchlichem Patron, und des Pfarrers als „Lokal-Inspektors“. Diese wiederum unterstanden der Aufsicht eines vorgesetzten geistlichen „Kreis-Schulinspektors“, in der Regel des Superintendenten bzw. Dechanten, und des Landrates als Organ der Regierung.39 In den Städten lag seit der Städteordnung von 1808 die unmittelbare Aufsicht über die Elementar- und Bürgerschulen bei weitgehend mit Geistlichen besetzten städtischen Schuldeputationen sowie dem Magistrat.40 Während also die Elementar- und Mittelschulen immer noch hauptsächlich von Geistlichen und Verwaltungsjuristen beaufsichtigt wurden, trug die durch die Provinzialschulkollegien ermöglichte enge fachaufsichtliche Begleitung der Gymnasien wesentlich mit dazu bei, den Abstand zwischen dem höheren und niederen Schulwesen im Hinblick auf Schulausstattung, Lehrerbesoldung und -qualifikation sowie sozialer Stellung weiter nachhaltig zu vergrößern.41
38 „Instruction für die Regierungen v. 23.10.1817“, abgedruckt in: Heckert, Handbuch der Schulgesetzgebung, S. 434 – Zeitgenössische Erläuterung dieses Schulaufsichtssystems: Ludwig Adolf von Wiese, Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in Preußen, Berlin 1867, S. 5 ff.; ders., Das höhere Schulwesen in Preußen. Historisch-statistische Darstellung, Bd. 1, Berlin 1864, S. 4 ff.; Ludwig von Rönne, Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates, Zweiter oder besonderer Teil, Bd. 1: Das Volksschulwesen des Preußischen Staates mit Einschluss des Privatunterrichts, Berlin 1855, S. 246 ff. Die Anzahl der Aufsichtsbehörden erhöhte sich später noch. Preußen war vor dem Ersten Weltkrieg in 12 Provinzen eingeteilt, die sich in 37 Regierungsbezirke untergliederten. Die größeren Regierungen wurden ab 1825 in drei Abteilungen, diejenigen des Innern, der direkten Steuern sowie des Schulwesens und der Kirchen-Verwaltung unterteilt. 39 Siehe etwa die detaillierte Regelung in den § 33 der „Schulordnung für die Elementarschulen der Provinz Preußen“ v. 11.12.1845, abgedruckt in: Ludwig von Rönne, Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates, Erster oder allgemeiner Teil: Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates in seiner geschichtlichen Entwicklung, Berlin 1854, S. 103. 40 §§ 174 ff., insb. § 179 der preußischen Städteordnung v. 19.11.1808, abgedruckt auszugsweise in: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 1, S. 329. 41 Vgl.: Jeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 371 f. und Bd. 2, S. 180; Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 246.
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d) Einführung und Umsetzung eines verpflichtenden Lehrplans Schließlich wurde 1837 zunächst für das Gymnasium erstmals ein verpflichtender schulischer Lehrplan vorgeschrieben,42 nachdem es allerdings vorher bereits seit 1816 eine Lehrplanempfehlung mit einer erheblichen faktischen Bindungskraft gegeben hatte. Der Ministerialbeamte Süvern hatte 1813 zunächst eine „Gesamtinstruktion über die Verfassung der Schulen“ vorgelegt, die alle Schulformen, auch die Elementarschule, umfasste. Daraus wurde dann 1816 ein Teilstück, die „Unterrichts-Verfassung der Gymnasien und Stadtschulen“,43 auf dem Erlasswege an die Provinzialkonsistorien gegeben. Diese Unterrichtsverfassung enthielt nicht nur einen Lehrplan, sondern auch Vorgaben für die Schulorganisation. Danach waren für das Gymnasium sechs Klassen, drei Schulstufen und eine zehnjährige Regelschulzeit (ab dem Lehrplan 1837 Reduzierung auf neun Jahre) angesetzt. Geregelt waren darüber hinaus vor allem auch die Anzahl der Lehrer, die Unterrichtsinhalte und -ziele sowie die Stundenverteilung in den einzelnen Fächern. Das Regelwerk war zwar nur ohne förmliche Publikation44 intern den Provinzialkonsistorien, also den Schulaufsichtsbeamten für das höhere Schulwesen, und auch nur „als Richtschnur für die Unterrichtsverfassung“ an die Hand gegeben worden. Es sollte, wie das Kultusministerium anfänglich mehrfach zum Ausdruck brachte, lediglich eine Grundlage für das Gespräch der Fachleute sein, eine Empfehlung und damit offen für Veränderungen. Jedoch waren die Instruktionsinhalte derart konkret gefasst, dass wenige Spielräume verblieben. Der Zwiespalt, mit dem die Bildungsreformer kämpften, ist deutlich den Vorbemerkungen („Promemoria“) zu dem gescheiterten Schulgesetzentwurf von 1819 zu entnehmen. Einerseits wird davor gewarnt, „das ganze Unterrichts- und Erziehungswesen durch Vorschriften und Formen so zu binden, daß es überall gleicher Einförmigkeit in den Gang einer Maschine dadurch gebracht würde.“ Es vertrage eine so mechanische Einengung „am wenigsten jetzt bei dem dermaligen lebendigen Regen im Erziehungswesen“. Andererseits wird mehrfach 42 „Circular-Rescript
v. 24.10.1837, betreffend die für den Unterricht u. die Zucht auf den Gymnasien getroffenen allgemeinen Anordnungen“, abgedruckt in: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 2, S. 144; auszugsweise bei: von Wiese, Verordnungen, S. 29 ff.; Reble, Geschichte der Pädagogik. Dokumentationsband, S. 412. Erläuterungen zum Lehrplan: Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 246 ff. 43 „Auszug aus der Anweisung über die Einrichtung der öffentlichen allgemeinen Schulen im Preussischen Staate, die Unterrichts-Verfassung der Gymnasien und Stadtschulen betreffend“ v. 12.01.1816, abgedruckt in: Eduard Mushacke (Hrsg.), Preussischer Schul-Kalender, Berlin 7 (1858), S. 231; neu abgedruckt in: Schweim, Schulreform, S. 59. 44 Dazu: Neugebauer, Einleitung (Fn. 19), S. X und Fn. 17 m.w.N.
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nachdrücklich die Notwendigkeit umschrieben der „Vereinigung all des Mannigfaltigen unter gemeinschaftlichen Prinzipien, damit es ein Ganzes werde und die Übereinstimmung in ihm herrsche, die alle Gliedmassen des Staatskörpers durchdringen“ solle.45 Einheitlichkeit erschien den Reformern letztlich doch wichtiger als schulische Vielfalt und Experimente. Für den Lateinunterricht beispielsweise war im gymnasialen Lehrplan von 1816 genau aufgelistet, welche antiken literarischen Werke in welcher Klasse mit welcher Intention zu lesen waren.46 Und wenn Abweichungen von den ministeriellen Erlassvorgaben ausnahmsweise als möglich ausgewiesen waren, band man diese, wie den Sprachenbeginn in der Sexta mit Griechisch statt Latein, sogar an die Genehmigung des Ministeriums in Berlin.47 Dieser Genehmigungsvorbehalt entsprach, um eben die Einheitlichkeit zu sichern, einer generellen Zurückhaltung des preußischen Kultusministeriums gegenüber einer allzu großen Entscheidungsfreiheit der nachgeordneten Schulaufsicht. Dieser oblag ausschließlich der strikte Vollzug der für das Schulwesen bestehenden Vorschriften. In der Instruktion für die Konsistorien (bzw. später Provinzialschulkollegien) war angeordnet, „daß sie in allen Fällen, wo es auf Feststellung von allgemeinen Grundsätzen, auf neue Anordnungen und Einrichtungen, oder Veränderungen und Abweichungen von bereits bestehenden, ankommt, … die Genehmigung des ihnen vorgesetzten Ministeriums einholen müssen“.48
45 Fundstelle
des Zitats, siehe Fn. 21. Lateinunterricht des preußischen Gymnasiums konnte der Rheinländer Heinrich Heine (1797–1856) wenig abgewinnen: „Auch in der höhern Unterrichtsanstalt zu Düsseldorf, welche unter der französischen Regierung das Lyzeum hieß, waren die Lehrer fast lauter katholische Geistliche, die sich alle mit ernster Güte meiner Geistesbildung annahmen; seit der preußischen Invasion, wo auch jene Schule den preußisch-griechischen Namen Gymnasium annahm, wurden die Priester allmählich durch weltliche Lehrer ersetzt. Mit ihnen wurden auch ihre Lehrbücher abgeschafft, die kurzgefassten, in lateinischer Sprache geschriebenen Leitfaden und Chrestomathien, welche noch aus den Jesuitenschulen herstammten, und sie wurden ebenfalls ersetzt durch neue Grammatiken und Kompendien, geschrieben in einem schwindsüchtigen, pedantischen Berlinerdeutsch, in einem abstrakten Wissenschaftsjargon, der den jungen Intelligenzen minder zugänglich war als das leichtfassliche, natürliche und gesunde Jesuitenlatein.“ Quelle: Heinrich Heine, Geständnisse (Geschrieben im Winter 1854), in: Heinrich Heine’s sämtliche Werke, Bd. 14: Vermischte Schriften, hrsg. v. Adolf Strodtmann, Hamburg 1862, S. 317. 47 § 7. Kursus im Lateinischen (Satz 2): „Vielmehr behält sich die Abtheilung für den Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Innern in einzelnen Fällen, wenn die Lehrer einer Anstalt sich darüber einigen, den Unterricht im Griechischen dem im Lateinischen vorangehen zu lassen, nach Vorlegung ihres Planes die Entscheidung vor.“ 48 § 10 der „Instruction für die Consitorien v. 23.10.1817“ (Fundstelle, siehe Fn. 37). 46 Dem
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Die Verbindlichkeit und damit die vereinheitlichende Wirkung des ministeriellen Lehrplans wurden ab 1824 noch weiter erhöht. An die Gymnasien erging die Aufforderung, der Schulaufsicht künftig jährlich jeweils ein Schulprogramm in einer standardisierten Form einschließlich Aussagen zu den Lehrinhalten vorzulegen.49 Damit zusammenhängend hatten sie grundsätzlich zunächst vor jedem Schulhalbjahr, ab 1837 verpflichtend vor jedem Schuljahr einen Lektionsplan (Aufstellung über die Unterrichtsfächer aller Klassen, deren wöchentliche Verteilung, die Namen der jeweils eingesetzten Lehrkräfte und verwendeten Schulbücher) abzuliefern. Diesem war dabei obendrein „eine genaue Abgrenzung der Zielleistungen für jede Klasse und jedes Fach beizufügen.“50 Der Lektionsplan musste nach den Instruktionen der Provinzialschulaufsicht dieser so frühzeitig zur Prüfung eingereicht werden, „damit die von uns etwa zu bewirkenden Abänderungen noch zeitig genug getroffen werden können.“51 Das schulaufsichtliche Ermessen, pädagogisch noch so gut begründete Abweichungen von der Norm in diesen Schulprogrammen und Lektionsplänen nicht zu beanstanden und damit etwa Schulversuche zuzulassen, war derart eingeengt, dass noch 1860 bezüglich des Süvern’schen Lehrplans davon gesprochen werden konnte: „Im Grossen und Ganzen, ja vielfach im Einzelsten ist er noch heute Grundlage des preussischen, des deutschen Gymnasialwesens.“52 Wie strikt und zunehmend rigider die obere Schulaufsicht die ministeriellen Vorgaben durchsetzte, zeigt sich etwa an folgendem Monitum des Pommerschen Provinzialschulkollegiums aus dem Jahre 1837: „Es ist bemerkt worden, daß die über die Einrichtung der Lehrpläne bei den Gymnas(ien) bestehenden Vorschrif49 Zu dieser Direktive: Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 188 ff.; von Wiese, Verordnungen, S. 31. – Beispiel schulaufsichtlicher Einflussnahme bei: Götz, Archigymnasium, S. 310. Siehe auch allgemein: Lothar Kalok, Schulprogramme: Eine fast vergessene Literaturgattung, in: Irmgard Hort/Peter Reuter (Hrsg.), Aus mageren und ertragreichen Jahren: Streifzug durch die Universitätsbibliothek Gießen und ihre Bestände, Gießen 2007, S. 174-199. 50 Siehe: Circular-Rescript v. 24.10.1837, hier zu Ziff. 4, abgedruckt in: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 2, S. 148. 51 Zitat aus der Instruktion des Konsistoriums zu Berlin v. 10.06.1824 für die Direktoren und Rektoren der gelehrten Schulen in der Provinz Brandenburg, wobei es entsprechende Instruktionen auch in den meisten anderen preußischen Provinzen gab. Abdruck in: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 2, S. 74 ff., hier S. 83. Die enge schulaufsichtliche Begleitung zeigt sich weiter daran, dass laut dieser Instruktion „im Laufe des Halbjahrs in Betreff der Vertheilung der Lektionen nöthig gewordene und verbleibende Abänderungen nachträglich bei uns anzuzeigen ist. Daß kein Lehrer eigenmächtig von dem Lektionsplane abweiche, oder ein anderes Lehrbuch als das vorgeschriebene zu Grunde lege, bedarf der Erinnerung nicht.“ 52 W(ilhelm) A(nton) Passow, Zur Erinnerung an Johann Wilhelm Süvern, Thorn 1860, S. 16.
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ten nicht überall genau beobachtet, daß namentlich … Die Nichtbeobachtung der hierüber von dem vorgesetzten K(ultus)Min(isterium) erlassenen Anordnungen hat großen Theils zu den neuerlich gegen die Gymnas(ien) erhobenen Beschwerden Veranlassung gegeben; es ist daher um so nothwendiger, daß diese Anordnung künftig mit aller Pünktlichkeit in Ausführung gebracht werden“, woraufhin den Gymnasialdirektoren eine Reihe von Vorschriften „in Erinnerung“ gebracht werden.53 Die Schulaufsicht bediente sich häufig verwaltungstechnisch der Methode, einen aufgetretenen Einzelfall zum Anlass einer über den Fall hinausgehenden klärenden Rundverfügung an ihre Schulen zu nehmen bzw. den Schulen eine getroffene Einzelfallverfügung „zur allgemeinen Kenntnis zu bringen“ und sie damit ebenfalls zur entsprechenden Befolgung in gleichgelagerten Fällen anzuhalten. Der Bildungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth kommt rückblickend zu der Feststellung, dass nach 1850 in Preußen die Lehrpläne „zur unausweichlichen Vorgabe für die einzelnen Gymnasien“ wurden.54 3. Realschulen und Mittelschulen – Entwicklungsprozess im Schatten elementarer und neuhumanistisch-gymnasialer Bildung a) „Reale“ Bildung als Antwort auf wirtschaftlichen und technischen Wandel Dem humanistischen Bildungsideal widersprachen die zunehmend seit dem 18. Jahrhundert aus den neuen Bedürfnissen von Wirtschaft und Technik entstandenen Bürger- und Realschulen, die außerhalb der großen Städte oft auch als sogenannte Bürgerklassen oder Realabteilungen an den höheren Schulen anzutreffen waren. Humboldt sowie seine ministeriellen Mitstreiter suchten diese „nützlichen“, bereits berufsspezifische Inhalte vermittelnden Bildungsanstalten als allgemeinbildende, jedenfalls aber als höhere Schulen zurückzudrängen. Im Zuge der weiteren Industrialisierung war aber die preußische Wirtschaft und das aufstrebende Bürgertum an einer Ausweitung gerade dieser auch auf kaufmännisch-gewerbliche Lernstoffe ausgerichteten Schulen interessiert. Eine wesentliche Ursache für die erhebliche Zunahme der Realschulen ab den 1820er Jahren hatte indes auch das Kultusministerium selbst gesetzt, und zwar durch die von ihm neu eingeführte Abiturprüfungsordnung. Die kleineren alten Lateinschulen, die deren Anforderungen nicht genügten und deshalb ihre Berechtigung zur Abiturvergabe verloren, reduzierten nunmehr die alten Sprachen auf ein geringeres Maß an Lateinstunden und verlagerten sich auf „realistische“ Fächer, wodurch 53 Abdruck der Verfügung vom 14.02.1837 in: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 2, S. 178. Weitere Beispiele bei: Neigebaur, Sammlung, S. 302-315. 54 Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 147.
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sie sich ebenfalls zu Bürger- und Realschulen umformten.55 Durch die „Vorläufige Instruktion über die an den höhern Bürger- und Realschulen anzuordnenden Entlassungsprüfungen“ vom 08.03.1832 wurden auch an diesen erstmals Abschlussprüfungen und -zeugnisse eingeführt.56 b) Etablierung von Real- und Bürgerschule, Oberrealschule und Realgymnasium Mit dem Erlass zur „Unterrichts- und Prüfungsordnung der Realschulen und der höheren Bürgerschulen“ vom 06.10.185957 wurde sodann der Grundstein für drei sich in den Folgejahren noch klarer herausbildenden Realschulformen – als Teil des höheren Schulwesens58 – gelegt: das „Realgymnasium“ (ab 1882, bis dahin „Realschule 1. Ordnung“ genannt) mit seiner gegenüber dem humanistischen Gymnasium stärkeren Betonung der Naturwissenschaften und der neueren Sprachen sowie die lateinlose „Oberrealschule“ (ab 1879, bis dahin „Realschule 2. Ordnung“, aus früheren Gewerbeschulen entstanden), beide mit neunjährigem Schulbesuch, und der kürzeren lateinlosen Realschule, auch höhere Bürgerschule genannt, bis zum mittleren Abschluss am Ende der Untersekunda.59 Für den mittleren Schulabschluss (zunächst nur der „Realschule 1. Ordnung“ und des Gymnasiums, ab 1877 für alle höheren Schulen bei Versetzung in die Obersekunda, die Oberstufe) prägte sich über mehr als ein Jahrhundert die volkstümliche Bezeichnung „Einjähriges“ ein, weil die bestandene Prüfung die Berechtigung zu einem nur einjährigen Militärdienst, der sonst drei Jahre dauerte, verlieh.60 Außerdem war sie nunmehr Zugangsvoraussetzung für die mitt55 Vgl.: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 284 f.; Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 268; Fuhrmann, Geschichte des gelehrten Unterrichts, S. 143 f. 56 Abdruck: Heckert, Handbuch der Schulgesetzgebung, S. 595; von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 2, S. 310. Siehe dazu außerdem: von Wiese, Schulwesen, S. 27. 57 Veröffentlicht mit amtlichen Erläuterungen als eigenständige Publikation: Preußisches Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, Unterrichts- und Prüfungsordnung der Realschulen und der höheren Bürgerschulen nebst Erläuterungen, Berlin 1859. 58 Diese Zuordnung war bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts in § 58 ALR festge schrieben. 59 Vgl.: von Wiese, Schulwesen, S. 26 ff.; Kramer, Realschule, in: Karl Adolf Schmid, Encyclopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 6, Gotha 1867, S. 673 ff. (mit umfangreichem Verzeichnis der seinerzeitigen Literatur zur Realschule); Rudolf W. Keck, Das Selbstverständnis der Realschule im historischen Wandel, in: Jürgen Rekus (Hrsg.), Die Realschule: Alltag, Reform, Geschichte, Theorie, Weinheim/München 1999, S. 23 f. 60 Der einjährige freiwillige Militärdienst war von hoher Reputation „für die gebildeten Stände“ in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhun-
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lere Beamtenlaufbahn insbesondere bei Post, Finanzverwaltung und Justiz sowie für den Besuch bestimmter Fachschulen. Durch das Einjährigen-Privileg und die Möglichkeit, den Weg für eine mittlere Beamtenkarriere zu bahnen, wurde das Realschulwesen strukturell erheblich konsolidiert, doch „für Öffnungen und Experimente in der Schule und um sie herum war jetzt kein Platz mehr.“61 Die Abiturienten von Realgymnasium und Oberrealschule, deren Reifeprüfung zunächst allein die Eintrittsqualifikation für die ohne Universitätsstudien möglichen „höheren Berufsarten des praktischen Lebens“62 sein sollte, erhielten nach einem jahrelangen, kontrovers diskutierten schrittweisen Ausweitungsprozess schließlich durch einen Kaisererlass ab 1900 auch die Berechtigung für alle universitären Studiengänge. Realgymnasium und Oberrealschule wurden damit den humanistischen Gymnasien gleichgestellt.63 c) Zulassung von Versuchen und Modifikationen im preußischen Realschulwesen Außerhalb Preußens, besonders in den süddeutschen Ländern, war die Realschule nicht an das Einjährige gekoppelt und entwickelte sich von vornherein derts, weil der junge Mann im Regelfall nach der einjährigen Dienstzeit die Anwartschaft auf das Reserveoffizierspatent (als Unteroffizier bei einem mittleren Abschluss bzw. Offizier mit dem Abitur) erhielt. Dieser Militärdienst war obendrein dadurch privilegiert, weil er erst nach Abschluss einer Berufsausbildung, insbesondere nach Studium und Referendarzeit, angetreten werden konnte, er in einer Waffengattung und Kompanie nach Wahl des Freiwilligen abgeleistet werden durfte und der Freiwillige von Beginn an als Offiziersanwärter eingestuft wurde. Vgl.: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 922 f.; Lothar Mertens, Bildungsprivileg und Militärdienst im Kaiserreich. Die gesellschaftliche Bedeutung des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes für das deutsche Bildungsbürgertum, in: Bildung und Erziehung 43 (1990), S. 217–228; Detlef K. Müller/Bernd Zymek, Rahmenbedingungen der Entwicklung des Bildungssystems im 19. Jahrhundert. Die Einjährigen-Freiwilligen-Berechtigung, in: dies. (Hrsg.), Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II/1, Göttingen 1987, S. 21-25. Siehe auch zu den entsprechenden preußischen Vorschriften: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 2, S. 302 ff.; Willi Mäder, Das „Einjährige“: Wie erwirbt man es, u. welches sind seine Berechtigungen, 3. Aufl., Berlin 1917. 61 Wittmütz, Elementarschule, S. 24. 62 Kramer, Realschule, S. 687. 63 Vgl.: James C. Albisetti/Peter Lundgreen, Höhere Knabenschulen, in: Christa Berg (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, München 1991, S. 239; Jeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 631; Herrlitz u.a., Schulgeschichte, S. 75 f. – Abdruck der Kabinettsordre von Wilhelm II. zur Gleichberechtigung der höheren Schulen v. 26.11.1900 bei: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 419-421.
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zu einer mittleren Bürgerschule. In den nach dem österreich-preußischen Krieg 1866 hinzugekommenen neupreußischen Landesteilen, den Provinzen Han nover, Hessen-Nassau und Schleswig-Holstein, durchlief das Realschulwesen ebenfalls ein längeres Übergangsstadium mit mannigfaltigen abweichenden Ausgestaltungen. Da die Realschulen sich – anders als die Gymnasien – in den deutschen Territorien unterschiedlich entwickelt hatten, bestand Altes und Neues nebeneinander. „In Folge der Erweiterung des Staats“ wurden auf Antrag der Schulträger, wie etwa für die höhere Bürgerschule in Wiesbaden, Abweichungen von der Realschulordnung von 1859 „zunächst versuchsweise zugelassen“; durch Ministeriumsreskript vom 11.03.1867 wurde der Wiesbadener Schule bis auf Weiteres die Abschlussberechtigung als höhere Bürgerschule erteilt.64 Im Gegensatz zum Gymnasium war die preußische Kultusadministration im Realschulbereich ohnehin lange Zeit offener für Modifikationen gewesen, was sicherlich auch daher rührte, dass sie die Realschule zu Beginn der Bildungsreformen nicht förderte, ihr durch die geringere Beachtung allerdings auch gewisse Freiheiten in ihrer Entwicklung verschaffte.65 Mit der Einbeziehung in das Berechtigungswesen 1832 und der Unterrichts- und Prüfungsordnung für die Realschule von 1859 kam die Ausdifferenzierung und Profilschärfung der Realschulbildungsgänge allerdings zu einem vorläufigen Abschluss. Hinsichtlich verbleibender Gestaltungfreiheiten verwies § 1 des neuen Realschullehrplans auf die gleichzeitig herausgegebenen amtlichen Erläuterungen zum Lehrplan, und dort hieß es (zu § 1), mit dem Lehrplan solle „nicht eine so weit bindende Norm aufgestellt sein, daß nicht die Berücksichtigung localer Umstände und besonderer Verhältnisse der Lehrercollegien einzelne Abweichungen davon zulässig machte.“ Zur Genehmigung bedurfte es auch nicht der Einschaltung des Ministeriums; vielmehr lag diese Befugnis bei den Provinzialschulkollegien. Jedoch listete auch dieser Lehrplan äußerst detailliert auf, in welchen Bereichen das Ministerium „unter anderem“ Abweichungen für zulässig erachtete (z.B. Vermehrung der Deutsch-Stunden, Polnisch-Unterricht in den östlichen Provinzen, mehr naturwissenschaftlicher Unterricht in Industriegegenden) und dann meist auch, welche alternativen Regelungsmöglichkeiten es sah. Alle erheblichen Abweichungen vom Normalplan der Realschulen, die von den Aufsichtsbehörden zugelassen wurden, waren – laut den Erläuterungen zum Lehrplan – in deren Jahresberichte aufzunehmen und zu begründen. Außerdem stellte man in den 64 Siehe,
mit Zitat: Ludwig Adolf von Wiese, Das höhere Schulwesen in Preußen: Historisch-statistische Darstellung, Bd. 2, Berlin 1869, S. 53 ff., insb. S. 57. 65 Ähnlich, allerdings positiver formuliert: Kramer, Realschule, S. 683. Die geringere Beachtung der Realschule zeigt sich augenfällig z.B. daran, dass diese gemeinsam mit den höheren Bürgerschulen bei der von von Rönne 1855 herausgegebenen Sammlung der Bestimmungen zum preußischen Unterrichtswesen (Teil 2, Bd. 2) gerade einmal neun Seiten beanspruchte, das Gymnasium indes 168 Seiten.
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Erläuterungen eines klar: „von den Directoren gemachte Versuche müssen ihre Bewährung am Erfolge haben“.66 d) Preußische Mittelschule als unvollkommene Schule des Mittelstandes Der Realschule im heutigen Verständnis entsprach in Preußen die Mittelschule, die zu den „niederen Schulen“ gehörte und eine aufgewertete Volksschule war.67 Mit den „Allgemeinen Bestimmungen für die Volks- und Mittelschulen in Preußen“ vom 15.10.1872 wurden unter der Bezeichnung Mittelschule, die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommen war,68 erstmals alle Schulen zusammengefasst, die „unter dem Namen von Bürger-, Mittel-, Rector-, höheren Knabenoder Stadt-Schulen … einerseits ihren Schülern eine höhere Bildung zu geben versuchen, als dies in der mehrklassigen Volksschule geschieht, andererseits aber auch die Bedürfnisse des gewerblichen Lebens und des s.g. Mittelstandes in größerem Umfang berücksichtigen, als dies in höheren Lehranstalten regelmäßig der Fall sein kann.“69 Die neue Mittelschule hob sich von der Volksschule dadurch ab, dass sie mindestens eine Fremdsprache anbot und den Lehrplan durch berufliche Fächer an die lokalen Bedürfnisse von Handel, Gewerbe und Industrie anpassen konnte. Andererseits kämpften deren Vertreter bis 1914 vergeblich darum, die für das berufliche und soziale Fortkommen entscheidende Berechtigung zum „Einjährigen“ verleihen zu können. Auch neunjährigen Mittelschulen (einschließlich Unterklassen) blieb die Freiwilligenberechtigung versagt. Dieser für die Akzep66 Siehe:
Unterrichts- und Prüfungsordnung der Realschulen (Fn. 57), S. 6 und 45. Konrad Fees, Realschule, in: Sigrid Blömeke/Thorsten Bohl/Ludwig Haag/Gregor Lang-Wojtasik/Werner Sacher (Hrsg.), Handbuch Schule, Stuttgart 2009, S. 248. Vgl. auch: Keck, Selbstverständnis, S. 24 ff.; Leschinsky/Roeder, Schule, S. 168 ff. 68 Insbesondere: Friedrich Wilhelm Dörpfeld, Der Mittelstand und die Mittelschule, Barmen 1853. 69 Genaue Bezeichnung: „Allgemeine Bestimmungen des Königl. Preuß. Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 15.10.1872, betreffend das Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesen“ mit einem „Lehrplan für die Mittelschulen“ abgedruckt in: ZblUV 14 (1872), S. 585 und S. 599; auszugsweise abgedruckt bei: Reble, Geschichte der Pädagogik. Dokumentationsband, S. 480; Rudi Maskus, Zur Geschichte der Mittel- und Realschule, Bad Heilbrunn 1966, S. 58; Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 394. – Zur preußischen Mittelschule: Arnold Sachse, Die preußische Volks- und Mittelschule, Leipzig 1913; Nikolaus Maaßen/Walter Schöler, Geschichte der Mittel- und Realschulpädagogik, Bd. 1: Von den Anfängen bis Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin/Hannover/Darmstadt 1960; Bd. 2: Das 20. Jahrhundert, Berlin 1961. 67 Ebenso:
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tanz der Mittelschule in der Öffentlichkeit entscheidende Nachteil hemmte ihre weitere Entwicklung und Ausbreitung. Die ihr eigentlich zugewiesene Funktion als Schule des Mittelstandes konnte sie nur unvollkommen erfüllen; der bürger liche Mittelstand bevorzugte stattdessen häufig für seine Kinder einen nur zeitlich begrenzten Besuch der höheren Schule bis zur Erlangung des „Einjährigen“. In den Jahren 1882 bis 1887 verließen 80 % der Schulabgänger der höheren Schulen diese ohne das Abitur, knapp die Hälfte davon mit dem „Einjährigen“.70 Schon im Zuge der Institutionalisierung von preußischer Mittelschule und Realschule wurde kritisiert, dass die Lehrpläne der Realschulen für den damaligen Bürgerstand in seiner Gesamtheit „zu hoch gebaut“ seien.71 4. Beschwerlicher Aufbruch der preußischen Elementarschulen in die pädagogische Moderne a) Anstrengungen und Widrigkeiten zur Verbesserung der Elementarbildung im Zuge der Humboldt’schen Bildungsreform Die Humboldt’sche Bildungsreform erfasste auch, obwohl nicht so im Vordergrund stehend, die Elementarschule, wie die Volksschule – in Übernahme einer Bezeichnung aus dem Süvern’schen Schulgesetzentwurf von 1819 – bis Mitte des 19. Jahrhunderts in Preußen hieß. Humboldt, Süvern und Friedrich Schleiermacher (1768–1834)72 setzten alles daran, das Nützlichkeitsdenken und alles Berufliche ebenfalls aus diesen Schulen herauszuhalten, obwohl sich dort mehr 70 Vgl., auch zu den Zahlen: Günter Höffken, Zur Institutionalisierung und Entwicklung der Mittelschule in Preußen 1872 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung des Chemieunterrichts, Diss. Potsdam 2006 (Archivserver: http://deposit.ddb.de/ cgi-bin/dokserv?idn=981365035), S. 36 ff. m.w.N. 71 Friedrich Otto, Der deutsche Bürgerstand und die deutsche Bürgerschule. Eine culturhistorische Erörterung, Leipzig 1871, S. 127. 72 Neben Lehre und Forschung engagierte sich der Professor der Theologie an der Reform des preußischen Schulwesens. Humboldt holte ihn 1810 an das neue Unterrichtsdepartment, wo er bis zu seinem Ausscheiden 1815 wesentlich die preußische neuhumanistische Bildungsreform mitprägte. Siehe: Franz Kade, Schleiermachers Anteil an der Entwicklung des preußischen Bildungswesens von 1808–1818, Leipzig 1925 (mit Abdruck: „Votum vom 10.07.1814 zu Süverns Gesamtinstruktion vom 07.02.1813“, S. 184-200); Erich Lohse, Schleiermanns Lehre von der Volksschule im Zusammenhang mit seiner Philosophie, Leipzig 1901; Christoph Lüth, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Zur Grundlegung der modernen Pädagogik, in: KlausPeter Horn/Heidemarie Kemnitz (Hrsg.), Pädagogik Unter den Linden. Von der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 37-62.
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als 90 % der Bevölkerung das Rüstzeug für eine unmittelbar daran anschließende Berufstätigkeit anzueignen hatte. Geistige Selbsttätigkeit und eine allgemeine formale Bildung waren die neuen Leitmotive. In den Unterrichtsinhalten der Elementarschulen ging es zwar weiterhin in erster Linie um das Erreichen der notwendigen Mindestkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen sowie in Religion und Gesang. Zum Kirchengesang trat aber der Volksgesang hinzu, Turnen wurde eingeführt und die „Anfangsgründe der Naturkunde, der Erdbeschreibung und Geschichte“ standen nunmehr in bescheidenem Umfang auf dem Stundenplan.73 Bis zu diesen Reformanstrengungen hatte der preußische Staat gerade im Elementarschulbereich seinen Provinzen, Landkreisen und Kommunen viel Spielraum für regionale Besonderheiten gelassen. Angesichts der erheblichen demographischen, ökonomischen und kulturellen Unterschiede in den preußischen Landesteilen, des starken Gefälles zwischen agrarisch-ländlichen sowie klein- und großstädtischen Bereichen und der engen kirchlichen Anbindung der Elementarschulen hatte er für diese Schulen kaum Vorschriften erlassen.74 Da das Süvern’sche Schulgesetz scheiterte und auch aus seinem Entwurf für eine „Gesamtinstruktion über die Verfassung der Schulen“ von 1813 die Elementarschulen am Ende herausfielen,75 gab es bis Mitte des 19. Jahrhunderts weiterhin für die Elementarschule weder zentrale verbindliche Lehrpläne noch eine einheitliche Schulorganisation. Dennoch musste sich die Unterrichtsabteilung des Ministeriums während der Auseinandersetzungen um den Süvern’schen Gesetzentwurf heftiger Vorhaltungen gerade auch von kirchlich protestantischer Seite wegen angeblich zu vieler Experimente im Volksschulbereich und einer verkehrten Erziehung erwehren. Der wichtigste Berater des preußischen Königs in kirchenpolitischen Fragen, der gleichzeitig dessen Hausseelsorger war, Bischof Rulemann Friedrich Eylert (1770–1852) tadelte in einem Gutachten „Freimütige Bemerkungen über das Verderben der jetzigen Zeit und Vorschläge, wie demselben entgegengewirkt werden könne“ heftig die Zustände in den Volksschulen und forderte unmissverständlich eine Bildungsbeschränkung für das gemeine Volk ein: „Hier hat eine einseitige intellektuelle Bildung oder die sogenannte Aufklärung eine höchst verderbliche Richtung genommen. Durch ein unaufhörliches Experimentieren seit 30 Jahren her, durch ein unendliches Abändern und Vervielfachen der Lehrobjekte, durch eine mit jedem Jahr größer werdende Flut von Schul- und Lehrbüchern ist eine 73 Vgl.: Eduard Spranger, Zur Geschichte der Volksschule, Heidelberg 1949, S. 37 f. 74 Vgl.: Wittmütz, Elementarschule, S. 25; Holtz/Rathgeber, Bildungskonzept (Fn. 12), S. 37 ff. 75 Dies war eine Folge aus dem bereits wiedergegebenen internen Konflikt Süverns mit seinem konservativen Gegenspieler von Beckedorff im Kultusministerium.
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heterogene Masse unverdauten Wissens in das Volk gekommen, wodurch es mit seinem Berufe entzweiet, flach und räsoniersüchtig, zwar schlauer und pfiffiger, aber moralisch schlechter geworden ist.“76 Diese Intervention zeigte Wirkung. In einem Runderlass an alle Königlichen Regierungen wies Kultusminister Karl Freiherr von Altenstein (1770–1840) auf die Gefahr einer Überbildung in den Volksschulen hin. Er berief sich dabei auf den König, der ausdrücklich geäußert habe, dass das Elementarschulwesen „in seinen Grenzen gehalten werden müsse, damit nicht aus dem gemeinen Mann verbildete Halbwisser, ganz ihrer künftigen Bestimmung entgegen, hervorgingen.“ Daran anknüpfend ordnete der Kultusminister an, dies als „Richtschnur“ anzusehen und deshalb bei der Einwirkung auf das Volksschulwesen niemals zu vergessen, dass dem Nötigeren jederzeit das Überflüssige weichen und dass „bei aller Unterweisung auch die künftige Bestimmung derer, welche belehrt werden, im Auge behalten werden müsse.“77 In einem kurze Zeit später herausgegebenen Runderlass erinnerte das Ministerium nochmals daran, die Schranken bei der Bildung des Landvolkes zu beachten, und warnte erneut vor „einem unnützen und schädlichen Halbwissen“ und einer „verderblichen Überbildung“.78 b) Einführung einer Volksschullehrerbildung als wichtiger Modernisierungsschub Ein grundlegender Einschnitt im Volksschulwesen trat ein, als in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts eine neue Volksschullehrerbildung in Preußen eingeführt wurde, und zwar flächendeckend durch Lehrerseminare, die zwei bis drei Jahre besucht wurden und seit 1826 mit einer Abschlussprüfung endeten.79 Die Absolventen des Seminars oder doch Inhaber eines entsprechenden 76 Zitiert nach: Eduard Spranger, Der Zusammenhang von Politik und Pädagogik in der Neuzeit, in: Die Deutsche Schule 19 (1915), S. 284. 77 Zitat: Circular-Rescript v. 29.03.1922 an sämtliche Königlichen Regierungen, betr. das Elementarschulwesen, abgedruckt bei: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 1, S. 642. 78 Circular-Rescript des Kultusministeriums v. 24.07.1822 an sämtliche Königlichen Regierungen und Konsistorien, betr. das Volksschul- und Lehrer-Bildungswesen, abgedruckt bei: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 1, S. 643. – Siehe dazu auch: Holtz/Rathgeber, Bildungskonzept (Fn. 12), S. 33. 79 Die Seminarorganisation wurde festgelegt in zwei „Circular-Rescripten, die Schullehrer-Seminarien und die Prüfung der künftigen Schulleiter betreffend“ v. 01.06.1826, abgedruckt in: Ludolph von Beckedorff (Hrsg.), Jahrbücher des Preußischen Volksschulwesens, Bd. 4, Berlin 1826, S. 154-162. Verantwortlich hatte diesen Ausbau des Seminarwesens vorangetrieben jener Ludolph von Beckedorff, der meist nur aus der Kontroverse über den Süvern’schen Gesetzentwurf bekannt ist. Er war seit 1921 als Referent für das niedere Schulwesen
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
Prüfungszeugnisses sollten ab jetzt bei Stellenbesetzungen bevorzugt eingestellt werden.80 Zwar war am Anfang die Ausbildungsqualität nach heutigen Standards nicht besonders hoch, dennoch führte die nunmehr erstmals systematisch und flächendeckend betriebene Ausbildung der neuen Lehrkräfte erkennbar zu einer Hebung des Unterrichts in den Elementarschulen. Dies steigerte wohl auch das Interesse der Gemeinden an ihren Elementarschulen, was sich dann wiederum offenbar auch unmittelbar in einer deutlichen Verbesserung des Schulbesuchs auswirkte.81 Die Ausbildung von Volksschullehrern musste mit dem rasanten Wachstum der Bevölkerung Schritt halten, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland fast verdreifachte. Zudem trug der Umstand, dass die Schulpflicht bis zur Jahrhundertmitte gerade auch für Kinder aus unteren Gesellschaftsschichten und auf dem Land Realität wurde, dazu bei, dass die Zahl der Lehrerbildungsseminare von 45 im Jahre 1837 bis 1880 auf 103 ausgebaut wurde und die Zahl der vollbeschäftigten Volksschullehrkräfte von 20.999 im Jahre 1822 auf 57.165 im Jahre 1878 anstieg.82 In den preußischen Lehrerseminaren wurde bis zur Jahrhundertmitte die Elementar-Pädagogik Pestalozzis verbreitet: eine auf Liebe und Glauben gegründete umfassende Volksbildung, vermittelt durch einen anschaulichen Unterricht, der die Einheit von geistiger, sittlicher und körperlicher Entwicklung zu betonen hatte.83 Die Verbreitung dieser pädagogischen Lehre wurde vom Kultusministeim preußischen Kultusministerium zuständig. Nachweisbar war er es auch, der die städtischen Verwaltungen und die Schulträger auf dem Land zur Modernisierung ihrer Elementarschulen drängte. Zur Person: Adolf Meyer, Ludolph von Beckedorff (1778– 1858), in: Hans Scheuerl (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik, Bd. 1, 2. Aufl., München 1991, S. 270-282; Hans Brunnengräber, Ludolph von Beckedorff. Ein Volksschulpäda goge des 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 1929. 80 Vgl.: Neugebauer, Einleitung (Fn. 19), S. XXI. 81 So: Neugebauer, Einleitung (Fn. 19), S. XXI m.w.N. 82 Zahlen entnommen den Tabellen 1 und 3 im Anhang von: BBAW, Acta Borussica. Preußen als Kulturstaat, Bd. 2.1, S. 749 und 754 (dort mit weiteren Quellenangaben). Vergleichbare Zahlen bei: Michael Sauer, Volksschullehrerausbildung in Preußen. Die Seminare und Präparandenanstalten vom 18. Jahrhundert bis zur Weimarer Republik, Köln/Wien 1987, S. 287; Tenorth, Geschichte, S. 150; Herbert Gudjons, Pädagogisches Grundwissen, 10. Aufl., Bad Heilbrunn 2008, S. 95 f. Siehe auch: Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 248; Wittmütz, Elementarschule, S. 31. – Bis 1896 stieg (laut den Tabellen) die Zahl der Volkschullehrkräfte weiter auf 79.431, die Zahl der Lehrerseminare bis 1900 auf 116 und bis 1915 auf 186 an. 83 Zu Idee und Konzept der Elementarbildung des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und dessen Einfluss auf die preußische Elementarschule: Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 94 ff., 116; Reble, Geschichte der Päda gogik, S. 221 ff., 248 f.; Schmitt, Versuchsschulen, S. 157 f. – Zur Person allgemein:
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rium nachhaltig gefördert. Immer wieder wurden Pädagogen in die Schweiz zu Pestalozzi geschickt, so dass der an der Reform des preußischen Volksschulwesens als Seminardirektor beteiligte Pädagoge und Theologe Wilhelm Harnisch (1787–1864) in einer seiner Schriften resümierte, kein Staat sei entschiedener auf Pestalozzis Ideen eingegangen als der preußische.84 Maßgeblich Einfluss auf die Entwicklung der preußischen Volksschule nahm außerdem Adolph Diesterweg (1790–1866), der vor allem daneben die soziale Frage in den Mittelpunkt rückte. Es dauerte allerdings in Preußen noch bis 1888, bis die Grundvoraussetzung für die Bildung aller Gesellschaftsschichten, die Schulgeldfreiheit, für den Besuch der Volksschule verwirklicht wurde.85 Dabei hatte dieses eigentlich schon viel früher der – allerdings vorläufig suspendierte86 – Art. 25 der Preußischen Verfassung von 1850 vorgegeben („In der öffentlichen Volksschule wird der Unterricht unentgeltlich erteilt.“). c) Restauration und Eindämmung von Reformversuchen durch die Stiehl’schen Regulativen von 1854 Das bei den Volksschullehrern durch die Seminarausbildung und auch eine bessere Bezahlung gestärkte Selbstbewusstsein erhielt vorübergehend einen deutlichen Dämpfer in der Phase der Reaktion nach der Revolution von 1848. Die Monarchie und konservative Kreise sahen eine Ursache für die revolutionären Erschütterungen in einer zu weit getriebenen Aufklärung sowie Überbildung der einfachen Volksschichten und gaben den Volksschullehrern und ihren Seminarausbildern, namentlich Diesterweg, deshalb hieran eine Mitschuld.87 In
Gerhard Kuhlemann/Arthur Brühlmeier, Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), Hohengehren 2002. 84 Wilhelm Harnisch, Der jetzige Standpunkt des gesammten Preußischen Volks schulwesens, Leipzig 1844, S. 5. 85 Geregelt in § 4 „Gesetz, betreffend die Erleichterung der Volksschullasten“ v. 14.06.1988 (PrGS S. 240). – Aber auch jetzt war die Schulgeldfreiheit noch nicht restlos abgeschafft. Schulgeld konnte nach § 4 Ziff. 1 weiterhin für auswärtige, nicht im Schulbezirk lebende Kinder sowie nach Ziff. 2 erhoben werden, soweit das bis dahin bestehende Schulgeld durch den mit diesem Gesetz neu eingeführten Staatsbeitrag zu den Volksschulunterhaltungskosten nicht gedeckt wurde und anderenfalls eine erhebliche Vermehrung der Kommunal- und Schulabgaben eintrat. Das durchschnittliche Schulgeld für den Volksschulbesuch betrug (laut: Nipperdey, Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 532) zuletzt jährlich 12 Mark in der Stadt (gegenüber 48 Mark für das Gymnasium) und 4,50 Mark auf dem Land, mit Befreiungsmöglichkeiten für arme Bevölkerungsteile. 86 Siehe zur vorläufigen Suspendierung, unten in diesem Kapitel unter IV. 87 Vgl.: Spranger, Volksschule, S. 43; Wittmütz, Elementarschule, S. 16.
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den Stiehl’schen Regulativen von 1854,88 dem ersten für ganz Preußen verbindlichen Lehrplan für die jetzt auch so bezeichneten Volksschulen, wurden daraufhin die Ansprüche an die Volksschulbildung deutlich zurückgefahren, auf das längst vergessen geglaubte Maß einer evangelischen „Bet- und Leseschule“ zur Erziehung monarchietreuer Untertanen.89 Nicht nur aus der Schule, auch aus der Ausbildung künftiger Volksschullehrer wurden die klassische Literatur oder das Rechnen mit Dezimalzahlen, Wurzeln und Verhältnissen verbannt.90 Gerechtfertigt wurde dieser für notwendig erachtete „entschiedene Umschwung“, der das „Unberechtigte, Überflüssige und Irreführende“ aus dem Volksschulunterricht ausscheiden sollte, durch eine deutliche Abkehr von der neuhumanistischen Bildung: „Der Gedanke einer allgemeinen menschlichen Bildung durch formelle Entwicklung der Geistesvermögen an abstraktem Inhalt hat sich durch die Erfahrung als wirkungslos oder schädlich erwiesen.“91 Für den „einfachen Unterricht“, der an den Elementarschulen stattfinden sollte, wies das Kultusministerium die Lehrerseminare an, „kein System der 88 „Regulativ (des Ministers der Geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten) für den Unterricht in den evangelischen Schullehrer-Seminaren der Monarchie“ v. 01.10.1854, „Regulativ für die Vorbildung evangelischer Seminar-Präparanden“ v. 02.10.1854 und „Regulativ über Grundzüge, betreffend Einrichtung und Unterricht der evangelischen einklassigen Elementarschule“ v. 3.10.1854, alle abgedruckt in: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 1, S. 895; auszugsweise bei: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 314; Reble, Geschichte der Pädagogik. Dokumenta tionsband, S. 472. – In die Schulgeschichte gingen diese Regulative unter dem Namen ihres Verfassers, dem Geheimrat im preußischen Kultusministerium Ferdinand Stiehl (1812–1878), ein. Siehe dazu: Bernhard Krueger, Stiehl und seine Regulative, Weinheim 1970; Klaus Goebel, Die Stiehlschen Regulative, in: ders., Wer die Schule hat, der hat die Zukunft. Gesammelte Aufsätze zur rheinisch-westfälischen Schulgeschichte, Bochum 1995, S. 250-257. 89 Vgl.: Spranger, Volksschule, S. 43; Gudjons, Pädagogisches Grundwissen, S. 96. Siehe beispielsweise auch die Aussage in einem Circular-Reskript des Kultusministers v. 01.10.1851, „betr. Beaufsichtigung der Elementarschulen und ihrer Lehrer durch die Geistlichen, Superint(endenten), Erzpriester und Dechanten“, wonach „das Gedeihen der Elementar-Schule … von ihrer inneren Verbindung zur Kirche abhängig ist“. Abdruck: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 1, S. 346. 90 Siehe: 1. Regulativ zum Unterricht in den Lehrerseminaren (Abdruck: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 1, S. 907, 911). 91 Zitate: 3. Regulativ über die Grundzüge der Elementarschule (Abdruck: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 1, S. 921; Reble, Geschichte der Pädagogik. Dokumentationsband, S. 47). – Schon in der zeitgenössischen Kommentierung wird herausgestellt, dass die Unterrichtsvorgaben für die Volksschule von 1854 sich im Wesentlichen an Regelungen des 18. Jahrhunderts (Generallandschulreglement von 1763 und eine ministerielle Anweisung von 1794) orientieren und eine direkt ent gegengesetzte Absicht wie die Pädagogik Pestalozzis verfolgen würden. Siehe: von Rönne, ebenda, S. 895, 919.
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Pädagogik zu lehren“.92 Und auch mit pädagogischen Versuchen sollte nun Schluss sein. Zwar wird in der Anordnung für die evangelischen Lehrerseminare zunächst festgestellt: „Die confessionellen, provinziellen und sonstigen Besonderheiten des Volkslebens sprechen ebenso wie die bewährten Grundsätze der Preuß(ischen) Unterrichtsverwaltung gegen Aufstellung eines unbedingten allg(emeinen) Lehrplans zur mechanischen Befolgung bis ins Detail.“ Doch heißt es dann direkt anschließend: „Im Folgenden aber werden … diejenigen Grundsätze aufgestellt, welche fortan für die Gestaltung der Seminare, ihre Beaufsichtigung und Leitung maßgebend sein müssen.“ Zu Abweichungen hiervon sei eine besondere Genehmigung des Ministeriums erforderlich.93 „Unpraktische Reflexion, subjektives, für die Zwecke einfacher und gesunder Volksbildung erfolgloses Experimentieren“ wird den Volksschullehrern untersagt.94 Zwar galten die Regulativen formal nur für die einklassigen evangelischen Volksschulen, also nicht für mehrklassige und auch nicht für katholische Volksschulen, und die Seminarordnung war ebenfalls ausschließlich an evangelische Präparanden95 und Seminaristen adressiert. Doch überwogen diese im mehrheitlich protestantischen Preußen anzahlmäßig und die preußische Schulaufsicht wird im Regelfall auch in den anderen Fällen diese ministeriellen Vorgaben als Leitlinie analog angewandt haben.96 5. Zusammenfassende Bewertung der Humboldt’schen Bildungsreform Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Humboldt’sche Bildungsreform war gestartet worden als ein Gegenentwurf und mit besonderer Offen92 Zitate: 1. Regulativ zum Unterricht in den Lehrerseminaren (Abdruck: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 1, S. 899). 93 Ebenda, S. 896; außerdem: Reble, Geschichte der Pädagogik. Dokumentationsband, S. 472. 94 Zitat: 2. Regulativ über die Vorbildung der Seminar-Präparanden (Abdruck: von Rönne Unterrichts-Wesen, Teil 2, Bd. 1, S. 913). 95 Präparand (lat. ein Vorzubereitender) waren Schüler, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Weimarer Zeit auf einer staatlichen oder privaten Präparandenanstalt auf den Besuch der Volksschullehrerseminare vorbereitet wurden. Die zuletzt dreijährige Ausbildung begann im Anschluss an die Volks- beziehungsweise Mittelschule. In Anlehnung an ein Modell der „Bildnerhochschule“ des Erziehungswissenschaftlers Eduard Spranger wurden 1926 in Preußen Pädagogische Akademien errichtet, wobei jetzt das Abitur als Eingangsvoraussetzung gefordert wurde. Siehe dazu: Sigrid Blömeke, Lehrerausbildung, in: Blömeke u.a., Handbuch, S. 485. 96 Zur analogen Rechtsfindung, die in Preußen insbesondere durch § 49 ALR ausdrücklich anerkannt war: Ludwig von Rönne, Das Staatsrecht der preußischen Monarchie, Bd. 1: Das Verfassungsrecht, Leipzig 1856, S. 66 f.
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heit für neue pädagogische Bildungskonzeptionen; sie war anfänglich so etwas wie ein administrativ gelenkter großer Schulversuch. Diese Offenheit der liberalen Bildungsreformer verlor sich nicht nur mit den Jahren aufgrund zunehmender restaurativer Tendenzen in der geschichtlichen Epoche des Vormärz. Da die – auch nach dem Ausscheiden Humboldts – lange Zeit noch tonangebenden Reformkräfte im Kultusministerium ihre humanistischen Bildungsideale flächendeckend in allen Schulen nur auf dem Weg eines einheitlich staatlichen Unterrichtssystems durchsetzen konnten, waren auch sie bestrebt, zur Standardisierung und damit Qualitätssicherung administrativ das als pädagogisch richtig Angesehene bis ins Detail zu regeln und Abweichungen hiervon nur eingeschränkt zuzulassen. Die Vereinheitlichung des Schulwesens sowie die Befreiung aus kirchlichen, lokalen und ständischen Abhängigkeiten führten bei allem Fortschritt andererseits auch zu pädagogischer Einförmigkeit und zu neuen Abhängigkeiten, nunmehr von einer obrigkeitsstaatlichen Kultusbürokratie. Die größeren deutschen Bundesstaaten folgten mit der Errichtung eigener Kultusministerien dem preußischen Beispiel: Sachsen 1831, Bayern 1847, Württemberg 1848, Österreich 1849, Baden 1911, als letztes deutsches Land Hessen 1928.97 Der Staat erwarb damit die Hoheit über das Schulwesen, wobei er sich – nicht nur in Preußen – als Kulturstaat begriff, der Raum schaffte für die freie Entfaltung des Geistes. Beginnend mit der Humboldt‘schen Bildungsreform vollzog „das geistige Deutschland die Wendung von der Kulturnation zum Kulturstaat“,98 allerdings zunächst noch beschränkt auf die einzelnen deutschen Territorien. Doch schuf die neuhumanistische Bildung gleichzeitig deutsche Identität; sie leistete, „ein Volk ohne Staat zu einigen“.99
IV. Nichtumsetzung des Auftrags der Preußischen Verfassung zur Schaffung eines allgemeinen Unterrichtsgesetzes Die Preußische Verfassung von 1850 enthielt nicht nur in den Art. 21 bis 25 Regelungen über das Schul- und Unterrichtswesen (Unterrichtspflicht, Privatschulfreiheit, Staatsaufsicht, Konfessionalität und Unterhaltung der Volks
97 Siehe: Bernhard vom Brocke, Bildung und Wissenschaft als neue Produktivkräfte, 2006 (http://www.deutschlandjournal.de/Deutschland_Journal_Sonderausg/ Bernhard_vom_Brocke_Bildung_und_Wissenschaft_als_neue.pdf). 98 Zitat: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 275. 99 Zitat: Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland. Zur Staatsverdrängung der Deutschen, in: Armin Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, München 1986, S. 12.
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schule),100 sondern in Art. 26 einen ausdrücklichen Auftrag, das ganze Unterrichtswesen durch ein besonderes Gesetz zu regeln. Einen solchen Gesetz gebungsauftrag hatte auch bereits die oktroyierte Verfassung von 1848 (Art. 23) vorgesehen. Doch scheiterten auch jetzt wie schon dreißig Jahre vorher alle entsprechenden Versuche.101 Dies lag nicht zuletzt daran, dass die gesetzgebende Gewalt nach Art. 62 der Preußischen Verfassung beim König und den zwei Kammern (Herrenhaus und Abgeordnetenkammer)102 gleichermaßen lag, also insbesondere ein Veto des Königs jede Gesetzesinitiative zum Scheitern bringen konnte.103
100 Ein nachhaltiger Impuls hierzu war, obwohl sie keine Rechtsverbindlichkeit erlangten, von den Bildungs- und Unterrichtsvorschriften der §§ 153 bis 157 der Verfassung des deutschen Reiches (Paulskirchen-Verfassung) v. 28.03.1848 ausgegangen. Diese haben überdies nicht nur in Preußen, sondern auch in den anderen deutschen Ländern maßgeblich die Regelungen zum Schulwesen beeinflusst. Die PaulskirchenVerfassung unterstellte das Unterrichts- und Erziehungswesen der Oberaufsicht des Staates und entzog es der geistlichen Schulaufsicht (§ 153), garantierte die Privatschulfreiheit (§ 154), statuierte eine Pflicht zu Schaffung ausreichender öffentlicher Schulen und legte eine Unterrichtspflicht fest (§ 155), erklärte Lehrer an öffentlichen Schulen zu Staatsbeamten (§ 156) und forderte die Schulgeldfreiheit für den Volksschulbesuch ein (§ 157). Zur Bedeutung und zum Einfluss auf die spätere Schulrechtsentwicklung: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2: Die einzelnen Grundrechte, München 2011, § 116 I 4. n. 101 Nur einige Teilbereiche des Volksschulwesens („Gesetz betreffend Feststellung von Anforderungen für Volksschulen“ v. 1887 mit Bestimmungen zur Unterhaltung der Volksschulen; „Volksschulunterhaltungsgesetz“ v. 1906 mit der vollständigen Übertragung der Unterhaltungslast auf die Gemeinden und Anerkennung der Konfessionsschule als Regelschule) wurden gesetzlich geregelt, ferner wenige andere Einzelfragen im Volksschullehrer-Besoldungsgesetz, im Mittelschulfinanzierungsgesetz, im Handels- und Gewerbelehrer-Besoldungsgesetz und – allerdings gewichtig – im noch zu behandelnden Schulaufsichtsgesetz. Dies änderte sich auch nicht, nachdem 1906 durch eine Änderung des Art. 26 der Preußischen Verfassung klargestellt wurde, dass es zur Regelung des Unterrichtswesens nicht eines einzigen allumfassenden Schulgesetzes bedurfte, sondern dass auch eine Regelung durch eine beliebige Zahl aufeinander folgender Teilgesetze zulässig war. Vgl.: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 876 ff., insb. S. 884, 904; Roland Schmidt-Bleker, Legislative Defizite im Schulrecht der preußischen konstitutionellen Monarchie, Baden-Baden 2005, S. 65 ff. 102 Erst ab 1855 erhielt die Erste Kammer die Bezeichnung „Herrenhaus“ und die Zweite Kammer die Bezeichnung „Haus der Abgeordneten“. 103 So legte etwa 1892 der König sein Veto gegen einen von der Mehrheit in der Abgeordnetenkammer unterstützten Schulgesetzentwurf des Kultusministeriums ein. Dazu: Karl Erich Born, Preußen im deutschen Kaiserreich 1871–1918, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. III: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 2000, S. 119 f.; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 896 ff.
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Aber auch die Kultusadministration zeigte trotz des Verfassungsauftrags wenig Interesse an einem umfassenden Schulgesetz. So erklärte in einer Schuldebatte der Ersten Kammer am 7.05.1851 der damalige, streng monarchisch gesinnte ultrakonservative Kultusminister Karl Otto von Raumer (1805–1859),104 unter dessen Ägide 1854 die Stiehl’schen Regulativen entstanden, dass er kein dringendes praktisches Bedürfnis erkenne, ein allgemeines Unterrichtsgesetz schleunigst zu erlassen. Außerdem hob er die Schwierigkeit hervor, unter gleichmäßiger Wahrung der Rechte des Staates und der Kirche ein solches Gesetz zu schaffen.105 Seine ablehnende Haltung bekräftigte er später nochmals in einer Debatte der Zweiten Kammer im Februar 1852 über einen – am Ende gescheiterten – Antrag des liberalen Abgeordneten Friedrich Harkort (1793–1880),106 das Kultusministerium zur Vorlage eines Unterrichtsgesetzes aufzufordern. Der Minister erklärte, dass ein Unterrichtsgesetz, wenn es jetzt erlassen werden müsste, nicht anders lauten könne, als dass es im Wesentlichen bei den bisherigen Bestimmungen verbleibe.107 Diese skeptische, negative Grundhaltung zu einem umfassenden Schulgesetz war im Kultusministerium auch in den Folgejahren vorherrschend trotz einiger von den nachfolgenden Kultusministern Falk (1877), von Goßler (1888) und Graf von Zedlitz-Trützschler (1891) in Auftrag gegebener und auf den Weg gebrachter Entwurfsanläufe.108 Dahinter stand die Einschätzung, dass insbesondere bezüglich eines Volksschulgesetzes die konfessionellen Gegensätze und Leidenschaften, wie insbesondere alle Debatten im Abgeordnetenhaus zu den jeweiligen Initiativen immer wieder bestätigten, zu groß waren. Damit begründete explizit 1896 der damalige Kultusminister Robert Bosse (1832–1901) in einer Regierungssitzung, weshalb er bislang nicht, wie von Konservativen und Zentrum im Abgeordnetenhaus gefordert, ein Volksschulgesetz vorgelegt hatte. Er würde eher zurücktreten „als die Staatshoheit in der Schule aufgeben“. Diese
104 Zur Charakterisierung: Bärbel Holtz, Raumer, Karl Otto von, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 21, Berlin 2003, S. 204. 105 Siehe: Stenogr. Berichte über die Verhandlungen der I. Kammer 1850–51, Bd. II, S. 1466. 106 Friedrich Harkort, sozial engagierter Industrieller aus dem Ruhrgebiert, verfolgte damit vor allem sein Hauptziel, die zeitgemäße Umgestaltung der Volksschule zur Verbesserung der Bildung der breiten Masse des Volkes. Siehe dazu: Friedrich Harkort, Bemerkungen über die Preußische Volksschule und ihre Lehrer, Hagen 1842; Auszug hieraus bei: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 346-351. 107 Siehe: Stenogr. Berichte über die Verhandlungen der II. Kammer 1851–52, Bd. I, S. 493. Hinweis hierauf auch bei: von Rönne, Staatsrecht, S. 676, Anm. 2; etwas verkürzt: Goebel, Regulative, S. 251. 108 Siehe zu diesen Gesetzentwürfen ausführlich: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 884-899.
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„Brandfackel“ sei weiter zu vermeiden und auch Wilhelm II. wolle kein Schulgesetz.109 Für die praktische schulaufsichtliche Arbeit des Ministeriums bestand auch keine Regelungslücke. Denn die Preußische Verfassung enthielt in Art. 112 nachfolgende Übergangsbestimmung: „Bis zum Erlaß des im Art. 26 derselben vorgesehenen Gesetzes bewendet es hinsichtlich des Schul- und Unterrichtswesens bei den jetzt geltenden gesetzlichen Bestimmungen.“ Dadurch waren sämtliche in den Art. 21 bis 25 enthaltenen Regelungen der Verfassung über das Schul- und Unterrichtswesen (Unterrichtspflicht, Privatschulfreiheit, Staatsaufsicht, Konfessionalität und Unterhaltung der Volksschule) vorläufig für suspendiert erklärt und blieben es bis zum Ende des Kaiserreiches. So galt also auch für die in der Verfassung behandelten Schulangelegenheiten das bisherige Recht unverändert fort, neben den administrativen Erlassen insbesondere auch in den meisten preußischen Provinzen die Schulbestimmungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts.110 Bemerkenswert ist, dass diese Übergangsbestimmung auf einem Antrag des Abgeordneten Stiehl in der Zweiten Kammer beruhte, also jenes im Hauptberuf gleichzeitig Vortragenden Rates im Kultusministerium, der kurze Zeit später die Volksschulregulativen verfasste. Der Antrag entsprach damit naheliegender Weise, wie Gerhard Anschütz in seinem Verfassungskommentar festhielt, „den Intentionen der Unterrichtsverwaltung“. Diese habe schon die den Art. 21 bis 25 analogen Vorschriften der oktroyierten Verfassung, die auch von Stiehl entworfen worden waren, nicht als aktuell geltendes, sofort anwendbares Recht, sondern als bloße Gesetzgebungsdirektiven aufgefasst. Die Suspension wurde nunmehr mit der Unmöglichkeit begründet, die neuen schulpolitischen Prinzipien ohne weiteres, also ohne Vermittlung von Ausführungsgesetzen, in Vollzug zu setzen.111 Aus der Suspension folgte allerdings nicht, wie mitunter im zeitgenössischen Schrifttum vertreten wurde,112 dass die Befugnis des Königs und der Unterrichtsverwaltung zum Erlass von Rechtsnormen auf dem Gebiet des Unterrichtswe109 Siehe: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Acta Borussica. Neue Folge. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, Bd. 8/I, Hildesheim 2003, Nr. 225, Sitzung des Staatsministeriums v. 01.03.1896, S. 217. 110 Das ALR fand nicht in allen nach dessen Inkrafttreten 1794 hinzu gekommenen preußischen Landesteilen Anwendung, insbesondere nicht im Rheinland. Siehe dazu: von Rönne, Staatsrecht, S. 83, 87 mit weiteren Erläuterungen. 111 Siehe dazu: Gerhard Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, Kommentar, Bd. I, Berlin 1912 (Nachdruck Aalen 1974), Art. 26 Anm. 1. 112 Nachweise bei: Anschütz, Verfassungsurkunde, Art. 26 Anm. 5.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
sens weiterhin unbeschränkt bestehen blieb. Das Schulwesen war, wie Anschütz darlegte, keine „absolutistische Insel“ mehr, auf der die nunmehr konstitutionell beschränkte Krone sich „wie vor der Verfassung als Gesetzgeber betätigen und somit dem Schul- und Unterrichtswesen jede rechtliche Ordnung geben könnte, die ihr beliebt. Dies kann nicht der Sinn des Art. 112 sein. Der Artikel konserviert nicht das Recht der absoluten Krone, unbeschränkt Rechtsnormen in Schulsachen zu setzen, sondern er konserviert das Schulrecht des absoluten Staates.“113 Außerdem ließ er nach Anschütz selbstverständlich das Recht der Regierung unberührt, im Verordnungswege alles zu regeln, was nach den bereits auch seinerzeit aus der Preußischen Verfassung (Art. 62) hergeleiteten allgemeinen Grundsätzen über den Vorbehalt des Gesetzes im Verwaltungswege und daher auch im Verordnungswege geregelt werden konnte. Allerdings wurde der Gesetzesvorbehalt – vor allem im Schulbereich unter dem Gesichtspunkt des besonderen Gewaltverhältnisses114 – erheblich enger als heute nach dem Grundgesetz gefasst.115
V. Verstaatlichung des Schulwesens und Reformen „von oben“ in der Kaiserzeit 1. Preußisches Schulwesen in fester und allgemein akzeptierter Hand der staatlichen Exekutive Nach der Reichsverfassung von 1871 war – wie auch schon in der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 – die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz für das Schulwesen bei den Gliedstaaten verblieben. Die Schule fand in der Reichsverfassung keinerlei Erwähnung, insbesondere nicht in Art. 4, der die Angelegenheiten der Reichsgesetzgebung festlegte. Der Reichstag erklärte sich denn auch 1874 in einem Beschluss auf ein entsprechendes Petitionsbegehren für unzuständig, ein Reichsschulgesetz auf den Weg zu bringen, weil „das Volksschulwesen nicht zur Kompetenz des Reiches, sondern zu den Einzelstaaten gehört.“116 Eine umfassende Schulgesetzgebung kam allerdings auch jetzt – bis auf wenige Ausnahmen117 – weder in Preußen noch in den meisten anderen Teilstaa113 Zitat:
Ebenda. näher unten in diesem Kapitel unter V. 3. 115 Siehe dazu: Anschütz, Verfassungsurkunde, Art. 26 Anm. 3, 5. 116 Vgl.: Ferdinand Jakob Schmidt, Das Problem der nationalen Einheitsschule, Berlin/Leipzig 1908, S. 28. 117 In Sachsen (1835 und 1873), Württemberg (1835), Baden (1868 und 1876) und Hessen (1874) wurden Volksschulgesetze verabschiedet, in Oldenburg (1855) und 114 Dazu
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ten des Kaiserreiches zustande. Es gab weder allgemeine schulgesetzliche Vorschriften zu vom Regelsystem abweichenden Schulversuchen, noch sind trotz einer Vielzahl von Schulreformen Ende des 19. Jahrhunderts solche Vorschriften, soweit erkennbar, auf dem Verordnungsweg erfolgt. Im Königreich Preußen wurden allerdings mit dem Schulaufsichtsgesetz vom 11.03.1872118 nicht nur wie bisher schon die höheren Schulen, sondern alle Schulen der staatlichen Aufsicht unterstellt und damit die überkommene kirchliche Inspektion der Volksschulen auf der lokalen und Kreisebene sowie bestehende Patronatsrechte von Grundherren aufgehoben.119 Da das Schulaufsichtsgesetz insbesondere im ländlichen Bereich unverändert auch neben- und ehrenamtliche Schulinspektoren zuließ, konnten dies durchaus auch – und das war häufig der Fall – weiterhin Personen sein, die im Hauptamt Geistliche waren. Der Unterschied gegenüber früher bestand in der nunmehr alleinigen Beauftragung und Ernennung durch den Staat sowie die nach § 2 Abs. 2 des Gesetzes jederzeitige Widerruflichkeit dieses Inspektionsauftrags.120 Reichskanzler Otto von Sachsen-Gotha (1863) erweiterte Schulgesetze. Siehe dazu auch: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 886 f. – Nach 1900 wurde in den Ländern ebenfalls fast ausschließlich Volksschulgesetze beschlossen. Siehe dazu: Johannes Tews, Grundzüge der deutschen Schulgesetzgebung, Leipzig 1913, S. 21 ff. 118 „Gesetz, betreffend die Beaufsichtigung des Unterrichts- und Erziehungswesens“ v. 11.03.1872 (PrGS S. 183). Abdruck auch in: Fritz Stier-Somlo, Sammlung in der Praxis oft angewendeter Verwaltungs-Gesetze und Verwaltungs-Verordnungen für Preußen, Bd. 2, Berlin/München 1912, S. 1979; Walter Landé, Preußisches Schulrecht. Kommentar (Sonderausgabe von Max Brauchitsch, Verwaltungsgesetze für Preußen, Bd. 6) 1. Halbband, Berlin 1933, S. 142 ff. mit Kommentierung. 119 Das Schulaufsichtsgesetz war neben dem Kanzelparagraph und dem Jesuitengesetz eines der drei ersten Kampfgesetze im Kulturkampf gegen die katholische Kirche. Nach dessen Beilegung 1878 wurden zahlreiche Gesetze dieser Zeit revidiert; das Schulaufsichtsgesetz war eines der wenigen Gesetze, welches unangetastet blieb. Siehe dazu: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 695, 701 ff.; Wilhelm Ribhegge, Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789– 1947, Münster 2008, S. 215 ff.; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1993, S. 373 f. – Allgemeine Darstellung zum Verhältnis Staat und insbesondere katholische Kirche im Schulwesen des 19. Jahrhunderts: Michael Vondenhoff, Die Schule zwischen Staatsanstalt und causa ecclesiastica. Das Schulwesen des 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Staat und Kirche in seiner rechtsgeschichtlichen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung Preußens, Aachen 2008. 120 Siehe dazu: Anschütz, Verfassungsurkunde, Art. 23 Anm. 2.; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 703 f., 878. – Durch einen Ausführungserlass v. 13.03.1872 zum Schulaufsichtsgesetz wurde festgelegt, alle bisherigen Beauftragungen von Geistlichen zu überprüfen, wozu eine Berichtspflicht der örtlichen Schulaufsicht insbesondere zu deren jeweiligen Loyalität gegenüber dem Staat diente. Während die protestantische Geistlichkeit ihre Inspektionsämter im Regelfall behielt, ersetzte der Kultusminister
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Bismarck (1815–1898) wies dem Schulwesen die Richtung: „Ich rechne auf den Fortschritt, auf die Entwicklung, auf die Schärfung des Urteils durch die Schule“ und fügte hinzu: „nach ihrer vollständigen Emanzipation“.121 Das preußische Schulwesen wurde auch in der Kaiserzeit weiterhin im Wesentlichen durch königliche Direktiven sowie ministerielle Verordnungen, Runderlasse (Regulativen) und Instruktionen geprägt. Hinzu kamen Verfügungen der nachgeordneten, die Vorgaben des Ministeriums vorschriftsmäßig umsetzenden Schulaufsicht in den Provinzen und Regierungsbezirken. Die Strategie der flächendeckenden Versorgung und Kontrolle des Bildungswesens war zu einem „Kernmerkmal des preußischen Bildungswesens“ geworden.122 Da die preußische Kultusverwaltung ab Mitte des 19. Jahrhunderts in den Augen der Öffentlichkeit ein funktionierendes effizientes Unterrichtswesen aufgebaut hatte und in dieser Epoche Preußen allgemein einen „Hochstand des Beamtentums“123 erlebt hatte, wurde das legislative Defizit im Schulrecht auch zu Beginn der Kaiserzeit noch weitgehend akzeptiert. Immer wieder gern wurde in der Öffentlichkeit der vielfach die katholischen Geistlichen durch staatstreue Gymnasiallehrer, Bürgermeister sowie Guts- und Forstbeamte. Siehe dazu: Huber, ebenda. Dass die preußische Kultusadministration bereits vor dem Kulturkampf ein höchst distanziertes Verhältnis zur katholischen Kirche hatte, zeigt eine Denkschrift des Kultusministers Karl Freiherr von Altenstein aus dem Jahre 1819, in der es heißt: „Der preußische Staat ist ein evangelischer Staat und hat über 1/3 katholische Untertanen. Das Verhältnis ist schwierig. Es stellt sich richtig dar, wenn die Regierung für die evangelische Kirche sorgt mit Liebe, für die katholische Kirche sorgt nach Pflicht. Die evangelische Kirche soll begünstigt werden. Die katholische Kirche soll nicht zurückgesetzt werden – es wird für ihr Bestes gesorgt.“ Und zu den Juden heißt es: „Die Juden haben keine Ansprüche auf Fürsorge. Nur die gegen sie übernommene Verpflichtung, sie nicht zu kränken, muß erfüllt werden.“ Abdruck: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Acta Borussia. Neue Folge. 2. Reihe: Preussen als Kulturstaat, Abteilung I. Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Bd. 2.2: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen. Dokumente, Berlin 2010, S. 2 ff., hier S. 3. 121 Zitat nach: Franz J. von Rottenburg, Das Zukunftsprogramm unserer Schulgesetzgebung, Bonn 1906, S. 66. – In seinen Erinnerungen sah Bismarck als bleibende Errungenschaft aus dem Kulturkampf vor allem die „Herrschaft des Staates über die Schule“ an. Siehe: Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, New York/ Stuttgart 1898, S. 479 f. 122 So prägnant: Helmut Fend, Geschichte des Bildungswesens. Der Sonderweg im europäischen Kulturraum, Wiesbaden 2006, S. 174. 123 Zitat: Ulrich Scheuner, Der Staatsgedanken in Preußen, 2. Aufl., Köln/Wien 1983, S. 36. Scheuner bezieht diese Bewertung ausdrücklich auch auf die „Lenker der geistigen Bemühungen des Staates“ und erwähnt namentlich den langjährigen preußischen Kultusminister (seit Gründung des Kultusministeriums 1817 bis 1840), Karl Freiherr von Altenstein. Mit diesem blieb „ein Element vorsichtig-reformpreußischer
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als Anerkennung aus dem Ausland empfundene Spruch des französischen Philosophen und Politikers Victor Cousin (1792–1867), den dieser bereits 1831 in Bezug auf das preußische Volksschulwesen geäußert hatte, zitiert, wonach Preußen „das klassische Land der Schulen und Kasernen“ sei, „der Schulen, welche die Völker zivilisieren, und der Kasernen, welche sie verteidigen.“124 Wie außerordentlich hoch auch um die Jahrhundertwende noch immer die Wertschätzung vor allem im wohlhabenden Bürgertum für das preußische Bildungssystem war, veranschaulicht exemplarisch die Feststellung des jüdischen Justizrates Dr. Martin Lövinson (1859–1930) aus dem Jahre 1906, „daß das heutige Preußen und das heutige Deutschland seinen beispiellosen hundertjährigen Aufschwung in erster Linie seinen Schulen verdankt. Der Schulmeister von Königgrätz125 hat nicht nur unsere blutigen Schlachten gewonnen, er hat auch Tradition in der Schul- und Universitätsabteilung präsent und wirksam“. Zitat: Neugebauer, Einleitung (Fn. 19), S. XV. Für Scheuner (ebenda) war es der entscheidende Grundzug dieser Epoche, dass „Preußen ein Staat der Verwaltung blieb, dessen Fortschritt entscheidend von oben her, von dem gebildeten Beamtenstande gesteuert und bestimmt wurde. Der Aufbau eines einheitlichen wirksamen Verwaltungssystems mit klarer regionaler Gliederung, darüber hinaus die Bewirkung des Zusammenwachsens des vergrößerten Staates zu einer nationalen Einheit ist die Leistung dieser Verwaltung. Man kann daher sagen, an die Stelle politischer Freiheit und eines konstitutionellen Systems trat die Freisetzung der wirtschaftlichen Kräfte und die große administrative Leistung eines fortschrittlichen Beamtenstaates.“ Allerdings sieht Scheuner (ebenda, S. 40) in der Kaiserzeit hier einen deutlichen Wandel: „An die Stelle des alten Beamtenstaates, der oberhalb der Parteien stand, trat eine Staatsführung, die im System der Parteibildungen nun nicht vermeiden konnte, auch selbst einen Platz zu beziehen.“ 124 Zitiert nach: Wolfgang Mitter, Das deutsche Bildungswesen in internationaler Perspektive, in: Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart, Zweiter Teilband: Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer, München 1998, S. 411. – Der Philosophieprofessor und Bildungsexperte Cousin, der in Deutschland studiert hatte, bereiste 1830 im Auftrag der französischen Regierung Preußen. Er sollte das dortige Volksschulwesen untersuchen, um Anregungen für die Ausgestaltung des französischen Primarbildungsbereichs zu gewinnen. Cousin, der später als hoher Ministerialbeamter im französischen Erziehungsministerium arbeitete und diesem 1840 für ein halbes Jahr als Minister vorstand, fertigte drei Berichte über das preußische Bildungswesen, die, insbesondere durch den zitierten Satz, wesentlich zum Mythos von Preußen als „Land der Schulen und Kasernen“ beitrugen. Siehe dazu: Mitter, ebenda; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1994, S. 463. – Zur Aufmerksamkeit im Ausland für das preußische Schulwesen außerdem: Holtz/ Rathgeber, Bildungskonzept (Fn. 12), S. 29. 125 Seit den Einigungskriegen wurden die Volksschullehrer, der „preußische Schulmeister“, zunächst als „Sieger“ von Königgrätz (1866) und später nach der Reichsgründung auch von Sedan (1870) bezeichnet. Nach der Revolution von 1848 nicht zuletzt vom Kaiser der Mitschuld bezichtigt, wurden die Volkschullehrer nunmehr an
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unseren Handel, unsere Industrie, gar nicht zu reden von seiner eigentlichen Domäne, unsere Kunst und Wissenschaft auf eine Höhe gebracht, auf die wir Preußen und Deutschen stolz sein können.“126 Was Bildungsreformer um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erstrebt hatten, ein Schulwesen unter staatlicher Verwaltung, war Wirklichkeit geworden, nicht nur in Preußen, sondern nach der Reichsgründung auch in ganz Deutschland. Schritt für Schritt waren durch die Kultusadministrationen insbesondere am Gymnasium Lehrpläne eingeführt, Abiturprüfungen vereinheitlicht und die Lehrerausbildung in einheitlichen universitären Ausbildungsgängen geregelt worden. Das Gymnasium hatte zwischenzeitlich ein hohes Ansehen und erlebte einen großen Zulauf, da grundsätzlich nicht mehr der Stand, sondern, wenn man das nicht unbeträchtliche Schulgeld bezahlen konnte, die Leistung über die Aufnahme entschied und deshalb frühere Bildungsschranken für das aufstrebende „Bildungs“-Bürgertum durchbrochen wurden.127 Ein entscheiden der Faktor in diesem Prozess war die Kopplung normierter mittlerer und höherer Abschlüsse mit jeweils zugeordneten gestaffelten Berechtigungen zum Studium sowie Staats- und Militärdienst. „Da die Anforderungen und Leistungskriterien im Prinzip überall identisch sein sollten, ging von diesem Egalitätsgebot ein starker Zwang zur Vereinheitlichung der Lehrpläne und Noten, der Versetzungs- und Prüfungsmaßstäbe aus. Dadurch wurden regionale und konfessionelle Unterschiede eingeebnet. Dem Anspruch nach entstand ein gesamtstaatliches Qualifikationssystem, das überall denselben Imperativen gehorchte.“128 Durch die Kopplung von Abschlüssen und darauf aufbauenden Berufskarrieren entstanden
den zahlreichen vaterländischen Gedenktagen gefeiert. Die glorifizierten Siege wurden der durch die formale Elementarbildung erhöhten militärischen Fähigkeiten sowie der „vaterländischen Erziehung“ in der Schule zu „Gehorsam, Demut, Opferbereitschaft, Bescheidenheit, Respekt vor dem Militär, Liebe zum angestammten Herrscherhaus, Bereitschaft zum Dienst für den monarchischen Staat“ zugeschrieben, und letztere jetzt umso mehr betrieben. Vgl.: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. III: 1849–1914, 2. Aufl., München 2006, S. 397 und 1196 f.; Nipperdey, Geschichte 1800–1866, S. 469. 126 Martin Loevinson, Der Entwurf zum Volksschulunterhaltungsgesetz und die Juden. Vortrag, gehalten am 31. Januar 1906 in der öffentlichen Versammlung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Berlin 1906, S. 2 (OnlineRessource: www.judaica-frankfurt.de/content/titleinfo/177907). 127 Dennoch war eine erdrückende Mehrzahl der Schüler Ende des 19. Jahrhunderts weiterhin in der Volksschule. So besuchten 1885 in Deutschland 7,5 Mio. Schüler die Volksschule (96,9 %) und nur 238.000 höhere Schulen (3,1 %). Siehe: Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871–1918 (Deutsche Geschichte, Bd. 9), 7. Aufl., Göttingen 1994, S. 126. 128 So prägnant: Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 411.
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überdies „erstmals auch kalkulierbare Lebensverläufe. Bildung wurde somit zu einem Instrument der Karriereplanung und damit auch der Lebensplanung.“129 2. Jahrelange Reformdiskussionen über die Inhalte der gymnasialen Bildung und hierauf beruhende exekutive Reformen Während der ersten drei Jahrzehnte des Kaiserreiches entwickelten sich andererseits aber über das höhere Schulwesen und gerade das Gymnasium auch intensive Reformdiskussionen. Dabei standen eine Überforderung („Überbürdung“) der Schüler vor allem durch die alten Sprachen, eine Anpassung des Unterrichts an die „Anforderungen der Gegenwart“ von Industrie, Handel und Verwaltung130 sowie eine stärkere nationale Bildung durch mehr Zeit für deutschen Literatur und Geschichte im Mittelpunkt. Im Zuge der jahrzehntelangen öffentlichen Debatten kam es 1873, 1890 und 1900 zu drei größeren Schulkonferenzen sowie sodann in der Folge zum Erlass neuer Lehrpläne für die höheren Schulen (Gymnasien und Realschulen) in Preußen 1882, 1892 und 1901.131 Nachdem Kaiser Wilhelm II. 1888 auf den Thron gestiegen war, hatte dieser die Reformen entscheidend beeinflusst. Vor dem Hintergrund seiner eigenen, noch nicht allzu lang zurückliegenden gymnasialen Erfahrungen (Abitur 1877 am Friedrichsgymnasium in Kassel) hatte er sich in die Kritiker der herkömmlichen Gymnasialbildung eingereiht. „Wir müssen als Grundlage das Deutsche nehmen“, forderte er bei der Eröffnung der Reichsschulkonferenz 1890, „wir wollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer. Wir müssen von der Basis abgehen, die jahrhundertelang bestanden hat, von der alten klösterlichen Erziehung des Mittelalters, wo das Lateinische maßgebend war und ein bißchen Griechisch dazu. Das ist nicht mehr maßgebend. Der deut129 Zitat:
Fend, Geschichte des Bildungswesens, S. 176. vermehrten naturwissenschaftlichen Unterricht in den höheren Schulen forderte neben führenden Naturwissenschaftlern wie Rudolf Virchow und Hermann Helmholtz insbesondere mit einer Massenpetition 1888/89 der Verband Deutscher Ingenieure. Dazu: Hartwin Spenkuch/Rainer Paetau, Kulturstaatliche Intervention, schulische Expansion und Differenzierung als Leistungsverwaltung (1866 bis 1914/18), in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat Bd. 2.1, S. 78 f. 131 Vgl.: F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, S. 576 ff.; Albisetti/Lundgreen, Höhere Knabenschulen (Fn. 63), insb. S. 229 f., 234 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 915 ff. – Ausführliche Fundstellenangaben auch bei: Karl August Bettermann/Manfred Goessl, Schulgliederung, Lehrerbildung und Lehrerbesoldung in der bundesstaatlichen Ordnung. Zugleich ein Beitrag zur Rahmenkompetenz des Bundes und zu Konflikten zwischen Bundes- und Landeskompetenz, Berlin 1963, S. 29 (Fn. 78-80) und S. 31. 130 Einen
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sche Aufsatz muß der Mittelpunkt sein, um den sich alles dreht.“132 Aufgrund dieser kaiserlichen Richtungsansage wurde die Stundenzahl in den alten Sprachen herabgesetzt, die Anfertigung eines lateinischen Aufsatzes aus dem Lehrplan und bereits durch Ministerialverfügung vom 27.12.1890 für die nächste Abiturprüfung gestrichen sowie die Stundenzahl in Deutsch und vaterländischer Geschichte vermehrt.133 3. Die Schule als „besonderes Gewaltverhältnis“ All dies geschah ausschließlich in administrativer Verantwortung, ergänzt und zum Teil gestützt durch kaiserliche Leitlinien und Ordre. Im wilhelminischen Obrigkeitsstaat gab es allgemein keinen Zweifel daran, dass dessen Schule eine öffentliche Anstalt war, deren Benutzung allein durch Anstaltsordnung geregelt werden konnte und die der Anstaltspolizei, der Schulaufsicht, unterworfen war. Im späten 19. Jahrhundert wurde dies dann auch dogmatisch untermauert durch die klassische, insbesondere von Otto Mayer (1846–1924) geprägte Lehre vom „besonderen Gewaltverhältnis“.134 Wer eine öffentliche Anstalt betrieb, 132 Abdruck der Eröffnungsansprache: Gerhard Giese, Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800, Göttingen u.a. 1961, S. 196-200, hier Zitatstelle S. 197; Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 414-419. Wilhelm II. verband damit aber noch eine ganz besondere Intention, die er bereits drei Jahre vorher am 14.10.1897 im Kronrat nach dem Protokoll dieser Sitzung wie folgt zum Ausdruck brachte: „Lt. Wilhelm II ist die ganze Gymnasialerziehung … mit unpraktischem Stoff belastet, besonders den alten Sprachen. Besser ist die Lehrmethode im Kadetten-Korps. Die Klassizität fördert die Sozialdemokraten, und das fortwährende Exemplifizieren auf republikanische Zustände enthält die Gefahr, daß die Gymnasien schließlich lauter junge Republikaner erziehen, die die Monarchie dann steter Kritik unterziehen. Moderne Sprachen und preußische Geschichte sind nötig, zumal fast alle Erfinder des 19. Jahrhunderts ehemalige Realschüler sind.“ Zitat: BBAW, Acta Borussica. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums, Bd. 8/I, Nr. 304, Sitzung des Kronrates v. 14.10.1897, S. 284. Finanzminister Johannes von Miquel unterstützte anschließend laut Sitzungsprotokoll ausdrücklich die Reformgymnasien, aber man müsse noch Erfahrungen sammeln. Auch Bismarck hatte bereits früher vor einer „Züchtung eines staatsgefährlichen Proletariats Gebildeter“ gewarnt. Zitiert nach: Spenkuch/Paetau, Intervention (Fn. 130), S. 76. 133 Ausführliche Darstellung der Veränderungen: F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, S. 599 ff.; siehe auch: Lassahn/Stach, Schulversuche, S. 54; Gustav Louis, Die höheren Knabenschulen, in: Herman Nohl/Ludwig Pallat (Hrsg.), Handbuch der Pädagogik, Bd. IV: Die Theorie der Schule und der Schulaufbau, Langensalza 1928 (Nachdruck Weinheim 1966), S. 228. 134 Grundlegend: Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl., Leipzig 1924 S. 101 f. (1. Aufl. 1895, Nachdrucke der 3. Aufl. Berlin 1969 und 2004). Aus
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errichtete oder betreiben ließ, konnte auch die Benutzungsbedingungen sowie die gesamte innere Ordnung dieser Einrichtung gegenüber den Anstaltsbenutzern, hier den Schülern und deren Eltern festlegen, ohne dass es einer gesetzlichen Regelung bedurfte. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sollte nach damaliger Rechtsansicht insoweit nicht greifen.135 Die Vermittlung von Bildung und Erziehung war nach diesem Rechtsverständnis ausschließlich eine hoheitlich gewährte Leistung und damit war eine schulische Maßnahme, die einen Schüler belastete, schon per se kein Eingriff.136 Wer in die staatliche Bildungsanstalt Schule eintrat, war – wie im Beamten-, Soldaten- und Strafvollzugsbereich – besonderen Treue- und Gehorsamspflichten unterworfen, um die Funktionsfähigkeit der Einrichtung sicherzustellen. Sein Recht, nach der Zulassung zu dieser Anstalt diese zu nutzen, bestand nach Maßgabe der Zweckbestimmung der Anstalt und der erlassenen Anstaltsordnung.137 So findet sich in einem Schreiben des preußischen Kultusministeriums die Formulierung, „daß wer immer sich in ein inländisches Gymnasium begibt … die Verpflichtung übernimmt, sich Allem zu unterwerfen, was dessen Lehr- und Disziplinarverfassung auferlegt“.138 der Fülle der Literatur zum „besonderen Gewaltverhältnis“: Wolfgang Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung: Zur Institu tionalisierung der engeren Staat/Bürger-Beziehungen, Köln 1982; Ludwig Wenninger, Geschichte der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis, Saarbrücken 1982; Detlef Merten (Hrsg.), Das besondere Gewaltverhältnis. Vorträge des 25. Sonderseminars 1984 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1985; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992, S. 411 f. 135 Siehe: Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. II, 3. Aufl., Leipzig 1924 (Nachdrucke Berlin 1969 und 2004), S. 271; Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Berlin 1931 (Nachdruck Bad Homburg u.a. 1966), S. 514. Allgemein: Fritz Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 2. Aufl., Tübingen 1912, § 18, insb. S. 345. 136 Allerdings bedurfte nach Otto Mayer (Verwaltungsrecht, Bd. II, S. 282 Fn. 22) der Schulzwang einer besonderen gesetzlichen Grundlage, wobei dies, wie bereits dargestellt, durch die in den meisten Landesteilen Preußens fortgeltenden vorkonstitutionellen §§ 43 bis 46 II 12 ALR erfolgt war. Die Durchsetzung des Schulzwangs beruhte auf dem Edikt von 1717. Zu Letzterem: Ludwig Mohn, Preußisches Verwaltungsrecht, Berlin 1918, S. 197. Einen in einem Polizeirechtslehrbuch des 19. Jahrhunderts unternommenen Versuch, den Schulzwang unter die allgemeine polizeiliche Generalklausel zu fassen, als obrigkeitliche Tätigkeit zur Abwehr „der Gefahren der Unwissenheit“, konnte nach Mayers Ansicht nur als rechtsgeschichtliche Merkwürdigkeit angesehen werden. Er bezog sich dabei auf: Joseph Pözl, Grundriß zu Vorlesungen über die Polizei. Mit besonderer Rücksicht auf die neuere Polizeigesetzgebung Bayerns, München 1866, S. 19 f. 137 Vgl.: Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 515. 138 Zitat mit Aktenfundstelle bei: Jeismann, Gymnasium, Bd. I, S. 385.
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Die Anstaltsgewalt hatte allerdings auch nach damaliger Rechtsauffassung, selbst wenn der Gesetzgeber diesen Bereich nicht geregelt hatte, gewisse ungeschriebene Grenzen. Vor allem musste sich ihre Ausübung innerhalb des Zweckes der Anstalt halten, hier also des Erziehungs- und Bildungszweckes der Schule. Dies galt ebenfalls für die Mittel der Anstaltsgewalt, etwa bestimmte Ordnungsmaßnahmen der Schule; auch sie waren vom Anstaltszweck abhängig.139 Weiterhin war die Anstaltsordnung, die von der Oberleitung der Anstalt erlassen wurde, für die unmittelbare Anstaltsverwaltung bindend, und zwar kraft der Dienst- und Aufsichtsgewalt. Zwar konnte die Anstaltsordnung von der sie erlassenden Stelle jederzeit abgeändert und auch im Einzelfall durchbrochen werden, nicht jedoch durch die in der Anstalt Tätigen, so dass durch diese vorgenommene Abweichungen im Beschwerdeweg angefochten werden konnten.140 Auf das Schulwesen übertragen bedeutete dies, dass die Schulleitungen und Lehrkräfte an die normativen Vorgaben der Schulaufsicht gebunden waren, und insoweit auch für die Schüler eine entsprechende rechtliche Sicherheit bestand; die Schuladministration selbst hingegen besaß einen großen Spielraum im Bereich der Regelung des inneren Schullebens.141 Die in einem „besonderen Gewaltverhältnis“ befindlichen Untertanen wurden als Teil der staatlichen Einrichtung angesehen, das Schulverhältnis folglich dem staatlichen Binnenbereich zugeordnet. Innerschulische Maßnahmen sollten danach keine Außenwirkung haben, unterfielen damit auch nicht dem, wie oben dargelegt, schon im 19. Jahrhundert geforderten „Vorbehalt des Gesetzes“ für staatliche Eingriffe in Freiheit und Eigentum und waren auch nicht justitiabel. Tatsächlich finden sich bis zum Ende der Weimarer Republik mit Ausnahme von
139 Vgl.:
Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 516. Mayer, Verwaltungsrecht, Bd. II, S. 279. 141 Siehe dazu auch noch für die Zeit der Weimarer Republik instruktiv: Richard Thoma, Der Vorbehalt der Legislative und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Rechtsprechung, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, Tübingen 1932, § 76 II 2: „Soweit ein Individuum in ein ‚spezielles Subjektionsverhältnis‘ (Hänel) oder ‚engeres Gewaltverhältnis‘ (Otto Mayer) zur Staatsgewalt versetzt ist – als Beamter, Soldat, Strafgefangener, Schüler einer Unterrichtsanstalt u. dgl. – gehört die Erlassung auch allgemein-abstrakter Normen zur Regelung dieses Verhältnisses als ‚Verwaltungsverordnung‘ zum Hausgut der Verwaltung. Die förmliche Legislative kann sich dieser Regelungen bemächtigen (und sie dadurch kraft des Vorranges mit Beschlag belegen); aber solange und soweit sie das unterläßt, haben die zuständigen Regierungen oder Verwaltungsbehörden innerhalb des Rahmens des besonderen Unterwerfungsverhältnisses und seiner gesetzlichen Umgrenzungen freies Spiel.“ Zur seinerzeitigen Rechtsauffassung außerdem: Walter Landé, Die staatsrechtlichen Grundlagen des deutschen Unterrichtswesens, in: Anschütz/Thoma, ebenda, § 107 A II (S. 698 ff.). 140 So:
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Regelungen zur Schulpflicht und zur Konfessions- bzw. Simultanschule142 kaum schulgesetzliche Regelungen zu den inneren Schulverhältnissen (also alles, was sich auf das innere Leben der Schule, insbesondere auf Unterricht, Lehrplan, Bildungsziele sowie das Zeugnis- und Berechtigungswesen bezieht), sondern fast ausschließlich Gesetzesvorschriften zu dem Dienst- und Besoldungsrecht der Lehrkräfte sowie den äußeren Schulverhältnissen (Errichtung, Unterhaltung und Ausstattung der Schule).143 Schule war nach dieser, bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts nachwirkenden Einschätzung mithin im Bereich der inneren Schulverhältnisse weitgehend dem Gestaltungswillen der Staatsverwaltung und hier vor allem der Kultusverwaltung anheim gegeben, der Gesetzgebung aber grundsätzlich entzogen. Dabei bediente sich die preußische Kultusverwaltung des 19. Jahrhunderts obendrein, wie es der damalige liberal gesonnene Staatsrechtler Rudolf von Gneist nannte, „biegsamer“ Verwaltungsvorschriften, indem diese ausdrücklich oder stillschweigend immer die Parenthese enthielten „in der Regel“ oder „wo
142 Simultanschule
ist der im 19. Jahrhundert gebräuchliche Begriff für eine Schule, die grundsätzlich ohne Rücksicht auf Bekenntnis oder Weltanschauung von Lehrern und Schülern formiert ist. Die Bezeichnung entstammt dem kirchenrechtlichen Begriff des „Simultaneum“, d.h. dem gemeinschaftlichen Gebrauch des gleichen Kultusgegenstandes durch mehrere Religionsgemeinschaften. Die Simultanschule konnte entweder eine „allgemeine“ oder eine „christliche“ bzw. „christlich-jüdische“ sein, je nachdem, ob sie ohne Rücksicht auf Bekenntnis und Weltanschauung organisiert war oder nur innerhalb bestimmter einzelner Religionsbekenntnisse (der christlichen Kirchen) keinen Unterschied macht. Dem preußischen Schulrecht war bis 1918 die allgemeine Simultanschule, außer bei den berufsbildenden Schulen, fremd; es kannte nur die christliche Simultanschule. Vgl.: Landé, Preußisches Schulrecht, S. 19 f. Später, in der Weimarer Zeit, war in Art. 146 Abs. 1 WRV nicht nur die allgemeine Simultanschule vorgesehen. Es kam hierfür auch der Begriff „Gemeinschaftsschule“ auf, der sich dann bis heute in der Verfassungs- und Schulrechtsterminologie durchsetzte, insbesondere auch in Art. 7 Abs. 5 GG aufgenommen wurde. Der Begriff der Simultanschule (Gemeinschaftsschule) war und ist nicht identisch mit der bekenntnisfreien, d.h. religionslosen (weltlichen) Schule im Sinne von Art. 149 Abs. 1 S. 1 WRV oder der religionslosen Weltanschauungsschule im Sinne von Art. 146 Abs. 2 WRV, Art. 7 Abs. 5 GG. Die Gemeinschaftsschule ist heute in vielen Bundesländern, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, eine christliche Gemeinschaftsschule, siehe Art. 12 Abs. 3 LVerf NRW. 143 Die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Schulangelegenheiten war bereits im ALR durch die dort festgelegte Trennung nach dem Prinzip, die äußeren Angelegenheiten sind Sache des Schulträgers, die inneren des Staates, angelegt. Gerhard Anschütz (Verfassungsurkunde, Art. 23 Anm. 3; ders., Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Kommentar, 14. Aufl., Berlin 1933, Art. 143, Anm. 2) prägte dafür die Formel: „Die Gemeinde baut, als Träger der äußeren Schulverwaltung, der Schule das Haus, Herr im Hause aber ist der Staat.“
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möglich“144. Hierdurch vergrößerte sich der administrative Vollzugsspielraum noch weiter. Die Notwendigkeit, den Schulbereich gesetzlich zu regeln, wurde zwar von reformorientierten Kräften nachdrücklich eingefordert, doch wandten diese sich andererseits gleichermaßen gegen ein zu enges Korsett aus Gesetzen und Verordnungen, um den Schulen und Lehrkräften genügend pädagogische Freiräume zu erhalten. Exemplarisch für diese Auffassung stehen die Ausführungen des Päda gogen Johannes Tews (1860–1937), der jahrzehntelang als Geschäftsführer der „Gesellschaft für Volksbildung“ tätig sowie an führender Stelle im „Deutschen Lehrerverein“ aktiv war, in dessen seinerzeit viel beachtetem Werk „Grundzüge der Schulgesetzgebung“ aus dem Jahre 1913.145 Unter der Überschrift „Grenzen der Schulgesetzgebung“ sah er es als schwierig an, „die Grenzen zu bezeichnen, bis zu der die Schulgesetzgebung gehen soll, also anzugeben, was das Gesetz selbst bestimmen soll und muß, was den Verordnungen der oberen Behörden zu überlassen und was von den nachgeordneten Körperschaften, den Schulvertretungen, den Lehrerkollegien und schließlich von dem einzelnen Schulbeamten und Lehrer selbständig zu entscheiden ist.“ Die Grenzen zog er dann wie folgt: Von Gesetzgebung und Verordnung unberührt müsse auf jeden Fall die Methode des Unterrichts bleiben. Auch liege alles im engeren Sinne Pädagogische außerhalb der Gesetzgebung und die oberbehördlichen Verordnungen müssten sich hier ebenfalls eine Zurückhaltung auferlegen. Schließlich seien in Bezug auf den Lehrstoff gesetzliche und allgemeine Anordnungen misslich. „Wissenschaft und Leben“ dürften allein darüber entscheiden, was aus den einzelnen Wissensgebieten aktuell zu lehren und nicht zu lehren sei. Die Gesetzgebung dürfe den Lehrstoff schon deshalb nicht im Einzelnen festlegen, weil jeder Unterricht kultur- und zeitgemäß sein müsse.146 144 Rudolf
von Gneist, Die staatsrechtlichen Fragen des Preußischen Volksschulgesetzes, Berlin 1892, S. 107: „Wir können dies kirchliche und Schulgebiet zur Zeit noch nicht in gleicher Schärfe begrenzen, wie die Gebiete der rein weltlichen Verwaltung, Polizei, Steuerpflicht, Communalverfassungen, Militärpflicht. Wir müssen uns mit biegsamen Verwaltungsnormen begnügen, ähnlich denen des vorigen Jahrhunderts.“ 145 Siehe, auch für die nachfolgenden Zitate: Tews, Schulgesetzgebung, S. 7 f. 146 Eine ähnliche Sichtweise zur gebotenen Zurückhaltung des Staates in pädagogischen Fragen findet sich bereits ein halbes Jahrhundert vorher bei: Max von Oesfeld, Preußen in staatsrechtlicher Beziehung. Das innere Staatsrecht mit besonderer Bezugnahme auf die Preußische Verfassungs-Urkunde vom 31. Januar 1850, Breslau 1858, S. 106: „Die Pädagogen sind keineswegs einig, was in der Volksschule eigentlich gelehrt werden soll; über die Methode des Unterrichts und über vieles Andere herrscht Streit. Übernimmt der Staat die Leitung, so muß er über die Einführung dieses oder jenes System seinen Entschluß fassen, und da entsteht dann die Gefahr, daß, je nachdem das Ministerium des Unterrichts verschieden besetzt ist, bald die eine, bald die andere Methode sich empfehlen wird.“
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Für die Gesetz- und Verordnungsgebung blieb somit auch nach Tews’ Ansicht nur die Regelung der „äußeren Verhältnisse“ übrig, wobei die entsprechenden Bestimmungen mit anerkannten pädagogischen Grundsätzen nicht in Widerspruch treten dürften. Die Schulgesetzgebung habe also vor allem die materiellen und rechtlichen Grundlagen der äußeren Schulverhältnisse (namentlich nannte er die Lehrerbesoldung), die Mitwirkenden und ihre Funktion zu regeln. „Dem eigentlichen Schulleben, der pädagogischen Arbeit, bereitet das Gesetz eine geschützte und äußerlich hergerichtete Stätte, sichert den Arbeitenden ihr Recht, ihr Brot, freie Bewegung gegenüber äußeren Störungen. Mehr nicht.“ Und schließlich warnte er eindringlich: „Zu viele Gesetze, zu viel unbedingte Bindung macht kleinlich und zaghaft, engt das Denken und Wollen nicht nur ein, sondern erzieht zum Verzicht auf die Betätigung eigener Anschauungen und eigenen Willens.“ In einer früheren Ausarbeitung ging Tews auch auf die unterschiedliche Interessenlage bei der Schulgesetzgebung ein. „Während die Behörden geneigt sind, in dem Rahmen des Gesetzes einen möglichst weiten Spielraum für ihre auf dem Verwaltungswege zu erlassenden Anordnungen zu behalten, legen die übrigen Parteien, die Eltern, die Lehrer, die Kirche usw., gerade Gewicht darauf, daß Einzelheiten des Unterrichtswesens ebenfalls gesetzlich fixiert und dadurch die Befugnisse der Behörden möglichst beschränkt werden.“147 4. Zulassung von Reformschulen und Versuchsschulen durch ministerielle Ausnahmegenehmigungen Öffentliche Schulen bedurften seit der staatlichen Durchdringung des Schul wesens nunmehr nicht nur gemäß dem ALR II 12 § 2 einer Errichtungsgeneh migung,148 sondern auch einer Ausnahmegenehmigung des Kultusministeriums, wenn sie vom herkömmlichen Aufbau des Schulwesens und den ministeriellen Lehrplänen abwichen. Da letzteres fast ausnahmslos durch Verwaltungsvorschriften geregelt war und der Schulbereich als „besonderes Gewaltverhältnis“ galt, war die Genehmigung ein Ermessensakt149 der Kultusverwaltung, der – soweit erkennbar – keiner besonderen Ermächtigungsgrundlage bedurfte 147 Zitat: Johannes Tews, Unterrichtsgesetzgebung, in: Wilhelm Rein (Hrsg.), Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 9, 2. Aufl., Langensalza 1909, S. 441. 148 Die Zuständigkeit für die Genehmigung einer neuen höheren Schule lag in Preußen beim Kultusministerium, für die niederen Schulen bei den nachgeordneten Schulaufsichtsbehörden. Siehe: Conrad Bornhak, Grundriß des Verwaltungsrechts in Preußen und dem Deutschen Reiche, 9. Aufl., Leipzig 1928, S. 204. 149 Der auch gelegentlich so in den Kultuserlassen bezeichnet wurde, etwa in den Erläuterungen zum Lehrplan für die Realschulen von 1859 (Fn. 57), S. 46: „wird dem Ermessen der Aufsichtsbehörden überlassen“.
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und keinen rechtlichen, insbesondere gesetzlichen Bindungen unterlag. In den wenigen Fällen, in denen schulrechtliche Regelungswerke ausdrücklich die Möglichkeit einer „Abweichung“ vorsahen, waren jedenfalls die dafür erforderlichen Genehmigungen der Schulaufsicht keinen eingrenzenden rechtlichen Voraussetzungen unterworfen. Die Schulaufsicht entschied über solche Abweichungen demzufolge aufgrund von fachlicher Zweckmäßigkeit.150 So genehmigte das preußische Kultusministerium etwa mit Erlass vom 15.02.1884 die sogenannte „Berliner Realschule“ als „einen durch die besonderen Verhältnisse der Stadt Berlin veranlassten Versuch, den begabtesten Schülern der Gemeindeschulen (gemeint waren damit die Volksschulen) die Möglichkeit zum Erwerbe einer höheren Bildung zu verschaffen.“ Die 14 am Versuch teilnehmenden Realschulen hatten einen gegenüber den bestehenden Realschulen später einsetzenden und damit reduzierten Fremdsprachenunterricht bei stärkerer Betonung des Deutsch- und Mathematikunterrichts.151 Auch der Kaiser unterstütze aktiv die Gründung von „Reformschulen“. Der Begriff „Reformschulen“ wurde zur damaligen Zeit ausschließlich für Schulen des höheren Schulwesens verwendet, in denen schulstrukturelle Veränderungen insbesondere im Hinblick auf die reale Bildung und die Behandlung der Sprachen versucht wurden, nicht jedoch für Strukturveränderungen im Bereich des Volksschulwesens.152 Diesbezüglich kam, worauf noch einzugehen sein wird, im Zuge der reformpädagogischen Bewegungen der Begriff Versuchsschule auf. Der Kaiser ordnete im Jahre 1900 eine unbegrenzte Ausweitung des 1892 begonnenen „Frankfurter Versuchs“ an, einer Kombination aus Realschule sowie humanistischem und Realgymnasium mit gemeinsamer „lateinloser“ Unterstufe. Dieser Versuch war die Weiterentwicklung des bereits 1878 vom Ministerium genehmigten „Altonaer Versuchs“ eines gemeinsamen Unterbaues von Realschule und Realgymnasium.153 Die Einrichtung dieser Schulen habe sich „nach den bisherigen Erfahrungen im ganzen bewährt. Durch den die Realschulen mitumfassenden gemeinsamen Unterbau bietet sie zugleich einen nicht zu 150 Vielleicht aber nicht gerade so, wie es Otto Mayer für „manchen wackeren Verwaltungsmann“ der damaligen Zeit kolportiert, der „sich zu dem Spruche bekennt: in der Verwaltung komme es nicht auf das Recht, sondern nur auf die Zweckmäßigkeit an.“ Zitat: Otto Mayer, Justiz und Verwaltung (Rektoratsrede von 1902), in: Erk Volkmar Heyen (Hrsg.), Otto Mayer. Kleine Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. I, Berlin 1981, S. 76. 151 Zu diesem Berliner Realschulversuch: Otto Kley, Die deutsche Schulreform der Zukunft. Tatsächliches und Grundsätzliches zur Einheitsschulfrage, Köln 1917, S. 155. 152 Siehe etwa: K. Knabe, Reformschulen, in: Wilhelm Rein (Hrsg.), Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 7, 2. Aufl., Langensalza 1908, S. 351-371. 153 Siehe dazu: Fritz Karsen, Deutsche Versuchsschulen der Gegenwart und ihre Probleme, Leipzig 1923, S. 7 f.; Knabe, ebenda, S. 358; Spenkuch/Paetau, Intervention (Fn. 130), S. 80 f.
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unterschätzenden sozialen Vorteil. Ich wünsche daher, dass der Versuch nicht nur in zweckentsprechender Weise fortgeführt, sondern auch, wo die Voraussetzungen zutreffen, auf breiterer Grundlage erprobt wird.“154 Bereits fünf Jahre vorher hatte der damalige Kultusminister Robert Bosse eine weitere Versuchsschule nach dem Frankfurter Modell in Hannover genehmigt, um, wie er in einem Rechenschaftsbericht für den König darlegte, „bei der Entscheidung nicht auf die Ergebnisse dieses einen Versuchs allein angewiesen zu sein.“ Außerdem drückte er die Hoffnung aus, dass sich bald in Berlin und Breslau weitere solche Reformschulen ermöglichen ließen.155 Diese Förderung der Reformschulen von höchster Stelle nach einem entsprechenden Versuchsvorlauf hatte zur Folge, dass Preußen zu Beginn des Ersten Weltkrieges 23 Reformgymnasien und 89 Reformrealgymnasien hatte, denen 318 normale Gymnasien gegenüberstanden.156 Der nachfolgende Kultusminister Konrad von Studt sah durch die erhebliche Vermehrung der Reformschulen die Möglichkeit gegeben, den Reformplan an den mannigfaltigsten Anstaltsformen und unter verschiedenen Verhältnissen zu erproben. Er holte Karl Reinhardt, den Direktor des Frankfurter Goethe-Gymnasiums, also einer derjenigen Schulen, die als erste den Versuch gestartet hatten, 1904 nach Berlin in das Kultusministerium. Dessen Aufgabe war es vor allem, bei Anträgen auf Einrichtung weiterer Reformschulen festzustellen, ob an den betreffenden Orten die Voraussetzungen für das Gelingen des Versuchs erfüllt wurden.157
154 Die Anweisung zur Ausweitung des Versuchs war in der bereits erwähnten Kabinettsordre Wilhelm II. zur Gleichberechtigung der höheren Schulen v. 26.11.1900, dort in der abschließenden Ziff. 5, enthalten. Abdruck: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 419-421. 155 Siehe: Immediatbericht des Kultusministers Robert Bosse v. 01.07.1895, abgedruckt in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat, Bd. 2.2, S. 13 ff., hier S. 22. – Der Kultusminister gestattete sich dort aber auch gegenüber dem König, der diese Reformschulen wünschte, den Hinweis, „daß angesichts der Erheblichkeit der entgegenstehenden didaktischen Bedenken die größte Vorsicht für ein weiteres Vorgehen nach dieser Richtung geboten erscheint, und dies um so mehr, als der Übergang von einer höheren Schule neueren Systems auf eine alten Systems und umgekehrt so gut wie ausgeschlossen ist.“ 156 Vgl.: Kley, Schulreform, S. 155; Louis, Knabenschulen, S. 230. Tabellarische Auflistung mit Erläuterungen auch bei: Knabe, Reformschulen, S. 359 ff. – Instruktiv im Hinblick auf die spätere Verbreitung des Frankfurter Modells eines gemeinsamen Unterbaus auch das „Verzeichnis der zur Hochschulreife führenden Lehranstalten des Deutsches Reiches“ v. 21.12.1922 (RMBl. S. 167 ff.), in dem die nach dem Frankfurter Lehrplan organisierten höheren Schulen kenntlich gemacht worden waren. 157 Siehe dazu: Immediatbericht des Kultusministers Konrad Studt v. 08.04.1904, abgedruckt in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat, Bd. 2.2, S. 77 ff., hier S. 111.
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Die gymnasialen Reformen der Kaiserzeit waren nicht nur zwischen den glühenden Verfechtern der „humanistischen“ auf der einen und der „realen“ Bildung auf der anderen Seite Gegenstand heftiger Kontroversen. Es gab auch eine weit verbreitete grundsätzliche Kritik, dass zu viele „Schulexperimente“ gemacht worden seien, und es sei „eine Unterrichtsordnung … nach der anderen mit eilfertiger Hast erlassen worden.“158 Demgegenüber sah die Unterrichtsverwaltung eine zu lösende Hauptaufgabe gerade darin, eine gleichmäßige Durchführung der um die Jahrhundertwende in einer schnellen Abfolge geschaffenen Lehrpläne für die höheren Schulen zu überwachen. Sie setzte auf eine verstärkte Kontrolle durch Unterrichtsbesuche der Aufsichtsbehörden und führte in den einzelnen Provinzen in regelmäßigen Abständen stattfindende Direktorenkonferenzen ein, an die neben den lokalen Aufsichtsbehörden auch Vertreter des Ministeriums entsandt wurden, um selbst auf die richtige Auffassung der Lehrpläne hinzuwirken.159 In einem Runderlass an alle Provinzialschulkollegien vom Juli 1911 stellte das Ministerium klar, dass die amtlichen Lehrpläne nicht in dem Sinne aufzufassen seien, als ob alle darin angedeuteten Lehraufgaben in gleichmäßiger Weise durchgearbeitet werden müssten. Insbesondere sei der Ansicht in den Schulen entgegenzuwirken, dass der gesamte Lehrstoff, den ein amtlich genehmigtes Lehrbuch enthalte, zu verarbeiten und anzueignen sei,160 – ein Monitum, dass bis heute an Aktualität nicht verloren hat. 5. Aufwertung der Volksschulbildung ab 1872 bei gleichzeitigem Fortbestand des Stadt-Land-Gefälles Die nach der 1848er Revolution eingeleitete rückschrittliche Volksschulpolitik, die viele Initiativen und pädagogische Versuche zur Hebung der Elementarbildung zurückgeworfen hatte, wurde 1872 unter dem nationalliberalen Kultusminister Adalbert Falk (1827–1900) mit den (bereits bezüglich der Mittelschulen erwähnten) „Allgemeinen Bestimmungen für die Volksschule“ wieder aufgegeben. Die Stiehl‘schen Regulativen einschließlich Ergänzungen hierzu aus 1859 und 1861 wurden ausdrücklich aufgehoben.161 Die fortschreitende Industrialisierung und wirtschaftliche Expansion, die immer mehr Arbeitskräfte mit einem hinreichenden Fundus an grundlegender Bildung benötigten, ließen 158 Ferdinand
Jakob Schmidt, Volksvertretung und Schulpolitik, Berlin 1919, S. 27. dazu: Immediatbericht Studt (Fn. 157), S. 108 f. 160 Runderlass des Kultusministeriums an alle Provinzialschulkollegien v. Juli 1911, abgedruckt in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat, Bd. 2.2, Dokumente, S. 311, hier S. 314. 161 Siehe „Allgemeine Bestimmungen des Königl. Preuß. Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 15.10.1872, betreffend das Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesen“ (Fn. 69). 159 Siehe
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einen solchen schulpolitischen Anachronismus nicht mehr zu. Allerdings gibt es, worauf in der jüngeren Bildungsforschung verstärkt hingewiesen wird, andererseits Anzeichen dafür, dass der erste verbindliche Volksschullehrplan und der zu seiner Umsetzung ausgeübte kultusbehördliche Druck auf die gemeindlichen Schulträger (einschließlich der hierdurch nunmehr fast vollständigen Realisierung der Schulpflicht) in der Schulwirklichkeit zu einer Vereinheitlichung des Volksschulwesens und die normierte Seminarausbildung zu einer Professionalisierung der Lehrkräfte beitrugen, und beides insoweit durchaus regional zu einer Verbesserung des Bildungsniveaus und damit zu einem sichtbaren Modernisierungseffekt führte.162 Die neuen Bestimmungen für die Volksschule von 1872 hoben bereits im ersten Paragraph hervor, dass nunmehr nicht nur die einklassige Volksschule, sondern auch die mehrklassige Volksschule eine „normale Volksschuleinrichtung“ ist. Gleichzeitig werden jetzt die „Realien“ mit Geschichte, Geographie und Naturkunde verpflichtend (§ 13 und zu den einzelnen Inhalten §§ 31 bis 35).163 Der Religionsunterricht hingegen wird stundenmäßig reduziert (§ 14). Der Rechenunterricht wird deutlich anspruchsvoller; das Bruchrechnen und die „Lehre von den Wurzelextractionen“ gehören jetzt zum Pensum der VolksschulOberstufe wie auch die „eingehende Behandlung der Dezimalbrüche“ (§ 28). Eine ausdrückliche Möglichkeit, vom Lehrplan und der vorgeschriebenen Unterrichtsorganisation abzuweichen, war auch in diesem Regelungswerk nicht vorgesehen. Zwar waren damit systemverändernde pädagogische Experimente ausgeschlossen, andererseits die Lehrgegenstände durchaus so offen formuliert, dass den Volksschullehrern beachtliche inhaltliche Freiräume verblieben. Bezüglich des Lehrstoffes äußerte freilich 1885 der damalige konservative Kultusminister Gustav von Goßler (1838–1902) in einer Sitzung des preußischen Kabinetts, es sei „überspannten Anforderungen bestimmt entgegenzutreten, zumal es unmöglich scheint, für alle Volksschulen der Monarchie programmatisch festzu-
162 Zu
dieser differenzierten Bewertung in der jüngeren Forschung: Wolfgang Neugebauer, Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Otto Büsch (Hrsg.), Handbuch der Preußischen Geschichte., Bd. II: Das 19. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 1992, S. 737 f.; Gerhard Kluchert, Die Preußischen Regulative von 1854 im Kontext der deutschen Bildungsgeschichte, Tagungsbericht 2004, in: Historische Bildungsforschung Online (http://www. fachportal-paedagogik.de/hbo/hbo_set.html?Id=434); Holtz/Rathgeber, Bildungskonzept (Fn. 12), S. 44 m.w.N. 163 § 13: „Die Lehrgegenstände der Volksschule sind Religion, deutsche Sprache (Sprechen, Lesen, Schreiben), Rechnen nebst den Anfängen der Raumlehre, Zeichnen, Geschichte, Geographie, Naturkunde und für die Knaben Turnen, für die Mädchen weibliche Handarbeiten.“
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stellen, welches das Maß des Lehrstoffes sein soll“.164 Die Unterrichtsqualität in den Volksschulen verbesserte sich im Übrigen auch durch die seit 1872 erfolgte verstärkte Einführung von Schulbüchern.165 Insgesamt knüpfte die preußische Volksschule nunmehr wieder an die vormalige Aufwertung der Volksschulbildung an: „Bildung war auch als Volksbildung in das allgemeine Bewusstsein eingedrungen,“166 wenn auch das deutsche Wort „Bildung“ selbst – unter fehlinterpretierender Verkürzung des Humboldt’schen Bildungsideals – bis heute oftmals immer noch allein mit höherer Bildung gleichgesetzt wird. Es gehört bei allen nicht gering zu achtenden Unzulänglichkeiten zu den großen Leistungen der preußischen Volksschulpolitik des 19. Jahrhunderts, nicht nur die fast hundertprozentige Erfüllung der Schulpflicht, sondern dadurch auch die Alphabetisierung im Kaiserreich endgültig durchgesetzt zu haben.167 Und dies war, nachdem der Humboldt’sche Reformaufbruch im Zuge der Restauration erlahmte, nicht in erster Linie eine Leistung der Politik, sondern der Schuladministration. Die Verwaltung hat im Modellland Preußen, aber auch überall in Deutschland den Ausbau der Volksschulen, wie der Historiker Thomas Nipperdey resümiert, kontinuierlich und fast lautlos weitergeführt, „die Gründung oder finanzielle und bauliche Konsolidierung von Schulen in jeder Gemeinde durchgesetzt – oft gegen deren Widerstand –; den Bürgern war die Schule zu teuer. Auf dem Lande wurden aus bloßen ‚Winterschulen‘ ganzjährige Schulen. Die Schulverwaltung hat die Beachtung der Schulpflicht erzwungen – gegen den Widerstand der Eltern, die auf dem Lande wie in der Stadt an der Mithilfe und Arbeitskraft der Kinder interessiert waren, gegen den Widerstand der Fabrikanten, die an Kinderarbeit interessiert waren, gegen den Widerstand anderer Verwaltungszweige, die solchen ‚Eingriff‘ in die Wirtschaftsfreiheit scheuten. Der Staat war der Promoter dieser tiefgreifenden Modernisierung.“168
164 Zitat: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Acta Borussica. Neue Folge. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817– 1934/38, Bd. 7, Hildesheim 1999, Nr. 226, Sitzung des Staatsministeriums v. 10.06.1885, S. 176. In der übernächsten Sitzung am 13.07.1885 (Nr. 228, ebenda, S. 177) bestand Einvernehmen über eine „Begrenzung des Lehrstoffes der Volksschule“. 165 Hinweis bei: Holtz/Rathgeber, Bildungskonzept (Fn. 12), S. 65. 166 Zitat: Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 154. – Zur Entwicklung des Volksschulwesens in den anderen deutschen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: von Rönne, Unterrichts-Wesen, Teil 1, S. 33 ff. 167 Vgl.: Frank-Michael Kuhlemann, Niedere Schulen, in: Berg, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV, S. 179. Siehe auch zur Schulbesuchs- und Analphabetenquote unter Berufung auf zeitgenössische Statistiken: Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, 4. Aufl., Weinheim/München 2005, S. 31. 168 Zitat: Nipperdey, Geschichte 1800–1866, S. 463.
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Mitunter waren solche Anstrengungen auch höchst politisch motiviert. Um das weitere Aufkommen der Sozialdemokratie zurückzudrängen, wurden 1890 Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Arbeiter eingeleitet. Kaiser Wilhelm II. listete in einer Sitzung des Kronrates den aus seiner Sicht bestehenden Handlungsbedarf auf und zählte dazu ausdrücklich: „gute Schulen“.169 In den Volksschulen allerdings beklagte zunehmend die Lehrerschaft eine stete Beunruhigung des Unterrichtsbetriebes durch eine Häufung immer neuer, von oben kommender Reformen. Mit ihrer diesbezüglichen Kritik an der preußischen Schulverwaltung fand sie auch öffentlich Gehör. So heißt es in einer zeitgenössischen Schrift: „Namentlich in den niederen Schulen wird vielfach eine übertriebene Methodenhascherei betrieben, fachliche Reformen reißen nicht ab: dann ist dieses, dann jenes Fach der Liebling der Behörden.“170 169 Siehe:
BBAW, Acta Borussica. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums, Bd. 7, Nr. 388, Sitzung des Kronrates v. 24.01.1890, S. 275. – Daneben war Wilhelm II. bestrebt, auch durch Einwirkung auf die Unterrichtsinhalte die Schule als Kampfplatz gegen die Sozialdemokratie zu instrumentalisieren. Dies versuchte er, wie bereits dargestellt, durch die Veränderung der Lehrinhalte an den höheren Schulen, vor allem aber durch seine berüchtigte „Allerhöchste Order vom 01.05.1889, betreffend Bekämpfung sozialistischer und kommunistischer Ideen durch die Schulen“. Darin hieß es: „Schon längere Zeit hat Mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben. Aber Ich kann Mich der Erkenntnis nicht verschließen, daß in einer Zeit, in welcher die sozialdemokratischen Irrtümer und Entstellungen mit vermehrtem Eifer verbreitet werden, die Schule zur Förderung der Erkenntnis dessen, was wahr, was wirklich und was in der Welt möglich ist, erhöhte Anstrengungen zu machen hat. Sie muß bestrebt sein, schon der Jugend die Überzeugung zu verschaffen, daß die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern in Wirklichkeit unausführbar und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich sind. Sie muß die neue und die neueste Zeitgeschichte mehr als bisher in den Kreis der Unterrichtsgegenstände ziehen und nachweisen, daß die Staatsgewalt allein dem einzelnen seine Familie, seine Freiheit, seine Rechte schützen kann und der Jugend zum Bewußtsein bringen, wie Preußens Könige bemüht gewesen sind, in fortschreitender Entwicklung die Lebensbedingungen der Arbeiter zu heben, von den gesetzlichen Reformen Friedrichs des Großen und von Aufhebung der Leibeigenschaft an bis heute. Sie muß ferner durch statistische Tatsachen nachweisen, wie wesentlich und wie konstant in diesem Jahrhundert die Lohn- und Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen unter diesem monarchischen Schutze sich verbessert haben.“ Zitiert nach: Egon von Bremen, Die preußische Volksschule. Stuttgart 1905, Anhang, S. 230 f.; Abdruck auch in: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 409. 170 Zitat: Kley, Schulreform, S. 20. Der Autor, ein damaliger Studienrat am Gymnasium in Neuwied/Rheinland, belegt seine Einschätzung u.a. mit einem Bericht der Köl-
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Das Hauptproblem war allerdings die immer noch bestehende Überfüllung der Volksschulen. Diese waren seit 1887 nunmehr auch durch gesetzliche Bestimmung als diejenigen öffentlichen Schuleinrichtungen definiert, die „zur Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienen“.171 Die Schwierigkeiten durch überfüllte Volksschulen und Klassen wuchsen, wie in einem Bericht des Kultusministers Konrad von Studt (1838–1921) an Wilhelm II. vom April 1904 festgehalten wurde, trotz aller Anstrengungen der Behörden und zusätzlicher Staatsmittel „von Jahr zu Jahr“. Der Bericht führte als Grund allerdings nicht nur die starke Vermehrung der Bevölkerung an, sondern auch eine gesteigerte Fluktuation der Arbeiterbevölkerung, eine mangelnde Leistungsfähigkeit der Schulunterhaltspflichtigen und einen empfindlichen Lehrermangel.172 Die Bewältigung der großen Schülermenge war für die Volksschullehrer eine tägliche Herausforderung und Bewährungsprobe. Sie zehrte derart an ihren Kräften, dass bei den meisten Volksschullehrern nicht nur die Zeit, sondern auch die Begeisterung für weitere pädagogische Experimente und Versuche – über die ohnehin durch die Schulaufsicht auf sie einströmenden Neuerungen hinaus – kaum vorhanden waren. Hatte 1864 die Schülerzahl pro Klasse 72 betragen, waren 1886 immer noch durchschnittlich 64 und 1911 noch 51 Kinder in einer Volksschulklasse. Auf einen Lehrer kamen in den 1880er Jahren noch 67 Schüler, später dann noch 49. Besonders prekär war die Situation in den ländlichen Gegenden. An rund 70 % der Landschulen hatte ein Lehrer sogar 120 bis 200 Schüler zu unterrichten,173 und dies, obwohl in den „Allgemeinen Bestimmungen für das Volksschulwesen“ von 1872 in einer Sollvorschrift für einklassige Volksschulen eine Obergrenze von – freilich ebenfalls weitaus zu hohen – 80 Schülern
nischen Volkszeitung vom 10.03.1912, wonach in den Volksschulen durch die Schulbehörden alle möglichen neuen Methoden „ausprobiert“ werden. 171 § 1 „Gesetz, betreffend die Festsetzung von Anforderungen für Volksschulen“ v. 26.05.1887 (PrGS S. 175). 172 Immediatbericht Studt (Fn. 157), S. 94. 173 Zu den Zahlen: Kuhlemann, Niedere Schulen (Fn. 167), S. 192; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 1195; Gudjons, Pädagogisches Grundwissen, S. 96. Etwas divergierende, aber in der Grundtendenz übereinstimmende Zahlen: Holtz/Rathgeber, Bildungskonzept (Fn. 12), S. 31. – Zum Vergleich: Der Klassenfrequenzrichtwert an Grund- und Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen betrug 2012 24 Schüler (§ 6 der Verordnung zur Ausführung des § 93 Abs. 2 Schulgesetz), die tatsächliche durchschnittliche Klassenstärke lag im Schuljahr 2011/2012 noch darunter, in den Grundschulen bei 23,2 und in den Hauptschulen bei 21,4. Quelle: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (Hrsg.), Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2011/12. Statistische Übersicht 375, 3. Aufl., Düsseldorf 2012, S. 11.
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festgesetzt war.174 Die Hälfte der Landschulen waren 1886 noch solch einklassige Schulen, 1911 immerhin noch 30 %.175 Das schon immer bestehende Stadt-Land-Gefälle blieb bis zum Ende des Kaiserreiches auch insoweit für das preußische Volksschulwesen prägend, als in den Landschulen der kirchliche Einfluss, trotz der formalen Aufhebung der kirchlichen Schulinspektion durch das Schulaufsichtsgesetz von 1872, weiterhin erheblich war. Da die öffentlichen Volksschulen in Preußen alle konfessionell ausgerichtet waren und bis zum Ersten Weltkrieg 95 % aller evangelischen sowie 90 % aller katholischen Kinder eine Volksschule ihrer Konfession besuchten,176 konnten die Geistlichen aufgrund ihrer besonders im ländlichen Bereich dominanten Stellung nicht nur über den – häufig von ihnen erteilten – Religionsunterricht in die Volksschulen hineinregieren. Zudem konnten Geistliche, wie bereits aufgezeigt, weiterhin als neben- und ehrenamtliche Schulinspektoren tätig sein, jetzt nicht mehr als Teil einer kirchlichen, sondern der staatlichen Schulaufsicht. Es spricht viel dafür, dass durch den weiterhin bestehenden starken Einfluss der Geistlichen die intendierte staatliche Bildungspolitik oftmals nur unzureichend umgesetzt werden konnte.177 Die gesamten traditionellen Strukturen auf dem Land trugen ihres dazu bei, dass in den dortigen Volksschulen im Regelfall kein Nährboden für pädagogische Reformversuche vorzufinden war. Im Volksschulbereich konzentrierten sich Bestrebungen zur Modernisierung des Unterrichts vielmehr im großstädtischen Umfeld. Der Bildungsforscher Jürgen Oelkers weist zutreffend darauf hin, dass insgesamt die Reform der Volksschulen bis 1914 wesentlich zögerlicher verlief als diejenige der Gymnasien und auch weit weniger öffentliches Interesse fand. Versuchsschulen seien auch hier entstanden, aber immer nur solche, die zum System gepasst hätten. Als typische Entwicklung des Volksschulsystems nennt er „Arbeitsschulen“ wie etwa die Augusta-Schule in Dortmund, also Schulen, die besonderes Gewicht auf Selbsttätigkeit und handwerkliche Arbeit legten.178
174 § 2: „In der einklassigen Volksschule werden Kinder jedes schulpflichtigen Alters in ein und demselben Locale durch einen gemeinsamen Lehrer unterrichtet. Die Zahl derselben soll nicht über achtzig liegen.“ – Ein nicht verabschiedeter Unterrichtsgesetzentwurf von 1850 hatte in § 8 noch vorgesehen, dass ein Volksschullehrer nicht mehr als 100 Kinder zu gleicher Zeit unterrichten sollte. Abdruck: Froese/Krawietz, Schulgesetzgebung, S. 55. 175 Vgl.: Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 1195. 176 Zu den Zahlen: Wehler, ebenda. 177 Vgl.: Kuhlemann, Niedere Schulen (Fn. 167), S. 180, 204. – Zeitgenössische, teils polemische Kritik an der „Unterordnung der Schule unter die Geistlichkeit“: Tews, Schulgesetzgebung, S. 14 ff. 178 Siehe: Oelkers, Reformpädagogik, S. 99.
Zweites Kapitel
Reformpädagogische Schulversuche im wilhelminischen Deutschland I. Anfänge der Reformpädagogik Ende des 19. Jahrhunderts 1. Vielfalt der reformpädagogischen Ansätze Die Kritik an den sich im 19. Jahrhundert herausgebildeten staatlichen Schulen führte in der zweiten Hälfte der wilhelminischen Epoche zwar hauptsächlich zu Reformen innerhalb des Systems, getragen und umgesetzt von der Kultusadministration. Seit den 1880/90er Jahren entstanden indes auch zunächst aus kleinen, personengebundenen Anfängen Reformbewegungen, die diese staatlichen Schulen sowie generell den Zugriff des alles reglementierenden (Obrigkeits-) Staates auf das Bildungswesen mehr oder weniger ablehnten. Außerdem rieben sich diese neuen pädagogischen Strömungen am sogenannten Herbartianismus, einer starren formalen Unterrichtsmethodik, die seit Mitte des Jahrhunderts die wissenschaftliche Pädagogik beherrschte und die Pädagogik Pestalozzis in den Schulen abgelöst hatte.1 Die Bildungskonzeptionen der immer zahlreicheren, sich auch wissenschaftlich zu Wort meldenden Reformpädagogen waren äußerst heterogen. Es gibt – so Jürgen Oelkers – keine geschichtliche Einheit, keine 1 Diese pädagogische Richtung ging zurück und war benannt nach dem Philosophen und Pädagogen Johann Friedrich Herbart (1776–1841). Dieser hatte das Konzept eines „erziehenden Unterrichts“ entwickelt, das später von seinen Schülern zu einem strengen Unterrichtsschema („Formalstufenlehre“) ausgebaut worden war: „Analyse, Synthese, Assoziation, System, Methode“; oder auch später mit den deutschen Bezeichnungen: „Vorbereitung, Darbietung, Verknüpfung, Ordnung, Anwendung“. Kritisiert wurde von den Reformpädagogen eine sich über die Jahre herausgebildete starre Anwendung d ieser didaktischen Methode, weil sie freiere und offenere Unterrichtsformen und auch Herbarts ursprünglicher Forderung nach „eigener Beweglichkeit“ der Schüler entgegenstehe. Vgl.: Ulrich Herrmann, Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik, in: Berg, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV, S. 161 f. – Siehe allgemein: Erich E. Geissler, Herbarts Lehre vom erziehenden Unterricht, Heidelberg 1970; Dietrich Benner, Die Pädagogik Herbarts. Eine problemgeschichtliche Einführung in die Systematik neuzeitlicher Pädagogik, 2. Aufl., Weinheim/München 1993.
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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fest umrissene Größe „Reformpädagogik“.2 Als begriffliche Annäherung kann darunter ein Bestreben verstanden werden, Erziehungsmethoden an den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Kindes auszurichten und nicht Forderungen der Gesellschaft oder religiöse Vorschriften in den Mittelpunkt zu stellen.3 Reformpädagogische Themen sind vor allem: Autonomie des Kindes, Natürlichkeit der Entwicklung, Individualität und Eigenverantwortlichkeit des Lernens, Betonung der ganzheitlichen Bildung, Schule als Lebensgemeinschaft. Sie wurden von der Reformpädagogik vereinnahmt, auch wenn Comenius, Pestalozzi oder Herbart einzelne dieser Prinzipien bereits vorher in ihrer Pädagogik verankert hatten. Nun wurden diese Prinzipien dauerhaft und quasi exklusiv mit dem Etikett der Reformpädagogik versehen und galten fortan gemeinsam mit diesem – bis in die Gegenwart anhaltend – als Ausdruck einer „modernen“ Pädagogik. Die Reformpädagogik erreichte in der Kaiserzeit allerdings zunächst nur eine geringe Anzahl von Schulen. Weitaus gewichtiger waren der wissenschaftliche Diskurs und die publizistische Wirkung, die vor allem auch auf die spätere reformpädagogische Debatte in der Weimarer Republik ausstrahlte. Mit der Reformpädagogik kommt insbesondere die Bezeichnung „Versuchsschule“ (und „Versuchsklasse“) erstmals im pädagogischen Schrifttum zur breiteren Verwendung; der Versuch, das pädagogische Experiment gehört zum Instrumentenkasten der Reformpädagogik. Der zeitgenössische Chronist postuliert: „Versuchsklassen! Versuchsschulen! sind Programmforderungen der modernen Schulbewegung. Sie beweisen, daß die Reformer mit Maß vorgehen; denn durch gut vorbereitete Versuche wird soviel wie nichts aufs Spiel gesetzt; wohl aber wird die Gewähr eines wirklichen Fortschritts gegeben.“4 Da die meisten reformpädagogischen Versuche im Volksschulbereich stattfanden, assoziierte man die „Versuchsschule“ im Laufe der Zeit mit der Volksschule. Demgegenüber wurde, wie bereits erwähnt, in der Kaiserzeit der Begriff „Reformschule“ nicht mit Versuchsstätten im Volksschulbereich, sondern mit solchen im höheren Schulwesen verbunden. 2. Verflechtung mit anderen neuen gesellschaftlichen Bewegungen und der aufkeimenden Kulturkritik Der reformpädagogische Aufbruch war eng verwoben mit den gesellschaftlichen Bewegungen der damaligen Zeit: der Frauen-Bewegung, die insbesondere auch für die überfällige Möglichkeit höherer Bildung von Mädchen und die 2 Oelkers,
Reformpädagogik, S. 17 ff. Alfred Riedl, Didaktik der beruflichen Bildung, Stuttgart 2004, S. 40 f. 4 Zitat: P. Vogel, Die Leipziger Versuchsklassen, in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 8 (1914), S. 175. 3 So:
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
gleichberechtigte Zulassung von Frauen zum Lehrerberuf kämpfte;5 der aus dem „Wandervogel“ hervorgegangenen Jugend-Bewegung mit ihrer Hinwendung zum Natur- und Gemeinschaftserleben, gekoppelt mit einem zwar nicht originär politisch motivierten Freiheitsdrang, aber doch deutlich gegen Verkrustungen der wilhelminischen Gesellschaft und die Bevormundung durch Eltern und Lehrer gerichtet;6 sowie den zahlreichen, als Antwort auf die brennenden sozialen Fragen der Industriegesellschaft entstandenen sozialen Bewegungen, die sich nicht zuletzt der prekären Lage von betroffenen Kindern und Jugendlichen annahmen. Im kirchlichen Bereich gründete der Theologe und Pädagoge Johann Hinrich Wichern (1808–1881) die „Innere Mission“ der Evangelischen Kirche (den Vorläufer des heutigen Diakonischen Werkes), Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811–1877) rief die „Katholische Arbeitnehmer-Bewegung“ ins Leben und der Priester und Publizist Adolph Kolping (1813–1865) legte das Fundament für das später nach ihm benannte katholische „Kolpingwerk“. Außerdem ist in diesem Zusammenhang die Arbeiterbewegung zu nennen, aus der sich zum Ende des Jahrhunderts neben der Sozialdemokratischen Partei die Gewerkschaftsbewegung herausbildete.7 Der geistige Boden für die Reformpädagogik wurde nicht zuletzt durch die radikale Kulturkritik zum Ende des ausgehenden Jahrhunderts mit bereitet. Den kulturellen Untergang im Zuge des materiellen Aufschwungs beschwörend, attackierte diese mit im Einzelnen recht unterschiedlicher Stoßrichtung auch die Bildungsprobleme der bürgerlichen Fortschrittsgesellschaft. Breite Aufmerksamkeit erzielte der Kulturschriftsteller Julius Langbehn (1851–1907) mit einer Kritik am Rationalismus und an der Verwissenschaftlichung der Bildung in seinem Hauptwerk „Rembrandt als Erzieher, von einem Deutschen“ (1890), der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) mit vier „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, gerichtet vor allem gegen eine „Übersättigung“ mit historisch orientierter Bildung, und der Kulturphilosoph Paul de Lagarde (1827–1891), der in seinem bekanntesten Werk „Über die Klage, daß der deutschen Jugend der Idealismus fehle“ (1885) die Verantwortung hierfür in erster Linie der Erwachsenengeneration selbst zuschrieb.8 5 Zu
den pädagogischen Forderungen: Herrlitz u.a., Schulgeschichte, S. 83 ff. Walter Laqueur, Die deutsche Jugendbewegung, Köln 1978, insb. S. 14 ff.; Herrmann (Fn. 1), S. 168 ff. 7 Allgemein dazu: Wolfgang Scheibe, Die reformpädagogische Bewegung, 10. Aufl., Weinheim/Basel 1999, S. 28 ff. 8 Dazu ausführlich: Scheibe, Bewegung, S. 5 ff.; Oelkers, Reformpädagogik, S. 76 ff.; Herman Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland, in: Herman Nohl/ Ludwig Pallat (Hrsg.), Handbuch der Pädagogik, Bd. I: Die Theorie und die Entwicklung des Bildungswesens, Langensalza 1933, S. 130 f. – Siehe auch, mit Textauszügen: Wilhelm Flitner, Zur Einführung, in: ders./Gerhard Kudritzki (Hrsg.), Die deutsche 6 Dazu:
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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3. Identitätsstiftende Pädagogik „vom Kinde aus“ (Ellen Key, Berthold Otto) Zu einem Art Schlagwort und identitätsstiftenden Kern nicht nur der deutschen reformpädagogischen Bewegung avancierte ab der Jahrhundertwende die Forderung nach einer Pädagogik, die „vom Kinde aus“ denkt. Die Dänin Ellen Key (1849–1926) formulierte damit in ihrem in vielen Sprachen übersetzten Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ (deutsche Ausgabe 1902)9 den Anspruch einer neuen Wahrnehmung und Achtung des Kindes, den die allermeisten Schulreformer begeistert aufnahmen. Hart ging sie mit dem deutschen Bildungswesen ins Gericht. Die Seelen der Deutschen würden schon im Kindergarten „für die Uniform einexerziert“; in den Schulen würden durch Zucht, Gehorsam und Prügelpädagogik Untertanen herangezogen. Die eigentliche Aufgabe der Erziehung war demgegenüber für Ellen Key, Hindernisse aus dem Wege zu räumen und die Natur des Kindes sich selbst entfalten zu lassen.10 Eine besondere Abneigung empfand sie gegen Zeugnisse und Preise in der Schule; sie seien ein in Grund und Boden unsittliches Erziehungsmittel.11 In Deutschland fand die Orientierung an den von Ellen Key immer wieder betonten Rechten des Kindes derart großen Anklang, dass die Losung „vom Kinde aus“ in einer Vielzahl von reformpädagogischen Schriften auftauchte.12 Sie machte sich auch Berthold Otto (1859–1933) zu eigen, ein Reformer, für den die Haltung gegenüber dem Kind im Vordergrund jedes pädagogischen VerReformpädagogik. Bd. 1: Die Pioniere der pädagogischen Bewegung, 2. Aufl., Düsseldorf/München 1967, S. 15 f. 9 Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, Berlin 1902 (Nachdruck 36. Aufl. von 1926, Weinheim/Basel 2000 mit einem Nachwort von Ulrich Herrmann, Die „Majestät des Kindes“ – Ellen Keys polemische Provokationen). 10 Key, Jahrhundert, passim, insbesondere im Kapitel „Die Seelenmorde in den Schulen“, S. 219 ff. – Vgl. dazu: Dietrich Benner/Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Teil 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik, 2. Aufl., Weinheim/Basel 2009, S. 57 ff.; A. Flitner, Reform, S. 13 ff.; Dieter Schulz, „Das Jahrhundert des Kindes“ (Ellen Key). Zukunftsgerichtete Rückschau, in: Petra Korte (Hrsg.), Kontinuität, Krise und Zukunft der Bildung. Analysen und Perspektiven, Münster 2004, S. 327 ff. 11 Key, Jahrhundert, S. 157 f. 12 Exemplarisch: Johannes Gläser, „Vom Kinde aus“. Arbeiten des pädagogischen Ausschusses der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens Hamburg, Hamburg-Braunschweig 1920; Theo Gläss (Hrsg.), Pädagogik vom Kinde aus. Aufsätze Hamburger Lehrer, Weinheim 1920. – Zur Rezeption in Deutschland: Theo Dietrich (Hrsg.), Die pädagogische Bewegung „Vom Kinde aus“, 4. Aufl., Bad Heilbrunn 1982; A. Flitner, Reform, S. 30 ff.; Edgar Weiss, „Vom Kinde aus“. Ein reformpädagogischer Slogan und seine Problematik, in: Archiv für Reformpädagogik 3 (1998), S. 3-50.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
haltens stehen musste. Interessanterweise auf Vorschlag des preußischen Kultusministeriums, das auf seine theoretischen Schriften aufmerksam geworden war, gründete er 1906 in Berlin-Lichterfelde eine – ministeriell als Versuch anerkannte – „Hauslehrer-Schule“. Die bis zu seinem Tod 1933 von ihm geleitete „Berthold-Otto-Schule“ war das Ziel vieler Besucher und eine der bekanntesten Reformschulen der damaligen Zeit. Allerdings konnte Otto nicht einer der reformpädagogischen Richtungen zugeordnet werden. Schule sollte ein „Staat im Kleinen“ sein, keine Großorganisation und „Zwangsanstalt“, sondern wie im früheren Hauslehrerunterricht eine kleine Gruppe oder moderne Großfamilie, die ohne „Erziehungsbürokratie“ auskommt, insbesondere keinen die Lerninhalte für alle Kinder nivellierenden Lehrplan kennt. Eltern konnten am Unterricht mitwirken, die Schüler die Schulverfassung im Unterricht selbst erarbeiten, der Lehrer verstand sich als Freund und Vertrauter des Kindes und der Unterricht sollte sich in einem dialogischen „freien geistigen Verkehr“ mit den Schülern vollziehen.13 Ein bedeutender Reformpädagoge der Weimarer Zeit, Fritz Karsen, zeigte jedoch bereits damals das Defizit dieser Form eines Gesamtunterrichts auf. Der pädagogische Ansatz Ottos stelle den Menschen außerhalb des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, nähre in ihm den irrigen Glauben, als könne er von sich aus einen neuen Arbeitsrhythmus, der vielleicht in einem kleinen Kreis möglich sei, in die Welt bringen. Die Grenze dieses Ansatzes sei eine „gewisse soziale Hintergrundlosigkeit“.14
II. Hauptströmungen der reformpädagogischen Bewegung In der reformpädagogischen Bewegung lassen sich im wilhelminischen Deutschland folgende Hauptströmungen ausmachen: 1. Landerziehungsheimbewegung Die ersten reformpädagogischen Versuchsschulen, die in Deutschland entstanden, waren die Landerziehungsheime von Hermann Lietz (1868–1919). 13 Siehe,
insbesondere auch zum reformatorischen Konzept: Scheibe, Bewegung, S. 80; Oelkers, Reformpädagogik, S. 174 ff.; W. Flitner (Fn. 8), S. 25 f.; Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 2, S. 165 ff. – Aus der zeitgenössischen Literatur: Helmut Alberts, Aus dem Leben der Berthold Otto-Schule, Berlin 1925. 14 Fritz Karsen, Deutsche Versuchsschulen, in: Lehrerverband Berlin (Hrsg.), Die neuzeitliche deutsche Volksschule. Bericht über den Kongreß Berlin 1928, Berlin 1928, S. 291.
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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Dieser gründete zwischen 1898 und 1904 drei private Landerziehungsheime, das Landerziehungsheim in Ilsenburg (Harz) sowie die Hermann-Lietz-Schulen Haubinda in Thüringen und Schloss Bieberstein in Hessen. Nach diesem Vorbild entstanden, teilweise auch in kritischer Distanz zu Lietz, weitere ländliche private Internatsschulen wie etwa die „Freie Schulgemeinde Wickersdorf“ in Südthüringen (1906),15 die Odenwaldschule in Hessen (1910), die Schule in Schloss Salem (1920) und das Landschulheim Birklehof im Schwarzwald (1932). Die im Einzelnen durchaus differenzierte deutsche Landerziehungs heim bewegung fußt auf einem damaligen Grundgedanken von Lietz: Die alte Schule ist eine Lernschule, die einseitig den Intellekt bildet, hingegen erfolgt keine Erziehung und Charakterbildung. Die Lernschule muss durch eine Erziehungsschule ersetzt werden, in der Lehrkräfte und Schüler gemeinsam leben, arbeiten und lernen. Dies kann nicht durch Änderungen am Bestehenden verwirklicht werden, sondern nur durch die Neugründung von nicht staatlichen Schulen.16 Wegen der negativen Einflüsse der Großstadt (Fabriken, Militär- und Mietskasernen, ausschweifende Lebensformen) bedarf es Schulen und Internate auf dem gesunden, schönen Land („Zurück zur Natur!“), in denen vielfältige gemeinsame körperliche und künstlerische Betätigungen sowie einfaches Landleben einen breiten Raum einnehmen.17 Die Landerziehungsheime waren somit Versuchsschulen, denen es nach ihrem eigenen Selbstverständnis zunächst weniger um die Erprobung neuer pädagogischer Methoden ging, sondern um die Entfaltung der geistigen Kräfte ihrer Schüler in einem „natürlichen“ Leben in einer Gemeinschaft. In einem Programm des Landschulheims am Solling war zu lesen: „Freilich werden diejenigen enttäuscht sein, die von einer Versuchsschule lediglich technische, mit Massenbetrieb rech15 Zu dieser heute nicht mehr bestehenden Gründung des Reformpädagogen Gustav Wynecken, der vor allem als „streitbarer Protagonist der Vision einer autonomen Jugendkultur“ bekannt wurde: Peter Dudek, „Versuchsacker für eine neue Jugend“. Die freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906–1945, Bad Heilbrunn 2009, dort auch Zitat S. 8. 16 Zitat: Hermann Lietz (Die Deutsche Nationalschule. Beiträge zur Schulreform aus den Deutschen Landschulheimen, Leipzig 1911, S. 83): „Wie soll da den Reformen Eingang verschafft werden? Nach und nach kann einzelnes in den öffentlichen Schulen eingeführt werden. Aber der ganze Reformplan kann zunächst immer nur von wenigen Schulen erprobt werden. Da der Staat nicht über solche Versuchsschulen verfügt, so müssen eben nichtstaatliche diesen Dienst leisten.“ 17 Siehe dazu: Hermann Lietz, Deutsche Land-Erziehungsheime. Erziehungsgrundsätze und Organisation der Deutschen Land-Erziehungsheime, Leipzig 1906. Aus der Sekundärliteratur: Herbert Bauer, Zur Theorie und Praxis der ersten deutschen Landerziehungsheime, Berlin 1961; Theo Dietrich (Hrsg.), Die Landerziehungsheimbewegung, Bad Heilbrunn 1967; Lassahn/Stach, Schulversuche, S. 51 ff.; Scheibe, Bewegung, S. 111 ff.; Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 2, S. 67 ff.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
nende Reformen erwarten. Uns liegt es ob, überhaupt erst wieder einmal eine Schule hinzustellen … die von der Jugend freudig bejaht wird“.18 Die staatlichen Schulaufsichtsbehörden taten sich zunächst schwer mit den aufkommenden privat getragenen Landerziehungsheimen: dem Unterricht ohne Lehrbücher und ohne strikte Orientierung am staatlichen Lehrplan, dem Anspruch „nach eigenem Gesetz zu leben und zu arbeiten“.19 Die Propagierung einfachen gemeinsamen Lebens auf dem Lande war ihnen suspekt. Außer Frage stand, dass die staatliche Schulaufsicht sich auch auf Privatschulen wie die Landerziehungsheime erstreckte. § 1 II 12 ALR, wonach Schulen Veranstaltungen des Staates waren, hatte für alle bis dahin bestehende Formen der Unterrichtserteilung ein Aufsichtsrecht des Staates begründet. Wer eine private Schule errichten wollte, musste nach § 3 II 12 ALR gegenüber der örtlichen Schulaufsichtsbehörde „seine Tüchtigkeit zu diesem Geschäfte nachweisen, und seinen Plan, sowohl in Ansehung der Erziehung, als des Unterrichts, zur Genehmigung vorlegen.“ Die hiernach geforderte Tüchtigkeit galt dabei nicht nur für sämtliche Unterrichtsgegenstände, die in den Lehrplänen der öffentlichen Schulen vorgesehen waren, sondern auch für solche, die – wie in den Landerziehungsheim-Versuchsschulen – nicht Lehrgegenstände der öffentlichen Schulen waren. Dies wurde in einer Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1912 damit begründet, dass der Zweck dieser gesetzlichen Bestimmung nicht allein darin bestehe, einen unzulänglichen, hinter dem Bildungsgrad der öffentlichen Schulen zurückbleibenden Privatunterricht zu verhindern, sondern vielmehr auch in dem „Schutze der Jugend vor den Gefahren eines schädlichen Unterrichts und der Einwirkung übelgesinnter Lehrer“.20 Gemäß einer unverändert fortgeltenden Kabinettsorder aus dem Jahre 1834 sollte sich der Nachweis der Tüchtigkeit, über die die örtliche Aufsichtsbehörde ein Zeugnis auszustellen hatte, dementsprechend auch „nicht auf die Tüchtigkeit zur Unterrichtserteilung in Beziehung auf Kenntnisse beschränken, sondern sich auf Sittlichkeit und Lauterkeit der Gesinnungen in religiöser und politischer Hinsicht erstrecken“.21 Aber auch nach der Errichtungsgenehmigung konnten die Schulaufsichtsbehörden gemäß § 4 II 12 ALR eine umfassende Kontrolle über die privaten Schulen ausüben. Die Schulaufsicht war danach befugt und verpflichtet, sich 18 Zitat nach: Herman Nohl, Die pädagogische Bewegung und ihre Theorie, 2. Aufl.,
Frankfurt a.M. 1935 (Nachdruck 2002), S. 84. 19 Zitat: H. W. Jannasch, Das Landschulheim am Solling, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 135. 20 Beschl. des Reichsgerichts in Strafsachen v. 07.12.1912, RGSt 46, 312 (320). Siehe dazu auch: Mohn, Verwaltungsrecht, S. 198 ff. 21 „Allerhöchste Kabinettsorder v. 10.06.1834, betreffend die Aufsicht des Staats über Privatanstalten und Privatpersonen, die sich mit dem Unterrichte und der Erziehung der Jugend beschäftigen“ (PrGS S. 135).
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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darüber Kenntnis zu verschaffen, „wie die Kinder gehalten und verpflegt, wie die physische und moralische Erziehung derselben besorgt, und wie ihnen der erforderliche Unterricht gegeben werde“. Zwischen den Landerziehungsheimen und den Schulaufsichtsbehörden kam es immer wieder zu Konflikten über deren reformpädagogischen Vorstellungen. Jahrelang stritt man über die gewünschte Berechtigung, in den Heimen staatlich anerkannte, aber vom Regelsystem abweichende Abschlussprüfungen durchführen zu können. Die Heimschüler hatten sich zum Erwerb schulischer Abschlüsse ausnahmslos einer Externenprüfung zu unterziehen. Hermann Lietz forderte gerade deswegen nachdrücklich: „Da auf dem Gebiete der Erziehung kein Fortschritt ohne fortgesetzte Versuche denkbar ist, so sind diese durch die Behörden zu ermöglichen und zu begünstigen.“22 Keine rechtlichen Schwierigkeiten bestanden für die Landerziehungsheime im Hinblick auf die Aufnahme von Schülern. In Preußen und auch in den anderen Ländern genügte es – bis zum Beginn der Weimarer Republik – zur Erfüllung der Schulpflicht, dass die Eltern die Kinder nicht ohne den für die öffentliche Volksschule vorgeschriebenen Unterricht ließen. Es gab demnach eine Unterrichtspflicht, aber keine Schulbesuchspflicht. Deshalb war es möglich, seine Kinder ohne besondere Ausnahmegenehmigung auf Privatschulen zu schicken oder ihnen sogar einzig Privatunterricht erteilen zu lassen.23 Die Landerziehungsheime blieben trotz ihrer nicht zu unterschätzenden Ausstrahlung auf die reformpädagogische Bewegung letztlich Exoten im Schulsystem für einige Wenige. Fast alle Schüler an diesen privaten Erziehungsheimen entstammten den höheren Gesellschaftsschichten; so waren in den von Lietz gegründeten Heimen nur 1,2 % Kinder von Handwerksmeistern und 0,1 % von Arbeitern.24 Angesichts der homogenen Herkunft der Schülerschaft war der Beitrag dieser Schulen zur Auflösung der Spannungen zwischen den sozialen Schichten in der wilhelminischen Gesellschaft und damit – nicht nur wegen ihrer geringen Zahl – als Vorbild für das damalige Regelschulsystem äußerst
22 Zitat:
Lietz, Nationalschule, S. 15. Julius Hatschek/Paul Kurtzig, Lehrbuch des deutschen und preußischen Verwaltungsrechts, 8. Aufl., Leipzig 1931, S. 516. – Für Preußen: §§ 43 bis 46 ALR sowie „Allerhöchste Kabinettsorder v. 14.05.1825, betreffend die Schulzucht in den Provinzen, wo das Allgemeine Landrecht noch nicht eingeführt ist“ (PrGS S. 149), dort § 1: „Eltern, oder deren gesetzliche Vertreter, welche nicht nachweisen können, dass sie für den notwendigen Unterricht der Kinder in ihrem Hause sorgen, sollen erforderlichenfalls durch Zwangsmittel und Strafen angehalten werden, jedes Kind nach zurückgelegtem fünften Jahr, zur Schule zu schicken.“ 24 Alle Zahlen zur Zusammensetzung der Schülerschaft bei: Bauer, Theorie, S. 200. 23 Vgl.:
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
begrenzt.25 Dies änderte sich auch nicht grundlegend in der Weimarer Zeit, in der die „kritische Intelligenz“ ein – bis in die jüngste Vergangenheit reichendes – außerordentliches Interesse an diesen Schulen entwickelte und sie dadurch einen erheblichen Bekanntheitsgrad erlangten.26 Auch wurde die ländliche Abgeschiedenheit von Beginn an selbst von anderen Reformpädagogen kritisch gesehen. So merkte der bereits erwähnte Berliner Reformer Fritz Karsen auf einem Lehrerkongress 1928 an, die Landerziehungsheime würden für ihre aus verschiedensten Gebieten und Familien herkommenden Schüler „ein künstliches Milieu“ gestalten, „schaffen Erziehung in der Absonderung vom gegebenen Alltag“.27 Nach den im Jahre 2010 erfolgten Enthüllungen über jahrzehntelangen massiven sexuellen Missbrauch von Schülern durch Lehrer an der reformpädagogisch äußerst prominenten Odenwaldschule, aber auch von Missbrauchsfällen in Schloss Salem oder schon vor hundert Jahren bei Gustav Wynecken, dem Gründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, ist heute vor allem die kritische Frage in den Vordergrund gerückt, ob Missbrauch eine „systemisch immanente Gefahr“ in den Landerziehungsheimen war. In einer abgewogenen, nicht generalisierenden Betrachtung spricht Heinz-Elmar Tenorth diesbezüglich an die „problematischen Kontexte, die in diesem Milieu z.B. in den Ansichten über Sexualität und in der homoerotischen Praxis existierten oder im latenten bis manifesten Anti-Feminismus der männlichen Jugendbewegung oder in den problematischen Vorstellungen vom Körper, die hier, aber auch sonst in der Pädagogik der Reformära existierten. Problematische Unterscheidungen wie die von Eros und Sexualität haben hier ebenso ihren Ursprung wie das den Missbrauch anscheinend zumindest begünstigende Familienprinzip in Internatsschulen“.28
25 Ebenso: Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 2, S. 89. – Die Reformerin Ellen Key (Jahrhundert, S. 223) drückte dies wie folgt aus: „Die sehr wenig zahlreichen Privatschulen, die sich in gewissem Masse von dem allgemeinen Systeme unterscheiden, sind Schwalben, die, weit davon entfernt, Sommer zu machen, das Schicksal der zu früh gekommenen Vögel teilen!“ 26 Dazu, auch zur Begrifflichkeit: Schmitt, Versuchsschulen, S. 162. 27 Karsen, Versuchsschulen (Fn. 14), S. 293. 28 Siehe: Heinz-Elmar Tenorth, „Missbrauch“ – Pädagogik, zur Kenntlichkeit entstellt? Über Nähe und Distanz, Praktiken und Emotionen, Macht und „erziehende Gewalten“, in: RdJB 2011, S. 140-147, und hier Zitat S. 142. Statt vieler auch: Heiner Ullrich, Das große Erbe der Reformpädagogik und die schwere Last des sexuellen Missbrauchs – Pädagogische Beiträge zum 100. Jahrestag der Gründung der Odenwaldschule, in: Jahrbuch der Historischen Bildungsforschung 19 (2010), S. 322-343.
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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2. Arbeitsschulbewegung Einen erheblichen Einfluss auf die spätere reformpädagogische Bewegung in der Weimarer Zeit hatte die im ausgehenden Kaiserreich einsetzende und nach dem Ersten Weltkrieg fortgesetzte Arbeitsschulbewegung, wobei diese eine breite Palette unterschiedlicher Realisierungsansätze vornehmlich im Volkschulbereich umfasste. Die Arbeitsschule war, anders als das Landerziehungsheim, kein neues Schulmodell, sondern ein neues Unterrichts- und Erziehungsprinzip. Den bekanntesten pädagogischen Leitfaden dazu verfasste 1912 der Münchener Stadtschulrat Georg Kerschensteiner (1854–1932).29 Der „Arbeitsschulgedanke“ bedeutete nach dem Verständnis seines Vordenkers eine Abkehr von der traditionellen Buchschule. Erste Aufgabe der öffentlichen Erziehung sei es, die Berufsbildung des Einzelnen zu gewährleisten bzw. vorzubereiten. Hierbei wird die Bedeutung der manuellen Arbeit für jeden Einzelnen sowie für die Gesellschaft hervorgehoben. Arbeit sei Charakterbildung, „Formgebung des ganzen Menschen von innen heraus“. Aus dem Geiste der Arbeitsgemeinschaft erwachse die „Versittlichung“ des großen Gemeinwesens. Die Arbeitsschule erfülle so die Forderung einer staatsbürgerlichen Erziehung. Im Gegensatz zur den als solche gebrandmarkten wilhelminischen Buch-, Lern- und Paukschulen („Drillschule“) sollte in der Arbeitsschule das selbstständige, aktive und praktische Arbeiten der Schüler gefördert werden. Die Lerninhalte versuchte man, in deutlicher Abkehr vom Humboldt’schen Bildungsverständnis, an das spätere Berufsleben der Lernenden anzupassen und darauf auszurichten. An der Spitze stand die Erziehung zur beruflichen Tüchtigkeit. Dieser Betonung der „manuellen Tätigkeiten“ in der Volksschule setzte ein anderer Hauptvertreter der Arbeitsschulbewegung, Hugo Gaudig (1860–1923), sein in der unterrichtlichen Praxis stärker angenommenes Konzept entgegen, wonach alle Arbeitsformen in der Schule durch das Prinzip der Selbsttätigkeit, der „freien geistigen Schularbeit“, beherrscht sind. Statt um staatsbürgerliche Erziehung als
29 Georg Kerschensteiner, Begriff der Arbeitsschule, Leipzig/Berlin 1912 (Nachdruck Bremen 2010). Siehe auch: Johannes Kühnel, Arbeitsunterricht, in: Reichsministerium des Innern (Hrsg.), Die Reichsschulkonferenz 1920. Ihre Vorgeschichte und Vorbereitung und ihre Verhandlungen, Leipzig 1921, S. 159-173; Nohl, Theorie, S. 50-65; Oelkers, Reformpädagogik, S. 179 ff. – Viele zeitgenössische Aufsätze zur Arbeitsschule sind seinerzeit erschienen in der Zeitschrift „Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform“, hrsg. v. „Bund für Schulreform“, der Zeitschrift „Die Deutsche Schule“, hrsg. v. „Deutschen Lehrerverein“, sowie in der seit 1912 auch als „Die Arbeitsschule“ firmierenden Zeitschrift des „Deutschen Vereins für Knabenhandarbeit und Werkunterricht“.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
Bildungs- und Erziehungsziel der Schule gehe es außerdem in erster Linie um die Entwicklung der Persönlichkeit, wozu die Entfaltung aller Kräfte gehöre.30 Die Arbeitsschulbewegung setzte auf Schulversuche und es wurden auch später in der Weimarer Republik, vor allem mit den Leipziger Versuchsschulen, entsprechende umfassende Schulversuche gestartet. Kerschensteiner bedauerte allerdings die Kurzlebigkeit von Versuchen, wofür er auch die Pädagogen verantwortlich machte. Es sei „eine völlig begreifliche, aber keineswegs erfreuliche Erscheinung, daß man in pädagogischen Kreisen das Ergebnis von Versuchen nicht abwarten kann. Kaum daß sie begonnen, setzt sofort die öffentliche Kritik ein, weil leider alle Versuche auf dem Gebiete der öffentlichen Erziehung nicht wie jene des Arztes in der Stille und Verborgenheit des Laboratoriums gemacht werden und langsam ausreifen können.“31 Ein Befund, der bis heute höchst aktuell ist, allerdings auch für die Schulpolitik und die schulpolitisch interessierte Öffentlichkeit gilt.
3. Kunsterziehungsbewegung Das Wecken der individuellen schöpferischen Kräfte war gleichfalls das Ziel der mit der Arbeitsschulbewegung eng verknüpften Kunsterziehungsbewegung. Die Erziehung zur und durch die Kunst sah jene als Basis der Geistesbildung an. Hatte Julius Langbehn mit seinem Erfolgsbuch „Rembrandt als Erzieher“ vor allem die bildende Kunst als Quelle der Erneuerung des geistigen Lebens herausgestellt, weiteten die von ihm mit inspirierten pädagogischen Reformer dies auf alle Kunstsparten aus. Das Kind sei ein Künstler von Geburt an. Es gelte, die natürliche Ausdrucksfähigkeit des Kindes, dessen gestaltendes Spielen und formendes Schaffen, in der Schule für die Entwicklung der geistigen Kräfte zu nutzen, dem „Genius im Kinde“ deshalb ein freies Wirkungsfeld zu bieten statt diesen wie im herkömmlichen Unterricht in kürzester Zeit zu zerstören.32
30 Ausführlich
zu Person und Werk von Hugo Gaudig und auch zur 1911 auf einem Kongress zur Arbeitsschulbewegung ausgetragenen Kontroverse mit Georg Kerschensteiner: Scheibe, Bewegung, S. 188 ff.; Oelkers, Reformpädagogik, S. 180 ff.; W. Flitner (Fn. 8), S. 26 ff. 31 Zitat: Georg Kerschensteiner, Die nationale Einheitsschule. Auszugsweiser Abdruck eines Vortrags auf der Deutschen Lehrerversammlung zu Kiel (Pfingsten 1914), in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 8 (1914), S. 269 – Kerschensteiner bezog sich dabei auf die Kritik am Mannheimer Modellversuch von Begabungsklassen in den dortigen Volksschulen; siehe zu diesem Versuch unten in diesem Kapitel IV. 3. 32 Vgl.: Scheibe, Bewegung, S. 139 ff.; W. Flitner (Fn. 8), S. 30 f.
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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Die neue Bewegung formierte sich auf drei Kunsterziehungstagen, 1901 in Dresden mit dem Thema Zeichenunterricht und bildende Kunst, 1903 in Weimar mit Sprache und Dichtung und 1905 in Hamburg mit Musik und Gymnastik. Diese Tagungen, die Künstler und Pädagogen besuchten, und die Kunsterziehungsbewegung sind eng verbunden mit dem Namen Alfred Lichtwark (1852– 1914), dem Direktor der Hamburger Kunsthalle seit 1886. Dort führte Lichtwark, der vorher zwölf Jahre Volksschullehrer gewesen war, erstmals ab 1888 sowohl die Betrachtung von Kunstwerken mit Schulklassen ein, wobei er selbst diese Übungen im Beisein der Lehrkräfte durchführte, als auch die Ausstellung von Kinderzeichnungen.33 So veranstaltete die hamburgische „Lehrervereinigung für die Pflege der künstlerischen Bildung“ mit seiner Unterstützung 1898 in der Kunsthalle eine Ausstellung mit „freien“, also außerhalb pädagogischer Anleitungen entstandenen Kinderzeichnungen. Die von dem Lehrer Carl Götze34 als einem weiteren maßgeblichen Vertreter der Kunsterziehungsbewegung organisierte und mit einem Begleitheft versehene Ausstellung mit dem programmatischen Titel „Das Kind als Künstler“35 fand weit über Hamburgs Grenzen hinaus Beachtung.36 Aufmerksam wurde darauf insbesondere im benachbarten Preußen der dortige, seit dem gleichen Jahr 1898 (bis 1928) im Kultusministerium unter anderem für die Kunsterziehung in allen Schulformen zuständige Ministerialbeamte Ludwig Pallat (1867–1946), ein ausgebildeter Gymnasiallehrer und Kunsthistoriker. Er war ins Ministerium geholt worden, um eine grundlegende Reorganisation des Zeichenunterrichts vorzubereiten, die dann tatsächlich ab 1901 durch mehrere Erlasse umgesetzt wurde. Pallat pflegte nicht nur über Jahre einen engen 33 Vgl.: Herrmann, Anfänge der Reformpädagogik (Fn. 1), S. 165; Scheibe, Bewegung, S. 141 ff.; Ehrenhard Skiera, Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine kritische Einführung, 2. Aufl., München 2010, S. 103 ff.; Wolfgang Legler, Kunst und Kognition, Reihe: Kunstpädagogische Positionen, Bd. 6, Hamburg 2005, S. 25; ders, „Die Schule soll nicht satt, sie soll hungrig machen“ (A. Lichtwark 1901), Vortrag auf der Fachtagung zur ästhetischen Bildung des Instituts für Lehrerbildung Hamburg am 12.09.2002, Hamburg 2002 (http://www.li-hamburg.de/fix/files/doc/legler.ps.pdf)), S. 8. – Siehe auch: Alfred Lichtwark, Die Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken. Nach Versuchen mit einer Schulklasse, hrsg. v. der Lehrervereinigung zur Pflege der künstlerischen Bildung in Hamburg, 1. Aufl., Hamburg 1897 (19. Aufl., Hamburg 1986). 34 Zur Person Götze, siehe unten Fn. 57. 35 Lehrervereinigung für die Pflege der künstlerischen Bildung, „Das Kind als Künstler“. Begleitheft zu der gleichnamigen Ausstellung mit einem Einführungstext von Carl Götze, Hamburg 1898 (Online-Ressource: bvbm1.bib-bvb.de/publish/ viewer/50/1167756.html). Siehe insbesondere dort die Kernaussage zum Zeichenunterricht, S. 31: „Die Frage ist nicht, ob das Kind gute Zeichnungen anfertigt. Die Frage ist, ob es seine Anlagen entwickelt.“ 36 Vgl.: Legler, Vortrag, S. 11.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
Kontakt zu Lichtwark und Götze. Er organisierte auch mit beiden die drei Kunsterziehungstage und unternahm gemeinsam mit Götze und anderen Vertretern der Kunsterziehungsbewegung zahlreiche Studienreisen, in denen er die Entwicklung des Kunstunterrichts in England, aber auch anderen Nachbarländern und den USA untersuchte, um Anregungen für die Reform des Zeichen- und Kunstunterrichts zu erhalten. Zudem nahm er mit diesen an mehreren internationalen Bildungskonferenzen teil.37 Während die hamburgische Schulverwaltung trotz der Vorreiterrolle der in ihrer Stadt wirkenden Reformer zunächst ein Jahrzehnt noch einer Durchsetzung der neuen kunstpädagogischen Ideen in den Schulen eher zurückhaltend gegenüberstand,38 wurde die Neuausrichtung und Stärkung der künstlerischmusischen Erziehung durch das preußische Kultusministerium befördert. Die Kunsterziehungsbewegung konnte aufgrund dieser ministeriellen Unterstützung im Kernland Preußen über ihren reformpädagogischen Ansatz hinaus im Laufe der Zeit eine nachhaltige Veränderung in den Schulen bewirken: die Ausstellung von Schülerarbeiten, Schultheater und Tanz, Schulchor und Schulorchester wurden ab jetzt – ins Künstlerische erhoben und nicht mehr als bloße Dilettantenarbeiten angesehen – zum selbstverständlichen Bestandteil des Schulprogramms aller Schulen; gleiches gilt für Museen, Theater und Opern als außerschulischer Lernort. 4. Einheitsschulbewegung Die schulpolitische Debatte der Kaiserzeit war maßgeblich geprägt durch den Kampf um die Einheitsschule. Zwar war dies streng genommen keine reformpädagogische Bewegung. Es ging primär, vor allem aus sozialen Gründen, um 37 Vgl.: Bettina Irina Reimers, Der Nachlass von Ludwig und Anne Marie Pallat in der BBF, in: Mitteilungsblatt des Förderkreises Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung e.V. 20 (2009), Nr. 2, S. 39 f.; Ullrich Amlung, Ludwig Pallat (1867–1946). Zum 60. Todestag des preußischen Ministerialbeamten und Unterrichtsreformers, Mitbegründers und Leiters des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Berlin und Schwiegervaters Adolf Reichweins, in: reichwein forum 8/2006, S. 2-11 (beide Aufsätze auch zur Person von Prof. Dr. Ludwig Pallat); Legler, Vortrag, S. 12 und 14. Siehe auch: Ludwig Pallat, Kunsterziehung, in: Herman Nohl/Ludwig Pallat (Hrsg.): Handbuch der Pädagogik, Bd. III: Allgemeine Didaktik und Erziehungslehre, Langensalza 1930, S. 408-428. Zu seinen Studienreisen: Ludwig Pallat, Über den Zeichenunterricht in Londoner Volksschulen (Reisebericht), in: ZblUV 44 (1902), S. 404425; ders., Schule und Kunst in Amerika (I, II, III), in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 1 (1905), S. 357-366; 397-408; 2 (1906), S. 19-30. – Pallat war auch (im Nebenamt) langjähriger Leiter des „Zentralinstitutes für Erziehung und Bildung“ in Berlin. 38 Vgl.: Legler, Vortrag, S. 14.
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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die Schulstruktur und weniger um pädagogische Inhalte. Die Hauptverfechter kamen außerdem nicht in erster Linie aus der Reformpädagogik, sondern aus der im Deutschen Lehrerverein organisierten Volksschullehrerschaft.39 Doch vertraten die weitaus meisten Reformpädagogen ebenfalls die Auffassung, dass eine Pädagogik „vom Kinde aus“ nicht im herkömmlichen ständischen Schulsystem verwirklicht werden könne, deshalb eine, im Einzelnen durchaus unterschiedlich gesehene Einheitsschule anzustreben sei. Die Befürworter der Einheitsschule um die Jahrhundertwende rekurrierten immer wieder gerne darauf, dass die Idee der Einheitsschule schon in den Gedanken Humboldts und dem gescheiterten Süvern’schen Gesetzentwurf angelegt gewesen sei. Die Einheitsschule war erstmals dezidiert im Revolutionsjahr 1848 auf der Gründungsversammlung des „Allgemeinen Deutschen Lehrervereins“ in Eisenach gefordert worden. Dieser verlangte, „die einheitlich vom Kindergarten bis zu Hochschule aufwärts gegliederte, auf gemeinnützlich menschlicher, volkstümlicher Grundlage beruhende deutsche Volksschule.“40 Die Forderung nach der Einheitsschule machte sich auch in dessen Nachfolge der 1871 gegründete „Deutsche Lehrerverein“ zu eigen, der aber fast ausschließlich die Volksschullehrerschaft repräsentierte.41 Mit immerhin über 130.000 Mitgliedern vereinigte er im Jahre 1914 allerdings etwa drei Viertel der männlichen Volksschul-
39 Bei den Lehrern der anderen Schulformen stieß die Einheitsschule hingegen weitgehend auf Ablehnung und zuweilen überaus deutliche Gegnerschaft, und zwar nicht nur bei den Philologen, sondern auch bei den Lehrern der Mittelschule. Denn nach den meisten Einheitsschulkonzeptionen war für diese Schulform, wie schon bei Humboldt und dem Süvern’schen Gesetzentwurf, kein Platz mehr vorgesehen. Zur Mittelschule im Ringen um die Einheitsschule und den artikulierten pädagogischen Gegengründen: Maaßen/Schöler, Mittel- und Realschulpädagogik, Bd. 2, S. 42 ff. – Zusammenfassende Darstellung zum Einheitsschulgedanken bis in die westdeutsche Nachkriegszeit: Helmut Sienknecht, Der Einheitsschulgedanke. Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Problematik, 2. Aufl., Weinheim/Berlin/Basel 1970. 40 Zitiert nach: Maaßen/Schöler, ebenda, S. 42; Hans-Georg Herrlitz/Dieter Weiland/Klaus Winkel (Hrsg.), Die Gesamtschule. Geschichte, internationale Vergleiche, pädagogische Konzepte und Perspektiven, Weinheim/München 2003, S. 22. 41 Diese Einheitsschulbewegung hatte – außer dem Namen Einheitsschule – nichts gemein mit dem 1886 in Hannover gegründeten „Einheitsschulverein“. Ihm ging es um die Vereinheitlichung des höheren Bildungswesens, um eine höhere „Einheitsschule“ durch die Verschmelzung von Oberrealschule, Realgymnasium und Gymnasium. Die Bestrebungen gingen hier zunächst dahin, für diese eine gemeinsame Unterstufe zu schaffen. Siehe: Nohl, Theorie, S. 88-92; Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 269; Walther Vorbrodt/Karl Herrmann, Artikel „Einheitsschule“, in: dies. (Hrsg.), Handwörterbuch des gesamten Schulrechts in der Schul- und Unterrichtsverwaltung in Preußen, Leipzig 1930, S. 130 f.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
lehrer Deutschlands.42 Auf seiner „Deutschen Lehrerversammlung“ Pfingsten 1914 in Kiel bekräftigte der Lehrerverein kurz vor Kriegsausbruch seine bereits mehrfach43 beschlossene Haltung: „Die Deutsche Lehrerversammlung fordert in Übereinstimmung mit den Ausführungen und Leitsätzen des Vortragenden (Georg Kerschensteiner44) die organisch gegliederte nationale Einheitsschule, die einen einheitlichen Lehrerstand zur notwendigen Voraussetzung hat, und in der jede Trennung nach sozialen und konfessionellen Rücksichten beseitigt ist.“45 Die Einheitsschulbewegung zielte vorrangig auf die Einführung einer einheitlichen Elementarbildung und damit vor allem auf eine Abschaffung der mit hohen Schulgeldern verbundenen und deshalb als ständisch bezeichneten „Vor42 Zu den Zahlen: Rainer Bölling, Volksschullehrer und Politik. Der Deutsche Lehrerverein 1918–1933, Göttingen 1978, S. 36. – Die Volksschullehrerinnen waren im 1890 gegründeten „Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein“ organisiert, wobei dieser auch Lehrerinnen der anderen Schulformen vertrat. Hierzu wie auch zu den weiteren damaligen Lehrervereinigungen siehe: Artikel „Lehrervereine“ in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 12, Leipzig 1908, S. 343. 43 Ähnliche Forderungen: Deutsche Lehrertage bzw. Lehrerversammlungen Hamburg 1872, Darmstadt 1885, Frankfurt a.M. 1888, Halle (Saale) 1892 und Königsberg 1904. Abdruck der entsprechenden Beschlüsse auszugsweise bei: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 506-519. 44 Abdruck: Kerschensteiner, Einheitsschule, S. 266–272. Siehe auch: Geschäftsführender Ausschuß des Deutschen Lehrervereins (Hrsg.), Bericht über die Deutsche Lehrerversammlung zu Kiel Pfingsten 1914, Leipzig/Berlin 1914. 45 Abdruck des Beschlusses bei: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 519521, hier Zitat S. 521. Siehe auch: Scheibe, Bewegung, S. 265. Auch Kerschensteiner (in seinem Vortrag zur Einheitsschule, siehe oben Fn. 44) war eher für eine vierjährige Elementarschule. Er trat ein für eine „Differentiation der Zöglinge, die sich unweigerlich im Laufe der ersten 4–6 Schuljahre einstellen wird, die Möglichkeit der Trennung der frühzeitig theoretisch spekulativ veranlagten Kinder, in welchen die praktischen Interessen bereits zurückgetreten sind, von denen mit ausschließlich praktischen Interessen und von jenen, in welche beide Hauptgruppen von Interesse lebendig sind.“ Zwischen dem 9. und 12. Lebensjahr sondere sich die erste kleine Gruppe ab, die in einer besonderen Schulgattung, also den höheren Schulen, gefördert werden müssten. Die große Masse der Schüler, nach allen bisherigen Erfahrungen mindestens 90 % des gesamten Nachwuchses, könnte nun in der allgemeinen Volksschule weitergeführt werden. Kerschensteiner stellt ausdrücklich klar, dass die von ihm angestrebte Einheitsschule keine Schule mit einheitlichen Lehr- und Erziehungsplänen ist. Die pädagogisch-psychologische Differenzierung, auch später innerhalb der Volksschule, sei eine Grundvoraussetzung der Forderung der allgemeinen öffentlichen Schule. Wichtig war ihm, dass die Zweige des Schulwesens organisch aufeinander entwickelt und soweit als möglich durch geeignete Brücken auch an ihren Enden verbunden werden. Die Notwendigkeit für eine Mittelschule sah er, wie die Einheitsschulbewegung insgesamt, wegen des Differenzierungsgebotes der Volksschule nicht.
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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schulen“. Diese hielten bereits ab der Einschulung alle Kinder, die später eine höhere Schule besuchen sollten, von der Elementarbildung in den Volksschulen fern.46 Während allerdings der „Verein hessischer Volksschullehrer“ 1886 noch die vierjährige Elementarschule für alle Kinder gefordert hatte,47 vertrat der „Deutsche Lehrerverein“, jedenfalls durch seine Vereinsleitung, nunmehr eine gemeinsame Grundschule von sechs Schuljahren. Darauf sollte sich ein zweigliedriges System aufbauen, eine zweijährige Werkschule (vergleichbar der Oberstufe der Volksschule) sowie als weiterführende (höhere) Schule eine Mittelschule (7.–9. Schuljahr) und eine Oberschule (10.–12. Schuljahr). Entwickelt hatte dieses Modell der Wortführer des Lehrervereins in der Einheitsschuldebatte, Johannes Tews. Im Auftrag des Vereins publizierte er 1916 die programmatische Schrift „Die Deutsche Einheitsschule. Freie Bahn dem Tüchtigen“ und legte 1919 nach mit dem die Weimarer Schuldiskussion maßgeblich beeinflussenden Buch „Ein Volk – eine Schule. Darstellung und Begründung der deutschen Einheitsschule.“48 Mit der Einheitsschule verbunden war, wie im Kieler Lehrervereinsbeschluss festgehalten, die Forderung nach einer Beseitigung aller sozialen und konfessionellen Trennungen. Der Reformpädagoge Paul Natorp (1854–1924) führte dazu aus: „Die entscheidenden Gründe für die allgemeine Volks- und Einheitsschule, das heißt, die Gemeinsamkeit des Schulunterrichts für die Kinder aller gesellschaftlichen Klassen auf einer unteren Stufe, bis zu dem Punkte, wo die unterschiedlichen Forderungen der Berufsbildung eine Scheidung notwendig machen, sind von zweierlei Art; die einen betreffen die direkten sozialen Wirkungen, die man sich von der Gemeinsamkeit des Schulunterrichts verspricht, die anderen die Folgen für die Ausbildung der Einzelnen, welche deren unterschiedliche Begabung betrifft.“49 46 Zu
den „Vorschulen“ siehe näher nächstes Drittes Kapitel I. 2. Vorbrodt/Herrmann, Einheitsschule, S. 130. 48 Johannes Tews, Die Deutsche Einheitsschule. Freie Bahn dem Tüchtigen, 1. Aufl., Leipzig 1916; 5. Aufl., Leipzig 1920 (Nachdruck in der Reihe „Pädagogische Quellentexte“ mit einem Nachwort von Karl Düsseldorf, Heinsberg 2001), dort auch auf S. 48 f. das von Tews entworfene Schulmodell mit ausführlicher Begründung; ders., Ein Volk – eine Schule. Darstellung und Begründung der deutschen Einheitsschule, Osterwieck 1919. 49 Vgl.: Paul Natorp, Die „Gefahren der Einheitsschule“, in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 3 (1907), S. 329-338, hier Zitat S. 331. Der Beitrag war eine Erwiderung auf: Hugo Müller, Die Gefahren der Einheitsschule für unsere nationale Erziehung, Gießen 1907. – Auch Natorp sprach sich dabei für eine Ausdehnung der gemeinsamen Elementarbildung auf sechs Jahre aus. Zur Person dieses Reformpädagogen: Norbert Jegelka, Paul Natorp: Philosophie, Pädagogik, Politik, Würzburg 1992, insb. S. 100 ff. zu dessen bildungspolitischen Positionen und Aktivitäten. 47 Vgl.:
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
Schließlich zielten auch alle Reformbemühungen der Einheitsschulbewegung, jedenfalls soweit sie von der Volksschullehrerseite unterstützt wurde, „zugleich auf eine Hebung der Volksschule, ihrer sozialen Geltung und ihrer Leistung“.50 Im politischen Raum hatten sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die sozialistischen, aber auch die linksliberalen Parteien der Forderung nach der „Einheitsschule“ angeschlossen. Die SPD trat seit einem entsprechenden Grundsatzbeschluss auf dem Mannheimer Parteitag 1906 – noch über die Forderung des Deutschen Lehrervereins hinausgehend – für eine achtjährige gemeinsame Elementarschule ein. Darauf sollte, bei Verlängerung der Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr, eine „Mittelschule“ aus zwei Abteilungen aufbauen, mit einer zur Berufsvorbereitung mehr praktisch orientierten und einer zur Vorbereitung eines Studiums mehr theoretisch orientierten Ausbildung. Die SPD mahnte zur Umsetzung ihres schulpolitischen Modells die seit Jahrzehnten überfällige Schulgesetzgebung an, basierend nach ihren Vorstellungen die „Schaffung eines Reichsschulgesetzes auf der Grundlage der Weltlichkeit und Einheitlichkeit des gesamten Schulwesens.“51
III. Plädoyer für Schulversuche durch den „Bund für Schulreform“ Der 1908 in Berlin gegründete „Bund für Schulreform – Allgemeiner deutscher Verband für Erziehungs- und Unterrichtswesen“, ab 1915 umbenannt in „Deutscher Bund für Erziehung und Unterricht“, setzte sich als einer der seinerzeit maßgeblichen Verbände im Bildungsbereich nachdrücklich für Schulversuche ein. Bereits der Gründungsaufruf hob als Hauptanliegen hervor, die Forderung zu unterstützen, „daß der Staat es einzelnen Lehrern grundsätzlich gestatten
50 Scheibe,
Bewegung, S. 263. Leitsatz III des Mannheimer Parteitages 1906; alle Leitsätze abgedruckt bei: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 1, S. 482-487. Siehe dazu auch: Bölling, Volksschullehrer, S. 108; Jürgen Oelkers, Gesamtschule in Deutschland. Eine historische Analyse und ein Ausweg aus dem Dilemma, Weinheim/Basel 2006, S. 29 f.; HansGeorg Herrlitz, Einleitung, in: Herrlitz/Weiland/Winkel, Gesamtschule, S. 12 f. – Die schulpolitischen Vorstellungen der SPD hatte maßgeblich der spätere Schul-Staatssekretär im Reichsinnenministerium der Weimarer Zeit, Heinrich Schulz, formuliert. Er hat diese dann eingehend erläutert in: Heinrich Schulz, Die Schulreform der Sozialdemokratie, Dresden 1911. Siehe auch allgemein: Karl Christ, Sozialdemokratie und Volkserziehung. Die Bedeutung des Mannheimer Parteitags der SPD im Jahre 1906 für die Entwicklung der Bildungspolitik und Pädagogik der deutschen Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 2005. 51 Zitat:
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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möge, versuchsweise neue Wege zu gehen, und daß er selbst eine Versuchsschule einrichte“.52 Der Bund vereinte bis 1933 reformorientierte Lehrkräfte überwiegend aus dem Volksschulbereich sowie Reformkräfte aus den Schulverwaltungen und Universitäten. Mit dieser Zusammensetzung war nicht zuletzt die Hoffnung verbunden, vom Boden einer wissenschaftlichen Pädagogik auf eine bessere Gestaltung des Verhältnisses zwischen Schulverwaltung und Schulreform hinzuwirken.53 Geleitet wurde der Bund zunächst von dem Hamburger Seminardirektor Prof. Dr. Hans Cordsen, seit 1913 von dem Hamburger Landesschulrat Prof. Dr. Karl Umlauf, wobei generell Reformpädagogen aus Hamburg in dieser Vereinigung eine wichtige Rolle spielten. In seinem geschäftsführenden Ausschuss wirkten führende Vertreter der Arbeitsschul- und Kunsterziehungsbewegung mit, namentlich Kerschensteiner und Lichtwark, aber auch die Lehrerin Gertud Bäumer54 aus der Frauenbewegung. Geschäftsführer war von 1912 bis 1923 der Reformpädagoge Peter Petersen.55 Eine besondere Aufgabe des Bundes war nach § 2 lit. a seiner Satzung die Erweckung und Vertiefung des Interesses für Erziehungsfragen in weiteren Kreisen des deutschen Volkes „durch Berichte über Versuche, die auf praktischem Gebiete mit neuen Unterrichts- und Erziehungsmethoden angestellt werden, sowie über neue schulorganisatorische Maßnahmen.“56 Einer von fünf eingesetzten Arbeitsausschüssen des Bundes war ein „Ausschuß für Versuche und Versuchsschulen“ unter dem Vorsitz des Hamburger Reformpädagogen Carl Götze (1865–1947), neben Lichtwark der wichtigste Exponent der Kunsterziehungs-
52 Abdruck:
Deutscher Bund für Erziehung und Unterricht (Hrsg.), Der deutsche Bund für Erziehung und Unterricht 1908–1916, Zweite Flugschrift, Leipzig/Berlin 1917, S. 4 (Eingestellt in Bildungsgeschichte online: http://www.bbf.dipf.de); Abdruck auch in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 4 (1908), S. 98 f. 53 So ausdrücklich: Julius Ziehen, Schulverwaltung und Schulreform, in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 8 (1914), S. 18. 54 Zur Bedeutung der Pädagogin Gertrud Bäumer siehe auch nächstes Drittes Kapitel II. 2. 55 Zu dem Verband: Herrmann, Anfänge der Reformpädagogik (Fn. 1), S. 167; Zweite Flugschrift (Fn. 52), S. 3-37 (zur Entwicklung bis 1916); Mitteilungen des Bundes für Schulreform Nr. 1, in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 7 (1913), S. 477. 56 Abdruck der Satzung und Zitat: Bund für Schulreform (Hrsg.), Flugschriften des Bundes für Schulreform. Aufgaben und Ziele des Bundes. Vorträge und Ansprachen gehalten auf der Hauptversammlung am 19. März 1910 in Berlin, Leipzig/Berlin 1910, S. 57 (Eingestellt in Bildungsgeschichte online: http://www.bbf.dipf.de).
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
bewegung.57 Der Ausschuss beschäftigte sich zunächst mit der Reform des Elementarunterrichts im 1. und 2. Schuljahr.58 Für den Bund erklärte Cordsen öffentlich, die Frage der äußeren Schulorganisation könne erst durch die Lösung der Fragen auf dem Gebiet der inneren Reform die richtige Beantwortung finden. Versuche und Versuchsschulen seien unbedingt nötig.59 Sein Vorstandskollege Prof. Dr. Ernst Meumann (1862–1915), der in seinem Hamburger „Institut für Jugendkunde“ Unterrichtsfragen auf der Basis experimenteller Psychologie untersuchte und die „Zeitschrift für Experimentelle Pädagogik“ herausgab, war schon aufgrund seiner Forschungsmethode ein leidenschaftlicher Verfechter von Schulversuchen.60 In einem Vortag auf der Hauptversammlung des Bundes am 19.03.1910 bekräftigte er die in der Satzung des Bundes vorgesehene intensive Befassung mit Schulversuchen und gab für deren Notwendigkeit eine auch heute noch stichhaltige Begründung: „Und was die praktischen Aufgaben unseres Bundes betrifft, so scheint mir die wichtigste zu sein: auf die Übertragung der Ergebnisse unserer neuen Kinderforschung und der experimentellen Pädagogik in dem heutigen Schulwesen zu wirken und dazu namentlich die weitere Errichtung von Versuchsschulen zu fordern. Es ist mir unverständlich, daß mancher gegenwärtige Pädagoge diesen Ruf nach Versuchsschulen als abenteuerlich hinstellt. Ich bin der Überzeugung, daß ohne Versuchsschulen keine pädagogische Neuerung eingeführt werden sollte, gleichgültig, ob 57 Götze
war zunächst Volksschullehrer und gehörte zu den Mitbegründern der von Hamburg ausgehenden Kunsterziehungsbewegung. Er war außerdem von 1905–1914 Schriftleiter der Zeitschrift „Der Säemann“, der offiziellen Zeitschrift des „Bundes für Schulreform“, Ortsgruppenvorsitzender des Bundes in Hamburg und zeitweise Mitglied im geschäftsführenden Ausschuss des Bundes. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Götze 1919 Leiter der Versuchsschule in der Telemannstraße, wenig später zum Schulinspektor ernannt und bekleidete schließlich von 1921 bis 1930 das Amt eines Oberschulrates für das gesamte hamburgische Volksschulwesen. Zur Person: Heinrich Kautz, Götze, Carl Johann Heinrich, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 6, Berlin 1964, S. 595; Reiner Lehberger, Carl Götze: ein Hamburger Schulreformer (1865–1947), in: Hamburger Lehrerzeitung 1992, Heft 3, S. 36-39; Christian Ritzi, Lebenserinnerungen des Hamburger Reformpädagogen Carl Götze, in: Mitteilungsblatt des Förderkreises Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung e.V. 19 (2008), Heft 2, S. 31-35. 58 Siehe: Flugschriften (Fn. 56), S. 58. 59 Siehe dazu den Bericht in: Zweite Flugschrift (Fn. 52), S. 7. 60 Zur Person: Paul Probst, Ernst Friedrich Wilhelm Meumann, in: Helmut E. Lück/ Rudolf Miller (Hrsg.), Illustrierte Geschichte der Psychologie, Weinheim/Basel 2005, S. 118-123; Marc Zirlewagen, Ernst Meumann, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 25, Nordhausen 2005, Sp. 923-927; Caroline Hopf, Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn 2004, S. 94 ff. – Hauptwerk: Ernst Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen, 2 Bde., Leipzig 1907.
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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sie eine mehr oder weniger einschneidende ist. Es ist doch tausendmal besser, eine kleine Anzahl Kinder nach den Gesichtspunkten der Abstufung ihrer Begabung auszuwählen und an diesen erst Neuerungen praktisch zu erproben, als daß man durch allgemeine Verfügungen und Verordnungen das ganze Schulwesen eines Staates mit unerprobten Neuerungen bearbeitet.“61 Carl Götze schließlich beklagte schon vorher Anfang 1908 einen – im Vergleich zu den höheren Schulen – Reformrückstand in den Volksschulen und hielt zur Verbesserung dieser Situation ein flammendes Plädoyer für flächendeckende Schulversuche, das wie folgt endete: „Aber wo werden im Bereiche der Volksschulen überhaupt Versuche gemacht oder zugelassen, daß ein begabter Lehrer, der neue Wege sieht, sie auch gehen darf? … Wo gibt man statt vieler ,Vorschriften‘ mehr Freiheit für Versuche? Wo in Deutschland?“62
IV. Einzelne reformpädagogische Schulversuche in der Kaiserzeit 1. Hamburger Versuchsschulen In der Kaiserzeit kam es außerhalb der Landerziehungsheimbewegung nur zu wenigen tatsächlich realisierten reformpädagogischen Schulversuchen und insbesondere Versuchsschulen. Dies war auch in Hamburg, einem der Hauptorte reformpädagogischer Aktivisten,63 nicht anders. Dort ersuchte zwar die Schulsynode, ein seit 1870 gesetzlich verankertes Mitwirkungsorgan der Hamburger Lehrerschaft,64 mit Beschluss vom 21.08.1912 die Oberschulbehörde, in der Stadt 61 Zitat:
Ernst Meumann, Aufgaben und Ziele, in: Flugschriften (Fn. 56), S. 29. Götze, Mehr Freiheit für Versuche, in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 4 (1908), S. 24-26, hierin Zitat S. 26. 63 Bemerkenswert ist, dass in Hamburg neben der Zeitschrift „Säemann“ des dort residierenden „Bund für Schulreform“ bereits ab 1877 und lange bis 1933 eine weitere Lehrerzeitung erschien, die ebenfalls von reformorientierten Lehrkräften getragen und bezogen wurde. Schon der Zeitungsname „Pädagogische Reform“ ließ die programmatische Ausrichtung erkennen. In der Erstausgabe (Probenummer v. 24.04.1877, S. 1) hieß es dazu, die Zeitschrift trete für die allgemeine Volksschule ein und werde frei und unabhängig „stets auf der äußersten Linken kämpfen“. Seit der Jahrhundertwende wurden auch darin immer stärker Stimmen laut, umfassende Schulversuche zuzulassen. Unter der Überschrift „Freiheit für Versuche“ (Pädagogische Reform 32 (1908), Heft Nr. 10, 1. Beilage, o. Verf.) wurde beispielsweise massiv gefordert: „Also gebt uns Freiheit für Versuche, und bedenkt, daß jeder Versuch auch der Gefahr des Mißlingens ausgesetzt ist – sonst wär’s ja eben kein Versuch mehr.“ 64 Die Schulsynode wurde später durch das hamburgische „Gesetz über die Selbstverwaltung der Schulen“ v. 12.04.1920 aufgehoben. An ihre Stelle trat ein Schulbeirat, bestehend aus Vertretern sowohl einer gewählten Lehrer- wie Elternkammer. 62 Carl
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
mindestens je eine Knaben- und eine Mädchenvolksschule als Versuchsschule nach der Idee der Arbeitsschule sowie auf dem „Landgebiet“ Versuchsklassen einzurichten.65 Dieses Ersuchen wurde im Januar 1914 noch um einen Arbeitsplan ergänzt, doch stellte ein zur Prüfung eingesetzter gemeinsamer Ausschuss von Oberschulbehörde und Schulsynode in den Jahren des Ersten Weltkrieges seine Arbeit ein. Nach Kriegsende, im Februar 1919, empfahl dieser Ausschuss dann aber einstimmig die Errichtung der Versuchsschulen, wobei im Zuge der Revolutionszeit sogar vier ausdrücklich so benannte Versuchsschulen im Volksschulbereich und eine Reformschule im höheren Schulwesen, die Lichtwarkschule starten konnten. Diese erhielten trotz Bedenken der Oberschulbehörde einen fast uneingeschränkten pädagogischen Freiraum, waren insbesondere nicht an das Erreichen der Lernziele der Regelschule gebunden. Die Reformpädagogen in der Lehrerschaft konnten ihre Position zunächst vollständig durchsetzen.66 Sie erhielten, wie es einer von ihnen ausdrückte, eine „Blankovollmacht“.67 Der Bildungsforscher Reiner Lehberger, der die Hamburger Gemeinschaftsschulen eingehend untersucht hat, beschreibt die Interessengegensätze wie folgt: „Hatten letztere (die Hamburger Reformer) immer die Notwendigkeit eines offenen, in der Praxis sich konkretisierenden Versuchsschulkonzeptes gefordert, wollte die Oberschulbehörde klarere Vorgaben sowie ein Anbinden auch der Versuchsschule an die allgemeinen Lehrziele. Hinter diesem Streit stand ein grundsätzlich divergierendes Verständnis von Versuchsschule: Wollten die Lehrer überprüfen, inwieweit kindgemäßes und praktisches Lernen, ein demokratisches Miteinander von Schülern, Lehrern und Eltern das Schulleben insgesamt verändern können, so waren die Vertreter der Oberschulbehörde eher an der Versuchsschule als Ort eines kontrollierten methodischen Experiments interessiert, so wie es Versuchsschulen und Versuchsschulklassen in anderen Teilen des Deutschen Reiches bereits in der Kaiserzeit praktiziert hatten.“68 In den Lehrerkollegien der Hamburger Versuchsschulen dominierten anfangs äußerst radikale, anarchische Reformkräfte. Diese sahen Versuchsschulen als 65 Abdruck des Beschlusses: „Zur Gründung von Versuchsschulen in Hamburg“, in: Pädagogische Reform 36 (1912), Heft Nr. 39, S. 1 f. 66 Vgl.: Reiner Lehberger, „Schule als Lebensstätte der Jugend“. Die Hamburger Versuchs- und Gemeinschaftsschulen in der Weimarer Republik, in: Ullrich Amlung/ Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 33. – Siehe auch allgemein: Wilhelm Lamszus, Der Weg der Hamburger Gemeinschaftsschule, in: Fritz Karsen (Hrsg.), Die neuen Schulen in Deutschland, Langensalza 1924, S. 24-85; Theodor Gläß, Die Entstehung der Hamburger Gemeinschaftsschulen und die pädagogische Aufgabe der Gegenwart, Diss. Gießen/Berlin 1932. 67 Zitat: Lamszus, ebenda, S. 29. 68 Zitat: Lehberger, Lebensstätte (Fn. 66), S. 33.
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eine „Frucht der Revolution“ an und häufig zudem – ausgehend von linksozialistischen und marxistischen Positionen – als ein Instrument zur Befreiung des Proletariats („So ist die neue Schule auch im tiefsten Grunde der Weltanschauung des Proletariats entsprungen“).69 2. Leipziger Versuchsklassen Versuchsklassen hatte es insbesondere in Leipzig gegeben. Dort wurde zwischen 1911 und 1913 auf Initiative des Leipziger Lehrervereins ein auf zwei Jahre beschränkter umfangreicher Schulversuch durchgeführt, und zwar mit 1400 Schülern in 24 Versuchsklassen an 21 Volksschulen. Die Versuchsklassen wurden – parallel zu den normalen Regelklassen – für den Anfangsunterricht der ersten beiden Schuljahre eingerichtet. Der sächsische Erziehungsminister genehmigte das zweijährige Experiment unter der Bedingung, dass Kinder nur mit Zustimmung ihrer Eltern in diese Klassen aufgenommen werden konnten.70 Da Versuchsschulen gegenüber den Schulbehörden nicht durchsetzbar waren, hofften die Initiatoren, die der Arbeitsschulbewegung verbunden waren, durch ein beharrliches Vorgehen die Arbeitsschule im Rahmen der „alten Schule“ zu erreichen, wenn auch in Etappen. Für die Versuchsklassen beanspruchte man vollständige Lehr- und Stundenplanfreiheit, wobei eines der wesentlichen Merkmale des Versuchs das Hinausschieben von Lesen, Schreiben und systematischem Rechnen im Anfangsunterricht des ersten Schuljahres war. Statt dessen wurde ein „Gesamtunterricht“ im Freien und im Klassenzimmer praktiziert, der aus den gewohnten Tätigkeiten des vorschulpflichtigen Alters (Spiel, Spaziergänge, Pflanzenpflege, Malen, Formen, Ausschneiden, Bildbetrachtungen, Erzählen) langsam zu einer schärferen Beobachtung und Analyse der umgebenden Wirklichkeit führen sollte. Dafür versprachen die Versuchsschulleiter im Gegenzug, dass die Kinder am Ende der zweijährigen Versuchsklassenzeit trotz des Hinausschiebens und der teilweise verkürzten Übungszeiten die allgemein
69 Siehe, insb. auch zu den Zitaten: Lamszus, Gemeinschaftsschule (Fn. 56), S. 27 f.,
31, 74 f. – Allgemein zu den Beweggründen und Zielen der Hamburger Schulreformer: Klaus Rödler, Auf der Suche nach einer freien Gesellschaft. Die Hamburger Gemeinschaftsschulen 1919–1933, in: Heike Neuhäuser/Tobias Rülcker (Hrsg.), Demokra tische Reformpädagogik, Frankfurt a.M. 2000, S. 63-88; ders., Vergessene Alternativschulen. Geschichte und Praxis der Hamburger Gemeinschaftsschulen 1919–1933, Weinheim/München 1987, passim. 70 Vgl.: Marjorie Lamberti, The politics of education. Teachers and school reform in Weimar Germany, New York/Oxford 2002, S. 36.
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vorgeschriebenen Gesamtziele im Lesen, Schreiben und Rechnen erreichen würden.71 Inwieweit die in einem zeitgenössischen Bericht72 zu lesende geradezu euphorische positive Bewertung der ersten Erfahrungen mit den Versuchsschulklassen den Realitäten entsprach, ist im Abstand eines Jahrhunderts schwer einschätzbar. Immerhin verweist der damalige Chronist darauf, dass nach dem Leipziger Muster in einer ganzen Reihe von Orten, etwa in Dresden (allerdings dreijährige Versuchsklassen),73 Chemnitz, Freiberg, Koburg, Löbau und Plauen Versuchsklassen eingerichtet wurden.74 In Dresden wurden 16 und in Chemnitz 7 Versuchsklassen gebildet. Beide Schulversuche liefen während des Ersten Weltkrieges aus.75 3. Mannheimer Schulsystem Einen unter Pädagogen seinerzeit nicht unumstrittenen Versuch initiierte der Mannheimer Schulrat Dr. Anton Sickinger (1858–1930), der sich sowohl der Arbeitsschul- wie auch der Einheitsschulbewegung zurechnete, ab 1901 in den Volksschulen dieser Stadt.76 Das „Mannheimer Schulsystem“ sollte unter71 Siehe zu diesem Leipziger Versuch: Vogel, Leipziger Versuchsklassen; Magda Böttner, Sind Versuchsschulen erforderlich?, in: Die Lehrerin. Organ des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins 27 (1910/11), S. 348 f.; Andreas Pehnke, Der Leipziger Lehrerverein und seine Connewitzer Versuchsschule, in: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 109 f. 72 Siehe: Vogel, ebenda. 73 Siehe dazu: Die Dresdner Versuchsschule. Gemeinschaftlicher Bericht der Lehrerschaft der Dresdner Versuchsschule, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 232-251; Martin Weise, Dresdner Versuchsschule, in: Gustav Porger (Hrsg.), Neue Schulformen und Versuchsschulen, Bielefeld/Leipzig 1925, S. 241-249. 74 Siehe: Vogel, Leipziger Versuchsklassen, S. 181. 75 Dazu: Pehnke, Leipziger Lehrerverein (Fn. 71), S. 110; Hinweis des Dresdener Stadtarchivs online unter: http://www.dresden.de/media/pdf/stadtarchiv/Tafeln_34-38_ Schulwesen.pdf. 76 Siehe zur nachfolgenden Vorstellung des Modells die komprimierte Darstellung: Anton Sickinger, Schulsystem, Mannheimer, in: Wilhelm Rein (Hrsg.), Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, 2. Aufl., Bd. 8, Langensalza 1908, S. 324-336, mit einem ausführlichen Literaturnachweis, auch kritischer Beiträge, zu seinem Modell. – Außerdem dazu: Anton Sickinger, Der Unterrichtsbetrieb in großen Volksschulkörpern sei nicht schematisch-einheitlich, sondern differenziert-einheitlich. Zusammenfassende Darstellung der Mannheimer Volksschulreform, Mannheim 1904; ders., Arbeitsunter-
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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schiedlichen Begabungsniveaus von Volksschülern mittels äußerer Differenzierungsmaßnahmen Rechnung tragen. Dazu wurden „Haupt- oder Normalklassen“ für die Mehrzahl der normal befähigten Kinder, „Wiederholungsklassen“, die später „Förderklassen“ genannt wurden, für schwächere Kinder, die mehrfach nicht versetzt werden konnten, und „Hilfsklassen“ für „krankhaft schwachbegabte“ Kinder eingerichtet. Die Förder- und Hilfsklassen wiesen eine geringere Klassenfrequenz aus, es unterrichteten spezielle Lehrkräfte und hinsichtlich des Lernstoffes sowie der Unterrichtsgestaltung wurde eine größere „Bewegungsfreiheit“ ermöglicht. Alle maßgeblichen Instanzen, einschließlich des Mannheimer Stadtrates, stimmten diesem Reformmodell zu, nachdem Sickinger den Nachweis erbracht hatte, dass bis dahin rund ein Drittel der Jungen und ein Fünftel der Mädchen in den Mannheimer Volksschulen nicht die Anforderungen der obersten Volksschulklasse erreichten. Für Schüler andererseits, die für den Wechsel auf eine höhere Schule geeignet erschienen, wurden auf der 3. und 4. Klassenstufe als Nebenklassen des Hauptsystems sogenannte „Vorbereitungsklassen für die höheren Schulen“ geschaffen. Für entsprechend begabte Kinder der 6. bis 8. Hauptklassen waren Förderkurse mit Fremdsprachenunterricht in Französisch oder im Zeichnen vorgesehen. Zwischen den unterschiedlichen Klassen war ein Wechsel möglich, ausnahmsweise sogar während des Schuljahres. Um möglichst den individuellen Bedürfnissen jedes Kindes gerecht werden zu können, wurde ein „Personalbogen“ eingeführt, der das Kind während der ganzen Schullaufbahn begleitete. Schließlich wurden ein hauptberuflicher Schularzt eingestellt und an den Schulen besondere „Fürsorgeeinrichtungen“ (insbesondere Frühstücks- und Mittagessensausgabe, Solbäder, Kinderhort) angegliedert, an denen die Schüler der Förder- und Hilfsklassen bevorzugt teilnehmen konnten. Nachdem er das Mannheimer Modell im April 1904 auf einem internationalen Kongress für
richt, Einheitsschule. Mannheimer Schulsystem im Lichte der Reichsverfassung, Leipzig 1920; ders., Zur Geschichte der Förderklassen (25 Jahre Mannheimer Schulsystem), Langensalza 1926. Die zeitgenössische Kritik ging bis zu dem Verdikt „auf die Spitze getriebene Differenzierungssucht“ [so: Richard Ballerstaedt, Neuerscheinungen zur Schulorganisation und Schulreform, in: Die Neue Zeit 39 (1920/21), Bd. 2, S. 42]. Der Reformpädagoge Kerschensteiner [(Fn. 31), S. 269] warb hingegen vor der Deutschen Lehrerversammlung 1914 ausdrücklich darum, die Erprobung des Mannheimer Modellversuchs abzuwarten. – Aus dem neueren Schrifttum zum Mannheimer Modell: Andreas Möckel, Geschichte der Heilpädagogik, 2. Aufl., Stuttgart 2007, S. 139 f.; Oelkers, Gesamtschule, S. 33, 42 Fn. 88; Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 208; Wolfgang Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch konstruktive Didaktik, 6. Aufl., Weinheim/Basel 2007, S. 176; Sienknecht, Einheitsschulgedanke, S. 184 ff.
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Schulgesundheitspflege in Nürnberg „mit großem Erfolg“77 vorgestellt hatte, konnte Sickinger bereits 1907 festhalten, „an ca. 30 Orten des In- und Auslandes werden bereits Versuche mit der neuen Klassenorganisation gemacht“.78 Solche Versuche erfolgten auch mit ausdrücklicher Genehmigung des preußischen Kultusministeriums. Das Prinzip von Sonderklassen wurde außerdem in unterschiedlicher Ausgestaltung in die Volksschulordnungen einer Reihe von Ländern aufgenommen.79 4. Sonstige Versuche (Münchener Versuchsschulen, Berliner „Linkskultur“-Versuch, Waldschulen, Gartenarbeitsschulen, Schülerausschuss, Gymnasialkurse für Mädchen) Der Mitbegründer der Arbeitsschulbewegung Kerschensteiner brachte als Stadtschulrat in München mehrere Versuchsschulen im Volksschulbereich auf der Grundlage des Arbeitsschulgedankens auf den Weg, wobei die Initiative für die erste Versuchsschule um 1910 von einem hierzu gebildeten „Verein Versuchsschule“ ausgegangen war.80 Kerschensteiner ließ später bestimmte in den Versuchsschulen gewonnene Erkenntnisse in einen neuen, von ihm verfassten Lehrplan für die Münchener Volksschulen einfließen.81 In Berlin wurde um 1911 demgegenüber ein kurioser Versuch in den Hilfsschulen zur „Linkskultur“ gestartet. Auf den Rat ihres medizinischen Vertrauensmanns unternahm die Berliner Schuldeputation den Versuch, die Hilfsschüler beidhändig ausbilden zu lassen. Angeblich sollte die Ausbildung der linken Hand durch „Linksübungen“ zu einer gesteigerten geistigen Entwicklung führen. Dies stellte sich aber am Ende des zweijährigen Versuches als irrig heraus. Als Resümee des zuständigen Berliner Stadtschulinspektors wurde in der „Deutschen 77 Zitat: Artikel „Hilfsschulen“, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 9, 6. Aufl., Leipzig 1907, S. 334. 78 Sickinger, Schulsystem, S. 330. 79 Siehe auch dazu: Sickinger, ebenda. – In der Literatur finden sich Hinweise, wonach bis zu den späten 1920er Jahren Einrichtungen nach dem Mannheimer Modell allein an 150 Orten in Deutschland geschaffen worden sind. Siehe: Katrin Liebers, Kinder in der flexiblen Schuleingangsphase. Perspektiven für einen gelingenden Schulstart, Wiesbaden 2008, S. 51. 80 Siehe etwa den Bericht über die Arbeit der Hohenzollernschule, eine der Münchener Versuchsschulen: Kühnhagen, Besuch einer Münchener Arbeitsschule, in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 8 (1914), S. 146 f. Außerdem: Böttner, Versuchsschulen, Die Lehrerin 1910/11, S. 348. 81 Ausführliche Darstellung mit Anmerkungen auch zum – abgelehnten – Mannheimer Modell und den Leipziger Versuchsklassen: Theodor Maunz, Der neue Münchener Lehrplan im Lichte der Schulreform, in: Die Deutsche Schule 16 (1912), S. 28-39.
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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Lehrerzeitschrift“ wiedergegeben: „Die ‚Linkskultur‘ hat sich als eine große Arbeits-, Zeit- und Kraftvergeudung herausgestellt, sie wurde überall von Schülern und Lehrern als eine schwere Plage und Belastung empfunden.“82 Ein gelungener Berliner Schulversuch scheint hingegen die 1904 versuchsweise errichtete Charlottenburger „Waldschule“ in Westend gewesen zu sein. In diese, in einer Baracke im Wald untergebrachten Schule wurden auf schulärztlichen Vorschlag nach den Sommerferien rund 120 kränkliche, aber noch unterrichtsfähige Kinder beiderlei Geschlechts und aller Konfessionen aufgenommen mit dem Ziel, diese wieder gesundheitlich zu kräftigen und mit Beginn der kalten Jahreszeit Ende Oktober auf ihre vorher besuchte Schule zurückkehren zu lassen. Der Unterricht in Naturkunde, Heimatkunde, Singen und Turnen wurde grundsätzlich im Freien erteilt und auch sonst hielten sich die Kinder in diesem Tageserholungsheim bei auf zweieinhalb Stunden reduziertem Unterricht meist in frischer Luft auf. Das preußische Kultusministerium ließ einen Bericht über diese Waldschule im amtlichen Zentralblatt für das Unterrichtswesen abdrucken.83 Außerdem gab es einen Erlass heraus, in dem es die Waldschule „wegen ihrer eigenartigen Verbindung des gesundheitlichen Zwecks mit dem erziehlichen“ nachdrücklich begrüßte und die Schulaufsichtsbehörden „auf besonderen Befehl“ des Kaisers aufforderte, in geeigneter Weise für die weitere Verbreitung dieser Idee zu sorgen und überall da, wo seitens größerer Städte und Landgemeinden sich das Bestreben nach Begründung ähnlicher Einrichtungen zeigen würde, dieses Bestreben möglichst wirksam zu fördern.84 Einen ähnlichen erzieherischen Zweck verfolgten ab 1915 sogenannte Kriegsschulkolonien. Dort wurden Schulkinder an den Nachmittagen bei freiwilliger Gartenarbeit beschäftigt, um sie den Verführungen der Straße zu entziehen, wenn der Vater als Soldat diente oder gefallen und die Mutter deswegen berufstätig war. Aus diesen Kriegsschulkolonien erwuchsen ab 1920 die Gartenarbeitsschulen in Berlin-Neukölln, von denen 1924 bereits acht existierten, und die ihrerseits Vorbild für entsprechende Einrichtungen in anderen Teilen Deutschlands waren. An den Neuköllner Gartenarbeitsschulen beteiligten sich Volks-, Hilfs- und höhere Schulen; mindestens zehn Unterrichtsstunden in Naturkunde, Raumlehre,
82 Siehe: Bericht ohne Verfasserangabe, in: „Die Deutsche Schule“ 17 (1913), S. 814. 83 Siehe: o. Verf., Die Charlottenburger Waldschule in Westend, in: ZblUV 47 (1905), S. 641-647. Dort findet sich auch die Ankündigung, dass in den Folgejahren der Unterricht in der Waldschule bereits nach Ostern beginnen, damit also einen Zeitraum von sechs Monaten umfassen sollte. 84 Erlass v. 05.01.1906, abgedruckt in: ZblUV 48 (1906), S. 241. Auszugsweiser Abdruck: Otto Hindrichs (Hrsg.), Handbuch der Schulverwaltung, Bd. 3, Münster 1930, S. 2939 (§ 1831).
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
Turnen und Spiel, und damit zwei Vormittage, wurden in die Gartenarbeitsschule verlegt.85 Die preußischen Schulbehörden haben in der Kaiserzeit mitunter auch einzelne, reformpädagogische Ideen übernehmende Versuche gestartet. So wird beispielsweise im zeitgenössischen reformpädagogischen Schrifttum über einen Schulversuch mit einer Schülerselbstverwaltung in Gnesen (Provinz Posen) berichtet. Dort wurde ähnlich wie in den Lietz’schen Landerziehungsheimen ein Schülerausschuss gebildet, der zu regelmäßigen Sitzungen zusammentreten und sich mit allgemeinen Angelegenheiten der Schule befassen konnte. Doch ist er, wie der Chronist anmerkt, „aus Mangel an Aufgaben nach drei Jahren wieder selig entschlafen. Er ist in dieser ganzen Zeit überhaupt nicht in Anspruch genommen worden“.86 Um die Jahrhundertwende ließ das preußische Kultusministerium versuchsweise Gymnasialkurse für Mädchen zu.87 Diese mündeten im Jahre 1908 in die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens in Preußen ein. Die preußische Regierung diskutierte ausführlich in ihrer Sitzung vom 16.05.1902 über die auch so bezeichneten Schulversuche. Nachdem Kultusminister Konrad von Studt die Erfolge der Schulversuche betonte und die Skeptiker beruhigte, dass kaum Gefahren für die Frauenbildung und die Erziehung zum Familienleben bestünden, fasste das Kabinett einen „Mehrheitsbeschluß, den Versuch in begrenztem Maße weiterzuführen“.88 In seinem bereits erwähnten Rechenschaftsbericht vom April 1904 über seine fünfjährige Amtszeit erläuterte Kultusminister Studt dementsprechend, das Ministerium habe die Errichtung eigentlicher Mädchengymnasien abgelehnt, aber als Versuch die Angliederung sechsjähriger Realgymnasialkurse zur Vorbildung auf die akademischen Studien an zwei höheren Mädchenschulen zugelassen. Auch ein sechsjähriger humanistischer Kursus sei einem Privatverein in Köln genehmigt worden.89 85 Siehe: August Heyn, Die Gartenarbeitsschule Neukölln, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 221-231 m.w.N.; ders., Die Neuköllner Gartenarbeitsschule, in: ZblUV 63 (1921), S. 33-34. 86 Siehe: E(rich) Hylla, Die Selbstverwaltung der Schüler, in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 8 (1914), S. 38-40, hier S. 39. 87 Hierzu: Kirsten Heinson, Der lange Weg zum Abitur. Gymnasialklassen als Selbsthilfeprojekte der Frauenbewegung, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.), Geschichte der Mädchen und Frauenbildung, Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M./New York 1996, S. 148-160. 88 Siehe: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Acta Borussica. Neue Folge. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817– 1934/38, Bd. 9, Hildesheim 2001, Nr. 42, Sitzung des Staatsministeriums v. 16.05.1902, S. 89. 89 Siehe: Immediatbericht des Kultusministers Konrad Studt v. 08.04.1904, abgedruckt in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat, Bd. 2.2, S. 77 ff., hier
2. Kap.: Reformpädagogische Schulversuche
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Generell galt später allerdings für die preußische Schulverwaltung die Ansage des nachfolgenden konservativen Kultusministers August von Trott zu Solz (1855–1938): keine Experimente mehr. Während Verhandlungen im preußischen Abgeordnetenhaus über das Elementarschulwesen soll er Anfang 1914 den Wunsch nach Ruhe auf dem Gebiete der Schule geäußert haben. Er wollte angeblich die Entwicklung nicht durch fortwährendes Rufen nach einschneidenden Reformen gestört sehen. Hauptaufgabe des Unterrichts sei, die Schüler zu Gottesfurcht, Vaterlandsliebe und Königstreue zu erziehen.90 In der Bildungsforschung wird auch auf Äußerungen Trotts und hoher Ministerialbeamte hingewiesen, wonach man nicht allen „Moden“ und gesellschaftlichen Wünschen sofort nachgebe, sondern die öffentliche Debatte aufmerksam verfolge und erst zu Veränderungen schreite, wenn die Zweckmäßigkeit einer Neuerung für die Ministerialbürokratie feststehe.91 Dies traf wohl auch die weitaus überwiegende Stimmung in der Bevölkerung. Der Bildungsforscher Jürgen Oelkers kommt zu dem Schluss, dass in der Elternschaft, unter den Lehrkräften und bei der Schul administration weit populärer als alle reformpädagogischen Ideen liberaler Erziehung solche Maximen waren, wie sie 1908 einer der seinerzeit einflussreichsten Pädagogen, der Berliner Professor Friedrich Paulsen (1846–1908), für eine Rückkehr zur ernsten und strengen Erziehung propagiert hat: „Lerne gehorchen! Lerne dich anstrengen! Lerne dir versagen und deine Begierden überwinden.“92
S. 107. – Bei dem Kölner Privatverein handelte es sich um den „Verein Mädchengymnasium Köln“, den eine Unternehmertochter und der Stadtarchivdirektor ins Leben gerufen hatte und dem 1903 eine Genehmigung erteilt worden war. Das Angebot fand großen Zulauf und wurde nach der Reform des höheren Mädchenschulwesens zu einer neunjährigen Studienanstalt in Trägerschaft der Stadt Köln ausgebaut. Siehe: Bölling, Geschichte, S. 60; Elke Görgen-Schmickler, Warum nicht auch Mädchen? Die Geschichte des Vereins Mädchengymnasium zu Köln (1887–1902), Siegburg 1994. 90 Wiedergegeben nach: Carl Götze, Versuchsschulen, in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 8 (1914), S. 169. 91 So: Hartwin Spenkuch/Rainer Paetau, Kulturstaatliche Intervention, schulische Expansion und Differenzierung als Leistungsverwaltung (1866 bis 1914/18), in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat Bd. 2.1, S. 84 m.w.N. 92 Siehe: Oelkers, Reformpädagogik, S. 112; Zitat: Friedrich Paulsen, Moderne Erziehung und geschlechtliche Sittlichkeit. Einige pädagogische und moralische Betrachtungen für das Jahrhundert des Kindes, Berlin 1908, S. 87 f.
Drittes Kapitel
Die Hochkonjunktur des Schulversuchs und der Reformpädagogik in der Weimarer Zeit I. Rechtliche Rahmenbedingungen: Reichsverfassung, schulgesetzliche Defizite und Aufsichtsmacht der Landesschulbehörden 1. Schulrechtsartikel der Weimarer Reichsverfassung Die Weimarer Reichsverfassung enthielt einen eigenen, vierten Abschnitt „Bildung und Schule“ mit in den Art. 143 bis 149 zahlreichen Vorschriften zum Schulwesen (Lehrerbildung, staatliche Schulaufsicht, allgemeine Schulpflicht, Schulgliederung, Privatschulen, Unterrichtsinhalte und Religionsunterricht). Nach Art. 10 Nr. 2 WRV hatte das Reich für das Schulwesen erstmals eine Grundsatzgesetzgebungskompetenz, konnte also danach im Wege der Gesetzgebung Grundsätze für das Schulwesen in ganz Deutschland aufstellen. Explizit sah Art. 146 Abs. 2 Satz 3 WRV vor, dass durch ein Reichsgesetz der Landesgesetzgebung Grundsätze zur weltanschaulichen Gliederung der Volksschule vorgegeben werden sollten.1 Letzteres war Teil des „Weimarer Schulkompromisses“. Danach sollte es weiterhin auf Antrag konfessionelle Volksschulen geben, die Volksschulen im Regelfall aber, wie ohnehin alle anderen öffentlichen Schulen, Gemeinschaftsschulen (Simultanschulen) sein. Zudem sah der Schulkompromiss eine Verständigung auf eine vierjährige Grundschule für alle Kinder vor. Auf die Sicherung der Konfessionsschulen hatte vor allem die katholische Zentrumspartei bestanden, auf die weltanschauliche Öffnung und die vierjährige gemeinsame Grundschule die Sozialdemokratie, die damit ihre entsprechenden
1 Nach
Art. 174 WRV blieb es bis zum Erlass des im Art. 146 Abs. 2 WRV vorge sehenen Reichsgesetzes bei der bestehenden Rechtslage. – Zu diesem Gesetzgebungsauftrag: Steinhoff, Die verfassungsrechtliche Grundlage des Reichsschulgesetzes, in: Neue Bahnen. Illustrierte Monatshefte für Erziehung und Unterricht 37 (1926), S. 25-27.
3. Kap.: Hochkonjunktur in der Weimarer Zeit
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Vorkriegsforderungen und diejenigen der „Einheitsschulbewegung“ zumindest teilweise durchsetzen konnte.2 2. Unerledigter Verfassungsauftrag für ein grundsatzsetzendes Reichsschulgesetz Trotz der Vorbereitung durch einen umgehend bereits im November 1919 einberufenen Reichsschulausschuss3 und einer großen Reichsschulkonferenz im Sommer 19204 gelang nur die Verabschiedung eines Grundschulgesetzes, wonach in Umsetzung von Art. 146 Abs. 1 Satz 2 WRV und Art. 147 Abs. 3 WRV die ersten vier Jahre der Volksschule als Grundschule grundsätzlich für alle Kinder gemeinsam war und „Vorschulen“ mit hohem Schulgeld zur Sondervorbereitung auf den Besuch der höheren Schule aufgehoben wurden.5 Ein 1921 nach langwierigen Vorarbeiten in den Reichstag eingebrachter Gesetzentwurf für ein Reichs-Volksschulgesetz scheiterte 1924, weitere entsprechende Regierungs-
2 Siehe zur Historie des „Weimarer Schulkompromisses“: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart u.a. 1981, S. 939 ff.; Günther Grünthal, Reichsschulgesetz und Zentrumspartei in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1968, insb. S. 53-67; Theo M. Breitsohl, Die Kirchen- und Schulpolitik der Weimarer Parteien 1819/19, Tübingen 1978; Stern, Staatsrecht, § 116 I 5 b). 3 Teilnehmer: Vertreter des Reichsinnenministeriums, der Schulverwaltungen der Länder und der kommunalen Spitzenverbände. 4 Teilnehmer: Rund 700 Wissenschaftler, Sachverständige, Vertreter von am Schulleben beteiligten Organisationen und der öffentlichen Verwaltung. Siehe dazu: Reichsministerium des Innern (Hrsg.), Die Reichsschulkonferenz 1920. Ihre Vorgeschichte und Vorbereitung und ihre Verhandlungen, Leipzig 1921. 5 „Gesetz, betreffend die Grundschulen und die Aufhebung von Vorschulen“ v. 28.04.1920 (RGBl. I S. 851) sowie Änderungsgesetz v. 26.02.1927 (RGBl. I S. 27). – Vorschulen hatte es vor allem in Preußen (mit Ausnahme der Provinzen Westfalen und Hohenzollern) und in einigen norddeutschen Ländern gegeben. 1913 bestanden in Preußen 302 Vorschulen und 759 Höhere Schulen, d.h. knapp 40 % aller Gymnasien und Realschulen hatten eine Vorschule. Letztere wiesen den Charakter von „Standesschulen“ der Besitzenden auf und wurden auch so heftig kritisiert. Für das dort zu zahlende hohe Schulgeld war ein Übereinkommen zwischen der Kultus- und Finanzverwaltung Preußens ursächlich, wonach die Kosten der Vorschulen vollständig durch eigene Einnahmen zu decken waren. Dieser Grundsatz, der unmittelbar nur für die durch den preußischen Staat getragenen Schulen galt, wurde gleichermaßen von den Kommunen für ihre Vorschulen praktiziert. Es wird sogar davon berichtet, dass letztere mit Vorschulen ansehnliche Gewinne erzielten. Siehe dazu eingehend: Kley, Schulreform, S. 36-45.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
entwürfe aus den Jahren 1924, 1925, 1926 und 1927 ebenfalls.6 Das Scheitern der letzten Gesetzesinitiative führte sogar im Februar 1928 zum Auseinanderbrechen der damaligen Reichsregierung, dem Vierten Reichskabinett Marx.7 Inhaltlich ging es vor allem stets um die höchst kontroverse weltanschauliche Gliederung der Volksschule und die Erteilung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach an den Schulen in Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge der Art. 146 Abs. 2 Satz 3 WRV und Art. 149 Abs. 1 Satz 2 WRV. Der „Weimarer Schulkompromiss“ hatte insoweit den gesellschaftlichen Grundkonflikt nicht wirklich in der Verfassung gelöst, sondern dies auf das spätere Gesetzgebungsverfahren vertagt.8 Da es zu dem im Art. 146 Abs. 2 WRV vorgesehenen Reichsgesetz nicht gekommen ist, blieb es nach der Übergangsbestimmung des Art. 174 WRV „bei der bestehenden Rechtslage“. Obwohl die Weimarer Verfassung die Volksschule als Gemeinschaftsschule für alle Konfessionen zur Regel erheben wollte, verblieb es damit tatsächlich umgekehrt in den meisten deutschen Ländern und vor allem auch in Preußen beim bestehenden Bekenntnischarakter der öffentlichen Volksschule. Das Grundschulgesetz von 1920 enthielt allerdings – was bis heute weitgehend unbeachtet geblieben ist – eine bemerkenswerte Vorschrift, die, ohne das Wort Schulversuche zu verwenden, doch hauptsächlich auf solche zugeschnitten war. Nachdem das Grundschulgesetz in § 1 Abs. 1 bestimmte, dass die Volks6 Zu
den Entwürfen und Gründen des Scheiterns: Walter Landé, Aktenstücke zum Reichsvolksschulgesetz, Leipzig 1928; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 950 ff.; Bischöfliche Arbeitsstelle für Schule und Erziehung Köln (Hrsg.), Das Ringen um das sogenannte Reichsschulgesetz. Dokumente zu den Parlamentarischen Verhandlungen 1919–1927, Köln 1956 (mit Wiedergabe der Beratungsverläufe); Gerhard Kluchert, Umbruch, Aufbruch, Abbruch. Schulrecht und Schulreform in der Weimarer Republik – eine Skizze, in: RdJB 2012, S. 450 ff. 7 Siehe dazu: Schreiben des Reichspräsidenten v. Hindenburg an den Reichskanzler Dr. Marx v. 09.02.1928, abgedruckt in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4: Deutsche Verfassungsdokumente 1919–1933, 3. Aufl., Stuttgart u.a. 1991, Dokument Nr. 369, S. 436; außerdem: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1984, S. 622. 8 Der Staatsrechtler Carl Schmitt bezeichnete deshalb den durch den „Weimarer Schulkompromiss“ gefundenen Verfassungstext des Art. 146 WRV als ein typisches Beispiel eines – von ihm begrifflich so geprägten – „dilatorischen Formelkompromisses“. Beide widerstreitenden Seiten hätten sich bei der ewigen und aussichtslosen Diskussion über ein zu schaffendes Schulgesetz mit voller Überzeugung auf diesen Text berufen können, weil der Verfassungsgeber letztlich keine Entscheidung in der Sache selbst getroffen gehabt hätte. „Darin aber, daß Prinzipien gleichmäßig nebeneinander anerkannt werden, ist keine sachliche Entscheidung, auch keine echte Kompromißentscheidung enthalten, sondern nur auf einen später abzuschließenden Kompromiß verwiesen, d.h. die Entscheidung vertagt.“ Siehe, einschließlich Zitat: Carl Schmitt, Verfassungslehre, München/Leipzig 1928 (Nachdruck, 9. Aufl., Berlin 1993), S. 34 f.
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schule in den vier untersten Jahrgängen als die für alle gemeinsame Grundschule, auf der sich auch das mittlere und höhere Schulwesen aufbaue, einzurichten sei, hieß es im dritten Absatz: „Für besondere Fälle können die Landeszentralbehörden zulassen, daß noch weitere Jahrgänge einer Volksschule als Grundschulklassen eingerichtet werden.“ Nach der Begründung des Gesetzentwurfes sollte eine Fortsetzung der Grundschule nach der vierten Klasse auf weitere Jahrgänge „im Wesentlichen nur zu Versuchszwecken“ erfolgen. In vom Reichsminister des Innern erlassenen Durchführungsrichtlinien wurde dies nochmals wiederholt und klargestellt, dass es im Allgemeinen nicht der Absicht des Gesetzes entspreche, die Grundschule vorläufig über die vier untersten Jahrgänge auszudehnen. Im Interesse der Einheitlichkeit wurden die Länder in den Richtlinien ersucht, das Ergebnis entsprechender Versuche mitzuteilen.9 Von dieser im Grundschulgesetz zugelassenen Einbeziehung weiterer Jahrgänge in die Grundschule – und damit der ersten reichsgesetzlichen Regelung eines Schulversuchs – wurde in Preußen indes kein Gebrauch gemacht.10 Ob dies in anderen Ländern versuchsweise geschah, konnte nicht festgestellt werden. 3. Fehlende allgemeine Schulgesetze in den Ländern Da bei der Grundsatzgesetzgebung nach Art. 10 WRV die Rechtssetzungsbefugnis prinzipiell weiterhin bei den Ländern blieb und das Reich überdies von seiner Rahmengesetzgebungsbefugnis nur mit dem Grundschulgesetz marginal Gebrauch machte, war auch in der Weimarer Zeit die Regelung der Schulangelegenheiten weiterhin ein Domäne der Länder. Im Land Preußen und in den meisten anderen Ländern kam aber auch nach 1919 kein allgemeines Schulgesetz zustande.11 In der neuen Verfassung des Freistaates Preußen vom 30.11.1920 war darüber hinaus, da die vorher in Kraft getretene Weimarer Reichsverfassung nunmehr Bestimmungen zum Schulwesen enthielt, von der Aufnahme solcher
9 „Richtlinien des Reichsministers des Innern für die Durchführung des Grundschulgesetzes (zu III 853 vom 25. Februar 1921)“, zu § 1 Abs. 3, abgedruckt in: ZblUV 63 (1921), S. 202. Wiederabdruck in: Christoph Führ, Zur Schulpolitik der Weimarer Republik, 2. Aufl., Weinheim 1972, S. 280. Nach der Rechtsansicht des Kammergerichts regelte das Grundschulgesetz des Reiches unmittelbar und abschließend die – vierjährige – Dauer der Grundschule wie auch die Möglichkeit einer Ausdehnung der Grundschule auf weitere Klassen, so dass daneben keine landesgesetzliche Regelung mehr getroffen werden konnte. Vgl.: KG St, Urt. v. 22.12.1925, Az.: I. S. 776/25, abgedruckt in: ZblUV 68 (1926), S. 148 (149). 10 So: Landé, Preußisches Schulrecht, S. 209. 11 Detaillierter Überblick zur Unterrichtsgesetzgebung in den deutschen Ländern bis 1932: Landé, Staatsrechtliche Grundlagen, S. 698 ff., Fn. 43.
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Vorschriften Abstand genommen worden.12 Nach Art. 81 Abs. 2 der Preußischen Verfassung blieben allgemein die bestehenden Gesetze und Verordnungen in Kraft, soweit ihnen diese Verfassung nicht entgegenstand, was – mangels Regelung – im Schulbereich nicht der Fall sein konnte. Die Befugnisse, die nach den früheren Gesetzen, Verordnungen und Verträgen dem König zugestanden hatten, gingen dabei nach Art. 82 auf die preußische Regierung über. Somit galten selbst nach 1918 immer noch schulrechtliche Vorschriften des ALR fort, ein eindrucksvolles Beispiel für den berühmten Aphorismus von Otto Mayer „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“.13 Die damit verbundene Rechtsunsicherheit wurde öffentlich immer wieder beklagt, nicht zuletzt auf der Reichsschulkonferenz 1920. So mahnte der Vertreter des Deutschen Städtetages dort: „Als schwerwiegender Mangel ist es in vielen Ländern, namentlich auch in Preußen, empfunden worden, daß die rechtlichen Grundlagen des Schulwesens außerordentlich schwankend und unsicher sind. Ein Schulgesetz, welches die Verwaltung aller oder auch nur einer Schulart umfaßt, besitzt z.B. Preußen nicht. Als rechtliche Norm für das Schulwesen werden hier neben den inzwischen längst veralteten Bestimmungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts vom Ausgang des 18. Jahrhunderts fast nur noch Ministerialinstruktionen und andere staatliche Verordnungen erwähnt, die zum Teil veraltet sind, zum Teil auch im Laufe der Zeit erhebliche Veränderungen erfahren hatten.“14 Deutlich fiel 1919 auch die Kritik des ins preußische Kultusministerium geholten vormaligen Direktors des Goethe-Gymnasiums Frankfurt a.M.,15 Karl Reinhardt, zwischenzeitlich preußischer Geheimer Oberregierungsrat, aus: „Es geht nicht an, daß auf dem Schulgebiet weiter wie bisher nur mit Verordnungen und Erlaßen des Ministers gearbeitet wird, die oft durch Tagesströmungen beeinflußt werden und sich widersprechen. Eine gesetzliche Regelung ist notwendig, durch die zwar nicht die Einzelheiten der Lehrpläne festgelegt werden, aber doch bestimmte Grundsätze aufgestellt werden müssen.“16 Allerdings gab es auch wieder erneut Stimmen, die vor einer zu starken gesetzlichen Regulierung, insbesondere des inneren Schulbetriebs, warnten. Es fällt freilich auf, dass gerade ein anderer hoher Beamter des preußischen Kul12 Vgl.:
Eduard Heilfron, Die Verfassung des Freistaates Preußen vom 30.11.1920, Mannheim u.a. 1921, S. 29. 13 Mayer, Verwaltungsrecht, Bd. 1, Vorwort. 14 Zitat: Leon Wespy, Bericht zu Top VII. „Die Verwaltung des öffentlichen Schulwesens im Reiche“, in: RMI, Reichsschulkonferenz 1920, S. 389. 15 Siehe dazu oben Erstes Kapitel V. 4. 16 Zitat: Karl Reinhardt, Die Neugestaltung des deutschen Schulwesens, Leipzig 1919, S. 67.
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tusministeriums, der ins Reichsinnenministerium abgeordnete konservative Ministerialrat und Jurist Arthur Gürich, in den Vorbereitungsmaterialien für die Reichsschulkonferenz ausführte: „Die Schule soll für das Leben bilden, und, wie die Bedürfnisse für das Leben sich im Wandel der Zeiten verändern, muß die Schule sich stets an Veränderungen anpassen können. Gesetzliche Schranken dürfen sie nicht hindern, sich stetig fortzuentwickeln. Gesetzliche Festlegungen sollen in der Regel die Gewähr einer längeren Dauer geben; deshalb muß der innere Schulbetrieb möglichst freigehalten werden von solchen Fesseln, und nur seine Grundlagen und sein äußerer Bau müssen fest gegründet sein, um das Schulwesen zu bewahren vor schwankenden Strömungen und vorübergehenden Stürmen.“17 Und auch ein Schulrat aus dem Rheinland warnte nicht nur vor einer Reichsschulbehörde, sondern meinte auch in Bezug auf einheitliche schulgesetzliche Regelungen: „Vorsicht ist auf dem schwierigen Gebiete notwendig.“18 4. Weiterbestehende Dominanz der Landesschulbehörden Die aus der Monarchie stammende Struktur des Schulwesens blieb in der Weimarer Republik – bis auf die Grundschule und die Abschaffung der Vorschule – im Grundsatz unangetastet, wobei sich im Laufe der Jahre, insbesondere in Preußen, ein neuer Typus der mittleren Schule herausbildete.19 Gleichfalls blieb, wie es der damalige Staatsrechtslehrer Richard Thoma plakativ ausdrückte, das Unterrichtswesen weitgehend „Hausgut der Verwaltung“,20 die 17 Zitat:
Arthur Gürich, Die rechtlichen Grundlagen der Schulreform, in: Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht Berlin (Hrsg.), Die deutsche Schulreform. Ein Handbuch für die Reichsschulkonferenz, Leipzig 1920, S. 7. Nachdruck in: Hans-Ulrich Grunder/Friedrich Schweitzer (Hrsg.), Texte zur Theorie der Schule. Historische und aktuelle Ansätze zur Planung und Gestaltung von Schule, Weinheim/München 1999, S. 117 ff., hier S. 123. – Zur Person: Marnie Schlüter, Reichsschulpolitik und die Abteilung für Bildung und Schule im Reichsministerium des Innern 1919–1934, Diss. Münster 2002 (Online-Ressource: http://miami.uni-muenster.de/servlets/DerivateServlet/ Derivate-4218/diss_schlueter.pdf), S. 53. 18 Zitat: Johann Joseph Wolff, Schule, Bildung, Erziehung, in: Hermann Sacher (Hrsg.), Der Bürger im Volksstaat. Eine Einführung in Staatskunde und Politik, Freiburg 1920, S. 146. 19 Ausführliche Darstellung der einzelnen Schulformen in der Weimarer Republik: Bernd Zymek, Schulen, Hochschulen und Lehrer, in: Dieter Langewiesche/Heinz Elmar Tenorth (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V: 1918–1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 166 ff. – Siehe auch: Reinhold Zilch/Bärbel Holtz, Kulturstaat im partiellen Ausbau mit Verstaatlichung der Schule und Ausweitung der Erwachsenenbildung (1918 bis 1933/34), in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat, Bd. 2.1, S. 94. 20 Zitat: Thoma, Vorbehalt der Legislative, § 76 Anm. II 2.
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Schule auch nach herrschender Rechtsauffassung der Weimarer Zeit ein besonderes Gewaltverhältnis, deren innere Angelegenheiten daher grundsätzlich nicht den Vorbehalt des Gesetzes tangierten. Schulpolitik fand folglich auch in der Weimarer Republik überwiegend nicht in den Parlamenten statt, sondern wurde auch in der ersten deutschen Demokratie weiterhin in den Amtsräumen der Kultusministerien der Länder und – im Vollzug – deren nachgeordneten oberen und unteren Schulaufsichtsbehörden formuliert. Dies geschah, nach Abebben der ersten revolutionären Phase 1918/1919, meist pragmatisch auf den bisherigen Strukturen aufbauend und in für die Schulaufsichtsbehörden überschaubaren und damit umsetzbaren Reformschritten.21 Obwohl Art. 143 Abs. 1 Satz 2 WRV bestimmte, dass auch das Reich mit den Ländern und Gemeinden bei der Einrichtung von öffentlichen Bildungsanstalten zusammenwirken sollte, folgte aus dieser, bislang in keiner Vorläuferverfassung vorgesehenen Aufgabenzuweisung keine schulverwaltungsmäßige Zuständigkeit des Reiches. Die Schulaufsicht blieb alleinige Länder-, die Schulträgerschaft kommunale Angelegenheit. Die Verfassungsbestimmung wurde von Gerhard Anschütz in seinem Standardkommentar zur Weimarer Reichsverfassung – unter Hinweis auch auf eine Entscheidung des Reichsgerichts – als reiner Programmsatz ausgelegt, aus dem das Reich keine zusätzlichen Rechte herleiten konnte. Der Anteil des Reiches an dem in Art. 143 Abs. 1 Satz 2 WRV vorgesehenen Zusammenwirken bestand demnach darin, dass es durch seine Verfassung und durch Einzelgesetze, die es gemäß Art. 10 Nr. 2 WRV erlassen konnte, „die obersten leitenden Grundsätze des Unterrichtswesens aufstellt, deren weitere Ausgestaltung ebenso wie die gesamte administrative Tätigkeit auf dem vorliegenden Sachgebiet Sache der Einzelstaaten, Landesangelegenheit ist.“22 Ein in den Verfassungsberatungen diskutiertes Reichsbildungsministerium oder Reichskulturamt war, obwohl vielfach zwecks größerer Einheitlichkeit in der Bildungspolitik und Minderung der preußischen Vormacht gefordert,23 gleichfalls nicht eingeführt worden. Für Bildung und Schule war auf Reichs ebene nunmehr allerdings seit 1919 eine kulturpolitische Abteilung III im 21 So
auch: Zymek, Schulen (Fn. 19), S. 162. einschließlich Zitat: Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 143 Anm. 2. 23 So etwa durch den Kulturphilosophen, liberalen Politiker (DDP) und von 1919 bis 1921 Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium, Prof. Dr. Ernst Troeltsch. Siehe: Ernst Troeltsch, Ein Reichskulturamt, in: Das demokratische Deutschland. Erste demokratische Wochenschrift, hrsg. v. Ludwig Bergsträßer/Hermann Kalkoff, 1 (1919), Nr. 23 v. 17.05.1919; Wiederabdruck: Ernst Troeltsch, Kritische Gesamt ausgabe, Bd. 15: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), hrsg. v. Gangolf Hübinger, Berlin/New York 2002, S. 108. – In einem dem Wiederabdruck in der Gesamtausgabe vorangestellten Editorischen Bericht wird der Verlauf der ent sprechenden Verfassungsberatungen wiedergegeben. 22 Siehe,
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Reichsinnenministerium zuständig. Diese war einerseits mit der weitgehend erfolglosen Umsetzung des Verfassungsauftrages zur Grundsatzgesetzgebung beschäftigt, andererseits mit der Beobachtung der schulischen Entwicklung in den Ländern. Sie suchte diese im Sinne einer größeren Vereinheitlichung zu beeinflussen, insbesondere durch den Vorsitz des Reichsinnenministers bei unregelmäßig stattfindenden Konferenzen mit den Kultusministern der Länder wie auch dem auf der Arbeitsebene bis 1923 regelmäßig tagenden sogenannten Reichsschulausschuss, sodann ab 1924 ersetzt durch einen „Ausschuß für das Unterrichtswesen“. Zudem lud das Reichsinnenministerium zu der nachfolgend behandelten großen Reichsschulkonferenz von 1920 ein, wie es auch sonst auf die schulpolitische Diskussion durch Konferenzen, Publikationen und finanzielle Förderungen Einfluss zu nehmen suchte.
II. Allseitiger Ruf reforminteressierter Pädagogen nach mehr Schulversuchen und die Folgen 1. Versuchseuphorie auf der Reichsschulkonferenz 1920 Gesetzliche Regelungen zu Schulversuchen bzw. Versuchsschulen sind für die Weimarer Republik weder auf Reichs- noch auf Länderebene auffindbar. Dabei war zu deren Beginn auf der Reichsschulkonferenz 1920 intensiv über neue Ansätze der Reformpädagogik diskutiert worden und es wurde gerade die Zulassung von Versuchen im Schulwesen teilweise emphatisch gefordert: „Wir müssen endlich uns entschließen zu freien Versuchen (Bravo!). Die großzügigsten Versuche müssen ins Werk gesetzt, müssen durchgeführt und gefördert werden.“24 „Weiter fordere ich, daß jeder Staat in größerem Umfang Versuchsschulen schafft.“25 „Gehen wir also … zunächst den Weg des Versuches, und bitten wir die Reichsregierung …, daß die zukünftige Reichsschulgesetzgebung den Weg des Versuches möglichst freimacht. Namentlich durch Privatschulen.“26 Unter den Reformkräften bestand trotz durchaus unterschiedlicher Vorstellungen in schulpolitischen Einzelfragen keine Kontroverse über die prinzipielle Notwendigkeit von Versuchsschulen und damit der vorherigen Erprobung sowohl bei den für erforderlich gehaltenen grundlegenden Veränderungen der Schul strukturen als auch bei anderen pädagogischen Neuerungen. 24 Zitat: Johannes Kühnel, Redebeitrag in: RMI, Reichsschulkonferenz 1920, S. 559. 25 Zitat: Fritz Karsen, ebenda, S. 464. 26 Zitat: Georg Kerschensteiner, ebenda, S. 543. – Siehe auch: Paul Natorp, ebenda, S. 174, mit seinem Leitsatz II 3: „die Ermutigung und Ermöglichung umfassender Versuche in eigenen Versuchsschulen“.
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Allerdings gab es auch rund um die Konferenz vereinzelte mahnende Stimmen vor zu viel Überschwang und Experimenten, zum Beispiel vom damaligen Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium, dem liberalen Kultur philosophen Ernst Troeltsch. Einen Monat vor der Reichsschulkonferenz, an der er auch teilnahm, betonte er in einem Ausblick hierauf die Notwendigkeit von Reformen, warnte aber vor „verkehrtem Reformeifer“ mit deutlichen Worten: „Der allgemeine Reformrausch, der einen großen Teil der Nation, übrigens in den verschiedensten Lagern, ergriffen hat, möchte am liebsten auf dem Gebiete der Bildung und Wissenschaft, der Schule und der Universitäten, experimentieren, die ‚Sozialisierung der Bildung‘ herbeiführen …Daß wilde Schulexperimente, Verminderung des Wissens, Auflösung des Zusammenhanges mit der antiken Kultur, möglichste Rücksicht auf Verbreiterung der Bildung unter Opferung der Differenzierung und Spezialisierung die für echte und produktive Wissenschaft nötige Vorbildung gefährden, ist klar und ist schon lange auch der steigende Effekt solcher Reformen.“27 Auf der Reichsschulkonferenz wurde sogar von 19 namhaften Schulreformen ein Antrag auf Einrichtung eines „Vielmillionenfonds für Versuchsschulen“ eingebracht: „Die Reichsschulkonferenz richtet an das deutsche Volk, die Regierungen, Parlamente, Städte, Industrie, Handel, Landwirtschaft, Arbeiterschaft usw. die dringende Bitte, alsbald durch Stiftungen und Sammlungen – jeder gebe nach seinem Vermögen, viel oder wenig – einen Vielmillionenfonds für Versuchsschulen zu schaffen, damit für bedeutsame Erzieherpersönlichkeiten und neue Auffassungen von der Schule die Möglichkeit der praktischen Erprobung bestehe. Einem vom Reichstag proportional der Parteienstärke zu besetzenden Kulturrat wäre die Entscheidung über die Verteilung der zur Verfügung stehenden Summen zu übertragen. Er hätte dabei möglichst den pädagogischen Neuversuchen aller Richtungen gleichmäßig gerecht zu werden.“28 Obwohl der Vorstellung des Antrags durch Paul Oestreich (1878–1959), einem der führenden deutschen Reformpädagogen in den 1920er Jahren, laut Sitzungsprotokoll „lebhafter Beifall“ gezollt wurde und der sitzungsleitende Staatssekretär Schulz den Antrag inhaltlich begrüßte, fand sich auf dessen Nachfrage dennoch niemand, der die
27 Zitat: Ernst Troeltsch, Die Not der deutschen Wissenschaft, in: Vossische Zeitung, Nr. 260 v. 23.05.1920, Beilage S. 1 f.; Wiederabdruck: Troeltsch, Gesamtausgabe (Fn. 23), S. 378-383, hier S. 381. – Am Ende seines Beitrages (S. 383) erläuterte er dem bürgerlichen Leserkreis der Vossischen Zeitung, worauf es seiner Ansicht nach bei der schulischen Bildung vor allem ankommt: „Und das deutsche Volk muß einsehen, daß nicht Nivellierung und Gleichmachung der Bildung, sondern Emportreibung höchster Leistungen und Gewährung der dazu nötigen Voraussetzung zugleich dem Ganzen den lebendigsten und anregendsten Geist zuführt. Je höher die Gipfel sind, um so höher kann auch der Durchschnitt steigen.“ 28 Abdruck des Antrags: RMI, Reichsschulkonferenz 1920, S. 1034.
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Angelegenheit wirklich in die Hand nehmen wollte.29 Der „Vielmillionenfonds“ zerplatzte damit noch vor Ende der Konferenz wie eine Seifenblase. Einen leidenschaftlichen Appell zur finanziellen Unterstützung von Schulversuchen durch den Staat formulierte vier Jahre später nochmals der Reformpädagoge Fritz Hilker, einer der Gründungsmitglieder des „Bundes Entschiedener Schulreformer“, in seinem Sammelwerk „Deutsche Schulversuche“, wobei er hervorhob, dass der Staat dafür allerdings die pädagogische Unabhängigkeit der jeweiligen Schulreformer nicht antasten dürfe.30 Aufgenommen wurden solche Forderungen nach einem besonderen Fördertopf für Schulversuche in der Stadt Berlin. Die dortige „Deputation für das Schulwesen“, die bezirksübergreifende Verwaltungsangelegenheiten bündelte, war laut Satzung für das Schulwesen von 1924 zuständig für die „Förderung von Schulversuchen durch Zuwendungen aus dem zentralen Versuchsschulfonds“.31 Über die konkrete Verwendung entschied danach ein dort eingerichteter Versuchsschulausschuss, der aus Mitgliedern des Stadtparlaments aller Parteien unter dem Vorsitz eines Stadtschulrates bestand. Zur Höhe des Versuchsschulfonds findet sich im Schrifttum ein Hinweis, dass bei seiner Einrichtung 1922 offenbar eine Summe von 500.000 Reichsmark im Gespräch war.32 Ob diese tatsächlich zur Verfügung gestellt wurde, erscheint indes fraglich. Denn 1929 beklagte in der Berliner Lehrerzeitung ein damaliger Leiter einer Berliner Versuchsschule, Alfred Domdey, dass die Hoffnung, 29 Zum
Sitzungsverlauf: RMI, Reichsschulkonferenz 1920, S. 1034 und S. 1047. Paul Oestreich war von 1905 bis 1933 Lehrer an der Hohenzollern-Oberrealschule in Berlin und Vorsitzender des „Bundes Entschiedener Schulreformer“. Er vertrat in der Pädagogik das Konzept einer „elastischen Einheitsschule mit äußerer Differenzierung“, das stark auf sozialistische pädagogische Ideen basierte. Siehe dazu sein Hauptwerk: Paul Oestreich, Die Schule zur Volkskultur, München/Leipzig 1923. Auszug daraus abgedruckt: Paul Oestreich, Elastische Schule, in: Wolfgang Keim (Hrsg.), Kursunterricht – Begründungen, Modelle, Erfahrungen, Darmstadt 1987, S. 255-259. Zur Person: Winfried Böhm, Kulturpolitik und Pädagogik Paul Oestreichs, Bad Heilbrunn 1973. Heinrich Schulz (1872–1932) war von 1919 bis 1927 Unterstaatssekretär bzw. ab 1920 Staatssekretär für Schul- und Bildungsfragen im Reichsministerium des Innern. Er war nicht nur Sitzungsleiter, sondern auch einer der Initiatoren der Reichsschulkonferenz gewesen. Politisch setzte sich der Sozialdemokrat Schulz als Staatssekretär, auch auf der Reichsschulkonferenz, vor allem für die Schaffung einer Einheitsschule ein, konnte damit aber nach dem Weimarer Kompromiss nicht durchdringen. Siehe: Peter Braune, Die gescheiterte Einheitsschule. Heinrich Schulz. Parteisoldat zwischen Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert, Berlin 2004. 30 Siehe: Franz Hilker, Versuchsschulen und allgemeine Schulreform, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 449 f. 31 Siehe: Jens Nydahl (Hrsg.), Das Berliner Schulwesen, Berlin 1928, S. 6. 32 Dazu: Haubfleisch, Scharfenberg, S. 199 unter Bezugnahme auf: Wilhelm Blume, Die Anfänge … anno 1921/22, in: Wilhelm Blume zum 100. Geburtstag (Neue Scharfenberg-Hefte Nr. 6), Berlin 1984, S. 10.
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gewisse Geldmittel für die Versuchsschularbeit zu erhalten, enttäuscht worden sei.33 2. Förderung von Schulversuchen durch die Reichsregierung Auch das Reichsinnenministerium hatte in seinem Etat einen Fonds zur „Förderung von Bestrebungen auf dem Gebiete des Schul-, Erziehungs- und Bildungswesens“ eingerichtet, der sich 1924 auf 75.000 Reichsmark belief, sich dann im Folgejahr verdreifachte und bis 1928 jährlich konstant 250.000 Reichsmark enthielt.34 Aus diesem Schulfonds wurden zur Hälfte zentrale Institute im Bildungsbereich und ansonsten Organisationen von besonderer pädagogischer Bedeutung sowie „u.a. gefördert das Versuchsschulwesen.“35 Das Reichsinnenministerium hatte am 18.01.1922 in Umsetzung einer in der Reichsschulkommission ausgehandelten Vereinbarung der Länder über die Einführung des Arbeitsunterrichts in den Schulen36 erklärt, das Reich sei bereit, „nach Prüfung 33 Siehe:
Alfred Domdey, Grundsätze und Forderungen zur Frage des Berliner Versuchsschulwesens, in: Berliner Lehrerzeitung 10 (1929), S. 291. – Domdey leitete von 1923 bis 1932 die Lebensgemeinschaftsschule, 8. Volksschule, in Berlin-Oberschöneweide. 34 Vgl.: Schlüter, Reichsschulpolitik, S. 96 unter Bezugnahme auf: Friedrich Poetzsch-Heffter, Bericht über Schwierigkeiten im Verfassungsleben, erstattet dem Ver fassungsausschuß der Länderkonferenz im September 1928, S. 38 f. (unveröffentlicht). 35 Zitat aus einer Aufstellung des Reichsfinanzministeriums „Finanzielle Verflechtung zwischen Reich und Ländern“ für die Beratungen des Verfassungsausschusses, abgedruckt in: Reichsministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsausschuß der Länderkonferenz. Beratungsunterlagen 1928, Berlin 1929, S. 233. Die Länder kritisierten die in vielen Etattiteln des Reichshaushalts verstreuten Fonds der Reichsministerien in Angelegenheiten, in denen diesen keine Verwaltungskompetenzen zustanden und forderten, die Mittel pauschal den Ländern zur Verfügung zu stellen. Ein besonderer Dorn im Auge waren ihnen die Fonds im Bildungsbereich. In den 1920er Jahren gab es immer wieder Debatten über die Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Reich und den Ländern und die Notwendigkeit einer Reichsreform Die Reichsregierung berief deshalb im Januar 1928 eine Länderkonferenz nach Berlin ein, um mit Vertretern der Länder das Reich-Länder-Verhältnis sowie eine Verwaltungsund Verfassungsreform zu erörtern. Die Beratungen wurden in einem eingesetzten Verfassungsausschuss in den folgenden zwei Jahren fortgesetzt, ohne jedoch zu konkreten Ergebnissen zu gelangen. 36 Der Entwurf der Vereinbarung war bereits im Reichsschulausschuss am 29.10.1920 beschlossen worden, konnte aber erst am 14.04.1923 bekannt gemacht werden, weil erst zu diesem Zeitpunkt alle erforderlichen Zustimmungen der Länder vorlagen. Siehe hierzu auch Vorbemerkung in der Bekanntgabe der Ländervereinbarung: „Bekanntmachung, betreffend die Einführung des Arbeitsunterrichts in den Schulen“ v. 14.04.1923 (RMBl. S. 285).
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und Lage der Verhältnisse usw. Versuche und Veranstaltungen zu unterstützen, die praktisch neue Wege zur Arbeitsschule suchen, und die sich die innere und äußere Einstellung der Lehrenden auf den Arbeitsschulgedanken zur Aufgabe gestellt haben“.37 In den Geschäftsverteilungsplänen der Abteilung für Bildung und Schule im Reichsinnenministerium war zwischen 1922 und 1930 auch stets eine ausdrückliche Zuständigkeit für „Versuchsschulen“ ausgewiesen.38 Diese war in den Geschäftsverteilungsplänen 1922, 1923 und 1926 der bekannten Frauenrechtlerin und Schulreformerin Dr. Gertrud Bäumer (1873–1954) zugewiesen, wobei ihr außerdem neben anderem die eng damit zusammenhängenden Bereiche „Landerziehungsheime“, „Privatschulen“ und „Internationale Konferenzen über das Erziehungswesen“ anvertraut waren.39 Im Geschäftsverteilungsplan 1930 findet sich eine Zuständigkeit für „Aufbauschule, Deutsche Oberschule, Landerziehungsheime und Versuchsschulen“, die auf den vorübergehend aus dem württembergischen Kultusministerium abgeordneten Ministerialrat Dr. Löffler übergegangen war, auch wiederum mit der Verantwortung für Privatschulen und Internationale Bildungskonferenzen.40 Im Geschäftsverteilungsplan vom Oktober 1933 tauchen dann Versuchsschulen nicht mehr auf. Auch im preußischen Kultusministerium gab es seit Beginn der Weimarer Republik Ministerialbeamte, die sich gezielt um das Versuchsschulwesen kümmerten. Dies galt insbesondere für den für Volksschulen zuständigen Ministerialrat Dr. Otto Karstädt (1876–1947), der seinerzeit in einem Handbuchbeitrag unter der Überschrift „Versuchsschulen und Schulversuche“ eine entsprechende
37 Zitiert nach: K. Rötzger, Die Versuchsschule, in: Neue Bahnen. Illustrierte Monatshefte für Erziehung und Unterricht 35/36 (1924/1925), Beilage „Die Versuchs schule“, S. 27. 38 Abdruck als Anlage bei: Schlüter, Reichsschulpolitik, S. 243-257. 39 Dr. Gertrud Bäumer, eine ausgebildete Lehrerin, war von 1910 bis 1919 Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, später Stellvertretende Vorsitzende der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und zog für diese in die Weimarer Nationalversammlung ein. 1920 trat sie nicht nur als Ministerialrätin in das Reichsinnenministerium ein, sondern wurde auch Mitglied des Reichstages von 1920 bis 1932. Bäumer arbeitete als Reichstagsabgeordnete – wie ihr Staatssekretär Schulz als sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter – vornehmlich im Bildungsausschuss mit, beide damit in einer heute undenkbaren Doppelfunktion. 1933 wurde Bäumer von den Nationalsozialisten aus dem Ministerialdienst entfernt. Siehe dazu: Führ, Weimarer Republik, S. 102; Schlüter, Reichsschulpolitik, S. 57 ff., 151 f.; Caroline Hopf/Eva Matthes (Hrsg.), Helene Lange und Gertrud Bäumer. Ihr Beitrag zum Erziehungs- und Bildungsdiskurs vom Wilhelminischen Kaiserreich bis in die NS-Zeit. Kommentierte Texte, Bad Heilbrunn 2003. 40 Zur Person Dr. Eugen Löffler: Schlüter, Reichsschulpolitik, S. 61.
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Bestandsaufnahme veröffentlichte.41 Auch der Reformpädagoge Fritz Karsen wurde kurze Zeit 1920/1921 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter mit der Aufgabe betraut, die pädagogischen Versuche in öffentlichen und privaten Schulen Deutschlands zu erfassen. Dabei fand er ein bis dahin allerdings noch unbearbeitetes Feld vor.42 3. Ablehnung von Schulversuchen durch den „Bund Entschiedener Schulreformer“ und seitens der KPD Schon bald nach dem Ende der Reichsschulkonferenz, auf der so glühend für reformpädagogische Schulversuche geworben worden war, lehnte der Hauptprotagonist des „Vielmillionenfonds“, Paul Oestreich, und der von ihm geführte linkssozialistische „Bund Entschiedener Schulreformer“ das Instrument des Schulversuchs gänzlich ab, wohl nicht zuletzt enttäuscht von der Folgenlosigkeit der Konferenz insgesamt und aufgrund konkreter negativer Erfahrungen mit einer Berliner Versuchsschule.43 Hatte Oestreich 1920 noch öffentlich gefordert „Schafft Versuchsschulen!“44, vertrat er zwei Jahre später die Ansicht, eine 41 Siehe:
Otto Karstädt, Versuchsschulen und Schulversuche, in: Herman Nohl/ Ludwig Pallat (Hrsg.), Handbuch der Pädagogik, Bd. IV: Die Theorie der Schule und der Schulaufbau, Langensalza 1928, S. 333-364. 42 Vgl.: Gerd Radde, Fritz Karsen. Ein Berliner Schulreformer der Weimarer Zeit, Berlin 1973, S. 49. 43 Dazu: Paul Oestreich, Ein großer Aufwand, schmählich ist vertan! Rund um die Reichsschulkonferenz. Gesammelte Aufsätze, Leipzig 1924. Näheres zu dem konkreten Fall in Berlin: Ingrid Neuner, Der Bund entschiedener Schulreformer 1919–1933. Programmatik und Realisation, Bad Heilbrunn, S. 49 ff.; Klaudia Schultheis, Pädagogik als Lösungswissen. Eine biographische Analyse der pädagogischen Semantik Paul Oestreichs, Bad Heilbrunn 1991, S. 195 f. – Der „Bund Entschiedener Schulreformer“ war bei seiner Gründung 1919 eine Vereinigung von jugendbewegten, sich durchaus als Avantgarde verstehender Pädagogen, die einem sozialistischen Gesellschaftsentwurf anhingen. Die Verbandsbezeichnung war eine bewusste, zugespitzte Anlehnung an den „Bund für Schulreform“. Viele Gründungsmitglieder verließen im Laufe der zwanziger Jahre diesen Bund, der zunehmend von dem Querdenker Paul Oestreich als ständiger Vorsitzender dominiert wurde, wieder. Näher dazu: Bernhard Reintges, Paul Oestreich und der Bund Entschiedener Schulreformer, Rheinstetten 1977; Neuner, ebenda; Armin Bernhard/Jürgen Eierdanz (Hrsg.), Der Bund der Entschiedenen Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik, Frankfurt a.M. 1991. 44 Paul Oestreich, Die Einheitsschule als Schule der Menschenbildung, in: ders. (Hrsg.), Schöpferische Erziehung. Entschiedene Schulreform II, Vorträge, gehalten auf der freien Reichsschulkonferenz des Bundes entschiedener Schulreformer im Herrenhause zu Berlin vom 31. März–2. April 1920, Berlin 1920, S. 22.
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vereinzelte Versuchsschule beweise nichts, täusche nur Fortschritt vor.45 Damit näherte er sich, worauf in der neueren Bildungsforschung hingewiesen wird,46 der negativen Sicht, wie sie seinerzeit parteipolitisch von der Kommunistischen Partei verfochten wurde. Die KPD betonte programmatisch den gesellschaftlichen Klassencharakter auch der Schule. Dieser aber würde durch pädagogische Reformen verwischt.47 Die Forderung nach Versuchsschulen könne, so der damals in der KPD-Parteiführung für die Bildungspolitik zuständige Edwin Hoernle (1883–1952) kein proletarisches Kampfziel sein. Unter den gegebenen Verhältnissen habe „die ganze pädagogische Experimentiererei an einzelnen wenigen Volksschulen keinen anderen Erfolg, als Lehrer wie Eltern abzulenken von dem was not tut, nämlich dem Kampf um die ganze Schule.“ Während in einigen wenigen Versuchsschulen 100 Kinder alle Finessen ausgesuchtester Pädagogik von Kerschensteiner bis Montessori zu genießen bekämen, würden Millionen Tag für Tag geprügelt, gequält, gedrillt, verwahrlost. Indem die Schulbehörden da und dort eine Versuchsschule zuließen, würden sie sich ihrer Pflicht entheben, eine brauchbare Gesamtreform aller Schulen durchzuführen. „Mehr noch! Sie entledigen sich gleichzeitig aller vorwärtstreibenden und deshalb der Schulbürokratie unbequemen Lehrkräfte, die sich nun der Illusion hingeben, an ‚ihrer‘ Schule eine Insel der Zukunft, ein Paradies … schon heute, aller Ausbeutung und Profilsucht des Kapitalismus zum Trotz, schaffen zu können.“48
45 Siehe:
S. 28.
46 Siehe:
Paul Oestreich, Höheres Schulwesen, in: Die neue Erziehung 4 (1922),
Hanno Schmitt, Topographie der Reformschulen in der Weimarer Republik: Perspektiven ihrer Erforschung, in: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 13 f. 47 Dazu: Christa Uhlig, Reformpädagogik und Schulreform. Diskurse in der sozia listischen Presse der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 2008, S. 31. – Dogmatisch stand diese Haltung insbesondere in der Tradition von Rosa Luxemburg, die eine Einführung des Sozialismus über Sozialreformen entschieden ablehnte. Siehe etwa: Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: dies., Gesammelte Werke, Bd. 1, Erster Halbband, Berlin 1982, S. 369-445 (Erstveröffentlichung in der Leipziger Volkszeitung, Nr. 219-225 v. 21.–28.09.1898 und Nr. 76-80 v. 4.–8.04.1899). 48 Siehe, einschließlich Zitate: Edwin Hoernle, Elternbeiräte und Versuchsschulen, in: Das proletarische Kind, Heft 10/1922, S. 171-174; Wiederabdruck: Edwin Hoernle, Grundfragen der proletarischen Erziehung. Pädagogische und bildungspolitische Schriften, ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Wolfgang Mehnert, Herbert Flach und Hans Lemke, (Ost-)Berlin 1983, S. 94-96, hier S. 95. – Siehe auch den Hinweis bei Uhlig [Reformpädagogik (Fn. 47)] auf ein Bild, das die Kommunistin Clara Zetkin seinerzeit benutzte. Versuchsschulen wie die weltlichen Lebensgemeinschaftsschulen
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Diese Haltung wurde in der Endphase der Weimarer Republik für viele der damals bestehenden Versuchsschulen zu einer verhängnisvollen Belastung, weil der Kampf der Kommunisten gegen die meist sozialdemokratisch gesonnenen Schulreformer nunmehr immer schärfer ausgetragen wurde, bis hin zum Vorwurf des „Kultur- und Sozialfaschismus“. Die parteipolitische Auseinandersetzung wurde in die Schulen, die Elternbeiräte und Lehrerkollegien, hineingetragen. Dies traf nicht zuletzt die Versuchsschulen. Denn trotz deren parteiamtlicher Ablehnung hatten gerade die Versuchsschulen wegen ihrer Zurückweisung der tradierten bürgerlichen Erziehung und wegen ihrer Bekenntnisfreiheit eine besondere Anziehungskraft auf kommunistisch eingestellte Eltern und Lehrkräfte ausgeübt. Während in Hamburg die Kommunisten vor Ort Versuchsschulen weiterhin unterstützten und die Spannungen in den dortigen Schulgemeinschaften offenbar begrenzt blieben, führte die Agitation der KPD-Führung wider eines angepassten Schulreformismus insbesondere in Berlin zu einer Lähmung, zum Teil auch zur Auflösung von Versuchsschulen schon vor der endgültigen Zerschlagung nach der nationalsozialistischen Machtergreifung. 49 4. Deutliche Zunahme von reformpädagogischen Schulversuchen in der Weimarer Zeit Während der Weimarer Zeit kam es vor allem in den Großstädten, und hier insbesondere in Berlin, Hamburg, Bremen50 und Leipzig, zur Errichtung von Versuchsschulen und Durchführung begrenzter Schulversuche. Diese wurden, trotz der ablehnenden Haltung von kommunistischer Seite, gerade auch von eher linksstehenden Pädagogen vorangetrieben. Deutschland entwickelte sich zu Beginn der zwanziger Jahre zu einem Zentrum der seit der Jahrhundertwende in ganz Europa entfachten Bestrebungen zur Erneuerung der Erziehung und des wären „dem ungeheuer großen Gebäude, dem stolzen Dom der Bekenntnisschule … angeklebt wie ein paar kleine, bescheidene Schwalbennester“. 49 Siehe: Ewald Fabry, Die Schulpolitik der Linken in der ersten Phase der Weimarer Republik, in: Hans-Peter de Lorent/Volker Ullrich (Hrsg.), Der Traum von der freien Schule. Schule und Schulpolitik in der Weimarer Republik (Hamburger Schriftenreihe zur Schul- und Unterrichtsgeschichte), Hamburg 1988, S. 66 f.; Reiner Lehberger, Das Lebendigwerden der Kinder im Schulleben. Zur Geschichte der Versuchsschule Telemannstraße 10, in: de Lorent/Ullrich (Hrsg.), ebenda, S. 284 f. – Zur allgemeinen historischen Einordnung: Hans-Hellmuth Knütter, Die Weimarer Republik in der Klammer von Rechts- und Linksextremismus, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/HansAdolf Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918–1933, Bonn 1987, S. 387-406, insb. S. 396 ff. 50 Zur nicht näher behandelten Situation dort: Fritz Heege, Bremische Versuchsschulen, in: Das Werdende Zeitalter. Eine Zeitschrift für Erneuerung der Erziehung 5 (1926), S. 63-71.
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Bildungswesens,51 obwohl die aus dem Kaiserreich übernommene Gliederung des allgemeinbildenden Schulwesens in Volksschulen, mittlere und höhere Schulen bis auf die Festschreibung der gemeinsamen vierjährigen Grundschule nicht grundlegend verändert wurde. Die Zahl der reformpädagogisch ausgerichteten Versuchsschulen am Ende der Weimarer Republik wird zwar nur auf knapp 50 geschätzt, allerdings wurden an mindestens über 200 Schulen reformpädagogische Versuche durchgeführt, wobei eine Reihe von Schulen bewusst den Status einer Versuchsschule im Sinne insbesondere einer Befreiung von den offiziellen Lehrplänen mieden. Überdies strahlten die reformpädagogischen Versuche auf eine nicht feststellbare Vielzahl von Schulen aus, die einzelne reformpädagogische Elemente oder Ideen übernahmen. Geschätzt wird, dass dies allein bei knapp 400 „höheren Lehranstalten“ in Preußen der Fall war.52 Die eigentlichen reformpädagogischen Versuche erfolgten allerdings zum weitaus überwiegenden Teil im Volksschulbereich. Nach 1918 erhielten durch die nunmehrige Beteiligung der Sozialdemokraten, aber auch anderer sozialistischer Parteien an den Landesregierungen und kommunalen Räten die Reformgruppen vor allem der Volksschulpädagogik politische Macht und die bis dahin meist fehlende Unterstützung der Schulverwaltung.53 Im höheren Schulwesen sind nur Versuchsschulen in Berlin (KarlMarx-Schule, Schulfarm Insel Scharfenberg), Hamburg (Lichtwarkschule), Magdeburg (Berthold-Otto-Schule), Dresden (Dürer-Schule), Jena und Lübeck (Dom-Schule)54 bekannt. Die genannten Städte waren neben Bremen, Breslau, Halle, Leipzig, Frankfurt a.M.55 und dem Ruhrgebiet außerdem Zentren mit mehreren Versuchsschu-
51 So: Wilhelm Flitner, Deutschland. Bundesrepublik Deutschland, in: Heinrich Kleinert (Hrsg.), Lexikon der Pädagogik, Bd. 3, Bern 1952, S. 519 f. Ähnliche Bewertung aus nichtdeutscher Sicht: Lamberti, School reform in Weimar, S. 246. – Gesamtüberblick: Wilhelm Flitner/Gerhard Kudritzki (Hrsg.), Die deutsche Reformpädagogik, 2. Bde., 2. Aufl., Düsseldorf/München 1967. 52 Zu den Zahlen: Schmitt, Versuchsschulen, S. 162 ff.; ders., Topographie (Fn. 46), S. 21 f. Er bezieht sich dabei insbesondere auf zeitgenössische Auflistungen des Ministerialrates im preußischen Kultusministeriums Karstädt (Versuchsschulen, S. 333-364) und teilweise auf Angaben von Oelkers (Reformpädagogik, S. 282 Fn. 52). 53 Auf diesen Zusammenhang weist hin: Oelkers, ebenda, S. 283. 54 Zu dieser, im Folgenden nicht mehr eingehender behandelter Versuchsschule: Wolf Bader/Sebald Schwarz, Kern und Kurse. Ein Versuch zu freierer Gestaltung unserer Lehrpläne, Leipzig 1922; Sebald Schwarz, Kern und Kurse an der Oberrealschule zum Dom in Lübeck, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 303-311. 55 Zu den in der neueren Literatur kaum beachteten Frankfurter Versuchsschulen der Weimarer Zeit: Arthur Berg, Reformversuche an Frankfurter Volksschulen, in:
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len.56 Aber auch im ländlichen Bereich gab es Versuchsschulen, und zwar neben den Landerziehungsheimen eine bislang noch nicht umfassend erforschte Zahl ländlicher Reform-Volksschulen. Ein Drittel der mindestens 200 Schulen, an denen reformpädagogische Versuche stattfanden, lag auf dem Land.57 Regional betrachtet erfolgten die Versuche fast ausschließlich in Preußen und den norddeutschen Stadtstaaten; im Süden Deutschlands hat es kaum Schulversuche gegeben. 5. „Die Wiederentdeckung der Grenze“ (reform)pädagogischer Erziehung Ab Mitte der zwanziger Jahre mehrten sich allerdings auch warnende Stimmen, die vor allzu hohen Erwartungen an die reformpädagogischen Konzepte warnten und in diesem Zusammenhang die Grenzen der Erziehung thematisierten. Erhebliche Beachtung fand das selbstkritische Werk eines Hamburger Versuchsschulleiters, Kurt Zeidler, „Die Wiederentdeckung der Grenze“. Aufgrund seiner Erfahrungen forderte er statt pädagogischen Überschwangs und Heilswahrheiten mehr Realismus, Kompromissbereitschaft und Bescheidenheit ein, ohne Verachtung gegen das Alte, bereit, soweit dienlich, es neu zu durchbluten, und zugleich doch allem Neuen zugetan.58 Der Reformpädagoge Karsen warnte angesichts der Erfahrungen in den Hamburger Versuchsschulen davor, ohne jede Lehrpläne zu arbeiten. Gerade die Lehrplanlosigkeit verführe zu der Gefahr, die dadurch vermieden werden solle, der Reaktion. Denn nicht selten hole „der mit seinen Schülern in die weglose Wüste geschickte Lehrer in seiner Rat- und Hilflosigkeit den starren und Lehrerverband Berlin (Hrsg.), Die neuzeitliche deutsche Volksschule. Bericht über den Kongreß Berlin 1928, Berlin 1928, S. 331-341. 56 Vgl.: Schmitt, Topographie (Fn. 46), S. 18 f.; Rainer Lehberger, Die städtischen Versuchsschulen in der Weimarer Republik, in: Inge Hansen-Schaberg/Bruno Schonig (Hrsg.), Basiswissen Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 1: Reformpädagogik. Geschichte und Rezeption, Baltmannsweiler 2002, S. 84. 57 Vgl.: Jörg-W. Link, Ländliche Reformschulen in ihrer Konzeption und Praxis zwischen 1918 und 1945, in: Hansen-Schaberg/Schonig, ebenda, S. 140. 58 Kurt Zeidler, Die Wiederentdeckung der Grenze. Beiträge zur Formgebung der werdenden Schule, Jena 1926; Nachdruck mit Kommentar, Hildesheim/New York 1985, insb. S. 90 ff. – Der Pädagoge Kurt Zeidler (1889–1982) resümierte seine Erfahrungen aus sieben Jahren als Lehrer und hiervon seit 1921 als Leiter der Versuchsschule Breitenfelder Straße (Wendeschule) in Hamburg. Zur Person, zum Werk und die ausgelösten Reaktionen: Uwe Sandfuchs, Kurt Zeidlers „Wiederentdeckung der Grenze“ zwischen Reformpädagogik und Gegenwart, in: Zeidler, Nachdruck, ebenda, S. 103 ff., insb. S. 119 f.
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unzeitgemäßen Lehrplan der vergangenen Gesellschaft als Rettung in der Not hervor“.59 Nicht nur die Hamburger Versuchsschulen, sondern auch die meisten Anfang der zwanziger Jahre gegründeten Versuchsschulen waren seitens der Schulministerien von der Einhaltung der amtlichen Lehr- und Stundenpläne befreit worden; dies war zu einem wesentlichen Kennzeichen der Volksschulversuche geworden.60 Die allgemeine, kontrovers geführte Auseinandersetzung über Versuchsschulen und Reformpädagogik drehte sich um die besonders von Theodor Litt (1880–1962) ins Zentrum gerückte pädagogische Grundsatzfrage „Führen oder Wachsenlassen“ im Erzieher-Kind-Verhältnis,61 oder wie von dem Philosophen und Psychologen Jonas Cohn (1869–1947) mit einem verwandten Begriffspaar überschrieben: „Befreien und Binden“.62 Auf einem pädagogischen Kongress des Deutschen Ausschusses für Erziehung und Unterricht in Weimar 1926, in dessen Mittelpunkt eine Rechenschaftsablage der bisherigen reformpädagogischen Bemühungen stand, kritisierte auch Litt einen aus seiner Sicht mangelnden Realitätssinn in der Reformpädagogik, zudem übersteigertes Sendungsbewusstsein und eine Selbstüberschätzung der Macht der Pädagogik. Der „pädagogische Enthusiasmus“ habe sich übernommen und nun folge auf den Rausch die Ernüchterung. Nach seiner Beobachtung bestand in der Reformpädagogik ein tiefes Missverhältnis zwischen idealen Verheißungen und der harten schulischen Wirklichkeit. Litt mahnte deshalb zu „pädagogischer Sammlung und Besinnung“, zu „pädagogischer Nüchternheit“; der Genius der Pädagogik werde von seinem Wolkenfluge in die irdischen Bezirke zurückgerufen. Er forderte gleichzeitig eine „Rehabilitierung des Handwerklichen“ in der Erziehung, womit gemeint sei die „Gediegenheit und Sicherheit der didaktischen Formgebung, die Beherrschung der großen und kleinen methodischen Kunstmittel, die Überlegenheit über die vielen und weitverbreiteten Fehlgriffe und Unarten des 59 Zitat:
Fritz Karsen, Deutsche Versuchsschulen, in: Lehrerverband Berlin (Hrsg.), Die neuzeitliche deutsche Volksschule. Bericht über den Kongreß Berlin 1928, Berlin 1928, S. 297. 60 Siehe etwa für die Dresdner Versuchsschulen: Georg Schwenzer, Die Dresdner Versuchsschulen, in: Lehrerverband Berlin, ebenda, S. 315. 61 Siehe: Theodor Litt, Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems, 1. Aufl., Leipzig 1927 (13. Aufl., Stuttgart 1967). – Theodor Litt hatte seit 1920 den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik an der Universität Leipzig inne. Zur Person: Wolfgang Klafki, Theodor Litt, in: Hans Scheuerl (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik, Bd. 2, München 1979, S. 241-257. 62 Jonas Cohn, Befreien oder Binden. Zeitfragen der Erziehung überzeitlich betrachtet, Leipzig 1926. – Als weitere wichtige zeitgenössische Schriften sind insbesondere zu nennen: Eberhard Grisebach, Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung, Halle/Saale 1924; Nachdruck Darmstadt 1966; Helmuth Pleßner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 1924.
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Unterrichtsverfahrens“.63 Für diese Fundamentalkritik erntete Theodor Litt den zu erwartenden heftigen Widerspruch aus den Reihen der Wortführer einer „fortschrittlichen“ Pädagogik.64 Aufsehen erregte ebenfalls eine Streitschrift des aus der jüdischen Wiener Jugendbewegung kommenden sozialistischen Reformpädagogen und Psychoanalytikers Siegfried Bernfried (1892–1953). Er beklagte in einer bis dahin kaum bekannten Vehemenz eine „völlig fehlende empirische Basis“ eines großen Teils der pädagogischen Konzepte der Gegenwart und Vergangenheit. Die Pädagogik entbehre bisher schlichtweg der Wissenschaftlichkeit. Die Lehren bedeutender und einflussreicher Pädagogen würden vielfach nur auf eigenen Kindheitserinnerungen und, wenn überhaupt, der kümmerlichen Empirie einer Beobachtung weniger Kinder beruhen, dafür aber umso mehr auf idealistischen Gesinnungen. Die Erforschung der Grenzen der Erziehung, d.h. der sozialen Grenzen sowie derjenigen der Erziehbarkeit des Kindes und der Erziehfähigkeit des Erziehers, waren aus seiner Sicht eine vordringliche wissenschaftliche Aufgabe.65 Bereits fünf Jahre vorher hatte er – im Zusammenhang mit der Forderung nach einem pädagogischen Forschungs-Institut für das jüdische Schulwesen im damaligen Palästina – ausgeführt, dass schulische Versuchsstätten und Versuchsschulen unter wissenschaftlicher Kontrolle einer universitären Einrichtung stehen müssten, „damit sich erweise, was törichter und verderblicher Einfall, was an einem Ort oder bei einem Menschen zulässig, aber nicht maßgeblich für einen weiteren Kreis, und schließlich, was wertvolle Neuerung von Bestand ist“.66
63 Siehe: Theodor Litt, Die gegenwärtige Lage der Pädagogik und ihre Forderungen, in: ders., Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik. Abhandlungen zur gegenwärtigen Lage von Erziehung und Erziehungstheorie, Leipzig/Berlin 1926, S. 1-60, hier insb. S. 8, 11, 46, 55 ff. 64 Ausführlich zu dieser pädagogischen Grundsatzdiskussion und der Kontroverse auf dem Weimarer Kongress: Peter Dudek, Grenzen der Erziehung im 20. Jahrhundert. Allmacht und Ohnmacht der Erziehung im pädagogischen Diskurs, Bad Heilbrunn 1999, S. 81 ff.; Jürgen Oelkers, Die Diskussion der Grenze in der Reformpädagogik, in: Winfried Böhm/Jürgen Oelkers (Hrsg.), Reformpädagogik kontrovers, Würzburg 1995, S. 49-73, insb. S. 54 ff.; Ulrich Herrmann, Von der Revolution der Schule zur Wiederentdeckung der Grenze. Zur Selbstrevision und Historisierung der deutschen Reformpädagogik in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Pädagogik 41 (1995), S. 121-136; Heinz-Elmar Tenorth, Pädagogisches Denken, in: Langewiesche/Tenorth, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V (Fn. 19), S. 132 ff. 65 Siehe: Siegfried Bernfried, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Leipzig 1925; Nachdruck Frankfurt a.M. 1967, S. 13 ff., 31 ff., 127, 142 f. 66 Zitat: Siegfried Bernfried, Ein pädagogisches Forschungs-Institut in Palästina (1920/21), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2: Jugendbewegung und Jugendforschung. Schriften 1909–1930, hrsg. v. Ulrich Herrmann, Weinheim/Basel 1994, S. 386.
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In der Rückschau auf die Reformepoche der beiden Jahrzehnte vor und nach dem Ersten Weltkrieg hob 1956 der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Flitner einerseits die reiche pädagogische Erfindungskraft in jener Zeit hervor. Bezeichnend für jenes Stadium war aus seiner Sicht anderseits gewesen, dass einzelne Persönlichkeiten für eine Umstellung des traditionellen Erziehungssystems hervortraten, indem sie einen bestimmten Impuls für entscheidend ansahen. Sie hätten von Ihrem Ansatzpunkt her eine Theorie der Erziehung und der Reform entworfen, dem alle folgen sollten. „Ein prophetischer und oft auch monomaner Zug, etwas Phantastisches und Ausschließliches war allen eigen, und die selbstentworfenen Theorien hatten alle Vorzüge und Nachteile des im guten Sinne Dilettantischen an sich.“ Dies habe es indes der Schulpolitik kaum ermöglicht, den Ertrag von Versuchen für das staatliche Schulsystem im Ganzen nutzbar zu machen. Der gesamte Zustand der Reformpädagogischen Bewegung habe keine Einheit und Klarheit aufkommen lassen, wie sie die Voraussetzung für staatliche Reformen hätten sein müssen.67
III. Zur Genehmigung von und Aufsicht über Versuchsschulen durch die Schulverwaltungen der Länder 1. Allgemeiner Schulversuchserlass des preußischen Kultusministeriums vom 04.07.1923 Die Genehmigungen der Kultusverwaltungen für die Durchführung von Schulversuchen erfolgten auf der Grundlage von schulrechtlichen Verwaltungsvorschriften, soweit überhaupt eine Rechtsgrundlage angegeben wurde, die Schulbehörden sich also nicht auf ein freies Ermessen im Einzelfall bei der Gestaltung des Schulwesens beriefen. Rechtstechnisch waren dies immer meist noch als solche bezeichnete Zulassungen von „Abweichungen“ von den normalen Vorschriften, also keine ausdrücklichen Ermächtigungen für Schulversuche und insbesondere Versuchsschulen. Allerdings gab es einen bemerkenswerten Erlass des preußischen Kultusministeriums vom 04.07.1923, in dem die (Bezirks-)Regierungen angehalten und ermächtigt wurden, „geeigneten Lehrern in Stadt und Land Versuchsfreiheit zu gewähren und einzelne Stadt- und Landlehrer zu Versuchen anzuregen“. Der Erlass schloss hiermit ab, wobei zuvor der konkrete Fall eines von einem Lehrer 67 Siehe: Wilhelm Flitner, Versuche, Modelle und Theorien in ihrer Bedeutung für die innere Schulreform, in: Die Deutsche Schule 48 (1956), S. 147-153, hier Zitat S. 149; Wiederabdruck: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 9: Volksschule und Elementarbildung, Paderborn u.a. 2005, S. 417-426, hier S. 420 f.
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gestellten Antrags an das Ministerium zur Einrichtung einer ländlichen Versuchsschule zwecks Verwirklichung des Arbeitsunterrichts wiedergegeben wurde. Der Erlass führte die Gesichtspunkte auf, die aus ministerieller Sicht bei derartigen Anträgen zu prüfen waren: „Da Lehrer R. die geeignete Persönlichkeit zu sein scheint, die Frage der Arbeitsweise der Landschule im Sinne meiner Lehrplanrichtlinien durch wohlüberlegte und seelenkundlich begründete Versuche klären zu helfen, so wolle die Regierung, falls dort keine Bedenken bestehen, über die dann vorher zu berichten wäre, den zuständigen Kreisschulrat ermächtigen, dem Lehrer R. im Rahmen des Möglichen Freiheit zur Gestaltung einer heimatlichen Versuchsschule zu gewähren. Hierzu würden auch eine gewisse Freiheit gegenüber dem Stundenplan bei Innehaltung der Gesamtstundenzahl und eine verständige Freiheit in Bezug auf Lehrplan und Lehrplanvorschriften gehören. Staatliche Mittel können für solche Versuche nicht in Aussicht gestellt werden.“68 Dieser zu Schulversuchen animierende Erlass, der auch noch konkrete Anregungen für Werbemaßnahmen in der Lehrerschaft im Falle eines Gelingens des Schulversuchs enthielt,69 scheint aber, wenn man dem zeitgenössischen Reformpädagogen Franz Hilker Glauben schenken will, den Lehrkräften seinerzeit kaum bekannt gewesen zu sein.70 Er vermutete, dass der Erlass in den meisten Kreisschulbüros stecken geblieben sei; immerhin war der Erlass aber noch im „Handbuch der Schulverwaltung“ von 1930 abgedruckt. In der Bildungsforschung wird allerdings neuerdings auch die Ansicht vertreten, der Erlass habe doch Auswirkungen gezeitigt. Das Kultusministerium habe sich von ländlichen Versuchsschulen, auf deren Förderung der Erlass zugeschnitten gewesen sei, eine „Anregerfunktion“ versprochen, eine umfassende Reform des ländlichen Bildungswesens in Gang setzen zu können. In der Folge des Erlasses sei es tatsächlich zu zahlreichen Landschulversuchen gekommen.71 Ob diese Kausali68 Erlass
des preußischen Kultusministeriums v. 04.07.1923, Az.: U III A 1040, abgedruckt in: Hindrichs, Handbuch, § 1830, S. 2938 f. – Der Erlass ist in Auszügen wiedergegeben bei: Schmitt, Topographie (Fn. 46), S. 29 Fn. 47, der als Quelle den Aktenbestand des preußischen Kultusministeriums im Bundesarchiv angibt. Da der Erlass im „Handbuch der Schulverwaltung“ abgedruckt war, ist die von Schmitt bemängelte fehlende Veröffentlichung im amtlichen Zentralblatt zu relativieren. 69 Es hieß dort weiterhin: „Sollte es auf diese Weise gelingen, eine vorbildliche ländliche Versuchsschule zu schaffen, so würde die Regierung, um dem Versuche Werbekraft zu geben, prüfen und mir berichten, ob es zweckmäßig wäre, den zuständigen Kreisschulrat zu ermächtigen, die Lehrer des Kreises zur Besichtigung anzuregen und nötigenfalls hierzu einen kurzfristigen, im allgemeinen 1 Tag nicht überschreitenden Urlaub zu gewähren. Ebenso würden die Regierungen zu prüfen haben und mir berichten, ob auch aus anderen Kreisen befähigte Lehrer, die im Sinne einer Neugestaltung und Höherentwicklung der Landschule arbeiten, zur Besichtigung der Versuchsschule anzuregen und gegebenenfalls zu diesem Zweck zu beurlauben seien.“ 70 Siehe: Hilker, Versuchsschule (Fn. 30), S. 450. 71 So: Link, Ländliche Reformschulen (Fn. 57), S. 146 f.
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tät zwischen jenem Erlass und den bisher nur punktuell erforschten ländlichen Volksschul-Schulversuchen der Weimarer Zeit tatsächlich bestand, ist aber bislang nicht hinreichend belegt. Weitaus offenkundiger ist der Zusammenhang mit der seit Anfang der zwanziger Jahre in zahlreichen Publikationen und Foren geführten Diskussion über eine Landschulreform, bei der sich zwei Richtungen gegenüberstanden: Vertreter der „dorfeigenen Schule“, die in den meist einzügigen Volksschulen eine pädagogische Herausforderung und gleichzeitig wegen der überschaubaren Verhältnisse eine Chance sahen, und jenen der „Zentralschulen“, die eine Verbesserung der Bildungssituation durch die Auflösung und Zusammenlegung von Zwergschulen erstrebten, insbesondere wegen des dadurch nach der Grundschule möglichen Fachlehrersystems. In einer zeitgenössischen Darstellung dieses Richtungsstreits unter der bezeichnenden Überschrift „Zum Kampf um die Landschule“ konstatierte dabei ein Ministerialbeamter, dass „die neue, fortschrittliche Pädagogik“ wieder vom Konzept der Zentralschule abgehe. Was vorher als Nachteil erschienen sei, werde nunmehr als Vorteil angesehen. Der ganze Betrieb einer einklassigen Dorfschule fordere nämlich „geradezu eine Arbeit im Geist der neuen Schule: eine Arbeit vom Kinde aus, eine Arbeit in der Gemeinschaft, eine Arbeit aus dem Leben heraus“.72 Allerdings stand diese positive Sichtweise wie es scheint im deutlichen Gegensatz zu dem Urteil der damaligen Dorfschullehrer. Bei einer statistischen Erhebung im ostpreußischen Regierungsbezirk Gumbinnen Anfang der 1930er Jahre fiel das Urteil der befragten Dorfschullehrer geradezu vernichtend aus. Fast die Hälfte (47 %) sprach sich dabei für eine Vereinigung ihrer einklassigen Schule mit der benachbarten aus. Auch die übrigen erklärten das Verschwinden ihrer Schule für wünschenswert, hielten dies aber wegen der weiten und schlechten Wege für unmöglich. Nur zwei Lehrer schätzten die einklassige Dorfschule, weil sie ihnen größere erzieherische Erfolge versprach als eine mehrklassige Zentralschule, aber auch das nur unter der Voraus72 Siehe, einschließlich des Zitats: Georg Kohlbach, Zum Kampf um die Landschule, in: Karl Eckhardt/Stephan Konetzky (Hrsg.), Um die Landschule, Langensalza 1931, S. 6 ff. Zur weiteren Erläuterung führte er aus, bei der der Dorfschule eigentümlichen „arbeitsteiligen“ Unterrichtsarbeit sei der Lehrer gar nicht imstande, für alle Kinder gleichzeitig zur Verfügung zu stehen. Er sei auf die selbstständige Arbeit der Kinder und auf die Hilfe der Größeren in der Gruppenarbeit angewiesen. Zu dem Richtungsstreit siehe außerdem: Link, Ländliche Reformschulen (Fn. 57), S. 150 f. m.w.N. – Zur seinerzeitigen Situation der Landschulen und der Landschulreform aus der Sicht eines Schulrates: Krauledat, Entwicklungslinien des deutschen Landschulwesens, in: Lehrerverband Berlin (Hrsg.), Die neuzeitliche deutsche Volksschule. Bericht über den Kongreß Berlin 1928, Berlin 1928, S. 130-145, insb. S. 140 ff. zu Versuchen zur Umbildung der inneren Form der Landschulen (Stärkung der freien geistigen Schularbeit des einzelnen Schülers, Werkunterricht, Abkehr von überzogenen Lehrstoffplänen, Gesamtunterricht, bewegliche Begabungs- und Leistungsgruppenordnung statt starrer Altersklassen, Gemeinschaftserziehung).
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setzung einer Reduzierung der als zu hoch empfundenen Klassenstärken.73 Die Diskussion über eine Landschulreform wurde, ohne letztlich zu einem Abschluss zu kommen, nicht nur in der Weimarer Zeit, sondern auch nach 1933 fortgeführt. Der Inbegriff einer ländlichen Versuchsschule war etwa das „Haus in der Sonne“, eine einklassige Dorfschule in Isert bei Altenkirchen im Westerwald, über die sein Gründer und einziger Lehrer, Wilhelm Kirchner (1898–1968), seinerzeit bereits in einer Reihe von Aufsätzen berichtete.74 Zeitgenössische Berichte liegen auch vor über mehrere Land-Versuchsschulen im ehemaligen hessischen Landkreis Biedenkopf bei Marburg, die auf die Initiative des dortigen Schulrats zurückgingen.75 2. Richtlinien und Grundsätze der Berliner Schulaufsicht zur Errichtung von Versuchsschulen (Lebensgemeinschaftsschulen) Ein Schwerpunkt der neuen reformpädagogischen Schulversuche war die Reichshauptstadt Berlin. Dort war bereits 1919 ein größerer Schulversuch mit zunächst 21 über die ganze Stadt verteilten Versuchsklassen auf den Weg gebracht worden. Der Versuch erstreckte sich auf die damals dreijährige Unterstufe der Volksschule. Innerhalb dieser ersten drei Jahre war die Lehrkraft in ihrer Unterrichtsgestaltung völlig frei, also nicht an den amtlichen Lehrplan gebunden. Allerdings musste am Ende, also beim Übergang aus der Unter- zur Mittelstufe der Volksschule das Ziel des Lehrplans erreicht sein. In der Vorbereitung des Schulversuchs hatte die untere Berliner Schulaufsicht, um Erfahrungen mit zwei schon seit 1911 in Berlin bestehenden Versuchsklassen und solchen in anderen Städten auszuwerten sowie den Versuch auf einheitliche Grundlagen zu 73 Siehe:
Georg Wolff, Die Landschule im Gesamtorganismus der Volksschule, in: Karl Eckhardt/Stephan Konetzky (Hrsg.), Um die Landschule, Langensalza 1931, S. 205. 74 Exemplarisch: Wilhelm Kircher, Die arbeitende Landschule, in: Eckhardt/ Konetzky, ebenda, S. 102-118; ders., Erziehungswissenschaftliche Grundlagen der neuen Landschularbeit, in: Das Werdende Zeitalter. Eine Monatsschrift für Erneuerung der Erziehung 10 (1931), S. 352-356. – Zu Person und Werk: Jörg W. Link, Reformpädagogik zwischen Weimar, Weltkrieg und Wirtschaftswunder. Pädagogische Ambivalenzen des Landschulreformers Wilhelm Kircher (1898–1968), Hildesheim 1999; ders., Das Haus in der Sonne. Eine Westerwälder Dorfschule im Brennpunkt internatio naler Landschulreform, in: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 246 ff. 75 Dazu: Schmitt, Topographie (Fn. 46), S. 19 f. m.w.N. – Siehe auch: Josef Becker, Eine ländliche Versuchsklasse, in: Das Werdende Zeitalter. Eine Monatsschrift für Erneuerung der Erziehung 8 (1929), S. 373-380.
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stellen, einen Lehrgang für künftige Lehrkräfte in den Versuchsklassen durchgeführt. Dabei wurde methodisch der Arbeitsunterricht nahe gelegt.76 Während diese ersten Vorstöße in Berlin mit Versuchsklassen später kaum noch Beachtung gefunden haben, sind im Gegensatz dazu die vier Jahre später eingerichteten Berliner „Lebensgemeinschaftsschulen“ als eines der bekanntesten Versuchsschul projekte in die Bildungshistorie eingegangen. In der Reichshauptstadt hatten mit Verfügung des preußischen Kultusministers Otto Boelitz (1876–1951) vom 12.04.1923 neun „Lebensgemeinschaftsschulen“ den Status als Versuchsschule erhalten, und zwar nach, wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt, „zweijährigen, oft geradezu dramatischen Auseinandersetzungen“ in den städtischen Körperschaften und Deputationen sowie mit der Regierung in Potsdam, dem Provinzialschulkollegium und dem Ministerium.77 Die Initiative hierzu hatte maßgeblich der Reformpädagoge und Berliner Stadtschulrat Wilhelm Paulsen (1875–1943) ergriffen, der 1920 Schulleiter einer Hamburger Versuchsschule geworden war, bevor er freilich schon nach nicht einmal einem Jahr nach Berlin wechselte. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass die Lebensgemeinschaftsschulen Volksschulen waren, die wie die Hamburger Versuchsschulen nicht „Unterrichts- und Erziehungsanstalt“, sondern, wie Paulsen es propagierte, „Lebensstätten der Jugend, eine Freistatt jugendlichen Schaffens und jugendlicher Lebensgestaltung“ sein sollten. Darüber hinaus hatten sie „ihre soziale Funktion als Volksbildungsanstalt aufzunehmen.“ Die Schule sei eine „einheitliche Kulturveranstaltung vom Kindergarten bis zur Hochschule, für die Jugend wie für die Erwachsenen.“ Jugend und Erwachsene mit ihren Führern und Lehrern würden eine „große Schulgemeinde“ bilden, das Jugendhaus werde zum „Volkshaus“.78 Anders als in Hamburg wurden die Schulen jedoch nicht in eine fast grenzenlose Freiheit entlassen, ihren Lehrkräften also keine Blankovollmacht erteilt. 76 Hierzu die zeitgenössische Beschreibung des Schulversuchs durch den damals zuständigen Berliner Stadt- und Kreisschulinspektor: Häussler, Die Versuchsklassen der Stadt Berlin, in: Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht 47 (1919/20), S. 69 f. 77 Zitat: Nydahl, Berliner Schulwesen, S. 53. – Der ausgebildete Mittelschullehrer Jens Nydahl (1883–1967) war 1921 Dezernent für das Volksschulwesen in Berlin geworden und amtierte von 1926 bis 1933 als Stadtschulrat von Berlin. 78 Zitate: Wilhelm Paulsen, Die Überwindung der Schule, Leipzig 1926, S. 109 f. – Siehe auch: Dietmar Haubfleisch, Berliner Reformpädagogik in der Weimarer Repu blik. Überblick, Forschungsergebnisse und -perspektiven, in: Hermann Röhrs/Andreas Pehnke (Hrsg.), Die Reform des Bildungswesens im Ost-West-Dialog. Geschichte, Aufgaben, Probleme, 2. Aufl., Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 119; Gerd Radde, Schulreform in Berlin am Beispiel der Lebensgemeinschaftsschulen, in: Ullrich Amlung/ Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 89 ff., insb. S. 92 ff.
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Vielmehr entwarf Paulsen „Richtlinien und Grundsätze, nach denen Versuchsschulen (Lebensgemeinschaftsschulen) einzurichten sind“, die im Juni 1923 das zuständige Berliner Provinzialschulkollegium nach Abstimmung mit dem Kultusministerium als schulaufsichtliche Direktive verfügte.79 Dem Stadtschulrat Paulsen war im Jahr zuvor mit Entscheidung des Kultusministers vom 11.11.1922 die Aufsicht über die Versuchsschulen unbeschadet der Rechte der einzelnen Bezirke und des Provinzialschulkollegiums überantwortet worden.80 In „Allgemeinen Vorschriften“ der Versuchsschul-Richtlinien wurde unter anderem das Prinzip der Freiwilligkeit im Schulversuch festgelegt. Danach durfte kein Kind gegen den Willen der Erziehungsberechtigten in eine Lebensgemeinschaftsschule aufgenommen und kein Lehrer gegen seinen Willen an eine Lebensgemeinschaftsschule versetzt oder an einer solchen beschäftigt werden. Die Versuchsschulen unterlagen damit – wie auch ihre Vorreiter in Hamburg81 – keinen Schulbezirksgrenzen, waren also Wahlschulen, und auch die Lehrerkollegien waren aufgrund des Freiwilligkeitsprinzips faktisch Wahlkollegien.82 Letzteres war in Hamburg dadurch abgesichert worden, dass aufgrund eines Selbstverwaltungsgesetzes von 1920 generell dem Lehrkörper einer Schule ein Vorschlagsrecht über die Neubesetzung von Lehrerstellen sowie über die Versetzung und den Austausch von Lehrern nach Anhörung der Elternvertretung übertragen worden war, dem die Schulaufsicht, sofern nicht besondere Bedenken bestanden, entsprechen musste, und zudem die Wahl des Schulleiters durch Lehrer- und Elternvertreter (im Verhältnis je fünf wahlberechtigte Lehrer ein Elternvertreter bis zur Höchstzahl von neun Personen) erfolgte.83
79 Anlage zur Verfügung des Provinzialschulkollegiums v. 08.06.1923, Az.: II Nr. 2183/23, abgedruckt bei: W. Paulsen, Überwindung, S. 118-122 mit Anmerkungen; Nydahl, Berliner Schulwesen, S. 53-56; Wiederabdruck: Hansen-Schaberg/Schonig, Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 1, S. 125-127. – Das Provinzialschulkollegium in Berlin war staatliche Aufsichtsbehörde für sämtliche öffentlichen und privaten Schulen der Stadtgemeinde Berlin, und zwar gemäß § 45 Abs. 1 Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin (Groß-Berlin-Gesetz) v. 27.04.1920 (PrGS S. 123). 80 Abdruck der Minister-Verfügung bei: Nydahl, Berliner Schulwesen, S. 56. 81 Vgl.: Lehberger, Lebendigwerden (Fn. 49), S. 273. 82 Dass Versuchsschulen Wahlkollegien sein sollten, war eine durchgehende Forderung von Reformpädagogen der Weimarer Zeit: „müssen auch die im neuen Geiste wirkenden Lehrer die Freiheit und die Möglichkeiten haben, sich in Wahlkollegien zusammenzuschließen und Versuchsschulen zu gründen“. Zitat: Hilker, Versuchsschulen (Fn. 30), S. 451. 83 § 2 Abs. 1 bzw. § 20 „Gesetz über die Selbstverwaltung der Schulen“ v. 13.04.1920 (ABl. Hamburg S. 517). – Diese Mitbestimmung in Personalfragen war Ausfluss eines in § 1 des Gesetzes normierten Grundsatzes: „Die unmittelbare Verwaltung einer jeden
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In einem zweiten Abschnitt der Berliner Versuchsschul-Richtlinien „Von der Arbeit der Lebensgemeinschaftsschule“ findet sich eingangs deren Philosophie: „Der Gesamtunterricht wird eingestellt auf die schöpferische Arbeit der Hand und des Geistes. Mit dem Grundsatz materieller Bildung wird rücksichtslos gebrochen. Kenntnisse und Fertigkeiten sind natürliche Ergebnisse schaffender Arbeit, nicht Selbstzweck des Unterrichts“. Statt Schulklassen gibt es „Lebensund Arbeitsgemeinschaften“, an die Stelle verbindlicher Stoffpläne treten deren Arbeitspläne, Stundenpläne fallen fort. „Für den Fortgang der Arbeit ist das wechselnde Bedürfnis der Gemeinschaft und der natürliche Ablauf der Arbeit selbst, d.h. der aller wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Arbeit innewohnende gesetzmäßige Zwang zur Vollendung entscheidend.“ Andererseits waren in den Versuchsschul-Richtlinien Korsettstangen eingezogen: Die für die Volksschule vorgeschriebene Stundenzahl musste auf allen Stufen eingehalten werden und die in den amtlichen Volksschul-Richtlinien84 festgelegten „allgemeinen Bildungsziele“ waren auf der Unterstufe nach vier Jahren, auf der oberen Stufe nach sechs und acht Jahren zu erfüllen. Um letzteres war in den Verhandlungen, wie Paulsen in seiner Kommentierung der Versuchsschul-Richtlinien schreibt, hart gerungen worden. Die Schuladministration wollte danach aus pädagogischen, schulrechtlichen und schulpolitischen Gründen die „vorgeschriebenen Stoff- und Lehrziele der Volksschule“ als bindend für die Gemeinschaftsschule festlegen. Nach Auffassung von Paulsen hätte eine solche Bestimmung den Versuch in seinem Wesen aufgehoben. Andererseits wollte er die Verhandlungen hierüber angesichts der, so Paulsen, sachlichen Haltung des Ministeriums, das unter dem persönlichen Vorsitz des Ministers die Versuchsschulpläne ernstlich gefördert habe, nicht scheitern lassen. Er habe daher trotz eines damit verbundenen inneren Widerspruchs einen dann akzeptierten Kompromiss vorgeschlagen, an Stelle der „Stoffziele“ den aus seiner Sicht erträglicheren Ausdruck „allgemeine Bildungsziele“ zu setzen und die vorgesehenen Intervalle der Zielerreichung festzulegen.85 der Oberschulbehörde unterstehenden Schule erfolgt durch den Lehrkörper und den Elternrat“. Zeitgenössische Kommentierung: Emmy Beckmann, Das Gesetz über die Selbstverwaltung der Schulen in Hamburg, in: Die Lehrerin. Organ des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins 37 (1920/21), S. 44-46. Siehe auch: Hans-Peter de Lorent, Schule ohne Vorgesetzte. Zur Geschichte der Selbstverwaltung im Hamburger Schulwesen während der Weimarer Republik, in: Hans-Peter de Lorent/Volker Ullrich (Hrsg.), Der Traum von der freien Schule. Schule und Schulpolitik in der Weimarer Republik (Hamburger Schriftenreihe zur Schul- und Unterrichtsgeschichte), Hamburg 1988, S. 101. 84 „Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule“ v. 16.03.1921, in: ZblUV 63 (1921), S. 185; „Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die oberen Jahrgänge der Volksschule“ v. 15.10.1922, in: ZblUV 65 (1923), S. 171. 85 Siehe: W. Paulsen, Überwindung, S. 119 Fn. 1.
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Es handelte sich dennoch klar um eine ergebnisorientierte Zielvorgabe, die, nachdem Paulsen nicht mehr Berliner Stadtschulrat war, durch einen Ministererlass vom September 1927 im Sinne der ursprünglichen Intention der Schulaufsicht verschärft wurde. Nach diesem Erlass waren unter den „allgemeinen Bildungszielen“ der Versuchsschul-Richtlinie die „Kenntnisse und Fertigkeiten“ zu verstehen, wie sie in den allgemeinen Volksschul-Richtlinien für die Regelschule gefordert wurden.86 Nach Auffassung des bereits erwähnten seinerzeitigen Leiters einer Berliner Versuchsschule Alfred Domdey blieb von den pädagogischen Freiheiten danach nur noch die angesichts des pädagogischen Anspruches wenig bedeutsame Möglichkeit einer Umstellung von sonst verbindlichen Stoffreihen übrig. Der Ministererlass habe „den absoluten Tod für die unterrichtliche Versuchsarbeit bedeutet“.87 In einem dritten, abschließenden Teil des Berliner Versuchsschul-Regelwerkes waren Bestimmungen zur Verfassung der Lebensgemeinschaftsschulen enthalten. Danach bildete die Gesamtheit der Lehrer, Eltern und Schüler eine Schulgemeinde, mit dem Schulausschuss als oberstem Entscheidungsorgan und darunter je eigenen Mitwirkungsorganen (Lehrerkonferenz, Eltern- und Schülerausschuss). Der Schulleiter der Lebensgemeinschaftsschulen hatte ausdrücklich kein Aufsichtsrecht über die unterrichtliche und erzieherische Tätigkeit der Lehrkräfte, war aber dennoch wie jeder Schulleiter „in besonderem Maße den Behörden für die Durchführung ihrer Anweisungen verantwortlich“. Gegenüber Beschlüssen, die gegen behördliche Anordnungen verstießen, hatte er ein Einspruchsrecht. Darin lag ein immanenter Widerspruch zu seinem nur eingeschränkten Leitungsrecht; dieser war nicht dadurch behoben, dass die Lehrkräfte in ihrer Arbeit neben der Lehrerkonferenz auch „den Behörden unmittelbar verantwortlich“ waren. Im Jahre 1930 bestanden in Berlin insgesamt elf Lebensgemeinschaft-Versuchsschulen.88 Schulrat Wilhelm Paulsen, der auch einem Versuchsschulausschuss der Stadt vorstand, förderte den Gedanken der Gemeinschaftsschule massiv. Gleich zu Beginn seiner Berliner Tätigkeit propagierte er diese in einem Aufruf an Lehrer, Eltern, Schüler und Freunde „unserer Schulen“ zur „Mitarbeit und Verständigung“, den er allen Schulen zugehen ließ. Einer der Kernsätze darin lautete: „Wir sehen die Schule neu.“89 Aber auch sein Nachfolger als Stadtschul86 Erlaß des preußischen Kultusministeriums v. September 1927 – A III 1836, zit. nach: Domdey, Berliner Lehrerzeitung 1929, S. 290. 87 Siehe, einschließlich Zitat: Domdey, ebenda. 88 Vgl.: Haubfleisch, Reformpädagogik (Fn. 78), S. 118; Nydahl, Berliner Schulwesen, S. 58. 89 Und Paulsen weiter: „Die neue Schule ist nichts Fertiges, kann auch nicht von Behörden und Gesetzgebung verordnet werden. Sie muß eine Tat der Volksöffentlichkeit selbst sein, der Eltern, Lehrer und Schüler. Staat und Stadt können ihr nur die
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rat, Jens Nydahl, sah in den Lebensgemeinschaftsschulen „Pionierschulen“, die es entschieden zu fördern galt. Als einen hoffnungsvollen Anfang bezeichnete er den bereits erwähnten zentralen Berliner Fonds für Versuchsschulzwecke. Darüber hinaus befürwortete er eine bessere Ausstattung an Lehrmitteln und Räumen für diese Schulen. Seiner Ansicht nach bedurften sie zudem der verständnisvollen Betreuung durch eine Schulaufsicht, die den besonderen Bedingungen der Versuchsschulen gerecht würde, und im Sinne der Paulsen’schen Richtlinien Freiheit von materiell festgelegten Bildungszielen. In diesem Zusammenhang konstatierte Nydahl eine besonders freundliche Haltung des preußischen Ministeriums gegenüber den Berliner Versuchsschulen, wodurch bis dahin immer Schaden von diesen Schulen abgewehrt worden sei.90 Jene recht positive Sicht stand deutlich im Widerspruch zu der Kritik des Schulleiters Domdey an den Vorgaben des Kultusministeriums und der Entwicklung der Berliner Versuchsschulen. Letzterer wies insbesondere auch darauf hin, dass mit der – 1924 aus politischen Gründen erfolgten – Abberufung Paulsens als Stadtschulrat die mit dessen Person verbundene besondere Aufsicht über die Versuchsschulen aufgehoben und damit diese Schulen wieder allein der allgemeinen Schulaufsicht unterstellt worden waren. Bei ihren Kontrollen und Revisionen hätten die normalen Schulräte die Leistungen und die Arbeit der Versuchsschulen nach dem üblichen festen Schema von Bestimmungen und damit ausschließlich mit demselben Maß wie dasjenige für die Regelschulen gemessen.91 Andere zeitgenössische Beobachter klagten sogar darüber, dass Revisionen vielfach von Schulaufsichtsbeamten durchgeführt worden wären, die Versuchsschulen prinzipiell abgelehnt hätten.92
Voraussetzungen ihrer Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten geben.“ – Abdruck des Aufrufs u.a. unter Mitteilungen und Nachrichten in: Deutsches Philologen-Blatt. Korrespondenz-Blatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand 29 (1921), S. 135-138. Dem Aufruf waren „Leitsätze zum inneren und äußeren Ausbau unseres Schulwesens“ beigefügt. Wilhelm Paulsen hatte diese Leitsätze und seine grundsätzlichen Gedanken zur Neuordnung des Schulwesens, auf die jene basierten, bereits ein Jahr vorher erstmals publiziert. Siehe: Wilhelm Paulsen, Leitsätze zum inneren und äußeren Aufbau unseres Schulwesens, in: Pädagogische Reform. Zugleich Zeitschrift der Hamburger Lehrmittel-Ausstellung 44 (1920), S. 335 f.; ders., Versuch einer natürlichen Schulordnung in der Großstadt auf neupädagogischer Grundlage: Zugleich ein Beitrag für den natürlichen Aufbau der Einheitsschule, in: Pädagogische Reform 44 (1920), S. 71-73. 90 Siehe: Nydahl, Berliner Schulwesen, S. 61. 91 Siehe: Domdey, Berliner Lehrerzeitung 1929, S. 291. 92 Nachweise bei: Inge Hansen-Schaberg, Koeduktion und Reformpädagogik. Untersuchung zur Unterrichts- und Erziehungsrealität in Berliner Versuchsschulen der Weimarer Republik, Berlin 1999, S. 74.
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3. Versuchsschule ohne offiziellen Versuchsschulstatus: Die Neuköllner Karl-Marx-Schule des Schulreformers Fritz Karsen Neben der noch eingehender zu behandelnden „Schulfarm Insel Scharfenberg“ strahlte eine reformpädagogische Versuchsschule weit über Berlin hinaus, die von dem bereits mehrfach erwähnten Fritz Karsen (1885–1951), einem Mitbegründer des Bundes Entschiedener Schulreformer, geleitete Neuköllner Karl-Marx-Schule. Dabei handelte es sich um den ersten Vorläufer der heutigen integrierten Gesamtschule in Deutschland, wobei die konzeptionelle Ausgestaltung ebenfalls von Wilhelm Paulsen und den Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen beeinflusst war. Karsen hatte bis 1928 eine soziale Arbeits- und Gemeinschaftsschule entwickelt, und zwar ab 1921 aus einem ursprünglichen Reformgymnasium (Kaiser-Friedrich-Realgymnasium). Sukzessiv erweitert um eine Aufbauschule, einen Arbeiter-Abiturientenkurs, eine Deutsche Oberschule, eine Volksschule und ein „Versuchsseminar“ für Studienreferendare war die Karl-Marx-Schule zu einem großen Schulkomplex ausgebaut und immer fester organisatorisch zusammengefügt worden.93 Allerdings galt die Karl-Marx-Schule offiziell und auch rechtlich zu keiner Zeit als Versuchsschule.94 Ihr Kernstück, die Aufbauschule, basierte auf dieser in Preußen gerade neu eingeführten (und später noch eingehender zu behandelnden) Schulform, die Volksschüler nach der siebten Klasse in einer sechsjährigen höheren Schule zum Abitur führte. Karsen führte in einem ersten Bericht über die neu gegründete Aufbauschule aus, dass er nicht die „Gewährung irgendwelcher Freiheit zu besonders gearteten Versuchen“ erwarten konnte, er aber überzeugt war, die Schule unter Wahrung der geltenden schulrechtlichen Bestimmungen dennoch nach den von ihm erkannten Forderungen der Gegenwart umgestalten zu können.95 Dabei kam ihm entgegen, dass die für die neue Schulform der Aufbauschule erlassenen preußischen Lehrplanrichtlinien schon relativ große didaktische Freiheiten einräumten.96 Allerdings merkte einer seiner Berliner Wegbegleiter an, „daß Karsen in seiner offiziell als solcher gar nicht anerkannten ‚Versuchsschule‘ viel Privilegien in Anspruch nahm und Rückendeckung 93 Dazu
eingehend: Radde, Karsen, S. 62 ff. – In einem Gutachten der Berliner Schulaufsicht wurde 1932 festgehalten, dass die Karl-Marx-Schule unter den preußischen Schulen die einzige sei, die eine „Reihe von Schulformen“ so in sich vereinige, dass von den Grundtypen nur das humanistische Gymnasium nicht vertreten sei. Wiedergegeben bei: Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 2, S. 287. 94 Vgl.: Radde, Karsen, S. 62. 95 Siehe, einschließlich Zitat: Fritz Karsen, Die Aufbauschule in Neukölln, in: ders. (Hrsg.), Die neuen Schulen in Deutschland, Langensalza 1924, S. 183. 96 Dazu mit Beispielen: Radde, Karsen, S. 110.
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im hohen Ministerium hatte“.97 In späteren Veröffentlichungen ordnete Karsen seine Schule dann doch ausdrücklich als Versuchsschule ein, wobei dies aus einem pädagogischen und nicht so sehr rechtlichen Verständnis heraus geschah. Er nannte sie zugleich eine „Musterschule der werdenden Gesellschaft“.98 Doch hatten offensichtlich auch die Schulaufsichtsbehörden in der Zeit der reformorientierten preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker (1876–1933)99 und Adolf Grimme (1889–1963)100 zu möglichen Abweichungen von schulrechtlichen Vorgaben stillschweigend ihr Einverständnis erklärt oder sie jedenfalls geduldet.101 In einem schulaufsichtlichen Bericht über eine kurz nach dem „Preußenschlag“ durchgeführte dreitägige Generalrevision der Schule im August 1932 wurde nunmehr freilich im Gesamtresultat eine zum Teil „(un)ziemliche Freizügigkeit“ gegenüber den „Richtlinien“ kritisiert.102 Mit seinem Schulmodell setzte Karsen sich ausdrücklich vom reformpädagogischen Ideal einer Schule „vom Kinde aus“ und einem irrationalen Gemeinschaftsdenken ab. Vielmehr betonte er die Aufgabe seiner Schule, ihre überwiegend aus dem Arbeitermilieu stammende Schülerschaft zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, einschließlich der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, zu befähigen wie auch dazu, an der Überwindung einer kapitalistischen Klassengesellschaft in Richtung einer sozialistischen Gesellschaft mitzuarbeiten.103 Methodisch gab es in dieser Schule keinen herkömmlichen „statischen Lehrplan, der die sogenannten Kulturgüter und die für ihr Verständnis notwendigen Techniken nach Reifestufen in traditioneller Aufgliederung aufstellt“. Statt97 Zitat:
Alfred Ehrentreich, Pädagogische Odyssee. Im Wandel der Erziehungsformen, Weinheim u.a. 1967, S. 129. 98 Siehe etwa, einschließlich des Zitats: Fritz Karsen, Die Aufbauschule in Neukölln, in: Neue Bahnen. Illustrierte Monatshefte für Erziehung und Unterricht 37 (1926), Beilage „Die Versuchsschule“, S. 117. 99 Der parteilose Orientalistik-Professor Carl Heinrich Becker war 1921 und von 1925–1930 preußischer Kultusminister; dazwischen amtierte er als Staatssekretär unter dem Kultusminister Otto Boelitz (DVP). Zur Person: Kurt Düwell, Carl Heinrich Becker, in: Kurt Jeserich/Helmut Neuhaus (Hrsg.), Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648–1945, Stuttgart 1991, S. 350354. 100 Der Sozialdemokrat Adolf Grimme trat 1930 die Nachfolge Carl Heinrich Beckers als letzter Kultusminister einer demokratisch gewählten Staatsregierung in Preußen an. Diese wurde 20.07.1932 im „Preußenschlag“ des Reichskommissars von Papen abgesetzt. Zur Person: Kai Burkhardt, Adolf Grimme. Eine Biographie, Köln/ Weimar/Wien 2007. 101 Siehe dazu: Radde, Karsen, S. 62. 102 So: Gerd Radde, Fritz Karsens Reformwerk in Berlin-Neukölln, in: Gerd Radde u.a. (Hrsg.), Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld BerlinNeukölln, Bd. I: 1912 bis 1945, Opladen 1993, S. 186. 103 Vgl. Radde, Karsen, S. 104 f., 109.
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dessen gab es in den Schulgremien festgelegte dynamische Arbeitspläne, und zwar auf der Grundlage der dort gesehenen Bedürfnisse, „die durch die natürliche Entwicklung und die gesellschaftliche Lage dieser Schüler bedingt sind und sich mit der Veränderung der allgemeinen gesellschaftlichen Lage wandeln“. Die Ausführung der Arbeitspläne erfolgte in „Projekten“, in denen jeweils einzelne Arbeitsaufgaben fächerübergreifend und arbeitsteilig in Gruppen- und Einzelarbeit zu lösen waren.104 Wie sich auch die Schulverwaltung den reformpädagogischen Ansätzen geöffnet hatte, zeigt eine Denkschrift des preußischen Kultusministeriums am Ende der Weimarer Republik, überschrieben mit den kulturpolitischen Leistungen der preußischen Regierung seit 1918: „Der Idee eines bei aller Gliederung einheitlichen Schulwesens und der Veränderung der pädagogischen Anschauungen der Nachkriegszeit entsprach, daß für die innere Arbeit aller Schularten neue Grundlagen ausgearbeitet und aufgestellt wurden. … Diese ganze umfassende Neuschöpfung stellt die Bildungsarbeit aller Schulen unter einheitliche Gesichtspunkte, hebt neben dem Unterricht das Erziehungsziel stark heraus, stellt methodisch das Prinzip des Arbeitsunterrichts in den Vordergrund, betont die staatsbürgerliche Erziehungsarbeit aller Schularten, die Gleichwertigkeit der künstlerischen mit den wissenschaftlichen Fächern, den Wert der körperlichen Erziehung der Jugend.“105 4. Versuchsförderung auf höchster Ministerialebene: Abiturberechtigung der „Schulfarm Insel Scharfenberg“ Bei der 1922 gegründeten „Schulfarm Insel Scharfenberg“ in Berlin-Tegel kam es sogar aufgrund einer persönlichen Intervention des Staatssekretärs im preußischen Kultusministeriums und späteren Kultusministers, Carl Heinrich Becker, zur Absicherung der dortigen Reformarbeit. Zwar war diese bereits in der Einleitung erwähnte Berliner höhere Schule, die zum Teil Ideen der Landerziehungsheimbewegung adaptierte, 1922 als städtische Versuchsschule genehmigt worden.106 Doch hatte zunächst das zuständige brandenburgische 104 Siehe, auch zu den beiden vorangegangenen Zitaten: Fritz Karsen, Vorwort zu einem Lehrplan, in: Aufbau 4 (1931), S. 33-41; Wiederabdruck in: Hansen-Schaberg/ Schonig, Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 1, S. 128-138, insb. S. 133 ff. 105 Denkschrift des Kultusministeriums v. Juni 1931: Zusammenstellung der Leistungen der preußischen Regierung auf dem Gebiete der Kulturpolitik seit November 1918, abgedruckt in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat, Bd. 2.2, S. 159 ff., hier S. 160. 106 Zu den pädagogischen Leitsätzen der Reformschule, niedergelegt in einer Denkschrift: Wilhelm Blume, Die Schulfarm auf der städtischen Insel Scharfenberg bei Berlin, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 315 f. Siehe
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Provinzialschulkollegium und das Kultusministerium auf der Arbeitsebene eine beantragte Abiturberechtigung dieser Reformschule abschlägig beschieden. Ein besonderer Versuchsschwerpunkt der Schule war nämlich die Reform der Oberstufe gewesen, in deren Mittelpunkt eine von den Normalschulen abweichende spezifische Form des Kursunterrichts stand.107 Nach einem Informationsbesuch des Staatssekretärs erhielt die Schule in Anerkennung „als pädagogisch wertvolle Versuchsschule“ und „in Würdigung der dort vorliegenden besonderen Verhältnisse“ eine von diesem persönlich unterschriebene, zunächst nur für 1923, und sodann bis 1931 jährlich erneut erteilte Genehmigung zur Abhaltung des Abiturs.108 Zwar musste das Abitur nach den preußischen Bestimmungen für externe Schüler, d.h. ohne Vorzensuren, abgelegt werden, die Prüfung durfte aber eben in der Schulfarm und durch das Lehrerkollegium der Schule erfolgen. Der Erlass des Staatssekretärs sah schließlich noch vor, dass der Prüfungsvorsitz bei einem Ministerialrat aus dem Kultusministerium zu liegen hatte. Diese Sondergenehmigung für die Schulfarm war aus mehreren Gründen ungewöhnlich. Zum einen war eine jährliche Genehmigung in der Abiturprüfungsordnung nicht vorgesehen. Zum anderen hatte nach den Zuständigkeitsregelungen nicht das Ministerium, sondern das Provinzialschulkollegium den Prüfungsausschussvorsitzenden zu bestimmen; und zum Vorsitzenden war entweder das für die Schule zuständige Mitglied des Provinzialschulkollegiums oder der Schulleiter zu bestellen, nicht aber ein Ministerialbeamter. Doch nicht nur über diese formalen Fragen setzte sich der Staatssekretär hinweg, das Kultusministerium erlaubte vor allem auch andere, von der Prüfungsordnung abweichende Prüfungsinhalte.109 auch dessen Genehmigungsantrag: „Gesuch an den Magistrat, die Deputation für die äusseren Angelegenheiten der höheren Schulen und den Ausschuss für Versuchsschulen um Ausbau der 1921 für das städtische Humboldtgymnasium begründeten Sommerschule auf der Insel Scharfenberg zu einer ständigen Sammelwahlschule für Schüler Berlins zunächst in Form einer Versuchs-Oberschule, eingereicht von Studienrat W. Blume vom städtischen Humboldtgymnasium“ (Anfang Februar 1922). Quelle, siehe oben Einleitung Fn. 2. 107 Vgl.: Wolfgang Keim, Kursunterricht auf der Oberstufe von Wilhelm Blumes Schulfarm Insel Scharfenberg, in: ders. (Hrsg.), Kursunterricht – Begründungen, Modelle, Erfahrungen, Darmstadt 1987, S. 111, 116 ff. – Nach Keim läßt sich die Inselschule im Übrigen von ihrem spezifischen Reformansatz her als eine Art Landerziehungsheim in städtischer Trägerschaft mit schuleigener Landwirtschaft, ausgedehnter Selbstverwaltung und gleichberechtigter Mitbestimmung charakterisieren, vom Schultyp her als eine Art integrierte höhere Schule mit einem hohen Anteil Aufbauschüler, d.h. frühere Volksschüler, die in der Regel erst nach ihrem siebten Schuljahr in diesen Bildungsweg gelangt waren. 108 Abdruck der Genehmigung bei: Haubfleisch, Schulfarm, S. 293. 109 Dazu: Nydahl, Berliner Schulwesen, S. 135-186; Haubfleisch, Schulfarm, S. 273 ff.; ders., Schulfarm Insel Scharfenberg. Reformpädagogische Versuchsschul-
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Im Übrigen betonte Staatssekretär Becker in einem Brief vom 22.10.1923 gegenüber dem Schulleiter Blume nochmals sein lebhaftes Interesse an dem Schulversuch. Er sicherte zu, erneut „helfend persönlich einzugreifen, wenn es notwendig werden sollte“.110 5. Einhaltung von Leistungsanforderungen: Auseinandersetzungen Hamburger Versuchsschulen mit der Schulaufsicht In den Revolutions- und Nachkriegswirren der Jahre 1918 bis 1920 wurden mancherorts seitens der Kommunen als Schulträger auch Versuchsschulen gegründet, ohne dass die Schulaufsichtsbehörden darauf großen Einfluss nehmen konnten. Auf diese Weise entstanden etwa, wie bereits erwähnt, in Hamburg die vier Versuchsschulen im Volksschulbereich. Allerdings kam es dort später in den Jahren 1924/1925 zu einem Konflikt mit der Hamburger Oberschulbehörde, die nach Prüfung einer dieser Versuchsschulen zwar deren pädagogisches Klima lobte, aber einen zu niedrigen Leistungsstand gemessen an den allgemeinen Lehrplanzielen monierte. Die Behörde verzichtete nach Protesten der Eltern und Lehrer auf ursprünglich beabsichtigte Maßnahmen, vor allem auf eine Auflage, die Unterrichtsarbeit an die Lehrziele der Grund- und Volksschule anzubinden. Man verständigte sich stattdessen darauf, dass alle Hamburger Versuchsschulen aufgefordert waren, „Vorsorge zu treffen, dass die Leistungen im allgemeinen nicht hinter den Zielen der Volksschule zurückblieben“, ansonsten könne die „bewährte Versuchsfreiheit bestehen“ bleiben.111 Bereits im Jahre 1921 hatte die Oberschulbehörde – wie in arbeit im Berlin der Weimarer Republik, in: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 77 f.; Keim, Schulfarm (Fn. 107), S. 129 f. – Zur Regelung für den Staatlichen Prüfungsausschuss, siehe § 3 der „Ordnung der Reifeprüfung für die höheren Schulen Preußens“ vom 22.07.1926, in: ZblUV 68 (1926), S. 283. Dies entsprach auch der vorhergehenden Rechtslage. 110 Abdruck des Briefes: Haubfleisch, Schulfarm, S. 295. 111 Zitat und Vorgang wiedergegeben nach: Lehberger, Lebensstätte (S. 104, Fn. 66), S. 36. – Eine erste Bestandsaufnahme der Hamburger Versuchsschulen durch die Oberschulbehörde hatte es auch bereits als Reaktion auf einen Aufsatz des Leiters der Versuchsschule Breitenfelder Straße (Wendeschule), Kurt Zeidler (Die andere Seite der neuen Schule, in: Hamburger Lehrerzeitung v. 15.03.1922, S. 161-165) gegeben, in dem dieser seine später auch als Buch („Die Wiederentdeckung der Grenze“) erschienene Kritik an bestimmten Fehlentwicklungen der Reformschulen öffentlich gemacht hatte. Die Oberschulbehörde war gemeinsam mit der Hamburger Lehrerkammer zu folgendem Schluss gekommen: „Eine gute Schule mit Ergebnissen, die sich sehen lassen
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Berlin – einen „Ausschuß für Versuchsschulen“ eingesetzt, in dem die weitere Entwicklung der Versuchsschulen mit allen Betroffenen diskutiert wurde.112 Das Verhältnis zwischen der Schulaufsicht und den Schulen bedurfte ohnehin aus Sicht der entschiedenen Reformpädagogen einer deutlichen Veränderung. So forderte der Hamburger Reformpädagoge Wilhelm Lamszus, damals Lehrer an der Versuchsschule „Am Tieloh“ in Hamburg-Barmbek: „Wir können nicht mehr den Polizisten brauchen, der recherchieren kommt, sondern nur den Freund, der neue Kräfte löst, der neue Möglichkeiten zeigt, der Hemmungen wegräumt, drinnen und draußen, der uns den Weg ebnet …, den sorgenden Freund und Berater. Diese alten amtlichen Inquisitoren sind für uns historisch geworden.“113 Das Grunddilemma der radikalen Hamburger Schulexperimente bestand, wie zutreffend analysiert worden ist, in der von den dortigen anarchischen Reformkräften propagierten Konzeption einer „Schule als Nicht-Schule“, also darin, dass sie die Institution Schule, die sie als Ort des Lernens nutzten, eigentlich abschaffen wollten.114 „Sie gestalteten vorhandene schulische Einrichtungen in Stätten einer neuen Erziehung um, welche die traditionelle Indienstnahme der Schule für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zwar ablehnte, ihre eigenen normativen Vorstellungen von der eigenschöpferischen Natur des Kindes und der aus dieser erwachsenden Gesellschaft jedoch mit Hilfe der Schule durchzusetzen versuchte.“115 Wie das Werk des Hamburger Versuchsschulleiters Zeidler zur „Wiederentdeckung der Grenze“ dokumentiert, setzte gegen Ende der zwanziger Jahre in den Hamburger Versuchsschulen allerdings durchaus eine „starke Selbstbesinnung in ruhiger sachlicher Arbeit“ ein, so ein damaliger Schulrat, Fritz Köhne, der den Versuchsschulen generell zugewandt war.116 Das Klima zwischen Schulbehörde und den Versuchsschulen verbesserte sich merklich. Angeblich wurde in deren Lehrerschaft sogar die Frage nach der weiteren Notwendigkeit von Versuchsschulen diskutiert. Dies soll nach Darstellung des Schulrates darauf beruht haben, dass die damaligen behördlichen Richtlinien und die Selbstverwaltung in können; aber abgesehen von wenigen Besonderheiten nicht drastisch unterschieden von … den Normalschulen.“ Zitiert nach: Kurt Zeidler, Pädagogischer Reisebericht durch acht Jahrzehnte, Hamburg 1975, S. 62 f. Zum Vorgang siehe auch die Darstellung bei: Sandfuchs (Fn. 58), S. 119 f. 112 Vgl.: Fritz Köhne, Versuchsschulen und Schulversuche in Hamburg, in: Lehrerverband Berlin (Hrsg.), Die neuzeitliche deutsche Volksschule. Bericht über den Kongreß Berlin 1928, Berlin 1928, S. 343; Lehberger, Lebensstätte (S. 104, Fn. 66), S. 46. 113 Zitat: Wilhem Lamszus, Vom Weg der Hamburger Gemeinschaftsschulen, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 262-276, hier S. 270. 114 So: Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 2, S. 355. 115 Zitat: Ebenda. 116 Zitat: Köhne, Versuchsschulen (Fn. 112), S. 343.
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Hamburg jeder Schule eine weitgehende Freiheit zur Eigenentwicklung gegeben hätten und deshalb bereits eine Reihe dortiger Schulen in ähnliche Richtung wie die Versuchsschulen gegangen wäre. Schulrat Köhne hob zwei grundlegende Prinzipien hervor, die bis heute Gültigkeit haben: „Versuchsschulen haben nicht die Aufgabe, den pädagogischen Fortschritt zu lokalisieren, damit das übrige Schulwesen von ihm verschont bleibe.“ Und das zweite thematisierte Axiom war die Endlichkeit eines Versuchs, in die rhetorische Frage eingekleidet, ob eine Schule andauernd Versuchsschule sein kann, ob nicht ihr Schulversuch irgendwann in einer Lebensform der Schule zur Ruhe kommen muss. Die Hamburger Versuchsschulen würden nicht Sonderrechte wahren, sondern der Schulentwicklung dienen wollen. Sie würden nicht davor zurückscheuen, sich selber aufzugeben, wenn ihr Mandat zugunsten eines größeren erledigt sei.117 6. Schulbezirksgrenzen für Versuchsschulen: Kontroversen in Leipzig, Magdeburg und Chemnitz Eine bemerkenswerte juristische Auseinandersetzung fand 1923/1924 über eine Leipziger Versuchsschule, die 54. Volksschule in Leipzig-Connewitz statt.118 Ein Vater, der mit Unterstützung des Christlichen Elternvereins seinen Sohn wegen der dortigen Unterrichtspraxis und der Nichterteilung von Reli gionsunterricht von der Schule ferngehalten hatte, wurde vom Landgericht Leipzig – nach einem vorangegangenen Revisionsverfahren vor dem Oberlandesgericht Dresden – strafrechtlich freigesprochen. Nach Auffassung des OLG war zu prüfen, ob die Versuchsschule eine öffentliche Schule im Sinne des § 1 des seinerzeit geltenden sächsischen „Übergangsgesetzes für das Volksschulwesen“ vom 22.07.1919119 war, wonach die Schule die Aufgabe hatte, die Entwicklung der Kinder durch planmäßige Übung der körperlichen und geistigen Kräfte im
117 Siehe,
auch zu den Zitaten: Ebenda, S. 343 f. nachfolgenden Darstellung der gerichtlichen Auseinandersetzung siehe: Pehnke, Leipziger Lehrerverein (S. 106, Fn. 71), S. 124 ff., der Abschnitt übertitelt mit „Paragraphenschlacht gegen die Leipziger Versuchsschule“. Er bezieht sich hierbei wesentlich auf einen zeitgenössischen Artikel: Paul Schnabel, Das Schicksal der Leipziger Versuchsschule, in: Leipziger Lehrerzeitung 32 (1925), Nr. 8, S. 145-148. 119 SächsGVBl. 1919, S. 171. – Das Übergangsgesetz, das nach 1918 von einer sozialistisch und kommunistisch orientierten Parlamentsmehrheit aus MSPD und USPD beschlossen worden war, hatte zunächst auch die Abschaffung jeglichen Religionsunterrichts enthalten. Es war damit ein wesentlicher Teil der Auseinandersetzungen im „sächsischen Kirchenkampf“. Der Versuch, sämtliche öffentliche Volksschulen in bekenntnisfreie Schulen umzuwandeln, wurde vom Reichsgericht durch Urteil v. 04.11.1920 [AöR 40 (1921), S. 98 (100)] als nicht mit Art. 149 WRV vereinbar angesehen. 118 Zur
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147
Sinne sittlicher Lebensentfaltung zu fördern und sie zu hingebender Pflichterfüllung im Dienste der Gemeinschaft zu erziehen. Nach einer nicht unumstrittenen Anhörung von Sachverständigen, namentlich des Erziehungswissenschaftlers Theodor Litt,120 und einigen Eltern sprach das Landgericht in einer öffentlich höchst kontrovers diskutierten Entscheidung der Versuchsschule die Eignung ab, „die Aufgabe zu erfüllen, die in sittlicher Beziehung die Wissenschaft und das Gesetz stellen“. Daraufhin verfügte das sächsische Volksbildungsministerium in einem Schreiben an das Leipziger Bezirksschulamt die Aufhebung des bis dahin aufgrund der Schulbezirksgrenzen ausgeübten Zwangs zum Besuch der Versuchsschule Leipzig-Connewitz. Während die Berliner und Hamburger Versuchsschulen, wie bereits dargestellt, von Anfang an keine solche „Sprengelpflicht“ kannten, also Kinder aus allen Stadtteilen aufnehmen durften und damit der Besuch einer Versuchsschule auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhte, und dieses auch für die Vorläufer in Leipzig, die Schulversuchsklassen vor dem Ersten Weltkrieg, angeordnet gewesen war, hatten die Leipziger Reformer nunmehr einen Bezirkszwang als essentiell für ihre Versuchsschule erachtet. Sie sahen in einer ansonsten möglichen Trennung von Kindern nach Weltanschauung oder Gesellschaftsklassen der Eltern einen Verrat an der pädagogischen und sozialen Idee.121 Die Versuchsschule in Leipzig-Connewitz wurde schließlich – auf einstimmigen Vorschlag ihrer Lehrerschaft – in eine normale Volksschule umgewandelt, womit der Bezirkszwang wieder griff.122 Der Bezirkszwang war auch bei anderen Versuchsschulen Gegenstand von Kontroversen, etwa im Zuge der ersten Einrichtung einer Versuchsschule in Magdeburg, die 1922 aus der Umwandlung einer Bezirks-Volksschule hervorging. Insbesondere der Evangelische Gesamtelternbund forderte, diese Versuchsschule in der Wilhelmstadt nur als „Wahlschule“ auszugestalten. Nach langwierigen Auseinandersetzungen, insbesondere auch einer entsprechenden Intervention 120 Theodor Litt, der seinerzeit in Leipzig lehrte, hielt zwei Jahre später, wie bereits erwähnt, auf dem Weimarer Erziehungskongress 1926 seine berühmte Rede, die eine deutliche Distanz und Kritik an manch pädagogischem Enthusiasmus und damit verbunden Realitätsferne der Reformpädagogen zum Ausdruck brachte. 121 Siehe: Philipp Schönherr, Vom Werden und Wachsen der Leipziger Versuchsschule (54. Volksschule), in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 207; Rita Scharfe, Schulreformversuche in Leipzig, in: Lehrerverband Berlin (Hrsg.), Die neuzeitliche deutsche Volksschule. Bericht über den Kongreß Berlin 1928, Berlin 1928, S. 355 f. – Zur Arbeit der Leipziger Versuchsschule allgemein: Rudolf Lehmann, Die Leipziger Versuchsschule, Leipzig 1931, auszugsweise abgedruckt bei: Inge Hansen-Schaberg (Hrsg.), Die Praxis der Reformpädagogik. Dokumente und Kommentare zur Reform der öffentlichen Schulen in der Weimarer Republik, Bad Heilbrunn 2005, S. 143-146. 122 Siehe: Scharfe, ebenda.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
des Magdeburger Regierungspräsidiums, kam die städtische Schuldeputation dem schließlich nach und hob 1924 den Bezirkszwang gänzlich auf.123 In Chemnitz wurde 1923 der Bezirkszwang für die Versuchsschule Humboldt schule drei Jahre nach ihrer Gründung ebenfalls aufgehoben, nachdem auch hier der Christliche Elternverein und die Evangelische Kirche, insbesondere wegen des Wegfalls des bekenntnismäßigen Religionsunterrichts, gegen den Schulversuch agiert hatten und fast alle Kinder aus dem Bürgertum abgemeldet worden waren. Die Abmeldungen waren, so ist in einem damaligen Bericht des Lehrkörpers zu lesen, „in die Hunderte“ gegangen. Die Lücken hätten zum einen „begrüßenswerter Weise“ dadurch geschlossen werden können, dass an der ehemaligen Mädchenschule nun auch Jungen aufgenommen wurden und damit „der Gedanke der Koedukation praktisch erprobt werden“ konnte. Andererseits beklagte die Lehrerschaft, die Auffüllung hätte eine sehr unorganische Zusammensetzung der Klassen mit sich gebracht. Unter den neu eingetretenen Schülern wären viele gewesen, „die in ihrer alten Schule ‚Konfliktskinder‘ gewesen waren und die, wenn auch nicht alle, ‚Konfliktskinder‘ in der Versuchsschule weiter blieben.“124 Trotz Aufhebung der Schulbezirke wurden die Schulversuche in Magdeburg und Chemnitz, im Gegensatz zur Leipziger Versuchsschule, nicht beendet, sondern als Versuchsschulen mit freiwilliger Teilnahme fortgesetzt.
123 Vgl.: Margarete Behrens, Die Magdeburger Versuchsschule, in: Fritz Karsen (Hrsg.), Die neuen Schulen in Deutschland, Langensalza 1924, S. 106; Reinhard Bergner, Magdeburger Schulversuche mit Berthold Ottos Schulkonzept zur Zeit der Weimarer Republik, in: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 164 ff. – Siehe auch allgemein: Fritz Rauch (Hrsg.), Aus Arbeit und Leben der Magdeburger Versuchsschule am Sedanring, Beiheft zur „Pädagogischen Warte“. Halbmonatszeitschrift für lebendige Volksschularbeit und volkhafte Erziehung 34 (1927); Elisabeth Neuhaus-Siemon, Der Schulversuch Johannes Kretschmanns und die Magdeburger Versuchsschule. Von Berthold Otto beeinflußte Schulversuche als Vorbilder für die heutige Grundschule?, in: Das Kind, hrsg. im Auftrag der Deutschen Montessori-Gesellschaft von W. Böhm u.a., Heft 21/1997, S. 13-27. 124 Siehe: Die Chemnitzer Versuchsschule. Ein kurzer Bericht über ihre Entwicklung und ihren derzeitigen Stand, erstattet von ihrem Lehrkörper, Dresden 1928, S. 8. – Dazu außerdem: Max Uhlig, Versuchsschule Humboldtschule M., Chemnitz, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 293 f. Neuere Studie über den Leiter der Versuchsschule Humboldtschule: Andreas Pehnke, „Ich gehöre in die Partei des Kindes!“ Der Chemnitzer Sozial- und Reformpädagoge Fritz Müller (1887–1968). In Diktaturen ausgegrenzt – in Demokratien vergessen und wiederentdeckt, Beucha 2000.
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149
7. Ablehnung privilegierter Versuchsbedingungen durch den Leipziger Lehrerverein und dessen Eintreten für eine gesetzliche Garantie von Schulversuchen Die Leipziger Versuchsschule war 1921 aus einer Initiative des Leipziger Lehrervereins hervorgegangen, dessen Hauptziel die Einführung der Einheitsschule, orientiert an der Arbeitsschulidee, war. Der Lehrerverein sprach sich hierbei dagegen aus, „unter besonders zurechtgemachten äußeren, günstigeren Verhältnissen Versuche vornehmen zu lassen“. Denn sein Anliegen war es, durch den Schulversuch allgemeingültige Ergebnisse für den Regelschulbetrieb zu gewinnen.125 Allerdings hatte das sächsische Volksbildungsministerium dem Lehrerkollegium der bis 1925 in Leipzig-Connewitz bestehenden Versuchsschule das Recht gewährt, zwei wöchentliche Pflichtstunden zu Arbeitskonferenzen zu verwenden.126 Den Lehrern der benachbarten Dresdner Versuchsschulen hatte das Ministerium, begründet mit einer besonderen Arbeitsleistung in den Versuchsschulen, allgemein eine Ermäßigung ihrer wöchentlichen Pflichtstunden zugestanden.127 Den Lehrerkollegien in Leipzig wie Dresden wurde auch das Recht eingeräumt, freie Lehrerstellen nach eigener Wahl zu besetzen.128 Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Leipziger Lehrerverein eine gesetzliche Garantie von Möglichkeiten der Versuchsschularbeit gefordert. In einer von ihm im Jahre 1911 herausgegebenen Broschüre unter dem Titel „Wünsche der sächsischen Lehrerschaft zu der Neugestaltung des Volksschulgesetzes“ hieß es: „Zu ihrer Weiterentwicklung bedarf die Volksschule des pädagogischen Versuchs. Zu dem Zwecke ist vom Gesetz die Errichtung von Versuchsschulen und Versuchsklassen vorzusehen.“129
IV. Reformpädagogische Richtungen und deren Bedeutung für das Schulwesen und die Versuchspraxis der Weimarer Zeit Die wichtigsten reformpädagogischen Richtungen waren zu Beginn der Weimarer Zeit – wie bereits am Ende des Kaiserreiches – die auf das Lernumfeld 125 So,
einschließlich Zitatwiedergabe: Pehnke, Leipziger Lehrerverein (S. 106, Fn. 71), S. 117, unter Bezugnahme auf: Schnabel, Leipziger Lehrerzeitung 1925 (Fn. 118), S. 145. 126 Vgl.: Scharfe, Schulreformversuche (Fn. 121), S. 356. 127 Vgl.: Schwenzer, Dresdner Versuchsschulen (Fn. 60), S. 315. 128 Vgl.: Scharfe, Schulreformversuche (Fn. 121), S. 355 f.; Schwenzer, ebenda, S. 315. 129 Zitiert nach: Scharfe, ebenda, S. 349.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
abzielenden Konzepte der Landerziehungsheimbewegung, die sich durch weitere Neugründungen außerhalb des öffentlichen Schulwesens ausbreitete,130 sowie in unterschiedlichsten Facetten bei den staatlichen Schulen die „Arbeitsschule“ zur Bildung breiter Bevölkerungsschichten und die Einheitsschulbewegung, insbesondere – wie in Berlin, Hamburg und Bremen – in der Ausformung als Lebensgemeinschaftsschule. Vertreter der beiden letzten Bewegungen konnten zu Beginn der Weimarer Republik nunmehr erheblichen Einfluss auf die Schuladministration nehmen, vor allem auch in Preußen, und dominierten die Reichsschulkonferenz 1920. In einem „Aufruf der preußischen Regierung“ vom 13.11.1918, in dem die im Zuge der Novemberrevolution gebildete Regierung aus Mehrheitssozialisten und Unabhängigen Sozialisten ihr Programm bekannt gemacht hatte, war sogar kurz und bündig als bildungspolitisches Ziel angekündigt worden: „Schaffung der Einheitsschule“.131 1. Beachtlicher Einflussgewinn der Einheitsschulbewegung In der Weimarer Reichsverfassung wurden mit der gemeinsamen vierjährigen Volksschule und der im Grundsatz vorgesehenen nicht mehr bekenntnisgebundenen Volksschule Gedanken der Einheitsschulbewegung umgesetzt. Im schulrechtlichen Schrifttum und seitens der Kultusadministration wurde darüber hinaus der gesamte erste Absatz des Art. 146 WRV als Ausfluss der „Einheitsschule“ angesehen, also „der Vorstellung von einem organisch aufgebauten, nach einheitlicher Idee gegliederten, auf einem gemeinsamen Unterbau beruhenden Schulwesen, das, von der Volksschule ausgehende, Übergänge vorsieht und auf Begabungsauslese beruht.“132 Am unmittelbarsten wurde die Einheitsschulidee danach durch Satz 1 ausgedrückt, der vorschrieb, das öffentliche Schulwesen organisch auszugestalten, d.h. als ein einheitlicher Organismus, zu dem die einzelnen Schulen sich verhalten wie Glieder zum Ganzen.133 Das unverbundene 130 Siehe
dazu aus dem zeitgenössischen reformpädagogischen Schrifttum: Alfred Andressen, Die deutschen Landerziehungsheime, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 58-76. 131 Abdruck: PrGS 1918, S. 187; Wiederabdruck: Huber, Dokumente zur Verfas sungsgeschichte, Bd. IV, Nr. 21, S. 16. 132 Zitat: Landé, Preußisches Schulrecht, S. 49. 133 So: Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 146 Anm. 3. – Nach Anschütz, ebenda, wurde der Ausdruck „Einheitsschule“, der wegen seiner Vieldeutigkeit bewusst im Verfassungstext vermieden worden sei, in Bezug auf Art. 146 Abs. 1 WRV in einem weiteren (allgemeinen) und einer engeren (speziellen) Bedeutung verwendet. Im weiteren Sinne verstanden habe „Einheitsschule“ das gesamte öffentliche Schulwesen in seiner durch Absatz 1 geforderten Eigenschaft als einheitlicher Organismus bedeutet,
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Nebeneinanderbestehen verschiedener Schulformen sollte also vermieden werden.134 Insbesondere in der 1919/1920 neu gegründeten „Einheits“-Grundschule floss reformpädagogisches Gedankengut nachhaltig auch in die amtlichen Lehrpläne und Richtlinien ein, vor allem das Postulat der Kindorientierung. Nicht nur die preußischen Richtlinien für die Grundschule von 1921 betonten deren Auftrag zur allseitigen Persönlichkeitsbildung („alle geistigen und körperlichen Kräfte der Kinder wecken und schulen“)135 und ordneten diesen der traditionellen Aufgabe der Stoffvermittlung über oder in den süddeutschen Ländern jedenfalls gleichrangig daneben. Aber auch bei der Auswahl der in der Grundschule zu behandelnden Stoffe war ab jetzt „vom Kinde aus“ zu denken, die Unterrichtsinhalte hatten sich – wie die preußischen Richtlinien hervorhoben – primär an dessen Entwicklungsstand zu orientieren und erst in zweiter Linie an der Lebensbedeutsamkeit: „Die Auswahl der Unterrichtsstoffe wird in erster Linie durch die Fassungskraft und das geistige Wachstumsbedürfnis der Kinder, in zweiter Linie durch ihre Bedeutung für das Leben bestimmt.“136 2. Umsetzung von Gedankengut der „Arbeitsschule“ Mit der Festlegung des „Arbeitsunterrichts“ als Lehrfach in Art. 148 Abs. 3 WRV137 wurde überdies eine Forderung der Arbeitsschulbewegung zum Teil erfüllt. Als Lehrfach war damit der Unterricht über Bedingungen, Wert und Bedeutung körperlicher Arbeit gemeint, nicht hingegen Arbeitsunterricht im Sinne eines allgemeinen methodischen Unterrichtsprinzips, die Selbsttätigkeit
im engeren Sinne dagegen nur den Unterbau dieses Organismus, die „für alle gemeinsame Grundschule“ als Teil der Volksschule. 134 Vgl.: Ludwig Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, München u.a. 1932, Art. 146 Anm. 2. 135 Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule, in: ZblUV 63 (1921), S. 185, hier S. 186. 136 Ebenda. – Diesen Einfluss der Reformpädagogik auf die Lehrpläne und Richtlinien der Grundschule in der Weimarer Zeit zeigt auf: Margarete Götz, Die innere Reform der Weimarer Grundschule in der Widerspiegelung der zeitgenössischen Richtlinien, in: Rudolf W. Keck/Christian Ritzi (Hrsg.), Geschichte und Gegenwart des Lehrplans. Josef Dolchs „Lehrplan des Abendlandes“ als aktuelle Herausforderung, Baltmannsweiler 2000, S. 237-251, insb. S. 240 ff. 137 Anders als die Paulskirchen-Verfassung und die Preußische Verfassung von 1850 enthielt die Weimarer Reichsverfassung in Art. 148 Abs. 1 bis 3 WRV eine Festlegung von materiellen Unterrichts- und Erziehungszielen. Dazu: Stern, Staatsrecht, § 116 I 5 d).
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
der Schüler zur Grundlage des Unterrichts zu machen.138 Der Begriff „Lehrfach“ war in den Verfassungsberatungen bewusst gewählt worden; er hatte sich im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung gegen die Formulierung „Arbeitsschule als Form“ durchgesetzt.139 Offenbar legten diese Verfassungsbestimmung dennoch besonders Pädagogen gerade auch in letztere Richtung aus.140 Dafür wurde insbesondere die Staatspraxis angeführt, hier hätte es eine Umdeutung des Faches zur Form gegeben.141 Denn 1923 wurde die bereits erwähnte Vereinbarung der Länder zum Arbeitsunterricht bekannt gemacht, wonach es zur Durchführung des Art. 148 Abs. 3 WRV notwendig sei, „das ganze Leben in der Schule in den Dienst des Arbeitsgedankens zu stellen.“ Als Mittel hierzu wurde festgelegt: die Unterstellung des gesamten Unterrichts unter den Arbeitsgedanken und die Verwendung der Arbeit am sinnlichen Stoffe als allgemeines Unterrichts- und Erziehungsmittel, die Schaffung von Gelegenheiten zu planmäßiger Werktätigkeit für Schüler und Schülerinnen und die Beteiligung aller Schüler und Schülerinnen an Arbeiten, die sich aus den Bedürfnissen der Schule ergeben.142 Obwohl auf die Verfassungsbestimmung Bezug genommen wurde, 138 Vgl.: Walter Landé, Die Schule in der Reichsverfassung, Berlin 1929, S. 178 f.; ders., Preußisches Schulrecht, S. 57; Gebhard, Handkommentar WRV, Art. 148 Anm. 4, wobei letzterer als Beispiele für dieses nicht sonderlich klar konturierten Lehrfaches nennt: der Arbeitskreis des Landwirts in den ländlichen Schulen, die gewerbliche Arbeit in den städtischen Schulen und Handarbeitsunterricht für Mädchen. 139 Dazu: Rötzger, Versuchsschule, S. 24. 140 Dies ergibt sich z.B. aus der Erläuterung bei: J. J. Wolff, Schule, S.156. Besonders deutlich Rötzger (Versuchsschule, S. 24 f.): „Artikel 146 und 148 sind die eigentliche verfassungsmäßige Rechtssicherung der Schulversuche geworden: Einheitlicher organischer Schulaufbau, bedingt durch Beruf, Anlage und Neigung; persönliche und staatsbürgerliche Tüchtigkeit, ruhend auf eigenem deutschen Volkstum, gipfelnd in Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Andersgläubigen, Andersvölkischen; als neue Mittel Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht. Das ist allumfassend und doch eng, je nach dem Geiste, der es auslegt. Es enthält, wenn man will, die gesamte Schulreform auch in ihrer noch künftigen Formung … Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht, die beiden gesetzlich neuen, und zwar allzu eng als Lehrfächer gefaßten Mittel sind’s, in denen der Schulversuch verkapselt steckt.“ – Siehe auch die nicht näher begründete rückblickende Bewertung, Art. 148 WRV dokumentiere „eine öffentliche Anerkennung reformpädagogischen Denkens, die es bis dahin nicht gegeben hatte.“: Tenorth, Pädagogisches Denken (Fn. 64), S. 128. 141 So: Rötzger, Versuchsschule, S. 25. 142 „Bekanntmachung, betreffend die Einführung des Arbeitsunterrichts in den Schulen“ v. 14.04.1923 (RMBl. I S. 285); siehe auch oben Fn. 36. – Das preußische Kultusministerium wies zur Umsetzung z.B. die Schulaufsicht an, die Schulen und Lehrerseminare auf interessante pädagogische Beiträge zum Arbeitsunterricht hinzuweisen, etwa auf einen Zeitschriftenaufsatz zu Klassenzimmertechniken, der aus ministerieller Sicht beachtenswerte Anregungen und Anleitungen zur Durchführung des Arbeitsunterrichts im Schulzimmer gab. Siehe: ZblUV 63 (1921), S. 111.
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kam in dieser Vereinbarung in der Tat auch eine Ausweitung auf das methodische Prinzip zum Ausdruck, der Arbeitsunterricht als Lehrfach war danach nur noch Teil der Arbeitsschule. Bei den Beratungen im Reichsschulausschuss hatte Innenstaatssekretär Schulz sich dagegen ausgesprochen, den Arbeitsunterricht gesetzgeberisch durch das Reich oder die Länder zu regeln, vielmehr müsse auf diesem Gebiet bis auf weiteres größte Freiheit herrschen, damit zuerst Versuche gemacht werden könnten.143 Die Kultusadministration in den Ländern ist denn auch in der Praxis nicht bei der Eingrenzung auf ein Lehrfach, insbesondere auf den Werkunterricht, stehen geblieben. Die Arbeitsschulbewegung konnte es als ihren Erfolg verbuchen, dass – wie bereits für Preußen mit amtlichem Zitat belegt144 – die Kultusadministration in den 1920er Jahren methodisch das pädagogische Prinzip des Arbeitsunterrichts übernahm und sogar in den Lehrplänen vorschrieb.145 Ein instruktives Beispiel hierfür findet sich in den preußischen „Richtlinien zu einem neuen, versuchsweise einzuführenden Lehrplan für die 3. Klasse der Präparanden- und Präparandinnenanstalten“ vom 27.04.1920.146 „Um den Gedanken der Arbeitsschule gerecht zu werden“, so die Richtlinien zur Einführung des Lehrplans, „ist überall an passender Stelle auf Beobachtungsmöglichkeiten und werkunterrichtliche Übungen hingewiesen. Vor allem aber muß erstrebt werden, den Arbeitsschulgedanken im geistigen Sinne zu verwirklichen durch stärkere Heranziehung der Selbsttätigkeit und der freiwilligen Arbeit des Schülers, so namentlich durch Bearbeitung selbstgewählter Aufgaben, Beschäftigung mit besonderen Arbeitsgebieten und häusliches Lesen, insbesondere auch durch selbständige Befragung geeigneter Bücher über den zu behandelnden Stoff.“ Bemerkenswert sind diese Richtlinien auch deshalb, weil der Lehrplan nur vorläufig als Versuch in Kraft gesetzt wurde, die endgültige Inkraftsetzung erst nach 143 Wiedergegeben
nach: Führ, Weimarer Republik, S. 314. den Auszug aus der Denkschrift des preußischen Kultusministeriums von 1931, oben Fn. 105. 145 Siehe etwa auch § 7 Satz 2 des badischen „Unterrichtsplan für die Volksschule“, Verordnung des Ministeriums des Kultus und Unterrichts v. 15.04.1924 (BadGVBl. S. 87); Wiederabdruck in: Frank J. Hennecke (Hrsg.), Schulgesetzgebung in der Weimarer Republik vom 11. August 1919 bis 24. März 1933. Sammlung von Rechtsvorschriften des Reiches und der Länder Baden, Bayern und Preußen, Köln/Wien 1991: „Durch die Anleitung und Erziehung zum selbständigen, selbsttätigen Aufnehmen und Begreifen, zum zeichnerischen, körperlichen und geistigen Gestalten des Unterrichtsstoffes soll sie (die Volksschule) den Wert und die Bedeutung einer echten Arbeitsschule erhalten.“ 146 Abgedruckt in: ZblUV 62 (1920), S. 329. – Zur seinerzeitigen Grundeinstellung von Reformpädagogen zu diesem Thema: Aloys Fischer, Arbeitsschulidee und Lehrplan, in: Die Arbeitsschule. Zeitschrift für Arbeitserziehung und Werkunterricht 37 (1923), S. 56-64. 144 Siehe
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
einer Auswertung der binnen Jahresfrist vorzulegenden Berichte über die „bei dem Versuch gemachten Erfahrungen“ erfolgte. Die vorläufige Inkraftsetzung von Lehrplänen ist heute ein gängiges Instrument der Schulpolitik geworden. Diese Ausrichtung auf den Arbeitsgedanken geschah nicht nur für den Volksschulbereich, sondern auch für die höheren Schulen. So wurde nach einer grundlegenden Überarbeitung 1925 in den Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen in Preußen festgelegt: „Der Unterricht ist grundsätzlich Arbeitsunterricht. Er fordert vom Lehrer, daß er bei der Stoffauswahl niemals die Stoffvermittlung allein als Ziel seiner Arbeit betrachtet, sondern stets prüft, welche Kräfte des Zöglings in der Schularbeit entwickelt und gesteigert werden können, insbesondere Selbständigkeit des Urteils, Gemüt, Phantasie und Wille. Das Prinzip des Arbeitsunterrichts macht es nötig, die Klassenarbeit zu einer Zusammenarbeit der Schüler in wechselseitigem Geben und Nehmen unter Leitung des Lehrers zu gestalten.“147 Und bereits in der oben erwähnten Denkschrift des preußischen Kultusministeriums von 1931 wird als Erfolg vermeldet: „Die höhere Schule wandelte sich von einer Lernschule zur Arbeitsschule und Erziehungsanstalt.“148 Inwieweit dies ministerielles Wunschdenken war oder auch schon schulische Realität, mag hier dahingestellt bleiben. Das preußische Kultusministerium hatte jedenfalls seine nachgeordneten Schulaufsichtsbehörden und auch die Schulen selbst schon 1921 in einem Erlass „Werktätige Arbeit in der Schule“ angewiesen, das Thema Ausweitung der Arbeitsschule in ihren Sitzungen, Besprechungen und bei allen sonstigen Gelegenheiten zur Erörterung zu stellen und „Versuche, die freiwillig an geeigneten Anstalten unternommen werden, möglichst tatkräftig zu fördern“.149 Als eigenständige, vom Normalbetrieb abweichende Schulversuche sind in der bereits erwähnten Darstellung des Ministerialbeamten im preußischen Kultusministerium Otto Karstädt aus dem Jahr 1928 über Versuchsschulen und Schulversuche unter der Überschrift „Arbeitsschule“ rund 15 und unter „Gemeinschaftsschule“ knapp 20 Einzelversuche angeführt.150
147 „Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens“ v. 04.04.1925, in: ZblUV 67 (1925), Heft 8, Beilage, hier Ziff. 2. 148 Siehe: Denkschrift (Fn. 105), S. 163. 149 Abgedruckt in: ZblUV 63 (1921), S. 197, hier Zitat S. 198. 150 Karstädt, Versuchsschulen, S. 348 ff.
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3. Aufkommen neuer reformpädagogischer Ansätze in der Weimarer Republik In der Weimarer Zeit kamen drei neue, durchaus geistig verwandte reformpädagogische Ansätze auf, die nicht nur bis heute überdauert haben, sondern die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und auch im Ausland eine beachtliche Resonanz fanden. a) Waldorfschule Die wohl bekannteste und erfolgreichste reformpädagogische Neuschöpfung waren und sind die Waldorfschulen, von denen es heute über 230 in Deutschland und weltweit insgesamt über 1.000 gibt.151 Namensgeber war die WaldorfAstoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart. Der Anthroposoph Rudolf Steiner (1861– 1925)152 konnte die erste Waldorfschule 1919 nach seinen pädagogischen Ideen als einheitliche Volks- und höhere Schule einrichten, und zwar ursprünglich als „pädagogisch soziales Experiment“153 vorwiegend für die Kinder der Mitarbeiterschaft dieser Fabrik. Weitere sechs Waldorfschulen wurden bis 1930 in deutschen Großstädten gegründet, seit 1921 kamen auch schon Gründungen im Ausland hinzu. Während des Nationalsozialismus geschlossen, erlebten die Waldorfschulen nach 1945 zunächst im süddeutschen Raum und vor allem seit den 1980er Jahren in ganz Deutschland eine bedeutende Renaissance als Teil eines nun auch internationalen Netzwerkes.154 Bereits in einer der ersten Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik wurde hervorgehoben, dass kaum ein Reformpädagoge sich stärker als Steiner dem materialistischen Zeitgeist entgegengestellt hat.155 Er entwickelte eine eigene geisteswissenschaftliche Fundierung seiner Pädagogik, die bis heute nicht unumstritten ist; Oelkers spricht von einer Anthroposophie, die „paracelsische Esoterik mit theosophischen Heilslehren verknüpfte.“156 Obwohl die Waldorf151 Aktuelle
Zahlen nach Angaben des Bundes der Freien Waldorfschulen auf dessen Homepage. Siehe: www.waldorfschule.de. 152 Zu Person und Werk statt vieler: Helmut Zander, Rudolf Steiner. Die Biographie, München 2011. 153 Zitat: Marcello da Veiga, Die Diskursfähigkeit der Waldorfpädagogik und ihre bildungsphilosophischen Grundlagen. Ein Essay, in: Horst Philipp Bauer/Peter Schneider (Hrsg.), Waldorfpädagogik. Perspektiven eines wissenschaftlichen Dialoges, Frankfurt a.M. 2006, S. 23. 154 Dazu: Scheibe, Bewegung, S. 301. 155 Vgl.: Karsen, Versuchsschulen der Gegenwart, S. 89. 156 Zitat: Jürgen Oelkers, Reformpädagogik: Aktualität und Historie, in: Winfried Böhm/ Jürgen Oelkers (Hrsg.), Reformpädagogik kontrovers, Würzburg 1995, S. 34. – Aus der
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
pädagogik von dem Anspruch geleitet ist, dass die Erkenntnistheorie Steiners Grundlage allen schulpraktischen Handelns sein soll, gibt es heute nicht wenige, die versuchen, die Waldorfschulen und deren als besonders wertvoll erachtete pädagogisch-didaktische Qualität davon mehr oder weniger zu trennen.157 Diese sehen in erster Linie das reformpädagogische Konzept. Ein Erklärungsversuch in der Bildungswissenschaft für die anhaltende Attraktivität der Waldorfschulen ist denn auch, es hätten sich in keiner anderen Schule die pädagogisch-didaktischen Grundsätze der Reformpädagogik in solcher Reinkultur erhalten wie in den Waldorfschulen. Dass diese unbeschadet die Jahrzehnte überlebten, beruhe allerdings gerade auf deren anthroposophischer Überhöhung und der damit verbundenen, der akademisch-pädagogischen Diskussion weitgehend entzogenen, „hermetisch-exklusiven Atmosphäre“ der Waldorfschulen.158 Der Weimarer Reformpädagoge Karsen sprach von einer „eigenartigen Stimmung“, die das ganze Leben in den Waldorfschulen umfange, und sah die Grenze dieser damaligen Versuchsschulen in ihrer geistigen Absonderung.159 Kennzeichen der Waldorfpädagogik war und ist bis heute ein gemeinschaftlicher Unterricht von Klasse 1 bis 12 ohne Sitzenbleiben. Eine ausgeprägte künstlerisch-handwerkliche Ausrichtung soll die kreativen Kräfte der Schüler zur Entfaltung bringen. Zensuren sind durch Textzeugnisse ersetzt und im sogenannten Hauptunterricht in den ersten zwei Schulstunden wird der Unterricht in Epochen von mehreren Wochen pro Fach erteilt. Eine weitere Besonderheit ist das Klassenlehrerprinzip, der Unterricht von der ersten bis zur achten Klasse durch eine Lehrkraft in nahezu allen Fächern, nach der Lehre Steiners vorgesehen, damit die Kinder die Einheit in der Vielfalt des Wissens in einer Person erleben können.160 Die Waldorfschulen hatten von Anfang an eigene, von staatlichen Vorgaben Vielzahl der Schriften Rudolf Steiners sind vor allem folgende pädagogischen Grundlagenwerke zu nennen: Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, 7. Aufl., Dornach 1992; Rudolf Steiner, Erziehungskunst. Methodisches – Didaktisches, 5. Aufl., Dornach 2005. Konkret zu der von ihm gegründeten ersten Waldorfschule: Rudolf Steiner, Die pädagogische Zielsetzung der Waldorfschule in Stuttgart, in: Das Werdende Zeitalter. Eine Monatsschrift für Erneuerung der Erziehung 10 (1931), S. 59-61. 157 Dazu: da Veiga, Diskursfähigkeit, S. 18 ff., der eine Passage seines Beitrags überschreibt mit: „Das gestörte Verhältnis von Theorie und Praxis in der Waldorfbewegung“. 158 So: Walter Müller, „Ver-Steiner-te“ Reformpädagogik oder: Ist die Waldorfschule trotz Anthroposophie eine gute Schule? in: Winfried Böhm/Jürgen Oelkers (Hrsg.), Reformpädagogik kontrovers, Würzburg 1995, S. 123. 159 Vgl. Karsen, Versuchsschulen (Fn. 59), S. 293 f. 160 Vgl., auch hinterfragend, ob angesichts der Spezialisierung und Fragmentierung des Wissens, etwa in den Naturwissenschaften, dies heute noch möglich ist und die Waldorfpädagogik hier nicht neue Lösungsansätze herausarbeiten muss: da Veiga, Diskursfähigkeit, S. 42.
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abgekoppelte Lehrpläne und auch insbesondere mit Himmelskunde, Gartenbau sowie Eurythmie spezifische Unterrichtsfächer. Die Waldorfpädagogik suchte wie die anderen „Schulen neuer Gesinnung“,161 die Landerziehungsheime und die hieraus hervorgegangenen freien Schulgemeinden (Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Odenwaldschule), eine Umsetzung ihrer Ideen außerhalb und in bewusster Absetzung vom staatlichen Schulsystem, allerdings nicht als Internatsschule auf dem Land, sondern als innerstädtisch gelegene Tagesschule. Die Schule sei, so die damalige Kritik eines Waldorfpäda gogen, unter den Ansprüchen des Staates unmündig geworden; dieser Anspruch des Staates auf die Schule sei unberechtigt.162 Mit der Durchsetzung des staatlichen Schulmonopols und der damit verbundenen Vereinheitlichung war das private Schulwesen, das bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts das Schulwesen in Deutschland geprägt hatte, weitgehend zurückgedrängt worden. Privatschulen, meist kirchlicher Träger, waren die Ausnahme geworden. Den Schulreformern der Waldorf- und Landerziehungsheimbewegung ging es nunmehr nicht mehr nur darum, private Schulgründungen aus Gründen von Konfession, Weltanschauung oder sonstigen Interessen als Alternative zur Staatsschule zu betreiben, sondern vor allem um die Möglichkeit, hierdurch größere Freiheiten zur Entwicklung pädagogischer Alternativen zu gewinnen und sich diesbezüglich aus als Fesseln empfundenen staatlichen Regulierungen zu befreien. Steiner nannte seine Versuchsschulen deshalb ganz bewusst „freie“ Waldorfschulen: „Die Waldorfschule will eine freie Schule sein, d.h. sie will gänzlich frei vom Staate sein und unterwirft sich nur, wenn es die Gesetze nicht anders zulassen, der Aufsicht der staatlichen Schulbehörden.“163 Damit verbunden war – wie schon bei Hermann Lietz – von Anfang an eine Auseinandersetzung mit den Schulaufsichtsbehörden über Lehrpläne und vor allem auch über die Berechtigung und das Verfahren zur Vergabe von Schulabschlüssen. Bis heute ist es wegen der grundlegenden Abweichungen des Waldorf-Bildungsganges von denjenigen der öffentlichen Schulen in fast allen Bundesländern dabei geblieben, das Abitur (anders als bei den Ersatzschulen) als externe Prüfung abzunehmen, in einigen Bundesländern auch die mittlere Reife, und die Prüfungsordnung zumeist an diejenige der sogenannten „Nicht-Schüler-Prüfungen“ zu orientieren.
161 Prägnant
diese Klassifizierung durch: Karsen, Versuchsschulen der Gegenwart, S. 56 und insb. S. 89. 162 So: Paul Oldendorff, Die freie Waldorfschule in Stuttgart, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 183. 163 Zitiert nach: Scheibe, Bewegung, S. 301 m.w.N.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
b) Jena-Plan-Schule Eine weitere, gerade in den letzten Jahren an Attraktivität wieder erheblich zunehmende Reformidee der 1920er Jahre verkörpert die „Jena-Plan-Schule“ von Peter Petersen (1884–1952). Aufbauend auf seine Hamburger Versuchsschulerfahrungen (seit 1912 im Vorstand und Geschäftsführer des Bundes für Schulreform, 1920–1923 erster Leiter und Lehrer an der reformpädagogischen höheren Versuchsschule Lichtwarkschule) entwickelte er an der UniversitätsÜbungsschule in Jena, die er zugleich seit seinem Ruf auf eine dortige Professur für Erziehungswissenschaft im Jahre 1923 leitete, sein schulpädagogisches Konzept.164 Bei dessen Vorstellung auf einer Tagung des „Weltverbandes für Erneuerung und Erziehung“ 1927 in Locarno wurde dafür der Begriff „JenaPlan“ („einer freien allgemeinen Volksschule“) geprägt. Die leitenden, viele zeitgenössische reformpädagogische Impulse aufnehmenden und zu einem ganzheitlichen Schulmodell formenden Prinzipien waren: die Schule ist eine Lebens-Gemeinschaftsschule, an die Stelle von Jahrgangsklassen tritt jahrgangsübergreifender Unterricht („Stammgruppen“), die Versetzung erfolgt dabei nach Selbsteinschätzung der Schüler, der starre Stundenplan wird durch einen flexiblen Wochenarbeitsplan ersetzt, Gruppenarbeit („Tischgruppen“) statt lehrerzentrierter Unterricht, ältere Schüler helfen als Paten jüngeren Schülern, das Klassenzimmer wird zur „Schulwohnstube“, Arbeit und Spiel, Gespräch und Feiern sind pädagogische Grundformen. Ein Schlüsselbegriff für Petersen war – wie bei den Waldorfschulen – die Gemeinschaft.165 164 Die Universitäts-Übungsschule diente der an der Universität Jena durchgeführten akademischen Lehrerausbildung. Sie war 1844 von einem Vertreter der seinerzeit im Vormarsch befindlichen sogenannten Herbartianischen Pädagogik, Karl Volkmar Stoy (1815–1885), gegründet und später von dem noch bekannteren Herbartianer Wilhelm Rein (1847–1929) fortgeführt worden. Unter ihrer Leitung war diese Übungsschule keine „Versuchsschule“ im eigentlichen Sinne gewesen. In den Übungsschulen der Herbartianer, vorübergehend hatte es zwischen 1862 und 1882 noch eine zweite an der Universität Leipzig gegeben, ging es nicht um die Entwicklung von grundsätzlichen Reformalternativen. „Im Mittelpunkt des schulpädagogischen Interesses standen vielmehr eine Rationalisierung und Effektuierung von Unterrichtsprozessen sowie eine konsequente Systematisierung der Unterrichtspraxis. Auch haben sich die Herbartianer grundsätzlich mit den herrschenden politischen, sozialen und staatlichen Tendenzen des Zweiten Deutschen Kaiserreichs arrangiert.“ So: Schmitt, Versuchsschulen als Instrumente schulpädagogischer Innovation, S. 160, der allerdings auch darauf aufmerksam macht, dass der Gründer der Landerziehungsheime Hermann Lietz Student und nachfolgend Lehrer an der Jenaer Übungsschulen gewesen war, und ein Zitat wiedergibt, wonach dieser nach eigenem Bekunden fast alles Wichtige, was er später in den Landerziehungsheimen durchzuführen versucht habe, hier vorher schon hätte erproben können. 165 Siehe: Peter Petersen, Der Jenaplan einer freien allgemeinen Volksschule, Langen salza 1927 („Kleiner Jena-Plan“); Neuauflage als: Peter Petersen, Der Kleine Jena-Plan
3. Kap.: Hochkonjunktur in der Weimarer Zeit
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Petersen erkannte allerdings, anders als Rudolf Steiner oder Hermann Lietz, durchaus an, dass die Schule im Rahmen des vom Staat „als die oberste Einheitsveranstaltung der Volksgesellschaft“ gesteckten Rahmens, namentlich seinen „Richtlinien“ für den Unterricht, zu arbeiten hat. Die Schulgemeinde des JenaPlans erwarte darum auch „keinerlei Sonderaufwendungen“.166 Im Gegensatz zur Waldorf- und Landerziehungsheimbewegung war sein Konzept der „Neuen Erziehung“ immer auf das öffentlich-staatliche Schulwesen und dessen Umgestaltung ausgerichtet.167 Am Ende der Weimarer Republik gab es eine große Anzahl von Jena-PlanSchulen. Diese wurden bis auf die Universitätsschule in Jena und offenbar einiger danach arbeitender Schulen in Westfalen in der Zeit des Nationalsozialismus trotz noch zu behandelnder unrühmlicher Ergebenheitsadressen Petersens168 geschlossen. Die Jenaer Versuchsschule fand erst in der DDR-Zeit ihr Ende, geschlossen 1950 durch das kommunistische Ministerium für Volksbildung Thüringens nach der Weigerung, sich an Aktionen der Pionier-Bewegung zu beteiligen. Die dafür gegebene Begründung Petersens, mit Kindern dürfe keine Politik betrieben werden, wurde als „ein reaktionäres, politisch sehr gefährliches Überbleibsel aus der Weimarer Republik“ gebrandmarkt.169 In den 1960er Jahren wurde der Jena-Plan wiederentdeckt, insbesondere in den Niederlanden mit heute rund 230 Jena-Plan-Schulen, aber auch in anderen europäischen Ländern. In Deutschland gibt es mittlerweile nach Angaben der Gesellschaft für JenaplanPädagogik in Deutschland e.V. wieder rund 50 Jena-Plan-Schulen (mitunter auch „Peter-Petersen-Schule“ genannt), vor allem im Grundschulbereich und seit der Wiedervereinigung mit einem Schwerpunkt der jüngeren Neugründungen in den neuen Bundesländern.170 einer freien allgemeinen Volksschule, 63. Aufl., Weinheim/Basel 2007. Siehe außerdem: ders., Das gestaltende Schaffen im Schulversuch der Jenaer Universitätsschule 1925–1930, Weimar 1930; ders., Praxis der Schulen nach dem Jena-Plan, Weimar 1934 (dreibändiger „Großer Jena-Plan“). Zur heutigen Rezeption: Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 208. 166 Zu den beiden Zitaten: Petersen, Neuauflage Kleiner Jena-Plan, S. 21 f. 167 Vgl.: Hein Retter, Kommunikation über Reformpädagogik, in: ders. (Hrsg.), Re formpädagogik. Neue Zugänge – Befunde – Kontroversen, Bad Heilbrunn 2004, S. 212. 168 Siehe dazu unten nächstes Viertes Kapitel III. 2. 169 Zum Vorgang, einschließlich Zitat der Schließungsbegründung: Dagmar Sommerfeld, Peter Petersen und „Der kleine Jena-Plan“ im Spannungsfeld der Schul- und Unterrichtsforschung in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ/DDR/Thüringen) zwischen 1945 und 1950, Frankfurt a.M./Bern 1995, S. 298-306; Skiera, Reformpädagogik, S. 293. 170 Siehe zu dieser Rezeption die Darstellung auf der Homepage der Gesellschaft für Jenaplan-Pädagogik in Deutschland e.V.: www.jenaplan-paedagogik.de/html/ geschichte.html.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
c) Montessori-Schule Schließlich ist in der Reihe der neuen pädagogischen Ansätze die italienische Reformpädagogin Maria Montessori (1870–1952) zu nennen, deren Materialien zur Vorschul- und Grundschulerziehung, vor allem zum Lesenlernen, seit der Weimarer Zeit großen Anklang in Deutschland gefunden haben. Erste Vorträge Montessoris in Deutschland erfolgten 1922 auf Einladung des „Bundes Entschiedener Schulreformer“; dort fand die Montessori-Pädagogik immer stärkeren Anklang. Die erste deutsche Montessori-Schule wurde 1923 ebenfalls in Jena gegründet. Sie musste jedoch schon 1929 auf Drängen der damals bereits natio nalsozialistisch geführten Landesregierung Thüringens geschlossen werden. Unter dem Wahlspruch „Hilf mir, es selbst zu tun“ postulierte Maria Montessori die Freiarbeit als Kernelement ihres methodischen pädagogischen Ansatzes. Die Kinder können in dieser Unterrichtseinheit aus einem Angebot von besonderen, von Montessori entwickelten Arbeitsmaterialien, die die geistige Entwicklung über manuelles Tun und Sinneserfahrungen fördern, auswählen und sodann damit allein oder in Gruppen arbeiten und ihre Lernerfolge selbstständig kontrollieren.171 Bereits 1925 gründete sich aus überwiegend sozialistischen Kreisen des „Bundes Entschiedener Schulreformer“ die Deutsche Montessori-Gesellschaft, von der sich nach heftigen internen Differenzen mit Unterstützung Maria Montessoris 1930 der „Verein Montessori-Pädagogik Deutschlands“ abspaltete. Beide wurden später unter den Nationalsozialisten verboten. In Deutschland gibt es heute eine Vielzahl von Organisationen, Vereinen und Elterninitiativen, die sich der Montessori-Pädagogik und ihrer Förderung widmen.172 Rund 300 Grundschulen, aber auch rund 100 weiterführende Schulen firmieren zwischenzeitlich als Montessori-Schulen oder haben die Montessori-Pädagogik zur Grundlage ihrer Arbeit gewählt.
171 Zur Geschichte der Montessori-Pädagogik in Deutschland und allgemein zur Montessori Pädagogik statt vieler: Winfried Böhm, Maria Montessori. Einführung und zentrale Texte, Paderborn 2010; Inge Hansen-Schaberg/Bruno Schonig (Hrsg.), Basiswissen Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 4: Montessori-Pädagogik, Baltmannsweiler 2002; Manfred Günnigmann, Montessori-Pädagogik in Deutschland. Bericht über die Entwicklung nach 1945, Freiburg u.a. 1979. 172 Sie sind national zusammengeschlossen im Montessori Dachverband Deutschland e.V., als Dachorganisation einer Reihe von Montessori-Landesverbänden und zwischenzeitlich drei bundesweit tätigen Montessori-Organisationen, neben der Deutschen Montessori-Gesellschaft e.V. außerdem die 1961 ins Leben gerufene Deutsche Montessori Vereinigung e.V. und die 1987 gegründete Heilpädagogische Vereinigung e.V. Diese nationalen Organisationen sind zudem Teil einen internationalen MontessoriNetzwerkes.
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4. Inkurs: Die Konzeption einer selbstverwalteten Schule des Berliner Pädagogen Ferdinand Jakob Schmidt Einen weitgehend heute vergessenen Reformansatz in der Bildungsdebatte zu Beginn der Weimarer Republik verfolgte der Berliner Pädagogikprofessor Ferdinand Jakob Schmidt (1860–1939), dargelegt in seiner 1919 erschienen Schrift „Volksvertretung und Schulpolitik“.173 Das Schulwesen war seiner Auffassung nach nicht nur aus dem kirchlichen, sondern nunmehr auch aus dem „staatlichen Organismus“ herauszulösen, wozu er auch die Kommunen zählte. Die Schule solle zwar der staatlichen Gesetzgebung und allgemeinen Verwaltung unterstellt bleiben. Schmidt forderte aber, dass sie „in bezug auf die geistige Ordnung, Handhabung und Entwicklung der Bildungstätigkeit selbst aus dem Zustand der bloß bürokratischen Obrigkeitsverwaltung in denjenigen der sozialen Selbstverwaltung ihrer Familien-, Schulbeamten- und Lehrerschaft hinübergeleitet werde.“ Das ganze Volk solle in selbsttätige Schulgemeinden (als eigene Körperschaften neben der kommunalen und staatlichen Verfasstheit) gegliedert werden mit daraus hervorgehenden Schulvorständen und weiterhin mit Kreis-, Provinzial- und Landesschulkonzilien.174 Das nationale Schulwesen solle zu einem „sozialen Bildungsorganismus“ werden, in dem das „Prinzip der Selbstverwaltung“ gelte.175 Obwohl diese Gedanken einer selbstverwalteten Schule in ähnlicher Weise andere Reformpädagogen vertraten, hatte Schmidt offenbar zu diesen keinen Zugang, da er die „Einheitsschulbewegung“ heftig kritisierte176 und nachdrücklich für eine Beibehaltung des gegliederten Schulwesens eintrat. Allerdings forderte er, das Volksschulwesen so grundlegend zu stärken, dass die Volksschule, die Mittelstandsschulen und die gelehrten Schulen gleichwertig nebeneinander stehen und sich wechselweise ergänzen könnten.177
173 Ferdinand Jakob Schmidt, Volksvertretung und Schulpolitik, Berlin 1919. – Ferdinand Jakob Schmidt war von 1913 bis 1927 Professor für Pädagogik und Philosophie an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin; vorher war er von 1906 bis 1913 Direktor des Margarethen-Lyzeums in Berlin gewesen. Zur Person: Georg Lasson, Ferdinand Jakob Schmidt, in: Kant-Studien. Philosophische Zeitung der Kant-Gesellschaft 36 (1931), S. 163 f.; Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1, Berlin 2002, S. 484 f. 174 Siehe, einschließlich Zitate: Schmidt, ebenda, S. 13. 175 So: Schmidt, ebenda, S. 16 f., 51 ff. Siehe auch S. 50: „Es ist nicht genug, daß sich ein Volk nur als Staatsvolk und als Kirchenvolk organisiert, sondern es muß sich auch als Bildungsnation selbsttätig verkörpern, um so erst seine geistige Grundbestimmtheit zum Gegenstande der gemeinsamen Selbstentwicklung zu machen.“ 176 Siehe: Ebenda, insb. Vorwort, S. 2 ff. und S. 27 ff. 177 Siehe: Ebenda, S. 40.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
V. Vereinbarungen der Länder über die Durchführung von Schulversuchen und deren Umsetzung 1. Zusammenarbeit der Länder im Schulwesen Mit Beginn der Weimarer Republik verstärkte sich die Zusammenarbeit der Länder auf dem Gebiet des Schulwesens und es kam zu einer Reihe von Ländervereinbarungen. Diese enthielten erstmals auch – worauf noch einzugehen ist – Bestimmungen zur Durchführung von Schulversuchen. Eine länderübergreifende Zusammenarbeit im Schulbereich hatte 1868 unter militärpolitischem Vorzeichen begonnen. Im Norddeutschen Bund war eine Bundesschulkommission geschaffen worden, die 1873 nach der Reichsgründung in eine Reichsschulkommission umgewandelt wurde. Deren einzige Aufgabe bestand darin, auf der Grundlage des § 90 der Wehrordnung vom 28.09.1875 (und später der Neufassung als „Deutsche Wehrordnung“ vom 22.11.1888178) reichseinheitlich für die Vergabe des Einjährigen-Privilegs den Kreis der hierzu berechtigten höheren Schulen und die dafür einzuhaltenden Bedingungen festzulegen sowie deren Einhaltung zu kontrollieren.179 Die dem Reichsinnenministerium angegliederte Kommission tagte meist jährlich zweimal unter dem Vorsitz eines Reichsvertreters und sechs Ländervertretern180. Aus seiner militärpolitischen Zuständigkeit 178 Textausgabe:
Deutsche Wehrordnung, Berlin 1888; Online verfügbar: http:// opus.kobv.de/slbp/volltexte/2010/3070/pdf/Deutsche_Wehrordnung_1888.pdf. 179 § 90 Ziff. 1 Wehrordnung lautete: „Diejenigen Lehranstalten, welche gültige Zeugnisse über die wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst ausstellen dürfen, werden durch den Reichskanzler anerkannt und klassifiziert.“ Und in § 90 Ziff. 3 Wehrordnung war geregelt: „Die nach Ziffer 1 anerkannten Lehranstalten sind durch das Zentralblatt für das Deutsche Reich zur Kenntnis zu bringen.“ Als Ergebnis einer zwischenstaatlichen Konferenz des Norddeutschen Bundes war unter dem 02.09.1868 im Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes (S. 497 ff.) die Bekanntmachung eines ersten „Verzeichnis derjenigen höheren Lehranstalten, die zur Ausstellung gültiger Zeugnisse über die wissenschaftliche Qualifikation zum einjährig freiwilligen Militärdienst berechtigt sind“, erfolgt. Eine entsprechende Klassifizierung der dazu berechtigten norddeutschen Schulen war in § 154 der „MilitairErsatz-Instruction für den Norddeutschen Bund“ v. 26.03.1868 vorgenommen worden [Abdruck der das Unterrichtswesen betreffenden Bestimmungen in: ZblUV 10 (1868), S. 18]. Diese Instruktion wurde nach der Reichsgründung auf alle Länder ausgedehnt. Seitdem erfolgten die regelmäßigen Ergänzungen des Verzeichnisses, wie in § 90 Ziff. 3 Wehrordnung vorgeschrieben, im Reichsgesetzblatt, beginnend mit dem 5. Verzeichnis v. 28.03.1871 (RGBl. S. 59 f.) und einem sehr umfangreichen 7. Verzeichnis v. 03.03.1872 (RGBl. S. 62 ff.) insbesondere außerpreußischer Lehranstalten. 180 Vier ständige Ländervertreter von den vier größten Ländern Preußen, Bayern, Württemberg und Sachsen, zwei zweijährig wechselnde von den übrigen Staaten der Reihe nach ernannt. Vgl.: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 16, Leipzig 1908, S. 742. – Siehe auch: G. Weiss, Zur Geschichte der Reichsschulkommission, in:
3. Kap.: Hochkonjunktur in der Weimarer Zeit
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erlangte das Reich damit kraft Sachzusammenhangs auch eine, nach der Reichsverfassung von 1871 fehlende schulpolitische Kompetenz.181 Nach einer zwischenstaatlichen Konferenz 1872 und weiteren Beratungen kam es 1874 zu einem ersten Länderabkommen über die „Gegenseitige Anerkennung der Maturitätszeugnisse der Gymnasien in den Staaten des Deutschen Reiches“.182 Im Einleitungssatz wurde darin nunmehr allerdings primär ein bildungspolitischer Grund für die Vereinheitlichung genannt, die gleiche Geltung der Abiturzeugnisse „für die Zulassung zu den Universitäten“, sodann ergänzend „und in allen öffentlichen Verhältnissen“. Der preußische Kultusminister Falk betonte bei der amtlichen Bekanntmachung dieses Abkommens, dass zur Wahrung der Selbstständigkeit jedes einzelnen Staates man sich auf das Notwendige und durch das gemeinsame Interesse aller Gebotene beschränkt habe, andererseits kein Zweifel gelassen worden sei, dass hinsichtlich der allgemeinen Prinzipien der Verwaltung des höheren Schulwesens Übereinstimmung zwischen den Staatsregierungen bestehe.183 In dieses Abkommen wurden im Jahre 1889 die Realgymnasien (Realschulen 1. Ordnung) einbezogen; außerdem wurden über die bisherige Angleichung der Prüfungsanforderungen und Zeugnisformalien hinaus die Anerkennung der erlangten Berechtigungen auf Gegenseitigkeit vereinbart.184 Schließlich fasste man in der Kaiserzeit beide Übereinkommen 1909 zusammen und bezog die Oberrealschule in die Neufassung mit ein.185 Deutsche Blätter für den erziehenden Unterricht 48 (1920/21), S. 197-200, 204-208, 213-216. 181 So: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 923. 182 Abdruck: ZblUV 16 (1874), S. 478. – Geregelt wurden insbesondere die neunjährige Dauer des Gymnasiums, die Gegenstände der Abiturprüfung und der schriftlichen Klausurarbeiten, die Prüfungs- und Zeugnisformalien sowie unter § 6, die nunmehrige Vorherrschaft Preußens auch im deutschen Schulwesen verdeutlichend, der Grundsatz: „Als Maßstab für die Ertheilung des Zeugnisses der Reife gelten im allgemeinen diejenigen Anforderungen, welche das preußische Prüfungsreglement dafür aufstellt.“ 183 Siehe: ZblUV 16 (1874), S. 477. 184 „Übereinkommen der deutschen Staatsregierungen, betreffend die gegenseitige Anerkennung der von den Gymnasien bzw. Realgymnasien (Realschulen 1. Ordnung) ausgestellten Reifezeugnisse“, in Preußen bekannt gemacht durch Erlass des preußischen Kultusministers v. 13.02.1889, in: ZblUV 31 (1889), S. 223, hier insb. § 1: „Das Reifezeugnis, welches ein Angehöriger des deutschen Reiches an einem Gymnasium oder einem Realgymnasium (Realschule 1. Ordnung) irgend eines deutschen Staates als Schüler der Anstalt erworben hat, gewährt in jedem einzelnen Bundesstaate diejenigen Berechtigungen, welche mit dem Reifezeugnis eines dem letzteren Staate angehörenden Gymnasiums bzw. Realgymnasiums (Realschule 1. Ordnung) verbunden sind.“ 185 „Vereinbarung der Bundesregierungen über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse“, in Preußen bekannt gemacht durch Erlass des preußischen Kultus ministers v. 22.10.1909, in: ZblUV 51 (1809), S. 768.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
In der Weimarer Republik kam es erstmals zu regelmäßigen Zusammenkünften der Kultusminister der Länder des Deutschen Reiches, beginnend am 20.–22.10.1919, wobei hieran auch der Reichsminister des Innern teilnahm. Zum anderen wurde von diesen – als eine Art Fortsetzung der Reichsschulkommission des Kaiserreiches – zunächst auf der Arbeitsebene unter Beteiligung aller Kultusverwaltungen bis 1923 der bereits erwähnte Reichsschulausschuss und ab 1924 ein im Interesse der Arbeitsfähigkeit kleinerer, nur aus sieben Ländervertretern (ständige Mitglieder: Preußen, Bayern und Sachsen) und einem Vertreter des Reichministeriums des Innern bestehender „Ausschuß für das Unterrichtswesen“ eingesetzt. Anfang 1934 stellte der Ausschuss seine Arbeit ein. Durch diese Länder-Zusammenarbeit unter Beteiligung des Reichsministeriums des Innern wurden 28 Ländervereinbarungen zum Schulwesen vorbereitet; außerdem erörterte insbesondere das Reichsinnenministerium in diesen Gremien auch die Schulgesetzentwürfe des Reiches mit den Ländern.186 2. Gegenseitige Anerkennung der Schulabschlüsse an Versuchsschulen Nach intensiven Beratungen zwischen den Ländern wurde 1922 eine neue „Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse an den höheren Schulen“ getroffen.187 Diese knüpfte einerseits an die zu Beginn der Weimarer Zeit noch gültige Vereinbarung von 1909 an. Eine Änderung und Neufassung war aber aus Sicht der Kultusverwaltungen notwendig geworden, um den einzelnen Unterrichtsverwaltungen mehr Spielräume zu ermöglichen, nicht zuletzt für die Durchführung von Schulversuchen. Dabei ging es primär, worauf noch eingegangen wird, um die versuchsweise Zulassung der „Aufbauschule“, die in einer zeitgleichen parallelen Ländervereinbarung erfolgte, und später der „Deutschen Oberschule“. Bei diesen neuen Schulformen musste die Anerkennung der dort erworbenen Abschlüsse sichergestellt werden. Die Vereinbarung enthielt nunmehr erstmalig zudem eine Klausel (unter Ziff. 7), die sich im Kern auch in der heutigen entsprechenden Grundsatzvereinbarung der Länder, dem „Hamburger Abkommen“ von 1964, wiederfindet: „Wünscht ein Land von einer Bestimmung dieser Vereinbarung zur Vornahme eines Versuchs abzuweichen, so hat es die Unterrichtsverwaltungen der übrigen Länder durch Vermittlung des Reichsministeriums des Innern hiervon in Kenntnis zu setzen. Wird die Zustimmung zu dem Versuch erteilt, so gilt sie als Anerkennung der auf Grund des
186 Siehe
dazu ausführlich: Führ, Weimarer Republik, S. 40 ff., 64 ff., 107 ff. v. 19.12.1922 (RMBl. 1923, S. 13). Wiederabdruck bei: Führ, Weimarer Republik, S. 289. 187 Bekanntmachung
3. Kap.: Hochkonjunktur in der Weimarer Zeit
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Versuchs auszustellenden Zeugnisse. Die Zustimmung kann auf eine bestimmte Zeitdauer beschränkt werden.“ 188 Diese Klausel entsprach dem versuchsfreudigen Klima in der Weimarer Republik. Sie blieb bei den nachfolgenden vier Änderungen und Ergänzungen der Ländervereinbarung unangetastet189 und wurde auch 1931 nunmehr als § 27 unverändert in eine grundlegende redaktionelle Neufassung, die die bisherigen Novellen mit gewissen Überarbeitungen zusammenfasste,190 übernommen. Die Anzeige eines Schulversuchs gegenüber den anderen Ländern ermöglichte eine Beratung in der Reichsschulkommission bzw. im „Ausschuss für das Unterrichtswesen“ und eine dortige Prüfung, ob die Abweichungen von den unter den Ländern abgestimmten Anforderungen für die Reifeprüfung der höheren Schulen nicht derart erheblich waren, dass Zweifel an der Abschlussqualifikation der Schüler aufkommen konnten. Stimmten die Länder einem Schulversuch zu, erkannten sie damit auch die hier erworbenen Abschlüsse an. Eine besondere Regelung für private Schulen mit Versuchscharakter wurde 1928 durch die zweite Ergänzung zur ursprünglichen Ländervereinbarung eingeführt und als § 25 Abs. 2 in die neu gefasste Ländervereinbarung von 1931 aufgenommen. Das Recht zur Abhaltung von Reifeprüfungen konnte danach durch besondere Vereinbarung der Länder im Einzelfall auch solchen Privatschulen verliehen werden, die nicht einer der Schulformen des öffentlichen Schulwesens im Wesentlichen entsprachen, denen aber von der Unterrichtsverwaltung „wegen der Erfüllung besonderer pädagogischer Aufgaben ein besonderer Wert zuerkannt“ wurde. Den Anstoß zu dieser Regelung gab die thüringische Kultusadministration, die dem privaten, von dem Reformpädagogen Gustav Wynecken gegründeten Landerziehungsheim „Freie Schulgemeinde Wickersdorf“ das Recht der Abhaltung von Reifeprüfungen gewähren wollte,191 ein Recht, für das der Begründer der Landerziehungsheimbewegung Hermann Lietz schon in der 188 Ob es eine besondere Bewandtnis damit hatte oder ein schlichtes Redaktionsversehen vorlag, dass genau diese zitierte Schulversuchs-Passage bei der Veröffentlichung der Ländervereinbarung im Amtsblatt des preußischen Kultusministeriums [ZblUV 65 (1923), S. 136 (138)] – im Gegensatz zur Veröffentlichung im Reichsministerialblatt – nicht wiedergegeben wurde, ist wohl nicht mehr feststellbar. Preußen hatte der gesamten Ländervereinbarung jedenfalls ohne Einschränkung zugestimmt. 189 Ergänzungsvereinbarung v. 31.03.1925 (RMBl. S. 263); Ergänzungsvereinbarung v. 24.01.1928 (RMBl. S. 55); Änderungsvereinbarung v. 16.01.1929 (RMBl. S. 27); Änderungsvereinbarung v. 06.08.1930 (RMBl. S. 501); Wiederabdruck: Führ, Weimarer Republik, S. 292-295. 190 „Vereinbarung der Länder über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse der höheren Schulen“ v. 25.03.1931 (RMBl. S. 291); Wiederabdruck: Führ, Weimarer Republik, S. 296. 191 Hinweis bei: Führ, Weimarer Republik, S. 327.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
Kaiserzeit immer gekämpft hatte.192 Die allgemeine Versuchsklausel in der Ländervereinbarung schien man wohl als keine ausreichende Grundlage für ein Reifeprüfungsrecht angesehen zu haben, weil sie sich nach ihrem Wortlaut auf Versuche bezog, bei denen die Absicht zur Abweichung von einem Land ausging. Darunter subsumierte man offensichtlich nur von staatlicher Seite durchgeführte oder initiierte Versuche, nicht aber solche von privaten Schulträgern, auch wenn sie das jeweils zuständige Land befürwortete. Zwar trafen die Länder auch zwei Vereinbarungen über die gegenseitige Anerkennung der Zeugnisse der mittleren Reife, doch wurden darin weder eine allgemeine Versuchsklausel noch eine solche für private Versuchsschulen mit besonderen pädagogischen Aufgaben aufgenommen.193 Vergleichbares gab es auch nicht für Versuche im Volksschulbereich, wobei es bezüglich der Abschlüsse an den Volksschulen bereits gänzlich an Ländervereinbarungen fehlte. 3. Freiere Gestaltung des Unterrichts in der Oberstufe der höheren Schulen In der Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse von 1922 wie auch in deren Neufassung von 1931 waren Bestimmungen für so genannte „Schulen mit freierer Gestaltung des Oberbaus“ (§§ 1c, 3d bzw. §§ 8, 18) aufgenommen. In diesen höheren Schulen war danach in den oberen Klassen eine Erhöhung der Zielanforderungen in einzelnen Fächern bei gleichzeitiger Herabsetzung in anderen Fächern je nach Anlage der Schüler zulässig. Es durfte allerdings keines der Hauptfächer fortfallen oder seine Bedeutung ganz verlieren. Es handelte sich damit um einen Vorläufer des nach 1970 eingeführten Systems von Grund- und Leistungskursen der reformierten gymnasialen Oberstufe. Die Ländervereinbarungen der Weimarer Zeit knüpften an entsprechende Schulversuche in den Ländern an, die bereits über ein Jahrzehnt vorher begonnen worden waren, und auch unter den Begriffen „Bewegungsfreiheit“, „Gruppenbildung“ oder „Gabelung“ firmierten. In Preußen war 1905 ein erster bescheidener Versuch am Gymnasium in Strasburg (Westpreußen) eingeleitet worden. Die Schüler wurden in zwei Gruppen eingeteilt, einer mathematisch-naturwissenschaftlichen und einer sprachlich-historischen. Die Schüler der ersten Gruppe wurden von zwei Stunden Latein, die der zweiten Gruppe von zwei Stunden 192 Siehe
oben Zweites Kapitel II. 1.
193 „Vereinbarung der Länder über die mittlere Reife“ v. 31.03.1931 (RMBl. S. 295)
sowie „Vereinbarung der Länder über die Zuerkennung der mittleren Reife an die zweiklassigen Handelsschulen“ v. 09.09.1931 (RMBl. S. 723); Wiederabdruck: Führ, Weimarer Republik, S. 285 bzw. S. 286.
3. Kap.: Hochkonjunktur in der Weimarer Zeit
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Mathematik befreit. Im Übrigen blieb es beim Normallehrplan.194 In den nächsten Jahren folgten in Preußen einzelne weitere Versuche mit einer deutlich höheren Wahlfreiheit und Vertiefungsmöglichkeit. Der Zweck dieser Versuche war, wie in einem Erlass des Ministeriums vom 24.01.1922 festgehalten,195 „durch Ermäßigung der Anforderungen in einzelnen Fächern und eine vertiefte Behandlung anderer Fächer eine bessere Anpassung der Schule an die Verschiedenartigkeit der Begabung der Schüler zu ermöglichen, durch die damit verbundene Teilung der Klassen in kleinere Arbeitsgruppen die Schüler zu größerer Selbständigkeit zu erziehen und zugleich einen allmählichen Übergang zur vollen Unterrichtsfreiheit der Hochschulen zu schaffen.“ In besagtem Erlass stellte das Ministerium fest, dass dieser Gedanke in pädagogischen Kreisen immer mehr Anerkennung gefunden und auch die Provinzialschulkollegien sich im Großen und Ganzen „günstig“ über die Versuche ausgesprochen hätten. Deshalb kündigte das Ministerium an, solche Versuche nunmehr auf Antrag in größerem Umfang zuzulassen196 und fügte seinem Erlass hierfür „Allgemeine Richtlinien für die freiere Gestaltung des Unterrichts in den höheren Schulen“ an. Dabei kündigte es an, den einzelnen Schulen bei den Versuchen zunächst nicht zu enge Grenzen zu ziehen, sondern ihnen Freiheit zu lassen, die Unterrichtsverteilung ihren besonderen Verhältnissen anzupassen. Allerdings behielt das Kultusministerium sich vor, sobald genügend Erfahrungen vorlägen, „festere Richtlinien“ zu ziehen, falls ihm dies zur Erhaltung der Einheitlichkeit des Schulwesens notwendig erscheinen würde. Es sei auch selbstverständlich, dass bei der Finanzlage des Staates und der Städte durch die neuen Versuche keine Mehrkosten entstehen dürften. Schließlich verwies das Ministerium auf die gesicherte Anerkennung der an solchen Versuchsschulen erworbenen Reifeprüfungen durch die entsprechenden Bestimmungen in der getroffenen Ländervereinbarung. Im Zuge einer 1924 eingeleiteten Neuordnung des höheren Schulwesens in Preußen nahm das Ministerium die Ausweitung der Schulversuche aber dort faktisch schon wieder zurück. Unter „Bewegungsfreiheit“ in den höheren Schulen verstand man jetzt amtlicherseits nicht mehr die schulorganisatorische Gestaltungsfreiheit in der Oberstufe, sondern die in den neu erlassenen Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen von 1925 gewährte gewisse Freiheit der
194 Siehe dazu: Felix Behrendt, Zur freieren Gestaltung des Unterrichts in den oberen Klassen der höheren Schulen, in: ZblUV 64 (1922), S. 29; Karsen, Versuchsschulen der Gegenwart, S. 13 ff. 195 ZblUV 64 (1922), S. 38. 196 Im Schrifttum findet sich bei Schmitt [Topographie (Fn. 46), S. 29 Fn. 47] der Hinweis, dass in der Stadt Berlin dieser Erlass bei der Genehmigung von entsprechenden Schulversuchen zur Anwendung gekommen ist.
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Stoffauswahl im Rahmen der Lehrplanvorgaben.197 Eine weitere Uniformierung bewirkte der Lehrbuchzwang. Eine neue Ordnung für die Einführung von Schulbüchern an den höheren Schulen zielte hier seit 1923 – nicht zuletzt aus Gründen der damals schwierigen Wirtschaftslage – auf eine stärkere Vereinheitlichung der Lehrbücher; jeder „unnötige Wechsel“ im Gebrauch eines Lehrbuchs und eine „unnötige Mannigfaltigkeit“ waren fortan zu vermeiden, letzteres durch Verständigung aller höheren Schulen einer Stadt oder eines Bezirks auf dieselben Schulbuchausgaben.198 Unabhängig von dieser verschärften ministeriellen Vorgabe sah der Reformpädagoge Hilker im Lehrbuchzwang schon deshalb ein Hindernis für die freie pädagogische Arbeit reformorientierter Lehrkräfte, weil Entscheidungen in Sachen Lehrbücher in das Belieben der Konferenzmehrheit einer Schule gestellt seien, „pädagogische Bequemlichkeit aber allzu sehr dazu neigt, alles beim alten zu lassen“.199 In der zeitgenössischen Literatur wird hervorgehoben, dass vor allem in Sachsen die Gabelung, also die freiere Gestaltung des Oberstufenaufbaus, ermöglicht wurde. So seien bereits 1918 von 19 humanistischen Gymnasien 9 und von 19 Realgymnasien 5 versuchsweise nach dieser Organisationsform umgestaltet gewesen. Durch einen ministeriellen Erlass vom Februar 1919 sei dann das Prinzip der Gabelung für alle diese höheren Schulen in Sachsen verbindlich gemacht worden.200 4. Vereinbarungen über zwei Schulversuche: Aufbauschule und Deutsche Oberschule Die Länder trafen, wie bereits erwähnt, Ende 1922 eine Vereinbarung, als verkürzte Form der zur Hochschulreife führenden höheren Schulen für entspre-
197 Siehe: „Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens“ v. 04.04.1925 (Fn. 147), S. 1. – Zur Rücknahme auch: Hilker, Vorwort, S. VI, und mit noch deutlicherer Kritik: Versuchsschulen (Fn. 30), S. 451. 198 Siehe: Ziff. A.8 der „Ordnung für die Einführung von Lehrbüchern an den höheren Lehranstalten für die männliche und weibliche Jugend“, Erlass des preußischen Kultusministers v. 15.09.1923, abgedruckt in: ZblUV 65 (1923), S. 321. Im Übrigen war unter Ziff. A.1 bestimmt, dass nur solche Schulbücher in Gebrauch genommen werden durften, deren Einführung ausdrücklich durch das Kultusministerium genehmigt worden war. – Die Notwendigkeit einer stärkeren Vereinheitlichung seinerzeit befürwortend: Tschersig, Zur Vereinheitlichung der Lehrbücher, in: ZblUV 66 (1924), S. 111 f. 199 Hilker, Versuchsschulen (Fn. 30), S. 451. 200 Siehe: Behrendt, Zur freieren Gestaltung des Unterrichts (Fn. 194), S. 29.
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chend begabte Volksschüler versuchsweise eine Aufbauschule zuzulassen.201 Diese nahm ihre Schüler nach der siebten Volksschulklasse auf und führte sie in sechs Jahren zum Abitur. Die neue Schulform war seit 1919 im Schul- und Hochschulbereich breit diskutiert worden. Sie sollte in erster Linie zur Erschließung von Begabungsreserven befähigten Schülern vom Land und aus Kleinstädten einen Weg zur Hochschule eröffnen.202 Die Aufbauschule hatte in Preußen einen Vorläufer, zwei 1917 in Berlin zugelassene „Begabtenschulen“.203 Mitten im Ersten Weltkrieg war vor dem Hintergrund der schweren Verluste von „Intelligenzen“ aus dem Bürgertum das Schlagwort vom „Aufstieg der Begabten“ entstanden. Von liberaler Seite im preußischen Abgeordnetenhaus war dies aufgegriffen und die Staatsregierung aufgefordert worden, Schulen, die Volksschüler nach ihrem Abschluss weiter zum Abitur führen, einzurichten. In beiden Berliner Begabtenschulen wurde der Lehrstoff der höheren Schulen allerdings weder gekürzt noch qualitativ verändert, insbesondere wurden die Anforderungen von drei Fremdsprachen beibehalten. Die ohnehin vielfach als überladen beklagten Stoffmassen der höheren Schulen mussten die begabten Volksschüler in sechs statt in neun Jahren bewäl-
201 „Vereinbarung der Länder über die Aufbauschule“ v. 19.12.1922 (RMBl. S. 13); Abdruck bei: Führ, Weimarer Republik, S. 287. 202 Siehe dazu die Denkschrift des Kultusministeriums von 1931 (Fn. 105), S. 161: „Die Preußische Regierung hat seit 1923 nahezu 100 vom Staat unterhaltene Aufbauschulen errichtet und unterhält sie mit einem Kostenaufwand von 4 ½ Mill. RM. Da diese Schulen vorwiegend in ländlicher Umgebung gelegt werden, dienen sie zugleich der Versorgung des platten Landes und kleinerer Städte mit höheren Schulen, die von hier aus bisher schwer erreichbar gewesen waren.“ Das preußische Kultusministerium betonte in einem Erlass v. 19.05.1925 [ZblUV 67 (1925), S. 184], dass die Aufbauschule auf den Lehrgang des siebten Volksschuljahres aufbauen würde und vorrangig für „wirklich begabte Volksschüler“ eingerichtet worden sei. Diese könnten aber nur dann erfolgreich die Reife der höheren Schule erlangen, wenn der Unterricht der Aufbauschule sich an eine möglichst gleichmäßig vorgebildete Schülerschaft wenden könne. Deshalb dürften Schüler von grundständigen höheren Schulen und von mittleren Schulen nur in besonders gearteten Einzelfällen und nur mit Genehmigung des Provinzialschulkollegiums in die Eingangsklasse U III der Aufbauschule aufgenommen werden. 203 Dazu: Godehard Henze/Clemens Zumhasch, Die „Berliner Begabtenschulen“ – ein früher schulischer Versuch, „hochbegabte“ Schüler zu identifizieren und zu fördern, in: Sabine Kirk/Johannes Köhler/Hubert Lohrenz/Uwe Sandfuchs (Hrsg.), Schule und Geschichte. Funktionen der Schule in Vergangenheit und Gegenwart. Festschrift für Rudolf W. Keck, Bad Heilbrunn 2000, S. 177-206. – Zeitgenössische Darstellungen: Walther Moede, Die Berliner Begabtenschulen. Ihre Organisation und die experimentellen Methoden der Schülerauswahl, 3. Aufl., Langensalza 1919; ders., Zwei Jahre Berliner Begabtenschulen. Erfahrungen ihrer Schulleiter, Leipzig 1920; Nydahl, Berliner Schulwesen, S. 116 ff.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
tigen, eine Überforderung, die bei der Aufbauschule durch stoffliche Reduktion korrigiert wurde.204 In dem Übereinkommen über die Aufbauschule wurde auch die Anwendbarkeit der parallel überarbeiteten Ländergrundsätze über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse auch für diese neue Schulform geregelt. Drei Jahre später vereinbarten die Länder zudem, die sogenannte Deutsche Oberschule ebenfalls versuchsweise als eine neue zur Hochschulreife führende höhere Schule zuzulassen.205 Diese Oberschule war wie die übrigen höheren Schulen grundsätzlich auf eine neunjährige Dauer angelegt, wurde aber gleichfalls in der Form der Aufbauschule zugelassen. Über die Deutsche Oberschule hatte man gleichermaßen lange Zeit öffentlich diskutiert. Schon auf der Reichsschulkonferenz 1920 waren folgende Leitsätze (im 2. Ausschuss) konkret verabschiedet worden: „Neben den bestehenden höheren Schularten wird eine Deutsche Oberschule als gleichberechtigte neunjährige Vollanstalt mit gleichen Anforderungen und Rechten begründet. Sie wird wesentlich auf die deutschkundlichen Fächer gestellt; als Gegenbeispiel zur deutschen Sprache dient eine gründlich betriebene lebende Fremdsprache. Gelegenheit zu wahlfreiem Lateinunterricht muß in drei oder vier oberen Klassen gegeben werden. Der Plan der Deutschen Oberschule ist zunächst in einer Reihe von Versuchsanstalten mit wissenschaftlich und unterrichtlich tüchtigen Lehrern zu erproben und im Lehrplan der Versuchsanstalten möglichst individuelle Bewegungsfreiheit zu gewähren.“206 Nachdem mehrere Länder bereits mit der Errichtung Deutscher Oberschulen begonnen hatten und unter diesem Druck die lange umstrittene Frage, ob ein oder zwei Fremdsprachen verbindlich sein sollten, dahingehend gelöst wurde, dass eine zweite Fremdsprache zumindest in den vier letzten Schulbesuchsjahren verpflichtend sein musste, stimmten alle Länder bis auf Bayern zu.207 Letzteres hatte sich als einziges Land auch schon bei der Aufbauschule verweigert. Die Einbeziehung der Deutschen Oberschule in die Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse gelang zunächst nicht, konnte dann aber 1929 nachgeholt werden. Gleichzeitig erfolgte dabei eine Festlegung, zwar – wie bei der naturwissenschaftlich ausgerichteten Oberrealschule – beide Fremdspra-
204 Siehe
dazu: Karsen, Versuchsschulen der Gegenwart, S. 9 ff. der Länder über die Deutsche Oberschule“ v. 28.03.1925 (RMBl. S. 213); Wiederabdruck: Führ, Weimarer Republik, S. 288. 206 Siehe: RMI, Reichsschulkonferenz 1920, S. 710 ff. 207 Die badische Regierung stimmte mit einer Maßgabe zu, deren Wortlaut abgedruckt ist in: ZblUV 67 (1925), S. 229. 205 „Vereinbarung
3. Kap.: Hochkonjunktur in der Weimarer Zeit
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chen zum Gegenstand der Reifeprüfung zu machen, aber nur eine Fremdsprache in der schriftlichen Abiturprüfung zu verlangen.208 Motor für die Einführung dieser Reformschulen war auf administrativer Ebene das preußische Kultusministerium gewesen. In einer Denkschrift aus dem Jahr 1924 zur Neuordnung des höheren Schulwesens, vorgelegt unter dem Minister Boelitz, wurden diesbezüglich vier Regelformen definiert: das (altsprachliche humanistische) Gymnasium, das (neusprachliche) Realgymnasium, die (mathematisch-naturwissenschaftliche) Oberrealschule und die (kulturkundliche) Deutsche Oberschule, wobei letztere schwerpunktmäßig Deutsch, Geschichte, philosophische Propädeutik und Staatsbürgerkunde pflegen sollte.209 Im selben Jahr setzte das Kultusministerium Richtlinien für einen Lehrplan der Deutschen Oberschule und der Aufbauschule in Kraft.210 Bereits ein Jahr vorher hatte auch das Reichsinnenministerium im Benehmen mit den Ländern in einer Denkschrift die programmatische Grundausrichtung der Deutschen Oberschule und der anderen drei höheren Schulformen sowie der bereits auf den Weg gebrachten Aufbauschule festgehalten. Für die Aufbauschule als eine Art höhere Hilfseinrichtung fand danach entweder der Lehrplan der Oberrealschule oder der Deutschen Oberschule Anwendung.211 208 Bekanntmachung der Vereinbarung der Länder v. 16.01.1929 über die Abänderung der Vereinbarung über die Deutsche Oberschule vom 28.03.1925 (RMBl. 1929, S. 28); Wiederabdruck: Führ, Weimarer Republik, S. 288. 209 Denkschrift des preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung „Die Neuordnung des preuß. höheren Schulwesens“, Berlin 1924. Wiederabdruck bei: Keim, Kursunterricht, S. 56-65; Berthold Michael/Heinz-Hermann Schepp (Hrsg.), Politik und Schule von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Eine Quellensammlung zum Verhältnis von Gesellschaft, Schule und Staat im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1974, S. 94-98. – Siehe hierzu: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 964 f.; Zymek, Schulen (Fn. 19), S. 175, der kritisch anmerkt: „Das realitätsferne Pathos dieser amtlichen Programmatik bleibt ohne praktische Wirkung für die Schulentwicklung. Es hat begrenzten politisch-taktischen Wert bei der Behandlung des höheren Schulwesens im Parlament, wo die Regierung ihr Vorgehen auf solcherart wissenschaftlich begründete Überlegungen stützt und damit einer politischen Erörterung zu entziehen versucht. Darüber hinaus aber hat das Konzept der curricular begründeten Schultypendifferenzierung nur noch schwache legitimatorische Kraft. Im Gegenteil: der Widerspruch zwischen den amtlichen Texten, die eine aus bildungstheoretischen Reflexionen resultierende Schulgliederung suggerieren, und der tatsächlichen Schulentwicklung, die der Dynamik des regionalen und sozialen Umfelds der Schulen angepaßt sein und auf die demographische Entwicklung reagieren muß, verstärkt Zweifel an der Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der verantwortlichen schulpolitischen Instanzen.“ 210 Erlass v. 13.03.1924, abgedruckt in: ZblUV 66 (1924), S. 103. 211 Siehe: Reichsministerium des Innern, Denkschrift: „Die Umgestaltung des höheren Schulwesens, insbesondere die Einführung der Deutschen Oberschule und der Aufbauschule“, Berlin 1923.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
Nicht mehr zu den Regelschulformen sollte nach der Denkschrift des preußischen Kultusministeriums das dortige Reformgymnasium gehören.212 Jener in der Kaiserzeit als Ergebnis der Reichsschulkonferenz 1890 eingeleitete Versuch wurde im Zuge des jetzigen Neuordnungsprozesses grundsätzlich beendet. Bei den bestehenden Reformgymnasien musste nach einem die Denkschrift begleitenden Erlass des Kultusministers eine Entscheidung darüber herbeigeführt werden, ob sie in eine andere Schulform mit Reformunterbau, womit Realgymnasium, Oberrealschule und Deutsche Oberschule gemeint waren, oder in ein Gymnasium alter Art übergeleitet werden sollten. Das Kultusministerium erklärte sich gleichwohl bereit, auf Antrag das Weiterbestehen eines Reformgymnasiums dort zu genehmigen, „wo ein Reformgymnasium sich bewährt hat und besondere Verhältnisse vorliegen“.213 Von dieser Ausnahmemöglichkeit machten die betroffenen Schulträger regen Gebrauch. Die amtliche Statistik weist für das Schuljahr 1931/1932 immer noch 28 Reformgymnasien aus. Neben diesen und den in der Denkschrift festgelegten vier Regelformen gab es in Preußen aufgrund der vielen, bereits in der Kaiserzeit eingeleiteten Reformaktivitäten im Bereich des höheren Schulwesens noch sechs weitere Formen neunklassiger höherer Jungenschulen: nämlich Reformrealgymnasien, Progymnasien, Reformprogymnasien, Realprogymnasien, Reformrealprogymnasien und Realschulen.214 Sowohl die Aufbauschule wie auch die Deutsche Oberschule wurden schließlich 1931 im Zuge der grundlegenden Neufassung der Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse215 dem Versuchsstadium enthoben und im Rahmen der Ländervereinbarung in den Kreis der Regelschulen aufgenommen. Die bisherigen Vereinbarungen zur Aufbauschule und zur Deutschen Oberschule wurden ausdrücklich aufgehoben, deren materieller Inhalt mit Änderungen in die Neuregelung integriert. Für die Deutsche Oberschule wurden jetzt 212 Das
Reformgymnasium begann mit einer neueren Fremdsprache und verschob den Beginn der alten Sprache auf die Untertertia bzw. Untersekunda. 213 Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung „Neuordnung des höheren Schulwesens“ v. 13.03.1924, abgedruckt in: ZblUV 66 (1924), S. 122 (123). – Mit Erlass v. 31.03.1925 [abgedruckt in: ZblUV 67 (1925), S. 113] genehmigte das Ministerium unter Bezugnahme auf den voranstehenden Erlass nochmals für die Reformgymnasien Abweichungen von den regelmäßigen Stundentafeln der höheren Schulen. 214 Siehe: Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Das Schulwesen im Deutschen Reich. Schuljahr 1931/32 (Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 438), Berlin, S. 30; Abdruck auszugsweise: Führ, Weimarer Republik, S. 352. – Diese Grundtypen der höheren Schulen waren in sich weiter verzweigt. Nach Angaben des damaligen Berliner Schulrats Nydahl gab es 1928 in Berlin 22 verschiedene höhere Schulformen für Jungen und 18 verschiedene für Mädchen, bei insgesamt 152 höheren Schulen. Er beklagte diese „Zerrissenheit der Schulformen“. Siehe: Nydahl, Berliner Schulwesen, S. 109 ff. 215 Vereinbarung der Länder über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse der höheren Schulen v. 25.03.1931 (RMBl. I S. 291).
3. Kap.: Hochkonjunktur in der Weimarer Zeit
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zwei der drei Fremdsprachen Französisch, Englisch und Latein verbindlich. Auch Bayern stimmte nunmehr der Vereinbarung zu. Im öffentlichen Schulwesen der deutschen Länder gab es laut amtlicher Statistik im Schuljahr 1931/1932 für Jungen 135 Aufbauschulen, davon 95 in Preußen, 13 in Thüringen, 12 in Sachsen und in den meisten übrigen Ländern ein bis drei, mit Ausnahme von Bayern, Württemberg, Mecklenburg-Strelitz, Schaumburg-Lippe und Lübeck, die diese Schulform gar nicht einführten. Deutsche Oberschulen gab es 38, allerdings nur in wenigen Ländern: die meisten mit 21 in Sachsen, sodann 12 in Preußen, 3 in Hamburg und jeweils eine in Bremen und Lübeck. Zudem wurden diese beiden neuen Schulformen auch für Mädchen eingeführt; im Bereich der öffentlichen und privaten Mädchenanstalten in Preußen waren dies 22 Aufbauschulen und 17 Deutsche Oberschulen.216 Durch die Ländervereinbarungen waren keinerlei Verpflichtungen begründet worden, die beiden Schulformen auch tatsächlich in den einzelnen Ländern einzuführen, weder in der ursprünglichen Versuchsversion noch später als Regelschule. Die Zahl neu errichteter Deutscher Oberschulen war, betrachtet man die pädagogische Auseinandersetzung der damaligen Zeit hierüber, letztlich gering. Dies kann durchaus, wie vertreten wird,217 als ein Indiz dafür gesehen werden, dass ihre inhaltliche Ausrichtung nicht angenommen wurde. Bemerkenswert ist allerdings, dass und wie der Reformpädagoge Peter Petersen 1932 die Aufbauschule und die Deutsche Oberschule ausdrücklich befürwortete, als „für die künftige Reform des gesamten höheren Schulwesens verheißungsvollste Aktivposten, um der Überfremdung unseres Volkstums durch wesensfremde Kulturen und einen lähmenden Historismus zu begegnen.“218 Andere Reformpädagogen der damaligen Zeit, die eine völlige Umbildung des tradierten Schulaufbaus im Sinne der Einheitsschule und eine grundsätzliche innere Erneuerung anstrebten, sahen zwar in beiden neuen Schulformen durchaus einen gewissen Fortschritt. Doch waren sie aus deren Sicht wegen des Festhaltens an der höheren Schule als eine besondere Schulform, der Beibehaltung einer angeblich einseitigen intellektuellen Wertschätzung und des grundsätzlich starren Fächerzwangs, wie es Franz Hilker im Vorwort seines Werkes über reformpädagogische Schulversuche ausdrückte, letztlich nur „Geist vom alten Geiste“, ungeeignet zur „Lösung des modernen Bildungsproblems“.219
216 Siehe:
Statistik des Deutschen Reiches (Fn. 214); außerdem: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 966; etwas leicht andere Zahlen für das Jahr 1931 bei: Führ, Weimarer Republik, S. 323 ff. 217 Zilch/Holtz, Kulturstaat (Fn. 19), S. 107. 218 Zitat: Peter Petersen, Pädagogik, Berlin 1932, S. 40. 219 Hilker, Vorwort (Fn. 30), S. V. Ähnlich: Karsen, Versuchsschulen der Gegenwart, S. 15 f.
Viertes Kapitel
Bildungspolitische Zäsur im Nationalsozialismus: Schließung und Gleichschaltung der Versuchsschulen und Ablehnung von Schulversuchen I. Nationalsozialistisches Schulwesen in seinen Grundzügen 1. Einzug völkisch-autoritären Denkens in die Schule Im totalitären Unrechts- und Unterdrückungsstaat des „Dritten Reiches“ hielt eine „völkisch-autoritäre Erziehungsphilosophie“1 Einzug in die Schulen. Der auf Reichsebene zunächst zuständige Reichsinnenminister Wilhelm Frick stellte bereits kurz nach der Machtergreifung bei der Vorstellung der künftigen nationalsozialistischen Schulpolitik auf der Konferenz der Kultusminister am 09.05.1933 klar: „Die Zeit, in der die Ausbildung der selbstherrlichen Einzelpersönlichkeit als die wesentliche Aufgabe der Schule angesehen wurde, ist vorbei.“2 Wenn er dann ausführte, die „neue Schule“ gehe „grundsätzlich vom Gemeinschaftsgedanken“ aus, so war dies mitnichten eine Anleihe bei der Reformpädagogik, vielmehr sah er darin ein „uraltes Erbteil unserer germanischen Vorfahren.“ Die zu schaffende „deutsche Gemeinschaftsschule“, so proklamierte Alfred Bäumler, neben Ernst Krieck der führende Kopf der neuen NS-Erziehungswissenschaft,3 sei eine „völkische Weltanschauungsschule unter dem Schutz des Staates“. Die 1 Übernahme der Begrifflichkeit von: Karl Dietrich Bracher, Stufen der Macht ergreifung, Teil I von: Karl-Dietrich Bracher/Wolfgang Schulz/Gerhard Sauer, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Frankfurt a.M. u.a. 1974 (Erstveröffentlichung 1960), S. 420. 2 Seinerzeit Abdruck in: Friedrich Hiller (Hrsg.), Deutsche Erziehung im neuen Staat, Langensalza u.a. 1934, S. 25. Wiederabdruck bei: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 2, S. 196-200, hier Zitat S. 198; Bracher, ebenda. 3 Zu beiden Personen und deren Positionen: Wolfgang Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Bd. I: Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung, Darmstadt 1995, S. 165 ff.; Heinz Elmar Tenorth, Pädagogisches Denken, in: Dieter Langewiesche/Heinz Elmar Tenorth (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V: 1918–1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 142 ff.
4. Kap.: Bildungspolitische Zäsur im Nationalsozialismus
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deutsche Schule sei Kirchenschule im Mittelalter und Staatsschule im 19. Jahrhundert gewesen, im 20. Jahrhundert werde sie jetzt „wirkliche Volksschule“. 4 Das völkische Denken einschließlich der totalen Inanspruchnahme des Einzelnen für die Gemeinschaft und der damit verknüpfte Rassismus und Antisemitismus blieben die alles bestimmenden ideologischen Grundzüge der nationalsozialistischen Erziehungspolitik. Die Nationalsozialisten verfügten ansonsten, worüber in der heutigen Bildungsforschung Einvernehmen besteht, „weder über ein konsistentes, für sie selbst verbindliches ideologisches Konzept noch über ein diesem Konzept entsprechendes Erziehungsprogramm.“5 Doch sei es ihrer Propaganda gelungen, seinerzeit „den Eindruck zu suggerieren, als handele es sich um eine geschlossene Partei, die zielstrebig auf die Verwirklichung eines weltanschaulich fundierten Programms hinarbeite.“6 Dafür sorgten zum einen die sichtbaren äußeren Veränderungen in den Schulen: Hitlergruß und Hakenkreuzfahne, Lager- und Gemeinschaftserziehung, Uniformierung, Führerkult, Inszenierung von Feiern und Gedenktagen „der Bewegung“, Präsenz von HitlerJugend (HJ) und Bund deutscher Mädel (BDM) im Schulalltag,7 „Säuberung“ der Schulen von politisch unerwünschten und „nichtarischen“ Lehrkräften sowie 4 Zitate: Alfred Bäumler, Die deutsche Gemeinschaftsschule und ihre geschichtlichen Voraussetzungen, in: ders., Politik und Erziehung. Reden und Aufsätze, Berlin 1937, S. 93, 103. – Siehe dazu auch die zeitgenössische Eloge von: Gerhard Giese, Wandel der erziehungsgeschichtlichen Betrachtung, in: Zeitschrift für die Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 28 (1938), S. 230 f. 5 Zitat: Karl-Christoph Lingelbach, Erziehung unter NS-Herrschaft. Methodische Probleme ihrer Erfassung und Reflexion, in: Wolfgang Keim (Hrsg.), Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein unerledigtes Problem der Erziehungswissenschaft, Frankfurt a.M. u.a. 1988, S. 47. – Ebenso: Rolf Eilers, Die nationalsozialistische Schulpolitik, Köln/Opladen 1963, S. 2; Bernd Zymek, Schulen, Hochschulen und Lehrer, in: Langewiesche/Tenorth, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V (Fn. 3), S. 190; Tenorth, Pädagogisches Denken (Fn. 3), S. 142 ff.; ders., Bildung und Wissenschaft im „Dritten Reich“, in: Karl-Dietrich Bracher/Manfred Funke/HansAdolf Jacobsen, Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur national-sozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 240 ff. (mit ausführlicher Darstellung des „Konglomerats von Ideen und Überzeugungen“). 6 Zitat: Zymek, ebenda. 7 Siehe dazu die Richtlinien des Reichsministers des Innern „Leitgedanken zur Schulordnung“ v. 18.12.1934, abgedruckt in: ZblUV 76 (1934), S. 43. In diesen Richtlinien wurden vor allem die Rechte der Hitlerjugend in den Schulen geregelt, etwa dasjenige, deren Uniform und Abzeichen in der Schule und bei Schulveranstaltungen zu tragen. Weiterhin war dort festgelegt, dass zu Beginn und Ende des Unterrichts der „deutsche“ Gruß (Hitlergruß) zu entrichten war. – Auch die Leitansage in der Vorbemerkung war eindeutig: „Die oberste Aufgabe der Schule ist die Erziehung der Jugend im Dienst an Volkstum und Staat im nationalsozialistischen Geist. Alles, was diese Erziehung fördert, ist zu pflegen; alles, was sie gefährdet, zu meiden und zu bekämpfen.“
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
ab 1935 Entfernung der Geistlichen aus den Schulen, Umwandlung der Bekenntnisschulen in Gemeinschaftsschulen und Schließung vor allem kirchlicher Privatschulen. Aber auch die neuen Inhalte und Akzentverschiebungen waren selbst für Nichtpädagogen augenfällig: Betonung der körperlichen Erziehung, Einführung von Rassekunde und Vererbungslehre, Hervorhebung heldenhaften Germanentums und des „Preußengeistes“, Emphase für alles Militärische, Ausbildung der Mädchen zur Hausfrau und Mutter, Ausrichtung der musischen Fächer auf die Volkskunst und des Deutschunterrichts an „volkhafter Dichtung“, verklärende Heimatkunde sowie allmähliche Verdrängung des Religionsunterrichts aus den Schulen. Schließlich blieb in der öffentlichen Wahrnehmung haften, dass die neuen Machthaber auch im Schulbereich unbescheiden immerfort einen radikalen Neubeginn verkündeten, insbesondere durch eine herablassende verbale Abgrenzung zur Weimarer „Systemzeit“, zur verächtlich gemachten „neutralen Schule des Liberalismus“.8 Das pädagogisch-konzeptionelle Defizit führte wohl dazu, dass zunächst keine schulstrukturellen Veränderungen und auch erst ab 1938 neue Lehrpläne für die einzelnen Schulformen eingeführt wurden,9 wobei vorher allerdings durch eine Vielzahl von Einzelverfügungen immer wieder nationalsozialistisches Gedankengut und ideologisch motivierte Vorgaben auf die Schulen herunterkamen.10 2. Vereinfachung des mittleren und höheren Schulwesens ab 1938 Mit dem Schuljahr 1938/1939 erfolgte mit dem Ziel der Vereinfachung eine noch auf preußische Pläne aus der Weimarer Zeit zurückgreifende Neuordnung des höheren Schulwesens. Dieses wurde auf grundständige „Oberschulen für 8 Allgemein
zur nationalsozialistischen Erziehung und Erziehungspolitik: Keim, Erziehung, S. 9 ff.; Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 326 ff.; Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 257 ff. 9 Der damalige Reichserziehungsminister Bernhard Rust stellte einem Erlass „Vereinheitlichung des Schulwesens“ v. 20.04.1936 (ABl. RMWEV S. 210) allerdings folgende Erklärung voran: „Die ersten Jahre des nationalsozialistischen Umbruchs stellten den Unterrichtsverwaltungen die Hauptaufgabe, Erziehung und Erzieher innerlich mit nationalsozialistischem Geist zu durchdringen. Wenngleich diese Aufgabe auch weiter fortgeführt werden muß, so ist doch die Entwicklung so weit gediehen, daß nunmehr auch die äußere Umgestaltung des höheren Schulwesens im Sinne einer Vereinheitlichung angegangen werden kann.“ 10 Vgl. mit Auflistung der Lehrpläne und diverser Anordnungen: Eilers, Schulpolitik, S. 14 f., 60. – Instruktiv etwa die Zurückziehung der Gebrauchsgenehmigung für zwei Geschichtsbücher an den höheren Schulen durch Erlass des preußischen Kultusministeriums v. 11.07.1934, abgedruckt in: ZblUV 76 (1934), S. 230, „da sie für die nationalsozialistische Schule in keiner Weise geeignet sind.“
4. Kap.: Bildungspolitische Zäsur im Nationalsozialismus
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Jungen“ und „Oberschulen für Mädchen“ reduziert (mit Englisch beginnend und Latein von der 3. Klasse an, in der Oberstufe bei den Jungenschulen mit der Gabelung in einen mathematisch-naturwissenschaftlichen und einen sprachlichen Zweig, bei den Mädchenschulen in einen sprachlichen und hauswirtschaftlichen Zweig). Zudem blieb als „Sonderform“ nur für Jungen das altsprachliche Gymnasium erhalten. Während das Volksschulwesen bis auf eine neue Stundentafel für deren Oberstufe unverändert blieb, wurde im Mittelschulwesen ebenfalls ab 1939 eine Reduzierung auf die sechsklassige „Mittelschule“ nach dem Modell Preußens und auf eine, an die sechste Klasse der Volksschule anschließende vierklassige „Aufbaumittelschule“ vorgenommen. Die Mittelschulen erhielten einen eigenen, von demjenigen der Gymnasien deutlich abgesetzten Lehrplan und ihre Attraktivität wurde noch deutlich erhöht, indem das Abschlusszeugnis nunmehr zum unmittelbaren Eintritt in den gehobenen öffentlichen Dienst berechtigte.11 Mitten in diesem Umstellungsprozess wurde unter Berufung auf einen Führerbefehl angeordnet, dass die nur vierjährige österreichische Hauptschule, eine Schule für begabtere Volksschüler, künftig die Normalform der mittleren Schule sein sollte, ab 1941 in den von Deutschland besetzten Gebieten und ab 1942 im ganzen Reich. Angesichts weit verbreiteter Bedenken, eine mittlere Bildung sei in vier Jahren nicht zu erreichen, ließ der Einführungserlass vom 13.06.1942 für das „Altreich“ den Besuch von zwei aufsteigenden Klassen nach dem Hauptschulabschluss zu. Die dennoch verbliebene Verunsicherung veranlasste Hitler schließlich im Juni 1943 auf Betreiben der Wehrmacht, die weitere Einführung der Hauptschule bis zum Ende des Krieges auszusetzen.12 In einem Runderlass ordnete der Erziehungsminister an, die Neueinrichtung zurückzustellen, allerdings bereits eingerichtete Hauptschulen weiter auszubauen.13 Die schulstrukturellen Veränderungen wurden alle auf dem Verordnungsund Erlasswege umgesetzt. Schulgesetzlich ist nur noch das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 zu nennen, wonach die Volksschulpflicht, wie nach Art. 145 Abs. 2 WRV vorgesehen, mindestens acht Jahre betrug.14 Notabene: Die Schulartikel der Weimarer Verfassung blieben trotz aller polemischen Nazi-Kri11 Zu
den schulstrukturellen Veränderungen siehe: Eilers, ebenda, S. 57 ff.; Zymek, Schulen (Fn. 5), S. 195 ff. – Die Berechtigung für den gehobenen nichttechnischen Dienst war in § 26 Abs. 1 der „Verordnung über die Vorbildung und die Laufbahnen der deutschen Beamten“ v. 28.02.1939 (RGBl. I S. 371) geregelt worden. 12 Dazu: Eilers, Schulpolitik, S. 58; Maaßen/Schöler, Mittel- und Realschulpäda gogik, Bd. 2, S. 102 ff.; Maskus, Mittel- und Realschule, S. 181 f.; Zymek, ebenda, S. 202 f. 13 Runderlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung v. 05.06.1943 (ABl. RMWEV S. 164). 14 „Gesetz über die Schulpflicht im Deutschen Reich“ vom 06.07.1938, (Reichsschulpflichtgesetz) v. 06.07.1938 (RGBl. I S. 799), geändert durch Gesetz v. 16.05.1941 (RGBl. I S. 282).
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tik an der vorhergehenden „Systemzeit“ und der nationalsozialistischen Umgestaltung des gesamten Schulwesens formell weiter in Kraft. Reichsinnenminister Frick berief sich bei der Zentralisierung des Bildungswesens außerdem in einem Erlass vom 18.10.1933 darauf, „daß die Grundsatzgesetzgebung auf allen Gebieten des Schulwesens einschließlich des Hochschulwesens dem Reiche“ zustehe, rechtfertigte diese Maßnahmen also kompetenzmäßig mit Art. 10 Ziff. 2 WRV. Weiterhin führte er aus, dass kein Zweifel darüber bestehen sollte, dass die Reichsregierung sich „die Vereinheitlichung des deutschen Schulwesens in allen grundsätzlichen Fragen“ vorbehalte. 15 3. Zentralisierung und Gleichschaltung der Schuladministration Hatten vor 1933 schon Nationalsozialisten in den Ländern Braunschweig und Oldenburg die Kultusministerien okkupiert, wurden nach der Machtergreifung im Zuge der Neubildung der Länderregierungen nunmehr alle Kultusministerien mit eigenen Gefolgsleuten besetzt.16 Durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30.01.1934 (Art. 2 Abs. 1) gingen sodann die Hoheitsrechte der Länder und damit deren schulpolitischen Kompetenzen auf das Reich über,17 wobei durch eine zeitgleich erlassene erste Durchführungsverordnung eine eingeschränkte Rückdelegation mit der Maßgabe erfolgte, dass die Landeskultusministerien die schulpolitischen Aufgaben jetzt im Auftrag und im Namen des Reichs ausübten.18 Da nach Art. 2 Abs. 2 dieses Gleichschaltungsgesetzes die Landesregierungen allerdings der Reichsregierung unterstellt waren und nach § 4 der Ausführungsverordnung die obersten Landesbehörden den Anordnungen der zuständigen Reichsminister Folge zu leisten hatten, waren die Kultusministerien ab diesem Zeitpunkt nur noch reine Vollzugsorgane. Die Zentralisierung des Schulwesens erlangte schließlich im Mai 1934 eine neue Dimension durch die Errichtung eines „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“,19 geleitet in Personalunion von dem preußischen Kultusminister Bernhard Rust (1883–1945), wodurch im Übrigen die Dominanz der 15 Zitiert nach: Reinhold Zilch, Die Jahre von 1914 bis 1934, in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat Bd. 1.1, S. 66. 16 Siehe Auflistung bei: Eilers, Schulpolitik, S. 66. 17 RGBl. I S. 75. 18 „Erste Verordnung über den Neuaufbau des Reiches“ v. 02.02.1934 (RGBl. I S. 81). – § 1 dieser VO lautete: „Die Wahrnehmung der Hoheitsrechte, die von den Ländern auf das Reich übergegangen sind, wird den Landesbehörden zur Ausübung im Auftrage und im Namen des Reichs insoweit übertragen, als das Reich nicht allgemein oder im Einzelfalle von diesen Rechten Gebrauch macht.“ 19 Erlass des Reichspräsidenten v. 01.05.1934 (RGBl. I S. 365).
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preußischen Schulstrukturen für ganz Deutschland noch weiter anwuchs.20 Zum Jahresbeginn 1935 wurden das preußische und das Reichsministerium gänzlich vereinigt.21 Im nationalistischen Herrschaftssystem verlor die Schuladministration die bisherige alleinige Verantwortung und Kontrolle über das Schulwesen. Das Führerprinzip ermöglichte zum einen unterschiedlichste, unkalkulierbare Einflussnahmen des Führers selbst („Führerbefehle“), mochten sie auch noch so im Widerspruch zur bisherigen Ministeriumslinie gelegen haben wie etwa die Ersetzung der Mittelschule durch die Hauptschule nach österreichischem Muster. Daneben mischten sich mehr oder weniger andere Reichsstellen, insbesondere nach Kriegsbeginn die Wehrmacht, in die Schule ein sowie vor allem ohne Hemmungen die Partei und diverse NSDAP-Organisationen (Nationalsozialistischer Lehrerbund, Hitler-Jugend, Bund deutscher Mädel, aber auch SS, SA und Deutsche Arbeitsfront).22 Nicht zuletzt Parteistellen und -funktionäre waren maßgeblich vor Ort an der Schließung von reformpädagogisch arbeitenden Versuchsschulen beteiligt.
II. Reformpädagogik: Wegbereiter des Nationalsozialismus? In der Zeit des Nationalsozialismus fanden, worauf noch im Einzelnen einzugehen sein wird, viele Versuchsschulen ihr jähes Ende und mit ihnen die Weimarer Reformpädagogik, die allerdings auch bei einer stattlichen Zahl ihrer Vorkämpfer – wie breite Bevölkerungskreise der damaligen Zeit23 – keinen wirk lichen Zugang zur Demokratie gefunden hatte. Dazu zählten nicht nur diejenigen, die aus sozialistisch-kommunistischer Sicht eine grundlegend andere Gesellschaftsordnung anstrebten oder wie Berthold Otto nostalgisch und verklärend der Monarchie und der Kaiserzeit nachtrauerten.24 Die Akzeptanz für eine parlamentarische Demokratie, für die das Mehrheitsprinzip, die Bildung von Parteien, 20 Vgl.:
Eilers, Schulpolitik, S. 54 f.; Zymek, Schulen (Fn. 5), S. 192. Eilers, Schulpolitik, S. 55; Reinhold Zilch, Die Jahre von 1914 bis 1934, in: BBAW, Acta Borussica. Preussen als Kulturstaat Bd. 1.1, S. 70. 22 Zum Verhältnis Schule und Partei: Eilers, Schulpolitik, S. 104 ff.; Zymek, Schulen (Fn. 5), S. 192. 23 Vgl. dazu statt vieler: Kurt Sontheimer, Die politische Kultur der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918–1933, Bonn 1987, S. 454 ff. 24 Aufschlussreich bereits der Buchtitel: Berthold Otto, Wilhelm II. und wir!, Berlin 1925. – Siehe zu dessen Kaiser-Verehrung vor und nach dem Ersten Weltkrieg: Philipp Gonon, Kaisertreue statt Internationalismus: Reformpädagogische Befindlichkeiten um die Jahrhundertwende, in: Winfried Böhm/Jürgen Oelkers (Hrsg.), Reformpädagogik 21 Vgl.:
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Minderheitsrechte und individuelle Freiheitsrechte konstitutiv sind, war auch bei denjenigen nicht oder nur eingeschränkt ausgebildet, die dem hohen Ideal der Erziehung zur Gemeinschaft anhingen. Allerdings erscheint die radikale, neuerdings vertretene These überzogen, wonach die deutschen Reformpädagogen in Gänze vor und nach dem Ersten Weltkrieg der Demokratie ablehnend oder fremd gegenüberstanden, die Reformpädagogik sich wegen ihrer Ausrichtung auf die Volksgemeinschaft und der damit verbundenen Vereinheitlichungs-Tendenz konzeptionell nicht auf die Herausforderung durch die erste Demokratie habe einlassen können.25 Die Behauptung, die Reformpädagogik „mußte sie abwehren oder als formales, äußerliches, auf jeden Fall zu überwindendes plurales Spannungsfeld betrachten oder sie überhaupt nicht besonders zur Kenntnis nehmen“,26 verkennt die enorme Spannbreite der reformpädagogischen Bewegung der zwanziger Jahre und auch ihren positiven Beitrag zur Bildung demokratischen Bewusstseins durch die Einführung weitreichender, im bisherigen autoritär-obrigkeitsstaatlichen Schulwesen undenkbarer innerschulischer Mitwirkungsmöglichkeiten von Eltern, Schülern und Lehrerkollegien in den „Schulgemeinden“ der Versuchsschulen.27 Antidemokratisches Denken war darüber hinaus ein Phänomen, dass in anderen Teilen der Lehrerschaft genauso, wenn nicht sogar in vielen normalen gymnasialen Milieus noch stärker anzutreffen war.28 Dies zeigen etwa Untersuchunkontrovers, Würzburg 1995, S. 188 f.; Fritz Osterwalder, Demokratie in den Konzepten der deutschen Reformpädagogik, in: Böhm/Oelkers, ebenda, S. 155. 25 Entschiedener literarische Verfechter dieser These: Osterwalder, ebenda, S. 139174, insb. S. 149 ff. 26 Zitat: Osterwalder, ebenda, S. 158. 27 Ähnliche Bewertung: Hein Retter, Demokratisches Bewusstsein in der deutschen Reformpädagogik. Eine Kontroverse, in: Dirk Lange/Gerhard Himmelmann (Hrsg.), Demokratiebewusstsein. Interdisziplinäre Annäherungen an ein zentrales Thema der politischen Bildung, Wiesbaden 2007, S. 205; ders., Kommunikation, S. 215 ff. – Ebenfalls differenziertere, wenn auch – wie Retter, ebenda, zutreffend analysiert – insofern nicht überzeugende Analyse, als marxistisch-kommunistische Reformpädagogen zur „Demokratischen Reformpädagogik“ gezählt und ihnen eine positive Einstellung zur Demokratie und Weimarer Republik attestiert werden: Tobias Rülcker, Demokratische Reformpädagogik. Eine Einführung, in: Heike Neuhäuser/Tobias Rülcker (Hrsg.), Demokratische Reformpädagogik, Frankfurt a.M. 2000, S. 11 f.; ders., „Wir dürfen den Blick vor den Tatsachen nicht ablenken.“ Zur Auseinandersetzung der deutschen Pädagogik mit dem Nationalsozialismus nach 1945, in: Neuhäuser/Rülcker, ebenda, S. 290. 28 Ebenso: Retter, Kommunikation, S. 215 unter Hinweis auf die Monografie: Chaim Seeligmann, Zur politischen Rolle der Philologen in der Weimarer Republik, Köln 1990. Interessanter Belege hierfür auch in regionalen Studien: Henrik Bispinck, Bildungsbürger in Demokratie und Diktatur. Lehrer an höheren Schulen in Mecklenburg 1918 bis 1961, München 2011, S. 67 ff.; Ekkehard Meier, Geschlossene Gesellschaft – Zur Mentalität deutsch-nationaler Gymnasiallehrer, in: Gerd Radde u.a.
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gen zur völkisch-nationalen Gedankenwelt der Germanisten und Deutschlehrer.29 Sicherlich hat antidemokratisches und völkisches Gedankengut innerhalb der reformpädagogischen Bewegung sowie deren teils berechtigte, teils aber auch überzogene und mitunter polemische Kritik an den allgemeinen Weimarer Verhältnissen in Schule und Gesellschaft dem Nationalsozialismus gewollt oder ungewollt zugespielt.30 Anderseits darf nicht außer Betracht gezogen werden, dass die Reformpädagogen und ihre Versuchsschulen im Gesamtgefüge des damaligen deutschen Schulwesens trotz aller heutigen bildungswissenschaftlichen Beachtung seinerzeit eine Randerscheinung waren. Überzeugend weist der Bildungswissenschaftler Hein Retter auch auf Unterschiede im Begriffsgebrauch von „Gemeinschaft“ vor und nach 1933 hin. Von „Volksgemeinschaft“ im Sinne volksorganischen Denkens sei in der Weimarer Republik nicht nur in der Reformpädagogik, sondern auch bei den staatstragenden Parteien DDP, Zentrum und SPD häufig die Rede gewesen. Diese hätten den Begriff allerdings inklusiv, integrierend verstanden, Deutschnationale und Nationalsozialisten hingegen immer schon exklusiv, ausschließend, nämlich antisemitisch, rassistisch und fremdenfeindlich.31
(Hrsg.), Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, Bd. I: 1912 bis 1945, Opladen 1993, S. 102-115. Siehe allgemein zur „Verführbarkeit“ der Pädagogen: Dieter Langewische/HeinzElmar Tenorth, Bildung, Formierung, Destruktion. Grundzüge der Bildungsgeschichte von 1918-1945, in: dies., Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V: 1918– 1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 15, 22; Dietfried Krause-Vilmar, Der aufziehende Faschismus und die Lehrerschaft in Deutschland, in: Demokratische Erziehung 3 (1977), S. 78-89; Fend, Geschichte des Bildungswesens, S. 187 f., 190 f. 29 Siehe: Reinhard Dithmar, Der Deutschunterricht in der Weimarer Republik als Wegbereiter des Faschismus, in: Reinhard Dithmar/Jörg Willer (Hrsg.), Schule zwischen Kaiserreich und Faschismus. Zur Entwicklung des Schulwesens in der Weimarer Republik, Darmstadt 1981, S. 3-32. 30 Statt vieler prägnant: Tenorth, Pädagogisches Denken (Fn. 3), S. 138: „Als Vorläufer nicht gleichzusetzen mit nationalsozialistischem Erziehungsgedanken, waren sie (die pädagogischen Protagonisten des kulturkritischen, volkstümlichen und irrationalen Denkens vor 1933) an der semantischen Zerstörung dieser Republik aber mit beteiligt, und es machte ihre zentrale Schwäche aus, daß sie ihre Rolle in diesem Destruktionsprozeß nicht analysierten, sondern (gelegentlich bis heute) nur im Verweis auf ihre guten Absichten verteidigten.“ An anderer Stelle verweist Tenorth auf kritische Analysen, die eine „unbestreitbare Anfälligkeit reformpädagogischen Denkens für Gemeinschaftsideologie, Führerkult und Irrationalismus“ zeigen würden. Siehe: HeinzElmar Tenorth, in: Günther Böhme/Heinz-Elmar Tenorth, Einführung in die kritische Pädagogik, Darmstadt 1990, S. 111. 31 Siehe Hein Retter, Kommunikation, S. 221; ders., Was heißt „demokratisches Denken“ in der Weimarer Republik? Kritische Anmerkungen zum Konstrukt des Anti-
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Fern jeder Absicht der Reformpädagogik, aber letztlich doch Ergebnis der diversen Schulversuche war es, dass sie trotz ihrer auf „Gemeinschaftsschule“ und „Einheitsschule“ zielenden Programmatik einen, wenn auch nicht maß gebenden Teil zur Zersplitterung des Weimarer Schulwesens beitrug. Der Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) kritisierte 1931 mit deutlichen Worten die Experimentierfreude im Schulbereich. Sie war für ihn Ausdruck einer geistigen Zerrissenheit und Entwurzelung von Staat und Gesellschaft in der Weimarer Zeit: „Wenn aber die Substanz des Ganzen fragwürdig geworden sich in der Auflösung befindet, so wird die Erziehung unsicher und zersplittert. Sie bringt die Kinder nicht mehr an die Größe eines alles umfassenden Ganzen heran, sondern vermittelt vielerlei. … Es werden Versuche gemacht und kurzatmig Inhalte, Ziele, Methoden gewechselt.“32 Eine Hauptverantwortung wies er dabei der staatlichen Bildungspolitik zu: „Vielfachheit der Lehrpläne und der Versuche wird geduldet bis zur unübersehbaren Zersplitterung, begrenzt allein dadurch, daß nur bestehen kann, was schließlich Stütze bei einer politischen Machtgruppe findet. … Alles ist sprunghaft und immer wieder anders.“33 Den Hauptanteil an der Unübersichtlichkeit des Schulwesens in der Weimarer Zeit hatte allerdings weiterhin die – trotz aller neuen Ansätze – immer noch unzureichende schulpolitische Koordinierung der Länder und die damit verbundene Beibehaltung der historisch gewachsenen vielgestaltigen Strukturen im Schulbereich, bei den konkreten Bildungsgängen, den Lehrplänen und der Lehrerbildung, eine Zersplitterung, die sogar gegen Ende der Weimarer Zeit – trotz des Vereinheitlichungsauftrages der Weimarer Verfassung – noch anwuchs. Letzteres war im Rückblick sicherlich „eine Entwicklung, die es den Nationalsozialisten erleichterte, die von ihnen eingeleitete ideologische Gleichschaltung und schulorganisatorische Vereinfachung zu begründen“.34
demokratismus und seiner Rezeption in der Erziehungswissenschaft, Vortrag 2004 (https://www.tu-braunschweig.de/hispaed/personal/hretter#vortraege), S. 12. 32 Zitat: Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin/Leipzig 1931, S. 93. – Zur Erläuterung seines Befundes führt er auf S. 94 weiter aus: „Symptom der Unruhe unserer Zeit um die Erziehung ist die Intensität pädagogischen Bemühens ohne Einheit einer Idee, die unabsehbare jährliche Literatur, die Steigerung didaktischer Kunst, die persönliche Hingabe einzelner Lehrer in einem Maße, wie sie kaum jemals war. Doch ist vorläufig das Charakteristische unserer Situation die Auflösung substantieller Erziehung zugunsten eines endlosen pädagogischen Probierens, eine Zersetzung in gleichgültige Möglichkeiten, einer unwahren Direktheit des Unsagbaren.“ 33 Zitat: Jaspers, ebenda, S. 96 f. 34 Zitat: Führ, Weimarer Republik, S. 120.
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III. Nationalsozialistische Absage an die Reformpädagogik und Schließung von Versuchsschulen 1. Anpassung und Signale der Kooperationsbereitschaft führender Reformpädagogen nach der Machtergreifung Die Reformpädagogik galt den nationalsozialistischen Machthabern als ein auszulöschendes Überbleibsel der zu überwindenden liberalen Erziehung der Weimarer Republik.35 Daran konnte auch nichts ändern, dass unmittelbar nach der Machtergreifung erstaunlich viele bisherige Verfechter der Reformpädagogik versuchten, sich – insbesondere auch in ihren Schriften – an die NS-Ideologie anzupassen, und dabei die „nationale Erhebung“ ausdrücklich begrüßten sowie ihre Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung hieran bekundeten.36 Dazu zählten die führenden, der Reformpädagogik zuzurechnenden oder ihr nahestehenden Erziehungswissenschaftler der Weimarer Zeit, die Universitätsprofessoren Eduard Spranger, Wilhelm Flitner, Herman Nohl, Erich Weniger und, wie bereits erwähnt, besonders Peter Petersen.37
35 Ebenso:
Retter, Demokratisches Bewußtsein, S. 194.
36 Die entsprechenden kompromittierenden Belege insbesondere aus der Zeit unmit-
telbar nach der Machtergreifung sind in der jüngeren Bildungswissenschaft in mehreren Veröffentlichungen aufgearbeitet worden, wobei die in den Nachkriegsjahren zunächst vorgenommene einseitige Festlegung auf eine reine Opferrolle der Reformpädagogik korrigiert wurde. Siehe dazu: Ulrich Herrmann/Jürgen Oelkers, Pädagogik und Natio nalsozialismus, Weinheim/Basel 1989, insb. S. 193 ff. zum Verhältnis Reformpädagogik und Nationalsozialismus; Eva Mattes, Geisteswissenschaftliche Pädagogik nach der NS-Zeit. Politische und pädagogische Verarbeitungsversuche, Bad Heilbrunn 1998; Wolfgang Keim, Bildung versus Ertüchtigung. Gab es einen Paradigmenwechsel im Erziehungsdenken unter der Nazi-Diktatur?, in: Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil, Göttingen 2004, S. 223-258; ders, Erziehung, S. 169 ff.; Benjamin Ortmeyer, Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Hermann Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim/Basel 2009. 37 Als „Kronzeuge“ kann Petersen selbst in Anspruch genommen werden, wenn er 1935 schreibt: „Als im März 1933 die deutsche Bewegung zum Siege geführt war, da standen nur wenige Wissenschaftler mit ihr in Linie: u.a. aber bestimmt die deutsche Soziologie und eng mit ihr verbunden die deutsche Erziehungswissenschaft.“ Zitat: Peter Petersen, Die erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des Jenaplanes im Lichte des Nationalsozialismus, in: Die Schule im nationalsozialistischen Staat 11 (1935), Nr. 6, S. 1-5, hier S. 2. Auszugsweiser Wiederabdruck in: Benner/Kemper, Quellentexte Reformpädagogik, Teil 2, S. 297-302.
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Aber auch im Bund Entschiedener Schulreformer gab es euphorische Bekenntnisse zum „Aufbruch eines neuen Zeitalters“. Der Vorstand begrüßte diesen fast einhellig, nachdem bereits 1932 eine deutliche Kursänderung in Richtung nationaler Bildung vorgenommen worden war. Die seinerzeitige Warnung des Vorsitzenden des Landesverbandes Westfalen, Fritz Helling, die Nationalsozialisten würden zwar – wie die Reformpädagogik – die „schwere Erkrankung“ des Schulwesens „(Stoffüberfülle, Berechtigungselend, Zersplitterung im Vielerlei, Erfolglosigkeit der Arbeit, Leerlauf)“ erkennen, aber eine „reaktionäre Umkehr“ fordern, fand kaum Gehör. Viele innerhalb des Bundes meinten sogar im Nationalsozialismus nunmehr die politische Kraft an der Macht zu wissen, die der Reformpädagogik zum Durchbruch verhelfen würde. Nicht zuletzt der Vorsitzende und Wortführer des Bundes, Paul Oestreich, signalisierte schon vor und anfänglich nach 1933 seine Anpassungsbereitschaft. Dies hinderte die neuen Machthaber aber nicht daran, ihn im März 1933 für zwei Monate zu inhaftieren und anschließend aus dem Schuldienst zu entlassen. Der Abweichler Fritz Helling erhielt Berufsverbot. Der Bund löste sich im Mai 1933 auf.38 Es wandten sich auch weitere Reformpädagogen in voller Überzeugung dem Nationalsozialismus zu. Einer davon war Heinrich Scharrelmann (1871–1940), der nach weithin beachteten publizistischen Beiträgen zur Reformpädagogik, insbesondere zur Kunsterziehungsbewegung,39 1920 Leiter einer von drei Lebensgemeinschafts-Versuchsschulen in Bremen geworden war.40 Doch war es offenbar durch eine Hinwendung zu einer religiös-mythischen Weltdeutung und seinen Führungsstil früh zu Konflikten mit dem Lehrerkollegium gekommen, weshalb er schon 1921 sein Amt niedergelegt hatte. 1931 wurde er Mitglied in der NSDAP und dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) und 38 Vgl. dazu insgesamt mit einer Vielzahl von Belegen aus der damaligen Zeit, einschließlich des Helling-Zitats: Jürgen Eierdanz, Zwischen Widerstand, Anpassung und euphorischem Bekenntnis – Der Bund Entschiedener Schulreformer und der National sozialismus, in: Armin Bernhard/Jürgen Eierdanz (Hrsg.), Der Bund der Entschiedenen Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik, Frankfurt a.M. 1991, S. 103 ff.; Originalquelle des Zitats: Fritz Helling, Kultur politischer Zeitspiegel, in: Die Neue Erziehung 1930, S. 869. Zum Lebensweg Oestreichs auch: Franz Menges, „Oestreich, Paul“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin 1998, S. 464-465. 39 Hauptwerk: Heinrich Scharrelmann, Erlebte Pädagogik, Hamburg/Berlin 1912. 40 Siehe dazu: Heinrich Scharrelmann, Unsere Bremer Gemeinschaftsschule, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 253-261; Ulla M. Nitsch/Hermann Stöcker, „So zeichnen wir nicht nach irgendeiner muffigen Methode …“. Aus der Praxis ästhetischer Erziehung an den Bremer Arbeits- und Gemeinschaftsschulen in der Weimarer Zeit, in: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 137 ff.
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engagierte sich für diese, wobei er jetzt auch Artikel gegen die Versuchsschulen schrieb. Nachdem er von März bis Mai 1933 kurzzeitig als Fachberater für die NS-Reformen im bremischen Volksschulwesen tätig gewesen war, distanzierte er sich später von der NS-Ideologie und trat 1939 wieder aus der Partei aus.41 Die drei Lebensgemeinschaftsschulen in Bremen wurden 1933 aufgelöst, eine Reihe von dort tätigen Lehrern erhielt Berufsverbot.42 Letzte Klarheiten über die Motivationslagen hinsichtlich der Bekenntnisse zum Nationalsozialismus aus dem Kreis der Reformpädagogik, ob diese aus Überzeugung, Opportunismus oder Verführbarkeit und Illusion über den wahren Charakter des NS-Regimes erfolgten, werden sich heute nicht immer mehr zweifelsfrei herausfinden lassen. 2. Verschmähte Andienung des Jena-Plans durch Peter Petersen Nicht einfach gelagert ist die Bewertung der Haltung von Peter Petersen, für die lange Zeit die Erklärung verbreitet wurde, seine bis Ende der 1930er Jahre nachzuweisenden Gunstbezeigungen seien vornehmlich in Sorge um den Fortbestand der Jenaer Universitäts-Versuchsschule unter seiner Leitung erfolgt. Er habe hierdurch diese Schule bis zum Ende der braunen Diktatur vor einer Schließung oder Übernahme durch andere retten können. Petersen ging es freilich, wie neuere Studien nachweisen, nicht nur um diese eine Jena-Plan-Schule.43 Vielmehr sah er offensichtlich sogar eine Chance, sein Reformmodell im Zuge der zu erwartenden schulpolitischen Veränderungen im öffentlichen Schulwesen breit zu verankern, beginnend mit einem groß angeleg-
41 Siehe dazu: Susanne Enders, „Scharrelmann, Heinrich Ludwig Friedrich“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 22, Berlin 2005, S. 579-580; Oelkers, Reformpädagogik, S. 193 Fn. 84; Nitsch/Stöcker, ebenda, S. 154. 42 Vgl.: Nitsch/Stöcker, ebenda, S. 152. 43 Zur kritischen Aufarbeitung der Vielzahl NS-naher Schriften Petersens und seiner Versuche, sein Schulmodell im NS-Staat zu etablieren: Jürgen Oelkers, Petersen und der Nationalsozialismus, in: Werner Keil (Hrsg.), Pädagogische Bezugspunkte. Exemplarische Anregungen, Festschrift für Hans Scheuerl, Regensburg 1989, S. 99-130; Robert Döpp, Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus, Münster u.a. 2003; Hartmut Draeger, Der Ritt auf dem Tiger. Petersens Selbstbehauptungsversuche zwischen Anpassung und Widerstand im realen Nationalsozialismus, in: Kinderleben. Zeitschrift für Jenaplan-Pädagogik, Heft 27 (2008), S. 5-39; Peter Fauser/Jürgen John/Rüdiger Stutz, Argumentation zum Fall Petersen. Diskussionsgrundlage für den Kulturausschuss der Stadt Jena v. 30.11.2009, www.jena.de/fm/41/Argumentation_FauserJohnStutz_neu.pdf.
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ten Versuchsschulprojekt in Westfalen.44 1931 hatte sich im dortigen Kreis Lübbecke eine pädagogische Initiative für eine Landschulreform gebildet. Obgleich deren Akteure nach 1933 überwiegend dem nationalsozialistischen Spektrum zuzurechnen waren, luden sie Petersen ein, seinen Jena-Plan im September 1933 vor Ort auf einer Tagung der Landschulen vorzustellen. In einem amtlichen Bericht für das Erziehungsministerium vom Juni 1934 ist festgehalten, dass nach dieser Tagung und einem Informationsaufenthalt einiger Lehrer aus der Region in Jena über 20 Schulen ihre Arbeitsweise umgestellt hätten, und zwar mit Unterstützung der Mindener Bezirksregierung, der betroffenen Gemeinden, den ört lichen Parteistellen und des NSLB. Sie hätten den Jena-Plan zwar nicht in allen Einzelheiten übernommen, aber das Kernstück, der Gruppenunterricht (damit war der jahrgangsübergreifende Unterricht gemeint), habe eine aufnahmebereite Lehrerschaft gefunden.45 Weitere Schulen kamen in der Folgezeit hinzu; Ostern 1935 arbeiteten 45 und damit zwei Drittel aller Volksschulen im Kreis Lübbecke nach dem Jena-Plan. Obwohl Petersen bei seinen Vorträgen vor Ort die nationalsozialistische Terminologie in die Vorstellung seines Jena-Plans einbaute („volkhaftes Denken“, „germanischer Staat“, „nordisches Denken“), er bemüht war darzulegen, dass sein Plan im Sinne der nationalsozialistischen Erneuerung wäre, er sogar ausführte, die neue Erziehungswissenschaft sei „völlig offen für alles, was Rasse, Erbgut und biologische Grundlagen der Erziehung betrifft“,46 trotz all dieser, in Westfalen goutierten Anpassungen war man in Berlin nicht von einer wirklichen Wendung Petersens zum Nationalsozialismus und auch nicht von der Tauglichkeit des Jena-Plans für eine nationalsozialistische Erziehung überzeugt. Daran änderte auch nichts, dass Petersen in einer größeren Anzahl von Veröffent lichungen den Jena-Plan unter Huldigung des Führers und anderer Nazigrößen als wahre nordisch-germanische Pädagogik anpries, insbesondere in dem 1935 erschienen Artikel „Die erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des JenaPlans im Lichte des Nationalsozialismus“: „Die Erziehungswissenschaft, auf 44 Siehe
zum Engagement Petersens für das Versuchsschulprojekt in Westfalen: Döpp, ebenda, S. 255 ff.; Hein Retter, Peter Petersen und der Jenaplan: Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Berichte – Briefe – Dokumente, Weinheim 1996, S. 41 ff.; Torsten Schwan, Zum Scheitern Peter Petersens und des Jenaplans im NSund im sich formierenden SED-Staat, in: Hein Retter (Hrsg.), Reformpädagogik. Neue Zugänge – Befunde – Kontroversen, Bad Heilbrunn 2004, S. 171 f. 45 Voigtländer, Bericht v. 01.06.1934 für das Reich- und preußische Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung über die Pädagogische Woche der Erziehungswissenschaftlichen Universitäts-Anstalt Jena in Rahden/Westf. vom 22. bis 26. Mai 1934, abgedruckt bei: Retter, Reformpädagogik, S. 289 ff., hier S. 290. 46 Zitate, alle entnommen aus einem im Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Detmold befindlichen „Bericht über die Landschulheimtagung in Lübbecke vom 16. bis 18. September 1933“, abgedruckt bei: Retter, Reformpädagogik, S. 275 ff.
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deren Grundlagen der Jena-Plan beruht, ist die erste, welche volkstheoretisch begründet wurde. Wie sie sich eindeutig gegen jeden Liberalismus und Inter nationalismus, gegen Demokratie und Individualismus wandte, so auch gegen die idealistischen Theorien von der Menschheit. Es gibt keine Menschenbürger, es gibt nur Volksbürger.“47 Nach Visitationen im Jahre 1935 sowohl in Jena als auch in einigen westfälischen Schulen und entsprechend kritischen Berichten wurde durch einen Erlass des Reichserziehungsministeriums vom 03.02.1936, gerichtet an das thüringische Volksbildungsministerium, die weitere Ausbreitung des Jena-Plans untersagt. Auch in Westfalen sprach man ein Ausbreitungsverbot aus, wobei offenbar einige Schulen noch bis Kriegsende nach dem Jena-Plan weiterarbeiteten, viele aber, eine auch schon vor dem Verbot wegen angeblicher Ineffizienz, auf Normalbetrieb umgestellt wurden. 48 Auch nach dem Verbreitungsverbot für seinen Jena-Plan diente Petersen sich, wenn auch nicht an vorderster Stelle und ohne eine Parteimitgliedschaft anzunehmen, weiterhin immer wieder dem Regime an und konnte so bis Kriegsende seinen Jenaer Lehrstuhl und auch die Universitäts-Übungsschule beibehalten.49 3. Ende der Reformpädagogik im öffentlichen Schulwesen Zwei brandenburgische Versuchsschulen, die beide seit 1930 nach dem JenaPlan arbeiteten, eine in der Industriestadt Wittenberge, für die Petersen auf ausdrücklichen Wunsch des damaligen sozialdemokratischen preußischen Kultusministers Adolf Grimme die wissenschaftliche Begleitung übernommen hatte, und eine andere in Finsterwalde mussten zu Ostern 1933 ihre Arbeit einstellen; die Leiter beider Schulen und ein Teil der Lehrerschaft wurden „strafversetzt“. Beide Schulen, errichtet von sozialdemokratischen Stadtratsmehrheiten, standen aufgrund der Zusammensetzung der Lehrerschaft unter dem Verdacht, sozialistischen Bildungsvorstellungen nahe zu stehen und wurden auch entsprechend denunziert.50 47 Zitat: Petersen, Erziehungswissenschaftliche Grundlagen, S. 3 – Zu den völkisch-rassistischen Äußerungen Petersens: Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Matthias Schwerendt, Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reiches. Biobibliographisches Handbuch, Berlin 2006, S. 174 ff. mit einer Vielzahl von Belegen noch bis in die 1940er Jahre. 48 Vgl.: Döpp, Jenaplan-Pädagogik S. 475 ff.; Retter, Petersen und Jenaplan, S. 28, 45. 49 Dazu: Döpp, ebenda, S. 504 ff. 50 Siehe dazu: Retter, Petersen und Jenaplan, S. 26, 35 ff., 38 ff. mit dazu gehörigen zeitgenössischen Dokumenten S. 252 ff., 258 ff.
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Bei dem Vorgehen gegen beide Jena-Plan-Schulen wie auch gegen andere „sozialistische“ Versuchsschulen nutzte das nun nationalsozialistisch geleitete preußische Kultusministerium seinen Erlass zur Aufhebung von „Sammelschulen“ vom 28.02.1933.51 Die sogenannte Sammelschule, auch bekenntnisfreie (im Volksmund „weltliche“) Schule genannt, war eine auch schon bis 1933 nicht unumstrittene Einrichtung, die es seit 1920 in Preußen gegeben hatte.52 1929 waren dies 249 Schulen von 33.405 Volksschulen, also deutlich unter einem Prozent aller Schulen, vornehmlich in Berlin und im Ruhrgebiet gewesen.53 Außerhalb Preußens existierten noch eine Sammelschule in Thüringen und sechs in Braunschweig.54 Sie waren für Kinder vorgesehen, deren Eltern keinen Besuch einer Bekenntnisschule und insbesondere keine Teilnahme am dortigen Pflichtfach Religionsunterricht wünschten, wobei es teilweise auch hierfür nur „Sammelklassen“ an Bekenntnisschulen gab. Gegen die Einrichtung von Sammelklassen und -schulen hatten die Kirchen und christliche Organisationen anfangs heftig protestiert und sich dabei auf die Verfassungslage nach der Weimarer Verfassung berufen.55 Eine ebenfalls hier 51 Abdruck
in: ZblUV 75 (1933), S. 65. dazu den Einrichtungserlass über Sammelschulen des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kultur und Volksbildung v. 03.05.1920, abgedruckt bei: Felix Theegarten (Hrsg.), Sammelklassen und Sammelschulen für die nicht am Religions unterricht teilnehmenden Kinder. Zusammenstellung der einschlägigen Ministerial erlasse, Berlin 1926, S. 19. Später folgten drei Ausführungserlasse: v. 12.05.1921 [ZblUV 63 (1921), S. 241], v. 01.12.1922 [Theegarten, ebenda, S. 25] und v. 14.06.1928 [ZblUV 70 (1928), S. 220]. 53 Hierzu: Wilfried Breyvogel/Martin Kamp, Weltliche Schulen in Preußen und im Ruhrgebiet. Forschungsstand und statistische Grundlagen, in: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 185 ff., insb. S. 193 ff. – Für das Schuljahr 1931/1932 werden sogar 289 Sammelschulen in Preußen angegeben. Diese Zahl nennt: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 949. 54 Vgl.: Uwe Sandfuchs, Die weltlichen Schulen im Freistaat Braunschweig: Schulpolitischer Zankapfel und Zentren der Schulreform, in: Amlung/Haubfleisch/Link/ Schmitt (Hrsg.), ebenda, S. 221 ff., hier S. 226. 55 Dazu etwa: Zentralstelle der Katholischen Schulorganisation Deutschlands (Hrsg.), Der Kampf um das Reichsschulgesetz, Düsseldorf 1925, S. 14, 20 f. – Für die deutschen Katholiken gab es dabei auch klare Vorgaben des Papstes, der das „Unwesen“ der „Verweltlichung der Schule“ zum Thema machte. So hieß es dazu näher in der Enzyklika von Papst Pius XI „Die christliche Erziehung der Jugend“ (Divini illius magistri) v. 31.12.1929, Ziff. 79: „Wir erneuern und bekräftigen … , wonach der Besuch der nichtkatholischen Schulen, ob weltliche oder Simultanschulen, also der Schulen, die ganz gleichförmig und ohne irgendwelche Sonderung den Katholiken und Nichtkatholiken offenstehen, den katholischen Kindern verboten ist. … Für die Katholiken kann auch jene Simultanschule nicht als normal anerkannt werden (um so 52 Siehe
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gegen später durch die Fraktion der Deutschnationalen Volkspartei im Preußischen Landtag eingeleitete verfassungsrechtliche Streitigkeit war mangels Sachbefugnis (d.h. keine mögliche Verletzung eigener organschaftlicher Rechte) durch den Reichs-Staatsgerichtshof im Jahre 1930 als unzulässig zurückgewiesen worden,56 hatte allerdings die bildungspolitische Auseinandersetzung neu entfacht. Wie bereits dargestellt, war es, obwohl die Verfassung die Volksschule als Gemeinschaftsschule für alle Konfessionen zur Regel erheben wollte, mangels reichsgesetzlicher Umsetzung tatsächlich umgekehrt gemäß Art. 174 WRV i.V.m. Art. 146 Abs. 2 WRV in den meisten deutschen Ländern und vor allem in Preußen beim bestehenden Bekenntnischarakter der öffentlichen Volksschule geblieben. Weltliche (bekenntnisfreie) Schulen durften deshalb nicht errichtet werden.57 Das preußische Kultusministerium hatte das Problem gelöst, indem es, wie im rechtswissenschaftlichen Schrifttum durch einen seiner Ministerialräte58 und auch in seiner Entgegnung im Verfassungsstreit59 nochmals untermauert, die Sammelschulen rechtlich weiterhin als Bekenntnisschulen klassifiziert hatte, als besondere Bekenntnisschulen zur Sammlung für vom Religionsunterricht abgemeldete Kinder, wobei diese Schulen auf Verlangen auch Reli gionsunterricht erteilen mussten. Die ministerielle Argumentation war zwar bei stringenter Betrachtung nicht wirklich überzeugend gewesen, anderseits hatte man allgemein die „Notsituation“, in der sich die preußische Schulverwaltung befand, gesehen.60 Laut einem Ministerialerlass wurden – wie bei den Berliner schlimmer, wenn sie ‚Einheits‘- und Pflichtschule für alle ist), in der den Katholiken zwar getrennt Religionsunterricht erteilt wird, in der sie aber den übrigen Unterricht von nichtkatholischen Lehrern zusammen mit nichtkatholischen Schülern erhalten.“ Abdruck auszugsweise bei: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 2, S. 143-146, hier Zitat S. 145. 56 Siehe: Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, Entsch. v. 14.06.1930, RGZ 129, Anhang S. 1. 57 Vgl.: Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 174 Anm. 2. 58 Vgl.: Landé, Preußisches Schulrecht, S. 199. Siehe auch: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 199, 293 m.w.N., auch der entgegengesetzten Position einer Verfassungswidrigkeit. Die beiden Positionen nur referierend, ohne Festlegung: Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 174 Anm. 2 m.w.N. 59 Siehe Wiedergabe der Einlassung in der Entscheidung des Staatsgerichtshofes (Fn. 56), S. 4. 60 Zur Verdeutlichung: Bis zum Erlass eines Reichsschulgesetzes bildeten die rechtliche Grundlage für die Gründung neuer Volksschulen in Preußen die §§ 33 bis 42 des preußischen Volksschulunterhaltungsgesetz v. 28.07.1906, die aber keine bekenntnisfreien Schulen kannten. Die Sammelschulen wurden daher, wie ausgeführt, seitens des Kultusministeriums nicht als eigene Schulform angesehen, auch wenn sie es faktisch waren: „Die Sperrvorschrift der RVerf. hindert nicht eine Änderung der tatsächlichen Schulverhältnisse, sondern untersagt nur eine Änderung der Rechtslage. Eine Rechtsvorschrift, wonach Volksschüler in Klassen und in Schulsystemen nach bestimmten
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
Lebensgemeinschaftsschulen – grundsätzlich auch nur Lehrer zum Unterricht in den Sammelschulen herangezogen, die sich freiwillig dazu gemeldet hatten. Die Lehrkräfte konnten nicht gegen ihren Willen dorthin versetzt werden.61 Da die Sammelschulen ohne gesetzliche Regelung lediglich auf dem Verwaltungsweg zugelassen worden waren, konnte auch deren von den Nationalsozialisten betriebene Aufhebung allein durch besagten Verwaltungserlass erfolgen. Nunmehr durften ab dem mit Ostern 1933 beginnenden Schuljahr 1933/1934 keine Lernanfänger mehr in Sammelschulen und Sammelklassen aufgenommen werden; sie hatten in den folgenden Jahren jahrgangsweise auszulaufen. Die Aufhebung der Sammelschulen in Preußen war einerseits eine vertrauensbildende Maßnahme der Nationalsozialisten gegenüber den Kirchen im zu diesem Zeitpunkt laufenden Prozess der Machtergreifung und Gleichschaltung. Insbesondere stand dahinter wohl die taktische Überlegung, die Verhandlungen zu dem politisch benötigten und dann auch kurze Zeit später erfolgten Abschluss des Reichskonkordats mit der katholischen Kirche vom 20.07.1933 günstig beeinflussen zu können.62 Gleichzeitig ermöglichte diese Maßnahme aber auch, die meist aus links-liberalen und sozialdemokratisch-sozialistischen Initiativen erwachsenen, von den örtlichen Nazi-Gruppen feindselig als „rot“ diffamierten und wegen einer „liberalistisch-marxistischen Geistesrichtung“ bekämpften Schulen unter Kontrolle zu bekommen. Viele Sammelschulen, vor allem in den Großstädten, waren gleichzeitig auch reformpädagogisch ausgerichtete Versuchsschulen gewesen. In Berlin hatten zehn der 53 Sammelschulen gleichzeitig eine Genehmigung als LebensgemeinGesichtspunkten zusammenzufassen sind, war und ist dem preußischen Schulrecht fremd, die Schüler können nach Alter, Geschlecht, Wohnort, aber auch nach anderen Merkmalen zusammengefaßt werden (so ausdr. OVG. 6.1.1911, 58, 227); es bedeutet danach keine Rechtsänderung, wenn die Schulverwaltung anordnet oder zuläßt, daß am RelUnt. nicht teilnehmende Kinder in Klassen oder Schulen unter bestimmten Voraussetzungen zusammengefaßt werden.“ So: Landé, Preußisches Schulrecht, S. 292. Das Ministerium sah in den Sammelschulen ausdrücklich eine „Notlösung“ bzw. „Übergangslösung“ (als Vorgriff auf die beabsichtigte und in Vorbereitung befindliche schulgesetzliche Regelung nicht bekenntnisgebundener Schulen i.S.d. Art. 146 Abs. 1 WRV). Die Sammelschulen blieben den allgemeinen gesetzlichen und Verwaltungsvorschriften für öffentliche Volksschulen unterworfen, hatten keinen besonderen Lehrplan, mit der Ausnahme, dass alle Schüler vom Religionsunterricht abgemeldet waren und ihnen statt dessen meist lebenskundlicher Unterricht erteilt wurde. Dazu: Landé, Preußisches Schulrecht, S. 199, 293; Nydahl, Berliner Schul wesen, S. 47 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 948. 61 Erlass des preußischen Kultusministeriums vom 23.03.1921, U III A 605, wiedergegeben nach: Nydahl, Berliner Schulwesen, S. 46. 62 Vgl.: Eilers, Schulpolitik, S. 23. Siehe auch: Michael Schmidt, Die Auflösung der weltlichen Schulen in Berlin, in: humanismus aktuell, hrsg. von der Humanistischen Akademie, Heft 8/2001, S. 44-51.
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schaftsschule mit Versuchsschulstatus besessen und auch die anderen Sammelschulen führten häufig, ohne diesen Status zu haben, reformpädagogische Elemente in ihren Unterricht ein.63 Umgekehrt war nur eine der elf Berliner Lebensgemeinschaftsschulen nicht aus einer Sammelschule entstanden, hatte aber ebenfalls einen hohen Anteil an Schülern, die nicht am Religionsunterricht teilnahmen.64 Durch den Erlass zur Aufhebung der Sammelschulen konnten somit die Lebensgemeinschafts-Schulversuche gleichzeitig getroffen, also aufgelöst werden. Tatsächlich wurden in Berlin, Bremen und Hamburg alle Lebensgemeinschaftsschulen, soweit sie noch bestanden, Ostern 1933 aufgelöst oder ihres Versuchsstatus enthoben.65 Allerdings hatten in der Stadt Berlin die Behörden bereits 1932 begonnen, den Schulversuch der Lebensgemeinschaftsschulen auslaufen zu lassen. Die 31. Volksschule in der Rütlistraße war zu einer (weltlichen) Sammelschule abgestuft und die 32. Volksschule, ebenfalls eine Lebensgemeinschaftsschule in der Rütlistraße, war durch das Bezirksamt Neukölln wegen zu starken Schülerrückgangs als selbstständige Schule ganz aufgelöst worden.66 Für diese Entwicklung scheint ein Bündel von Faktoren ursächlich gewesen zu sein: Der reformerische Elan vieler Lehrkräfte hatte über die Jahre nachgelassen, die Streitigkeiten in den Kollegien über den „richtigen Weg“, vor allem nach Wechsel einiger Schulleiter in die akademische Lehrerausbildung, zugenommen. Die Schulen waren – als Angebotsschulen – auch immer mehr zum Auffangbecken für schwierige Schüler und Problemfälle geworden. Die Weltwirtschaftskrise führte sodann zu drastischen Abbau- und Sparmaßen im Berliner Schulwesen, die gerade die Reformschulen wegen deren vorher besseren Ressourcenausstattung trafen (nunmehr Wegfall von zusätzlichen Arbeitsgemeinschaften und Kur63 Vgl.: Dietmar Haubfleisch, Berliner Reformpädagogik in der Weimarer Repu blik. Überblick, Forschungsergebnisse und -perspektiven, in: Hermann Röhrs/Andreas Pehnke (Hrsg.), Die Reform des Bildungswesens im Ost-West-Dialog. Geschichte, Aufgaben, Probleme, Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 117 f. 64 Vgl. Haubfleisch, ebenda, S. 118. 65 Vgl.: Keim, Erziehung, S. 91 ff.; Radde, Schulreform, S. 100 f. [für Berlin]; Nitsch/Stöcker, Bremer Arbeits- und Gemeinschaftsschulen (Fn. 40), S. 152 [für Bremen]; Reiner Lehberger, „Schule als Lebensstätte der Jugend“. Die Hamburger Versuchs- und Gemeinschaftsschulen in der Weimarer Republik, in: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 57 [für Hamburg]. 66 Siehe dazu: Gerd Radde, Lebensstätten der Schüler – Neuköllner Lebens gemeinschaftsschulen als Beispiel der Berliner Schulreform, in: Gerd Radde u.a. (Hrsg.), Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, Bd. I: 1912 bis 1945, Opladen 1993, S. 99; Volker Hoffmann, Die Rütlischule – Entwicklung und Auflösung eines staatlichen Schulversuchs, in: Gerd Radde u.a. (Hrsg.), ebenda, S. 128 f.
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sen, von Esperanto-Unterricht und Schülerwanderungen, außerdem wie in allen anderen Schulen Heraufsetzung der Klassenfrequenzen, Abbau von Lehrerstellen und Reduzierung der Wochenstundenzahl in der Volksschuloberstufe). Eltern und Schüler reagierten hierauf unter anderem im April 1930 und im Oktober 1931 mit mehrtägigen „Schulstreiks“. Schüler und Eltern verloren zudem durch die mit der Krise einhergehende Massenarbeitslosigkeit ihre Lebensperspektive. Nicht zu vergessen sind die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und den von ihnen seit 1929 als „Kultur- und Sozialfaschisten“ verunglimpften Sozialdemokraten, die in die Elternbeiräte getragen wurden, wobei, wie bereits aufgezeigt, die KPD-Führung Gemeinschaftsschulen wie weltliche Schulen gleichermaßen als „linken Reformismus“ ablehnte. Und schließlich hatten die aufkommenden Nationalsozialisten Lebensgemeinschaftsschulen wie die Rütlischulen stets als Element eines „aufgeblähten, marxistischen Prestigeunternehmens auf Kosten des kleinen Mannes“ heftig attackiert.67 Nach der Macht ergreifung beendete das NS-Regime nunmehr endgültig den bereits zerbröckelnden Berliner Lebensgemeinschafts-Schulversuch. Gleiches ereilte in den Anfangsjahren der NS-Diktatur auch alle anderen reformpädagogischen Versuchsschulen, die aus der Arbeitsschul- oder Einheitsschulbewegung entstanden waren, also beispielsweise die Lichtwarkschule in Hamburg,68 die Versuchsschule Mannheim-Feudenheim (wobei das von Sickinger entwickelte Mannheimer Schulsystem insgesamt bis 1935 abgeschafft wurde),69 die Dresdner Versuchsschulen im Volksschulbereich wie auch die Staatliche höhere Versuchsschule zu Dresden (Dürerschule),70 die Schulfarm 67 Vgl.:
Hoffmann, ebenda, S. 127 ff.; ders., Gegen Kindernot und Schulreaktion – Schulkämpfe in Neukölln 1930–32, in: Gerd Radde u.a. (Hrsg.), Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, Bd. I: 1912 bis 1945, Opladen 1993, S. 243 ff. – Zum vergifteten schulpolitischen Klima zwischen KPD und SPD siehe den zeitgenössischen Beitrag des damaligen, der SPD zugehörigen Neuköllner Schulstadtrates, in dem dieser im Mai 1930 den Kommunisten einen Missbrauch der Schule und ein Schüren des ersten „Schülerstreiks“ für Parteizwecke vorwarf: Kurt Löwenstein, Die Lehren des Neuköllner Schulstreiks, in: Sozialistische Erziehung. Organ der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde und der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer und Lehrerinnen Deutschlands, Heft 5/1930, S. 35-37; Wiederabdruck in: Radde u.a. (Hrsg.), ebenda, S. 252-254. 68 Vgl.: Lehberger, Lebensstätte (Fn. 65), S. 57; Keim, Erziehung, S. 96 f. 69 Vgl.: Caroline Hopf, Vom Archiv zum Prozess – Historische Spuren organisa tionalen Handelns am Beispiel der Versuchsschule Mannheim-Feudenheim, in: Michael Göhlich/Caroline Hopf/Ines Sausele (Hrsg.), Pädagogische Organisationsforschung, Wiesbaden 2005, S. 52. Allgemein zu dieser Versuchsschule: Hansjürgen Kessler, Versuchsschule Feudenheim 1922–1933. Die vergessene Reformpädagogik Enderlins und Lays, Mannheim 1995. 70 Vgl.: Andreas Pehnke, Widerständige sächsische Schulreformer im Visier stalinistischer Politik (1945–1959), Frankfurt a.M. 2008, S. 85, 108; „Versuchsschu-
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Insel Scharfenberg, die in eine „Musterschule nach Art der nationalpolitischen Bildungsanstalten“ umgewandelt wurde,71 oder die Karl-Marx-Schule in BerlinNeukölln. Letztere war den Nationalsozialisten als laut „Völkischer Beobachter“ angebliche „Hochburg der marxistischen Unkultur“ derart verhasst, dass am 21.02.1933 der zu diesem Zeitpunkt noch kommissarische preußische NSKultusminister Rust deren „Umorganisation“ und die Beurlaubung ihres Leiters Karsen durch den amtlichen preußischen Pressedienst und über alle deutschen Rundfunksender bekanntgeben ließ. 72 Bei der Aufhebung der Versuchsschulen wie auch der weltlichen Sammelschulen verfuhren die neuen Machthaber fast überall nach demselben Schema, das bereits für die beiden Jena-Plan-Schulen in Wittenberge und Finsterwalde aufgezeigt wurde: Versetzung der Schulleiter und des missliebigen Teiles der Lehrerschaft wegen „marxistischer Einstellung“ an andere Schulen, wenn nicht sogar Entfernung aus dem Schuldienst bei jüdischer Abstammung oder angeb licher „politischer Unzuverlässigkeit“ aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 07.04.193373, und Übertragung vor allem der Leitung an verlässliche nationalsozialistische Lehrkräfte.74 Einige Reformpädagogen emigrierten umgehend, wie etwa Fritz Karsen, der als Schulleiter der Karl-Marx-Schule beurlaubt worden war und dem als So zialdemokrat eine Verhaftung drohte. Seine beiden reformpädagogischen Hauptwerke „Die Schule der werdenden Gesellschaft“ (Stuttgart 1921) und „Deutsche Versuchsschulen der Gegenwart und ihre Probleme“ (Leipzig 1923) wurden später auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt.75 Die 1931 geschaffene Reichsschrifttumskammer führte seit 1935 „eine Liste solcher Bücher und Schriften, die das nationalsozialistische Kulturwollen len in Dresden“, Online-Ressource: http://www.dresden.de/media/pdf/stadtarchiv/ Tafeln_34-38_Schulwesen.pdf. 71 Vgl.: Keim, Erziehung, S. 93 m.w.N. 72 Dazu: Radde, Karsen, S. 195 m.w.N. 73 RGBl. I S. 175, hier: § 3 Abs. 1: „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand (§§ 8 ff.) zu versetzen; soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen.“ und § 4 Satz 1: „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden.“ 74 So dokumentiert z.B. für die Aufhebung der fünf Sammelschulen in Hamburg bei: Uwe Schmidt, Hamburger Schulen im „Dritten Reich“ (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Bd. 64), Hamburg 2010, S. 207; für die Karl-Marx-Schule bei: Radde, Karsen, S. 195 ff. 75 Siehe: Reichsschrifttumskammer, Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums, Leipzig 1938, S. 69. – Die 1938 erschienene Hauptliste wurde bis 1941 jährlich durch drei Ergänzungslisten weiter ausgebaut. Online-Ressource zur freien Recherche der verbannten Bücher mit Stand der Liste 31.12.1938, bereitgestellt
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
gefährden“. Die Verbreitung solcher, aus NS-Sicht für „das deutsche Kultur leben … schädlichen und unerwünschten“ Bücher und Schriften durch öffentlich zugängliche Büchereien und durch den Buchhandel in jeder Form war untersagt.76 Auf dieser Liste des „auszumerzenden“ Schrifttums stand auch das Werk des ehemaligen sozialdemokratischen Reichsjustizministers und Rechtsphilosophen Gustav Radbruch über „Die weltliche Schule“ (Kiel 1920)77 oder eine reformpädagogische Schrift des wenig bekannten Wilhelm Mann „Schulstaat und Selbstregierung der Schüler“ (Langensalza 1914).78 Insgesamt gerieten auf den Index mit 4500 inkriminierten Werken nur verhältnismäßig wenige reformpädagogische Schriften, auffallend aber auch die von zwei weiteren linkssozialistischen, zwischenzeitlich wie Karsen ebenfalls emigrierten Reformpädagogen: Siegfried Bernfried mit drei Werken, unter anderem „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ (Leipzig 1925),79 sowie Anna Siemsen mit sämtlichen Schriften.80 Schließlich nahm man auch den Waldorfschul-Begründer Rudolf Steiner mit sechs Schriften zur Anthroposophie und Waldorfpädagogik in die Liste der verbotenen Bücher auf.81 Eine Tagung „Bildungsaufgaben und Arbeitsformen der deutschen Versuchsschulen“, zu der noch im November 1932 das Berliner „Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht“ für April 1933 nach Hannover in Zusammenarbeit mit der dortigen Bezirksregierung eingeladen hatte, wurde abgesagt. In der preußischen Provinz Hannover hatte es bis dahin keine anerkannte reformpädagogische Versuchsschule gegeben.82 Nationalsozialisten hatten zwischenzeitlich die Leitungen der einzelnen Abteilungen des hierdurch „auf Linie“ gebrachten Zentral instituts übernommen.83 mit Erläuterungen durch das Land Berlin: http://www.berlin.de/rubrik/hauptstadt/ verbannte_buecher/az-autor.php. 76 Anordnung des Präsidenten der Reichsschrifttumskammer über schädliches und unerwünschtes Schrifttum auf Grund des § 25 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes v. 01.11.1933 (RGBl. I S. 797), abgedruckt in: ABl. RMWEV 1 (1935), S. 205. – Siehe dazu: Dietrich Aigner, Die Indizierung „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1971. 77 Reichsschrifttumskammer, Liste (Fn. 75), S. 132. 78 Ebenda, S. 91. 79 Ebenda, S. 10. 80 Ebenda, S. 136. 81 Ebenda, S. 142. 82 Zu diesem Vorgang: Bernd Dühlmeier, Und die Schule bewegte sich doch. Unbekannte Reformpädagogen und ihre Projekte in der Nachkriegszeit, Bad Heilbrunn 2004, S. 213 f. 83 Vgl.: Günther Böhme, Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht und seine Leiter. Zur Pädagogik zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Neuburgweier/ Karlsruhe 1971, S. 193 f.; Amlung, Pallat, S. 8.
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Ein Ende fand auch die Montessori-Pädagogik in Deutschland. Obwohl es bis 1935 mehr als nur gegenseitige Annäherungsversuche Maria Montessoris mit dem faschistischen Mussolini-Regime in Italien gegeben hatte, bis dahin, dass sie zwecks landesweiter Einführung ihrer Methode eine Ausarbeitung ihrer Theorie für die faschistische Nationalerziehung verfasste,84 gingen die National sozialisten ab der Machtergreifung gegen diese kategorisch als „undeutsch“ diffamierte Pädagogik vor. Dabei prangerten sie an, dass zu den damaligen Wegbereitern der Montessori-Pädagogik in Deutschland neben katholischen Kreisen vor allem jüdische und sozialistische Reformkräfte (letztere insbesondere aus dem „Bund entschiedener Schulreformer“, nunmehr als „marxistische Elemente“ verunglimpft) gehörten. Diese wurden bezichtigt, die Selbstständigkeit und Eigeninitiative unterstützenden Montessori-Materialien wegen einer davon angeblich ausgehenden „zersetzenden Macht des Individualismus“ einzusetzen.85 In den Jahren 1935/1936 verboten die Nationalsozialisten die „Deutsche Montessori Gesellschaft“ wie auch den konkurrierenden „Verein Montessori Pädagogik Deutschlands“. Deren Mitgliedschaft in der 1929 von Maria Montessori gegründeten „Association Montessori Internationale“ (mit Sitz bis Ende 1935 in Berlin, nach dem Montessori-Verbot in Deutschland nach Amsterdam verlegt) und der damit zum Ausdruck kommende internationale Grundcharakter dieser Bewegung war ihnen zusätzlich suspekt. Alle Montessori-Schulen wurden aufgelöst, wobei die genaue Zahl nur für die dem Montessori-Verein zuzurechnenden Einrichtungen bekannt ist: Neben 24 Montessori-Kindergärten mussten 12 Montessori-Schulen ihre Arbeit einstellen.86 Insgesamt war spätestens im Jahre 1936 im Zuge der Gleichschaltung des Erziehungswesens die Reformpädagogik aus dem Schulwesen Deutschlands ausgelöscht. Mit Ausnahme der Jenaer Universitäts-Übungsschule und – worauf 84 Siehe: Hélène Leenders, Der Fall Montessori. Die Geschichte einer reformpäda gogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus, Bad Heilbrunn 2001, passim, insb. S. 233; dies., Reformpädagogik im Faschismus: Peter Petersen – Maria Montessori, in: Hein Retter (Hrsg.), Reformpädagogik. Neue Zugänge – Befunde – Kontroversen, Bad Heilbrunn 2004, S. 154 ff. 85 Exemplarisch ein entsprechender Hetzartikel im „Westdeutschen Beobachter“ v. 23.01.1036, abgedruckt bei: Günter Schulz-Benesch, Ein NS-Pamphlet gegen die Montessori-Pädagogik, in: Reinhard Fischer/Peter Heitkämper (Hrsg.), MontessoriPädagogik. Aktuelle und internationale Herausforderungen, Münster 2005, S. 177-179 (erstmals publiziert in: Montessori-Werkbrief 1984, Heft 1, S. 16-18). 86 Zu den Zahlen: Günter Schulz-Benesch, Der Streit um Montessori – Kritische Nachforschungen zum Werk einer katholischen Pädagogin von Weltruf. Mit einer internationalen Montessori-Bibliographie, 2. Aufl., Freiburg 1961, S. 165. Siehe auch: Günnigmann, Montessori-Pädagogik, S. 14; Hermann Röhrs, Die Schulen der Reformpädagogik – Glieder einer kontinuierlichen internationalen Bewegung, in: ders. (Hrsg.), Die Schulen der Reformpädagogik heute. Handbuch reformpädagogischer Schulideen und Schulwirklichkeit, Düsseldorf 1986, S. 32 m.w.N.
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noch einzugehen ist – den sich der nationalsozialistischen Ideologie gefügig zeigenden Landerziehungsheimen, einigen wenigen ebenfalls anpassungsbereiten Waldorfschulen (bis 1940) sowie ländlichen Versuchsschulen waren die reformpädagogischen Versuchsschulen eingeebnet, die allermeisten früheren Repräsentanten der Reformpädagogik aus dem deutschen Unterrichtswesen entfernt. 4. Unvereinbarkeit von Reformpädagogik und Nationalsozialismus aus Sicht der NS-Pädagogen Die reformpädagogische Bewegung wurde nach 1933 von den NS-Pädagogen herablassend als „pädagogische Modeströmung“ bezeichnet. Sie hätte als ein Zeichen des herrschenden Subjektivismus für eine Schule der Beliebigkeit gestanden.87 Im nationalsozialistischen Staat wäre nunmehr die Zeit der Formalpädagogik, die Zeit der spekulativen pädagogischen Theorien zu Ende. In das Zentrum der Schule würden jetzt die Formung und die Lehre treten.88 In der Reformpädagogik hätte hingegen der Lehrer aufgehört, „das zu sein, was doch im Wort Erziehung immer wieder ausgedrückt ist, der, der dem Zögling die Richtung vorgibt.“89 Nicht nur die moderne Kunst, auch die Reformpädagogik wurde mit dem diffamierenden Begriff der „Entartung“ verunglimpft: „Wesenszüge dieser Schulgestalt waren demnach Formalismus und Methodismus. Formalistisch war sie ob ihrer Mißachtung der Eigenbedeutung des Lehrgutes; methodistisch, weil – wenigstens in der Theorie – als ihr entscheidendes Kernstück eine Lehrweise galt, sei es nun die arbeitsschulmäßige oder die kindsgemäße. Mit dieser Vereinseitigung aber verlor die Schulerziehung alle inhaltliche Bestimmtheit, alle Substanz und damit letztlich auch ihre Berechtigung. Im Ganzen war diese Schule eine Stätte der Ichentfaltung, der Pflege des ,befreiten‘, d.i. aber entwurzelten Geistes. Die Schule entartete, indem sie dem Irrlicht der reinen Bildung folgte.“90
87 So: Carl Weiß, Schule und Lehrer zwischen Volk und Staat, in: Die Deutsche Schule 37 (1933), S. 271. 88 Weiß, ebenda, S. 270. 89 Zitat: Karl Friedrich Sturm, Gestaltwandel der deutschen Schule: 1885–1912– 1935, in: Die deutsche Schule 39 (1935), S. 108. 90 Zitat: Sturm, ebenda. Siehe auch das noch in der Weimarer Zeit erstmals 1930 unter dem Titel „Die pädagogische Reformbewegung der jüngsten deutschen Vergangenheit“ veröffentlichte, nach 1933 umgeschriebene Werk dieses danach führenden NS-Pädagogen und Oberregierungsrat im sächsischen Volksbildungsministerium: Karl Friedrich Sturm, Deutsche Erziehung im Werden. Von der pädagogischen Reformbewegung zur völkischen und politischen Erziehung, 4. Aufl., Osterwieck/Berlin 1938.
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Darin wurde, wie auch in der allgemeinen Hetze gegen die Weimarer Republik, ein Versagen des liberalen Staates und der ihn angeblich beherrschenden Parteien gesehen. Dieser habe sich im Grunde nicht als der Herr der Schule betrachtet, sondern als der Garant einer autonomen pädagogischen Provinz. „Je mehr der liberale Staat auf sein Selbstsein verzichtete, desto mächtiger wurden die gesellschaftlichen Gruppen und am Ende zeigte sich, dass der Staat gar nicht mehr die Macht hatte, die Freiheit der pädagogischen Provinz zu sichern, sondern dass die Staatsschule mehr und mehr dem Einfluß von Konfessionen und Parteien ausgesetzt war.“91 In der Schule des Nationalsozialismus war allerdings nicht nur für die Reformpädagogik, sondern generell – bis auf anfänglich noch tolerierte periphere Ausnahmen etwa im Landschulbereich – für Schulversuche kein Platz mehr. Der totalitäre Anspruch des NS-Staates, die Jugend im Sinne seiner rassisch-völkischen Ideologie und seinen Normen und Zielen gemäß zu „nationalsozialistischen Menschen“ zu formen, erforderte einheitliche Vorgaben für die Schulen.92 Der selbst ernannte „Erziehungsstaat“ konnte und wollte deshalb keine Abweichungen dulden, und auch keine Erzieher neben sich außerhalb der staatlichen Einflusssphäre – wie etwa private Schulen – haben. Mit den Worten Hitlers Anfang Juli 1937: „Und das neue Reich wird seine Jugend niemandem geben, sondern sie selbst in seine Erziehung und in seine Bildung nehmen.“93 91 Zitat:
Weiß, Schule, S. 268. § 1 Abs. 1 Satz 2 Gesetz über die Schulpflicht im Deutschen Reich (Reichsschulpflichtgesetz) v. 06.07.1938 (RGBl. I S. 799): „Sie (die allgemeine Schulpflicht) sichert die Erziehung und Unterweisung der deutschen Jugend im Geiste des Nationalsozialismus.“ Außerdem besonders deutlich: Erlass des Reichserziehungsministers über „Erziehung und Unterricht in den Höheren Schulen“ v. 29.01.1938 (ABl. RMWEV S. 46): „Die deutsche Schule ist ein Teil der nationalsozialistischen Erziehungsordnung. Sie hat die Aufgabe, im Verein mit den anderen Erziehungsmächten des Volkes, aber mit den ihr eigentümlichen Erziehungsmitteln den national sozialistischen Menschen zu formen.“ (Wiederabdruck bei: Renate Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus und Schule. Amtliche Erlasse und Richtlinien 1933–1945, Opladen 1989, S. 105). 93 Zitiert nach: John S. Conway, Die nationalsozialistische Kirchenpolitik. Ziele, Widersprüche und Fehlschläge, München 1969, S. 196. – Das drastische, ganz auf die kriegerische Auseinandersetzung ausgerichtete Ziel Hitlers in der Jugenderziehung ist dokumentiert bei: Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich/New York 1940, S. 237. Dort ist unter Bezugnahme auf die Erziehung in den damals neu errichteten NS-Ordensburgen zu lesen: „Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. … Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. Ich werde sie in allen Leibesübungen ausbilden lassen. Ich will eine athletische Jugend. … Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend.“ Unter der Überschrift „Erziehungsgrundsätzen des völkischen Staates“ hatte Hitler dies in „Mein Kampf“ wie folgt kundgetan: „Der Völkische Staat hat … seine 92 Siehe:
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
Schule und Erziehung waren aus nationalsozialistischer Sicht zentrale Instrumente der Machtsicherung. Wie der einzelne Schüler nicht als Individuum, sondern nur als Teil der Gemeinschaft zählte, hatte auch die einzelne Schule nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie ihren Beitrag zum Wohl der „Volksgemeinschaft“, verkörpert im neuen „nationalen Gemeinschaftsstaat mit Führerprinzip“,94 erbrachte. Deshalb hoben die NS-Pädagogen hervor, das Schwergewicht der Schularbeit liege wieder in dem, was sie lehre, nicht in dem, wie sie lehre. Es gebe einen Kanon verbindlicher Lehrgüter, der von allen Schulen überliefert werden müsse.95 Die Zeit der früheren „Inselhaftigkeit und Zerfahrenheit des Schullebens“ sei durch den Nationalsozialismus überwunden.96 5. Landerziehungsheime, Waldorfschulen und einzelne ländliche Versuchsschulen in der NS-Zeit a) Landerziehungsheime Nur scheinbar überdauerten die meisten Landerziehungsheime als reformpädagogische Inseln die NS-Zeit. Die Nationalsozialisten schlossen im Frühjahr 1933 zunächst sofort diejenigen Heime, die sie als „links“ und „marxistisch“ einstuften, die Walkemühle bei Melsungen in Hessen unter der Leitung der sozialistischen Reformpädagogin Minna Specht (1879–1961)97 und die Freie gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung.“ Zitiert nach: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 2, S. 186. 94 Zur Begrifflichkeit und ideologisch befrachteten Rechtfertigung: (Günther) Küchenhoff, Das staatsrechtliche Wesen des Dritten Reiches, in: JR 1934, S. 19 f. 95 Vgl. Sturm, Gestaltwandel, S. 109 f. 96 Zitat: Sturm, ebenda, S. 108. 97 Zur Schließung der Schule, einschließlich Hausdurchsuchungen und Bücherbeschlagnahmen: Rudolf Giesselmann, Geschichten von der Walkemühle bei Melsungen in Nordhessen. Wirkungsfeld von Minna Specht, Leonard Nelson, IJB und ISK, 2. Aufl., Kassel 1997, S. 90 ff., dort auch Ablichtung der Zustimmung des preußischen Kultusministeriums an die Regierung in Kassel vom 29.03.1933 (Az.: U II J Nr. 373) zur Einziehung des Erlaubnisscheines zur Aufnahme schulpflichtiger Kinder, dessen sofortige Rücknahme zwei Wochen vorher der örtliche Landrat beantragt hatte. Siehe auch: Inge Hansen-Schaberg, Minna Specht – Eine Sozialistin in der Landerziehungsheimbewegung (1918 bis 1951). Untersuchung zur pädagogischen Biographie einer Reformpädagogin, Frankfurt a.M. 1992.
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Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen bei Magdeburg unter Leitung des Reformpädagogen Bernhard Uffrecht (1885–1959).98 Die Leiter von Schloss Salem sowie der Odenwaldschule, Kurt Hahn (1886– 1974) und Paul Geheeb (1870–1961), wurden durch nationalsozialistische Übergriffe persönlich bedroht. Sie sahen sich im Juli 1933 bzw. März 1934 zur Emigration gezwungen, wobei sie durch Schulneugründungen in Schottland (Gordonstoun) und der Schweiz (Ecole d’Humanité) ihre reformpädagogischen Ideen weiter verfolgten. Da er insbesondere 1932 in einem Rundschreiben an ehemalige Schüler im „Salemer Bund“, die der SA oder SS angehörten, zur Distanzierung von Hitler aufgerufen hatte, wurde nach der Machtergreifung eine Hetzkampagne gegen den – wegen seiner engen Beziehungen zum badischen Fürstenhaus, dem Mitträger von Schloss Salem – als „Hofjuden“ beschimpften Hahn geführt und im März 1933 fünf Tage „Schutzhaft“ gegen ihn vollstreckt.99 Geheeb wurde zunächst Opfer eines Racheaktes einer örtlichen NS-Größe, dessen Vater 15 Jahre zuvor von dem Schwiegervater Geheebs und Finanzier der Odenwaldschule, dem jüdisch-stämmigen Max Cassierer, aus dessen Zellulosefabrik in Schlesien entlassen worden war. Nach anfänglichen Versuchen, trotz aller Anfeindungen und Ressentiments einen modus vivendi – selbst unter großen Zugeständnissen bis hin zur Entlassung eines Großteils des bisherigen Lehrerkollegiums – zu finden, musste Paul Geheeb schließlich die Aussichts losigkeit dieses Unterfangens erkennen, zumal zwischenzeitlich durch neue, nationalsozialistische Lehrkräfte an der Odenwaldschule die Konflikte in die Schule hineingetragen worden waren.100 Beide Landerziehungsheime, die Odenwaldschule und Schloss Salem, wurden nach Austausch der Leitungen nicht geschlossen, sondern passten sich dem 98 Zu den Hintergründen der Schulschließung: Ulrich Uffrecht, Die Freie Schulund Werkgemeinschaft Letzlingen. Ein Schulversuch von bleibender Bedeutung, in: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 33 (1993), S. 549-570. – Zur Reformschule siehe die zeitgenössischen Darstellungen ihres Leiters: Bernhard Uffrecht, Die Freie Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen, in: Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 137–155; ders., Der Gedanke der erziehungsfreien Gemeinschaft und seine Durchführung in der Freien Schul- und Werkgemeinschaft Letzlingen, in: Alfred Andreesen (Hrsg.), Das Landerziehungsheim, Leipzig 1926, S. 40-47. 99 Dazu: Peter Friese, Kurt Hahn. Leben und Werk eines umstrittenen Pädagogen, Bremerhaven 2000, S. 115 ff.; Ruprecht Poensgen, Die Schule Schloß Salem im Dritten Reich, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), S. 29 ff. 100 Dazu eingehend: Dennis Shirley, Reformpädagogik und Nationalsozialismus. Die Odenwaldschule 1910 bis 1945, Weinheim/München 2010, insb. S. 107 ff. – Zur pädagogischen Ausrichtung der Odenwaldschule bis 1934: Ulrich Herrmann (Hrsg.), Die Odenwaldschule 1909–1934. Texte von Paul Geheeb. Berichte und Diskussionen von Mitarbeitern und Schülern, Jena 2010.
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
nationalsozialistischen Schuldiktat an. Auf Initiative von Eltern und Lehrkräften als „Gemeinschaft der Odenwaldschule“ neu gegründet sowie unter der Leitung zweier langjähriger Lehrer und bis dahin auch Vertrauten Geheebs an der Schule wurden hier nunmehr weitgehende Eingriffe in die Schulgemeinde hingenommen. Dazu gehörten die Abschaffung der Koedukation und des bisherigen flexiblen Kurssystems, der Einzug von Nazi-Ritualen, militärischen Übungen und Hitler-Jugend sowie generell die Einordnung in das nationalsozialistische Schulsystem. Zugleich gab es Äußerungen der Schulleitung, in denen diese ihre Loyalität zum Nationalsozialismus bekundete, und schließlich erfolgte auch der ihr nahegelegte Beitritt zur NSDAP. Anderseits war die Schule offenbar für eine große Zahl von Schülern, auch einigen jüdischen Kindern, ein sicherer Ort, die Zeit des Nationalsozialismus durchzustehen.101 Nicht viel anders verlief die Entwicklung in Schloss Salem. Nach der Entfernung Hahns unterwarf man sich auch hier, um die Schule weiterführen zu können, der nationalsozialistischen Schulideologie und gab faktisch die bisherige Unabhängigkeit auf. Die Schulleitung versicherte am 20.05.1933 gegenüber dem badischen Erziehungsministerium, Salem werde zukünftig „alles tun, was der Erziehung der Schüler im Geiste des neuen Deutschlands förderlich ist“.102 In Salem traten fast alle Schüler der HJ sowie zahlreiche Lehrer dem NS-Lehrerbund bei. Die beiden letzten jüdischen Schüler mussten Salem 1938 verlassen und wie in den Regelschulen hielten der „deutsche“ Gruß und die „nationalen“ Feiern Einzug in den Schulalltag. Andererseits bemühte man sich, nicht zuletzt trotz seiner Parteimitgliedschaft der 1934 eingesetzte Schulleiter, bis Ende 1943 gewisse pädagogische Vorstellungen Hahns und damit ein Stück Salemer Identität zu erhalten, was verschiedentlich zu Konfrontationen führte. Anfang 1944 wurde die Schule schließlich einer SS-Leitung unterstellt und quasi verstaatlicht, alle noch verbliebenen Lehrer aus der Zeit Hahns hatten die Schule im Dezember zu verlassen.103 Auch die jüdische Reformpädagogin Anna Essinger (1879–1960) verließ Deutschland im September 1933, nachdem das von ihr geleitete kleine Landschulheim in Herrlingen bei Ulm seit dem Juden-Boykotttag am 01.04.1933 zunehmenden Angriffen ausgesetzt war. 65 Kinder folgten ihr nach England, wo sie eine neue Schule gründete (New Herrlingen / Bunce Court School). Jedoch hatte sie noch vor ihrer Emigration die Weiterführung des Landschulheims Herr-
101 Näher hierzu: Shirley, ebenda, S. 218 ff., 250 ff.; Hartmut Alphei, Mitmachen oder Widersetzen? Die Landerziehungsheime in der NS-Zeit, in: Inge Hansen-Schaberg/Bruno Schonig (Hrsg.), Basiswissen Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 2: Landerziehungsheim-Pädagogik, Baltmannsweiler 2002, S. 237 ff. 102 Zitiert nach: Poensgen, Schloß Salem, S. 38. 103 Siehe eingehend: Poensgen, ebenda, S. 49 ff.
4. Kap.: Bildungspolitische Zäsur im Nationalsozialismus
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lingen als „jüdische“ Privatschule beantragt.104 Die Genehmigung hierzu wurde offenbar vor dem Hintergrund erteilt, dass mit dem „Gesetz über die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25.04.1933105 begonnen worden war, jüdische Schüler aus „deutschen“ Schulen zu vertreiben. Der Anteil „nichtarischer“ und damit gemeint jüdischer Schüler und Studenten an der gesamten Schüler- bzw. Studentenschaft durfte nach § 4 dieses Gesetzes nicht mehr den Anteil der „Nichtarier“ an der Gesamtbevölkerung übersteigen, wobei eine am selben Tag erlassene Ausführungsverordnung des Reichsinnenministers festlegte, dass der Prozentsatz „nichtarischer“ Schüler bei der Neuaufnahme in einer „deutschen“ Schule 1,5 %, im Falle der Herabsetzung der Gesamtschülerzahl einer Schule bei „Überfüllung“ den Höchstanteil von 5 % aller Schüler nicht überschreiten durfte.106 Dies galt nicht nur für öffentliche, sondern nach § 1 der Verordnung auch für private Schulen. Der Bedarf an „jüdischen“ Privatschulen erhöhte sich noch, nachdem der Reichserziehungsminister kurz nach der „Reichskristallnacht“ mit Erlass vom 15.11.1938 angeordnet hatte, dass Juden keine „deutschen“ Schulen mehr besuchen durften.107 Das nunmehr jüdische Landschulheim in Herrlingen, dessen deutsche Schüler und Lehrer 1933 die Schule hatten verlassen müssen, arbeitete noch bis Ostern 1939 weiter, vornehmlich als Zufluchts- und Vorbereitungsort für die Emigration nach Palästina.108 Das Heim 104 Siehe dazu: Jürgen Krause, Verdrängte Reformpädagogik. Anna Essinger und ihr Landschulheim in Schwaben und in Kent, in: Monika Lehmann/Hermann Schnorbach (Hrsg.), Aufklärung als Lernprozeß. Festschrift für Hildegard Feidel-Mertz, Frankfurt a.M. 1993, S. 171-179; Sara Giebeler, Das Landschulheim Herrlingen – gegründet von Anna Essinger, in: dies. (Hrsg.), Profile jüdischer Pädagoginnen und Pädagogen, Ulm 2000, S. 40-74. 105 RGBl. I S. 225. 106 § 8 „Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ v. 25.04.1933 (RGBl. I S. 226). 107 Runderlass an die Unterrichtsverwaltungen der Länder v. 15.11.1938 (ABl. RMWEV S. 520); Wiederabdruck: Fricke-Finkelnburg, Nationalsozialismus und Schule, S. 271. – Nach Beginn der Deportationen der Juden in Ghettos und Vernichtungslager wurde mit Erlass v. 07.07.1942 (nicht amtlich veröffentlicht) jegliche Beschulung jüdischer Kinder untersagt und die Schließung aller noch bestehenden jüdischen Schulen angeordnet. Erlasstext wiedergegeben bei: Benjamin Ortmeyer, Schulzeit unterm Hitlerbild. Analysen, Berichte, Dokumente, Frankfurt a.M. 2000, S. 47 mit Quellennachweis. 108 In der „Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung“ v. 01.11.1933 war unter der Überschrift „Jüdisches Landschulheim in Herrlingen bei Ulm an der Donau“ dessen Zielsetzung wie folgt beschrieben gewesen: „Es soll etwa 70 Kinder aufnehmen, entspricht in seinem Lehrziel dem Typ des Reform-Realgymnasiums und ist als jüdische Erziehungsinstitution durch ministeriellen Erlass der Regierung von Württemberg anerkannt. Seine Aufgaben lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: Heimischmachung der Kinder im deutschen und jüdischen Kulturkreise, ihre sprachliche Vorbereitung auf die Auswanderung, Vorbereitung auf handwerkliche, gärtnerische und
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
wurde aufgegeben, als auch die Lehrkräfte und Mitarbeiter zum größten Teil im Laufe des vorangegangenen Halbjahres ausgewandert waren.109 Dem Heim blieb damit ein solch dramatisches Ende erspart, wie es zwei andere jüdische Landschulheime in Caputh und Coburg, die ebenfalls erst im Zuge der Judenverfolgungen nach 1933 aufgebaut worden waren, erlitten; letztere wurden während der Novemberprogrome 1938 überfallen und zerstört.110 Völlig anders verlief die Entwicklung in den Lietz’schen Landerziehungsheimen. Dort begrüße man die nationalsozialistische Machtergreifung seitens der Lehrer- wie Schülerschaft nachdrücklich. Dies gilt vor allem für Alfred Andreesen (1886–1944), der seit dem Tod von Hermann Lietz im Jahr 1919 die Oberleitung der acht „Hermann-Lietz-Schulen“ innehatte und zugleich Sprecher aller Landerziehungsheime war. Er behauptete fortan in einer Reihe von Veröffentlichungen, dass alle grundsätzlichen Gedanken der nationalsozialistischen Erziehungsidee sich schon bei Lietz fänden und viele „Männer des neuen Deutschlands“ durch dessen Schriften beeinflusst wären.111 Lietz sei ein „Wegbereiter und Prophet des neuen Deutschlands“.112 Die bei Hermann Lietz zu findenden nationalistischen Töne wurden jetzt in den Vordergrund gestellt und ebenso seine ausgeprägte antisemitische Haltung, die besonders durch den so bezeichneten „Haubindaer Judenkrach“ bekannt geworden war. Im Landschulheim Haubinda hatten 1903 ein jüdischer Lehrer und mehrere jüdische Schüler zunächst Anstoß an dem Bezug einer antisemitischen Zeitschrift durch die Schule genommen. Die Auseinandersetzung spitzte hauswirtschaftliche Ausbildung im Rahmen der beruflichen Umschichtung der Juden.“ (Wiederabdruck als Online-Ressource: http://www.alemannia-judaica.de/herrlingen_ synagoge.htm). 109 Siehe: Lucie Schachne, Erziehung zum geistigen Widerstand. Das jüdische Landschulheim Herrlingen 1933–1939, Frankfurt a.M. 1986. 110 Dazu: Hildegard Feidel-Mertz, Jüdische Landschulheime im nationalsozialistischen Deutschland, in: Inge Hansen-Schaberg/Bruno Schonig (Hrsg.), Basiswissen Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 2: Landerziehungsheim-Pädagogik, Baltmannsweiler 2002, S. 171. 111 Siehe insb.: Alfred Andreesen, Die Arbeit der Heime im neuen Deutschland, Vortrag auf der Elternversammlung der Heime in Ettersburg am 22.7.1933, in: Leben und Arbeit. Von Bürgern und Freunden der Deutschen Landerziehungsheime 16 (1933/34), S. 52. 112 Zitat: Alfred Andreesen, Hermann Lietz. Der Schöpfer der Landerziehungsheime, München o.J. (1934), S. 5. – Bemerkenswert auch die Aussage, dass Lietz „mit Recht darum nicht nur als Vorläufer, sondern geradezu als Vorkriegsnationalsozialist bezeichnet wird. Was Lietz pädagogisch erstrebte, hat Hitler politisch durchgesetzt.“ Zitat: Alfred Andreesen, Gegenwartsaufgaben der Landerziehungsheime, in: Die Erziehung. Monatsschrift für den Zusammenhang von Kultur und Erziehung in Wissenschaft und Leben 9 (1934), S. 354.
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sich zu und führte zur Trennung von der Schule, nachdem Lietz in den Schulprospekt einen Passus eingefügt hatte, wonach Juden nur ausnahmsweise aufgenommen würden.113 Er begründete dies später in seinen Lebenserinnerungen 1921 damit, dass die Zahl der „Juden, Russen und Polen“ in seinem Heim überhandgenommen habe, wodurch „der einheitliche und nationale Charakter des Heims in Frage gestellt“ worden sei.114 Die Lietz’schen Landschulheime überstanden angesichts ihrer Anpassungsbereitschaft auch die ab 1938 einsetzende massive Verdrängung der Privatschulen, die vor allem die zunächst nach der Machtergreifung unangetastet gebliebenen kirchlich getragenen Schulen und Internate traf. Nachdem mit Erlass vom 22.02.1938115 eine Überprüfung aller höheren Privatschulen angeordnet worden war, wurde mit Erlass vom 05.04.1939116 die Anerkennung privater höherer Schulen davon abhängig gemacht, dass erstens ein – äußerst restriktiv definiertes – öffentliches Bedürfnis für die jeweilige Schule bestehen und zweitens die Schule und ihr Unterhaltsträger die Gewähr für eine nationalsozialistische Erziehung bieten mussten. Aufgrund dieser verschärften Bedingungen schlossen die Schulaufsichtsbehörden trotz einer im Reichskonkordat gegebenen Bestandszusicherung für katholische Ordensschulen117 bis zum Jahr 1940 alle kirchlichen Privatschulen, wenn sie nicht bereits ihre Selbstauflösung beschlossen hatten.118 Hingegen wurden, weil hier keine ideologische Konkurrenz mehr vorlag, beide Kriterien für die noch bestehenden Landschulheime offensichtlich als erfüllt 113 Siehe dazu: Ralf Koerrenz, Hermann Lietz. Grenzgänger zwischen Theologie und Pädagogik, Frankfurt a.M. 1989, S. 66 ff.; Skiera, Reformpädagogik, S. 176. 114 Siehe, einschließlich Zitat: Hermann Lietz, Lebenserinnerungen: Von Leben und Arbeit eines deutschen Erziehers, 2. Aufl., Veckenstedt am Harz 1921, S. 185 ff. Zur Begründung führte er weiter aus: „Die halb oder ganz semitischen Schüler zeigten meist wenig Lust und noch geringere Fähigkeit für praktische Arbeiten. An geistiger Gewandtheit, Schlagfertigkeit übertrafen sie die Kameraden, die ihnen gegenüber oft schwerfällig und schüchtern erschienen.“ Lietz bemängelte, dass „die körperliche Arbeit und die schlichte ländliche Kultur herabgesetzt, wie jede Art städtischen Wesens ihr gegenüber bevorzugt wurde.“ 115 Erlass des Reichserziehungsministeriums „Zulassung privater Vorbereitungsanstalten als höhere Privatschulen“ v. 22.01.1938 (ABl. RMWEV S. 65). 116 Erlass des Reichserziehungsministeriums „Anerkennung privater höhere Schulen“ v. 05.04.1939 (ABl. RMWEV S. 258). 117 Art. 25 des Reichskonkordats: „Orden und religiöse Kongregationen sind im Rahmen der allgemeinen Gesetze und gesetzlichen Bedingungen zur Gründung und Führung von Privatschulen berechtigt. Diese Privatschulen haben die gleichen Berechtigungen wie die staatlichen Schulen, soweit sie die lehrplanmäßigen Vorschriften wie letztere erfüllen.“ Fundstelle: Bekanntmachung des Reichskonkordats v. 12.09.1933 (RGBl. II S. 679). 118 Dazu: Zymek, Schulen (Fn. 5), S. 201; Eilers, Schulpolitik, S. 92 ff. – Viele konfessionelle Privatschulträger gaben den Schulbetrieb auch wegen der bereits vorher
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1. Teil: Der Schulversuch im deutschen Schulwesen bis 1945
angesehen. Sie standen alle auf einer von einem neu geschaffenen Pflichtverband, der „Reichsgemeinschaft der deutschen Privatschulen e.V.“, herausgegebenen Liste der „als gleichwertig anerkannten“ privaten höheren Schulen.119 erheblich zugenommenen einschnürenden Maßnahmen gegen das Fortbestehen von Privatschulen auf: ● Verbot für Beamte (einschließlich Lehrkräfte), ihre Kinder ohne zwingenden Grund auf Privatschulen zu senden und in Kuratorien und Verwaltungsräte privater Schulen mitzuwirken [Erlass v. 09.09.1937 (ABl. RMWEV S. 426), verschärft mit Erlass v. 17.03.1938 (ABl. RMWEV, S. 166)], sodann ausgeweitet auf alle Angehörigen des öffentlichen Dienstes [Erlass v. 21.11.1938 (ABl. RMWEV S. 530)], ● Nachweis der „arischen Abstammung“ (einschließlich des Ehepartners) und Gewähr des jederzeitigen rückhaltlosen Eintretens für den nationalsozialistischen Staat durch den Träger der Privatschule und dessen Schulleiter [mehrere, in Abständen verschärfte Erlasse, zuletzt v. 15.10.1936 (ABl. RMWEV S. 466)], ● Verpflichtung zur Ablegung eines Treuegelöbnisses auf den NS-Staat für alle Leiter und Lehrkräfte von Privatschulen [Erlass v. 18.03.1937 (ABl. RMWEV S. 150)], ● massive Einschränkung der „Gewährung von Staatszuschüssen für private höhere Schulen für die weibliche Jugend“ [Erlass v. 23.03.1936 (ABl. RMWEV S. 163)], ● Aufhebung der Umsatzsteuerbefreiung für private Internate [Streichung des vorherigen § 2 Ziff. 11 des Umsatzsteuergesetzes i.d.F. v. 08.05.1926 (RGBl. I S. 218) durch die Novellierung des Umsatzsteuergesetzes v. 14.10.1934 (RGBl. I S. 942)], ● Beseitigung der Grunderwerbsteuerbefreiung, in dem diese nunmehr in jedem Einzelfall von einer – für kirchliche Schulen verweigerten – ministeriellen Anerkennung abhängig gemacht wurde, dass der Betrieb der Privatschule im Rahmen der staatlichen Aufgaben lag [§ 4 Ziff. 7 Grundsteuergesetz v. 01.12.1936 (RGBl. I S. 986)]. Zu diesen Verdrängungsmaßnahmen zählten auch der 1938 erfolgte Widerruf der Anerkennung deutscher Ordensschulen im Ausland (meist im grenznahen Orten gelegen) als den reichsdeutschen höheren Lehranstalten gleichwertige Schulen sowie der gleichzeitig erfolgte Entzug deren Rechts zur Abhaltung der Reifeprüfung [Erlass v. 19.08.1938 (ABl. RMWEV S. 429)]. Exemplarisch zur Schließung von katholischen Privatschulen: Friedrich Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland 1933–1945. Religionsverfolgung und Selbstbehauptung der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit, Berlin 1965, S. 76 (für das Bistum Berlin); Ulrich von Hehl, Katholische Kirche und Nationalsozialismus im Erzbistum Köln 1933–1945, Mainz 1977, S. 144 ff., 186 ff. (für das Erzbistum Köln); Hans Lipp, Erinnerung an eine dunkle Zeit, in: Forum. Zeitschrift der Schulstiftung der Erzdiözese Freiburg Nr. 30 (12/2000); als Online Ressource „Forum online“: http://www. schulstiftung-freiburg.de/de/forum/pdf/pdf_143.pdf (für die badischen Klosterschulen). – Nach Angaben, die bei Eilers [Schulpolitik, S. 98] zu finden sind, wurde die Zahl der höheren Privatschulen von 401 im Jahre 1931 auf 85 im Jahre 1940 dezimiert. 119 Vgl.: Alphei, Landerziehungsheime in der NS-Zeit (Fn. 101), S. 221 f. – Der Beitrittszwang zur „Reichsgemeinschaft der deutschen Privatschulen e.V.“ wurde für die höheren privaten Schulen durch Ziff. II 4 des Erlasses vom 05.04.1939 eingeführt, für die mittleren privaten Schulen danach mit dem Erlass des Reichserziehungsministeriums „Reichsgemeinschaft der Privatschulen e.V.“ v. 26.07.1939 (ABl. RMWEV S. 437).
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Die Landschulheime verloren jetzt allerdings endgültig ihren Versuchscharakter. Im letzteren Erlass war nämlich ausdrücklich unter Ziff. IV festgelegt, dass auf die Unterrichtsgestaltung der den öffentlichen höheren Schulen als gleichwertig anerkannten privaten höheren Schulen grundsätzlich alle für das öffentliche Schulwesen ergangenen Vorschriften Anwendung fanden. Abweichungen waren nur noch zulässig, wenn sie mit Rücksicht auf besondere Aufgaben der Schule notwendig waren, und bedurften der Genehmigung durch die Schulaufsichtsbehörde. Bezüglich des Lehrplans war dies nochmals hervorgehoben, indem die „grundsätzliche Übereinstimmung des Erziehungszieles und des Lehrplanes mit denen der öffentlichen höheren Schule (Oberschule)“ angeordnet wurde (Ziff. II 3 unter Verweis auf Abschnitt B Ziff. 2a des Vorschalterlasses vom 22.02.1938). Vor dem Hintergrund, dass man wegen der Kriegsfolgen immer mehr Internatsplätze für Kriegswaisen und bombengefährdete Kinder aus den Städten benötigte, griff der NS-Staat ab 1941 auf alle bestehenden Internate zu. Sie wurden einem „Inspekteur für die deutschen Heimschulen“ unterstellt, dem SS-Obergruppenführer August Heißmeyer (1897–1979). Er hatte ab 1936 bereits die Leitung der 1933 gegründeten „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten“ (NPEA, im nichtamtlichen Sprachgebrauch „Napolas“) übernommen; 1942 wurde ihm auch noch die Leitung der „Reichsvereinigung deutscher Privatschulen“ übertragen.120 Sein Auftrag war nicht nur allgemein die Kontrolle der Privatschulen, sondern darüber hinaus alle privaten Internatsschulen als „Deutsche Heimschulen“ nicht nur in staatliche Hand, sondern vor allem wie bei den „Napolas“ in die Verfügungsgewalt der SS zu bringen, sie zwar nicht zur Heranbildung einer Führungselite, aber als Stätten der Indoktrination von ohne Eltern aufwachsenden Kindern und Jugendlichen für das System nutzbar zu machen.121 Zu den bis zum Kriegsende sukzessiv verstaatlichten 47 Privatschulen gehörte aus dem Kreis der Landschulheime anscheinend allerdings nur die vormalige „Freie Schulgemeinde Wickersdorf“.122 Die bis Kriegsende 43 „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten“ und die seit 1937 durch den Leiter der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley und den Reichsjugendführer Baldur v. Schirach als Einrichtung der HJ gegründeten 12 „AdolfHitler-Schulen“123 waren im Übrigen – im schulrechtlichen Sinne – keine neuen 120 Vgl.: Hermann Giesecke, Hitlers Pädagogen. Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung, 2. Aufl., Weinheim 1999, S. 142; Dirk Gelhaus/Jörn-Peter Hülter, Die Ausleseschulen als Grundpfeiler des NS-Regimes, Würzburg 2003, S. 69 ff. 121 Siehe dazu auch: Ines Hopfer, Geraubte Identität. Die gewaltsame „Eindeutschung“ von polnischen Kindern in der NS-Zeit, Wien u.a. 2010, S. 58 f. 122 Vgl.: Alphei, Landerziehungsheime in der NS-Zeit (Fn. 101), S. 222 f. 123 Siehe Erklärung der beiden Reichsleiter über die Adolf-Hitler-Schulen v. 17.01.1937, Abdruck in: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 2, S. 208:
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Versuchsschulen. Letztere waren zwar von Anfang an und die „Napolas“ mit zunehmender Einflussnahme der SS gänzlich der Kontrolle des Reichserziehungsministeriums entzogen, es kamen aber dennoch offenbar weitgehend die Lehrpläne der Deutschen Oberschule oder des Real-, teilweise auch des humanistischen Gymnasiums zur Anwendung. Zusätzlich wurde an diesen Ganztagsschulen in Internatsform allerdings ein besonderer nationalpolitischer Unterricht erteilt und das Schwergewicht auf eine vormilitärische Ausbildung gelegt, denn sie sollten als Ausleseschulen den Führungsnachwuchs von Partei, SS und Wehrmacht heranbilden. Nach ihrem Selbstverständnis empfanden sich diese Schulen sowie die eine noch privilegiertere Sonderstellung einnehmende „Reichsschule der NSDAP Feldafing“ als Vorzeige- und Musterschulen bzw. Eliteschulen im NS-Staat.124 b) Waldorfschulen Eine wechselvolle Behandlung erfuhren die Waldorfschulen, von denen am Ende aber keine die NS-Zeit überstand. Auch hier gab es – wie bei der Landerziehungsheimbewegung, wenn auch nicht so massiv – anfangs Bemühungen nicht nur einzelner Waldorf-Vertreter, zur Sicherung des Fortbestands ihrer Schulen eine Verwandtschaft der Ideen des Gründers mit dem Nationalsozialismus aufzuzeigen, insbesondere die Betonung der „Rasse“ und der „Vererbung“ im Denken Steiners und seine antimodernistische Grundhaltung.125 Führte dies und die Ziff. 1: „Die Adolf-Hitler-Schulen sind Einheiten der Hitlerjugend und werden von dieser verantwortlich geführt. Lehrstoff, Lehrplan und Lehrkörper werden von den unterzeichnenden Reichsleitern reichseinheitlich bestimmt.“ Ziff. 5: „Die Schulaufsicht gehört zu den Hoheitsrechten des Gauleiters der NSDAP. Er übt sie entweder selbst aus oder übergibt die Ausübung dem Gauschulungsamt.“ 124 Zu diesen Ausleseschulen: Horst Überhorst (Hrsg.), Elite für die Diktatur, Düsseldorf 1969; Harald Scholtz, NS-Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Göttingen 1973; Gelhaus/Hülter, Ausleseschulen. 125 Vgl. die Bewertung unter Auswertung einschlägigen Aktenmaterials: Achim Leschinsky, Waldorfschulen im Nationalsozialismus, in: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 23 (1983), S. 260 ff. Ihm folgend: Röhrs, Reformpädagogik, S. 33 f. – Dagegen die wenig überzeugende Kritik von heutigen Vertretern der Waldorfpädagogik: Stefan Leber/Manfred Leist, Notwendige Bemerkungen zum Beitrag „Waldorfschulen im Nationalsozialismus“, in: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 24 (1984), S. 79 ff. (hiergegen Replik: Achim Leschinsky, „Notwendige Bemerkungen“, aber falsche Gewißheiten. Eine kleine Replik zum Thema Waldorfschulen im Nationalsozialismus, in: ebenda, S. 91 ff.); Detlef Hardorp, Die deutsche Waldorfschulbewegung in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Inge Hansen-Schaberg/Bruno Schonig (Hrsg.), Basiswissen Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 6: Waldorf-Pädagogik, Baltmannsweiler 2002, S. 132 ff. Abwägender: Uwe Werner, Anthroposophen in der Zeit
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mehrfache Intervention des an der Waldorfpädagogik Interesse zeigenden Rudolf Hess, dem Stellvertreter des Führers, zwar nicht zur sofortigen Auflösung nach der Machtergreifung, so wurde beginnend mit der Stuttgarter Gründerschule und dann im März 1936 für alle Waldorfschulen durch das Reichsschulministerium eine generelle Sperre für die Aufnahme neuer Schüler verfügt. Vorher war bereits 1935 die Anthroposophische Gesellschaft und – wie bereits erwähnt – die Verbreitung von entsprechenden Schriften Steiners verboten worden. Sechs der zur Zeit der Machtergreifung bestehenden neun Waldorfschulen stellten angesichts der Bedrängungssituation zwischen 1936 und 1940 ihren Betrieb ein. Für diesen Schritt soll zumindest bei zwei Schulen in Berlin und Hamburg-Altona neben dem Verbot von Neuaufnahmen die konkrete Aufforderung an die Lehrerschaft, ein Treuegelöbnis auf Führer und NS-Staat abzugeben,126 mit ausschlaggebend gewesen sein; eine Waldorfschule in Essen löste sich 1936 lediglich aufgrund interner Probleme auf. Die Stuttgarter Waldorfschule wurde 1938 durch den für sein hartes und fanatisches Vorgehen gegen alle Abweichler vom nationalsozia listischen Schuldiktat bekannten württembergischen Kultusminister zwangsweise geschlossen.127 Nach dem Verbot der Neuaufnahme ist es allerdings mehrfach zu Auseinandersetzungen im 1933 als Kooperationsorgan gegründeten Bund der Waldorfschulen über den weiteren Kurs – Einordnung ins System oder Verweigerung – gekommen. Die Leitung des Bundes unterstützte ersteres. Um den Jahreswechsel 1936/1937 stellten vier Waldorfschulen auf eine offenbar eher dilatorische Anregung des Reichserziehungsministeriums hin und mit Unterstützung des Hess-Stabes beim Ministerium den Antrag auf Weiterführung als „staatliche Versuchsschule“. Nach Besichtigung der Schulen durch eine Kommission aus Partei und Ministerium und eines, den Versuch wegen der Überwindung des „Intellektualismus“ durch die Waldorf-Pädagogik befürwortenden Gutachtens des führenden NS-Pädagogen Bäumler128 gewährte anscheinend das Reichserdes Nationalsozialismus (1933–1945), München 1999, passim; Norbert Deuchert, Der Kampf um die Waldorfschule im Nationalsozialismus, in: Flensburger Hefte, Sonderheft 8: Anthroposophen in der Zeit des deutschen Faschismus (1991), S. 109-128. 126 Zu dem entsprechenden Erlass v. 18.03.1937, siehe oben Fn. 118. 127 Zum historischen Verlauf: Leschinsky, Waldorfschulen, S. 261 ff.; Werner, Anthroposphen, S. 94 ff., 207 ff. 128 Siehe: Alfred Bäumler, Gutachten über die Waldorfschulen, Abdruck als Anhang bei: Leschinsky, Waldorfschulen, S. 255 ff., hier S. 279 ff. Unter Ziff. II heißt es dort, nachdem vorher Widersprüche zwischen Nationalsozialismus und Waldorfpädagogik bzw. Anthroposophie aufgezeigt werden, dass es in einem Punkt eine Schnittmenge gebe: „In dieser Hinsicht (Überwindung des ‚Intellektualismus‘) stellen die Waldorfschulen einen eigenartigen und unserer Beachtung würdigen Versuch dar, der in dieser Weise in der gesamten Schulgeschichte einzig ist.“ (S. 282). Am Ende steht als Ergebnis und Vorschlag: „In der vorliegenden Gestalt kann der Lehrplan der Waldorfschu-
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ziehungsministerium Anfang 1939 drei Waldorfschulen in Dresden, Hannover und Hamburg-Wandsbek den beantragten Status als Versuchsschule und hob für diese das Aufnahmeverbot für Schüler auf.129 In dem von der Hauptinitiatorin, der Dresdner Rudolf-Steiner-Schule, im Zuge des Genehmigungsverfahrens vorgelegten Entwurf einer „Konstitution“ für die Versuchsschulen war die Zusicherung enthalten, „auf dem Boden des nationalsozialistischen Staates“ zu arbeiten und an ihre Schule „nur politisch zuverlässige Persönlichkeiten“ zu berufen.130 Während die Genehmigung für die bereits wegen des Aufnahmeverbots in der Auflösung begriffene Waldorfschule in Hannover zu spät kam und die Wandsbeker Schule aufgrund der mit Kriegsbeginn erfolgten Dienstverpflichtung von Lehrkräften zur Aufgabe gezwungen worden war, konnte die Dresdner Schule zunächst auf der Versuchsschulgrundlage weiterarbeiten. Sie übernahm eine Reihe von Lehrern und Schülern aus den aufgelösten Waldorfschulen, wurde dann aber im Juli 1941, nachdem sie durch den England-Flug von Hess ihren Protektor verloren hatte, ebenfalls geschlossen. Dabei sollen die Parteistellen offensichtlich zunächst nur verlangt haben, die Schule – wie in der Versuchsschul-Konzeption ursprünglich vorgesehen – zu verstaatlichen.131 c) Ländliche Versuchsschulen Neben dem kurzlebigen Waldorf-Schulversuch wurden in der Zeit des Natio nalsozialismus nur noch im Bereich der Landschulen ausdrücklich als solche bezeichnete Schulversuche fortgeführt oder sogar – wie im Falle des bereits erwähnten Jena-Plan-Versuchs in Westfalen – auch erst eingeleitet. Die Landschulbewegung fügte sich dabei bis auf wenige Ausnahmen in die völkische „Blut und Boden“-Ideologie der Nationalsozialisten ein.132 Das Reichserziehungsministerium schien allerdings den Überblick über diese ländlichen Initiativen verloren zu haben und wollte wohl auch die divergierenden Versuchsansätze einfangen und erheblich begrenzen, als es mit Runderlass vom 13.02.1937 len nicht in Geltung bleiben. Die schon verfügte Aufnahmesperre muß daher aufrecht erhalten werden. Mit Rücksicht auf die großen Vorzüge der Waldorfpädagogik ist zu erwägen, ob es möglich wäre, staatliche Versuchsschulen unter Zugrundelegung eines modifizierten Waldorf-Lehrplans aufzubauen.“ (S. 283). 129 Vgl.: Leschinsky, ebenda, S. 268; Werner, Anthroposphen, S. 207 ff.; Deuchert, Waldorfschule im Nationalsozialismus, S. 217 ff. 130 Zitiert nach: Leschinsky, ebenda, S. 269. 131 Vgl.: Leschinsky, ebenda, S. 272; Werner, Anthroposphen, S. 217 ff. 132 Siehe dazu mit Belegen: Jörg-W. Link, Ländliche Reformschulen in ihrer Konzeption und Praxis zwischen 1918 und 1945, in: Inge Hansen-Schaberg/Bruno Schonig (Hrsg.), Basiswissen Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 1: Reformpädagogik. Geschichte und Rezeption, Baltmannsweiler 2002, S. 166 ff.
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zunächst einmal alle Genehmigungen für Versuchsschulen im Volksschulbereich zurückzog, allerdings mit der Option einer erneuten Genehmigung nach entsprechender Prüfung. Hierfür wurde eine „besondere Leistung“ der Schule zur unerlässlichen Grundvoraussetzung erhoben, wobei rein methodische Versuche in einzelnen Fächern künftig keinen Schulversuch mehr rechtfertigten.133 Inwieweit nach diesem nationalsozialistischen Versuchsschulerlass noch neue Genehmigungen erteilt wurden, kann nicht festgestellt werden. Es sollen allerdings mit einem Erlass vom 14.09.1938 auf Anregung des Reichsnährstandes und des NSLB ländliche Versuchskreise mit nun so bezeichneten Beispielschulen eingerichtet worden sein.134 Abschließend ist auf den heute bekanntesten ländlichen Schulversuch im Dritten Reich, denjenigen von Adolf Reichwein (1898–1944) in Tiefensee bei Berlin hinzuweisen. Nach seiner aus politischen Gründen 1933 erfolgten Beurlaubung als Professor an der als „rote Akademie“ geschlossenen Pädagogischen Hochschule in Halle/Saale konnte er durch persönliche Kontakte zum Ministerium als Volksschullehrer die einklassige evangelische Landschule in dem 300 Einwohner und davon 40 Schüler zählenden brandenburgischen Dorf übernehmen. 1934 erklärte man seine Schule für die seinerzeit im Aufbau befindliche Schulfilmarbeit inoffiziell zur „filmischen Versuchsschule“ der im gleichen Jahr gegründeten Reichsstelle für den Unterrichtsfilm. Reichwein wurde gebeten, über seine pädagogischen Erfahrungen mit dem Einsatz von Unterrichtsfilmen
133 Erlass „Volksschulen als Versuchsschulen“ v. 13.02.1937 (ABl. RMWEV S. 90): „Aus mehreren Berichten geht hervor, daß die als Versuchsschulen eingerichteten Volksschulen recht unterschiedlich behandelt werden. Um die Zahl dieser Schulen auf ein notwendiges Maß zu beschränken und den Überblick zu sichern, ordne ich an, daß die Genehmigungen für Versuchsschulen mit Ende des laufenden Schuljahres zurückgezogen werden. Für die neue Genehmigung ist die besondere Leistung der Schule eine unerläßliche Voraussetzung. Dabei sollen rein methodische Versuche in einzelnen Fächern (z.B. Ganzwortmethode im Lesen) keinen Anlaß zur Einrichtung als Versuchsschule geben. Für die Begründung eines Antrags muß eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt sein: 1. Die Volksschule ist mit weiterführenden Klassen organisch verbunden und weicht im Lehr- und Stundenplan von den geltenden Normalplänen ab. 2. Die Schule arbeitet nach einem Plan, der vom normalen Stundenplan der Volksschule abweicht. 3. Die Schule arbeitet nach einem besonderen Lehrplan (Stoffplan). Außerdem kann die Schulaufsichtsbehörde einer Schule einen Sonderauftrag zur Ausführung eines Versuchs erteilen. Um den Schulaufsichtsbehörden für die Prüfung der Anträge eine angemessene Frist zu sichern, gestatte ich, daß den Schulen zunächst für ein Schuljahr die Möglichkeit zur Erprobung ihres Versuchs gewährt wird. Danach ist mir eingehend zu berichten.“ 134 So: Link, Ländliche Reformschulen (Fn. 132), S. 169.
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in seiner Schule zu berichten.135 Bis 1938 entwickelte er sodann sein von der Wandervogelbewegung und der Arbeitsschulpädagogik der Weimarer Zeit inspiriertes „Schulmodell Tiefensee“, das er 1937 in seinem auch damals öffentlich beachteten Werk „Schaffendes Schulvolk“ vorstellte.136 Im Mittelpunkt steht danach das selbsttätige motivierende „Werk“-Schaffen der Schüler. Dabei lehnte Reichwein in kritischer Auseinandersetzung mit der reformpädagogischen „Bewegung vom Kinde“ eine überzogene, ganz auf sich gestellte Freiheit, ohne moralische und soziale Bindung, ohne Disziplin und Verantwortung für die Gemeinschaft ab, betonte vielmehr gerade auch deren Notwendigkeit. Methodisch bedeutete dies die jahrgangsübergreifende Arbeit in Projekten, das Lernen durch Naturbeobachtung, Mitarbeit im Schulgarten und durch Erkundungen von außerschulischen Lernorten wie Heimatmuseen und Betrieben, und alles geprägt durch das Leben in einer dörflichen Gemeinschaft.137 Da vieles hiervon, insbesondere die Verklärung des Landlebens, durchaus mit der NS-Erziehung kompatibel war, ist nachvollziehbar, weshalb anscheinend auf einer pädagogischen Insel Reichwein sein Unterrichtskonzept erproben konnte.138 Inwieweit er sich dabei, wie in einer neueren Forschungs arbeit herausgestellt wird, zielgerichtet im NS-Staat um öffentliche Anerkennung seiner pädagogischen Arbeit bemühte und dabei auch mit NS-Gliederungen 135 Vgl.: Ullrich Amlung/Peter Meyer, „Wir möchten eine ‚Nation von Selbstdenkern‘ werden.“ – Zur Medienpädagogik Adolf Reichweins, in: Uwe Sander/Friederike von Gross/Kai-Uwe Hugger (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik, Wiesbaden 2008, S. 33. 136 Adolf Reichwein, Schaffendes Schulvolk, 1. Aufl., Stuttgart/Berlin 1937; Neuausgabe 4. Aufl., Braunschweig 1967. Außerdem neu erschienen als: Adolf Reichwein, Schaffendes Schulvolk & Film in der Schule. Die Tiefenseer Schulschriften, Kommentierte Neuausgabe, 2. Aufl., Weinheim/Basel 1993. – Allgemein zu Person und Werk: Ullrich Amlung, Adolf Reichwein 1898–1944. Ein Lebensbild des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandskämpfers, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1991; Gabriele C. Pallat/Roland Reichwein/Lothar Kunz (Hrsg.), Adolf Reichwein: Pädagoge und Widerstandskämpfer. Ein Lebensbild in Briefen und Dokumenten (1914– 1944) mit einer Einführung von Peter Steinbach, Paderborn u.a. 1999. 137 Vgl. dazu: Ullrich Amlung, Adolf Reichweins Alternativschulmodell Tiefensee 1933–1939. Ein reformpädagogisches Gegenkonzept zum NS-Erziehungssystem, in: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg W. Link/Hanno Schmitt (Hrsg.), Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 268 ff.; ders., Reformpädagogische Unterrichtspraxis in der Zeit des Nationalsozialismus: Der oppositionelle Lehrer Adolf Reichwein an der einklassigen Landschule in Tiefensee/Mark Brandenburg von 1933 bis 1939, in: Reichwein, Kommentierte Neuausgabe (Fn. 136), S. 323 ff. 138 Ähnliche Einschätzung: Tatsuo Tsushima, Der „Pädagogische Widerstand“ unter dem nationalsozialistischen Regime: Reichweins Erziehungsarbeit an der Landschule in Tiefensee, in: Reichwein Forum Nr. 8/2006, S. 20.
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zusammenarbeitete,139 mag vorliegend dahinstehen. Zwar wurde ihm 1939 die Leitung der Museumspädagogik des Staatlichen Museums für Deutsche Volkskunde in Berlin übertragen; am 20.10.1944 wurde Adolf Reichwein aber wegen Mitgliedschaft im „Kreisauer Kreis“ – er galt als Kultusministerkandidat der Widerstandsbewegung des 20. Juli – durch den Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und noch am selben Tag in der Haftanstalt Berlin-Plötzensee gehängt.140
139 So: Christine Hohmann, Dienstbares Begleiten und später Widerstand. Der nationale Sozialist Adolf Reichwein im Nationalsozialismus, Bad Heilbrunn 2007, passim. 140 Dazu statt vieler: Wolfgang Klafki, Geleitwort, in: Reichwein, Kommentierte Neuausgabe (Fn. 136), S. 9.
Zweiter Teil
Der Schulversuch im deutschen Schulwesen von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart Erstes Kapitel
Vorbemerkungen zum Wiederaufbau des Schulwesens und der seitherigen allgemeinen schulgesetzlichen Entwicklung I. Schulpolitische Ausgangssituation der Nachkriegszeit in West- und Ostdeutschland Nach 1945 stand das Schulwesen in Deutschland zunächst vor der Aufgabe, nach einem verlorenen Krieg mit – anders als nach dem Ersten Weltkrieg – erheblichen Zerstörungen der schulischen Infrastruktur, einer überwiegend in materiellen und nach zwölf Jahren Nazi-Indoktrination auch geistigen Nöten lebenden Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft, einer Mangelgesellschaft in allen Lebensbereichen und in einem noch durch ausländische Siegermächte besetzten Land erst einmal wieder einen durch vielerlei Improvisationsmaßnahmen behelfsmäßigen Schulbetrieb herzustellen. Dabei waren der Besitz von Papier und Bleistift wichtiger als – nicht vorhandene – Lehrpläne und auch die Vorstellungen der Besatzungsmächte über eine grundlegende Neuorganisation des deutschen Schulwesens trafen angesichts dieser Situation jedenfalls in den westlichen Besatzungszonen auf wenig Interesse. Zudem waren große Teile des deutschen Bürgertums der Ansicht, das in der Tradition des Humboldt’schen Bildungsideals stehende und bis ins 20. Jahrhundert weltweit anerkannte deutsche Schulsystem dürfe nicht auch noch in den Strudel des Zusammenbruchs gezogen werden.1 1 Zur
Nachkriegssituation: Christoph Führ, Zur deutschen Bildungsgeschichte seit 1945. Einleitung, in: Christoph Führ/Carl Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 3 ff.; Thomas Ellwein, Die deutsche Gesellschaft und ihr Bildungswesen. Interessenartikulation und Bildungsdiskussion, in: Führ/
1. Kap.: Vorbemerkungen
213
In der Kontrollratsdirektive Nr. 54 vom 25.06.1947 hatten alle vier Besatzungsmächte auf amerikanische Anregung „Grundprinzipien für die Demokratisierung des Bildungswesens in Deutschland“ festgelegt, wonach durch einen Zehn-Punkte Plan „gleiche Bildungsmöglichkeiten für alle gewährleistet sein“ sollten.2 Alle Schulen sollten künftig ein zusammenhängendes Bildungssystem (comprehensive educational system) darstellen, mit Elementarbildung und weiterführender Bildung als zwei aufeinanderfolgenden Ausbildungsstufen. In einem kommentierenden Begleitschreiben der amerikanischen Militärregierung wurde verdeutlicht, dass damit zwei- und dreizügige Schulsysteme verboten seien.3 Diese Vorgabe wurde allerdings in den von den westlichen Alliierten Furck, ebenda, S. 89 ff.; Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 270 ff.; Franz-Michael Konrad, Geschichte der Schule. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2007, S. 99 ff.; Hans-Georg Herrlitz, Die Restauration der deutschen Erziehungswissenschaft nach 1945 im Ost-West-Vergleich, in: ders., Auf dem Weg zur Historischen Bildungsforschung. Studien über Schule und Erziehungswissenschaft aus siebenunddreißig Jahren, Weinheim/Berlin 2001, S. 180 ff. 2 Abdruck: Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 2, S. 233-235; Leonhard Froese (Hrsg.), Bildungspolitik und Bildungsreform. Amtliche Texte und Dokumente zur Bildungspolitik im Deutschland der Besatzungszonen, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, München 1969, S. 102. – Zur rechtlichen Einordnung der alliierten Kontrolleinrichtungen und deren Direktiven: Dieter Schröder, Die gegenwärtigen Kontrolleinrichtungen der Vier Mächte in Deutschland, in: Archiv des Völkerrechts 23 (1985), S. 42-73, insb. S. 46 ff. 3 Schreiben des Leiters der amerikanischen Erziehungsabteilung „Education and Religious Affairs Brunch“ im „Office of Military Government for Germany“ (OMGUS) v. 01.12.1947, Richard T. Alexander, an die Leiter der Erziehungsabteilungen der amerikanischen Militärregierung in Bayern, Hessen, Württemberg-Baden und Bremen. Abdruck: Hans Merkt, Dokumente zur Schulreform in Bayern, hrsg. vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, München 1952, S. 162. Siehe zur dahinterstehenden Intention entsprechende Passagen in einem Vortrag des Vorgängers als Leiter der OMGUS-Erziehungsabteilung, John W. Taylor, über „Die Grundlinien der Bildungspolitik der amerikanischen Regierung“ v. 19.02.1947 (Abdruck: Merkt, ebenda, S. 55, 57): „Die deutsche Schule spiegelt die undemokratische Spaltung des deutschen Volkes in soziale Gruppen und Klassen. Die demokratische Schule sichert allen Bürgern eine gleichwertige, jedoch nach Begabung und Berufsrichtung verschiedene Bildungsmöglichkeit. Sie ist in diesem Sinne eine differenzierte Einheitsschule. … Die größte Schwierigkeit liegt in der jahrhundertealten Tradition der deutschen Schulformen. … Die höhere Schule im alten deutschen Sinn, die privilegierte Schule, ist ein Unrecht gegen die Massen des Volkes und ein Anachronismus in einer demokratisch werdenden Welt.“ Die USA wollten letztlich ihr HighSchool-System auf Deutschland übertragen. Hierzu im Detail: Winfried Müller, Schulpolitik in Bayern im Spannungsfeld von Kultusbürokratie und Besatzungsmacht 1945–1949, München 1995, S. 111 ff., insb. auch, wie sich die bayerische Politik gegen diese Angleichung widersetzte mit dem Argument, dass zu einer ebenfalls für notwendig erachteten Demokratisierung der Schule nicht in erster Linie eine Veränderung der Schulstrukturen, sondern eine innere
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
verantworteten Teilen nur durch ein Gesetz für das Schulwesen des unter VierMächte-Verantwortung stehenden Berlin vom 26.06.1948 umgesetzt, dessen Verkündung noch zwei Tage nach der Blockade Westberlins und kurz vor der im Herbst stattfindenden Teilung der Stadt erfolgte. Das gemeinsam von SPD, SED und LDP erarbeitete und gegen die Stimmen der CDU beschlossene „Schulgesetz für Groß-Berlin“ sah eine „in sich gegliederte zwölfjährige Einheitsschule“ (§ 4) vor, die sich nach der 8. Klasse in einen Praktischen Zweig und einen Wissenschaftlichen Zweig aufteilte.4 In der Anordnung der Alliierten Kommandantur zur Inkraftsetzung des Gesetzes wurde es ausdrücklich als „Gesetz für Schulreform“ bezeichnet.5 In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war bereits vor der Kontrollratsdirektive ein Einheitsschulsystem durch das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ vom 31.05.1946 eingeführt worden.6 Dessen § 2 Abs. 2 lautete: „Die Form des öffentlichen Erziehungswesens ist ein für Jungen und Mädchen gleiches, organisch gegliedertes demokratisches Schulsystem – die demokratische Einheitsschule.“ In § 3 des Gesetzes war sodann unter der Überschrift „Aufbau und Gliederung der demokratischen Einheitsschule“ eine – ähnlich wie Erneuerung des Bildungswesens notwendig sei: Staatsbürgerliche Erziehung, Elternund Schülermitwirkung, Erhöhung Selbsttätigkeit der Schüler/Arbeitsschulprinzip, soziale Gleichberechtigung beim Zugang zur Bildung, Begabtenförderung, Schulgesundheitspflege, Verbesserung Volksschullehrerausbildung, Erhöhung Zahl der Kindergärten. Diese Position war festgelegt worden in einem Zwischenbericht des Staats ministeriums für Unterricht und Kultus v. 07.03.1947 an die Militärregierung (Abdruck: Merkt, ebenda, S. 59). 4 „Schulgesetz für Groß-Berlin“ v. 26.06.1948 (Verordnungsblatt für Groß-Berlin I S. 358) mit Berichtigung v. 09.07.1948 (VOBl. I S. 378); Wiederabdruck: Froese, Bildungspolitik, S. 106. Mit der siebten Klasse erfolgte für alle Schüler eine Gliederung des Unterrichts in einen gemeinsamen Kernunterricht und in wahlfreie Kurse. Vom 9. bis 12. Schuljahr fand dann die Gabelung in den berufsorientierten „Praktischen Zweig“ (Berufsschule) und den „Wissenschaftlichen Zweig“ (Höhere Schule) statt. – Zur Entstehungsgeschichte: Die vier Alliierten hatten nach der ersten Wahl in Groß-Berlin 1946 angeordnet, ein „Gesetz zur Schulreform“ für Berlin zu entwerfen. Dieses Gesetz wurde am 13.11.1947 von der Berliner Stadtverordnetenversammlung beschlossen, also vor der Zuspitzung des Ost-West-Konflikts in der Stadt im Frühjahr 1948. Es wurde dann auch noch am 22.06.1948 von der Alliierten Kommandantur mit Rückwirkung zum 01.06.1948 erlassen und am 26.06.1948 vom Magistrat von GroßBerlin verkündet. Die Blockade der Westsektoren Berlins begann am 24.06.1948. 5 Dazu mit Quellenhinweis: Gerhard Eiselt/Wolfgang Heinrich/Hans-Jürgen Meyer (Hrsg.), Schulrecht. Ausgabe für das Land Berlin, Loseblatt-Kommentar, G II: Die Geschichte des Schulgesetzes für Berlin, Neuwied (Stand 2000), S. 1. 6 Das Gesetz ist abgedruckt mit einer Erläuterung von Ludwig Peters in: Gesetz und Recht. Sammlung in Deutschland nach dem 8. Mai 1945 erlassener Rechtssätze mit Erläuterungen, Loseblattsammlung, Hamburg, Heft 57 (1949), A IV 8; Wiederabdruck bei: Froese, Bildungspolitik, S. 91; Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 2, S. 276.
1. Kap.: Vorbemerkungen
215
in dem Schulgesetz für Groß-Berlin – achtjährige Grundstufe (Grundschule) für alle vorgesehen und eine darauf aufbauende Oberstufe mit einer Ausdifferenzierung in Berufs- und Fachschule einerseits und eine auf die Hochschule vorbereitende vierjährige Oberschule andererseits. Dieses Einheitsschulgesetz markiert den Beginn der Verstaatlichung, Zentralisierung, Ideologisierung, Uniformierung und Säkularisierung des ostdeutschen Schulwesens, den Anbruch totalitärer Strukturen in der zweiten deutschen Diktatur des 20. Jahrhunderts.7 Die Vorlage hierfür war Anfang Mai 1946 von einer für die sowjetische Besatzungszone zentralen „Deutschen Verwaltung für Volksbildung“ den damaligen Ländern und Provinzen der SBZ bekannt gegeben und darauf von diesen in fast übereinstimmenden Wortlauten als Gesetz oder Verordnung verkündet worden.8 Es blieb bis 1959 in Kraft. Durch das „Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 02.12.1959 wurde die achtjährige Grundschule später durch eine zehnjährige allgemeinbildende „polytechnische Oberschule (POS)“9 ersetzt, unterteilt wiederum in eine vierjährige Unterstufe und eine sechsjährige Oberstufe (§§ 1, 4).10 Ein gesetzgeberischer Schlusspunkt im Aufbau eines einheitlichen sozialistischen Schulsystems wurde mit dem bis zur Wiedervereinigung geltenden „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ vom 25.02.1965 gesetzt.11 Kernelement blieb bis zuletzt, durch Art. 25 Abs. 1 und 4 der DDR-Verfassung zusätzlich festgeschrieben,12 die zehnklassige allgemeinbildende polytechnische 7 Ähnlich:
Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 279. der Provinz Sachsen v. 22.05.1946 zur Demokratisierung der deutschen Schule (Verordnungsblatt für die Provinz Sachsen, Nr. 23, S. 228); Gesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern v. 23.05.1946 zur Demokratisierung der deutschen Schule (ABl. der Landesverwaltung Mecklenburg-Vorpommern, Nr. 3, S. 71), Gesetz des Landes Sachsen v. 31.05.1946 zur Demokratisierung der deutschen Schule (Gesetze, Befehle, Verordnungen, Bekanntmachungen der Landesverwaltung Sachsen, Nr. 15, S. 210); Gesetz der Provinz Mark Brandenburg v. 31.05.1946 zur Demokratisierung der deutschen Schule (VOBl. der Provinzialverwaltung Mark Brandenburg, Nr. 9, S. 155); Gesetz des Landes Thüringen v. 02.06.1946 zur Demokratisierung der deutschen Schule (Regierungsblatt für das Land Thüringen, Nr. 1, S. 113). 9 Die Ausgestaltung der Pflichtschule als „Polytechnische Schule“ bedeutete, dass – wie in § 4 Abs. 1 des Gesetzes definiert – entsprechend dem Alter der Kinder „der Unterricht mit gesellschaftlich-nützlicher Tätigkeit bzw. produktiver Arbeit zu verbinden“ war. Im Mittelpunkt des polytechnischen Unterrichts stand in den unteren Klassen der Werkunterricht und ab der Klasse 7 der Unterricht in der „sozialistischen Produktion“. 10 GBl. DDR I 1959, S. 859; Wiederabdruck: Froese, Bildungspolitik, S. 160. 11 GBl. DDR I 1965, S. 83; Wiederabdruck: Froese, Bildungspolitik, S. 193. 12 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik v. 06.04.1968 i.d.F. des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik v. 07.10.1974 (GBl. DDR I S. 432). – Das „Gesetz über das einheitliche 8 Verordnung
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Oberschule, die nunmehr aus einer Unterstufe (Klassen 1–3), Mittelstufe (Klassen 4–6) und Oberstufe (Klassen 7–10) bestand. Daran schloss sich für die überwiegende Mehrheit der Heranwachsenden eine zweijährige Berufsausbildung an. Daneben gab es Ingenieur- und Fachschulen oder die sogenannte Abiturstufe mit zwei unterschiedlichen hochschulvorbereitenden Bildungsgängen, die zweijährige „Erweiterte Oberstufe“ (EOS) im allgemeinbildenden Schulsystem und die dreijährige Berufsausbildung mit Abitur (vornehmlich zum Studium technischer Berufe) im berufsbildenden Schulsystem.13 Im Zuge des seit Ende der 1940er / Anfang der 1950er Jahre zunehmenden st-West-Konflikts trug die rigorose Durchsetzung der Einheitsschule im soziO alistischen Ostdeutschland dazu bei, in Westdeutschland zunächst keine Initiativen zu schulstrukturellen Vereinheitlichungen zu ergreifen und das Berliner Schulgesetz bereits ab 1951 in den Westsektoren zu ändern.14 Dabei hatte in Berlin die Blockade der Stadt vom Sommer 1948 bis zum Mai 1949 und deren Spaltung sowie damit verbundene Kürzungen und Defizite im Schuletat ohnehin offensichtlich eine zügige Umsetzung dieses Schulgesetzes im Westteil verhindert.15 Der SPD/CDU-geführte West-Berliner Senat schaffte die achtjährige sozialistische Bildungswesen“ war neben dem Familiengesetzbuch das einzige größere Gesetzeswerk aus der Ära Ulbricht, das auch unter dem Nachfolger Honecker bis zum Ende der DDR ohne völlige Neufassung oder weitgehende Umschreibung blieb. Es wurde nach Inkrafttreten 1965 nicht mehr novelliert. Vgl.: Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.), Die Verfassung der DDR. Ein Machtinstrument der SED?, Bonn 1987, S. 22. 13 Dazu: Karl-Heinz Günther (Hrsg.), Das Bildungswesen der Deutschen Demokratischen Republik. Gemeinschaftsarbeit der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik, des Zentralinstituts für Berufsbildung, des Instituts für Fachschulwesen, des Zentralinstituts für Hochschulbildung und der Humboldt-Universität, 3. Aufl., (Ost-)Berlin 1989, S. 18 (Organisationsschema); Jürgen Baumert/Kai S. Cortina/ Achim Leschinsky, Grundlegende Entwicklungen und Strukturprobleme im allgemeinbildenden Schulwesen, in: Kai S. Cortina/Jürgen Baumert/Achim Leschinsky/Karl Ulrich Mayer/Luitgard Trommer (Hrsg.), Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 64. 14 Siehe: Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für Berlin v. 17.05.1951 (GVBl. S. 381), hier insb. § 20 Ziff. 1: „Die Berliner Schule gliedert sich in die Grundschule und die daran anschließende Oberschule, beide mit aufsteigenden Jahresklassen. Die Grundschule umfaßt die ersten sechs Jahresklassen. Die Oberschule umfaßt in dem praktischen, technischen und wissenschaftlichen Zweig die folgenden Jahresklassen von der siebenten bis zur zwölften oder dreizehnten Klasse.“ – Allgemein zum damaligen Berliner Schulgesetz: Carl Arthur Werner, Das Schulgesetz für Berlin. Handkommentar unter Einbeziehung der Bundesländer, Berlin/Köln 1954. 15 Vgl.: Marion Klewitz, Die Reform des Berliner Schulwesens in den Jahren 1945 bis 1951 – Entstehung, Durchführung und Revision des Gesetzes über die Einheitsschule, Diss. Berlin 1970, S. 288, 303 ff., 333 ff. – Siehe auch § 5 des Schulgesetzes von 1948. Danach wurden Aufsicht und Verwaltung des gesamten Schul- und Unter-
1. Kap.: Vorbemerkungen
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Einheitsschule ab,16 und zwar zugunsten einer sechsjährigen Grundschule und anschließenden drei Oberschulzweigen (Praktischer Zweig, d.h. Volksschuloberstufe, später Hauptschule 7.–9. Schuljahr; Technischer Zweig, d.h. Realschule 7.–10. Schuljahr, und Wissenschaftlicher Zweig, d.h. höhere Schule 7.–13. Schuljahr). Nach Art. 1 Ziff. 17 des Änderungsgesetzes war das Wort „Einheitsschule“ im Schulgesetz jetzt durch die Worte „Berliner Schule“ zu ersetzen. Im Jahre 1955 reagierten die westdeutschen Länder auf eine zunehmende öffentliche Kritik an der Vielfalt und Unübersichtlichkeit des Schulwesens in der Bundesrepublik („Schulchaos“) und ergriffen mit dem „Düsseldorfer Abkommen“ von 195517 erste deutliche Schritte zur Vereinheitlichung. Sie definierten darin auch die Organisationsformen und Schultypen der Mittelschule und der Gymnasien (die Volksschule blieb noch außen vor) und schrieben damit gleichzeitig das gegliederte System – als Gegenkonzept zur Einheitsschule im Osten Deutschlands – fest. Kritiker sprechen auch von einer „Zementierung“ hergebrachter Strukturen18 und einer „Stillhaltetendenz“.19 Während also in Ostdeutschland nach sowjetischem Vorbild ein sozialistisches Einheitsschulsystem entstand, wurde im Westen Deutschlands in der Nachkriegszeit das vorgefundene tradierte Schulsystem von Volksschule, Mittelschule und Gymnasium/Oberschule pragmatisch weitergeführt. Die für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung eines halbwegs geordneten Schulbetriebs Verantwortlichen waren dabei bestrebt, die negativen Erscheinungen der Nazirichtswesens durch den – mit der Spaltung der Stadt handlungsunfähigen – Magistrat von Groß-Berlin ausgeübt. 16 Zu den Gründen: Klewitz, ebenda, S. 369 ff. 17 „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens (Düsseldorfer Abkommen)“, Entschließung der Ministerpräsidentenkonferenz in Düsseldorf v. 17.02.1955, abgedruckt in: Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (Hrsg.), Sammlung der Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Loseblattsammlung, 3. Aufl., Kronach (Stand 2013), Leitzahl 100, S. 1; Abdruck ebenfalls in: Froese, Bildungspolitik, S. 307, Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 2, S. 361. – In dem Abkommen waren neben den nachstehend angesprochenen Regelungen über Organisationsformen und Schultypen von Mittel- und Höheren Schulen außerdem Bestimmungen über einen einheitlichen Schuljahresbeginn (Frühjahr), die Schulferien, die Fremdsprachenfolge, die gegenseitige Anerkennung von Prüfungen und die Bezeichnung der Notenstufen enthalten. 18 So etwa: Dühlmeier, Reformpädagogen, S. 16; Robert Stölner, Erziehung als Wertsphäre. Eine Institutionenanalyse nach Max Weber, Bielefeld 2009, S. 139. – Ähnlich: Isabell van Ackeren/Klaus Klemm, Entstehung, Struktur und Steuerung des deutschen Schulsystems. Eine Einführung, 2. Aufl., Wiesbaden 2011, S. 39. 19 So: Hans Scheuerl, Die Gliederung des deutschen Schulwesens. Analytische Darstellung und Gesichtspunkte zu seiner weiteren Entwicklung, 2. Aufl., Stuttgart 1970, S. 16.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Zeit zu entfernen und ansonsten wieder an die schulpolitischen sowie pädagogischen Vorstellungen und Erfahrungen des föderalistisch strukturierten Weimarer Schulwesens anzuknüpfen. Nur allmählich lebten hierbei in den fünfziger Jahren die in der Weimarer Zeit geführten Auseinandersetzungen über reformpädagogische Ansätze wieder auf.20 Der Wiederaufbau war aber trotz allen Kontinuitätsbestrebens auch im Westen keine bloße Restauration bildungspolitischer Verhältnisse der Vorkriegszeit. Vielmehr wurde auch Neues geschaffen. Dies gilt insbesondere für den Ausbau der Mittelschulen zur heutigen Realschule, die im Gegensatz zum preußischen Schulwesen nun nicht mehr eine Form des höheren Schulwesens war; die Einführung eines tatsächlichen dreigliedrigen Schulsystems in Deutschland ist erst ein Ergebnis der Nachkriegszeit.21 Es kam auch zu inneren Schulreformen und ab Mitte der fünfziger Jahre erfolgte eine schrittweise Abkehr von den obrigkeitsstaatlichen Traditionen preußischer Schulverwaltung und -gesetzgebung. Dies ging einher mit einem Generationswechsel zunächst in der Ministerialbürokratie und der Schulaufsicht, der sich dann ebenso in der Lehrerschaft wie auch bei den Inhabern der erziehungswissenschaftlichen Lehrstühle an den Universitäten nach und nach fortsetzte.
II. Grundgesetz und Schule: Länderzuständigkeit und weitgehender Verzicht auf bundeseinheitliche Strukturvorgaben Aufgrund der durch das Grundgesetz in bewusster Abkehr von jeglichem Bildungszentralismus zugewiesenen ausschließlichen Zuständigkeit der Länder für das Schulwesen (Art. 30, 70 GG)22 gab es in Westdeutschland – im Gegensatz auch zur Weimarer Republik – zunächst keine schulpolitischen Handlungsnotwendigkeiten auf Bundesebene. Die Möglichkeit einer Grundsatzgesetzgebung, wie sie die Weimarer Reichsverfassung zur Vereinheitlichung des Schulwesens in Art. 10 Nr. 2 vorgesehen hatte und damit ein seinerzeitiger Quell dauernder Auseinandersetzungen, wurde nicht mehr vorgesehen und auch kein eigener Abschnitt „Schule und Bildung“ wie in Art. 143 bis 150 WRV. Während die 20 Vgl.:
Führ, Bildungsgeschichte, S. 6 ff.; Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 271 ff. 21 Vgl. auch: Christoph Führ, Deutsches Bildungswesen seit 1945. Grundzüge und Probleme, Bonn 1996, S. 11; ders., Die Realschule – Mitte des Bildungswesens, in: ders., Bildungsgeschichte und Bildungspolitik. Aufsätze und Vorträge, Köln u.a. 1997, S. 279. 22 Siehe auch den im Grundgesetz seit der Föderalismusreform von 2006 ausdrücklich enthaltenen Hinweis hierauf in Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG.
1. Kap.: Vorbemerkungen
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Weimarer Verfassung dort länderübergreifende Regeln über den Schulaufbau, den Schulbesuch und die Schulpflicht aufstellte sowie einige Erziehungsprinzipien und Unterrichtsgegenstände festlegte, enthält das Grundgesetz keinerlei solcher Vorgaben. Daraus ergibt sich, wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach hervorgehoben hat, eine weitgehende Gestaltungsfreiheit der Länder bei der Ordnung des Schulwesens. Sie ist nur eingeschränkt, soweit übergeordnete Normen des Grundgesetzes, vor allem das in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Erziehungsrecht der Eltern, ihr Grenzen setzen.23 Die schulpolitischen Konflikte verlagerten sich damit in der jungen westdeutschen Bundesrepublik bis Ende der sechziger Jahre von der Ebene des Bundes ausschließlich auf die der Länder. Erst mit der Schaffung eines neuen Art. 91b GG über die Möglichkeit des Zusammenwirkens von Bund und Ländern bei der Bildungsplanung im Jahre 196924 drang der Bund stärker in dieses Politikfeld ein, wobei die Förderung von gemeinsamen Bund-Länder-Modellversuchen hier zu seinem Hauptbetätigungsfeld geriet. Diese Modellversuchsförderung des Bundes wurde indes, worauf noch einzugehen sein wird, auf Initiative der Länder im Zuge der Föderalismusreform von 2006 vollständig aufgegeben und die Verfassungsvorschrift des Art. 91b – im Interesse einer klaren Verantwortungszuweisung – zurückgefahren im zweiten Absatz auf ein Zusammenwirken im Bereich der Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich.25 Die grundgesetzliche Zuweisung des Schulwesens an die Länder weitete sich nach der Wiedervereinigung im Jahre 1990 auf ganz Deutschland aus. Mit dem Beitritt zum Grundgesetz wurde das bis dahin zentralstaatlich organisierte ostdeutsche Einheitsschulwesen abgeschafft und die wieder entstandenen neuen Länder glichen ihr Schulwesen weitgehend dem gegliederten westdeutschen Schulsystem an. Das Grundgesetz beschränkt sich bis heute – also auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands – auf einen rudimentär gefassten Schulartikel, Art. 7 GG, in dem nur einzelne schulrechtliche Fragen geregelt sind. Nach dem Vorbild der Paulskirchen-Verfassung (§ 153), der Preußischen Verfassungsurkunde (Art. 23) und der Weimarer Reichsverfassung (Art. 144) ist im ersten Absatz die Aufsicht des Staates über das gesamte Schulwesen als bildungspolitische Grundentscheidung statuiert. In der Kontinuität der historischen schulverfassungsrechtlichen Entwicklung wird darunter ein umfassendes staatliches Bestimmungsrecht über die Schule verstanden, also nicht nur ein klassisches Aufsichtsrecht im engeren Sinne, sondern ein darüber hinausgehendes allgemeines Gestaltungs- und Nor23 So:
BVerfGE 34, 165 (181). Siehe auch: BVerfGE 41, 29 (44); 59, 360 (377). Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 12.05.1969 (BGBl. I S. 359). 25 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28.08.2006 (BGBl. I S. 2034). 24 21.
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mierungsrecht. Das Bundesverwaltungsgericht prägte hierfür bereits 1957 die Formel, wonach unter dem grundgesetzlichen Begriff der staatlichen Schulaufsicht der „Inbegriff der staatlichen Herrschaftsrechte über die Schule, nämlich die Gesamtheit der staatlichen Befugnisse zur Organisation, Planung, Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens“ zu verstehen ist.26 Das Bundesverfassungsgericht hat, hieran anknüpfend, dies dahingehend ergänzt, Art. 7 Abs. 1 GG gebe „dem Staat die Befugnis zur Planung und Organisation des Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Menschen gemäß ihren Fähigkeiten die den heutigen gesellschaftlichen Anforderungen entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Deshalb sind etwa die organisatorische Gliederung der Schule, die Entscheidung über die strukturelle Ausgestaltung des Ausbildungssystems und die Festlegung der Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele Sache des Staates.“27 Neben der Schulaufsicht des Staates sind im Grundgesetz zur Struktur des Schulwesens nur noch der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen (Art. 7 Abs. 2 und 3 GG), die Privatschulfreiheit (Art. 7 Abs. 4 und 5 GG) und das Verbot von Vorschulen (Art. 7 Abs. 6 GG) geregelt, wobei erstere Bestimmungen in einem engen Zusammenhang mit dem durch Art. 6 Abs. 2 GG allgemein gestärkten elterlichen Erziehungsrecht stehen. Das grundrechtliche Erziehungsrecht der Eltern ist dem Erziehungsauftrag des Staates nach Art. 7 Abs. 1 GG gleichgeordnet zur Seite gestellt und setzt diesem Grenzen.28
III. Phasen der schulgesetzlichen Entwicklung in der Bundesrepublik In den fünfziger Jahren begann in der westdeutschen Schulpolitik ein Kodifizierungsprozess, wobei die ersten umfassenden Schulgesetze, d.h. Gesamtkodifikationen des in einem Land geltenden Schulrechts, neben Berlin in den beiden anderen Stadtstaaten Bremen und Hamburg zustande kamen.29 Darin waren 26 Zitat:
BVerwGE 6, 101 (104). Siehe auch: BVerwGE 18, 38 (39); 47, 198 (204). BVerfGE 96, 288 (303). St. Rspr.: BVerfGE 34, 165 (182); 45, 400 (415); 53, 185 (196). 28 St. Rspr. des BVerfG, statt vieler: BVerfGE 52, 223 (236). 29 Siehe: Gesetz über das Schulwesen der Freien Hansestadt Bremen v. 04.04.1949 (BremGBl. S. 59); Hamburgisches Schulgesetz v. 25.10.1949 (HambGVBl. S. 257). Abdrucke auch bei: Leonhard Froese, Deutsche Schulgesetzgebung (1763–1952), Weinheim 1953, S. 100 bzw. S. 108. – Vgl. zu den Phasen der schulgesetzlichen Verrechtlichung auch die Darstellung bei: Lutz R. Reuter, Rechtliche Grundlagen und Rahmenbedingungen, in: Christoph Führ/Carl Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 43 ff. 27 Zitat:
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auch Bestimmungen über die Einleitung von Schulversuchen aufgenommen. In den meisten anderen Ländern wurden bis Ende der fünfziger Jahre nur schrittweise und mitunter noch recht lückenhaft die für das Schulwesen grundlegenden Fragen geregelt. Dies erfolgte zumeist in Einzelgesetzen – jeweils auch so überschrieben – zur Schulorganisation und Schulverwaltung, Schulfinanzierung, Schulgeld- und Lernmittelfreiheit, Schulpflicht und zum Privatschulwesen. Teilweise entstanden auch Gesetze für einzelne Schulformen, etwa Volksschul- und Berufsschulgesetze.30 Regelungen über Schulversuche waren hier nur spärlich enthalten. Überdies galt vielfach noch längere Zeit vorkonstitutionelles Schulrecht fort, soweit es nicht dem Grundgesetz widersprach (Art. 123 Abs. 1 GG). Dabei waren frühere reichsrechtliche Schulvorschriften mangels Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes mit Inkrafttreten des Grundgesetzes Landesrecht geworden, wie etwa das Grundschulgesetz von 1920 oder Bestimmungen des Reichsschulpflicht gesetzes von 1938. Ansonsten steuerte die Schuladministration den praktischen Schulbetrieb und damit auch Schulversuche wie ehedem über eine stetig wachsende Zahl von regulierenden Verordnungen und Erlassen.31 Für das Schulwesen gewann schließlich – gravierender als früher – an Relevanz, dass fast alle in der Nachkriegszeit beschlossenen Landesverfassungen nunmehr längere Abschnitte zu Bildung, Schule und Erziehung aufwiesen, wie etwa die Art. 7 bis 17 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen. Ab den sechziger Jahren setzte ausgehend von einem Modellgesetzentwurf einer „Grundordnung der deutschen Schule“32 in vielen Ländern der Bundesrepublik eine zweite Welle der Schulgesetzgebung ein. Diese brachte vor allem eine größere Systematisierung und Zusammenfassung der schulgesetzlichen Vorschriften. Vielfach fanden manche Fragen auch erstmals eine gesetzliche Regelung wie etwa die innere Schulverfassung und die Schulmitwirkung. Der Modellgesetzentwurf beinhaltete im Übrigen eine Bestimmung über Schulversuche und beeinflusste entsprechende erstmalige gesetzliche Vorschriften in
30 Dazu: Hans Heckel, Eine Grundordnung der deutschen Schule, Stuttgart 1958, S. 15 ff. – Exemplarisch die Abfolge in Bayern: Gesetz über Schulpflege an den Volksschulen v. 27.07.1948, Gesetz über die Schulgeldfreiheit v. 05.03.1949, Gesetz über die Lernmittelfreiheit v. 05.03.1949, Gesetz über die Organisation der Volksschulen v. 08.08.1950, alle abgedruckt bei: Merkt, Dokumente, S. 240, 270, 271, 325. 31 Noch auf der Staatsrechtslehrertagung 1966 bemängelte Hans-Ulrich Evers [Verwaltung und Schule, in: VVDStRL 23 (1966), S. 155], der innere Schulbetrieb einschließlich des Schulverhältnisses und des Berechtigungswesens sei nahezu ungebrochen „Domäne der Kultusminister“ geblieben. 32 Abdruck: Heckel, Grundordnung der deutschen Schule, S. 45 ff.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Baden-Württemberg, Hessen und dem Saarland. Lange Zeit noch gesetzlich ungeregelt blieb die Situation in Bayern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz.33 Der dritte Novellierungsprozess begann in den siebziger Jahren mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vorbehalt des Gesetzes im Schulbereich, die einen immer weiteren Bereich des Schulwesens der gesetz lichen Durchdringung unterwarf. Der verfassungsrechtliche Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes verlangt, dass staatliches Handeln in bestimmten grund legenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Das Rechtsstaatsund das Demokratieprinzip, die nach dem Gebot des Art. 28 Abs. 1 GG auch Inhalt der Landesverfassungen sind, verpflichten – nach der seinerzeit durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten sogenannten Wesentlichkeitstheorie – den parlamentarischen Gesetzgeber, die für einen Regelungsbereich wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und sie nicht der Exekutive zu überlassen (Parlamentsvorbehalt). Wann es danach einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, ist im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes zu beurteilen. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den darin verbürgten Grundrechten, zu entnehmen. Im Schulbereich greift der Parlamentsvorbehalt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere dann, wenn die Grenzen im Spannungsfeld zwischen dem in Art. 7 Abs. 1 GG vorausgesetzten Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates und dem elterlichen Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG, Art. 8 Abs. 1 Satz 2 LVerf NRW)34 sowie dem Recht der Schüler auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit und deren in den meisten Landesverfassungen verbürgten „Recht auf Bildung“ (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 LVerf NRW)35 in 33 Überblick zum Stand der Gesetzgebung in den Ländern hinsichtlich Schulversuche Mitte der 1960er Jahre bei: Christoph Führ, Schulversuche 1965/66. Dokumentation aufgrund der bei den Kultusministerien der Länder in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführten Erhebung über Schulversuche an öffentlichen Schulen, Teil I: Gesamtdarstellung, Weinheim 1967, S. 153-163. 34 Überblick zur Reichweite des Elternrechts im Bereich des staatlichen Schulwesens mit Nachw. aus der umfangreichen Rspr. und Lit., statt vieler: Wolfram Höfling, Elternrecht, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., Heidelberg 2009, § 155 Rn. 91 ff. 35 Zu den Schülergrundrechten hat das BVerfG festgestellt, dass Art. 2 Abs. 1 GG dem Schüler „ein Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit seiner Anlagen und Befähigungen“ gibt. Vgl.: BVerfGE 45, 400 (417); 58, 257 (273); außerdem BVerwGE 47, 201 (206). Unter Umständen können schulische Maßnahmen den Schüler überdies in seiner in Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Freiheit der Berufswahl und der Wahl der Ausbildungsstätte beeinträchtigen. Dies kann auch in Schulen, die keine berufsspezifische Ausbildung vermitteln, der Fall sein, etwa bei der zwangsweisen Entlassung aus der Oberstufe eines Gymnasiums. „Die zwangsweise
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substantieller Hinsicht zu Lasten der Grundrechtssphäre von Eltern und Schülern verschoben werden.36 Entlassung eines Schülers aus dem Schulverhältnis, insbesondere wenn sie mit dem Ausschluß vom Besuch einer ganzen Schulart verbunden ist, beeinflußt den weiteren Bildungs- und Lebensweg des Betroffenen und damit seine soziale Rolle. In der Regel wird dadurch der Zugang zu bestimmten Berufen abgeschnitten und die Chance für eine freie Berufswahl geschmälert.“ Zitat: BVerfGE 58, 257 (273). Den Schülern ist nach dieser Rspr. und der ganz h.M. zwar durch das Grundgesetz kein eigenständiges „Recht auf Bildung“, aber ein Recht auf gleichen Zugang zu den vorhandenen schulischen Bildungseinrichtungen gewährt (Art. 2 Abs. 1 GG bzw. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG). Auch aus dem in elf Landesverfassungen ausdrücklich aufgenommen „Recht auf Bildung“, das darüber hinaus in sämtlichen Schulgesetzen explizit normiert ist (vgl. § 1 Abs. 1 SchulG NRW), folgt in der Regel ebenfalls nur ein solches Recht auf gleichen Zugang bzw. ein Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung. Dazu: Arnd Uhle, in: Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, München 2009, Art. 7 GG Rn. 6 f. mit Rspr.Nachw. Diese landesverfassungsrechtlichen Postulate werden auch als auslegungsleitende Programmsätze angesehen (so etwa: Sigrid Boysen, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl., München 2012, Art. 7 GG Rn. 30) oder als Staatszielbestimmung, die das Recht auf gleichen Zugang verstärkt (so: Christian Dästner, Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, Kommentar, 2. Aufl., Köln u.a. 2002, Art. 8 Rn. 1). Zum Teil wird aber auch die Ansicht vertreten, es handele sich um ein echtes Kindesgrundrecht, wobei einige dann allerdings wiederum einen Kollision dieses landesgrundrechtlichen Leistungsrechts mit der staatlichen Schulhoheit (Art. 7 Abs. 1 GG) und damit einen Verstoß gegen vorrangiges Bundesverfassungsrecht sehen. Siehe: Bodo Pieroth, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, in: DVBl. 1994, S. 957 f. Schließlich wird auch das „Recht auf Bildung“ nach Art. 2 Satz 1 des Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europä ische Menschenrechtskonvention) – „Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden“ – zumeist einschränkend als ein Recht auf chancengleiche Teilhabe interpretiert. Siehe dazu sowie insgesamt zum Bildungsrecht des Schülers mit umfänglichen Nachw.: Tristan Barczak, Der Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe als Grundrechtsproblem. Eine rechtliche Untersuchung unter Berücksichtigung sozialer Herkunftseffekte, Baden-Baden 2011, S. 135 ff., zur EMRK S. 138 f. Siehe ebenfalls allgemein: Matthias Jestaedt, Schule und außerschulische Erziehung, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., Heidelberg 2009, § 156 Rn. 91 ff. 36 Der Vorbehalt des Gesetzes ist insbesondere auf dem Gebiet des Schulwesens entwickelt worden. Vgl.: BVerfGE 34, 165 (Hessische Förderstufe); BVerfGE 41, 251 (Speyer-Kolleg); BVerfGE 45, 400 (Hessische Oberstufenreform); BVerfGE 47, 46 (Sexualkunde); BVerfGE 53, 185 (Festlegung Bildungs- und Erziehungsziele); BVerfGE 98, 218 (Rechtschreibreform); BVerwGE 64, 308 (Festlegung einer Pflichtfremdsprache); VerfGH NRW, OVGE 37, 203 (Gesamtschul-Urteil). Zusammenfassende Darstellungen: Fritz Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 3. Aufl., Heidelberg 2007, § 101 Rn. 11 ff., insb.
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Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung und das rechts- wie bildungswissenschaftliche Schrifttum folgten dem nicht nur, sondern spürten ihrerseits immer weitere tatsächliche oder vermeintliche rechtsstaatliche Lücken und Defizite im Schulbereich auf. Das besondere Gewaltverhältnis im Schulbereich fand endgültig sein Ende. Kultusministerien und Schulpolitik standen unter gesetzgeberischen Handlungsdruck, weshalb spätestens ab dieser Zeit in allen Bundesländern auch für die Durchführung von Schulversuchen eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage geschaffen bzw. hierfür bestehende Gesetzesvorschriften einer Überprüfung unterzogen wurden. Zu einer seinerzeit aufkommenden und auch heute immer wieder zu hörenden Kritik an einer allzu weitgehenden Vergesetzlichung des Schulwesens nahm das Bundesverfassungsgericht 1981 ungewöhnlich deutlich Stellung.37 Soweit solche Gefahren beschworen würden, insbesondere im Hinblick auf die pädagogische Freiheit des Lehrers, die notwendige Flexibilität der Schule und die drohende Überlastung der Parlamente, gehe die Kritik zu einem großen Teil an den tatsächlichen Verhältnissen und rechtlichen Gegebenheiten vorbei. „Nicht die durch Art. 20 Abs. 1 und 3 GG verfassungsrechtlich gebotene gesetzliche Verankerung staatlicher Eingriffe und Leistungen im Schulrecht bewirkt eine unangemessene Einschränkung der grundrechtlichen Freiheiten der Schüler, der Lehrer und der Eltern. Vielmehr führt oft die bis zum Perfektionismus gesteigerte Bürokratisierung und Bevormundung der Schule durch die Kultusverwaltungen zu weitgehend unkontrollierter und im Lichte der Grundrechtsgeltung zweifelhafter Rechtsbeeinträchtigung der Betroffenen.“ Bei der Kritik werde oft auch die Grundrechte sichernde und Freiräume ausgrenzende Funktion von Rechtsvorschriften gerade in Bezug auf die pädagogische Freiheit verkannt. „Die verfassungsrechtlich gebotenen parlamentarischen Leitentscheidungen führen nicht zu einer Beschränkung, sondern eher zu einer Sicherung des pädagogischen Freiraumes der Lehrerschaft, indem durch konkrete gesetzliche Aussagen eine Vielzahl administrativer Bestimmungen, Detailregelungen und Einzeleingriffe obsolet werden könnte. In Wahrheit geht es darum, daß im Schulwesen rechtsstaatliche Entwicklungen nachgeholt werden mußten und noch nachgeholt werden müssen, die im Kern durch das Grundgesetz schon 1949 geboten waren. Die Verwirklichung des Vorbehalts des Gesetzes im Schulrecht führt deshalb nur dazu, daß der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Ausgestaltung des Schulverhältnisses nachkommt.“ Rn. 46-49; Hermann Avenarius, in: ders./Hans-Peter Füssel, Schulrecht. Ein Handbuch für Praxis, Rechtsprechung und Wissenschaft, 8. Aufl., Kronach 2010 (zuvor: Heckel/ Avenarius, Schulrechtskunde), S. 33 ff.; Hans-Uwe Erichsen, Schule und Parlamentsvorbehalt, in: Dieter Wilke (Hrsg.), Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Berlin/New York 1984, S. 113 ff., alle m.w.N. 37 Siehe, auch zu den nachfolgenden Zitaten: BVerfGE 58, 257 (270 ff.).
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Anderseits mahnte das Bundesverfassungsgericht 1998 in seiner Entscheidung zur Rechtschreibreform vor einer Überdehnung der Wesentlichkeitstheorie im Schulbereich. Bei der Bestimmung der Reichweite und Wirkung des Vorbehalts des Gesetzes sei mit zu berücksichtigen, dass die in Art. 20 Abs. 2 GG normierte organisatorische und funktionelle Unterscheidung und Trennung der Gewalten auch darauf ziele, dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen. Dieses Ziel dürfe nicht durch einen Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden.38 So berücksichtigte das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung zur Rechtschreibreform, dass Sachkompetenz und Nähe zur schulischen Praxis die Kultusverwaltungen für die Entscheidung über Notwendigkeit, Inhalt, Ausmaß und Zeitpunkt einer solchen Reform besonders qualifizieren würden. Es gehe hierbei „um pädagogische, sprachwissenschaftliche und schulpraktische Fragen, für deren Beantwortung die zuständigen Fachverwaltungen grundsätzlich besser ausgerüstet erscheinen als die Landesparlamente.“39 Mit der im Zuge der Ausweitung des Gesetzesvorbehalts erfolgten Vergesetzlichung einher ging obendrein ein Verrechtlichungsprozess im Schulwesen, der generell durch die Zunahme gerichtlicher Auseinandersetzungen in schulischen Angelegenheiten und die hierdurch ausgelösten Änderungsbedarfe bedingt war, namentlich im Prüfungs- und Berechtigungswesen, hinsichtlich Fragen der Schulpflicht, der Lehreraufsicht und schulischer Ordnungsmaßnahmen, aber auch in schulstrukturellen Fragestellungen.40 Die in dieser Phase in fast allen Ländern vorgenommenen umfassenden schulgesetzlichen Novellierungen übernahmen in einem nicht unerheblichen Umfang Formulierungen eines „Entwurf(s) für ein Landesschulgesetz“, den im
38 BVerfGE 98,
218 (251 f.) mit Hinweis auf BVerfGE 68, 1 (86 f.). Siehe auch: BVerfG, Beschl. v. 11.12.2000, NVwZ-RR 2001, 311 (313), wo konkret der Begriff „Überdehnung“ gewählt wird. 39 Zitat: BVerfGE 98, 218 (256). 40 Dazu statt vieler: Andreas Laser, Die Verrechtlichung des Schulwesens, in: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Hrsg.), Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Daten und Analysen, Bd. 2: Gegenwärtige Probleme, Stuttgart 1980, S. 1343 ff.; Fritz Ossenbühl, Schule im Rechtsstaat, in: ders., Freiheit, Verantwortung, Kompetenz. Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. v. Meinhard Schröder/Wolfgang Löwer/Udo Di Fabio/Thomas von Danwitz, Köln u.a. 1994, S. 875 ff. – Zu Tendenzen einer übersteigerten Verrechtlichung und Normverfeinerung in allen Bereichen staatlichen und privaten Handelns: Josef Isensee, Mehr Recht durch weniger Gesetze?, in: ZRP 1985, S. 139 ff.
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Nachgang von Empfehlungen des 51. Deutschen Juristentages von 197641 eine Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages im Frühjahr 1981 veröffentlicht hatte.42 Die Kommission hatte diesen, wie das Bundesverfassungsgericht im selben Jahr anerkennend feststellte, unter umfassender Berücksichtigung von Rechtsprechung und Schrifttum erarbeitet. Der Gesetzentwurf und ein dazugehöriger Bericht der Kommission könne, so das Gericht, „als vorläufiger Endpunkt der Bemühungen um die Durchsetzung des Vorbehalts des Gesetzes im Schulwesen und gleichzeitig als Orientierungsrahmen für weitere zukünftige Lösungsansätze“ angesehen werden.43 Der Musterentwurf strahlte auch auf die in der Folgezeit vorgenommenen schulgesetzlichen Normierungen des Schulversuchs, wie noch aufgezeigt wird, aus. Nach der Wiedervereinigung sind zunächst auf der Folie der westdeutschen Landesgesetze gleichfalls in den beigetretenen neuen Ländern Schulgesetze erlassen worden. In den letzten zehn Jahren setze schließlich in allen Bundesländern eine neue Runde der Schulgesetzgebung ein, und zwar vor dem Hintergrund als notwendig angesehener Anpassungen an die demographische Situation sowie zur Verbesserung der schulischen Rahmenbedingungen als Folge der nunmehr vorliegenden Ergebnisse der internationalen Leistungsstudien PISA, TIMMS und IGLU. Tendenziell zielen diese Novellierungen neben schulstrukturellen Veränderungen im Bereich der weiterführenden Schulen darauf ab, den Schulen mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung zu übertragen, verbunden mit einem Monitoring hinsichtlich der Ergebnisse ihrer pädagogischen Arbeit.
41 Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages. Stuttgart 1976, Bd. II (Sitzungsbericht), München 1976, M 230 ff. 42 Deutscher Juristentag (Hrsg.), Schule im Rechtsstaat, Bd. I: Entwurf für ein Landesschulgesetz. Bericht der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages, München 1981. 43 Zitat: BVerfGE 58, 257 (270).
Zweites Kapitel
Erste gesetzliche Regelungen zum Schulversuch in den Stadtstaaten und in Hessen I. Umfassende schulgesetzliche Versuchsermöglichung in West-Berlin, Bremen und Hamburg 1948/1949 1. Zum Einfluss reformpädagogischer Kräfte der 1920er Jahre in den neuen Schulverwaltungen und auf die Schulgesetzgebung Die drei ersten Schulgesetze in den westlichen Besatzungszonen nach 1945, die Schulgesetze in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg, sind gleichzeitig die ersten Gesetze in der Geschichte des deutschen Schulwesens, die allgemein den Schulversuch und die Voraussetzungen seiner Zulassung regeln. Dies kam nicht von ungefähr. Vielmehr wirkte in den Schulbehörden der Stadtstaaten nach dem Krieg eine große Zahl von Schulaufsichtsbeamten, die schon in dieser Funktion oder als Lehrkräfte vor 1933 Erfahrungen mit Versuchsschulen gesammelt hatten.1 So stand in Hamburg sogar ein Schulsenator an der Spitze, Heinrich Landahl (1895–1971), der von 1927 bis 1933 Schulleiter der reformpädagogisch orientierten Versuchsschule Lichtwarkschule gewesen war. In der Hamburger Schulbehörde war nun auch Kurt Zeidler tätig, der – wie dargestellt – als langjähriger Leiter der Versuchsschule Breitenfelder Straße (Wendeschule) in den zwanziger Jahren mit seiner Schrift über die „Wiederentdeckung der Grenzen“ hervorgetreten war. Die Schuladministration konnte, auch wenn die Schulgesetze von den Parlamenten beschlossen wurden, im Gesetzgebungsprozess maßgeblich auf die Formulierungen Einfluss nehmen. Dies trifft insbesondere nachweisbar für Berlin zu. Dort legte die sogenannte Schulrätekonferenz bereits im Oktober 1946 auf Verlangen der Alliierten „Richtlinien“ für eine Schulreform vor und die später mit der Mehrheit von SPD, SED und LDP verabschiedete Gesetzesvorlage wurde 1947 gemeinsam durch die 1 Ebenso: Dietrich Benner/Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 3.2: Staatliche Schulreform und reformpädagogische Schulversuche in den westlichen Besatzungszonen und in der BRD, Weinheim/Basel 2007, S. 89 (für Bremen und Hamburg); Klewitz, Reform, S. 236 (für Berlin).
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Abteilung für Volksbildung im Magistrat der Stadt Berlin, die Schulrätekonferenz und von Vertretern des Hauptschulamtes erarbeitet.2 In Berlin hatte hierdurch auch Paul Oestreich, der führende Kopf der Entschiedenen Schulreformer der Weimarer Zeit, maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des GesamtBerliner Einheitsschulgesetzes von 1948. Er war zu dieser Zeit noch als Hauptschulrat tätig, bevor er Ende 1948 als SED-Mitglied in den Sowjetsektor versetzt wurde.3 Ob Oestreich, der in der Weimarer Zeit Versuchsschulen nach erster Befürwortung später deutlich abgelehnt hatte, sich jetzt deren Aufnahme in das Schulgesetz entgegenstemmte, ist nicht bekannt. Die Mehrheit der Schulrätekonferenz sah Versuchsschulen in einem engen Zusammenhang mit der angestrebten Einführung der öffentlichen Einheitsschule. Die besonderen pädagogischen und didaktischen Erfahrungen der bis dahin meist einen Einheitsaufbau verfolgenden Versuchsschulen sollten für die bestehenden Normalschulen genutzt und gleichzeitig Bestrebungen abgewehrt werden, Versuchsschulen über den Weg von Privatgründungen dem Einflussbereich der öffentlichen Schulaufsicht weitgehend zu entziehen.4 Die Vorreiterrolle, die die Stadtstaaten bei der Errichtung von Versuchsschulen schon in der Weimarer Zeit inngehabt hatten, wiederholte sich jetzt jedenfalls im Bereich der Gesetzgebung. 2. Wortlaut und Inhalt der schulgesetzlichen Versuchsvorschriften Die erste allgemein gehaltene gesetzliche Schulversuchsregelung in der Geschichte des deutschen Schulwesens ist § 3 des Schulgesetzes für Groß-Berlin vom 26.06.1948. Die Vorschrift stand herausgehoben sofort hinter der in § 1 niedergelegten Beschreibung der Aufgabe der Schule, also der neuen Schulphilosophie, und der in § 2 geregelten Schulträgerschaft für Groß-Berlin, noch vor der Festlegung der neuen Einheits-Schulstruktur und den sonstigen Regelungen etwa zur Schulpflicht und zum Religionsunterricht. Mit der Aufnahme einer Versuchsklausel unterschied sich dieses Berliner Gesetz von dem das Einheitsschulwesen ebenfalls einführenden Schulgesetz in den sowjetischen Besatzungszonen von 1946. Dieses sozialistische Schulgesetz ließ, worauf noch später eingegangen wird, keinerlei Ausnahmen und Abweichungen zu.
2 Dazu:
Klewitz, Reform, S. 240, 254 m.w.N. Radde, Karsen, S. 335; Klewitz, ebenda, S. 253. 4 Siehe: Klewitz, ebenda, S. 318 f. – Durch § 2 Satz 4 des Schulgesetzes wurde allerdings später klargestellt, dass „Privatschulen aller Art“ der Aufsicht der Schulbehörde unterstanden. 3 Siehe:
2. Kap.: Erste gesetzliche Regelungen in den Stadtstaaten und Hessen
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Die programmatisch gehaltene Versuchsvorschrift des § 3 Schulgesetz vom 26.06.1948 für Groß-Berlin lautete: (1) Die Schulbehörde hat Vorsorge zu treffen, daß wertvolle fortschrittliche päda gogische Ideen Gelegenheit finden, in öffentlichen Schulen ihre Bedeutung zu erweisen. In diese Versuchsschulen sind nur solche Kinder einzuweisen, deren Erziehungsberechtigte ihr Einverständnis hierzu erklären.
(2) Es wird ein Erziehungsbeirat beim Magistrat gebildet, der sich aus einem Vertreter des Magistrats als Vorsitzender sowie Vertretern der Gewerkschaften, der Öffentlichkeit, der Elternschaft, der Lehrerschaft und pädagogisch interessierter Kreise zusammensetzt. Er ist vor Einrichtung einer solchen Versuchsschule zu hören und hat insbesondere die Aufgabe, den pädagogischen Wert der geplanten Schulversuche, die Möglichkeit ihrer Durchführung und die Anträge auf Zulassung von Schulen besonderer pädagogischer Prägung zu prüfen.
Die Versuchsvorschrift wurde auch nach der Abkehr von der Einheitsschule in West-Berlin beibehalten, allerdings ohne inhaltliche Änderung durch ein zweites Änderungsgesetz zum Schulgesetz 1952 zu einem neuen § 3a SchulG BE umgestaltet.5 Grund hierfür war, dass der Erziehungsbeirat die weitergehende Aufgabe erhielt, den Senat und die Verwaltung allgemein in Bezug auf pädagogische Fragen und Fragen der Schulentwicklung zu beraten, und deshalb systematisch als neuer § 3 SchulG BE der Versuchsvorschrift vorangestellt wurde. Es blieb aber in § 3a Abs. 2 SchulG BE bei der besonderen – insoweit unverändert gebliebenen – Mitwirkungskompetenz des Erziehungsbeirates bei der Zulassung von Versuchsschulen, in Berlin aufgrund des Gesetzeswortlautes auch „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“ genannt. Auf das noch unter Vier-Mächte-Verantwortung stehende Berliner Schulgesetz von 1948 folgte im April 1949 als erstes westdeutsches Schulgesetz das jenige des unter amerikanischer Besatzung stehenden Stadtstaates Bremen. Der einschlägige Versuchsparagraph, § 26, war übertitelt mit „Versuchsschulen / Schulversuche der Versuchsschulen“: (1) Zur Erprobung wertvoller pädagogischer Gedanken können Schulversuche durchgeführt werden und Versuchsschulen eingerichtet werden. Soweit in solchen Fällen von § 15 abgewichen wird, bedarf es der Zustimmung des Senats.
(2) Der Besuch von Versuchsschulen ist freiwillig.
Die Senatszustimmung bei Abweichungen in den Fällen von § 15 betraf die dort festgelegte Gliederung der bremischen „Oberschule“ in vier Zweige (A – Volksschuloberstufe, B – Mittelschule, C – Wirtschaftsoberschule und D – Oberschule, ab 1956 Gymnasium). Herausgestellt wird in dieser bremischen Vorschrift erstmals wörtlich der Erprobungscharakter des Schulversuchs. 5 Siehe: Zweites Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für Berlin v. 05.08.1952 (GVBl. S. 647).
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Sowohl in der Versuchsklausel des Berliner Schulgesetzes als auch der späteren hamburgischen Bestimmung ist diese Zweckbestimmung unschärfer beschrieben. Das Wort „Erprobung“ wird in diesen beiden Schulgesetzen im Gegensatz zum bremischen Pendant noch nicht verwendet. Die Vorschrift über Schulversuche des hamburgischen Schulgesetzes vom Oktober 1948, § 22, hatte folgenden Wortlaut: Schulen, die versuchen wollen, wertvolle pädagogische Reformgedanken zu verwirklichen, soll die Schulbehörde Gelegenheit dazu geben, falls die Bestimmungen der §§ 1–10 des Gesetzes innegehalten werden und falls nicht im Einzelfall ernste Bedenken bestehen. Der Besuch solcher Versuchsschulen bedarf der Zustimmung des Erziehungsberechtigten.
Zwar legt die Vorschrift auf den ersten Blick auch eine Auslegung nahe, dass eine dauerhafte Verwirklichung von Reformgedanken und nicht nur deren Erprobung ermöglicht wurde, doch spricht der vorangestellte Relativsatz dagegen. Es wird darin eine Versuchsabsicht der antragstellenden Schulen vorausgesetzt und die Erprobung, das nicht Dauerhafte, gehört zum Wesen eines Versuchs. Gleiches gilt für die Berliner Formulierung: Wenn neue pädagogische Ideen ihre Bedeutung für die Schulpraxis erweisen sollen und dies nicht in der Regelschule erfolgen soll, kann auch hier nur zunächst eine Erprobung und noch keine dauerhafte Umsetzung gemeint sein. 3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Versuchsklauseln Während in Bremen der Schulversuchsparagraph als „Kann“-Vorschrift ausgestaltet war, die Zulassung eines Versuchs also im sachgerechten Ermessen der Schulbehörde stand, ging man in Berlin einen Schritt weiter. Zwar war auch hier eine Ermessensentscheidung vorgesehen, doch enthält die dortige Versuchsklausel einen allgemein gehaltenen Auftrag an die Schulbehörde, initiativ zu werden („Vorsorge zu treffen“). Sie war zudem in ihrer Entscheidungsfindung eingeengt, indem sie einen Versuchsschulbeirat, ähnlich dem früheren Berliner „Ausschuß für Versuchsschulen“ der Weimarer Zeit, zu beteiligen hatte. Dieser Erziehungsbeirat war in den Gesetzesberatungen auf Antrag der LDP und als eine ihrer Bedingungen für die Zustimmung zu dem Einheitsschulgesetz aufgenommen worden. Aus deren Sicht sollte dieser pluralistisch zusammengesetzte Beirat aus schulinteressierten Kreisen vornehmlich eine Sicherung gegen eine allzu einseitig orientierte sozialistische Schule sein.6
6 Vgl.:
Klewitz, Reform, S. 285 und S. 443 Fn. 103 m.w.N.
2. Kap.: Erste gesetzliche Regelungen in den Stadtstaaten und Hessen
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In Hamburg hatten versuchsschulfreudige Schulen durch die „Soll“-Bestimmung sogar einen bedingten Genehmigungsanspruch. Bei den einzuhaltenden Bestimmungen der §§ 1 bis 10 des hamburgischen Schulgesetzes handelte es sich vor allem um allgemeine Regelungen zur Schulpflicht, Schulmitwirkung und zum Religionsunterricht, nicht hingegen um die Vorschriften zur Schul struktur (§§ 11–21). Alle drei Versuchsvorschriften sahen die Freiwilligkeit des Besuchs von Versuchsschulen vor. Dies war in den Stadtstaaten so bereits in der Weimarer Zeit festgelegt gewesen, wurde aber sicherlich angesichts der seinerzeitigen Konflikte hierüber in anderen Städten nunmehr ausdrücklich gesetzlich normiert. Die Freiwilligkeit ist in der bremischen Vorschrift expressis verbis so formuliert, in den Versuchsschulparagraphen Berlins und Hamburgs dadurch, dass die Zustimmung der Erziehungsberechtigten zum Besuch der Versuchsschulen gefordert wird. Schließlich stimmten alle drei Schulgesetze noch in einem weiteren Punkt überein, dem Erfordernis einer besonderen pädagogischen Qualität des Versuchsvorhabens, das Ausprobieren „fortschrittlicher pädagogischer Ideen“ (Berlin) bzw. „wertvoller pädagogischer (Reform)gedanken“ (Bremen / Hamburg). Inwieweit die Schulbehörden damit eine pädagogische Bewertung hätten vornehmen können und ob die Vorschriften überhaupt rechtsstaatlichen Bestimmtheitserfordernissen genügten, kann allerdings letztlich, da die Versuchsklauseln in den Stadtstaaten heute so nicht mehr gefasst sind, dahinstehen. 4. Geringe Inanspruchnahme der Ermächtigungen zu Schulversuchen bis Mitte der 1950er Jahre in Bremen und Hamburg Bei einer in den Jahren 1953/1954 durch den Pädagogen Herbert Chiout als Mitarbeiter und mit Unterstützung der Hochschule für internationale Pädagogische Forschung (HIPF) in Frankfurt a.M. durchgeführten Erhebung zu den Schulversuchen in der Bundesrepublik im Volksschulbereich,7 der ersten gro-
7 Siehe:
Herbert Chiout, Schulversuche in der Bundesrepublik Deutschland. Neue Wege und Inhalte in der Volksschule, hrsg. v. der Deutschen Hochschule für pädagogische Forschung, Dortmund 1955. Die 1951 gegründete „Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung“ in Frankfurt a.M. wurde 1964 in das zunächst nach Königsteiner Schlüssel von den Ländern allein und seit 1974 von Bund und Ländern gemeinsam als außeruniversitäre Forschungseinrichtung finanzierte „Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung“ (DIPF) umgewandelt.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
ßen empirischen Erhebung über den Stand der Schulreform nach dem Krieg,8 meldete – zunächst verwunderlich – die bremische Schulbehörde gänzlich Fehlanzeige. Als Erklärung hierfür wird in der erwähnten Erhebung für Bremen angeführt, dass dort mit der Verabschiedung des Schulgesetzes gleichzeitig neue Lehrpläne eingeführt worden seien. Bei deren Erarbeitung seien auch Ergebnisse verwertet worden, die in den drei Versuchsschulen Bremens und in einer Reihe von einzelnen Versuchsklassen vor 1933 gewonnen worden wären. Die Lehrpläne hätten methodische Anregungen und Vorschläge enthalten, ohne die methodische Freiheit der Lehrer einzuengen. Damit allerdings hätte sich die Einrichtung einzelner Versuchsschulen oder -klassen erübrigt: „Die Grenzen der durch Schulgesetz und Lehrpläne gegebenen methodischen Möglichkeiten sind so weit gezogen, daß bei ihrer Ausschöpfung die einzelnen Schulen den Schwerpunkt auf verschiedene Aufgaben der Schulreform gelegt haben (Ganzwortmethode, Gesamtunterricht, Gruppenunterricht, Arbeitsmittel, Arbeitsgemeinschaft und Wahlfächer, Fremdsprachenunterricht, Werkarbeit, musische Erziehung, Schülermitgestaltung). Aus dieser Sachlage erklärt sich, daß keine einzelnen ‚Versuchsschulen‘ besonders genannt werden können.“9 Eine annährend vergleichbare Situation soll in Hamburg vorgelegen haben. Die dortige Schulbehörde gab lediglich zwei Schulversuche im Volksschulbereich an. Sowohl das Schulgesetz als auch die Lehrpläne Hamburgs hätten seinerzeit so viel „Anregungen, Möglichkeiten und Freiheiten“ gegeben, dass „für jede Schule – auch für diejenigen, die man auf Grund ihrer besonderen Leistung unter anderen Umständen als Versuchsschulen bezeichnen würde – genug zu tun übrig bleibt, ehe man von der Erfüllung der Pläne sprechen kann.“ Es würde daher – bis auf die zwei Sonderfälle – in Hamburg keine Trennung in Normalschule und Versuchsschule geben. Vielmehr sei es angebracht, einige besonders reformfreudige Schulen als „Modellfälle“ zu nennen.10 Bei den beiden aufgelisteten Einzelversuchen, Jena-Plan-Schule in Hamburg-Wellingsbüttel und „Concordia-Versuch“ an der Albert-Thaer-Schule, wurden alle drei Zweige der hamburgischen Oberschule, die Praktische, Technische und Wissenschaftliche Oberschule (d.h. Volksschuloberstufe, Realschule und höhere Schule) in einer Art Einheitsschule zusammengefasst. Den Schulversuch an der Albert-Thaer-Schule gab man allerdings nach zehn Jahren auf; 8 So mit eingehender Wiedergabe und Würdigung der Ergebnisse dieser Erhebung: Jürgen Oelkers, Probleme mit der Geschichtsschreibung der deutschen Reformpädagogik. Vortrags-Typoskript, 2010 (Online-Ressouce: http://paed-services.uzh.ch/user_ downloads/1832/BadBolldef.pdf), S. 3. 9 Zitat: Chiout, Schulversuche, S. 48. 10 Vgl., einschließlich Zitate: Chiout, ebenda, S. 52 f.
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die Schule blieb wie vorher eine höhere Schule (vormals Oberrealschule, jetzt Gymnasium).11 Die Jena-Plan-Schule erhielt 1954 den Namen Peter-PetersenSchule. 1967 beschloss sie, die Jena-Plan-Struktur zu Gunsten einer integrierten Gesamtschule aufzuheben. Nach einer Distanzierung von ihrem Namensgeber wegen dessen Verhalten in der NS-Zeit heißt sie seit 2010 nach einer polnischen Widerstandskämpferin „Irena-Sendler-Schule“; außerdem wandelte sich die seit den 1970er Jahren bestehende Gesamtschule nach dem neuen hamburgischen Schulkonzept in eine „Stadteilschule“ um.12 Da die HIPF-Bestandsaufnahme auf den Volksschulbereich begrenzt war, findet sich darin nicht ein 1950 begonnener hamburgische Schulversuch mit zunächst zwei ersten Klassen an der Wissenschaftlichen Oberschule Alstertal II, 1954 fortgesetzt als einzügiger Schulversuch am Gymnasium Struckholt. Eng angelehnt an die Waldorfpädagogik verfolgte dieser Schulversuch einen integrativen Ansatz von Klassenstufe 1 bis 10. Im Jahre 1969 wurde der Versuchszweig in eine eigene Schule, die Albert-Schweitzer-Schule, als zweizügige „Gesamtschule besonderer pädagogischer Prägung“ im Sinne von § 15 Abs. 5 SchulG HH a.F. umgewandelt.13 Dem war eine Prüfung des Schulversuchs durch den Landesrechnungshof vorausgegangen. Dieser hatte in seinen Prüfungsmitteilungen hinterfragt, ob die Bezeichnung Schulversuch für einen bereits seit 1950 durchgeführten Schulbetrieb noch angängig war, und die Schulbehörde zu einer Stellungnahme über die Zukunft des Schulversuchs aufgefordert.14 Im Rahmen der hamburgischen Schulreform im Jahre 2009 erhielt die Albert-SchweitzerSchule schließlich als einzige staatliche Schule einen Sonderstatus, indem sie insbesondere nicht in eine Primar- und Stadtteilschule aufgeteilt wurde. In der Übergangsregelung, § 117 Abs. 2 SchulG HH, heißt es nunmehr: „Die AlbertSchweitzer-Schule besteht als staatliche Versuchsschule fort.“
11 Vgl. D. Stoltenberg, Zur Geschichte – die Frage der Kontinuität. Festschrift zum 120-jährigen Bestehen des AThs (1993), veröffentlicht online: http://www.albrechtthaer-gymnasium.de/athgeist/stbg.php. 12 Vgl.: http://irena-sendler-schule.hamburg.de/index.php/article/detail/1524. – Zum Konzept der Stadtteilschule, die zum 01.08.2010 neben dem Gymnasium als weitere Schulform eines zweigliedrigen Schulsystems mit einer wegen der ursprünglich vorgesehenen Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre zunächst heftig umstrittenen Schulreform in Hamburg eingeführt wurde und Hauptschule, Realschule und Gesamtschule ersetzt: http://www.hamburg.de/stadtteilschule. 13 Dazu: Walter Przygode, Zum Jubiläum der Albert-Schweitzer-Schule, in: AlbertSchweitzer Schule (Hrsg.), 50 Jahre Albert-Schweitzer Schule, Hamburg 2000, S. 13 f. 14 Siehe: Chronik der Albert-Schweitzer-Schule, veröffentlicht online: http://www. albert-schweitzer-schule.hamburg.de/index.php/article/detail/1053.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
5. Reformanstöße „von oben“ und geringes Reforminteresse in den Schulen Der Umstand, dass Reformkräfte der Weimarer Zeit nach 1945 in den Stadtstaaten, aber auch andernorts häufig in leitenden Funktionen der Schulverwaltungen tätig waren, führte dazu, dass bis auf wenige Ausnahmen Reformen zunächst ausschließlich „von oben“ angestoßen wurden. Nach Chiout sprach mancher damals überspitzt von einer „auf den Kopf gestellten Reform“: Vor 1933 sei die Schulerneuerungsarbeit in der Lehrerschaft gewachsen, die Schulverwaltung habe für diese Entwicklung von unten reif gemacht werden müssen. Nach 1945 würden hingegen nun die Schulbehörden versuchen, die Lehrerschaft zu stimulieren, weite Kreise der Lehrerschaft müssten für die Weiterentwicklung von oben her erst aufgeschlossen werden.15 Dieses anfänglich wenig ausgeprägte Reforminteresse in den Schulen selbst war auch in Bremen und Hamburg mit ursächlich für das Ausbleiben neuer Schulversuche, wahrscheinlich sogar noch mehr als ersterer Erklärungsversuch, der dafür die durch Schulgesetz und Lehrpläne ohnehin gewährten pädagogischen Freiheiten anführt. Es fehlte – anders als nach dem Ersten Weltkrieg – aufgrund der Zäsur der Nazi-Diktatur in weiten Teilen der Lehrerschaft an einer reformpädagogischen Basis, bei vielen neu eingestellten Lehrern schon aus Unkenntnis über die mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Weimarer Entwicklungen, meistens aber auch schlichtweg aus Desinteresse angesichts der Mangelsituation der unmittelbaren Nachkriegszeit und den daraus resultierenden existentiellen Sorgen und Bedürfnissen (Schulprovisorien, überfüllte Klassen, materielle Not von Lehrern und Schülern, Vergangenheitsbewältigung von Krieg und NS-Zeit).16 6. Wiederbelebung vereinzelter Versuchsschulen der Weimarer Zeit in West-Berlin Während in Bremen und Hamburg keine der ehemaligen Versuchsschulen aus der Weimarer Zeit an ihre reformpädagogische Tradition anknüpfen konnte,17 gelang dies der „Schulfarm Insel Scharfenberg“ in Berlin. Sie wurde auf Initiative ihres Gründers und nach 1933 ausgewechselten ersten Leiters, Wilhelm Blume (1884–1970), wiedergegründet. Kurze Zeit bis 1946 erneut von diesem geleitet, praktizierte die Schule ab 1949 unter der langjährigen Leitung eines ehemaligen Schülers, Wolfgang Pewesin, bereits ein System von Kernpflicht- und Wahlleis15 Siehe:
Chiout, Schulversuche, S. 171. Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.2, S. 86 ff. m.w.N. 17 Vgl.: Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.2, S. 88; Chiout, Schulversuche, S. 48 ff. 16 Ähnlich:
2. Kap.: Erste gesetzliche Regelungen in den Stadtstaaten und Hessen
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tungsfächern, wie es ähnlich später im Zuge der KMK-Oberstufenreform von 1972 allgemein im Schulbereich eingeführt wurde.18 Die Schulfarm ist heute ein staatliches Gymnasium mit Internat und nach Berliner Landesrecht „eine Schule besonderer pädagogischer Prägung“,19 die „neue Organisationsformen des Unterrichts ermöglicht, die ihrer intendierten reformpädagogischen Ausrichtung entsprechen“ (Trimester, Epochenunterricht, Neigungsfachdifferenzierung).20 In Berlin-Tegel gab es eine weitere Versuchsschule, die von Reformpädagogen der Weimarer Zeit geprägt wurde, die damals 13. Grundschule und heutige Franz-Marc-Grundschule. Die Nachkriegs-Schulleiterin hatte bereits vor 1933 in einer Lebensgemeinschaftsschule gearbeitet und eine Lehrerin, Irene Dietrich, die 1930 bei Maria Montessori in Rom ihr Montessori-Diplom erworben hatte, eröffnete ab 1947 an dieser Grundschule die erste Montessori-Klasse in Berlin nach dem Krieg.21 Auf der Grundlage eines von ihr initiierten Ausbildungskurses richtete man zwischen 1949 und 1955 bereits an sieben weiteren Berliner Grundschulen Montessori-Klassen ein, die allerdings seitens der Berliner Schulverwaltung nicht für die HIPF-Erhebung der Versuchsschulen gemeldet wurden.22 Dies lässt darauf schließen, dass – wie heute – die Montessori-Pädagogik im Rahmen der geltenden Lehrpläne und sonstigen schulrechtlichen Vorschriften 18 Vgl.:
Haubfleisch, Schulfarm, S. 874 ff., 900 ff. § 18 Abs. 3 SchulG BE ist die für das Schulwesen zuständige Senatsverwaltung ermächtigt, durch Rechtsverordnung „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“ einzurichten, die von einzelnen Vorschriften dieses Gesetzes oder von auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen abweichen können, soweit es das besondere pädagogische oder organisatorische Konzept erfordert. Zudem ist im vorherigen Abs. 2 geregelt, dass, wenn ein Schulversuch erfolgreich abgeschlossen wurde und eine flächendeckende Einführung des pädagogischen und organisatorischen Konzepts dennoch nicht in Betracht kommt, er Grundlage für die Einrichtung einer Schule besonderer pädagogischer Prägung sein kann. Die „Schulfarm Insel Scharfenberg“ ist eine solche Schule besonderer pädagogischer Prägung gemäß § 16 der Berli ner „Verordnung über die Aufnahme in Schulen besonderer pädagogischer Prägung (AufnahmeVO-SbP)“ v. 23.03.2006 (GVBl. S. 306) i.d.F. v. 14.02.2012 (GVBl. S. 50). – Siehe dazu auch umfassend: Antwort des Senats auf die Kleine Anfrage der Abg. Senftleben v. 07.11.2011, „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“, Abgeordnetenhaus Berlin, 16. WP, Drs. 16/10023. 20 Zitat der Ziff. I der Einrichtungsverfügung der Schule vom 03.05.2005 sowie Angaben aus dem Schulkonzept, veröffentlicht unter: http://www.insel-scharfenberg. de/Konzept%20SIS.pdf. 21 Vgl.: Chiout, Schulversuche, S. 47; Diana Stiller, Clara Grunwald und Maria Montessori. Die Entwicklung der Montessori-Pädagogik in Berlin, Hamburg 2008, S. 110 Fn. 206, S. 113. 22 Stiller, ebenda, S. 110, 121. – Nach dem dort wiedergegeben Stand 2005 gibt es heute 40 Grundschulen in Berlin, die nach der Montessori-Pädagogik arbeiten. Dazu gehört auch die Franz-Marc-Schule. Irene Dietrich war die führende Vertreterin der Montessori-Pädagogik der Nachkriegszeit in Berlin. Sie hatte in den 1920er Jahren 19 Nach
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umsetzbar war, die Unterrichtung nach dieser Methode allein also auch schon damals keinen Versuchsschulstatus mehr erforderte. Zwei weitere Versuchsschulen nennt die HIPF-Erhebung für Berlin, die Reinickendorfer Hermann-Schulz-Schule, eine Grundschule mit einer Oberschule aus Praktischem und Technischen Zweig, die nach dem Jena-Plan arbeitete, und die „Einheitsschule Berlin-Britz“. Letztere hatte als einzige West-Berliner Schule nach dem 1951 im Westteil erfolgten Abbruch der achtjährigen Einheitsschule über die schulgesetzliche Versuchsklausel die Genehmigung erhalten, die bisherige Organisationsform beizubehalten. Den Antrag hierzu hatte die Bezirksverwaltung beim Senator für Volksbildung gestellt, nachdem die Eltern der Schule auf einer Versammlung fast geschlossen dafür votiert hatten und anschließend auch eine Mehrheit im Lehrerkollegium zustande kam. Der nach den Versuchsschulbestimmungen einzuschaltende Berliner Erziehungsbeirat stimmte dem Antrag ebenfalls zu.23 Die Schule leitete Fritz Hoffmann, der von 1920 bis 1933 Lehrer und zuletzt Schulleiter der 32. (Lebensgemeinschafts-)Schule in der Rütlistraße gewesen war.24 Als Überbleibsel des Einheitsschulgesetzes wurde die 1956 nach dem Reformpädagogen Fritz Karsen benannte Schule damit zur ersten staatlichen Gesamtschule in der Bundesrepublik. In der Folgezeit beteiligte sich die Schule noch an einer Reihe weiterer Modellversuche. Ihre Beschränkung der äußeren Fachleistungsdifferenzierung auf die Fächer Englisch und Mathematik nahm die Kultusministerkonferenz 1982 in eine Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse am Ende der Klasse 10 auf. Seit 2008 beteiligt sich die Fritz-Karsen-Schule an dem Modellversuch „Gemeinschaftsschule“ des Landes Berlin; sie ist jetzt eine integrierte Gemeinschaftsschule mit Grund-, Mittel- und gymnasialer Oberstufe.25 bei Clara Grunwald, der seinerzeitigen Gründerin der „Deutschen Montessori-Gesellschaft“, gearbeitet. 23 Siehe: Chiout, Schulversuche, S. 42 ff. 24 Vgl.: Gerd Radde, Porträt Fritz Hoffmann, in: Gerd Radde u.a. (Hrsg.), Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, Bd. I: 1912 bis 1945, Opladen 1993, S. 204 ff. 25 Zur Geschichte der Schule: http://www.fritz-karsen.de/geschichte-fks. Dort auch Abdruck der Versuchsschulgenehmigung des Berliner Senators für Volksbildung v. 05.07.1951, wonach antragsgemäß zugelassen wurde, dass die Schule „als Einheitsschule gem. § 20 des Berliner Schulgesetzes in der Fassung vom 26.6.1949 fortgeführt wird.“ Siehe außerdem: Fritz Hoffmann, Die Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln. Ein Bericht über einen Schulversuch, in: Die Deutsche Schule 52 (1960), S. 151-161; Gerd Radde, Die Fritz-Karsen-Schule im Spektrum der Berliner Schulreform, in: Gerd Radde u.a. (Hrsg.), Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, Bd. 2: 1945 bis 1972, Opladen 1993, S. 68-84; Herbert Mitzka, Der Wissenschaftliche Zweig an der Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln in den Jahren von 1952 bis 1965. Ein Beitrag zur Geschichte der Einheitsschule, Einhausen 1987;
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Die Reinickendorfer Hermann-Schulz-Schule stand in der Tradition der 8. Volksschule, einer weltlichen Schule der zwanziger Jahre. Das wesentliche Anliegen der Schule war ein klassenweise gruppenunterrichtlich geführter „Gesamtunterricht“ und ein in der Oberstufe leistungsmäßig ausgerichteter Fachunterricht mit Stufung in Förderkurs, Hauptkurs und Sonderkurs. Für jeden Schüler gab es individuelle Stundenpläne; hiermit verbunden war insbesondere das Ziel, ein Sitzenbleiben zu vermeiden.26 In den 1970er Jahren wurde nach Abtrennung der Grundschule unter Fortführung des Namens der weiterführende Teil in eine Gesamtschule umgewandelt, die heute „Max-Beckmann-Oberschule – Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe“ heißt.27 Festzuhalten bleibt, dass in den Stadtstaaten trotz der sieben vorstehend wiedergegebenen, durchaus beachtlichen und auch heute noch fortwirkenden Reformprojekte die neuen schulgesetzlichen Möglichkeiten zur Durchführung von Schulversuchen in der ersten Nachkriegszeit nur wenig genutzt wurden.
II. „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“ in der Landesverfassung Hessens und Schulgesetzentwurf von 1948 In Art. 61 der Verfassung des Landes Hessen ist – bis heute unverändert seit Verabschiedung der Verfassung am 18.12.1946 – geregelt: „Private Mittel-, höhere und Hochschulen und Schulen besonderer pädagogischer Prägung bedürfen der Genehmigung des Staates.“ Angesichts dessen, dass nach dem Berliner Schulgesetz mit „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“ insbesondere solche öffentlichen Schulen bezeichnet werden, die aus erfolgreichen Schulversuchen hervorgegangen sind, und auch vereinzelt Schulgesetze anderer Länder darunter besonders ambitionierte öffentliche Schulen verstehen,28 könnte verWolfgang Keim, Reformpädagogik nach 1945 zwischen Wiederbelebung und Abbruch, Dogmatisierung und Kritik. Eine Bilanz, in: Frankfurter Rundschau v. 20.01.2000 (Online-Ressource: http://www.hasi.s.bw.schule.de/lehr132.htm). Die Gemeinschaftsschule wurde in Berlin zum Schuljahr 2008/2009 mit zunächst elf Schulen, darunter die Fritz-Karsen-Schule, eingerichtet. Der Schulversuch wurde durch die Einfügung einer Öffnungsklausel für Gemeinschaftsschulen, § 17a, in das Berliner Schulgesetz ermöglicht. Zur Konzeption und den Zielen dieser Schulreform: Hans-Jürgen Krzyweck/Thomas Duveneck, Das Schulrecht in Berlin, (Loseblatt-)Kommentar zum Schulgesetz, Neuwied (Stand 2011), § 17a; Amtliche Erläuterung online verfügbar: http://www.berlin.de/sen/bildung/bildungswege/gemeinschaftsschule. 26 Siehe: Chiout, Schulversuche, S. 44 f. 27 Zur Schulgeschichte: http://www.m-b-o.net/index.php/mehr/schulgeschichte. 28 Siehe: § 29 Abs. 2 SchulG BW oder § 22 Abs. 2 SchulG SN, wonach das jeweilige Land Schulträger u.a. von Schulen besonderer pädagogischer Bedeutung sein kann.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
mutet werden, dass die diesbezügliche hessische Verfassungsbestimmung einen ähnlich weiten Anwendungsbereich hat. Aus der systematischen Einbettung in der Verfassungsvorschrift über Privatschulen, vor allem aber aus der Entstehungsgeschichte ergibt sich indes, dass mit „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“ hier keine öffentlichen Schulen gemeint sind. Der erste Entwurf für die hessische Verfassung enthielt noch keine Vorschrift über das Privatschulwesen. Ursprüngliche Vorschläge von CDU und LDP waren im Verfassungsausschuss mehrheitlich abgelehnt worden. Im Zuge eines Verfassungskompromisses von SPD und CDU zur Frage der Sozialisierung, zum Verhältnis Kirche und Staat sowie zur Gemeinschaftsschule als Regelschule wurde in der 2. Lesung der Landesverfassung auch ein Art. 43a, der heutige Art. 61, eingefügt.29 Darin waren allerdings noch nicht die „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“ aufgeführt. Diese konkrete Erweiterung erfolgte in einer Sitzung des Verfassungsausschusses auf Anregung der SPD, nachdem die CDU vorher unter Hinweis auf eine Eingabe des Waldorf-Schulvereins Limburg/Lahn die Zulassung von „Experimentierschulen“ vorgeschlagen hatte.30 Damit bestand Einvernehmen, auch im Bereich der – in Art. 61 nicht genannten – Volksschulen private Schulen zuzulassen, aber eben nur, wenn diese eine besondere pädagogische Prägung aufweisen. Im Verfassungsausschuss wurde dessen einhellige Ansicht zu Protokoll genommen, dass aus Art. 61 im Umkehrschluss hervorgehe, dass private Volksschulen, die keine besondere pädagogische Prägung hätten, nicht zugelassen würden.31 Diese Auslegung korrespondiert mit der gleichgelagerten Einengung der Errichtungsfreiheit für private Volksschulen in Art. 7 Abs. 5 GG, was heute angesichts des Rückganges der Hauptschulen vor allem für den Grundschulbereich von Relevanz ist. Außerdem sieht das heutige hessische Ersatzschulfinanzierungsgesetz vor, dass für private Ersatzschulen, die vom Kultusminister als Versuchsschulen oder als Schulen besonderer pädagogischer Prägung bestätigt worden sind, das
29 Vgl. dazu: Georg August Zinn/Erwin Stein (Hrsg.), Die Verfassung des Landes Hessen. Kommentar, Bad Homburg/Berlin 1954, Art. 61 Entstehungsgeschichte sowie Einführung, S. 61; Martin Will, Die Entstehung der Verfassung des Landes Hessen von 1946, Tübingen 2009, S. 254, 438, 458, jeweils mit Angabe der entsprechenden Dokumente aus den Verfassungsberatungen. 30 Siehe: Stenogr. Protokolle über die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der verfassungsberatenden Landesversammlung Groß-Hessen, 18. Sitzung, Drucksachen der verfassungsberatenden Landesversammlung Groß-Hessen Abteilung III a, S. 240; außerdem: Will, ebenda, S. 492. 31 Vgl.: Will, ebenda.
2. Kap.: Erste gesetzliche Regelungen in den Stadtstaaten und Hessen
239
Land zusätzliche Beihilfen leistet.32 Nach der vom Hessischen Verfassungsgerichtshof gebilligten Auslegung des Kultusministeriums können als private Ersatzschulen besonderer pädagogischer Prägung diejenigen angesehen werden, die erstens Aufgaben wahrnehmen, die öffentliche Schulen im Regelfall nicht oder nicht ausreichend wahrnehmen können, deren Wahrnehmung aber notwendig erscheint, um aus Gründen der Chancengleichheit mögliche soziale Benachteiligungen, Benachteiligungen von körperlich oder geistig Behinderten oder Geschädigten und von Minderheiten ethnischer Art auszuschließen, oder die zweitens begründet organisatorisch, methodisch und/oder didaktisch andere Wege gehen als die öffentlichen Schulen und überprüfbar Lern- und Erziehungsziele der öffentlichen Schulen erweitern.33 Erwähnenswert ist schließlich, dass in Hessen bereits der Entwurf eines Schulgrundgesetzes vom 27.10.1948, der maßgeblich die Handschrift des damaligen Kultusministers und späteren Richters am Bundesverfassungsgericht Erwin Stein trug, eine Versuchsbestimmung vorsah.34 § 32 Abs. 3 des Entwurfs enthielt eine von den Versuchsvorschriften der Stadtstaaten deutlich abweichende Regelung: „Die Schulformen neuer und eigener Arten sind zunächst in einigen geeigneten Schulen zu erproben, ehe sie allgemein zur Wahl gestellt werden.“
Dieser Gedanke, neue Schulformen vor ihrer landesweiten Einführung zunächst in überschaubarem Maß zu erproben, zeigt sehr deutlich eine veränderte Sichtweise auf Versuchsschulen an. Sie werden in der Nachkriegszeit zum Instrument des planenden Staates, sind also nicht primär Gewächse, die an der Basis entstehen, sondern – wie auch bereits für die Stadtstaaten nach 1945 aufgezeigt – Reformelemente „von oben“. Die hessische Gesetzesinitiative von 1948 versandete freilich; in Hessen wurde ein umfassendes Schulgesetz erst 1961 erlassen.
32 § 4 Hessisches Gesetz über die Finanzierung von Ersatzschulen (Ersatzschulfinanzierungsgesetz) v. 06.12.1972 (Hess.GVBl. I S. 389) i.d.F. v. 14.12.2006 (Hess. GVBl. I S. 658). 33 Vgl.: VGH Kassel, Beschl. v. 31.05.1999, 7 UE 2961/95, juris Rn. 48. 34 Siehe: Entwurf eines Gesetzes über den Aufbau des Schulwesens (Schulgrundgesetz) v. 27.10.1948, abgedruckt in: Erwin Stein (Hrsg.), Entwurf des Gesetzes über den Aufbau des Schulwesens (Schulgrundgesetz) und Begründung, Heft 9/10 der Reihe: Der deutsche Lehrer. Gedanken und Anregungen zur Lösung der Erziehungsaufgaben der Gegenwart, hrsg. vom Ministerium für Kultus und Unterricht Hessen, Wiesbaden o.J. (1949).
Drittes Kapitel
Schulversuche und Versuchsschulen in der SBZ und der DDR I. Frühes „Aus“ für reformpädagogische Versuchsschulen Während die Sowjetische Besatzungsmacht und die sozialistischen Schul politiker in Ost-Berlin die Aufnahme einer Schulversuchsregelung im Schulgesetz für Groß-Berlin von 1948 mittrugen, hatten sie hingegen – wie bereits erwähnt – in ihrem zwei Jahre zuvor erlassenen Schulgesetz für die sowjetischen Besatzungszonen eine Versuchsklausel nicht vorgesehen. Da in der SBZ das Einheitsschulwesen konsequent eingeführt werden sollte, ließ das knapp gefasste sozialistische Schulgesetz von 1946 keinerlei Ausnahmen und Abweichungen davon zu. Denn die Einheitsschule war hier mehr als nur eine Organisationsform. Sie wurde als Instrument eines Klassenkampfes in einem „einheitlichen revolutionären Prozess“ unter der Führung der Sozialistischen Einheitspartei verstanden, durch den das bürgerliche deutsche Bildungssystem beseitigt und ein „antifaschistisch-demokratisches Bildungswesen“ aufgebaut werden sollte.1 Diese grundsätzliche Sichtweise änderte sich auch nicht nach der im Oktober 1949 erfolgten Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Leitidee blieb das „einheitliche sozialistische Bildungssystem“, und zwar nicht nur mit einem einheitlichen organisatorischen Aufbau, sondern auch mit einheitlichen Lehrplänen und Lehrbüchern. Deshalb sah nicht nur das Schulgesetz keine Schulversuche und Versuchsschulen vor, eine entsprechende Begrifflichkeit wurde gleichfalls im amtlichen Schriftverkehr weitgehend vermieden.2 Zwar hatte die mit totalitärem Anspruch auftretende sozialistische Schulpolitik zunächst noch die Arbeit einzelner, der Reformpädagogik der Weimarer Zeit verpflichteten Schulreformer geduldet, etwa die Fortführung der die NS-Zeit überdauerten Universitäts-Übungsschule von Peter Petersen in Jena sowie drei 1 Siehe dazu die frühere offizielle DDR-Geschichtsschreibung: Günther, Bildungswesen, S. 8 ff. 2 So: Gert Geißler, Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1962, Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 226.
3. Kap.: Schulversuche in der SBZ und der DDR
241
weitere nach dem Jena-Plan in Thüringen arbeitende Schulen (Zentralschule Dollberg, Landschule Schoppendorf und Landschule Niedergrundstedt)3 oder die zunächst unter einer sozialdemokratischen Stadtregierung wiedereröffnete Berthold-Otto-Schule in Magdeburg.4 Auch waren in bescheidenem Umfang in den Anfangsjahren 1945/1946 noch neue reformpädagogisch motivierte Schulversuche und Versuchsschulen zugelassen worden, doch mussten alle diese Versuche in den Jahren 1949–1951 eingestellt werden, als die Reformpädagogik endgültig unter das allgemeine politische Verdikt der Unzeitgemäßheit verfiel. Dies betraf den Jena-Plan ebenso wie den Gesamtunterricht im Sinne von Berthold Otto, die Montessori- wie Landerziehungsheim-Pädagogik,5 den 1946 gestarteten Schulversuch einer Verbindung von Grundschule und Tagesheim an der Humboldt-Schule Chemnitz6 oder einen im Januar 1949 begonnenen, aber schon im selben Jahr zum Auslaufen gebrachten reformpädagogisch beeinflussten Landschulversuch im mecklenburgischen Drosedow.7 Verboten wurde auch die 1945 wiedereröffnete Rudolf-Steiner-Schule in Dresden, die mit 1000 Schülern damals zweitgrößte Waldorfschule Deutschlands. Am 28.08.1949 teilte der zuständige Schulrat unter Beisein von zwei SEDVertretern dem Schulleiter ohne vorherige Anhörung im Parteibüro die Schließung der Schule mit folgender Begründung mit: „Die Pädagogik Rudolf Steiners sei für die weitere Entwicklung der Pädagogik der Ostzone nicht mehr tragbar, da diese keinen klassenkämpferischen Charakter trage und es darauf jetzt einzig und allein ankomme. Die Ausrichtung des Schulwesens nach rein marxistischleninistischen Grundsätzen sei jetzt unbedingte Forderung und darin habe die Schule versagt. Die geringe Zahl der ‚Jungen Pioniere‘ von insgesamt 50 zeige deutlich, dass die Schule auf politischem Gebiet ihre Aufgabe nicht erfüllt habe. Diesen Tatsachen gegenüber würden auch die zweifellos entstandenen pädago3 Vgl.:
Geißler, Geschichte des Schulwesens SBZ/DDR, S. 226. Reinhard Bergner, „Die Frage darf nicht an zu viel Nahrung ersticken.“ Gesamtunterricht an der Magdeburger Berthold Otto Schule. Eine Chance für zeitgemäße Bildungsprozesse?, in: Renate Girmes (Hrsg.), Modernisierungsdruck als Bildungschance, Münster 1997, S. 28. 5 Vgl.: Christine Lost, „Versuche mit neuen Vorschlägen“ – Erfahrungen, Kontinuitäten und Experimente in der Bildungsgeschichte der DDR, in: Dieter Kirchhöfer/ Hans Merkens (Hrsg.), Vergessene Experimente. Schulversuche in der DDR, Baltmannsweiler 2005, S. 29. 6 Dazu: Andreas Pehnke, Sächsische Reformpädagogik. Traditionen und Perspektiven, Leipzig 1998, S. 107 ff.; ders., Widerständige sächsische Schulreformer im Visier stalinistischer Politik (1945–1959), Frankfurt a.M. 2008, S. 17 ff.; Geißler, Geschichte des Schulwesens SBZ/DDR, S. 226 Fn. 1010. 7 Hierzu ausführlich: Dietrich Benner/Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Teil 3.1: Staatliche Schulversuche in SBZ und DDR, Weinheim/ Basel 2005, S. 78 ff. 4 Vgl.:
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
gisch anerkennenswerten Leistungen nicht mehr ins Gewicht fallen.“8 Verhindert wurde 1948/1949 auch der Aufbau einer weiteren Waldorfschule in Leipzig, wobei hier ähnlich bemängelt wurde, dass die Schule noch auf dem „idealistisch-liberalistischen Standpunkt der Reformpädagogik vor 1933“ stehe und die Schüler nicht genügend „für die reale Betrachtung der Gegenwart und für ihre zeitgegebenen Aufgaben“ vorbereite.9 Die Waldorfschulen wie auch andere reformpädagogische Versuchsschulen wurden damit nach der Nazi-Diktatur in nur kurzer Zeit ein zweites Mal von einem totalitären Regime handstreichartig geschlossen, und zwar mit Begründungen, die auch im Hinblick auf das Bildungssystem die DDR nicht als einen Rechtsstaat, sondern als ein Unrechtssystem ausweisen.10 Diesbezüglich sei auch nochmals auf die bereits erwähnte ministerielle Einlassung bei der Schließung der Jenaer Universitäts-Versuchsschule hingewiesen. Die Rechtfertigung Peter Petersens für seine Weigerung, sich mit seiner Schule an Aktionen der Pionier-Bewegung zu beteiligen, die da lautete, mit Kindern dürfe keine Politik betrieben werden, wertete der DDR-Staat schlichtweg als reaktionär und sah darin ein politisch sehr gefährliches Überbleibsel aus der Weimarer Republik. Für solche Experimente werde man kein Geld ausgeben.11
II. Abkehr von der Reformpädagogik als Ausfluss des Totalitätsanspruches sozialistischer Bildungspolitik Die Abkehr von der „bürgerlichen“ Reformpädagogik mag zwar mitunter auch fachlich motiviert gewesen sein, wie etwa in einem „Bericht über die Schulreform“ vom 23.12.1947 der Schulabteilung der damaligen „Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung“ für die Sowjetische Militäradministration, wonach Zweifel bestünden, ob eine Pädagogik „vom Kinde aus“, das absichtsvolle Zurückdrängen der Lehrerpersönlichkeit, die planlose Aneignung von Kenntnis-
8 Zitat: Die Geschichte der Dresdner Waldorfschule. Online verfügbar unter: http:// www.waldorfschule-dresden.de/. 9 So wiedergegeben bei: Geißler, Geschichte des Schulwesens SBZ/DDR, S. 227 Fn. 1011. 10 Angesichts solcher schuldiktatorischer Maßnahmen ist es kaum verständlich, wenn vereinzelt die DDR als Rechtsstaat im Hinblick auf die Ordnung ihres Bildungssystems interpretiert wird. So aber etwa mit einem nicht überzeugenden Vergleich mit der Verwirklichung des Rechts auf Bildung in der alten Bundesrepublik: Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.1, S. 42 Fn. 47. 11 Siehe oben mit Quellenangabe Erster Teil Drittes Kapitel IV. 3. b).
3. Kap.: Schulversuche in der SBZ und der DDR
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sen und Fertigkeiten wirklich zweckmäßig und allgemein anwendbar seien.12 Letztlich wollte man aber keine vom sozialistischen Einheitssystem abweichenden Schulmodelle dulden. Dies zeigt auch die Schließung und Nichtzulassung von Privatschulen im DDR-Staat. Schon in einem Befehl des Obersten Chefs der sowjetischen Militärverwaltung über die Wiedereröffnung der Schulen vom 25.08.1945 war die Umwandlung aller Privatschulen in staatliche Schulen und ein Verbot, jegliche neuen allgemeinbildenden oder fachlichen Privatschulen zu eröffnen, angeordnet worden.13 Das Schulgesetz von 1946 sah in der Folge Privatschulen nicht mehr vor und auch die nachfolgenden Schulgesetze von 1959 und 1965 änderten daran nichts. Die DDR-Verfassung von 194914 enthielt in Art. 38 Abs. 1 Satz 3 sogar ein ausdrückliches Verbot („Privatschulen als Ersatz für öffentliche Schulen sind unzulässig.“). Nur eine einzige nichtstaatliche allgemeinbildende Schule konnte unter schwierigen Bedingungen die DDR-Zeit überdauern, die 1939/1940 von den NS-Schulbehörden geschlossene und 1945 mit einer vorläufigen Erlaubnis der sowjetischen Kommandantur wiedereröffnete, von der katholischen Schwesternschaft der Ursulinen getragene Theresien-Oberschule in Berlin-Weissensee. Die Zulassung als konfessionelle, zum Abitur führende Privatschule wurde 1946 durch den Kontrollrat der Alliierten Kommandantur bestätigt, die Schule damit quasi der Vier-Mächte-Verantwortung unterstellt. Dennoch waren Anfang 1953 schon Schritte zu deren Auflösung eingeleitet, die erst eingestellt wurden im Zuge kleinerer Kurskorrekturen der DDR-Staatsführung nach Stalins Tod im März 1953, die auch die Zurücknahme gegen die Kirchen gerichteter Maßnahmen (insbesondere Beschränkungen hinsichtlich des Religionsunterrichts in Schulräumen) beinhaltete. Die Theresien-Oberschule, die nur Oberklassen für 200 Mädchen umfasste, blieb allerdings verpflichtet, ihrem Unterricht die amt lichen Lehrpläne und Lehrbücher der DDR zugrunde zu legen.15 Selbst ein Schulversuch, der systemkonform auf eine Modifizierung der sozialistischen Einheitsschule abzielte, wurde im Jahre 1949 untersagt. In Thüringen hatten elf Schulen versucht, das Entstehen neuer gymnasialer Oberstufen in der Einheitsschule zu vermeiden, indem die seinerzeitige 8-klassige 12 Zitiert
nach: Geißler, Geschichte des Schulwesens SBZ/DDR, S. 217. Nr. 40 der SMAD über die Vorbereitung der Schulen zum Schulbetrieb“ v. 25.08.1945, hier Ziff. I c). Abdruck: Kommission für deutsche Erziehungsund Schulgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hrsg.), Monumenta Paedagogica, Bd. VI: Dokumente zur Geschichte des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik, Teil 1: 1945–1955, (Ost-)Berlin 1970, S. 182. 14 GBl. DDR 1949, S. 5. 15 Dazu: Geißler, Geschichte des Schulwesens SBZ/DDR, S. 379 ff.; Sabine Rückert, Die Insel der Frommen. Von der Existenz der Theresienschule wurde im SEDStaat nur getuschelt, in: Die Zeit, Nr. 7 v. 07.02.1992, S. 96. 13 „Befehl
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Grundstufe und die 4-klassige Oberstufe zu einer 12-klassigen Einheitsschule zusammengeführt wurden. Ein solches Einheitsschul-Modell hatte bereits der Schulreformer Paul Oestreich in der Weimarer Zeit und auch an führender Stelle in der Ost-Berliner Schulverwaltung zu Beginn der SBZ gefordert. Die „Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung“ in Ostberlin hielt den „Zwölfjahresschulen“ jedoch amtlicherseits entgegen, dass sie die zur Oberstufe gehörende Berufsschule nicht berücksichtigten. Zudem war die Zentralverwaltung offenbar daran interessiert, eine neue, hochqualifizierte Intelligenz heranzuziehen.16 Das Ende des thüringischen Schulversuchs mit Gründung der DDR wird rück blickend in der historischen Bildungsforschung damit erklärt, dass die SED eine planwirtschaftliche Steuerungsmöglichkeit in der Hand haben wollte, eine schulische Selektion nach Klasse 8 ausgerichtet auf den Bedarf an Facharbeitern und Studierenden vornehmen zu können.17 Die Schulpolitik der SED war seit dem Übergang zur zentralen Wirtschaftsplanung im Herbst 1947 vor allem an öko nomischen Kennziffern orientiert; die Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte zum Zwecke der Planerfüllung hatte nunmehr höchste Priorität.18 Erklärtes Ziel war es außerdem vor allem in den 1950er Jahren, das Bildungssystem nach sowjetischem Vorbild auszugestalten. Übernommen wurden schrittweise das sowjetische Modell der 10-klassigen Schule, obwohl diese Organisa tionsform im Schulgesetz von 1946 gar nicht vorgesehen und schulgesetzlich erst 1959 festgeschrieben wurde, vor allem aber auch die didaktisch-methodischen Prinzipien der Sowjetpädagogik.19 Letzteres erfolgte nachhaltig durch eine Verordnung über die „Unterrichtsstunde als Grundform der Schularbeit“.20 Darin 16 Siehe dazu: Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.1, S. 85 ff., unter Hinweis insbesondere auf einen Artikel des damaligen Stellv. Hauptabteilungsleiter der Schulabteilung der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, Max Kreuziger. 17 So: Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.1, S. 87. 18 Mit Belegen: Geißler, Geschichte des Schulwesens SBZ/DDR, S. 216. 19 Vgl.: Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 279; Geißler, Geschichte des Schulwesens SBZ/DDR, S. 264 ff., 282 ff.; Siegfried Baske, Allgemeinbildende Schulen, in: Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart, Zweiter Teilband: Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer, München 1998, S. 168 ff.; Kersten Reich, Theorien der Allgemeinen Didaktik. Zu den Grundlinien didaktischer Wissenschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik, Stuttgart 1977, S. 233 ff. 20 „Verordnung über die Unterrichtsstunde als Grundform der Schularbeit, die Vorbereitung, Organisation und Durchführung der Unterrichtsstunde und die Kontrolle und Beurteilung der Kenntnisse der Schüler“ v. 04.07.1950, abgedruckt in: Monumenta Paedagogica (Fn. 13), S. 365 ff.; Dietrich Benner/Wolfgang Eichler/Karl-Franz Göstemeyer/Horst Sladek, Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Teil 3.1: Staatliche Schulreform und Schulversuche in SBZ und DDR, Weinheim/Basel 2003, S. 148 ff.
3. Kap.: Schulversuche in der SBZ und der DDR
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wurde 1950 in teils wörtlicher Übernahme sowjetischer Texte die Bedeutung des Unterrichts und die führende Rolle des Lehrers hierbei betont. Die in dieser Verordnung getroffenen Festlegungen, mit denen gleichzeitig eine deutliche Absage an reformpädagogische Konzeptionen verbunden war, behielten bis zum Ende der DDR als pädagogische Leitformeln Gültigkeit.21 Mit einer unverhohlenen Polemik wurde regierungsamtlich die Reformpädagogik, die Methoden der „sogenannten bürgerlichen Schulreformer“, als „reaktionär“ und „imperialistisch“ endgültig aus dem Schulalltag verbannt: „Alle Unterrichtsmethoden, die diesen didaktischen Prinzipien widersprechen oder sie abschwächen, sind aus dem Unterricht zu entfernen. Das sind alle reaktionären, imperialistischen Unterrichtsmethoden. Dazu gehören aber auch die Methoden der sogenannten bürgerlichen Schulreformer, wie z.B. ‚Erziehung vom Kind aus‘‚ ,freie Erziehung‘, ‚Arbeitsschulunterricht‘, ‚Auflösung des Klassenunterrichtssystems durch Gruppenunterricht‘, ‚Gelegenheitsunterricht‘ und andere.“22 Im Jahre 1956 erschien ein unter DDR-Pädagogen viel beachteter Aufsatz des Ost-Berliner Pädagogik-Professors Robert Alt „Über unsere Stellung zur Reformpädagogik“.23 Wenngleich durchaus die historische Bedeutung der 21 Vgl.:
Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 279; Heinz-Elmar Tenorth/Sonja Kudella/Andreas Paetz, Politisierung im Schulalltag der DDR. Durchsetzung und Scheitern einer Erziehungsambition, Weinheim 1996, S. 83 ff.; Geißler, Geschichte des Schulwesens SBZ/DDR, S. 282 f., Baske, Schulen (Fn. 19), S. 169 f. 22 Siehe auch die Abkanzlung reformpädagogischer Strömungen durch die damalige Staatssekretärin und spätere Ministerin im DDR-Volksbildungsministerium in dem Zeitschriftenaufsatz: Else Zaisser, Zur Arbeit des Deutschen Pädagogischen Zentral instituts, in: Pädagogik 5 (1950), S. 44-47; Nachdruck: Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.), Das Erziehungswesen der Sowjetzone. Eine Sammlung von Zeugnissen der Sowjetisierung und Russifizierung des mitteldeutschen Schulwesens, Bonn 1952, S. 40-47, hier Zitat S. 45 f.: „Auf ideologischem Gebiet bedeutet der Kampf um die konsequente Durchführung der demokratischen Schulreform nicht nur eine energische Auseinandersetzung mit den Überresten faschistischer Ideologie, sondern auch mit den noch bestehenden schulreformerischen Tendenzen, die darauf abzielen, den systematischen Lehrprozeß zu stören, die organisierende und führende Rolle des Lehrers im Unterrichtsprozeß in den Hintergrund zu schieben. Und in mechanistischer Auslegung des Grundsatzes ‚vom Kinde aus‘ oder durch heuchlerische Phrasen über ‚freie Erziehung‘, ‚Erziehung zur Aktivität‘, zur ‚Selbständigkeit‘, zur ‚Freiheit der Persönlichkeit‘ und wie sie alle heißen, die Initiative auf das Schülerkollektiv zu übertragen und dem Lehrer eine mehr korrigierende als führende Rolle im Unterrichtsund Erziehungsprozeß zuzuweisen. Durch die unzweideutige und kompromißlose Auseinandersetzung mit allen reaktionären und volksfeindlichen Theorien …“. 23 Erstabdruck in der von ihm mit herausgegebenen DDR-Zeitschrift: Pädagogik 11 (1956), S. 343-353, 355-367. Wiederabdruck auszugsweise: Benner/Eichler u.a. Quellentexte Reformpädagogik, Teil 3.1, S. 160-181. – Zur Person: Ulrich Wiegmann, Robert Alt und Heinrich Deiters. Die Anfänge universitärer sozialistischer Pädagogik und Lehrerbildung, in: Klaus-Peter Horn/Heidemarie Kemnitz (Hrsg.), Pädagogik
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Reformpädagogik bei der Überwindung der Drillschule des 19. Jahrhunderts sowie deren humanistischen Kern würdigend, enthielt auch er eine deutliche Abgrenzung zur bürgerlichen Reformpädagogik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese sei über den Rahmen des „kleinbürgerlichen Revolutionarismus“ nicht hinausgekommen. Auf der Argumentationslinie der KPD in der Weimarer Republik wird der Reformpädagogik vorgehalten, sie habe letzthin einer Verschleierung der wachsenden Widersprüche der kapitalistischen Ordnung gedient. Statt zum revolutionären Kampf der organisierten Arbeiterschaft zur Überwindung der Klassengesellschaft und ihrer Schule beizutragen, habe sie den um sich greifenden Veränderungswillen in eine antirevolutionäre, in Wahrheit die bestehende Klassenschule nicht antastende Bahn gelenkt. Aus pädagogischer Sicht konnte Alt zwar einer „Pädagogik vom Kinde“ und der Konzeption der „freien Schulen“ einige, auch im Hinblick auf eine eventuelle Übernahme in die sozia listische Erziehung positive Elemente abgewinnen. Letztlich verwarf er diese Strömungen aber als realitätsfremd; sie ignorierten, „die dialektischen Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt, zwischen Entfaltung der kindlichen Anlagen und der Erziehung als bewußter Einwirkung der menschlichen Umgebung“. Schließlich verteidigte Alt auch „manches grobschlächtige und schlechthin verdammende Urteil“ über die Reformpädagogik in der Vergangenheit. Nach dem Zusammenbruch des Faschismus habe man aus dem Nichts in kurzer Zeit eine neue Schule schaffen müssen und dabei nicht zulassen können, dass deren Gesicht von den falsch erkannten Grundhaltungen der Reformpädagogen geprägt oder „zum Tummelplatz der verschiedensten Experimente gemacht wurde“.24 Mit der Unterbindung reformpädagogischer Vorhaben und Unterrichtsgestaltungen war also ebenso bezweckt, Schulversuche zu unterbinden, die den Einheits- und Zentralisierungsbestrebungen der sozialistischen Schulpolitik zuwiderliefen. Nach Ansicht des Bildungsforschers Heinz-Elmar Tenorth ging es letztlich darum, ob es „neben dem Primat der Politik autonome Rechte und Innovationschancen der Pädagogik geben kann“.25 Die Ausgrenzung der Reform pädagogik und dementsprechend die Verhinderung entsprechender Schulversuche durch die offizielle DDR-Schulpolitik hielt bis zur Wende 1989 an. Bescheidene Ansätze unter einigen DDR-Bildungshistorikern ab Mitte der 1970er Jahre zu einer teilweise positiven Neubewertung der Reformpädagogik fanden keinen Eingang in das staatlich kontrollierte Schrifttum und blieben weitgehend öffentUnter den Linden. Von der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 253-270; Bodo Friedrich/Dieter Kirch höfer/Christa Uhlig (Hrsg.), Robert Alt (1905–1978), Frankfurt a.M. 2006. 24 Siehe, auch zu den Zitaten: Alt, ebenda, Wiederabdruck, S. 169 ff., 173 ff., 180. 25 Zitat: Heinz-Elmar Tenorth, Die Bildungsgeschichte der DDR – Teil der deutschen Bildungsgeschichte?, in: Sonja Häder/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Bildungsgeschichte einer Diktatur. Bildung und Erziehung in SBZ und DDR im historisch-gesellschaftlichen Kontext, Weinheim 1997, S. 93.
3. Kap.: Schulversuche in der SBZ und der DDR
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lich unbekannt.26 Noch auf dem letzten, dem 9. Pädagogischen Kongress der DDR im Juli 1989 sprach der Präsident der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, Gerhard Neuner, einer „Renaissance der Reformpädagogik“ jeg liche Berechtigung ab. Reformpädagogische Thesen könnten für „revisionistische Angriffe“ auf die sozialistische Schule und Pädagogik gebraucht werden. Auf die rhetorische Frage, warum die „schöpferische Weiterentwicklung der marxistisch-leninistischen Pädagogik“ mit einer Wiederentdeckung solcher Thesen verbunden sein sollte, stellte er unmissverständlich klar: Der Marxismus verfüge selbst „über eine wissenschaftlich begründete Konzeption der Entwicklung der Persönlichkeit in der Gesellschaft, des Verhältnisses von Kulturaneignung und Persönlichkeitsentwicklung, der Rolle der Tätigkeit, der Dialektik, von Individualität und Kollektivität.“27 Soweit einige DDR-Pädagogen entgegen der regierungsamtlichen Linie Elemente der Reformpädagogik, ohne diese so zu benennen, noch aufgriffen, blieben dies Einzelfälle, ohne nennenswerte Auswirkung auf das DDR-Regelschulsystem.28 Es handelte sich dabei auch nicht um staatlich anerkannte Schulversuche, sondern um stillschweigend tolerierte Abweichungen im Rahmen der Grauzonen des sozialistischen Bildungsrechts. Nicht überzeugend sind in diesem Zusammenhang die Bemühungen vereinzelter heutiger Bildungswissenschaftler, trotz der strikten regierungs- und parteiamtlichen Ablehnung im Nachhinein bestimmte Modernisierungsvorhaben im DDR-Schulsystem als reformpädagogisch zu interpretieren, und darauf basierend sogar die Behauptung aufzustellen, es habe bis zum Ende der DDR dort weiterhin eine „Vielfalt reformpädagogischer Vorhaben“ gegeben.29 26 Vgl. dazu und allgemein zum Umgang mit der Reformpädagogik in der ehemaligen DDR: Siegfried Baske, Pädagogische Wissenschaft, in: Christoph Führ/CarlLudwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart, Zweiter Teilband: Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer, München 1998, S. 143 ff., insb. hier S. 145. 27 Siehe einschließlich Zitat: Bulletin des IX. Pädagogischen Kongresses, Berlin (Ost) 1989, Heft 3, S. 34. Zitiertt auch bei: Baske, ebenda. 28 Ebenso: Baske, Schulen (Fn. 19), S. 198. 29 So etwa: Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.1, insb. S. 127 f., 144, 167, 179. Ähnlich: Lost, Versuche (Fn. 5), S. 29 f., 38 („geheime“ Reformpädagogik). – Es mutet befremdlich an, wenn von Benner/Kemper (ebenda, S. 128) beispielhaft eine bei Zwickau gelegene „Zentralschule Mosel“ angeführt wird, über die es dann allerdings heißt, diese habe sich aufgrund ihrer Programmatik und auch von ihrer Praxis eher als Gegenteil einer reformpädagogischen Einrichtung verstanden. Auch die wenigen zum Beleg angeführten fünf anderen Schulbeispiele (Zentralschule Kalkreuth, Internatsoberschule Haubinda, Mittelschule Wesenberg, Internatsoberschule Seewalde und Polytechnische Oberschule Rackwitz) mögen zwar sozialistische Reformschulen, die letzteren beiden anscheinend auch im Status von Versuchsschulen gewesen sein, aber nicht, wie die Autoren behaupten (etwa S. 167), mit der Intention und dem Auftrag,
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
III. Zum Charakter des Schulversuchs im damaligen sozialistischen Bildungsrecht Genauso wenig trägt das Unterfangen einer Reihe von früheren DDR-Bildungswissenschaftlern, in einer im Jahre 2005 erschienenen Publikation unter der Überschrift „Vergessene Experimente. Schulversuche in der DDR“ das damalige Bildungssystem im Nachhinein als vermeintlich reich an Schulversuchen darzustellen, verbunden mit der Forderung, diese für die heutige Bildungsdiskussion in Deutschland stärker fruchtbar zu machen.30 Die dort berichteten Schulversuche waren, wie generell offiziell anerkannte Schulversuche in der DDR seit Mitte der 1950er Jahre, staatlich konzipierte und gelenkte Forschungsvorhaben, stets zumindest in verbaler Übereinstimmung zu halten mit der Parteilinie und damit zu integrieren in die, wie Akademiepräsident Neuner es nannte, „schöpferische Weiterentwicklung der marxistisch-leninistischen Pädagogik“. Dieser Charakter des Schulversuchs in der DDR wird deutlich an dessen erstmaliger gesetzlicher Verortung im DDR-Schulgesetz von 1965. Eine Regelung hierüber findet sich nicht in den Abschnitten über das einheitliche sozialistische Schulsystem, sondern im neunten Abschnitt über die Aufgaben der pädagogischen Wissenschaft. Danach hatte diese unter anderem die zweckmäßigsten Formen und Methoden für die Planung und die Leitung des Bildungs- und Erziehungsprozesses zu erarbeiten. Dazu seien, so § 30 Abs. 2 Satz 5 des Gesetzes, „Schulversuche und wissenschaftliche Experimente durchzuführen.“ Schulversuche waren damit stets wissenschaftlich begleitete Versuche, die auf der Grundlage zentral aufgestellter und vorgegebener Forschungsziele und Forschungsplanungen erfolgten. Ab dieser Zeit führte man sie zumeist in eigens dazu erklärten
„reformpädagogische Strukturelemente“ in die „sozialistische Normalpädagogik“ zu integrieren. Die Autoren verweisen im Übrigen selbst (S. 204) auf ein Referat der letzten DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker und kommen zutreffend zu der Bewertung, dass diese für die DDR eine Rückkehr zur bürgerlichen Reformpädagogik ausschloss. Abdruck jener Rede: Margot Honecker, Auch wir Pädagogen stellen uns der Herausforderung dieses Jahrhunderts – Für jeden Schüler den besten Start ins Leben sichern. Referat auf der Zentralen Direktorentagung vom 10. bis 12. Mai 1982, in: Pädagogik 37 (1982), S. 449, 454-462. Nachdruck: Benner/Eichler, Quellentexte Reformpädagogik, Teil 3.1, S. 389-394. 30 Dieter Kirchhöfer/Hans Merkens (Hrsg.), Vergessene Experimente. Schulversuche in der DDR, Baltmannsweiler 2005. – In diesem vom früheren Vizepräsidenten an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR, Prof. Dieter Kirchhöfer, mit herausgegebenen Werk berichten fast ausschließlich ehemalige Forschungsleiter und wissenschaftliche Mitarbeiter über Forschungsvorhaben, an denen sie während der DDR-Zeit mitgewirkt haben.
3. Kap.: Schulversuche in der SBZ und der DDR
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„Forschungsschulen“ durch, der Begriff „Versuchsschule“ wurde später kaum noch verwendet.31 Auch bestand bis zuletzt ein erheblicher rechtlicher Unterschied zum westdeutschen Bildungsrecht. Zu keiner Zeit bedurfte es in der DDR zur Durchführung von „Schulversuchen“ einer besonderen gesetzlichen oder auf Gesetz beruhenden Ermächtigungsgrundlage. Die ersten beiden DDR Schulgesetze wiesen überhaupt keine Bestimmungen zu Schulversuchen auf, und dennoch wurden Schulversuche durchgeführt. Die erwähnte Regelung im DDR-Schulgesetz von 1965 war sodann als reine Kompetenzzuweisung und Auftrag an die pädagogische Wissenschaft formuliert, nicht als materielle Ermächtigung zur Abweichung von geltendem DDR-Schulrecht. Dessen bedurfte es auch nach der diesem zugrunde gelegenen sozialistischen Rechtstheorie nicht. Das Recht hatte in der DDR keinen allem staatlichen Handeln übergeordneten Stellenwert, sondern war eine der Politik untergeordnete, der Durchsetzung sozialistischer Ziele dienende Kategorie. Sozialistisches Recht war der „zum Gesetz erhobene Wille der Arbeiterklasse und aller Werktätigen“.32 Nach Art. 1 der DDR-Verfassung von 1968/1974 wurde dieser unter der Führung der „marxistisch-leninistischen Partei“, der SED, ausgeübt, so dass deren Beschlüsse für alles staatliche Handeln verbindlich waren. Gesetzgebung und vollziehende Gewalt hatten somit der politischen Führung der Partei zu folgen und deren Willen umzusetzen. Das sozialistische Recht war damit ein dynamisches Recht, das sich den gesellschaftlichen Entwicklungen und dem diesbezüglichen alleinigen Erkenntnis- und Entscheidungsmonopol der Partei anzupassen hatte. Dies bedeutete auch, dass Abweichungen von gesetzlichen und anderen rechtlichen Bestimmungen nicht zwingend deren formelle Änderung oder Aufhebung bedurften. Sozialistische Rechtsanwendung war vielmehr „Synthese von realer gesellschaftlicher Lage und Gesetzesregel; Maßstäbe dieser Subsumtion waren einschlägige Parteibeschlüsse und Präambeln der Gesetze, die über den Entstehungszusammenhang und die Ziele Auskunft gaben.“33 Demzufolge gab es drei Quellen, die verbindliche Vorgaben für das DDRSchulwesen enthielten: die Parteitagsbeschlüsse und Verlautbarungen von Zen31 Siehe
etwa die Ausführungen bei: Günther, Bildungswesen, S. 27. (Gesamtredaktion: Joachim Michas/Gerwin Udke), Sozialistisches Recht. Lehrbuch für das Grundlagenfach, 7. Aufl., Berlin (Ost) 1983, S. 11. 33 Dazu, einschließlich Zitat: Lutz R. Reuter, Rechtliche Rahmenbedingungen und Rahmenbedingungen, in: Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart, Zweiter Teilband: Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer, München 1998, S. 27 f. – Siehe auch: Erika Lieser-Triebnigg, Recht in der DDR. Einführung und Dokumentation, Köln 1985, S. 8 f.; Gert Geißler, Schuladministration und Schulrecht in der DDR, in: RdJB 2012, S. 453 ff. 32 Autorenkollektiv
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
tralkomitee und Politbüro der SED, die partei- und staatsamtlichen Erklärungen auf pädagogischen Konferenzen und Kongressen sowie die staatlichen Gesetze, Verordnungen, Richtlinien, Erlasse und sonstigen staatlichen Akte im Schulbereich. Aus alledem folgt, dass der Begriff „Schulversuch“ im DDR-Schulwesen keine rechtliche Funktion hatte, sondern eine pädagogische Neuerung bezeichnete, die modellhaft unter wissenschaftlicher Leitung an einer Schule ausprobiert wurde. Ob man dabei von bestehenden gesetzlichen oder untergesetzlichen rechtlichen Schulvorschriften abwich oder sich die Veränderung in deren Rahmen bewegte, war für die Einordnung irrelevant. Soweit übergeordnete zentrale Stellen in Partei oder Staat das Vorhaben befürworteten, konnte dieses durchgeführt werden. Vieles, was im bildungswissenschaftlichen Schrifttum früher und heute als Schulversuch in der DDR bezeichnet wird, ist deshalb – insbesondere bei rückblickenden Zuschreibungen – in jedem Einzelfall zu prüfen und auch zu hinterfragen.
IV. Zentralstaatlich gelenkte Schulversuche seit Mitte der 1950er Jahre bis zum Ende der DDR Zu Beginn einer Auflistung relevanter Schulversuche für das DDR-Schulwesen seit dem Schlussstrich unter die Reformpädagogik ist zunächst ein solcher in einem sozialistischen „Bruderland“ zu nennen: Zwar war das in den 1950er Jahren eingeführte „System der polytechnischen Bildung“, und damit das Grundmodell des allgemein bildenden DDR-Schulsystems, in Versuchsschulen vorbereitet worden, allerdings nicht richtungsweisend in der DDR. Man orientierte sich hier zunächst weitgehend an einem durch den sowjetischen Pädagogen Schapowalenko entwickelten und in Versuchsschulen der Sowjetunion erprobten Modell,34 1959 vom Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut der DDR als Buch in deutscher Übersetzung publiziert: „Polytechnische Bildung in der sowjetischen Schule“.35
34 So: Baske, Schulen (Fn. 19), S. 175. Vgl. auch: Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.1, S. 157 f.; Oskar Anweiler, Vom Revisionismusverdikt zum einheitlichen Bildungssystem, in: Sonja Häder/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Bildungsgeschichte einer Diktatur. Bildung und Erziehung in SBZ und DDR im historisch-gesellschaft lichen Kontext, Weinheim 1997, S. 124 ff. Generell zum Vorbild der sowjetischen Pädagogik für das Bildungswesen der DDR, insbesondere bis Anfang der 1960er Jahre: Christine Lost, Sowjetpädagogik. Wandlungen, Wirkungen, Wertungen in der Bildungs geschichte der DDR, Baltmannsweiler 2000. – Zum Forschungsstand auch: Tenorth, Bildungsgeschichte der DDR (Fn. 25), S. 69 ff. 35 S. G. Schapowalenko, Polytechnische Bildung in der sowjetischen Schule, hrsg. v. Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut, 1. Aufl., (Ost-)Berlin 1959.
3. Kap.: Schulversuche in der SBZ und der DDR
251
Angeregt nicht zuletzt von entsprechenden Entwicklungen im sowjetischen Schulwesen war auch die seit 1957 auf Drängen der SED auf den Weg gebrachte Einrichtung von sogenannten Tagesheimschulen. Bis 1959 wurden insgesamt elf solcher Schulen im Rahmen eines auch so titulierten „Schulversuch Tagesheimschule“ eröffnet.36 Die Erprobung eines ganztägigen Schulbesuches wurde mit der Notwendigkeit begründet, vor allem alleinstehende Mütter zu entlasten, neue Arbeitskräfte zu gewinnen und eine bessere Förderung jedes Schülers zu ermöglichen. Ausweislich eines zu diesem Schulversuch verfassten Richtlinien entwurfs ging es aber der sozialistischen Staatsführung um weitaus mehr. Ziel des Schulversuches war es danach auch, „neue Formen der Kollektiverziehung“ und die „Verbindung der unterrichtlichen, außerunterrichtlichen und außerschulischen Erziehungs- und Bildungsarbeit“ zu erproben,37 und damit stand dahinter unzweideutig die Absicht, eine noch intensivere erzieherische Einflussnahme des sozialistischen Staates auf die Jugend zu ermöglichen.38 Dies traf vor allem auf den Widerspruch der Kirchen, die unter Betonung des Erziehungsrechts der Eltern eine solche ganztägige Beschulung ablehnten. Dennoch wurde ab 1960 – insbesondere aufgrund einer entsprechenden Aufforderung der Abteilung Schulbildung des Zentralkomitees der SED an das Volksbildungsministerium – mit dem weiteren Ausbau von Tagesheimschulen in allen Kreisen der DDR begonnen, zum Schuljahr 1960/1961 mit 68 Schulen. Auch dies sollte, wie es sich im gelenkten Schulsystem eigentlich von selbst verstand, unter strikter zentralstaatlicher Planung und Kontrolle geschehen. Das Ministerium sah sich allerdings seinerzeit gezwungen, die Bezirksschulräte vor eigenständigen Entwicklungen zu warnen, für die es offenbar „ernste Anzeichen“ gegeben hatte.39 Der Plan, die Tagesschule als „Schule der Zukunft“ auszubauen, wurde im Juni 1961 nochmals in Empfehlungen des 6. Pädagogischen Kongresses bekräftigt.40 Außerdem brachte man 1962 ein bis 1968 dauerndes Forschungsvorhaben auf den Weg, durch das die Gestaltung ganztägiger Bildungs- und Erziehungsprozesse an allen Schulen eines bestimmten Gebietes, in Berlin-Köpenick
36 Dazu
ausführlich: Geißler, Geschichte des Schulwesens SBZ/DDR, S. 526 ff. aus dem Entwurf einer „Richtlinie über die Weiterführung des Schulversuchs Tagesheimschule im Schuljahr 1959/60“, wiedergegeben nach: Geißler, ebenda, S. 527. 38 Ebenso: Geißler, ebenda, S. 526. 39 Siehe auch dazu: Geißler, ebenda, S. 529. 40 Siehe: Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.), Für die Verbesserung des Lernens und der sozialistischen Erziehung an den Oberschulen. Protokoll des 6. Pädagogischen Kongresses Berlin (v. 03.06.–05.06.) 1961, Teil I, (Ost-)Berlin, S. 158-160. Nachdruck: Benner/Eichler u.a., Quellentexte Reformpädagogik, Teil 3.1, S. 272-274. 37 Zitat
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
(30 Schulen) und Leipzig Südwest (50 Schulen), erprobt wurde.41 Doch zeigte sich immer stärker, dass noch für lange Zeit die finanziellen Ressourcen für eine Umwandlung aller Halbtagsschulen der gesamten DDR zu Ganztagsschulen fehlten.42 Die Tageserziehung wurde deshalb zwar in § 17 des DDR-Schulgesetzes von 1965 gesetzlich normiert, aber nicht als verbindlich für alle Schulen vorgeschrieben. Stattdessen war dort der Auftrag formuliert, die Tageserziehung „für eine ständig wachsende Zahl von Schülern an allen Schulen mit hoher Qualität durchzuführen.“ Das DDR-Schulgesetz von 1965 sah im Übrigen auch sogenannte Spezialschulen und Spezialklassen vor. Diese konnte das Ministerium für Volksbildung gemäß § 18 des Gesetzes in begrenztem Umfang errichten. Dabei handelte es sich jedoch nicht um Versuchsschulen. Spezialschulen waren vielmehr allgemeinbildende Schulen, die den „besonderen Erfordernissen der Nachwuchsentwicklung für die Wirtschaft, die Wissenschaft, den Sport und die Kultur“ dienen sollten. Als Aufnahmevoraussetzung für die Schüler wurden hohe Leistungen und besondere Begabungen festgelegt. Bereits in den 1950er Jahren hatten als Talentschmieden auch ohne gesetzliche Regelung einzelne Kinder- und Jugendsportschulen sowie Spezialschulen für Musik, Theater oder Bildende Kunst bestanden. Neben Spezialschulen konnten nunmehr an der Polytechnischen Oberschule oder der Erweiterten Oberschule auch Spezialklassen „technischer, mathematischer, naturwissenschaftlicher, sprachlicher, künstlerischer und sportlicher Richtungen“ eingerichtet werden. In den 1970er und 1980er Jahren besuchten etwa 3 % der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs diese hoch selektiven, auf Talentförderung ausgerichteten Spezialschulen und Spezialklassen, die letztlich, ideologisch betrachtet, im Widerspruch zum Prinzip der Einheitlichkeit des sozialistischen Bildungswesens standen.43 Abschließend ist zum Umfang der Schulversuche in der DDR festzuhalten, dass auch im DDR-Bildungssystem durchaus Modernisierungs- und Erneuerungsprozesse stattfanden, jedoch immer in den Bahnen enggeführter sozialis41 Dazu:
Marianne Berge/Gerhard Sielski, Die Tagesschulversuche in den 60er Jahren in Berlin und Leipzig, in: Dieter Kirchhöfer/Hans Merkens (Hrsg.), Vergessene Experimente. Schulversuche in der DDR, Baltmannsweiler 2005, S. 62-73. – Ob die Einschätzung, dass es sich dabei um einen „Großversuch“ handelte, zutrifft, mag dahingestellt bleiben. Zumindest nach der Verankerung der Tagesheimschule im DDR-Schulgesetz von 1965 erscheint dies fraglich, unbeschadet dessen, dass wissenschaftlich begleitet durch eine „Forschungsgemeinschaft Tagesschule“ beim Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut in Berlin (Ost) nach organisatorischen, curricularen und sonstigen neuen Lösungen und Verbesserungen der ganztägigen Beschulung gesucht wurde. 42 Siehe: Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.1, S. 158; Berge/Sielski, ebenda, S. 73. 43 Vgl.: Baumert/Cortina/Leschinsky, Grundlegende Entwicklungen, S. 65.
3. Kap.: Schulversuche in der SBZ und der DDR
253
tischer Ideologie. Seit Anfang der 1960er Jahre wurden solche Änderungen teilweise vorbereitet sowie begleitet durch größere Forschungsvorhaben und Untersuchungen. Doch waren dies in erster Linie den Schulen „von oben“ aufgesetzte Forschungsprojekte, unter zentraler Leitung, Kontrolle und Ausrichtung des Volksbildungsministeriums sowie zunächst des Deutschen Pädagogischen Instituts und später der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR.44 Es waren personell und finanziell besonders geförderte Forschungen, denen seitens der politischen Führung unter der Parole „Einheit von Bildungspolitik und Forschung“45 nicht zuletzt eine systemstabilisierende Funktion beigemessen wurde. Von den Hauptlinien der offiziellen Forschungsplanung abweichende Forschungsinteressen hatten kaum Realisierungschancen.46 Die zentral formulierten und vorgegebenen Forschungsvorhaben befassten sich vor allem mit der Steigerung von Schülerleistungen vor dem Hintergrund der notwendigen Verbesserung der Produktivität der DDR-Wirtschaft, wobei bis zuletzt ein stark lehrerzentrierter, durch stoffliche Lehrpläne streng festgelegter und kaum methodische Vielfalt zulassender Unterricht vorgeschrieben blieb.47 Weiterhin waren Hauptgegenstände der weitgehend von politischen Nützlichkeitsvorstellungen und parteilichen Erfolgserwartungen dominierten DDR-Bildungsforschung48 die Veränderung schulischer Rahmenbedingungen und die 44 Dazu:
Lost, Sowjetpädagogik, S. 30 f. Günther, Bildungswesen, S. 26. 46 Vgl.: Christa Uhlig, Das Pädagogische Erbe- und Traditionsverständnis in der DDR – Bezugsrahmen für die Entwicklung der Erziehungswissenschaften, in: Dieter Kirchhöfer/ Christa Uhlig (Hrsg.), „Verordnete“ Einheit versus realisierte Vielfalt. Wissenschaftliche Schulenbildung in der Pädagogik der DDR, Frankfurt a.M. 2011, S. 46. Nach Uhlig (ebenda, Fn. 3) galten sie „oft als Außenseiter- oder Hobbyforschung“. 47 Zu dieser Bewertung des DDR-Unterrichts: Werner Helsper/Heinz-Hermann Krüger/Hartmut Wenzel, Schule und Gesellschaft im Umbruch – einleitende Anmerkungen und Fragen, in: dies. (Hrsg.), Schule und Gesellschaft im Umbruch, Bd. 2: Trends und Perspektiven der Schulentwicklung in Ostdeutschland, Weinheim 1996, S. 23. – Die feste Systemeinbindung der pädagogischen Wissenschaft zeigte sich darin, dass gemäß § 5 des Statuts der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften deren Präsident dem Minister für Volksbildung verantwortlich war und die „ideologischtheoretische Führung der wissenschaftlichen Arbeit … auf der Grundlage staatlicher Vorgaben“ gewährleisten musste. Zitiert nach: Ernst Cloer, Pädagogische Wissenschaft und Allgemeine Pädagogik in der DDR. Anmerkungen zur aktuellen Lage und Diskussion, in: Bernhard Dilger/Friedrich Kuebart/Hans-Peter Schäfer (Hrsg.), Vergleichende Bildungsforschung. DDR, Osteuropa und interkulturelle Perspektiven, Festschrift für Oskar Anweiler, Berlin 1986, S. 225. 48 Näher zur Einordnung der wissenschaftlichen Pädagogik der DDR als „politisierte Wissenschaft“, die nie eindeutig zwischen „parteilich-politischer Reflexion und distanzierter Beobachtung des Erziehungswesens“ entschieden habe: Tenorth, Bildungsgeschichte der DDR (Fn. 25), S. 92. – Dies deckte sich auch mit der Funktion der 45 Zitat:
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Erprobung gewisser, das System als solches nicht antastende Differenzierungen der sozialistischen Einheitsschule.49 Mit Schulversuchen im klassischen Sinne hatte dies alles wenig zu tun.
Schule. Prägnant die zugespitzte Bewertung: „Schule war in der DDR ein Rädchen in der Auswahl staatstreuer Eliten, gekoppelt mit der Überwachung durch SED, FDJ und Staatssicherheit.“ Zitat: Rainer Eckert, Zwischen Wissensvermittlung und Politikindoktrination, in: Sonja Häder/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Bildungsgeschichte einer Diktatur. Bildung und Erziehung in SBZ und DDR im historisch-gesellschaftlichen Kontext, Weinheim 1997, S. 133. 49 Vgl. dazu die in den Einzelbeiträgen bei Kirchhöfer/Merkens vorgestellten angeblich „Vergessenen Experimente“.
Viertes Kapitel
Forderungen nach mehr Schulversuchen in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre und die Restriktionen des „Düsseldorfer Abkommens“ I. Versuchsschul-Memorandum von Herbert Chiout In einem Memorandum des Pädagogen Herbert Chiout vom Februar 1954, abgedruckt am Schluss seiner Bestandsaufnahme der Schulversuche in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, beklagte dieser nachdrücklich, dass es damals im Gegensatz zur Weimarer Zeit keine allgemeine Reformbewegung in Westdeutschland gab. Obschon seine Erhebung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber basierend auf den Angaben der Kultusministerien, immerhin 313 Schulversuche im Volksschulbereich zu Tage gefördert hatte, hielt er als Resümee fest: „Das Bild der gegenwärtigen Schule ist so, daß wir – mit geringen Ausnahmen – in fast allen Bundesländern von einer Normalschule sprechen können, die gekennzeichnet ist durch konventionelle Formen und Inhalte; aus dieser verhältnismäßig gleichförmigen Menge an Normalschulen ragen hier und da einzelne Versuchsschulen heraus, an denen in verantwortungsbewußter Weise die Möglichkeiten einer Erziehung erprobt werden, die für die Aufgaben der Gegenwart und der nahen Zukunft bereit macht.“1 Chiout forderte, bei der in den meisten Ländern zwischenzeitlich in Angriff genommenen Arbeit an neuen Bildungsplänen „Freiheit im Möglichen und Sicherheit und Führung im Notwendigen zu geben“ und dabei die wertvolle Pionierarbeit der Versuchsschulen mitzubedenken. Da seine Erhebung ergeben hatte, dass die seinerzeit bestehenden Versuchsschulen wenig kollegialen Austausch untereinander pflegten, die Lehrkräfte an den Versuchsschulen dadurch meistens ganz auf sich gestellt waren, trat er zweitens dafür ein, Kontakte zwischen den einzelnen Versuchsschulen herzustellen, deren Lehrkräfte zusammenzubringen und ihnen Kenntnis voneinander zu geben.2 Dazu zählte er eine Reihe von Möglichkeiten auf, vor allem auch Hilfeleistungen der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung, die 1 Zitat:
Chiout, Schulversuche, S. 226. ebenda.
2 Siehe:
256
2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
aber fast alle nicht aufgegriffen wurden. Die heute wieder von der Bildungsforschung beachtete Versuchsschul-Erhebung nebst dem Memorandum3 hatte insgesamt keinen nachhaltigen Einfluss auf die bildungspolitische Diskussion der 1950er Jahre nehmen können.
II. Tübinger Resolution zu Modellschulen von 1951 Anders war es mit einer Resolution zu Modellschulen, die auf einer Tagung zum Thema „Universität und Schule“ am 30.09./01.10.1951 im Leibniz-Kolleg der Universität Tübingen verabschiedet worden war.4 Sie war die zweite von fünf Resolutionen namhafter Hochschulwissenschaftler und Vertreter höherer Schulen zur inneren Reform dieser Schulen, die als „Tübinger Beschlüsse“ eine beacht liche Resonanz in der Fachöffentlichkeit fanden. Sie wurden in fast allen damaligen pädagogischen Zeitschriften publiziert. Hauptsächlich organisiert von dem seinerzeitigen Leiter des Landschulheims Birklehof, Georg Picht,5 war die Tagung rückblickend der Beginn der Nachkriegsdiskussion über die Ausgestaltung der gymnasialen Oberstufe und die inhaltlichen Anforderungen an die Hochschulreife – Stichworte: Reduzierung der Stofffülle, exemplarisches Lernen, „Mut zur Lücke“6,
3 Siehe: Oelkers, Geschichtsschreibung, S. 2 ff.; Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.2, S. 85 ff.; Dühlmeier, Reformpädagogen, S. 114 ff. 4 Abdruck der „Tübinger Beschlüsse“ in: Hans Bohnenkamp/Walter Dirks/Doris Knab (Hrsg.), Empfehlungen und Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen 1953–1965. Gesamtausgabe, Stuttgart 1966, Anhang S. 1027 ff. – In Auszügen und mit Kommentierung: Wilhelm Flitner, Die „Tübinger Beschlüsse“. Ein Anfang zur inneren Schulreform, in: ders., Grund- und Zeitfragen der Erziehung und Bildung, Stuttgart 1954, S. 125-134; Wiederabdruck: Wilhelm Flitner, Gesammelte Schriften, Bd. 10: Gymnasium und Universität, hrsg. v. Karl Erlinghagen/Andreas Flitner/Ulrich Herrmann, Paderborn u.a. 1997, S. 143-152, 558-561 (Anm. 2, 3). 5 Die Initiative zu dem Kongress war von dem Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker ausgegangen. Siehe zur Vorgeschichte und zum Teilnehmerkreis des Kongresses: Sven Bergmann, Die Diskussion um die Bildungsreform in der Nachkriegszeit (Georg Picht), in: Norbert Friedrich/Traugott Jähnichen (Hrsg.), Gesellschaftspolitische Neuorientierungen des Protestantismus in der Nachkriegszeit, Münster 2002, S. 117 ff. Vgl. auch zu den „Tübinger Beschlüssen“: Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 589 f. 6 Das Schlagwort „Mut zur Lücke“ ging zurück auf die Reformpädagogin Minna Specht, wie bereits erwähnt Leiterin des Landschulheims Walkemühle bei Melsungen bis 1933 und Nachkriegsleiterin der Odenwaldschule von 1946 bis 1951. In letzterer Funktion tätigte sie ihren Aufruf erstmals 1948 in einer Rede vor dem Hessischen Landesschulbeirat. Siehe: Minna Specht, Mut zur Lücke. Rede vor dem Landesschulbeirat von Hessen, 1948, abgedruckt in: Hellmut Becker/Willi Eichler/Gustav Heckmann
4. Kap.: 1950er Jahre und „Düsseldorfer Abkommen“
257
Schwerpunktsetzung in der Oberstufe, Beschränkung der Prüfungsfächer im Abitur.7 Der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Flitner forderte in einem Einführungsvortrag der Tübinger Tagung für die auch von ihm als dringend notwendig erachtete „Reform von innen“, dass seitens der Schulverwaltungen einzelnen öffentlichen und privaten Schulen der Charakter von „Modellschulen“ auf deren Antrag zuerkannt und ihnen die dafür nötige Freiheit gewährt werden solle.8 Durch diesen einfachen und wirksamen Schritt könne die innere Reform der höheren Schulen wesentlich gefördert werden, ohne dass Eingriffe in das bestehende organisatorische Gefüge des Schulwesens notwendig würden. Den Begriff „Modellschulen“ zog er demjenigen der „Versuchsschule“ vor, weil diesem seiner Ansicht nach aus der frühen Phase der pädagogischen Reformbewegung das Element des Experiments zu stark anhaftet, und Experimente im eigentlichen Sinne dürfe man nicht mit Kindern machen. Die produktiven Schulen jener Epoche seien auch nicht bloße „Versuche“ gewesen, sondern vielmehr der Absicht nach schon durchgestaltete Organismen, in denen mit bestimmten psychologischen oder didaktischen Einsichten Ernst gemacht worden sei. Für eine begrenzte Zahl von Modellschulen, die er nicht nur in Großstädten, sondern auch in Mittel- und Kleinstädten für wünschenswert hielt, erachtete Flitner drei Freiheiten für notwendig: Freiheit der Schulen, sich ihren Lehrkörper selbst zusammenzustellen, zweitens die Freiheit, den Stoff der Lehrpläne der Quantität nach einzuschränken und drittens Zubilligung einer Reifeprüfungsordnung, die ihrem Bildungsgedanken und ihrer Stoffbeschränkung entspricht. Jene (Hrsg.), Erziehung und Politik. Minna Specht zu ihrem 80. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1960, S. 387-399, Zitat S. 387. 7 Ähnliche Einschätzung: Marko Neumann, Innovation oder Restauration – Die (Rück ?)Reform der gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg, in: Ulrich Trautwein/Marko Neumann/Gabriel Nagy/Oliver Lüdtke/Kay Maaz (Hrsg.), Schulleistungen von Abiturienten. Die neu geordnete gymnasiale Oberstufe auf dem Prüfstand, Wiesbaden 2010, S. 39. 8 Siehe hierzu wie zu den nachfolgend wiedergegebenen Ausführungen Flitners den Abdruck des Vortrags in überarbeiteter Fassung: Wilhelm Flitner, Grund- und Zeitfragen der Erziehung und Bildung, Stuttgart 1954, S. 134-138; Wiederabdruck: Wilhelm Flitner, Gesammelte Schriften, Bd. 9: Volksschule und Elementarbildung, hrsg. v. Karl Erlinghagen/Andreas Flitner/Ulrich Herrmann, Paderborn u.a. 2005, S. 331-335. – Bereits in der Weimarer Zeit hatte Flitner „neue pädagogische Versuchsschulen“ zur Vorbereitung einer Reform der oberen Jahrgänge der Volksschule und der darauf aufbauenden Ausbildungen befürwortet, wobei diese nicht unbewusst oder indirekt durch das Vorbild der höheren Schule oder der früheren Volksschule bestimmt sein sollten. Siehe: Wilhelm Flitner, Berechtigungswesen. Entschließung des Hauptausschusses des Deutschen Industrie- und Handelstages vom 16. April 1929, in: Die Erziehung 4 (1929), S. 653-656; Wiederabdruck: Wilhelm Flitner, Gesammelte Schriften, Bd. 10 (Fn. 4), S. 29-33, hier insb. S. 33.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
drei Freiheiten sollten, so konstatierte er, nicht einer weiteren Zersplitterung des deutschen Schulwesens Vorschub leisten; die allgemein für die höheren Schulen aufgestellten amtlichen Bildungsziele sollten für sie durchaus gültig bleiben. Sie sollten aber befähigt werden, diese Ziele auch wirklich zu erreichen, was seiner Ansicht nach offenbar seinerzeit in den höheren Schulen nicht der Fall war. Abschließend forderte er, alle Schulneubauten bereits auf die Bedürfnisse solcher „avantgardistischer“ Schulen einzurichten. Flitners Plädoyer für die Errichtung mehr „gewagter Schulen“ unter Gewährung der drei Freiheiten findet sich so in der von ihm auch verantwortlich unterzeichneten9 zweiten „Resolution Modellschulen“ der Tübinger Tagung wieder: „Die Versammlung ist sich darüber einig, daß die ernsten Gefahren, die heute das deutsche Bildungswesen bedrohen, ohne eine innere Umgestaltung der höheren Schulen nicht überwunden werden können. Um eine solche Erneuerung zu befördern und die zu ihrer Durchführung nötigen Erfahrungen zu ermöglichen, schlägt die Versammlung vor, es möge ausgewählten öffentlichen und privaten Schulen die Freiheit zu einer selbständigen Ausgestaltung des Unterrichts insbesondere auf der Oberstufe gewährt werden. Hierzu wäre vor allem erforderlich
1. die freie Zusammenstellung ihrer Lehrkörper,
2. die freiere Gestaltung des Lehrplans zum Zwecke der Vertiefung in das Wesentliche,
3. die im Einvernehmen mit den Ministerialbehörden zu vollziehende Beschränkung der Prüfungsfächer im Abitur.“
Die „Tübinger Beschlüsse“ wurden ein Jahr später ausdrücklich bekräftigt in den „Weinheimer Entschließungen“ einer großen Arbeitstagung von Theo retikern und Praktikern der Schule, organisiert vom Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e.V. Mannheim, in denen einleitend insbesondere stand, der Resolution „über die Gewährung besonderer Freiheiten für einzelne öffentliche und private höhere Schulen wird ohne Einschränkung zugestimmt.“10 Ebenfalls sekundierte die „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände“, die 1954 in ihren „Programmatischen Grundsätzen“ allerdings nicht im Hinblick auf die höheren Schulen, sondern generell auf das Bildungswesen erklärte: „Die überlieferten Formen der Schule können die unter den veränderten Verhältnissen der Gegenwart neu gestellten Aufgaben nicht mehr erfüllen. Es gehört zu den Aufgaben des Staates und der Gemeinden, in Zusammenarbeit mit Lehrern und
9 Vgl.:
Bergmann, Diskussion, S. 113. Bohnenkamp/Dirks/Knab, Empfehlungen, Anhang, S. 1000-1002.
10 Abdruck:
4. Kap.: 1950er Jahre und „Düsseldorfer Abkommen“
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Vertretern der Wissenschaft Schulversuche zu fördern, die geeignet sind, durchgreifende Reformen des gesamten Schulsystems einzuleiten.“11
III. Empfehlung des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ zur Errichtung von Versuchsschulen (1954) Auf die Tübinger Resolution nahm sodann auch eine „Empfehlung zur Errichtung von Versuchsschulen“ des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ vom 02.07.1954 Bezug.12 Dieser war zwischen 1953 bis 1965 ein unabhängiges ehrenamtliches Beratergremium von 20 auf fünf Jahre berufenen Persönlichkeiten. Auf dessen Einsetzung hatten sich die seit 1948 bestehende „Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder“ (KMK) und das Bundesministerium des Innern vor dem Hintergrund anhaltender Kritik am Zustand des deutschen Schulwesens, insbesondere an den unterschiedlichen Schulsystemen der Länder trotz zunehmender Mobilität der westdeutschen Bevölkerung (Sarkastischer Slogan seinerzeit: Vater versetzt, Kind sitzengeblieben), verständigt. Laut § 1 seiner Satzung hatte der Deutsche Ausschuss die Aufgabe, die Entwicklung des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens zu beobachten und durch Rat und Empfehlung zu fördern.13 In diesen Kontext gehört auch eine Anfang Februar 1954 verabschiedete Entschließung der Ministerpräsidentenkonferenz, in der die Regierungschefs der Länder, alarmiert durch die immer stärker ausufernde öffentlichen Debatte über ein angebliches „Schulchaos“, es für unerlässlich hielten, über alle bereits von der KMK getroffenen Maßnahmen hinaus „in der äußeren Organisation des Schul- und Erziehungswesens eine weitgehende Vereinfachung und eine Vereinheitlichung zwischen den Ländern herbeizuführen“.14
11 Zitiert
nach: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.), Material und Nachrichtendienst Nr. 119/März 1966: Zur Verabschiedung des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, S. 19. – Bei der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände“ handelte es sich um ein bis Ende der 1960er Jahre bestehendes Bündnis der GEW mit dem Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband. 12 Abdruck: Bohnenkamp/Dirks/Knab, Empfehlungen, S. 521 f. 13 Abdruck: Ebenda, Anhang S. 966 f. – Zur personellen Zusammensetzung des Ausschusses: Ebenda, S. 12-15. Allgemeine Darstellung: Ulla Kleemann, Der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen. Eine Untersuchung zur Bildungspolitik-Beratung in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1977; Benner/ Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.2, S. 126 ff. 14 Abdruck: Ebenda, Anhang, S. 1003; Froese, Bildungspolitik, S. 292 f.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
In seiner Versuchsschul-Empfehlung von 1954 bedauerte der Deutsche Ausschuss, dass der Appell der entsprechenden Tübinger Entschließung bis dahin nur wenig Widerhall in der Praxis gefunden hatte, „obwohl auf diesem Wege ohne größere Eingriffe in das gegenwärtige Gefüge unseres Bildungswesens – im Rahmen der bestehenden Verhältnisse und mit geringem Aufwand an Geldmitteln – wesentliche Ergebnisse erzielt werden könnten“.15 Letzteres entsprach fast wörtlich der seinerzeitigen Tübinger Argumentation Flitners und erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass der Organisator der Tübinger Tagung, Georg Picht, in den Deutschen Ausschuss berufen worden war und laut eines Zeitzeugen maßgebend an den ersten Entschließungen mitgewirkt hatte.16 Es müsse, so der Deutsche Ausschuss damals, Versuchsschulen geben, solle Vereinheitlichung des Schulwesens, für die er in einer vorangegangenen Empfehlung erste Vorschläge unterbreitet hatte, nicht gleichbedeutend sein mit dem Verzicht auf pädagogische und institutionelle Entwicklung. In seiner Versuchsschul-Empfehlung übernahm der Deutsche Ausschuss auch wörtlich den Vorschlag der Tübinger Resolution, Versuchsschulen jene dort genannten drei Freiheiten als notwendige Voraussetzung einer selbstständigen Ausgestaltung des Unterrichtes zu gewähren. Der Deutsche Ausschuss regte die Einrichtung derart beschaffener Versuchsschulen in allen Bundesländern an. Nur wenn zur theoretischen Gesinnung die praktische Erprobung getreten sei, werde die Reform des deutschen Bildungswesens aus dem Feld der Erörterungen in die schulische Wirklichkeit überführt werden können. Und weiter verdeutlichte der Ausschuss: „Versuchsschulen kommt die Aufgabe zu, solche Erprobung zu leisten und die anderen Schulen davon zu entlasten. Auf diese Weise werden gesicherte Ergebnisse erreicht werden können, ohne daß das Gesamtschulwesen einer ständigen Beunruhigung ausgesetzt wird.“ Um im Interesse des Gesamtsystems reformerfahrene junge Lehrkräfte heranzubilden, regte der Ausschuss schließlich an, einige Versuchsschulen mit entsprechenden Einrichtungen für die Lehrerbildung zu verbinden.
15 Der Deutsche Ausschuss übernahm in seiner Überschrift und im Empfehlungstext nicht die Terminologie „Modellschulen“ der Tübinger Resolution, sondern sprach – auch in der Folgezeit – immer nur von „Versuchsschulen“. 16 Siehe zu Letzterem: Hellmut Becker, Georg Picht als Erzieher, in: Constanze Eisenbart (Hrsg.), Georg Picht – Philosophie der Verantwortung, Stuttgart 1985, S. 22 f.
4. Kap.: 1950er Jahre und „Düsseldorfer Abkommen“
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IV. „Düsseldorfer Abkommen“: Restriktive Versuchsklausel und Reaktion des Deutschen Ausschusses (1955) Auch diese Empfehlung des Deutschen Ausschusses blieb bei aller Beachtung in der Fachöffentlichkeit ohne große Wirkung auf die Schulpraxis.17 Die Länder nahmen zwar ein halbes Jahr später im „Düsseldorfer Abkommen“ eine Bestimmung zu Schulversuchen auf, doch war dies – im Gegensatz zur Intention des Deutschen Ausschusses – nicht eine den Schulversuch fördernde, sondern vielmehr eher hemmende begrenzende Regelung. Nachdem in § 13 Abs. 1 des Abkommens festgelegt wurde, dass aus Gründen der Vereinheitlichung künftig im höheren Schulwesen nur noch bestimmte in dem Abkommen aufgeführte Schultypen des Gymnasiums zulässig waren, was unter anderem wegen der Anforderung mindestens zweier Fremdsprachen das endgültige Aus der Deutschen Oberschule, also einer Reformschule der Weimarer Zeit, allerdings diskreditiert durch die NS-Zeit, bedeutete,18 hieß es im zweiten Absatz: „Werden aus pädagogischen Gründen ausnahmsweise Versuche im Rahmen dieser Schultypen unternommen, so muß die wesentliche Eigenart der Schultypen erhalten bleiben.“ Damit waren zwar nach dem Abkommen Schulversuche im Bereich der höheren Schule ausnahmsweise möglich, doch hatte eine solch experimentierende Schule im Kern weiterhin einer der im Abkommen definierten, enumerativ aufgezählten Organisationsformen des Gymnasiums (altsprachliches, neusprachli17 Bereits
kurz nach der Veröffentlichung der Empfehlung äußerte Hellmut Becker, der spätere Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, eine derartige Befürchtung angesichts eines damals nach seiner Einschätzung mangelnden Interesses in den Kultusministerien an den Tübinger und Weinheimer Beschlüssen. Siehe: Hellmut Becker, Die verwaltete Schule. Gefahren und Möglichkeiten, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 8 (1954), S. 1155-1177; Wiederabdruck: RdJB 41 (1993), S. 130-147, dort nachstehendes Zitat S. 134: „Hier hat das für die Beratung von Schulfragen qualifizierte Gremium im Bundesgebiet klar festgestellt, daß die Lösung des Schulproblems nicht durch mechanische Maßnahmen und Reformen, sondern nur durch das fortwirkende Beispiel vollzogen werden kann. Der Weg, der aufgezeigt wird, ist in der heutigen Situation der einzig gangbare. Aber er ist im Verwaltungsmechanismus nicht vorgesehen, und es steht zu befürchten, daß auch dieser neue Appell ohne Echo verhallt.“ 18 Außerdem mussten alle noch bestehenden nicht zum Abitur führenden, aber dennoch bislang den höheren Schulen zugerechneten traditionelle Rektoratsschulen, Proanstalten, „Zubringerschulen“ etc. jahrgangsweise auslaufend schließen. Vgl.: Peter Drewek, Die Entwicklung des Bildungssystems in den Westzonen und in der Bundesrepublik von 1945/49 bis 1990. Strukturelle Kontinuität und Reformen, Bildungsexpansion und Systemprobleme, in: Detlef K. Müller (Hrsg.), Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Bildung. Eine Einführung in das Studium, Köln 1994, S. 245.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
ches oder mathematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium) zu entsprechen, andernfalls war der Versuch unzulässig. Enthielt das Abkommen hierdurch kaum strukturelle Weiterentwicklungsperspektiven im höheren Schulwesen, zwang diese Versuchsbestimmung sogar zur Abänderung laufender Versuche, wie etwa zur – erst 1958 erfolgten – Anpassung des Oberstufenmodells der Berliner Versuchsschule Insel Scharfenberg.19 Der Deutsche Ausschuss sah in einer nur zwei Wochen später abgegebenen kritischen Stellungnahme zum „Düsseldorfer Abkommen“ zwar einen Teil seiner bisherigen Vorschläge zur Vereinheitlichung des Schulwesens aufgenommen.20 Doch äußerte er Bedenken gegen eine im Abkommen enthaltene zehnjährige Unkündbarkeitsklausel (§ 19), weil die vereinbarten Einzelmaßnahmen aus seiner Sicht bei weitem für eine ernsthafte, den gesellschaftlichen Umwälzungen der letzten 50 Jahre nachkommenden Neuordnung unzureichend waren, und „gegen die in § 13 Abs. 2 vorgenommene Einengung aller Versuche auf die im Abkommen festgelegten Schultypen.“ Der Deutsche Ausschuss verwies in diesem Zusammenhang erneut auf die Tübinger und Weinheimer Entschließungen von 1951/1952, in denen Ansätze zu einer wirklichen Neuordnung sichtbar geworden seien.
19 Vgl.: Wolfgang Keim, Kursunterricht auf der Oberstufe von Wilhelm Blumes Schulfarm Insel Scharfenberg, in: ders. (Hrsg.), Kursunterricht – Begründungen, Modelle, Erfahrungen, Darmstadt 1987, S. 142. – Zu der Versuchsbestimmung des „Düsseldorfer Abkommens“ auch: Hellmut Becker, Bildungspolitik, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: Politik, Frankfurt a.M. 1989, S. 332. Nach dessen Auffassung war die damit verbundene Festschreibung des Bestehenden und Verhinderung der Weiterentwicklung eine Grundlinie der damaligen Zeit. Dem ist sicherlich insoweit zuzustimmen, als jedenfalls in weiten Teilen der Bevölkerung ein Bedürfnis nach Sicherheit und Erhalt des in den ersten Nachkriegsjahren Erreichten bestand, sinnfällig – und auf das Düsseldorfer Abkommen passend – zum Ausdruck gekommen in der damals populären Losung des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer im Bundestagswahlkampf 1957: „Keine Experimente“. Noch weitergehende Kritik: Ludwig von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt a.M. 1989, S. 323. Der ehemalige hessische Kultusminister (SPD), der in seiner Amtszeit von 1969 bis 1974 das gegliederte Schulsystem abschaffen wollte, unterstellt den politisch Verantwort lichen der 1950er Jahre: „Etwaige, ungern gesehene Versuchsschulen durften die Dreigliedrigkeit auf keinen Fall in Frage stellen.“ 20 Stellungnahme v. 04.03.1955 zum „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens v. 17.02.1955“, abgedruckt in: Bohnenkamp/Dirks/Knab, Empfehlungen, S. 58. Abdruck ebenfalls in: Froese, Bildungspolitik, S. 312; Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 2, S. 364.
4. Kap.: 1950er Jahre und „Düsseldorfer Abkommen“
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V. Versuchsschulpraxis im höheren Schulwesen nach Verabschiedung des „Düsseldorfer Abkommens“ Doch wurde das „Düsseldorfer Abkommen“ ohnehin nicht in allen Ländern unverzüglich und buchstabengetreu umgesetzt; in Bayern verweigerte der Landtag sogar ganz die Zustimmung zum Abkommen.21 In den einzelnen Ländern wurde es für die Schuladministration erst rechtlich bindend, wenn eine Transformation in das jeweilige Gesetzes- und Verordnungsrecht erfolgt war. Zwar hatten sich die Regierungen in § 17 des Abkommens verpflichtet, soweit die Durchführung des Abkommens nach dem innerstaatlichen Recht eines Landes eine gesetzliche Regelung erforderte, „unverzüglich“ auf dessen Erlass hinzuwirken. Doch war kein bestimmter Endzeitpunkt angegeben und die zivilrechtliche Legal definition „ohne schuldhaftes Zögern“ (§ 121 Abs. 1 BGB), die grundsätzlich im öffentlichen Recht analog Anwendung findet, ist im Hinblick auf Gesetzgebungsprozesse nur bedingt tauglich. Einzig im Hinblick auf die Typenreduzierung des Gymnasiums war eine konkrete Frist gesetzt; bis spätestens Ostern 1957 sollte die Reduktion erfolgt sein (§ 13 Abs. 1 Satz 1 des Abkommens). Doch just im Jahr 1957 durchbrach die KMK selbst die von ihren Ministerpräsidenten vereinbarte Typenlimitierung, indem sie – verständlich angesichts entsprechend zunehmender Forderungen in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs der jungen Bundesrepublik – den Ausbau der Wirtschaftsoberschulen zu Wirtschaftsgymnasien mit voller Hochschulreife als vierten Gymnasialtyp grundsätzlich für möglich erklärte.22 Ab 1958 erkannte die KMK dann konkrete Schulversuche mit Wirtschaftsgymnasien in fast allen Ländern an.23 Einzelne 21 Vgl.:
Hans-Ulrich Evers, VVDStRL 23 (1966), S. 167; Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 336. Ursächlich für die bayerische Ablehnung war insbesondere die Veränderung des Schuljahresbeginns auf den Ostertermin. Bayern behielt den Herbst bei, auf den sich dann später in den 1960er Jahre wieder alle westdeutschen Länder verständigten. – Zur Notwendigkeit einer Zustimmung der Landeslegislative in Gesetzesform zu schulrechtlichen Staatsverträgen: Thomas Oppermann, Kulturverwaltungsrecht. Bildung – Wissenschaft – Kunst, Tübingen 1969, S. 182 f. 22 Siehe: KMK-Beschluss v. 17./18.01.1957, in: KMK-Sammlung Nr. 413. – Die Wirtschaftsoberschule führte nur zur eingeschränkten fachgebundenen Hochschulreife für Wirtschaftswissenschaften. Siehe: Rolf Berke, Die Wirtschaftsoberschulen der Bundesrepublik Deutschland. Ein Beitrag zur Diskussion über die Berechtigung und Bedeutung dieses Schultyps innerhalb des deutschen Bildungswesens, Stuttgart 1957. 23 Siehe: Anerkennung von Schulversuchen in Form eines Wirtschaftsgymnasiums, in: KMK-Sammlung Nr. 474.14 – 474.21. Es kam zur Gründung von Wirtschaftsgymnasien als Schulversuche in Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland. Siehe hierzu: Stefan Brauckmann/ Marko Neumann, Berufliche Gymnasien in Baden-Württemberg: Geschichte und heutige Ausgestaltung, in: Olaf Köller/Rainer Watermann/Ulrich Trautwein/Oliver Lüdtke (Hrsg.), Wege zur Hochschulreife in Baden-Württemberg. TOSCA – Ein Untersuchung
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Länder hielten sich aber auch sonst nicht an die vereinbarten Schulformen. Sie entwickelten noch andere Spezialformen wie das musische, sozialwissenschaftliche oder erziehungswissenschaftliche Gymnasium fort,24 wobei der Deutsche Ausschuss unter dem 04.12.1954, also noch vor dem „Düsseldorfer Abkommen“, eine „Empfehlung zur Errichtung von Musischen Höheren Schulen mit Heim als Versuchsschulen“ abgegeben hatte. Für solche musische Versuchsschulen sollten die allgemeinen Forderungen der Tübinger Versuchsschul-Resolution gelten.25 Ein damaliger Kenner des Geschehens beschrieb den kultusbehördlichen Pragmatismus wie folgt: „Um die starren Düsseldorfer Bestimmungen zu umgehen, behauptete man auch bei wesentlichen Typenveränderungen, es handele sich um einen zulässigen Versuch im Rahmen der geltenden Schultypen; andererseits pflegte man sich gegenüber unerwünschten Reformvorschlägen auf die Bindung durch das ,Düsseldorfer Abkommen‘ zu berufen.“26 Dass trotz der Fessel des „Düsseldorfer Abkommens“ Schulversuche auch im Gymnasialbereich fast unverändert fortliefen, belegt auch eine Untersuchung, die – als Fortführung der Bestandsaufnahme zu den Volksschulen – die Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung 1958 für den Bereich der höheren Schule (bezogen auf das Schuljahr 1956/1957) vorlegte.27 Im Ergebnis listet die Studie, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, 42 Versuchsschulen auf, davon allein zehn in Bremen und elf in Hessen. Hervorgehoben wird darin, dass gegenüber den Versuchen im höheren Schulwesen der Weimarer Zeit diese jetzt erheblich vielfältiger und umfassender seien, und neue Wege jetzt nicht nur vor allem in Landschulheimen und anderen privaten Schulen, sondern an unerwartet vielen Stellen auch in öffentlichen höheren Schulen erprobt würden.28 Inhaltlich an allgemein bildenden und beruflichen Gymnasien, Opladen 2004, S. 85; Torsten Gass-Bolm, Das Gymnasium 1945–1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen 2005, S. 212; K. Thiemann, Das Wirtschaftsgymnasium als Schulversuch, in: Die Höhere Schule 13 (1960), S. 174-176. 24 Vgl.: Heckel, Grundordnung der deutschen Schule, S. 10 f. 25 Siehe: Bohnenkamp/Dirks/Knab, Empfehlungen, S. 523. 26 Zitat: Hans Heckel, Schulrecht und Schulpolitik. Der Einfluß des Rechts auf die Zielsetzung und den Erfolg in der Bildungspolitik, Neuwied 1967, S. 28. 27 Helmut Fleckenstein, Höhere Schulen auf neuen Wegen. Ein Bericht über neue Unterrichts- und Organisationsformen an Höheren Schulen in der Bundesrepublik, hrsg. von der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt a.M. 1958. Zeitgleich veröffentlichte die HIPF auch noch zu Schulversuchen im Volksschulbereich in Ergänzung der Bestandsaufnahme von Herbert Chiout eine Sammlung von Selbstdarstellungen: Walter Schultze/Helmut Belser (Hrsg.), Aufgelockerte Volksschule. Schulversuche in exemplarischen Arbeitsbildern, 2 Bde., Worms 1958/1960. 28 Siehe: Fleckenstein, ebenda, S. 100.
4. Kap.: 1950er Jahre und „Düsseldorfer Abkommen“
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werden acht Versuchstypen herausgearbeitet, wobei drei Schwerpunkte erkennbar sind: ● Wege zur Auflockerung vor allem in der Oberstufe mit Fächer- und Stoffbeschränkung, Wahlfreiheit für die Schüler und Vertiefung durch Schwerpunktsetzung (u.a. Hessischer Versuch: „Neue Wege in der Prima“ an fünf Schulen,29 Oberstufenplan Odenwaldschule, Kern-Kurs-System Oberrealschule Fürth / Bayern); ● Musische und sozialwissenschaftliche Zweige und Schwerpunktsetzungen sowie Versuche zur Realisierung einer wissenschaftlich-handwerklichen Doppelausbildung (u.a. Waldorf- und Jugenddorfschulen); ● Verbindung der höheren Schule mit anderen Schulformen (u.a. Volksoberschule Preetz / Schleswig-Holstein, weiterführende Schulen Bremerhaven, Fritz-Karsen-Schule Berlin, Odenwaldschule, Peter-Petersen-Schule Hamburg). Die der staatsvertraglichen Restriktion gegenläufige Ausdifferenzierung des Gymnasiums führte neben der immer deutlicher werdenden Zurückdrängung der klassischen altsprachlichen Form sogar zunehmend zu einer Diskussion über das Mindestmaß an Wissen, Einsicht, Verstehen und Können, das von einem Studienanfänger unter der veränderten gesellschaftlichen Lage unabhängig vom vorher besuchten Gymnasialtyp zu fordern sei. In mehreren Gesprächen von Westdeutscher Rektorenkonferenz und KMK wurde 1958–1960 ein solcher Minimalkatalog unter der Federführung von Wilhelm Flitner erarbeitet. Der „Tutzinger Maturitätskatalog“ legte als Voraussetzung der Studierfähigkeit Wert auf eine grundlegende geistige Bildung: vom einwandfreien Deutsch und Verständnis wichtiger literarischer Meisterwerke über Fremdsprachen, Kenntnis der
29 Siehe:
Erlass über die Auflockerung der Oberstufe v. 09.03.1950, in: ABl. des Hess. Ministers für Erziehung und Volksbildung 1950, S. 147. Dieser Erlass wurde später durch einen weiteren, nicht amtlich veröffentlichten Erlass v. 01.04.1952 modifiziert, der dann auch Grundlage zur Aufnahme der Erprobung ab Ostern 1952 war. Dieser Erlass ist abgedruckt in: Die pädagogische Provinz 7 (1953), Heft 3 (Sonderheft: Neue Wege in der Prima), S. 120. Siehe zu dem Schulversuch: Fritz Malsch, Neue Wege in der Prima, in: Die Deutsche Schule 48 (1956), S. 205-212. Damit der Schulversuch „Neue Wege in der Prima“ nicht von Anfang an am Finanzministerium scheiterte, stimmten der hessische Landesschulbeirat, der diesen initiiert hatte, und die beteiligten Schulen der Selbstbeschränkung zu, dass die Versuche im Rahmen des bisherigen Etats der jeweiligen Schule bleiben mussten und keine Lehrerstunde mehr erfordern durften. Siehe dazu: Malsch, ebenda, S. 206; Fleckenstein, ebenda, S. 11 ff. m.w.N.
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Elementarmathematik und der neueren Geschichte seit der Französischen Revolution bis hin zum Verständnis philosophischer und ethischer Grundfragen.30 Die Beschränkung von Schulversuchen in § 13 des „Düsseldorfer Abkommens“ erfasste nicht solche im Bereich des mittleren Schulwesens, weil die Vorschrift nicht auf die hierfür vorgesehenen Bestimmungen in § 3 und 7 des Abkommens, sondern nur auf diejenigen des Gymnasiums (§§ 4, 8–11) verwies. Ebenfalls nicht eingegrenzt waren Schulversuche im Volksschulbereich, weil dieser in dem Abkommen gänzlich ausgespart war. Die gesamte öffentliche Diskussion, aber auch die Tübinger und Weinheimer Versuchsschulforderungen sowie diejenige des Deutschen Ausschusses bezogen sich stets auf das höhere Schulwesen, erklärbar daraus, dass sowohl das als Mobilitätshindernis bemängelte Auseinanderfallen der Schulformen und Lehrpläne wie auch das Thema sozialer Aufstieg durch Bildung sowie die damit verbundene Bildungsexpansion in erster Linie die höhere Schule betraf. Weitgehend verbreitet war die Ansicht, die bereits 1946 der Staatsrechtler Hans Peters äußerte: „Aber die Volksschule ist am wenigsten reformbedürftig.“31 Diese Ausrichtung unterschied sich deutlich von der Weimarer Zeit, in der das Versuchsschulwesen vor allem im Volksschulbereich eine Blüte erlebt hatte, und erinnert in der Rückschau, wenn auch ungewollt, an die im Kaiserreich gleiche einseitige Fixierung der Reformbestrebungen auf die Neuordnung des höheren Schulwesens. Eine weitere Parallele kann darin gesehen werden, dass in der öffentlichen Wahrnehmung von Versuchsschulen – nicht zuletzt aufgrund der Präsenz ihrer Leitungen und ihres Freundeskreises in der Bildungsdebatte – vor allem die Landerziehungsheime, d.h. Odenwaldschule, Birklehof oder Schloss Salem in Erscheinung traten, die Reformpädagogik ansonsten aber, selbst in der universitären Lehrerausbildung, in Vergessenheit geriet.
30 Abdruck:
Hans Scheuerl, Probleme der Hochschulreife. Bericht über die Verhandlungen zwischen Beauftragten der Ständigen Konferenz der Kultusminister und der Westdeutschen Rektorenkonferenz. „Tutzinger Gespräche I–III“, Heidelberg 1962, S. 155-157. – Siehe auch damalige einschlägige Veröffentlichungen von Wilhelm Flitner, der 1951–1961 den Vorsitz des Schulausschusses der Westdeutschen Rektorenkonferenz innehatte: Wilhelm Flitner, Hochschulreife (1958) bzw. Hochschulreife und Gymnasium. Vom Sinn wissenschaftlicher Studien und von der Aufgabe der gymnasia len Oberstufe (1959/1967), beide in: Wilhelm Flitner, Gesammelte Schriften, Bd. 10: Gymnasium und Universität, hrsg. v. Karl Erlinghagen/Andreas Flitner/Ulrich Herrmann, Paderborn u.a. 1997, S. 188-201 bzw. 202-295. 31 Zitat: Hans Peters, Zwischen Gestern und Morgen. Betrachtungen zur heutigen Kulturlage, Berlin 1946, S. 97 (im Kapitel VI: „Zur Reform der höheren Schule“).
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VI. Niedersächsischer Schulversuch zum „Differenzierten Mittelbau“ in der Volksschule Das Thema Schulversuche blieb freilich auf der Agenda bildungswissenschaftlicher Kongresse, wie etwa auf einer Tagung der Hochschule für Internatio nale Pädagogische Forschung im März 1956 in Frankfurt a.M. zu „Bedeutung und Ertrag der Versuchsschularbeit für die deutsche Schule“. Diese Veranstaltung knüpfte an die HIPF-Bestandsaufnahme der Schulversuche an, weshalb sich dort – anders als auf den Tagungen in Tübingen und Weinheim – weitaus in der Überzahl Vertreter der Volksschule einfanden. Diskutiert wurden vor allem konkrete Einzelfragen und Probleme der Schulversuchsarbeit (u.a. Schülermitverwaltung, musische Erziehung, Jena-Plan in einer Dorfschule, Aufbauklassen der Berufsschulen).32 Ein niederländischer Pädagogikprofessor, Martinus Langeveld, hob, durchaus mit kritischem Blick auf die Vergangenheit, in einem Grundsatzreferat hervor, dass die Grundlage von Schulversuchen unendlich kompliziert sei und diese deshalb außerordentlich gründlich und vielseitig vorbereitet, unterstützt, ausgeführt und nachgeprüft werden sollten. Wer Schule umfassend verbessern wolle, der müsse den schweren Weg über die wissenschaftliche Forschung und Begründung gehen.33 Ein Vortrag behandelte „Probleme des differenzierten Mittelbaus in Niedersachsen“.34 Der Rektor einer Volksschule in Hannover, Helmut Müller, 32 Die auf der Frankfurter Tagung gehaltenen Vorträge wurden mit einem vorangestellten Bericht des damaligen HIPF-Institutsdirektors und Leiter der Abteilung Allgemeine und Vergleichende Pädagogik, Prof. Walter Schultze, veröffentlicht. Siehe: Walter Schultze, Bedeutung und Ertrag der Versuchsschularbeit für die deutsche Schule: Bericht der Frankfurter Tagung, in: Die Deutsche Schule 48 (1956), S. 145-147, sowie die nachfolgenden Beiträge, Arbeitsgruppenberichte und das Schlusswort, ebenda S. 148-235. Als wichtige Einzelbeiträge sind zu nennen: Wilhelm Flitner, Versuche, Modelle und Theorien in ihrer Bedeutung für die innere Schulreform, ebenda, S. 147153 (Wiederabdruck: Wilhelm Flitner, Gesammelte Schriften, Bd. 9, (Fn. 8), S. 417426); Martinus J. Langeveld, Wesen und Problematik der Schulversuche und Versuchsschulen, ebenda, S. 154-165; Martin Wagenschein, Das „exemplarische Lehren“ als Forschungsaufgabe, ebenda, S. 215 (Kurzfassung), vollständig abgedruckt als: Zum Begriff des Exemplarischen Lehrens, in: Zeitschrift für Pädagogik 2 (1956), S. 129153 (Wiederabdruck: Martin Wagenschein, Verstehen lernen, 4. Aufl., Weinheim/Basel 2008, hier S. 27 ff.). 33 Siehe: Langeveld, ebenda, S. 158, 160. 34 Siehe: Helmut Müller, Probleme des differenzierten Mittelbaus in Niedersachsen, in: Die Deutsche Schule 48 (1956), S. 193-197. Rektor Müller leitete die Volksschule Davenstedter Straße in Hannover-Linden, zugleich war er Vorstandsmitglied des Niedersächsischen Lehrerverbandes, der sich später zur GEW umwandelte. – Siehe zu seinem Vortrag auch die ergänzenden Ausführungen eines Vertreters des niedersächsischen Kultusministeriums auf der Tagung: Rudolf Fiedler, ebenda, S. 198 f.; siehe
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berichtete über den in Niedersachsen offiziell seit 1951 laufenden, aber vorher bereits seit 1948 an sechs Schulen auf den Weg gebrachten Schulversuch „Förderklassen an Volksschulen mit gemeinsamem Unterbau für weiterführende Schulen (‚differenzierter Mittelbau‘)“. Nach seinen Angaben beteiligten sich zwischenzeitlich an dem Schulversuch insgesamt 13 Schulen, am Ende des Schulversuchs im Jahre 1964 waren es 19. In den Klassen 5 bis 8 der Volksschule wurden – so der einschlägige Versuchsschulerlass des Kultusministeriums – „ohne vorherige Auslese“ die Kinder eines Jahrgangs „unter Mitwirkung von Lehrkräften der Volks-, Mittel- und Oberschulen teils gemeinsam, teils je nach der Begabung in differenzierten Kursen besonders unterrichtet.“35 Mit dem Schulversuch verfolgte man das Ziel eines längeren gemeinsamen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens bei gleichzeitig rechtzeitiger Arbeitsdifferenzierung nach Art und geistigem Vermögen der Kinder,36 weshalb er in der Jahre überdies: Rudolf Fiedler, Zum gegenwärtigen Stand des niedersächsischen Schulversuchs „Differenzierter Mittelbau“, in: Schulverwaltungsblatt für Niedersachsen 7 (1955), S. 287-292. Später veröffentliche das Kultusministerium eine zusammenfassende Broschüre zum Schulversuch: Kultusministerium des Landes Niedersachsen (Hrsg.), Der Differenzierte Mittelbau. Untersuchungen von Problemen der niedersächsischen Schulversuche, Hannover 1963. Nach Abschluss des Versuchs verfasste der zuständige Ministerialbeamte nochmals ein Resümee aus seiner Sicht: Rudolf Fiedler, Differenzierter Mittelbau – Förderstufe – Hauptschule. Erfahrungen und Aussichten, in: Schulverwaltungsblatt für Niedersachsen 16 (1964), S. 301-303, 342-345. Siehe außerdem: Bundesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.), Der differenzierte Mittelbau. Materialien über die niedersächsischen Schulversuche, Essen 1957. Neuere Literatur zu diesem Schulversuch: Rüdiger Schoel, Differenzierter Mittelbau, Hannover 1998; Wilhelm Pieper, Niedersächsische Schulreformen im Luftflottenkommando. Von der Niedersächsischen Erziehungsstätte zur IGS Franzsches Feld, Bad Heilbrunn 2009, S. 131 ff. 35 Erlass des Niedersächsischen Kultusministeriums „Schulversuche in Niedersachsen“ v. 03.04.1951, veröffentlicht in: Schulverwaltungsblatt für Niedersachsen 3 (1951), S. 73. Abdruck auch bei: Chiout, Schulversuche, S. 212; GEW, Der differenzierte Mittelbau, S. 37. – Bis zu diesem Erlass gab es keinerlei gesicherte rechtliche Grundlage. Siehe: Fiedler, Stand des niedersächsischen Schulversuchs, S. 287. 36 So: Müller, Probleme des differenzierten Mittelbaus, S. 194. – Als weitere Versuchsbedingungen waren im besagtem Erlass u.a. festgelegt: Begrenzung der Versuche auf höchsten 20; Genehmigung durch das Ministerium; Freiwilligkeit des Besuchs der Versuchseinrichtung; Zusicherung der Aufnahme in die entsprechenden Klassen der Mittel- oder Oberschule nach erfolgreichem Abschluss des Versuchs-Bildungsgangs; Abstimmung und Austausch deshalb mit einer oder beiden benachbarten Mittel- oder Oberstufe; keine schulbehördliche Vorgabe hinsichtlich Art, Umfang und Zeitpunkt der Differenzierung, sondern abzustellen auf örtliche Verhältnisse; soweit fachlich möglich ist, Gesamtunterricht dem gefächerten Unterricht vorzuziehen; Kursauswahl und Wechsel dazwischen trifft Lehrkörper; Verwendung von Volkschullehrern, Mittelschullehrer und Lehrer mit der Befähigung für das Lehramt an höheren Schulen. – Letzteres
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später einsetzenden Gesamtschuldiskussion wieder Beachtung fand. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki wertet ihn als den einzigen Schulversuch von größerer Bedeutung im öffentlichen Schulwesen der 1950er Jahre, der überdies durch eine begrenzte wissenschaftliche Begleitforschung ein Novum in der deutschen Schulentwicklung dargestellt habe.37 Doch gab es durchaus bei Beginn des Versuchs hierüber heftige schulpolitische Auseinandersetzungen. Der Mittelschullehrerverband und der Philologenverband werteten den Schulversuch als ein Einstieg in die Einheitsschule. Anlässlich einer Einrichtung des „Differenzierten Mittelbaus“ an einer anderen Hannoveraner Volksschule titelte die örtliche Tageszeitung „Versuch oder kalte Schul-Reform“.38 Der niedersächsische Finanzminister, der in der damaligen großen Koalition (SPD, CDU, Zentrum) der CDU angehörte, verweigerte seinem SPD-Kultusministerkollegen die für den Schulversuch beantragten zusätzlichen Haushaltsmittel, insbesondere für zusätzliche Lehrerstellen, die deshalb in den ersten Jahren aus dem vorhandenen Budget bzw. zu Lasten der Unterrichtsversorgung anderer Schulen bestritten werden mussten.39 Der niedersächsische Schulversuch ist aus schulrechtlicher Sicht ein Lehrstück dafür, wie wenig in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage für derartige Versuche seitens der Schul administration gesehen wurde. Dabei hatte der Lehrerverband Niedersachsen im Jahre 1948 ausdrücklich die sofortige Schaffung eines Gesetzes als Grundlage für Schulversuche zum differenzierten Mittelbau gefordert, wobei dieses Gesetz einen Zeitpunkt nicht später als fünf Jahre nach Inkrafttreten festlegen sollte, an dem auf Grund der Ergebnisse der Versuche über die endgültige Gestaltung des Mittelbaus für das gesamte Schulwesen zu entscheiden sei.40 Der niedersächsische Gesetzgeber ließ sich aber generell mit der Verabschiedung erster Schul gesetze Zeit; diese erfolgten erst 1954. Statt sich also einleitend im bereits erwähnten Versuchsschulerlass auf eine gesetzliche Ermächtigung zu stützen, die es allerdings eben zu dieser Zeit im erwies sich als ein dauerndes Problem. Selbst am Ende des Schulversuchs waren von 17 Studienratsstellen für die Versuchseinrichtungen lediglich 7 besetzt. Vgl.: Fiedler, Differenzierter Mittelbau, S. 303. 37 Siehe: Wolfgang Klafki, Die fünfziger Jahre – eine Phase schulorganisatorischer Restauration. Zur Schulpolitik und Schulentwicklung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik, in: Dieter Bänsch (Hrsg.), Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur, Tübingen 1985, S. 150 f. 38 Hannoversche Allgemeine Zeitung v. 05.04.1950, zitiert nach: Pieper, Niedersächsische Schulreformen, S. 133 Fn. 252. 39 Siehe ausführliche Schilderung des Vorgangs bei: Pieper, ebenda, S. 134. 40 Siehe: Entschließung des Lehrerverbandes Niedersachsen v. 01.04.1948 in Hannover, abgedruckt in: GEW, Der differenzierte Mittelbau, S. 20 f.
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niedersächsischen Schulgesetz noch nicht gab, wird darin nur apodiktisch festgestellt, dass Schulversuche als belebende Beiträge zur Theorie der Pädagogik, zur Organisation des Schulwesens und zur praktischen Erziehungs- und Bildungsarbeit „unerlässlich“ sind. Sodann wird auf entsprechende Ausführungen des Kultusministers in den parlamentarischen Haushaltsberatungen zu seinem Etat verwiesen, in denen dieser Recht und Verpflichtung der obersten Schulbehörden zu derartigen Versuchen eingehend dargelegt habe. Der Landtag habe diese Ausführungen in seiner Sitzung am 06.07.1950 „entgegengenommen.“ Gegründet auf die wirkungsvolle Unterstützung, die seine, des Kultusministers Bemühungen um die Hebung des Schulwesens im Landtag bisher gefunden hätte, und wegen des Reformwillens der niedersächsischen Lehrerschaft seien bereits erste Förderklassen versuchsweise eingerichtet worden. Der Administration reichte also das beiläufige Schweigen der Abgeordneten in der Haushaltsdebatte als parlamentarische Legitimation.41 Der niedersächsische Schulversuch strahlte insbesondere auf die beiden benachbarten Stadtstaaten aus. Sowohl ein Gutachten einer vom Hamburger Senat eingesetzten „Unabhängigen Kommission für das Hamburger Schulwesen“ vom 29.06.1955 als auch ein „Gutachten des Bremer Grundschulausschusses“ vom 07.06.1955 empfahlen die versuchsweise Einführung eines – allerdings nur zweijährigen – differenzierten Mittelbaus.42 Der niedersächsische Schulversuch wurde beendet, als die Kultusministerkonferenz Ende 1963 zur Verbesserung des Übergangs nach Klasse 4 der Grundschule die bundesweite Einführung einer zweijährigen Förderstufe (Orientierungsstufe) in den Klassen 5 und 6 an allen weiterführenden Schulen beschloss.43
41 Ein Jahr später, am 13.11.1952 kam es im zuständigen Kulturausschuss des Landtages anlässlich eines Berichts des Ministeriums über den angelaufenen Schulversuch zu einer kontroversen Diskussion, die nur wenig Unterstützung für das Vorhaben selbst in den Reihen der Regierungskoalition zeigte. Der Diskussionsverlauf ist unter Hinzunahme des im Niedersächsischen Staatsarchiv befindlichen Protokolls der Sitzung wiedergegeben bei: Pieper, Niedersächsische Schulreformen, S. 138 ff. 42 Zu dieser Ausstrahlung: Fiedler, Stand des niedersächsischen Schulversuchs, S. 292. Siehe im Übrigen: Unabhängige Kommission für das Hamburger Schulwesen (Hrsg.), Gutachten über die Grundschule und den Übergang in die weiterführenden Schulen, Masch. Druck Hamburg 1955; Senat der Freien Hansestadt Bremen (Hrsg.), Die Gutachten des Bremer Grundschulausschusses. Gutachten des SachverständigenAusschusses zur Prüfung der Grundschulfrage in Bremen vom 7.6.1955, Bremen 1955. 43 Siehe aktuell: Ziff. 3.1 der „Vereinbarung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I“, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 03.12.1993 i.d.F. v. 04.10.2012, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 102.
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VII. Versuchsschulvorschrift im „Modell eines Gesetzes zur Ordnung des Schulwesens“ (1958) Der bekannteste Schulrechtler in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, Hans Heckel, legte 1958, nachdem er mehrfach vorher die Schaffung echter Schulgesetze gefordert hatte,44 mit dem „Modell eines Gesetzes zur Ordnung des Schulwesens (Schulgrundordnung)“ selber einen ausformulierten Musterentwurf mit Begründung für ein umfassendes Schulgesetz vor,45 der später in einer Reihe von Ländern als Folie für die Schulgesetzgebung genutzt wurde. Zwar gab es um diese Zeit bereits mehr als hundert Schulgesetze,46 aber nur, wie bereits dargelegt, in den Stadtstaaten eine zusammenfassende Gesetzgebung. Die Flächenstaaten wiesen demgegenüber eine Gemengelage von Einzelgesetzen meist zu technischen, organisatorischen und finanziellen Bereichen auf. Der Musterentwurf enthielt einen § 6 Versuchsschulen Schulen, die pädagogische oder organisatorische Ideen erproben und verwirklichen wollen, sind zu fördern. Ihr Besuch bedarf der Zustimmung der Erziehungsberechtigten.
In der Begründung zu § 6 wurde hervorgehoben, dass nicht nur pädagogische, sondern auch schulorganisatorische Ideen die Einrichtung von Versuchsschulen rechtfertigen, wobei beide Tendenzen meist zusammenfallen würden. Bedeutsam seien zurzeit vor allem die Ganztags- und Tagesheimschulen, die Formen des differenzierten Mittelbaues und der Ausbau des Zweiten Bildungsweges. Der zweite Satz der Vorschrift diene der Bewahrung der Kinder und Eltern vor unliebsamen Überraschungen beim Übergang von einer Versuchs- auf eine Normalschule. In seinen grundsätzlichen Ausführungen untermauerte Heckel nochmals die Notwendigkeit von Schulversuchen. Er sah diese als ein schulpolitisches Instrument zur Verhinderung der Erstarrung an, eine Gefahr, die letztlich jeder Organisation innewohne. Das Schulwesen werde nur dann in die Zukunft hinein 44 Siehe
etwa: Hans Heckel, Leben und Arbeiten der Schule im Lichte des geltenden Rechts, in: Die Deutsche Schule 48 (1956), S. 59. Zitat: „Die Schaffung echter Schulgesetze … ist deshalb eine Notwendigkeit. Bloße Schulordnungen und Ministerialerlasse reichen als rechtliche Grundlage des Schullebens und der Schularbeit nicht aus. Erst dann wird die Schule wirklich eine rechtsstaatliche Einrichtung sein, wenn Umfang und Grenzen ihrer Befugnisse nicht von Fall zu Fall durch Urteil festgestellt werden, sondern für jedermann erkennbar durch Recht geregelt sind.“ 45 Siehe: Heckel, Grundordnung der deutschen Schule, S. 45 ff. 46 So: Heckel, ebenda, S. 13. Siehe auch die Übersicht über die Schulgesetzgebung der Bundesländer seit 1945 (Stand 1960) in: Hans Heckel/Paul Seipp, Schulrechtskunde, 2. Aufl., Neuwied u.a. 1960, S. 355-359.
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offen sein, wenn es Versuchsschulen, die neue Ideen erproben wollten, nicht nur widerwillig zulasse, sondern begrüße und fördere.47 Dies war ein Standpunkt, der Ende der 1950er Jahre auch in einer Reihe anderer Veröffentlichungen zu lesen war.48 Diese bildungswissenschaftliche Diskussion erreichte die Politik aber immer noch wenig. Das galt auch für die Sozialdemokraten, deren Schulpolitiker in der Weimarer Zeit vehement für Schulversuche eingetreten waren. Sie hatten zwar nach 1945 die bereits erwähnten Einheitsschulprojekte in den Stadtstaaten, den niedersächsischen Schulversuch „Differenzierter Mittelbau“ und in Hessen einen viel beachteten Versuch einer Förderstufe mit gemeinsamem Unterricht in den Klassen 5 und 6 politisch verantwortet. Doch obwohl noch im Entwurf des Godesberger Programms gestanden hatte, pädagogische Experimente und Versuchsschulen, darunter auch ausdrücklich „Formen des differenzierten Mittelbaus im Schulwesen“, müssten großzügig gefördert werden, fand sich dies in der 1959 verabschiedeten Endfassung nicht mehr wieder.49
VIII. Förderung von Versuchs- und Modellschulen nach dem Hessischen Schulverwaltungsgesetz (1961) Allerdings bekannte sich in Hessen der Landesgesetzgeber 1961 bei der Verabschiedung seines ersten umfassenden Schulgesetzes nachdrücklich zu der Idee, Versuchsschulen zu fördern.50 Das Hessische Schulverwaltungsgesetz war das erste von mehreren späteren Schulgesetzen, das Teile des Musterentwurfs 47 Siehe:
Heckel, Grundordnung der deutschen Schule, S. 22. etwa: Hans Kade, Schule im Werden, Bonn u.a. 1956, insb. S. 147, der ein Plädoyer für Schulversuche, Versuchsschulen und Beispielschulen hielt. Schulversuche und Versuchsschulen seien Stätten der pädagogischen Tatsachenforschung. Die Tatsachenforschung sollte seiner Ansicht nach Aufgabe der Pädagogischen Hochschulen sein. Beispielschulen seien Stätten der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Lehrerschaft. Der Frankfurter Pädagogikprofessor Kade verwies dabei auch auf seine Erfahrungen Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre, in denen er sich der Landschulreform widmete. Dabei hatte er auch in engem Kontakt mit Peter Petersen 1933 an dessen Versuchsschulprojekt in Westfalen mitgewirkt. Aus der damalige Zeit stammte sein Werk: Hans Kade (Hrsg.), Versuchsarbeit in deutschen Landschulen (Beiträge zur Landschulreform, Bd. 3), Frankfurt a.M. 1932. Auch Wilhelm Fliedner focht beharrlich weiter für seine Idee der Modellschulen: Wilhelm Fliedner, Die Einrichtung von Modellschulen, in: Hellmut Becker (Hrsg.), Probleme einer Schulreform, Stuttgart 1959, S. 134-148; Wiederabdruck: Wilhelm Flitner, Gesammelte Schriften, Bd. 9 (Fn. 8), S. 457-467. 49 Hinweis bei: von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 326. 50 Hessisches „Gesetz über die Unterhaltung und Verwaltung der öffentlichen Schu len und die Schulaufsicht (Schulverwaltungsgesetz)“ v. 28.06.1961 (Hess.GVBl. S. 87). 48 Nachdrücklich
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von Hans Heckel ungesetzt hat, was sich auch daraus erklärt, das dieser damals in leitender Funktion im SPD-geführten Kultusministerium tätig und Mitautor des Gesetzentwurfs gewesen war.51 Die in den Gesetzesberatungen unverändert gebliebene Bestimmung lautete: § 3 Versuchs- und Modellschulen An Versuchs- und Modellschulen sollen neue pädagogische Ideen erprobt werden, die für die Entwicklung des Schulwesens bedeutsam sind.
Die Gesetzesbegründung bezog sich dabei auf die seinerzeit aktuelle Bildungsdebatte: „Ein Schulwesen, das sich selbst genügen und darauf verzichten wollte, neue Möglichkeiten zu erproben, würde stagnieren. Dies gilt vor allem für die Gegenwart, da ‚das deutsche Schulwesen den Umwälzungen nicht nachgekommen ist, die in den letzten 50 Jahren Gesellschaft und Staat verändert haben‘ (Rahmenplan des Deutschen Ausschusses, S. 1). Versuchs- und Modellschulen sind deshalb dringend nötig; bereits § 1 Abs. 7 SchKG hat dieser Erkenntnis Rechnung getragen. Hervorzuheben ist, daß nicht nur im engeren Sinne pädagogische, sondern auch schulorganisatorische Ideen – z.B. die Vorschläge des Rahmenplanes – Versuche notwendig machen; meist werden beide Tendenzen zusammenfallen.“52 Zwei weitere nachfolgende schulrechtliche Gesamtkodifikationen, die sich an dem von Hans Heckel ausgearbeiteten Musterentwurf orientierten, die seinerzeit neuen Schulgesetze der Länder Baden-Württemberg (1964)53 und dem Saarland 51 Siehe auch den entsprechenden Hinweis bei: Heckel, Schulrecht und Schulpolitik, S. 80. 52 Begründung des Gesetzentwurfs: Hessischer Landtag, 4. WP, LT-Drs. 04/976 v. 15.02.1961, S. 2801, zu § 3. In dem zitierten § 1 Abs. 7 des Hess. Schulkostengesetzes v. 10.07.1953 (Hess.GVBl. S. 126), das durch § 65 Abs. 2 SchVG HE aufgehoben wurde, war bis dahin nur im Zusammenhang mit der Trägerschaft öffentlicher Schulen eine Errichtungskompetenz des Landes für Versuchsschulen getroffen: „Das Land kann Schulen aller Art errichten, wenn es sich um Versuchsschulen oder um Schulen besonderer pädagogischer Prägung oder besonderer Bedeutung handelt.“ Dies stand jetzt in § 10 Abs. 9 SchVG HE: „Das Land kann Träger von Versuchs- und Modellschulen … sein.“ 53 Baden-Württembergisches „Gesetz zur Vereinheitlichung und Ordnung des Schulwesens“ v. 05.05.1964 (GBl. S. 235), hier: § 5 Abs. 2: Zur Entwicklung und Erprobung neuer pädagogischer und schulorganisatorischer Erkenntnisse können Versuchsschulen eingerichtet werden. § 5 Abs. 3: Die oberste Schulaufsichtsbehörde kann einer bestehenden Schule Eigenschaft und Aufgabe einer Versuchsschule übertragen. Falls damit für den Schulträger eine wesentliche Mehrbelastung verbunden ist, bedarf es dessen Zustimmung. § 13 Abs. 2: Das Land kann Schulträger von Versuchsschulen und von Schulen besonderer pädagogischer Prägung oder besonderer Bedeutung … sein.
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(1965)54, betonten ebenfalls – auch schon in der Überschrift der jeweiligen Vorschriften – die „Weiterentwicklung des Schulwesens“ durch Förderung von Versuchsschulen. Die wiedergegebene hessische Bestimmung enthält einerseits eine Ermächtigung an die Schulbehörden zur Errichtung derartiger Schulen, hat aber vor allem – wie auch die Parallelregelungen in Baden-Württemberg und dem Saarland – einen programmatischen Impetus, einen Gesetzgebungsauftrag zur pädagogischen Reform. Hierfür werden keine Grenzen eingezogen, das Ermessen der Schulbehörden zur Genehmigung von Versuchs- und Modellschulen ist völlig frei, ebenfalls die damals in § 10 Abs. 9 SchVG HE normierte fakultative Errichtungskompetenz von Versuchs- und Modellschulen durch das Land. Selbst die Bedingung der freiwilligen Teilnahme wurde nicht aufgenommen. Auffallend ist schließlich, ganz im Sinne der Tübinger Beschlüsse von 1951 und des Ceterum censeo von Wilhelm Flitner, die Erweiterung der Versuchsvorschrift um die Gründung von Modellschulen.55
IX. „Rahmenplan“ des Deutschen Ausschusses (1959) und dessen Erprobung in Versuchs- und Modellschulen Das Erfordernis der Versuchs- und Modellschulförderung wird in der zitierten Begründung des damaligen hessischen Schulverwaltungsgesetzes in einen engen Zusammenhang mit dem „Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens“ des Deutschen Ausschusses vom 14.02.195956 gebracht. Während die auch in der Gesetzesbegründung zitierte Zustandsbeschreibung eines in vielen Bereichen als defizitär empfundenen Schulsystems seinerzeit große Zustimmung fand,57 entbrannte über die 54 „Gesetz
zur Ordnung des Schulwesens im Saarland“ v. 05.05.1965 (ABl. S. 385), hier: § 7 Abs. 1: Zur Entwicklung und Erprobung neuer pädagogischer und schulorganisatorischer Erkenntnisse sollen Versuchsschulen eingerichtet werden. § 7 Abs. 2: Der Minister für Kultus, Unterricht und Volksbildung kann im Benehmen mit dem Elternbeirat, und falls damit für den Schulträger eine wesentliche Mehrbelastung verbunden ist, mit dessen Zustimmung einer bestehenden Schule Eigenschaft und Aufgabe einer Versuchsschule übertragen. § 56 Abs. 5: Das Land ist berechtigt, … Versuchs- und Modellschulen zu errichten und fortzuführen. 55 In den Parallelregelungen Baden-Württembergs und des Saarlandes waren Modellschulen nur bei letzterer (§ 56 Abs. 5) als Errichtungskompetenz des Landes vorgesehen. 56 Siehe: Bohnenkamp/Dirks/Knab, Empfehlungen, S. 60-115. 57 Rückblickend kritisch dazu allerdings unter Hinweis auf mangelnde Belege und genauere Bewertungsmaßstäbe der angeblichen Rückständigkeit des deutschen Schulwesens, andererseits die Anpassungsfähigkeit des deutschen Schulwesens in den
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konkreten im Rahmenplan enthaltenen Vorschläge eine breite, höchst kontrovers geführte Diskussion.58 Der Deutsche Ausschuss schlug vor, im 5. und 6. Schuljahr eine „Förderstufe“ einzurichten, für eine neue Volksschuloberstufe, Hauptschule genannt, zunächst eine 9., später eine 10. Klasse vorzusehen und das Gymnasium in eine mit dem 7. Schuljahr beginnende sprachlich und naturwissenschaftlich differenzierte Form sowie eine mit dem 5. Schuljahr einsetzende humanistische „Studienschule“ aufzuteilen. Während von konservativer Seite vor allem die zweijährige Förderstufe abgelehnt wurde, kritisierten deren Befürworter umgekehrt ebenso vehement den Vorschlag einer schon auf der Tübinger Tagung diskutierten „Studienschule“. Diese Schule sollte in der europäischen Bildungstradition stehen, mit grundständigem Latein und Griechisch, ohne in der Mathematik gegenüber dem Gymnasium zurückzubleiben, damit aber insgesamt noch höhere Anforderungen setzend.59 Eine humanistische „Eliteschule“ für Hochbegabte neben dem Gymnasium lehnte insbesondere auch die „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände“ (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverein) ab. Sie begrüßte ansonsten grundsätzlich die Förderstufe und die neue Hauptschule, verlangte aber in einem 1960 vorgelegten eigenen „Plan zur Neugestaltung des deutschen Schulwesens“ („Bremer Plan“) ein noch darüber hinausgehendes dynamisches, gestuft vereinheitlichtes Schulsystem im Sinne der Idee der Einheitsschule.60 1950er Jahren hervorhebend (Ausbau des Real- und Gymnasialschulwesens, der beruflichen Bildung und des zweiten Bildungsweges): Christoph Führ, Die unrealistische Wende. Rückblick auf Bildungsreformkonzepte der sechziger Jahre, in: Zeitschrift für erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschung 2 (1985), S. 259-281; Wiederabdruck: ders., Bildungsgeschichte und Bildungspolitik. Aufsätze und Vorträge, Köln u.a. 1997, S. 190-210, insb. S. 191 f. 58 Zur Kritik am Rahmenplan nahm der Deutsche Ausschuss selbst ausführlich Stellung. Siehe: Stellungnahme v. 02.07.1960 „Zur Diskussion des Rahmenplans. Kritik und Antwort. Mit Vorwort zur Fünften Folge“, abgedruckt in: Bohnenkamp/Dirks/ Knab, Empfehlungen, S. 117-219. – Siehe auch: Alfons Otto Schorb (Hrsg.), Für und Wider den Rahmenplan. Eine Dokumentation, Stuttgart 1960; Helmut Schelsky, Anpassung oder Widerstand. Soziologische Bedenken zur Schulreform, Heidelberg 1961. Zur Bedeutung des Rahmenplans aus heutiger Sicht: Herrlitz u.a., Schulgeschichte, S. 166 ff.; Benner/Kemper, Reformpädagogik, Teil 3.2, S. 134 ff.; Doris Knab, Was wollte der „Rahmenplan“?, in: Zeitschrift für Pädagogik 23 (1977), S. 603-607. 59 Zur Ausgestaltung der Studienschule siehe: Rahmenplan (Fn. 56), S. 105 ff. 60 Siehe: „Plan zur Neugestaltung des deutschen Schulwesens. 3. Entwurf der Planungskommission, der Vertreterversammlung in Bremen 1960 in der vom Hauptvorstand am 8. Mai 1960 überarbeiteten Form vorgelegt“, auszugsweise abgedruckt bei: Schorb, Rahmenplan, S. 169 ff. – Siehe dazu auch die Erläuterung eines Mitverfassers des „Bremer Plans“: Karl Bungardt, Vom „Rahmenplan“ zum „Bremer Plan“, in:
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Der Rahmenplan wurde nicht umgesetzt, schuf aber – genauso wie der „Bremer Plan“ – in der Öffentlichkeit und der Bildungspolitik das notwendige Problembewusstsein, um die in den 1960er Jahren eingeleiteten Reformen, die zum Teil auf Vorschläge beider Pläne zurückgehen (insbesondere Orientierungsstufe, Hauptschule mit neuntem Schuljahr, Oberstufenreform an Gymnasien, Gesamtschulversuche), anzugehen. Nicht nur der hessische Gesetzentwurf sah es im Übrigen als sinnvoll an, die Vorschläge des Rahmenplans in Schulversuchen zu erproben, dies deckte sich auch mit Vorstellungen des „Ettlinger Kreises“,61 einer zwischen 1957 und 1977 aktiven Gruppe selbstständiger Unternehmer, die sich auf Anstoß des Weinheimer Industriellen Hans Freudenberg jährlich zweimal zu Gesprächen trafen, um gemeinsam mit Wissenschaftlern und Politikern bildungspolitische Fragen zu erörtern und voranzutreiben. So hatte der von dem Bildungsforscher Hellmut Becker beratene Ettlinger Kreis einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass in der Bundesrepublik das 9. Pflichtschuljahr eingeführt wurde. In einer Entschließung zum Rahmenplan vom November 1959 stimmte man diesem nicht nur grundsätzlich zu, es hieß dort außerdem, der Ettlinger Kreis sei „der Ansicht, daß die Auseinandersetzung mit dem Rahmenplan am schnellsten und sichersten durch Modellversuche in allen Bundesländern positiv weitergeführt werden kann.“62 Wenn auch in der Folgezeit wieder ein „versuchsfreudigeres“ Klima in den Schulverwaltungen Einzug hielt, ist es zu keinen groß angelegten Versuchen zur Umsetzung der Vorschläge des Rahmenplans gekommen. Der Ettlinger Kreis kam fast zehn Jahre später nochmals auf das Thema Schulversuche zurück. In einer „Empfehlung des Ettlinger Kreises zur Finanzierung der Bildungsaufgaben“63 schlug er im Mai 1968 vor, der Gesetzgeber solle die Errichtung von privaten Stiftungen zum Ausbau des Bildungswesens vor allem steuerlich besser fördern. Mittels Stiftungen bestünde die Chance, im Bildungsbereich beispielhafte Modelle zu schaffen und Experimente durchzuführen. Nach einem Regierungswechsel in Schleswig-Holstein wurde allerdings im Jahre 1960 der Rahmenplan des Deutschen Ausschusses auch argumentaGewerkschaftliche Monatshefte 1960, S. 602-609. Zur ausgelösten öffentlichen Diskussion: Karl Bungardt (Hrsg.), Der „Bremer Plan“ im Streit der Meinungen. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M. 1962, darin ebenfalls Abdruck des Plans, S. 110 ff. 61 Dazu: Pia Gerber, Gespräche müssen Folgen haben. Der Ettlinger Kreis als Motor der Bildungsreform, in: Christian Petry/Hans-Henning Pistor (Hrsg.), Der lange Weg der Bildungsreform. Gisela und Hermann Freudenberg zum 80. Geburtstag, Weinheim 2004, S. 20-33. 62 Zitat: Ziff. 2 der „Entschließung zum Rahmenplan und zur Kulturstatistik (Fünftes Ettlinger Gespräch) November 1959“, abgedruckt in: Schorb, Rahmenplan, S. 24. 63 Abdruck bei: Froese, Bildungspolitik, S. 346 ff., hier S. 350, Ziff. 4: „Stiftungen sind zur Schaffung von Modellen unerläßlich.“
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tiv dazu benutzt, den bereits erwähnten, seit 1948 laufenden Schulversuch an der Volksoberschule Preetz (Verbund aus Volksschuloberstufe, Mittelschule und Gymnasium in einer Schule) zu beenden. Der neue Kultusminister Edo Osterloh (CDU) rechtfertigte sein – seinerzeit wohl zu Recht als politisch motiviert kritisiertes – Vorgehen vordergründig damit, mit der Bekanntgabe des Rahmenplans des Deutschen Ausschusses und der sich daran anschließenden Verhandlungen der Kultusministerkonferenz stünde fest, daß die Schulform, wie sie in Preetz entwickelt werde, keineswegs mehr zur Diskussion stehe. Es sei sinnlos geworden, einen Versuch weiterzuführen, „von dem ohnehin feststeht, daß er in dieser Form nicht verallgemeinert wird“.64 Diese Äußerung stand freilich im Gegensatz dazu, dass die Kultusministerkonferenz bis dahin keinerlei entsprechende abschließende Festlegung und damit Vorgabe für die Länder getroffen hatte, wozu es auch in der Folgezeit nicht kam.
64 Siehe
dazu: Artikel „Schulreform. Keine Experimente“, Der Spiegel, Nr. 38 v. 14.09.1960, S. 35-39, darin Zitate S. 36 (Online-Ressource: http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-43066706.html).
Fünftes Kapitel
Der Durchbruch für Schulversuche durch das „Hamburger Abkommen“ und das seitdem praktizierte KMK-Verfahren I. Im Vorfeld: Öffnung für Schulversuche und neue bildungspolitische Wege durch die „Berliner Erklärung“ der Kultusministerkonferenz (1964) Anlässlich ihrer 100. Plenarsitzung am 05./06.03.1964 verabschiedete die Kultusministerkonferenz eine „Berliner Erklärung“, die eine grundsätzliche Abkehr von der bis dahin zurückhaltenden Linie der Länder in Bezug auf die Erprobung und das Beschreiten neuer bildungspolitischer Wege bedeutete. Ein Kernsatz diesbezüglich lautete: „Ferner wird es notwendig sein, in erhöhtem Maße neue Entwicklungslinien des Schulwesens in Schulversuchen zu erproben und den Erfahrungsaustausch über die Ergebnisse solcher Schulversuche zu verstärken.“1 Was aber hatte die Kultusministerkonferenz zu dieser Kehrtwendung bewogen? In der Berliner Erklärung hieß es zur Begründung, die Periode des Wiederaufbaus der Bundesrepublik sei abgeschlossen und es gebe nunmehr durch die zunehmende europäische Integration und die in allen Staaten gleichlaufenden Bedürfnisse der modernen Industriegesellschaft verstärkt neue Impulse zur Weiterentwicklung der Schul- und Hochschulpolitik. Die europäische Schulentwicklung sei durch folgende Tendenzen gekennzeichnet: eine „Anhebung des gesamten Ausbildungsniveaus der Jugendlichen durch vermehrte und verbesserte Schulbildung aller Art“, die „Erhöhung der Zahl der zu gehobenen Abschlüssen verschiedenster Art geführten Jugendlichen“, die „Ausbildung jedes Einzelnen bis zum höchsten Maß seiner Leistungsfähigkeit“ mit dem „Angebot von Ausbildungsmöglichkeiten, die stärker auf die Befähigung des Einzelnen eingestellt sind“, eine „Verstärkung der Durchlässigkeit unter allen bestehenden Schulen
1 Zu diesem und den nachfolgenden Zitaten: „Berliner Erklärung“ vom 5./6.03.1964, in: Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Kulturpolitik der Länder 1963 und 1964, Bonn 1965, S. 34 f.; außerdem: KMK-Sammlung, Nr. 25.
5. Kap.: Der Durchbruch durch das „Hamburger Abkommen“
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(zum Beispiel horizontal, nicht vertikal gegliederte Schulorganisation)“ und die „Einrichtung neuer, weiterführender Formen“.2 Zielte die Bildungspolitik vor und nach dem „Düsseldorfer Abkommen“ auf schulstrukturelle Vereinfachung und Vereinheitlichung des Schulwesens, standen jetzt die Bewältigung der Bildungsexpansion durch steigende Schülerzahlen, der angesichts des wirtschaftlichen Aufschwungs und des technischen Fortschritts ständig zunehmende Bedarf an gut ausgebildeten jungen Menschen und der soziale Aufstieg durch Bildung im Vordergrund. Bereits 1963 sprach dies der damalige neue Bundeskanzler Ludwig Erhard in seiner ersten Regierungs erklärung an. Er hob die Bedeutung des Schul- und Bildungswesens für den wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand wie auch die soziale Sicherheit hervor; Bildung und Forschung besäßen für die heutige Gesellschaft den gleichen Rang wie die soziale Frage für das 19. Jahrhundert.3 Die Kultusministerkonferenz hatte ebenfalls Anfang 1963 unter anderem eine Anregung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) aufgegriffen, die Beziehungen zwischen dem Ausbau des Bildungswesens und dem Wirtschaftswachstum zu untersuchen und daraus die Konsequenzen für den Ausbau des Bildungswesens zu ziehen. In einer „Bedarfsfeststellung 1961–1970“ kam sie zu dem damals alarmierenden Befund, dass die jährlichen Ausgaben für Bildung, Forschung und Kultur, die von 1957 bis 1962 bereits 2 Ein
vergleichender Blick auf die Reformanstrengungen im Schulwesen anderer europäischer Länder und der USA setzte allgemein immer stärker ein. Siehe dazu exemplarisch den Beitrag des damaligen Vorsitzenden des Schulausschusses der KMK: Hans Reimers, Die Reformen in anderen Ländern, in: Hellmut Becker u.a., Probleme einer Schulreform. Eine Vortragsreihe, Stuttgart 1959, S. 25-54. Dieser hob dabei (S. 32) hervor, dass in Schweden das im Jahre 1950 verabschiedete Erziehungsreformgesetz eine Spanne von 20 Jahren bis zur endgültigen Einführung der neuen Organisationsform, der Gesamtschule nach amerikanischem Vorbild, vorsah. Er führte dies als Beispiel dafür an, dass im Schulwesen vieles nur durch eine Erprobung als Modell und noch mehr nur in langsamer Entwicklung über Jahrzehnte an das im Reformgesetz gesteckte Ziel zu führen sei. 3 Siehe: Regierungserklärung „Politik der Mitte und der Verständigung“ v. 18.10.1963, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 4. WP, Stenogr. Protokoll der 90. Sitzung v. 18.10.1963, S. 4192 ff., hier S. 4201; Wiederabdruck: Karl Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard. Gedanken aus fünf Jahrzehnten. Reden und Schriften, Düsseldorf u.a. 1988, S. 814 ff., hier S. 832 – Ähnliche Gedanken hatte Erhard auch bereits vorher als Bundeswirtschaftsminister geäußert: Ludwig Erhard, Wirtschaft und Bildung, in: Der Volkswirt, Ausgabe v. 17.08.1957; Wiederabdruck: Reden und Schriften, ebenda, S. 513–517. Die Kultusministerkonferenz nahm diesen Anstoß ein halbes Jahr später in ihrer „Berliner Erklärung“ auf, wenn sie dort forderte, „daß in der deutschen Öffentlichkeit die Gleichrangigkeit der Kulturausgaben mit den Verteidigungs- oder Soziallasten nachdrücklicher als bisher anerkannt wird.“
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
um rund 50 % gesteigert worden waren, bis 1970 wegen weiter erheblich steigender Schüler- und Studentenzahlen und dem damit verbundenen Personalund Investitionsbedarf, aber auch wegen der notwendigen Weiterentwicklung des Bildungssystems mindestens verdoppelt werden müssten.4 Die Notwendigkeit, Veränderungen im Schulsystem auf der Grundlage gesicherten retrospektiven wie für Prognosen geeigneten vorausschauenden Zahlenmaterials, also einer hinreichenden empirischen Basis anzugehen, war eine seit Anfang der 1960er Jahre sich durchsetzende Erkenntnis, die damit gleichzeitig einen Wendepunkt hin zu einer modernen Bildungsplanung markierte.5 Zugleich entsprach eine vorausschauende Planung dem damaligen allgemeinen Zeitgeist. Als Methode rationaler Zielansprache und Mittelkoordinierung begann diese eine zentrale Stellung in der Politik einzunehmen.6 Mit der Bedarfsfeststellung setzte nach dem Selbstverständnis der Kultusministerkonferenz auch eine neue Etappe der bildungspolitischen Zusammenarbeit der Länder ein.7 Diese wurde auch in der Öffentlichkeit immer stärker eingefordert, nachdem Georg Picht im Februar 1964 mit einer vierteiligen Artikelserie in der Zeitung „Christ und Welt“ unter der Überschrift „Die deutsche Bildungskatastrophe“ Furore machte, wobei er sich im Wesentlichen auf das Zahlenmaterial der KMK-Bedarfsfeststellung, das er mit OECD-Daten verglich, stützte.8 4 Ständige
Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Bedarfsfeststellung 1961 bis 1970 für Schulwesen, Lehrerbildung, Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kunstpflege. Dokumentation, Stuttgart 1963. 5 Siehe dazu: Jürgen Raschert, Bildungspolitik im kooperativen Föderalismus. Die Entwicklung der länderübergreifenden Planung und Koordination des Bildungswesens der Bundesrepublik Deutschland, in: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Hrsg.), Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Daten und Analysen, Bd. 1: Entwicklungen seit 1950, Stuttgart 1980, S. 111. Raschert bezeichnet die Bedarfsfeststellung sogar als erstes Dokument eines Versuchs, das Bildungswesen im gesamtstaat lichen Rahmen der Bundesrepublik langfristig zu planen. 6 Vgl.: Ulrich Scheuner, Zur Entwicklung der politischen Planung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hans Schneider/Volkmar Götz (Hrsg.), Im Dienst an Recht und Staat. Festschrift für Werner Weber zum 70. Geburtstag, Berlin 1974, S. 370. – Exemplarisch für die damalige, an ökonomische Kriterien ausgerichtete Forderung nach rationaler staatlicher Bildungsplanung: Hajo Riese, Theorie der Bildungsplanung und Struktur des Bildungswesens, in: Konjunkturpolitik. Zeitschrift für angewandte Konjunkturforschung 14 (1968), S. 261-290. 7 Siehe: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland 2009. Darstellung der Kompetenzen, Strukturen und bildungspolitischen Entwicklungen für den Informationsaustausch in Europa, Bonn 2010, S. 28. 8 Siehe: Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten/Freiburg 1964. Die Artikelserie wurde für die Buchausgabe durch eine
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Nach Ansicht von Hellmut Becker wich nunmehr die rückwärtsgewandte, vom Bedürfnis nach Ruhe gekennzeichnete bildungspolitische Stimmung der Nachkriegszeit dem Bewusstsein, „daß dem wirtschaftlichen Aufschwung auch ein geistiger entsprechen müsse, daß die Welt sich mit einer Schnelligkeit verändere, die auch im Bildungswesen nach einer Antwort verlange“.9 Als weitere wichtige Daten in diesem Zusammenhang nennt er die durch ihn initiierte Gründung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung 1963 in Berlin, den zeitlich etwas späteren Reformanstoß von Ralf Dahrendorf im Jahre 1965 unter dem Schlagwort „Bildung ist Bürgerrecht“10 sowie die ebenfalls 1965 erfolgte Gründung des Deutschen Bildungsrates. In dieser Kette ist schließlich auch der Deutsche Städtetag zu nennen, der in einer Entschließung vom 28.01.1965 nachdrücklich dafür eintrat, dass seine Mitgliedsstädte als Schulträger „in Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien und je nach den Gegebenheiten der Länder an den notwendigen Schulversuchen mitwirken“.11 Dokumentation ergänzt. Angesichts eines bevorstehenden „Bildungsnotstandes“ forderte Picht, ein bildungspolitisches „Notstandsprogramm“ aufzulegen. In wenigen Jahren werde man ansonsten die schulpflichtigen Kinder wieder nach Hause schicken müssen, weil es für sie weder Lehrer noch Klassenzimmer gebe. Spätestens 1970 könnten nach den eigenen Zahlen der KMK nur noch die Hälfte der Lehrerstellen an den Schulen besetzt werden. Die Gesamtzahl der Absolventen sämtlicher Studienfächer sei etwa ebenso groß wie die Gesamtzahl der bis 1970 in allen Schulformen benötigten Lehrer. Im internationalen Vergleich seien außerdem die Zahl der Abiturienten viel zu gering und die Bildungschancen nicht gerecht verteilt. Während 1970 in der Bundesrepublik nur 6,8 % des entsprechenden Altersjahrgangs das Abitur besitzen würden, seien dies in Frankreich 19 % und in Schweden 20 %. Das Bildungswesen der Bundesrepublik sei damit bei weitem nicht mehr in der Lage, den Bedarf der Gesellschaft an qualifizierten Nachwuchskräften zu decken und den durchschnittlichen Bildungsstand des deutschen Volkes auf einem Niveau zu halten, das den Standards des zwanzigsten Jahrhunderts entspreche. Unter Bezug auf eine 1962 von der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung herausgegebene Untersuchung von Roderich von Carnap und Friedrich Edding unter dem Titel „Der relative Schulbesuch in den Ländern der Bundesrepublik 1952 bis 1960“ kritisierte er außerdem einen aus seiner Sicht erschütternden Unterschied zwischen den Bundesländern im Hinblick auf die Bildungs- und damit Sozialchancen (Vergleichskriterien: Zahl der Schulabgänger mit mittlerer Reife, Fremdsprachenunterricht in der Volksschule). Dieser beruhe einzig auf dem unterschiedlichen Ausbau des Schulwesens in den einzelnen Ländern. Siehe: Picht, ebenda, S. 16 ff. 9 Zitat: Hellmut Becker, Bildungspolitik, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: Politik, Frankfurt a.M. 1989, S. 334. 10 Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg 1965. 11 Zitat: Mitteilungen des Deutschen Städtetages, Nr. 3 v. 16.02.1965.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Die neue Offenheit der Länder für Schulversuche, die in der wiedergegebenen Passage der „Berliner Erklärung“ zum Ausdruck kam, war somit die Konsequenz eines von der Öffentlichkeit angemahnten, von den Ländern aber auch selbst beabsichtigten Aufbruchs zu einer staatlichen Bildungsplanung und zu allseits als notwendig angesehenen Bildungsreformen. Entstammten die meisten Schulversuche auch in der Nachkriegszeit noch Initiativen einzelner Schulen oder, wie dargestellt, vor allem in den Stadtstaaten engagierter Schulaufsichtsbeamten, traten nunmehr die Kultusministerien gerade auch in den Flächenländern immer stärker in Erscheinung und nutzten das Instrument zur Vorbereitung bildungspolitischer Reformen. Nicht mehr das zeitlich unbegrenzte, in keinem organischen Zusammenhang stehende und von seinen Erfindern abhängige pädagogische Einzelexperiment an einer oder wenigen Schulen, sondern der aufgrund einer staatlichen Bildungskonzeption zeitlich begrenzte Versuch an einer überschaubaren Zahl von Schulen eines Landes mit wissenschaftlicher Begleitung und Auswertung rückte in den Mittelpunkt.12 Der Schulversuch wurde – ganz im Sinne Wilhelm Flitners – vornehmlich zum staatlichen Modellversuch, zu einem wichtigen Element einer Schulpolitik zentral gesteuerter Modernisierung. Der Stadtstaat Hamburg richtete sogar 1963 eine besondere Kommission für Schulversuche ein, die unter dem Vorsitz eines Oberschulrats mit drei Vertretern der Schulbehörde, sechs Vertretern der Hamburger Lehrerkammer13 und einem 12 Ähnlich: Horst Weishaupt, Modellversuche im Bildungswesen und ihre wissenschaftliche Begleitung, in: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Hrsg.), Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Daten und Analysen, Bd. 2: Gegenwärtige Probleme, Stuttgart 1980, S. 1292; ders., Schulversuche – Modellversuche, in: Christoph Führ/Carl Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 379. – Vereinzelte modellhafte Versuche hatte es natürlich auch vorher gegeben, sie waren aber eben die Ausnahme gewesen, wie etwa die zunächst versuchsweise Einführung der Aufbauschule und der Deutschen Oberschule in der Weimarer Zeit oder in den 1950er Jahren der niedersächsische Versuch zum „Differenzierten Mittelbau“ und der hessische Versuch „Neue Wege in der Prima“, beide aber ursprünglich nicht aus Initiativen der Ministerien hervorgegangen. Anders war dies im Falle eines heute kaum noch bekannten frühen bayerischen Schulversuchs aus dem Jahre 1949. Noch mit der damals notwendigen Zustimmung der Militärregierung wurde „im Zuge der Schulreform“ – vergleichbar der Aufbauschule der Weimarer Zeit – eine sechsjährige Kurzform der höheren Schule an bestehenden staatlichen höheren Schulen erprobt, vorgesehen für Schüler und Schülerinnen nach mindestens sechsjährigem Besuch der Volksschule. Siehe: Bekanntmachung des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultur v. 17.05.1949, „Einrichtung von Kurzformen der höheren Lehranstalten“, abgedruckt bei: Merkt, Dokumente, S. 285. 13 Die „Kammer der Lehrerinnen und Lehrer“ (Lehrerkammer), die es bereits seit 1920 (hervorgegangen aus der sogenannten Schulsynode) in der Weimarer Zeit gegeben hatte, wurde 1956 wieder eingeführt. Sie besteht gemäß § 82 SchulG HH aus 40 nach den Grundsätzen der Verhältniswahl für vier Jahre gewählten Mitgliedern. In
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Erziehungswissenschaftler der Universität Hamburg besetzt war. Diese hatte die Aufgabe, zunächst alle damals bestehenden Schulversuche zu sichten und Vorschläge für neue Versuche zu unterbreiten.14 Damit knüpfte Hamburg wieder an den dort bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg eingerichteten gemeinsamen Ausschuss für Schulversuche von Oberschulbehörde und Schulsynode (als Vertretung der Hamburger Lehrerschaft) an.
II. Schulversuchsklausel im „Hamburger Abkommen“ vom 28.10.1964 i.d.F. vom 14.10.1971 Nachdem bereits die „Berliner Erklärung“ der Kultusministerkonferenz die Neuausrichtung der seitens der Länder verfolgten Bildungspolitik formuliert hatte, wurde diese durch das „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens (Hamburger Abkommen)“ vom 28.10.196415 auch rechtlich vollzogen. Das bis heute geltende, durch spätere Änderungen (1968 und 1971) leicht modifizierte „Hamburger Abkommen“ der Ministerpräsidenten trat, vorbereitet durch einen entsprechenden Beschluss der Kultusministerkonferenz,16 nach Ablauf der zehnjährigen Kündigungsfrist an die Stelle des „Düsseldorfer Abkommens“. Zwar diente es wie sein Vorgängerabkommen, auch jetzt wieder im Titel festgehalten, der Vereinheitlichung des Schulwesens. Und in Fortentwicklung des „Düsseldorfer Abkommens“ wurden die Grundstrukturen des gegliederten Schulwesens, nunmehr auch einschließlich des Volksschulbereichs, aufgeteilt in Grundschule und neu entwickelter Hauptschule (bis Klasse 9, fakultativ Klasse 10, mit einer Fremdsprache, in der Regel Englisch, ab der 5. Klasse) noch klarer festgeder Lehrerkammer sollen die Schulstufen und Schulformen angemessen vertreten sein. Wahlberechtigt und wählbar sind alle stimmberechtigten Mitglieder der Lehrerkonferenzen. Nach § 79 SchulG HH berät die Lehrerkammer neben einer Schülerkammer und einer Elternkammer die zuständige Behörde bei allen das Schulwesen betreffenden Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung. – Zum Vorläufer, der Hamburger Lehrerkammer in der Weimarer Zeit, siehe § 30 „Gesetz über die Selbstverwaltung der Schulen“ v. 13.04.1920 (ABl. der Freien und Hansestadt Hamburg 1920, S. 517). 14 Vgl.: Führ, Schulversuche Teil I, S. 107. 15 KMK-Sammlung Nr. 101; Abdruck auch bei: Froese, Bildungspolitik, S. 327; Michael/Schepp, Quellensammlung, Bd. 2, S. 380. 16 Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 19./20.10.1964. – Beschlüsse der KMK haben zwar nur einen rein empfehlenden, rechtlich nicht bindenden Charakter (weder für die Landesregierungen noch erst recht die Landesparlamente), sie bilden aber vor allem die „Geschäftsgrundlage“ für die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen und Berechtigungen und wirken dadurch entscheidend auf das deutsche Bildungssystem ein. Zur rechtlichen Einordnung: Stein/Roell, Handbuch des Schulrechts, S. 23, 329 f.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
schrieben.17 Doch ermöglichte man zugleich eine größere Vielfalt, so etwa von unterschiedlichen Aufbauformen der höheren Schule oder eine für alle Schüler gemeinsame „Förder- oder Beobachtungsstufe“ im 5. und 6. Schuljahr. Vor allem aber gab das „Hamburger“ anders als das „Düsseldorfer Abkommen“ durch eine in § 16 offen formulierte Versuchsbestimmung den Weg für Veränderungen frei. Diese Versuchsklausel lautet: „Pädagogische Versuche, die von der in diesem Abkommen vereinbarten Grundstruktur des Schulwesens abweichen, bedürfen der vorherigen Empfehlung der Kultusministerkonferenz.“
Schulversuche sind damit seitdem nicht mehr nur im Rahmen der im Abkommen festgelegten Schulformen zulässig, sondern können sogar ganz von ihnen abweichen. In diesem Fall, wenn also durch „pädagogische“ Versuche die zwischen den Ländern vereinbarte Grundstruktur des Schulwesens nicht eingehalten wird, und nur dann bedürfen Schulversuche aufgrund des Abkommens einer Empfehlung der Kultusministerkonferenz. Damit sollen nicht nur möglichst bundesweit einheitliche Grundstrukturen gewahrt werden können, es ist insbesondere eine Absicherung für die gleichfalls im „Hamburger Abkommen“, § 17, geregelte gegenseitige Anerkennung der in den Ländern ausgestellten Abschlusszeugnisse von Schulen, die Gegenstand des Abkommens sind. Ein Befassen der Kultusministerkonferenz ist danach nicht notwendig bei rein schulorganisatorischen und auch nicht bei solchen „pädagogischen“ Versuchen in den Ländern, die die im Abkommen geregelte „Grundstruktur“ des Schulwesens nicht tangieren.18 Dies sind insbesondere Versuche zur Einräumung von mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schulen, etwa bei der Personalauswahl oder der Verwaltung eigener Schulbudgets. Gleichfalls fallen darunter nicht organisatorische Versuche im Bereich der Schulmitwirkung und sonstiger Fragen der Schulverfassung, Versuche zur Unterrichtsorganisation, etwa zu Formen der Ganztagsbeschulung ebenso wenig wie generell zur Schulfinanzierung, zur Schulaufsicht oder Schulträgerschaft. Außen vor sind aber auch pädagogische Versuche zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung oder solche im Bereich der Inklusion behinderter Schülerinnen und Schüler, der Koedukation oder der Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern (z.B. Jugendhilfe, Schulpsychologie, Studien- und Berufsorientierung).
17 Das mittlere Schulwesen erhielt jetzt auch erstmalig in allen Bundesländern die Bezeichnung „Realschule“ (§ 6). Im „Düsseldorfer Abkommen“ (§ 3) war noch die Bezeichnung „Mittelschule“ verwendet worden. 18 Ebenso, etwas verhalten: Scheuerl, Gliederung des deutschen Schulwesens, S. 80: „Schulversuche, die der Grundstruktur entsprechen, sind damit offenbar freigegeben.“
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Die Versuchsklausel des „Hamburger Abkommens“ enthält keinerlei inhaltliche Vorgaben und Begrenzungen, verzichtet sogar im Gegensatz zur Vorgängerregelung auf das, eine zurückhaltende Anwendung nahelegende Wort „ausnahmsweise“, wobei selbstverständlich ein Versuch immer die Abweichung von der Regel, damit eine Ausnahme ist. Die Kultusministerkonferenz ist also nach dem Abkommen frei, nach welchen Kriterien sie eine positive Empfehlung zugunsten einer Versuchsdurchführung trifft. Allerdings ergibt sich aus dem Zusammenhang mit der gegenseitigen Anerkennung der Bildungsabschlüsse und der mit diesen verbundenen Berechtigungen für die weitere Studien- und Berufswahl, dass die strukturellen Abweichungen nicht das Erreichen vergleichbarer Prüfungsanforderungen (Bildungsstandards) in Frage stellen dürfen. Diese offene Schulversuchsklausel knüpfte damit wieder an die Vereinbarung der Länder aus der Weimarer Zeit über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse an den höheren Schulen an, in der vor allem die zulässigen Schultypen der höheren Schule geregelt waren. Auch die dort für abweichende Schulversuche notwendige „Zustimmung“ der anderen Länder war an keine Voraussetzungen gebunden.19 Die Offenheit des „Hamburger Abkommens“ führte im Übrigen dazu, dass bis dahin nur auf dem Versuchsweg mögliche Schultypen nunmehr generell zugelassen waren. Da die im „Düsseldorfer Abkommen“ enthaltene Typenbegrenzung des Gymnasiums nicht übernommen wurde, waren insbesondere die zwischenzeitlich häufig als Versuch entstandenen Wirtschaftsgymnasien sowie musischen, sozial- und erziehungswissenschaftlichen Gymnasien nunmehr ohne weiteres anerkannt. Gleiches galt gemäß § 7 Abs. 1 des Abkommens für höhere Schulen, die nur zur fachgebundenen Hochschulreife führten. Dahinter stand in all diesen Fällen das Ziel, die Zahl der Abiturienten deutlich zu steigern.20 Ebenfalls waren jetzt Versuche mit gemeinsamen Förder- und Beobachtungsstufen in den Klassen 5 und 6 jedenfalls keine solchen mehr im Sinne des Länderabkommens, denn diese waren jetzt darin ausdrücklich freigegeben. Je weiter der allgemeine schulrechtliche Gestaltungsspielraum in den Ländervereinbarungen – wie auch in landesgesetzlichen Regelungswerken – gezogen wird, umso kleiner wird der Anwendungsbereich von Versuchsklauseln. Das „Hamburger Abkommen“ enthält allerdings keine ausdrückliche Bestimmung darüber, wie im Falle der Weiterentwicklung des Schulwesens zu verfahren ist, insbesondere bei einem aus Sicht eines Landes erfolgreich durchgeführten, vom Abkommen mit Empfehlung der Kultusministerkonferenz abweichenden Schulversuch. Zwar wurde das Abkommen zweimal novelliert; seit der letzten, lange zurückliegenden Änderung im Jahre 1971 ist die Entwicklung aber 19 Siehe
oben Erster Teil Drittes Kapitel V. 2. auch: Gass-Bolm, Gymnasium, S. 211; insb. für die Wirtschaftsgymnasien: Brauckmann/Neumann, Berufliche Gymnasien, S. 88 ff. 20 Vgl.
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am Abkommen vorbeigelaufen. Selbst die Wiedervereinigung und der damit verbundene Beitritt der fünf ostdeutschen Länder mit ihren durchaus partiell unterschiedlichen Schulstrukturen wurden nicht zum Anlass für eine Anpassung des Abkommens genommen. Die Kultusministerkonferenz hat dies in einem Beschluss aus dem Jahre 2001 zur Weiterentwicklung des Schulwesens in Deutschland seit dem „Hamburger Abkommen“ thematisiert.21 Das föderal geprägte Schulwesen in Deutschland hat sich, so heißt es dort mit anschließender Begründung, seit dem In-Kraft-Treten des „Hamburger Abkommens“ erheblich verändert, ausdifferenziert und weiterentwickelt. Diesem Prozess habe die Kultusministerkonferenz durch verschiedene Vereinbarungen, insbesondere zum Zwecke gegenseitiger Anerkennung von Bildungsgängen und Abschlüssen, Rechnung getragen. Hervorgehoben wird die dabei verfolgte Zielsetzung, nämlich ein Höchstmaß an Flexibilität und Gewährleistung föderaler Vielfalt zu verbinden mit Qualitätssicherung und einer liberalen, unbürokratischen Anerkennungspraxis.22 Im Einzelnen werden dann die wesentlichen Vereinbarungen angeführt, vor allem diejenigen zur Struktur und Organisation des Schulwesens im Sekundarbereich I und II. Die Grundzüge des deutschen Schulwesens sind damit zwischenzeitlich in diesen Vereinbarungen und nicht mehr im „Hamburger Abkommen“ festgehalten. Bezeichnenderweise heißt es denn auch in der Vereinbarung zur Sekundarstufe I, diese diene der Sicherung einer gemeinsamen und vergleichbaren Grundstruktur des Schulwesens in der Bundesrepublik Deutschland „im Sinne“ des „Hamburger Abkommens“ und eben nicht „gemäß“ dem Abkommen.23 Diese Verlagerung des Regelungsortes betrifft gerade den Bereich der Sekundarstufe I, bei dem neben dem Gymnasium nicht mehr nur die Haupt- und Realschule, sondern zwischenzeitlich in der KMK-Vereinbarung darüber hinaus 25 zusätzliche 21 Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 10.05.2001 „Weiterentwicklung des Schulwesens in Deutschland seit Abschluss des Abkommens zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens vom 28.10.1964 i.d.F. v. 14.10.1971“, abgedruckt: KMK-Sammlung Nr. 104. 22 Zur näheren Erläuterung heißt es in dem Beschluss unter Ziff. IX: „Die föderale Vielfalt des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland muss gestärkt und als Motor der Qualitätsentwicklung genutzt werden. Gleichzeitig müssen gegenseitige Anerkennung und Durchlässigkeit gewährleistet bleiben, um der Mobilität der Bürgerinnen und Bürger auch bildungspolitisch Rechnung zu tragen. Rahmenvorgaben statt Detailregelungen sollen den einzelnen Ländern größere Gestaltungsfreiräume eröffnen. Ziel ist es, unterschiedliche, aber gleichwertige Instrumente der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung in den Ländern zu akzeptieren. Die Vereinbarungen zur Ausgestaltung von Bildungsgängen werden von Detailregelungen befreit und auf Rahmen regelungen zurückgeführt. Es wird eine pragmatische Anerkennungspraxis vereinbart.“ 23 „Vereinbarung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I“, Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 03.12.1993 i.d.F. v. 12.12.2013, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 102, hier Vorbemerkung.
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Schulformen aufgeführt sind. Und die aktuellen schulpolitischen Debatten lassen erwarten, dass die Schlussbestimmung der Vereinbarung, wonach auf Antrag eines Landes weitere Schularten und Bildungsgänge in diese aufgenommen werden können, auch in Zukunft im Sekundarbereich I noch häufig genutzt werden wird. War in der Weimarer Zeit und in den 1950er Jahren das Gymnasium Gegenstand schulpolitischer Typenkreation, so ist dies heute der gesamte außergymnasiale Bereich. Die Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz sind rechtstechnisch neben das „Hamburger Abkommen“ gesetzt, und zwar indem die Länder sich in diesen Vereinbarungen auch die gegenseitige Anerkennung ihrer neu entwickelten Schulformen versichern. Diese Vorgehensweise entspricht sicherlich nicht der Intention bei der Verabschiedung des „Hamburger Abkommens“; die darin vorgesehene Kündigungsmöglichkeit und die – tatsächlich zweimal vorgenommene – Novellierung sind der Weg, den die Länder eigentlich für zeitgemäße Anpassungen gehen müssten. Doch scheinen die Kultusminister gerne selbst das Heft des bildungspolitischen Handelns in der Hand halten zu wollen, statt es ihren Ministerpräsidenten zu überlassen, und zudem den recht mühsamen, unflexiblen Weg über Staatsabkommen zu scheuen. Trotz aller Offenheit der Formulierung ist das „Hamburger Abkommen“ auch seinem Wortlaut nach, nicht zuletzt in dem wichtigen Abschnitt über die Schulstruktur erkennbar abschließend gefasst. Es ist einzig die Lücke, die hinsichtlich der Folgen von Schulversuchen gelassen wurde, die bei wohlmeinender Auslegung die Vereinbarungspraxis der Kultusministerkonferenz rechtfertigen kann. Neben der allgemeinen Versuchsklausel des „Hamburger Abkommens“ gab es allerdings schon seit 1954 und existiert auch heute noch eine spezielle KMKVersuchsvorschrift für den Fall von Abweichungen bei der Gestaltung der gymnasialen Oberstufe. Zunächst in § 21 der „Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse der Gymnasien“ vom 20.05.1954 und später in § 20 der entsprechenden Anschlussvereinbarung vom 20.03.196924 geregelt, musste hiernach ein Land, das einen von den Bestimmungen der Vereinbarung abweichenden Versuch durchzuführen beabsichtigte, die anderen Länder hiervon in Kenntnis zu setzen. Nach § 20 Abs. 1 Satz 2 der Vereinbarung von 1969 hatte sodann der Schulausschuss der Kultusministerkonferenz vor der Entscheidung des KMK-Plenums ein Gutachten zu erstatten. Erteilte das Plenum dann die „Zustimmung“ zu dem Versuch, so galt diese als Anerkennung der aufgrund des Versuchs auszustellenden Reifezeugnisse. Die Zustimmung konnte auf eine bestimmte Zeitdauer beschränkt werden.
24 „Vereinbarung
über die gegenseitige Anerkennung der an Gymnasien erworbenen Zeugnisse der allgemeinen Hochschulreife“, Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 20.03.1969 i.d.F. v. 13.12.1973, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 191.
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Heute ist einschlägig Ziff. 13.3 der „Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II“.25 Diese Versuchsregelung verweist zwischenzeitlich aber nur noch auf eine nachstehend behandelte, unter dem Etikett der Verfahrensvereinfachung getroffene allgemeine Vereinbarung der Kultusministerkonferenz über die Zulassung von Schulversuchen. „Zur Erprobung besonderer inhaltlicher und methodischer Unterrichtsvorhaben können Länder einzelnen Schulen zeitlich befristete Abweichungen von in der Vereinbarung enthaltenen Regelungen gestatten. Solche Modelle sind gemäß der Vereinbarung zur ,Durchführung von Schulversuchen und gegenseitige Anerkennung der entsprechenden Abschlüsse‘ (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.02.1990 in der jeweils geltenden Fassung26) anzuzeigen.“
Das „Hamburger Abkommen“ verwendet für die KMK-Entscheidung zu einem Schulversuch den Begriff „Empfehlung“ statt „Zustimmung“ oder „Genehmigung“. Dies kann durchaus als ein weiterer Ausdruck der dem Abkommen innewohnenden versuchsfreudigen Haltung bezeichnet werden. Allerdings sind für die Zeit nach dem „Hamburger Abkommen“ in der amtlichen Sammlung der KMK-Beschlüsse keine Versuchsempfehlungen auf Antrag eines einzelnen Landes enthalten. Stattdessen finden sich dort für den Zeitraum zwischen 1964 und 1980 24 Plenarbeschlüsse zu Schulversuchen in der gymnasialen Oberstufe an einzelnen namentlich genannten Schulen, die von Tragweite für die Anerkennung der dort abgelegten Reifeprüfungen waren.27 In den auf § 20 bzw. § 21 der Abiturvereinbarung gestützten KMK-Plenumsbeschlüssen zu diesen Versuchsvorhaben hieß es wie bereits seit 1954 „Anerkennung eines Schulversuchs“ und im Beschlusstext „billigt die Durchführung eines Schulversuchs“.28 Nach der ab 1990 vorgenommenen und nachstehend dargestellten Vereinfachung des Verfahrens spricht die Kultusministerkonferenz nunmehr von „Zulassung“. Einige der Anerkennungsbeschlüsse wurden mit einer Maßgabe versehen. Außerdem verpflichteten sich die jeweiligen Länder stets zu einem Bericht über die Entwicklung des Versuchs. Schließlich billigte das KMK-Plenum im Jahre 1971 25 „Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II“. Beschluss der KMK v. 07.07.1972 i.d.F. v. 06.06.2013, abgedruckt in: KMKSammlung Nr. 176 – Eine gleichlautende Versuchsvorschrift enthält auch noch die „Vereinbarung zur Gestaltung der Kollegs“, Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 21.06.1979 i.d.F. v. 07.02.2013, hier Ziff. 11.3 (Online verfügbar: http://www.kmk. org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1979/1979_06_21-VereinbarungGestaltung-Kolleg.pdf). 26 Nunmehr i.d.F. v. 21.06.2012. 27 Siehe: KMK-Sammlung Nr. 474.1–474.13, 474.25–474.30. 28 Beispiel: „Anerkennung eines Schulversuchs an der Wilhelm-von-OranienSchule in Dillenburg, der Liebigschule in Frankfurt am Main und der Herderschule in Kassel“, Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 06.02.1969, abgedruckt in: KMKSammlung Nr. 474.12.
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in einem Grundsatzbeschluss bis auf Widerruf alle Schulversuche, in denen die Durchführbarkeit der in der Kultusministerkonferenz entwickelten Konzeptionen zur Neuordnung der gymnasialen Oberstufe erprobt wurde.29
III. KMK-Vereinbarung „Durchführung von Schulversuchen und gegenseitige Anerkennung der entsprechenden Abschlüsse“ 1. KMK-Beschluss vom 16.02.1990 Nachdem seit den 1950er Jahren jeweils ein Plenarbeschluss der Kultusministerkonferenz für die Anerkennung von länderrelevanten Schulversuchen herbeigeführt werden musste, sogar nach der Abiturvereinbarung ein vorheriges Gutachten des Schulausschusses erforderlich war, beschlossen die Kultusminister hierfür erstmalig 1990 eine deutliche Verfahrensvereinfachung. In einer Eingangsbemerkung legten sie ihre damit verfolgte Zielsetzung dar: „Die Kultusminister der Länder stimmen darin überein, künftige Schulversuche großzügiger zuzulassen. Sie sind dabei von dem Ziel geleitet, einerseits die Einheitlichkeit und Durchlässigkeit des Schulwesens zu wahren, andererseits eine Weiterentwicklung des Schulwesens und eine Verbesserung pädagogischer Förderung durch Schulversuche zu ermöglichen.“30 Schulversuche, die vom „Hamburger Abkommen“ oder auch von einzelnen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz abwichen, waren nunmehr – unter Beifügung erläuternder Unterlagen – neun Monate vor dem geplanten Beginn bei den anderen Ländern und beim KMK-Sekretariat anzuzeigen. Wenn innerhalb von drei Monaten nach Eingang der Anzeige kein anderes Land besonderen Beratungsbedarf anmeldete, galt der Schulversuch als zugelassen. Anderenfalls musste vor der Zulassung eine Beratung und Beschlussfassung der Kultusministerkonferenz stattfinden.31
29 „Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung von Zeugnissen der allgemeinen Hochschulreife, die an Gymnasien mit neugestalteter Oberstufe erworben wurden“, Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 07.05.1971 i.d.F. v. 08.11.1972, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 191.1. 30 Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 16.02.1990 „Durchführung von Schulversuchen und gegenseitige Anerkennung der entsprechenden Abschlüsse“, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 472 (Stand bis 1999). 31 Siehe: Beschluss, ebenda. Nach einer Verfahrensabsprache im Schulausschuss (Niederschrift 315. Sitzung v. 12./13.10.1995, TOP 23) waren Schulversuchsanzeigen auch an die Mitglieder des Schulausschusses zu richten.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Über die Verfahrensvereinfachung zum „Hamburger Abkommen“ hinaus enthielt dieser Beschluss erstmals eine generelle Versuchsermächtigung für Abweichungen von KMK-Vereinbarungen. Dies war letztlich eine Folge dessen, dass die Grundzüge des Schulwesens immer mehr in solchen Vereinbarungen und nicht mehr im „Hamburger Abkommen“ festgelegt wurden. Dieser Beschluss stellte damit alle bisherigen und künftigen KMK-Vereinbarungen unter einen Versuchsvorbehalt. Als Rechtsfolge wurde, insoweit parallel zur Regelung im „Hamburger Abkommen“, festgeschrieben: „Zeugnisse, Abschlüsse und Berechtigungen, die im Rahmen von Schulversuchen nach dieser Vereinbarung erworben werden, werden gegenseitig anerkannt.“ Diese Bestimmung, die die eigentliche Bedeutung und den bestimmenden Zweck der länderübergreifenden Versuchsübereinkunft ausmacht, wurde auch in die beiden späteren Neufassungen der Vereinbarung übernommen und gilt folglich bis heute unverändert fort. 2. KMK-Beschluss in der Fassung vom 22.10.1999 Im Jahre 1999 beschloss die Kultusministerkonferenz durch eine Neufassung der Schulversuchs-Vereinbarung das Verfahren nochmals weiter zu vereinfachen.32 Hierfür galt fortan bis Ende Juli 2012: Schulversuche, die vom „Hamburger Abkommen“ oder einzelnen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz abwichen, waren durch das jeweilige Land sechs Monate vor dem geplanten Beginn nur noch den Mitgliedern des Schulausschusses der Kultusministerkonferenz über das KMK-Sekretariat anzuzeigen. Angezeigte Versuche wurden laut der Verfahrensregelung für den angemeldeten Zeitraum zugelassen. „Wechselseitiges Vertrauen auf der Basis eines transparenten Verfahrens gegenseitiger Information“ stand, so die damalige eigene Interpretation der Kultusministerkonferenz, im Vordergrund dieses – ausdrücklich auch so bezeichneten – „vereinfachten Verfahrens“. Die nunmehrige elementare Aufweichung war argumentativ eingebettet in ein grundsätzliches Bestreben der Kultusministerkonferenz, ihre Vereinbarungen zugunsten von mehr Vielfalt im Bildungswesen zu öffnen. Die Neuregelung diene – wie seinerzeit drei weitere beschlossene Änderungen von KMK-Vereinbarungen – „dem Ziel, die föderale Vielfalt des Bildungswesens in der Bundesrepublik dadurch zu stärken, dass den Ländern auf der Basis eines gemeinsamen Kerns von Qualitätsstandards mehr Raum für innovative Ansätze eröffnet wird. Die notwendige Vergleichbarkeit der Abschlüsse,
32 „Durchführung
von Schulversuchen und gegenseitige Anerkennung der entsprechenden Abschlüsse“, Beschluss der KMK v. 16.02.1990 i.d.F. v. 22.10.1999, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 472 (Stand bis Mai 2012).
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d.h. die Durchlässigkeit des Bildungssystems und die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger, bleibt zugleich gesichert.“33 Fraglich war, ob nach dieser Verfahrensregelung noch ein Widerspruch einzelner Länder gegen einen Versuch diesen verhindern konnte. Die Verfahrensregelung in der Fassung von 1999 legte einen Zulassungs-Automatismus nahe.34 Da die Anzeige gegenüber dem Schulausschuss erfolgte, war dessen Vorsitzender zwar aufgrund eigener Entscheidung oder bei Anmeldung von Beratungsbedarf durch ein Ausschussmitglied befugt, den Schulversuch auf die Tagesordnung des Gremiums zu setzen. Nach der Verfahrensregelung konnte das Beratungsergebnis am Ende aber nur eine Kenntnisnahme sein, eine inhaltliche Beschlussfassung erschien nicht möglich. Denn die Verfahrensregelung sah – anders als die Vorgängerregelung von 1990 – keine Zulassungsfiktion mehr mangels angemeldeten Beratungsbedarfs, sondern eine solche bereits kraft der Anzeige des Versuchs vor. In ihrer begleitenden Pressemeldung sprach die Kultusministerkonferenz denn auch nur noch von einem transparenten Verfahren gegenseitiger „Information“. Eine solche Reduktion auf eine bloße Anzeigepflicht konnte die Kultusministerkonferenz zwar hinsichtlich der von ihr beschlossenen Vereinbarungen aus eigenem Recht vornehmen. Ob dies allerdings für Abweichungen vom „Hamburger Abkommen“ zulässig war, das ausdrücklich eine vorherige Empfehlung zu dem betreffenden Versuch und damit eine Positionierung, also Entscheidung der Kultusministerkonferenz fordert, ist zu bezweifeln. Die Kultusminister können unstreitig eine Entscheidung auf ein KMK-Gremium, also vorliegend den Schulausschuss, delegieren.35 Es ist auch noch vertretbar, Schweigen, also die Nichtgeltendmachung von Beratungsbedarf, als positive Empfehlung zu fingieren. Die Grenze der zulässigen Auslegung des § 16 durch die Kultusministerkonferenz war aber überschritten, wenn diese davon ausging, durch einen BlankoBeschluss alle zur Anzeige kommenden künftigen Schulversuche zulassen zu können. Da das „Hamburger Abkommen“ ein Staatsvertrag der Länder ist, war und ist die Kultusministerkonferenz nicht befugt, diesen eigenmächtig abzuän33 Zu den Zitaten: Presseerklärung zur 287. KMK-Plenarsitzung am 21./22.10.1999,
Online im KMK-Pressemitteilungsarchiv unter: http://www.kmk.org/presse-undaktuelles/pm1999/287plenarsitzung.html. 34 So mit kritischem Unterton, ohne dies allerdings zu problematisieren: Avenarius, in: Avenarius/Füssel, Schulrecht, S. 97. 35 Nach der Geschäftsordnung der KMK und einer hierzu ergangenen Richt linie sind deren Hauptausschüsse, also vorliegend der Schulausschuss, ermächtigt, bei Beratungsmaterien, die nicht in der Amtschefkonferenz oder im KMK-Plenum erörtert werden müssen, „für die Kultusministerkonferenz abschließend zu entscheiden.“ Ziff. 2 Abs. 1 der „Richtlinien über die Einsetzung und Arbeitsweise von Gremien der Kultusministerkonferenz“ i.V.m. Teil C der „Geschäftsordnung der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland“ v. 19.11.1955 i.d.F. v. 02.06.2005, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 2.
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dern; er bindet kraft der landesgesetzlichen Ratifikationen rechtlich die einzelnen Mitglieder der Kultusministerkonferenz. 3. KMK-Beschluss in der geltenden Fassung vom 21.06.2012 Nach einem längeren Überarbeitungsprozess verständigten sich die Kultusminister im Jahre 2012 auf eine abermalige, jetzt allerdings restriktivere Neufassung der Schulversuchsvereinbarung, die zum 01.08.2012 in Kraft getreten ist.36 Auslöser war eine seit Anfang 2011 innerhalb der Kultusministerkonferenz geführte Diskussion über einen Schulversuch des Landes Hessen zur Vergabe des mittleren Schulabschlusses im verkürzten gymnasialen Bildungsgang nach Klasse 9 gewesen.37 Es mehrten sich die Bedenken gegen eine bloße Anzeigeverpflichtung in derartigen Fällen. Eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe des Schulausschus36 Siehe unten Anhang. Zudem: KMK-Sammlung Nr. 472. Online verfügbar unter: http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1990/1990_02_16Schulversuche.pdf. 37 Zu diesem der Kultusministerkonferenz angezeigten und zum Schuljahr 2011/ 2012 gestarteten Schulversuch: Pressemitteilungen des hessischen Kultusministeriums v. 23.03.2011 mit der Ankündigung des Versuchs und v. 24.10.2012 mit der Bekanntgabe der 29 am Schulversuch teilnehmenden Schulen (Online im Internetauftritt unter Pressemitteilungen eingestellt: http://www.kultusministerium.hessen.de); Antwort der hessischen Kultusministerin Henzler (FDP) auf die Kleine Anfrage MdL Habermann (SPD) „Schulversuch Anerkennung des mittleren Abschlusses nach der 9. Klasse“, Landtag Hessen, 18. WP., LT-Drs. 18/4408 v. 25.10.2011. Der auf fünf Jahre befristete Schulversuch wurde gestartet, um für diejenigen Schüler des verkürzten gymnasialen Bildungsgangs (G 8), die die Schule am Ende der Sekundarstufe I nach Klasse 9 verlassen, eine Gleichstellung mit dem mittleren Abschluss zu erreichen. Bis dahin hatten diese Schüler nur einen dem Hauptschulabschluss gleichgestellten Abschluss erhalten. Das Problem stellt sich nur in den Ländern, die im verkürzten gymnasialen Bildungsgang eine dreijährige Oberstufe (Modell 5+3 statt 6+2) beibehalten haben. In Nordrhein-Westfalen, aber auch den anderen betroffenen Ländern wird erst mit der Versetzung am Ende der Jahrgangsstufe 10 im Gymnasium neben der Berechtigung zum Besuch der Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe auch der mittlere Schulabschluss (Fachoberschulreife) erteilt (§ 16 Abs. 4 Satz 2 SchulG NRW) bzw. erfolgt bei einem Wechsel auf das Berufskolleg ein entsprechender Erwerb des mittleren Schulabschlusses (Fachoberschulreife) in den dortigen einzelnen Bildungsgängen (§ 22 Abs. 4 und 5 SchulG NRW). Vor dem hessischen Versuchsvorstoß war eine auch von Nordrhein-Westfalen und den anderen betroffenen Ländern gewünschte Änderung der KMK-Vereinbarung zur Sekundarstufe I beraten worden, eine Einstimmigkeit zu einem mittleren Abschluss nach Klasse 9 aber nicht erreichbar gewesen. Auf dem Umweg des Schulversuchs unterlief Hessen jetzt diese KMK-Beschlusslage, was die Amtschefkonferenz zum Anlass nahm, unter Beteiligung des KMK-Schulausschuss das bisherige Verfahren für die Zulassung von Schulversu-
5. Kap.: Der Durchbruch durch das „Hamburger Abkommen“
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ses wurde gebeten, in einem Vorschlag für eine Verfahrensänderung darzustellen, welche Abweichungen von den vereinbarten Grundstrukturen des Schulwesens im Rahmen von Schulversuchen als so schwerwiegend einzuschätzen sind, dass eine Genehmigung erfolgen muss. In der Neufassung der Vereinbarung wird als Ergebnis hiervon jetzt zwischen zulassungspflichtigen und anzeigepflichtigen Schulversuchen unterschieden. Zulassungspflichtig sind „Schulversuche, die Abschlüsse und Rahmenbedingungen des Erreichens der Abschlüsse betreffen“, für alle übrigen gilt weiterhin – nunmehr deutlich klargestellt – „lediglich eine Anzeigepflicht“. Über zulassungspflichtige Schulversuche entscheidet künftig für den angemeldeten Zeitraum der Schulausschuss mit einer Mehrheit von mindestens 13 Stimmen.38 Kommt ein Beschluss des Schulausschusses nicht zustande, entscheidet die Amtschefkonferenz. Bei der Verabschiedung der Neufassung der Vereinbarung wurde zudem Einvernehmen darüber festgestellt, dass die Amts chefkonferenz auf der Basis der KMK-Geschäftsordnung jederzeit eine Beratung über einen Schulversuchsantrag vorsehen kann. Die übrigen – anzeigepflichtigen – Schulversuche sind nach der neuen Vereinbarung für den angemeldeten Zeitraum zugelassen, sofern nicht ein Land innerhalb von vier Wochen nach dessen Anmeldung eine Beratung im Schulausschuss beantragt, weil es den angemeldeten Schulversuch für zulassungspflichtig hält. Zum Anmeldeverfahren gilt jetzt: Ein Land hat den beabsichtigten Schulversuch spätestens sechs Monate vor dem geplanten Beginn und spätestens acht Wochen vor einer Schulausschusssitzung den Mitgliedern des Schulausschusses über das Sekretariat der Kultusministerkonferenz anzumelden. Die Anmeldung muss folgende Angaben enthalten: chen zu überprüfen und dem KMK-Plenum nach mehrfacher Beratung eine Änderung der Versuchsvereinbarung vorzuschlagen. 38 Mit dem Erfordernis einer solchen qualifizierten Mehrheit wurde ein Mittelweg gewählt zwischen zwei bei den internen Beratungen zur Überarbeitung der Vereinbarung vertretenen divergierenden Positionen. Während der Schulausschuss sich – unter Verweis auf den in der Eingangsbemerkung der Versuchsvereinbarung verankerten Grundsatz der Großzügigkeit bei der Zulassung von Schulversuchen – für eine Zustimmung des Schulausschusses mit einfacher Mehrheit ausgesprochen hatte, waren in der Amtschefkonferenz einige Länder zunächst für Einstimmigkeit eingetreten. Einstimmigkeit ist bei Abstimmungen in der KMK erforderlich insbesondere für Beschlüsse, die der Herstellung der notwendigen Einheitlichkeit und Mobilität im Bildungs wesen dienen, außerdem für Beschlüsse mit Auswirkungen auf die Landeshaushalte und Beschlüsse, die die Kultusministerkonferenz selbst betreffen oder zur Errichtung gemeinsamer Einrichtungen. Andere Entscheidungen werden mit einer Mehrheit von mindestens 13 Stimmen getroffen. Verfahrensbeschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefasst. Siehe: KMK-Geschäftsordnung v. 19.11.1955 i.d.F. v. 02.06.2005, hier Ziff. A I 6 (http://www.kmk.org/fileadmin/pdf/gogr.pdf).
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
a) Kurzbezeichnung des Schulversuchs b) Beginn und Dauer c) Anzahl der beteiligten Schulen, Schulart, ggf. Namen der Schulen d) Ziele und Fragestellungen e) Angaben zur wissenschaftlichen oder schulaufsichtlichen Begleitung sowie der Evaluation f) Darstellung der Abweichungen von einschlägigen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz g) Erklärung des antragstellenden Landes, ob es sich um einen zulassungspflichtigen oder um einen anzeigepflichtigen Schulversuch handelt. Die neugefasste Schulversuchsvereinbarung löst sich, ohne dies ausdrücklich zu thematisieren, vom „Hamburger Abkommen“. Musste bislang in der Terminologie dieses Abkommens bei der Versuchsanmeldung das „Ausmaß der Abweichungen von den vereinbarten Grundstrukturen des Schulwesens“ angezeigt werden, bedarf es nach der Neufassung der Versuchsvereinbarung einer „Darstellung der Abweichungen von einschlägigen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz“. Dies korrespondiert mit der Änderung des Eingangssatzes der Vereinbarung, wonach man darin übereinstimmt, „Schulversuche, die von einschlägigen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz abweichen“ großzügig zuzulassen. Das „Hamburger Abkommen“ kommt im Vereinbarungstext nicht mehr expressis verbis vor. Diese Neujustierung des Anwendungsbereiches erfolgte offensichtlich vor dem Hintergrund, dass die Grundstrukturen des Schulwesens – wie bereits dargestellt – zwischenzeitlich durchgehend in KMKVereinbarungen geregelt sind. Da nunmehr Schulversuche, die von solchen Vereinbarungen abweichen und schulische „Abschlüsse und Rahmenbedingungen des Erreichens der Abschlüsse“ betreffen, einer Zulassung durch qualifizierten Mehrheitsbeschluss der Kultusministerkonferenz (zulässigerweise delegiert auf den Schulausschuss bzw. die Amtschefkonferenz) bedürfen, ist dem Anliegen der Versuchsklausel des „Hamburger Abkommens“ hinreichend genüge getan. Der vollzogene Systemwechsel von der Anzeige- zur Zulassungspflicht bei Schulabschlüsse tangierenden und damit grundlegenden Strukturabweichungen ist die notwendige Sicherung im Sinne des Abkommens, selbst wenn dieses im Gegensatz zur Vorgängerfassung in der Vereinbarung nicht mehr erwähnt wird. Auch nach der neuen Vereinbarung beziehen sich Schulversuche ausdrücklich nur auf eine „begrenzte Anzahl von Schulen“.39 Während früher überdies 39
Die erste Fassung der Vereinbarung aus dem Jahre 1990 war sprachlich sogar noch einengender. Es hieß dort (Ziff. 3 c) zu den erforderlichen Angaben für die Anmeldung eines Schulversuchs: „Art und Zahl der beteiligten Schulen; dabei kann es sich
5. Kap.: Der Durchbruch durch das „Hamburger Abkommen“
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nur allgemein von einer zeitlichen Begrenzung des Schulversuchs die Rede war, findet sich aktuell die Festlegung „auf einen begrenzten Zeitraum von bis zu zehn Jahren“. Ebenfalls neu ist, dass die Kultusministerkonferenz künftig daneben „in Einzelvereinbarungen Abweichungen auf Dauer für sehr wenige, namentlich benannte Schulen ermöglicht.“ Die neue Vereinbarung regelt nunmehr auch erstmals lückenlos das weitere Verfahren nach Abschluss des Schulversuchs. Das betreffende Land verpflichtet sich, der Kultusministerkonferenz „spätestens ein Jahr“40 nach Ablauf des Versuchszeitraums einen Schlussbericht vorzulegen. In den beteiligten Schulen kann auf der Grundlage der Ergebnisse des abgeschlossenen Schulversuchs „zunächst“ weitergearbeitet werden.41 Der Schulausschuss entscheidet auf der Grundlage des Schlussberichts „einstimmig“,42 ob der Schulversuch – gemäß der neuen Möglichkeit – in eine Einzelvereinbarung für eine Schule mit besonderer Konzeption überführt wird oder ob der Kultusministerkonferenz vorgeschlagen werden soll, bestehende Vereinbarungen zu ändern. Andernfalls kann, so jetzt klar geregelt, der Schulversuch nicht fortgesetzt werden. 4. Liste der angezeigten Schulversuche gemäß der KMK-Vereinbarung Schon seit 1990 führt das Sekretariat der Kultusministerkonferenz aufgrund einer entsprechenden Direktive in der damals erstmals beschlossenen Versuchsvereinbarung eine Liste der angezeigten Schulversuche. Hinzu kommen auf diese Liste nach der letzten Neufassung künftig außerdem diejenigen Schulen, die auf der Grundlage von Einzelvereinbarungen dauerhaft von den einschlägigen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz abweichen. Die Liste der Schulversuche wird – gleichfalls neu eingeführt – jährlich durch eine standardisierte Länderabfrage aktualisiert. Bislang stehen auf der nicht veröffentlichten Liste 81 angezeigte Schulversuche (Stand: 20.07.2012). Von diesen sind danach dem Umfang nach nur um eine begrenzte Maßnahme (Ausnahmeregelung), d.h. um wenige Versuchsschulen handeln, die eine generelle Veränderung des Regelschulwesens nicht präjudizieren.“ 40 Eine solche Zeitbestimmung fehlte früher. 41 Durch den neu erfolgten Einschub des Wortes „zunächst“ wird eine dauerhafte Fortführung – im Gegensatz zur Vorgängerfassung – unmissverständlich ausgeschlossen. 42 Das Einstimmigkeitsprinzip ist zwar neu aufgenommen, doch folgt dieses vorliegend schon aus der KMK-Geschäftsordnung (Fn. 38). Denn die Entscheidung, wie nach Abschluss des Schulversuchs mit diesem und dessen Ergebnissen dauerhaft umgegangen wird, dient der Herstellung der notwendigen Einheitlichkeit und Mobilität im Bildungswesen.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
22 Schulversuche noch nicht beendet, drei Versuche wurden nicht durchgeführt, 31 nach Ende des Versuchs in die Regelform überführt und 25 aus unterschiedlichen Gründen meist ohne weitere Folgewirkungen beendet. Der älteste nicht beendete Schulversuch wurde 1993 zugelassen, die nächsten noch laufenden beiden Versuche stammen aus dem Jahre 1999. Alle anderen unbeendeten Schulversuche haben die neue Begrenzung auf zehn Jahre bislang noch nicht erreicht. Alle Länder sind in der Liste vertreten, allerdings mit recht ungleichen Anteilen. Die versuchsfreudigen Länder führt Hessen mit 14 Schulversuchen an, gefolgt von Berlin mit zehn, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz mit je acht, Thüringen mit sieben und Schleswig-Holstein mit sechs Schulversuchen. Jeweils fünf Schulversuche weist die Liste für Bayern und Sachsen, vier für Brandenburg, je drei für Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen, zwei für Baden-Württemberg und nur jeweils einen Schulversuch für Bremen, das Saarland und Sachsen-Anhalt aus. Die Bundesländer agierten im Hinblick auf die Befassung der Kultusministerkonferenz in der Vergangenheit mitunter höchst verschieden, selbst bei gleichem Sachverhalt. So hatte das Land Berlin 2007 beim Start seines Schulversuchs „Gemeinschaftsschule“ die Notwendigkeit gesehen, diesen nicht nur durch eine schulgesetzliche Öffnungsklausel (§ 17a SchulG BE), sondern auch durch eine Anzeige bei der Kultusministerkonferenz abzusichern43. Denn weder das „Hamburger Abkommen“ noch die einschlägige KMK-Vereinbarung zum Sekundarbereich I in der seinerzeitigen Fassung44 sahen eine „Gemeinschaftsschule“ als Schulform vor. Demgegenüber hielt das Schulministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2010 nicht nur eine besondere parlamentarische Legitimation für seinen Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ für unnötig, sondern auch eine Befassung der Kultusministerkonferenz. Offenbar erst nachdem letzte-
43 Siehe:
Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Grundlagen für die Pilotphase der Gemeinschaftsschule. Leitfaden vom 07.05.2007, S. 3 (http://www.berlin.de/sen/bildung/bildungswege/gemeinschaftsschule). 44 Die Gemeinschaftsschule wurde erst mit einer Änderung der Vereinbarung zur Sekundarstufe I v. 17.06.2011 aufgenommen, und zwar als Schulform mit mehreren Bildungsgängen in Schleswig-Holstein (Ziff. 2); nach der letzten Änderung der Vereinbarung v. 12.12.2013 ist dort die Gemeinschaftsschule nunmehr zudem für das Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen aufgeführt. Ein anderes Land kann auf eine solche anderweitige Schulformeinführung in einem vereinfachten Verfahren Bezug nehmen. In der Vereinbarung heißt es in den Schlussbestimmungen: „Übernimmt ein Land Regelungen dieser Vereinbarung, die in einem anderen Land gelten, so zeigt es dies den Mitgliedern der Kultusministerkonferenz an.“
5. Kap.: Der Durchbruch durch das „Hamburger Abkommen“
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res eingefordert worden war,45 stellte das Ministerium den Schulversuch Anfang März 2011 mittels einer Tischvorlage im KMK-Schulausschuss vor.46 Ob ein Schulversuch angezeigt wird, weil er von KMK-Vereinbarungen abweicht, obliegt der Subsumtion und Entscheidung des jeweiligen Kultus ministeriums. Weder andere Länder noch am Schulversuch beteiligte Schulträger und Schulen sowie betroffene Eltern und Schüler können eine Anzeige erzwingen. Eine ausbleibende Anzeige kann aber zu einer Nichtanerkennung der im Schulversuch erworbenen Abschlüsse durch andere Länder führen. Ist die bundesweite Anerkennung der Abschlüsse in den anderen Ländern nicht gesichert, fehlt – worauf noch später einzugehen sein wird – eine wichtige Voraussetzung für die Genehmigung eines Schulversuchs. Sollte ein Kultusministerium, das in allen Ländern gleichzeitig die zuständige Genehmigungsbehörde für Schulversuche ist, einen rechtsfehlerhaft nicht angezeigten Schulversuch zulassen, können daher von der Genehmigung Betroffene hierauf gestützt mit Aussicht auf Erfolg den Klageweg beschreiten.
45 Siehe:
Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 53. dazu: Antwort der Landesregierung NRW auf die Kleine Anfrage des Abg. Klaus Kaiser (CDU), Landtag NRW, LT-Drs. 15/2535 v. 05.08.2011, zu Frage 5. 46 Siehe
Sechstes Kapitel
Schrittweise Normalisierung des Schulversuches als bildungspolitisches Instrument I. Bestandserhebung der Schulversuche im Schuljahr 1965/1966 (DIPF) Das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), das sich, damals noch als Hochschule (HIPF) firmierend, seit Mitte der 1950er Jahre der Berichterstattung über Schulversuche angenommen und seinerzeit erste Bestandsaufnahmen der Schulversuche in der Bundesrepublik herausgegeben hatte, führte zehn Jahre später zwischen September 1965 und Juli 1966 mit Unterstützung und Billigung des Schulausschusses der Kultusministerkonferenz eine erneute detaillierte Erhebung durch. Die befragten Kultusministerien übermittelten jeweils einen zusammenfassenden Länderbericht sowie Einzelberichte zu den von ihnen gemeldeten Versuchsschulen. Während die Vorgängererhebungen nur Versuchen in den Volksschulen bzw. den höheren Schulen nachgegangen waren, wurden nunmehr erstmalig Schulversuche im gesamten allgemeinbildenden und im beruflichen Schulwesen erfasst. Allerdings erstreckte sich die in einer zweibändigen Dokumentation publizierte Bestandsaufnahme nur auf Schulversuche an öffentlichen Schulen. Im Hinblick auf Schulversuche an Privatschulen, von denen weiterhin ebenfalls Impulse auf das öffentliche Regelschulwesen ausgingen, verwies die Untersuchung auf eine gesondert durchzuführende Erhebung, zu der es aber in der Folgezeit nicht kam.1 Bei der Vorbereitung der Untersuchung zeigte sich, dass in manchen Ländern etwas als Schulversuch galt, was in anderen Ländern schon aus dem Versuchsstadium herausgewachsen war. Die Umfrage bezog deshalb eine „Reihe von neuen Entwicklungen im deutschen Schulwesen“, die in der Mehrzahl der Länder nicht mehr als Schulversuche betrachtet wurden, ausdrücklich nicht mehr ein (Schulkindergärten, Mittelpunktschulen, neuntes Schuljahr an Volksschulen, Aufbauformen der Realschule und Gymnasien entsprechend dem „Hamburger 1 Siehe: Christoph Führ, Schulversuche 1965/66. Dokumentation aufgrund der bei den Kultusministerien der Länder in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführten Erhebung über Schulversuche an öffentlichen Schulen, 2 Bde., Teil I: Gesamtdarstellung, Teil II: 50 Strukturberichte, Weinheim 1967.
6. Kap.: Normalisierung des Schulversuches
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Abkommen“, Berufsaufbauschulen, Kollegs zur Erlangung der Hochschulreife, Reform der Oberstufe der Gymnasien nach der „Saarbrücker Rahmenvereinbarung“ von 1960). Gegenstand der Erhebung waren ansonsten alle Versuche mit neuen Schulformen, die von der bisherigen Schulorganisation abwichen, und solche zur Zusammenführung verschiedener Schulformen (als „Strukturversuche“ bezeichnet) sowie alle neuen Wege in der Unterrichtsgestaltung im Rahmen der herkömmlichen Schulformen (als „Unterrichtsversuche“ bezeichnet).2 Obwohl seit Anfang der 1960er Jahre und forciert nach dem „Hamburger Abkommen“ sowohl die pädagogische und schulpolitische Diskussion über Schulversuche als auch die Zahl der Versuche selbst deutlich zugenommen hatte, gab es bis dahin über den aktuellen Umfang von Schulversuchen in den Ländern nur einige wenige zusammenfassende Berichte (Berlin, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz).3 Das DIPF sah seine Dokumentation als einen Beitrag dazu, den Ertrag der Versuchsarbeit über die jeweilige Versuchsschule und das betreffende Land sichern zu helfen. Die Länder sollten hierdurch aber auch angehalten werden, selbst alle Schulversuche in ihren Kultusministerien und länderübergreifend durch die Kultusministerkonferenz zu dokumentieren sowie die Arbeit der Schulversuche stärker zu koordinieren und einen ständigen Erfahrungsaustausch in die Wege zu leiten. Damit verbunden war die Anregung einer „Arbeitsteilung“ unter den Ländern bei künftigen umfassenden, kostenintensiven Schulversuchen. Bezug genommen wurde auf eine entsprechende Feststellung des Kultusministers des Landes Schleswig-Holstein, Claus-Joachim von Heydebreck (CDU), in einer Plenarrede im dortigen Landtag vom Januar 1965: „Soweit wir uns die
2 Vgl.: Führ, Schulversuche 1965/66, Teil I, S. 5 f., und der entsprechende Auszug aus dem Fragebogen („Vorbemerkung“) des DIPF an die Kultusministerien, ebenda abgedruckt S. 147 f. 3 Siehe die Hinweise bei Führ (ebenda, S. 8 f.) auf einschlägige Veröffentlichungen der jeweiligen Kultusministerien: Senator für Schulwesen (Hrsg.), Wege zur Schule von morgen. Entwicklungen und Versuche in der Berliner Schule, 2. Aufl., Berlin 1965; Ministerium für Unterricht und Kultus des Landes Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Die Schulversuche zum Ausbau der Volksschuloberstufe in Rheinland-Pfalz (Zusammenführung des 7. und 8. Schuljahrs), München 1965. Hinsichtlich Schleswig-Holstein wird auf ein unveröffentlichtes Referat eines leitenden Ministerialbeamten Tiedemann aus dem Jahre 1965 hingewiesen, auszugsweise abgedruckt in der Zeitschrift „Die SchleswigHolsteinische Schule“, Heft 1/1966. Kurze Darstellungen über Zahl und Inhalte von Schulversuchen im deutschen Schulwesen, bezogen auf die jeweiligen Schulformen, waren zwar kurz zuvor bereits in einer anderen Publikation des DIPF enthalten gewesen, ohne aber schon die Ergebnisse der Erhebung berücksichtigen zu können: Walter Schultze/Christoph Führ, Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1966, S. 25, 33 f., 38 f., 50 ff., 73 ff.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Erfahrungen anderer Länder zu Nutze machen können, brauchen wir ja nicht unbedingt für alles eigene Experimente anzustellen.“4 Die bundesweite Bestandsaufnahme des DIPF kam zu dem Ergebnis, dass Mitte der 1960er Jahre an mehr als 200 öffentlichen Schulen Versuche in irgendeiner Form durchgeführt wurden. Etwa drei Viertel der Schulversuche hatten erst im Laufe der letzten fünf Jahre begonnen. Auf der anderen Seite gab es eine Reihe von – auch überregional bekannten – Schulversuchen, die schon in den ersten Jahren der Nachkriegszeit erwachsen waren, zum Beispiel die bereits mehrfach erwähnte Fritz-Karsen-Schule in Berlin oder die Peter-Petersen-Schule in Hamburg. In der Studie wurde in diesem Zusammenhang die, auch in dieser Arbeit bereits gestreifte Frage aufgeworfen, wie „alt“ Schulversuche werden müssen, bis über das Gelingen oder Misslingen entschieden wird. Man äußerste die Vermutung, dass die Arbeit der meisten dieser Schulen damals kaum noch Versuchscharakter hatte.5 Es wurden zehn Bereiche ermittelt und inhaltlich dargestellt, in denen Schulversuche seinerzeit hauptsächlich stattfanden: Frühbeginn des Englischunterrichts in der Grundschule, Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen (d.h. Versuche mit Förderstufen, Eingangs-, Beobachtungs- und Erprobungsstufen), Weiterentwicklung der Volksschuloberstufe zur Hauptschule (einschließlich der Hinführung der Schüler auf die Arbeitswelt), Zusammenfassung weiterführender Schulformen zu Gesamtschulen, Einführung eines 10. Schuljahres an allgemeinbildenden oder beruflichen Schulen, Differenzierung des Unterrichts der Realschulen nach bestimmten Schwerpunkten, Differenzierung des Gymnasiums in neue Schultypen (sozialwissenschaftliche, musische und erziehungswissenschaftliche Gymnasien; gymnasiale Aufbauformen zur Erlangung einer fachgebundener Hochschulreife), Verbindung von Berufsfachschule und praktischer Berufsausbildung (Stufenausbildung), Einführung der FünftageWoche in Verbindung mit Nachmittagsunterricht, Einführung von Ganztagsschulen.6 Bei der Mehrzahl der Schulversuche handelte es sich, wie auch diese Schwerpunktbereiche zeigen, um Strukturversuche; Unterrichtsversuche, die ausschließlich didaktische und methodische Neuerungen verfolgten, waren weit weniger anzutreffen.7 Schulformbezogen konzentrierten sich die Schulversuche auf die damals neue Hauptschule (Volksschuloberstufe), das Gymnasium und die aufkommenden Gesamtschulen als Zusammenführung der bisherigen weiterfüh4 Siehe, auch mit Wiedergabe des Zitats: Führ, Schulversuche 1965/66, Teil I, S. 122 f. – Originalquelle des Zitats: Landtag Schleswig-Holstein, Stenogr. Bericht der Sitzung v. 26.01.1965, S. 1381. 5 Siehe: Führ, ebenda, S. 114 f. 6 Siehe: Ebenda, S. 11-98 sowie Zusammenfassung S. 118. 7 Vgl.: Ebenda, S. XIII.
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renden Schulformen, während Schulversuche in den Grundschulen, Realschulen und Berufsschulen vergleichsweise eher gering waren. Aus der Bestandsaufnahme leitete der Verfasser der Dokumentation, der Bildungswissenschaftler Christoph Führ, abschließend zwei Mindestforderungen für Schulversuche ab. Nach seiner Auffassung sollten Schulversuche nur eingeleitet werden, wenn sie so angelegt sind, dass sich die Ergebnisse und Erfahrungen auf eine möglichst große Zahl anderer Schulen übertragen lassen (Breitenwirkung) und bei größeren Schulversuchen von vornherein ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Betreuung gesichert ist. Für die Breitenwirkung von Schulversuchen sei die Mitarbeit der Institutionen der Lehrerbildung (Universitäten, Pädagogischen Hochschulen), der Lehrerfortbildung und der Lehrerverbände von großer Bedeutung.8 Im zweiten Band der DIPF-Veröffentlichung waren exemplarisch Berichte von 50 der mehr als 200 ermittelten Versuchsschulen abgedruckt. Wegen der „besonderen schulpolitischen Bedeutung“,9 d.h. der seinerzeit im Vordergrund stehenden Reformüberlegungen, wurden allerdings Einzelberichte über sämt liche acht Gesamtschulversuche und eine größere Anzahl von Ganztagsschulen aufgenommen. Dies bereitete insoweit die in den darauf folgenden beiden Jahren erfolgten Empfehlungen des neu eingerichteten Deutschen Bildungsrates für umfassende länderübergreifende Versuche mit Gesamtschulen und Ganztagsschulen vor.
II. Empfehlungen des „Deutschen Bildungsrates“ für ein Experimentalprogramm mit Ganztagsschulen und Gesamtschulen sowie dessen Umsetzung An die Stelle des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ trat von 1965 bis 1975 der „Deutsche Bildungsrat“. Dieser bestand aus einer zwischen den Ländern und nunmehr auch mit dem Bund, der ein immer stärkeres Mitspracherecht im Bildungsbereich einforderte, abgestimmten „Bildungskommission“ von 18 Mitgliedern aus dem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich zunächst unter dem Vorsitz des Kieler Geschichtsprofessors Karl Dietrich Erdmann sowie einer deren Arbeit begleitenden, öffentlich kaum in Erscheinung getretenen „Regierungskommission“ aus Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen. Die Bildungskommission hatte zur Aufgabe, Bedarfsund Entwicklungspläne für das deutsche Schulwesen zu entwerfen, Vorschläge
8 Siehe: 9 Zitat:
Ebenda, S. 124. Führ, Schulversuche 1965/66, Teil II, S. XIV.
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für die Struktur des Bildungswesens zu machen und Empfehlungen für eine langfristige Planung zu entwickeln.10 1. Neue Idee eines Experimentalprogramms – über Schulversuche zur Schulreform Nach ersten Empfehlungen zum Lehrermangel, zur Sicherung der öffentlichen Bildungsausgaben, zur Neugestaltung der Abschlüsse im Sekundarschulwesen, zum Schulbau und zur Verbesserung der Lehrlingsausbildung setzte sich die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates intensiv mit schulstrukturellen Fragen und hierzu entwickelten neuen Schulkonzeptionen auseinander. Dies mündete auf Vorarbeiten eines eigens hierzu eingesetzten Unterausschusses in ein „Experimentalprogramm“ mit Ganztags- und Gesamtschulen. Die Bildungskommission vertrat die Ansicht, dass Vorschläge und Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Bildungswesens der praktischen Erfahrung und der wissenschaftlichen Erkenntnis bedürfen, man mit anderen Worten nur über Schulversuche zur Schulreform kommen kann. „Wenn Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis für die Zukunft genutzt werden sollen, sind planmäßig angelegte und wissenschaftlich kontrollierte Versuche nötig. Auf lange Sicht kann es keine Bildungsplanung ohne kontrollierte Schulexperimente geben. Bei Schulversuchen muß man auch das Risiko des Scheiterns einzelner Konzeptionen eingehen. Es kann sich erweisen, daß sich Inhalte und Strukturen bestimmter Schulversuche nicht auf das gesamte Bildungssystem ausdehnen lassen. Auch solche Versuche sind von Nutzen, denn sie können dazu beitragen, fehlerhafte Planungen für das gesamte Schulwesen zu vermeiden.“11 10 Die Kultusministerkonferenz hatte auf ihrer 102. Sitzung am 25./26.06.1964 in Köln (Abdruck: KMK-Sammlung Nr. 25) Einvernehmen darüber erzielt, dass neue Zielvorstellungen im Sinne der „Berliner Erklärung“, die über den Ausbau des bestehenden Bildungswesens hinausgingen, nur durch eine umfassende Bildungsplanung zu entwickeln und verwirklichen seien. In einem demokratischen Bundesstaat könne und dürfe dabei Bildungsplanung nur in einer steten Wechselwirkung zwischen den Ländern und dem Bund erfolgen. In der Folge kam es am 15.07.1965 zum Abschluss eines Bund-Länder-Abkommens über die Errichtung des Deutschen Bildungsrates mit dem wiedergegeben Auftrag. Siehe dazu: Sekretariat der Kultusministerkonferenz (Hrsg.), Einheit in der Vielfalt. 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948–1998, Neuwied 1998. – H eutige abgewogene Bewertung der Arbeit des Deutschen Bildungsrates: Achim Leschinsky, Vom Bildungsrat (nach) zu PISA. Eine zeitgeschichtliche Studie zur deutschen Bildungspolitik, in: Zeitschrift für Pädagogik 51 (2005), S. 818-839. Zur Zusammensetzung des Bildungsrates, siehe: Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für das Bildungswesen, Bonn 1970, S. 346 ff. 11 Zitat: Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission. Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen, Bonn 1968, S. 11; Deutscher Bil-
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Diese Begründung war als Vorbemerkung jeweils den beiden Empfehlungen für Schulversuche mit Ganztags- und Gesamtschulen vorangestellt. Sie zeigte für die nächsten Jahre den Weg auf, den die Bildungspolitik dann tatsächlich beschritten hat, wenn auch die Grenzen von Schulversuchen und der Bildungsplanung später sichtbar wurden. Richtungsweisend war ebenfalls die damit verbundene und vom Bildungsrat auch explizit ausgesprochene Ablehnung von Einzelexperimenten. Schulversuche als Einzelversuche könnten in der Regel die Erfahrung nur wenig bereichern. Später verdeutlichte der Bildungsrat diese Position nochmals in einem 1970 vorgelegten umfassenden „Strukturplan für das Bildungswesen“. Schulversuche seinen nicht einmalige Unternehmungen zur Erhärtung und Widerlegung umstrittener bildungspolitischer Thesen. Sie seien vielmehr ein notwendiger und dauernder Bestandteil in einem zur Zukunft hin offenen Bildungssystem.12 Als weitere Felder für Schulversuche „zur systematischen Vorbereitung von Änderungen des Schulsystems oder zur Erprobung bestimmter neuer pädagogischer Maßnahmen und ihrer gesellschaftlichen Wirkung“ benannte die Bildungskommission im Jahre 1974 neben Ganztagsschulen und Gesamtschulen noch Kollegschulen, Oberstufenreform und Einführung der neuen Mathematik.13 Die Kultusminister stimmten 1970 nicht nur dem „Strukturplan“ als Gesamtkonzept grundsätzlich zu, sondern wiesen in einer Erklärung unter anderem auf eine bereits erfolgte gemeinsame Einleitung der von der Bildungskommission angeregten Experimentalprogramme für Ganztagsschulen und für Gesamtschulen hin. Darüber hinaus seien seit Jahren Versuche auf allen Schulstufen angesetzt, die den Vorstellungen der Bildungskommission entsprechen würden. Bei all diesen Versuchen ginge es darum, die im Strukturplan aufgeführten Probleme der inneren Organisation, der Differenzierung und Durchlässigkeit, der curricularen Abstimmung und Zielsetzung, der individuellen Förderung und der Anziehungskraft von Lehrangeboten für persönliche Lernbedürfnisse, letztlich des Lernerfolgs und des erreichbaren Leistungsniveaus zu klären. Vor allem würden die Versuche dem Ziel dienen, sozio-kulturelle Benachteiligungen ausgleichen zu helfen.14 dungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission. Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen, Bonn 1969, S. 13. 12 Siehe: Deutscher Bildungsrat, Strukturplan für das Bildungswesen, S. 15. 13 Siehe, einschließlich Zitat: Deutscher Bildungsrat, Bericht der Bildungskommission zur Reform von Organisation und Verwaltung: Fragen einer ziel- und programm orientierten Schulverwaltung unter besonderer Berücksichtigung des Ministerialbereichs, Bonn 1974, S. 33. 14 Siehe: Erklärung der Kultusministerkonferenz zu den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates „Strukturplan für das Bildungswesen“ v. 02.07.1970, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 27, S. 13.
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Für die Durchführung eines Experimentalprogramms stellte die Bildungskommission drei Bedingungen auf, die heute noch allgemein für Schulversuche Geltung beanspruchen können: Versuche sind erstens in genügender Breite anzulegen, um zu gesicherten Ergebnissen zu gelangen. Zweitens müssen Versuche unter der Disziplin klarer Fragestellungen durchgeführt werden. In der Programmierung der Versuche darf das Ergebnis nicht vorweggenommen werden. Drittens müssen die Einzelversuche an den Schulen in Anlage, Überwachung und Auswertung durch eine unabhängige wissenschaftliche Stelle koordiniert werden.15 2. Schulversuche mit Ganztagsschulen (ab 1968) Als erstes Kapitel eines Experimentalprogramms empfahl die Bildungskommission im Jahre 1968 die „Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen“, und zwar nach deren Bekunden als Teilstück von Überlegungen zur Strukturreform des Bildungswesens. In der konkreten Empfehlung sprach sie sich dafür aus, Ganztagsschulen als Versuchsschulen in einer für eine wissenschaftliche Kontrolle und fruchtbaren Auswertung ausreichenden Zahl einzurichten, wobei sie diesbezüglich mehr als 40 Versuchsschulen, verteilt auf alle, zumindest aber auf mehrere Bundesländer, für notwendig erachtete. Vorgeschlagen wurde außerdem, dass sich der Ganztagsversuch auf alle Schulformen erstrecken sollte, räumlich sowohl in ländlichen Gebieten als auch in Städten verschiedener Größenklassen. Die Bildungskommission beschrieb, auch unter Bezugnahme auf die Erfahrungen mit Ganztagsschulen im Ausland, ihre Erwartungen an das Experiment, die sich daraus ableitenden Aufgaben der Ganztagsschulen sowie die hierbei im Einzelnen ergebnisoffen zu klärenden Fragestellungen.16 Die Kultusminis15 Siehe:
Deutscher Bildungsrat, Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen, S. 5 f. 16 Angeführt wurden folgende, auch heute noch zur Begründung des Ganztagsausbau heranziehbaren Aufgaben und Ziele, wobei die Notwendigkeit des Ganztagsausbaus zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf seinerzeit nur am Rande thematisiert wurde: Größere innere und äußere Differenzierungsmöglichkeit des Ganztags zur individuellen Förderung, insbesondere Einrichtung von Wahlkursen, freiwilligen Arbeitsgemeinschaften und Förderkursen; Aufgabenerledigung in der Schule statt traditioneller Hausaufgaben; erweiterte Möglichkeiten für künstlerische Betätigung; mehr Zeit und freiere Formen für Sport und Spiel; Erweiterung des sozialen Erfahrungsbereichs und Vorbereitung auf die Arbeitswelt; Verstärkung der Kontakte zwischen Schülern aus verschiedenen sozialen Schichten; Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Schülern und Lehrern; Ausbau der Schülermitverwaltung; engere Zusammenarbeit von Eltern und Schülern sowie Ausbau der schulinternen psychologischen Beratung. Zudem könnten in Ganztagsschulen neue Formen der Zeiteinteilung und der
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terkonferenz folgte dieser Empfehlung ein Jahr später mit einer entsprechenden Vereinbarung,17 die sie in der Folgezeit mehrfach in Stellungnahmen und Erklärungen einreihte als eine ihrer Beiträge zu einer gemeinsamen Reformpolitik.18 Die Kultusminister übernahmen zunächst auch ansatzweise die Idee eines Experimentalprogramms, indem sie einen länderübergreifenden, durch das KMK-Sekretariat koordinierten Erfahrungsaustausch sowohl hinsichtlich der Versuchsplanung wie auch der wissenschaftlichen Auswertung vorsahen, und zwar sowohl für Schulversuche mit Ganztagsschulen wie auch für ein Jahr später beschlossene Schulversuche mit Gesamtschulen. Dafür wurden sowohl in den Kultusministerien der Länder wie auch im KMK-Sekretariat eigens besondere Programmbeauftragte eingesetzt. Der KMK-Beauftragte für das Experimentalprogramm hatte hierbei auch die Aufgabe, für eine laufende Dokumentation der von den Ländern anzumeldenden jeweiligen Versuche einschließlich der mit der begleitenden wissenschaftlichen Untersuchung betrauten Stellen zu sorgen. Bis Ende der 1970er Jahre existierte eine KMK-Arbeitsgruppe der Länderbeauftragten, die zunächst dem Schulausschuss gleichgestellt, ab 1976 diesem nachgeordnet war. Das Programm lief schleichend und weitgehend unbemerkt aus, nachdem sich die entsprechenden Aktivitäten der Kultusministerkonferenz auf eine neue Einrichtung, die „Bund-Länder-Kommission (BLK) für Bildungsplanung“ und dem dort mit dem Bund abgestimmten Modellversuchsprogramm verschoben.19 In der Rückschau ist festzustellen, dass von dem Experimentalprogramm eine Initialzündung sowohl für mehr Ganztagsschulen wie auch, worauf noch einzugehen ist, für die Installierung der Gesamtschule ausgegangen ist. Andererseits erfüllte sich die spezifische Erwartung im Hinblick auf ein ländergemeinsames Experimental-, also Versuchsprogramm nicht. Über die gegenseitige Information hinaus kam es nicht zu einer gemeinsamen Auswertung und länderübergreifenden wissenschaftlichen Beratung, weshalb insoweit sogar ein ehemals auf Seiten der Bildungskommission Beteiligter später von einem Scheitern der Schulver-
Arbeitsteilung erprobt werden. Siehe: Deutscher Bildungsrat, Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen, S. 13, 17 ff. 17 „Vereinbarung zur Durchführung der Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates vom 23./24.02.1968 zur Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen“, Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 03.07.1969, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 519 (Erg.-Lfg. 13 v. 03.12.1969, in aktueller Sammlung entnommen). 18 Exemplarisch: Erklärung der Kultusministerkonferenz anlässlich der 150. Plenarsitzung am 03.12.1971 in München, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 25.5, S. 10. 19 Vgl.: Weishaupt, Schulversuche – Modellversuche (S. 282, Fn. 12), S. 383 f.
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suche, bezogen auf das Experimentalprogramm der Kultusministerkonferenz, sprach.20 Eine neue, entscheidende Phase der Ganztagsentwicklung wurde als Reaktion auf die unbefriedigenden Ergebnisse des ersten internationalen PISA-Leistungsvergleichs eingeläutet. Die Kultusministerkonferenz kündigte wenige Tage nach Veröffentlichung der OECD-Studie im Dezember 2001 an, als eines von sieben vorrangigen Handlungsfeldern zur Verbesserung der schulischen Bildung Maßnahmen zum Ausbau von schulischen und außerschulischen Ganztagsangeboten zu ergreifen mit dem Ziel erweiterter Bildungs- und Fördermöglichkeiten, insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit Bildungsdefiziten auf der einen und besonderen Begabungen auf der anderen Seite.21 Die Bundesregierung sekundierte dies zwischen 2003 und 2009 mit einem Anschub-Investitionsprogramm in Höhe von vier Milliarden Euro für den bedarfsgerechten Aufbau und Ausbau von Ganztagsschulen („Investitionsprogramm Zukunft und Betreuung des Bundes – IZBB“), mit dem insgesamt über 8.200 Schulen gefördert wurden.22 Neben der bildungspolitischen Begründung gesellte sich in den letzten Jahren zudem immer stärker die Forderung nach mehr Ganztagsbeschulung und -betreuung unter dem Gesichtspunkt einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Fast alle Länder legten Programme zum weiteren Ausbau des Ganztags vor,23 allerdings nicht mehr in Form von Schulversuchen. Die Möglichkeit, 20 Dezidiert:
Raschert, Bildungspolitik im kooperativen Föderalismus (S. 280, Fn. 5), S. 122. – Der spätere Berliner Erziehungswissenschaftler Prof. Jürgen Raschert war Assistent des Unterausschusses „Experimentalprogramm“ der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates gewesen. Siehe: Deutscher Bildungsrat, Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen, S. 185. 21 Presseerklärung zur 296. KMK-Plenarsitzung am 05./06.12.2001 in Bonn (OnlineRessource: http://www.kmk.org/presse-und-aktuelles/pm2001/296plenarsitzung.html). Siehe auch Abdruck in: Hermann Avenarius u.a., Bildungsbericht für Deutschland. Erste Befunde. Erstellt im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2003, S. 258. 22 Nach der Präambel einer Bund-Länder-Verwaltungsvereinbarung zum IZBBProgramm sollte hiermit „die Schaffung einer modernen Infrastruktur im Ganztagsschulbereich unterstützt und der Anstoß für ein bedarfsorientiertes Angebot in allen Regionen gegeben werden.“ Förderfähige Investitionen nach dieser Verwaltungsvereinbarung waren erforderliche Neubau-, Ausbau-, Umbau- und Renovierungsmaßnahmen, Ausstattungsinvestitionen sowie die mit den Investitionen verbundenen Dienstleistungen. Qualitative Maßnahmen, die nicht zu diesen Investitionen zu rechnen waren, insbesondere die notwendige höhere Personalausstattung, waren allein von den Ländern zu finanzieren. Siehe: Verwaltungsvereinbarung Investi tionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ 2003–2007 zwischen Bund und Ländern v. 29.04.2003, online verfügbar: http://www.bmbf.de/pubRD/20030512_ verwaltungsvereinbarung_zukunft_bildung_und_betreuung.pdf. 23 Siehe: Avenarius u.a., Bildungsbericht für Deutschland, S. 273 f.
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Schulen bei Erfüllung der personellen, sächlichen und schulorganisatorischen Voraussetzungen als Ganztagsschulen zu führen, war zwischenzeitlich in den Schulgesetzen der Länder verankert, zum Beispiel in § 9 SchulG NRW oder § 19 SchulG BE. Was bundesweit eine „Ganztagsschule“ ist, wurde allerdings erst 2003 parallel zu den seinerzeitigen Bund-Länder-Verhandlungen über das IZBB als Voraussetzung für eine bundesweite einheitliche Mittelverwendung durch den Schulausschuss der Kultusministerkonferenz definiert, wobei man, um möglichst alle damaligen Ländergestaltungen zu erfassen, die Anforderungen auf einem relativ niedrigen Niveau festsetzte. Eine Ganztagsschule setzt danach die Teilnahme von Schülern an mindestens drei Wochentagen für jeweils mindestens sieben Zeitstunden an ganztägigen Angeboten der Schule voraus. Dies kann in voll gebundener Form (verpflichtende Teilnahme aller Schüler), in teilweise gebundener Form (verpflichtende Teilnahme für einen Teil der Schüler) und in offener Form (freiwillige Teilnahme für einen Teil der Schüler an besonderen, für diese eingerichteten Ganztagsangeboten) geschehen.24 Auf dieser Grundlage erfolgten in den einzelnen Bundesländern durchaus unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und organisatorische Umsetzungen des Ganztagsausbaus.25
24 Beschluss
des KMK-Schulausschusses v. 17.03.2003, wiedergegeben bei: Konrad Fees, Die öffentliche Ganztagsschule in Deutschland: Daten und Konzepte, in: Volker Ladenthin/Jürgen Rekus (Hrsg.), Die Ganztagsschule. Alltag, Reform, Geschichte, Theorie, Weinheim-München 2005, S. 127. 25 Das Land Nordrhein-Westfalen beispielsweise konzentrierte sich, insbesondere durch den Einsatz von IZZB-Mitteln, zunächst auf den Ausbau einer flächendeckenden „Offenen Ganztagsschule“ im Primarbereich (Grundschule, Förderschule) unter Einbeziehung außerschulischer Träger und Partner aus Jugendhilfe, Kultur und Sport, nachdem es Mitte der 1990er Jahre mit einem Konzept der Mittagsbetreuung in der Primarstufe zur Unterstützung der Erwerbstätigkeit von Eltern (Programm: „Schule von acht bis eins“; Programm „Dreizehn Plus“) gestartet war. Nachdem gebundene „echte“ Ganztagsschulen in den weiterführenden Schulen fast nur, hier aber dann als vom Schulgesetz geforderter Regelfall, in den Gesamtschulen und den Förderschulen für geistig sowie körperlich-motorisch behinderte Schüler eingerichtet worden waren, begann die damalige Landesregierung 2006 damit, diese Lücke zu schließen. Innerhalb von drei Jahren wurde an über 200 Hauptschulen der Ganztag eingeführt, wodurch nunmehr fast jede zweite Hauptschule in Nordrhein-Westfalen im Ganztagsbetrieb arbeitet. Ab 2008 weitete man diese „Ganztagsoffensive für die Sekundarstufe I“ auf die Gymnasien und Realschulen aus und baute hier bis 2010 216 Schulen zu gebundenen Ganztagsschulen aus, fünfmal so viele, wie es bis dahin in Nordrhein-Westfalen gab. Diese Ausweitung des Ganztags hat sich auch seit 2010 fortgesetzt, wenn auch nicht mehr in solch hohen Zuwachsraten. Dazu: Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW (Hrsg.), Schule in Nordrhein-Westfalen. Bildungsbericht 2009, Düsseldorf 2009,
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3. Schulversuche mit Gesamtschulen (ab 1969) Als zweites Experimentalprogramm empfahl die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates im Januar 1969, „integrierte und differenzierte Gesamtschulen als Versuchsschulen einzurichten“. Wie bei den Ganztagsschulen befürwortete man Versuche unter Beteiligung aller Bundesländer sowohl in ländlichen Gebieten als auch in Städten verschiedener Größenordnungen und forderte ebenso in gleicher Weise eine wissenschaftliche Kontrolle durch eine begleitende Forschung. Die Bildungskommission hielt auch jetzt wiederum mehr als 40, einer systematischen wissenschaftlichen Beobachtung unterliegende Versuchsschulen für eine fruchtbare Auswertung für notwendig. Zudem sollten, so die Kommission, über jene Mindestzahl von Versuchsschulen als Teil des Experimentalprogramms hinaus möglichst viele Versuche mit verschiedenen Formen der Gesamtschule gefördert werden.26 Da nach Ansicht der Kommission in der Bundesrepublik bis dahin noch kaum Erfahrungen mit Gesamtschulen bestanden, hielt sie es für notwendig, die Gesamtschule als offenes Modell mit vielen Variationsmöglichkeiten zu entwickeln. Dabei stellte die Kommission sich ständige Weiterentwicklungen aufgrund der jeweiligen praktischen Versuchserfahrungen vor; Reform würde zu einem Dauerprozess, zu einer „rollenden Reform“.27 Die eigentliche Empfehlung führte demzufolge nur grundsätzliche Merkmale an, die für Gesamtschulen charakteristisch sein sollten (in der Regel Besitz einer Mittel- und Oberstufe; Aufhebung der Trennung von Schulzweigen mit unterschiedlichen Bildungszielen in der Mittelstufe, stattdessen fachspezifische Leistungsdifferenzierung zu verschiedenen Zeitpunkten und unterschiedlichem Ausmaß in einem System von Pflicht- und Wahlkursen; Ermöglichung aller Abschlüsse einschließlich Abitur; möglichst Errichtung als Ganztagsschulen).28 Jedoch war dieser Empfehlung eine detaillierte Ausarbeitung auf über hundert Seiten zur Struktur, zu den InhalS. 46 ff.; Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW, Schulwesen in NordrheinWestfalen aus quantitativer Sicht 2011/12, S. 10. Bereits etwas veralteter Überblick, Stand 2005, hinsichtlich der einzelnen Länderaktivitäten: Fees, Ganztagsschule in Deutschland (Fn. 24), S. 128 ff. Aktuellere bundesweite Zahlen: Eckhard Klieme (Hrsg.), Ganztagsschule: Entwicklung und Wirkungen. Ergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen 2005–2010, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2010, S. 8 ff.; Sekretariat der Kultusministerkonferenz, Allgemein bildende Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland. Statistik 2005 bis 2009, Online-Publikation: http://www.kmk.org/fileadmin/pdf/ Statistik/GTS_2009_Bericht_Text.pdf. 26 Siehe, einschließlich Zitat: Deutscher Bildungsrat, Einrichtung von Schulver suchen mit Gesamtschulen, S. 15. 27 Ebenda, S. 107. 28 Ebenda, S. 15 ff.
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ten, zu einer Lehrplanrevision, zu einem schulischen Beratungssystem, zur Leistungsbewertung und zur äußeren und inneren Organisation beigefügt, wodurch letztlich doch die konkrete Ausgestaltung und ein bestimmter Typus der Gesamtschule vorgezeichnet wurde.29 Wie die gesamte damalige bildungspolitische Debatte um Gesamtschule orientierte sich dieser Typus, ohne es zu thematisieren, an schwedischen und angelsächsischen Vorbildern statt an denjenigen der deutschen Reformpädagogik.30 Letztere wurden an keiner Stelle erwähnt, obwohl mit der Fritz-Karsen-Schule in West-Berlin, der Albert-Schweitzer-Schule in Hamburg, der Odenwaldschule und den Waldorfschulen immerhin einige, wenn auch wenige Gesamtschul modelle bereits auf eine 20-jährige Nachkriegserfahrung zurückblicken konnten. In diesem Zusammenhang ist zudem anzumerken, dass die Schulverwaltung in West-Berlin bereits 1963/1964 vier weitere unterschiedlich konzipierte Modellversuche mit integrierten Gesamtschulen auf den Weg gebracht hatte. Dabei verhalf der dortige Schulsenator Carl-Heinz Evers (SPD) dem Begriff „Gesamtschule“, der vereinzelt bereits von Reformpädagogen vor und nach dem Ersten Weltkrieg verwendet worden war, zum Durchbruch statt des bis dahin verwendeten Terminus „Einheitsschule“, der in der Zeit des „Kalten Krieges“ durch die sozialistische Einheitsschule in der DDR politisch gänzlich belastet war.31 Der Bildungskommission schwebte eine höchst anspruchsvolle wissenschaftliche Kontrolle der Versuche vor. Hierdurch sollte die Hypothese über die positiven Wirkungen von Gesamtschulen (größere Chancengleichheit, eine wissenschaftliche Schule für alle, größere Individualisierung des Lernens, bessere Förderung durch fachspezifische Leistungsdifferenzierung, mehr gemeinsame soziale Erfahrung) und damit die Motive für deren Einrichtung überprüft werden können. Ausgangspunkt hierbei war die Einschätzung, dass allgemein und vor allem bildungspolitisch das größte Interesse an einem diesbezüglichen Leistungsvergleich der Gesamtschule mit den Schulen des herkömmlichen dreigliedrigen Schulsystems bestehen würde. Priorität im Rahmen der versuchsbe29 Ebenda,
S. 35-139. dazu: Helmut Fend, Gesamtschule im Vergleich. Bilanz der Ergebnisse des Gesamtschulversuchs, Weinheim/Basel 1982, S. 31, 37; Klaus-Jürgen Tillmann, Zwanzig Jahre Gesamtschulentwicklung. Ein Bericht über Erfahrungen, Erfolge und Enttäuschungen, in: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – Landesverband Hessen (Hrsg.), Konturen moderner Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik. Ein Quellenband zur bundesdeutschen Schulreform 1965–1990, Bad Homburg o.J. (1991), S. 317; Scheuerl, Gliederung des deutschen Schulwesens S. 87; Leschinsky, Zeitschrift für Pädagogik 2005, S. 824. 31 Vgl.: Hans-Georg Herrlitz, Einleitung, in: Hans-Georg Herrlitz/Dieter Weiland/ Klaus Winkel (Hrsg.), Die Gesamtschule. Geschichte, internationale Vergleiche, pädagogische Konzepte und Perspektiven, Weinheim/München 2003, S. 16. – Zu den Berliner Schulversuchen: Senator für das Schulwesen, Wege zur Schule von morgen, passim. 30 Siehe
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gleitenden Forschung maß die Bildungskommission allerdings einem Vergleich der Wirksamkeit von Gesamtschulvarianten, wenn sie institutionell hinreichend entwickelt waren, zu. Nachdrücklich plädierte sie dafür, bei Leistungsvergleichen mit traditionellen Schulen nur solche mit einer vergleichbaren Struktur der Einzugsbevölkerung, vor allem einer vergleichbaren sozialen Schichtung und regionalen Bildungsdichte einzubeziehen und unterbreitete hierzu konkrete Vorschläge.32 Die Kultusministerkonferenz beschloss die Durchführung von Schulversuchen mit Gesamtschulen im Rahmen eines Experimentalprogramms im November 1969, freilich neben Versuchen mit den von der Bildungskommission empfohlenen integrierten und differenzierten Gesamtschulen auch – auf Vorschlag der unionsregierten Länder – solche mit „kooperativen Gesamtschulen“.33 In letzteren werden die Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium organisatorisch und pädagogisch in einer Schule zusammengefasst und hierbei Lehrpläne und Unterrichtsstruktur aufeinander abgestimmt. Die Schulversuche waren beim KMK-Sekretariat durch die Kultusminister der Länder „anzumelden“, wobei darzulegen war, inwieweit die Versuche den in der Empfehlung der Bildungskommission entworfenen Strukturen im einzelnen entsprachen bzw. bei Versuchen mit „kooperativen Gesamtschulen“, nach welchen anderen Kriterien diese angelegt waren und welche Fragestellungen durch sie überprüft werden sollten. Mit der Genehmigung des jeweiligen Kultusministers für den angemeldeten Schulversuch war laut der Gesamtschul-Vereinbarung ohne weitere KMK-Befassung die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse im Sinne des „Hamburger Abkommens“ ausgesprochen. Im Übrigen wurden die Regularien des Experimentalprogramms für den Ganztag jetzt auf die Gesamtschulversuche ausgeweitet (Benennung von Beauftragten in den Ländern und dem Sekretariat, jährliche Berichtspflicht, Dokumentation). Insbesondere war bei jedem einzelnen Versuch durch das zuständige Kultusministerium eine wissenschaftliche Untersuchung zu veranlassen. Dabei rückten in der Folgezeit die Gesamtschulversuche weitaus stärker in den Focus und dominierten das Experimentalprogramm. 32 Deutscher Bildungsrat, Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen, S. 141 ff. 33 „Vereinbarung zwischen den Kultusministern der Länder zur Durchführung von Schulversuchen mit Gesamtschulen“, Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 27.11.1969, abgedruckt in: KMK-Sammlung Nr. 519 (Erg.-Lfg. 14 v. 30.07.1970, in aktueller Sammlung entnommen). Abdruck ebenfalls in: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Experimentalprogramm der Kultusministerkonferenz für Schulversuche mit Gesamtschulen. Gegenwärtiger Entwicklungsstand und geplanter Ausbau der Gesamtschulen (Ergebnisse einer Erhebung vom Herbst 1974), bearb. v. Gisela Stobbe, Bd. I, Bonn um 1975, S. 2.
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Die Kultusministerkonferenz führte im Herbst 1972 eine erste und sodann im Herbst 1974 eine zweite Umfrage bei den für das Experimentalprogramm angemeldeten Gesamtschulen durch. Eine aus der letzteren Umfrage entstandene dreibändige KMK-Dokumentation gibt einen Überblick über den damaligen Entwicklungsstand der einzelnen Versuchsschulen, die Sozialstruktur ihres Einzugsgebietes und die Zusammensetzung der Schülerschaft, über die Organisa tionsstruktur, über die methodisch-didaktische Realisierung des Konzepts einer Gesamtschule und über die wissenschaftliche Begleitung. Angemeldet waren bis dahin 191 Schulversuche, davon laut der Erhebung 167 in der Durchführung und 24 in der Planung. Bei den in der Durchführung befindlichen Versuchen arbeiten 137 Gesamtschulen integriert, 15 kooperativ und weitere 15 teilkooperativ (kooperativ mit integrierter Orientierungsstufe).34 Zwar wurden in allen Bundesländern im Rahmen des Experimentalprogramms Gesamtschulen gegründet, doch mit einem deutlichen Schwerpunkt in den sozialdemokratisch regierten Ländern Hessen, Nordrhein-Westfalen (dort nur in integrierter Form)35 und den Stadtstaaten; in den unionsregierten Ländern entstanden insgesamt nur 14 der am Ende der Versuchsphase um 1980 vorhandenen rund 200 Gesamtschulen.36 Während erstere die Gesamtschule – unabhängig vom Versuchscharakter – seit Anfang der 1970er Jahre stets als die „Schule der Zukunft“ ansahen und Gesamtschulgründungen nicht zuletzt durch personelle und finanzielle Privilegien forcierten,37 glaubten die unionsregierten Länder, 34 Siehe
S. 3.
Zahlen-Übersicht: KMK-Sekretariat, Experimentalprogramm, ebenda,
35 Ein Landtagsantrag der nordrhein-westfälischen CDU-Opposition, in dem 1971 – auf der Linie der B-Länder in der Kultusministerkonferenz – ein Schulversuch mit „Kooperativen Gesamtschulen“ ohne gemeinsame Orientierungsstufe gefordert worden war, wurde durch die damalige sozial-liberale Regierungsmehrheit abgelehnt. Siehe: Antrag der CDU-Fraktion „Schulversuch kooperative Gesamtschule“, Landtag NRW, 7. WP, LT-Drs. 7/1215 v. 15.11.1971. 36 Zu den Zahlen: von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 444; Ingrid Wenzler, Bundesrepublik Deutschland. Die Gesamtschule: Kräfte und Gegenkräfte im bildungspolitischen Konflikt, in: Hans-Georg Herrlitz/Dieter Weiland/Klaus Winkel (Hrsg.), Die Gesamtschule. Geschichte, internationale Vergleiche, pädagogische Konzepte und Perspektiven, Weinheim/München 2003, S. 72. 37 So erhielten die Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen einen 10%igen Stellenzuschlag in der Versuchsphase (dazu: Aloysius Regenbrecht, Schulversuch Gesamtschule zwischen Wissenschaft und Politik, Bonn 1976, S. 32 f.), eine bessere Besoldungsstruktur und eine höhere Schulleitungsentlastung. Später wurde zwischen 1993 und 2005 der gebundene Ganztag nur Gesamtschulen ermöglicht, trotz Nachfrage auch in den anderen weiterführenden Schulen. Letzteres wurde jeweils im Etat des Schulministeriums durch einen entsprechenden Haushaltsvermerk festgelegt. Der diesbezüglich erste Kabinettbeschluss ist in einem gemeinsamen Bericht des Kultusministeriums und des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW an den Landtag v.
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dass in einem differenzierten Schulwesen die Förderung unterschiedlicher Begabungen besser gesichert werden kann als durch die integrierte Gesamtschule. Sie widersprachen deswegen einseitigen Vorfestlegungen vor Abschluss der Versuchsphase, vor allem in dem 1973 von ihnen mit verabschiedeten „Bildungsgesamtplan“ der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung. Es widerspreche dem Versuchscharakter des Experimentalprogramms, wenn in diesem Bildungsgesamtplan Entscheidungen politisch bereits vorweggenommen würden. Erst wenn die vorgesehene Auswertung des gesamten Versuchsprogramms abgeschlossen sei und die damit verbundene wissenschaftliche Begleituntersuchung vorliege, könne darüber entschieden werden, „welches von den Systemen – das reformierte gegliederte Schulwesen, die kooperative Gesamtschule oder die integrierte Gesamtschule – den Vorzug verdient oder ob gegebenenfalls die verschiedenen Systeme nebeneinander ihre Berechtigung haben.“38 Davon unbeeindruckt forderte die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates 1975 in ihrem letzten Bericht vor der Auflösung dieses Gremiums, bereits jetzt in eine zweite Phase der Gesamtschulentwicklung einzutreten. Dabei müsse es um die Erprobung der Gesamtschule als Regelschule gehen und deshalb solle man nunmehr vorrangig Versuche mit einer flächendeckenden Einführung der Gesamtschule durchführen. Solche Flächenversuche wurden nach besagtem Bericht bis dahin angeblich schon in Hessen (Wetzlar, Hanau, Kassel) unternommen. In einem Flächenversuch sollte es neben der Gesamtschule keine anderen Schulformen der Sekundarstufe I geben, so dass alle Schüler eines bestimmten Bezirks eine Gesamtschule besuchen würden. Wenn der Gesamtschulausbau nicht derart flächendeckend erfolge und die Gymnasien unverändert erhalten blieben, könnten, befürchtete die Bildungskommission, die Gesamtschulen vorwiegend zu integrierten Haupt- und Realschulen werden.39 Die problematische Frage der rechtlichen Zulässigkeit solcherlei rigider Flächenversuche im Hinblick auf die Einschränkung des Bildungsangebotes und der Schulwahlfreiheit wurde an keiner Stelle des umfangreichen Berichts thematisiert. Die Empfehlung des Bildungsrates ging andererseits auch gemeinsam mit dieser Einrichtung unter. Die Kultusministerkonferenz griff jene Empfehlung nicht mehr auf.
06.03.1993 betr. „Konzept zum Ausbau der Ganztagsschule“ (Landtag NRW, 11. WP, Vorlage 11/2011, S. 8 f.) wiedergegeben. 38 Siehe dazu, einschließlich Zitat: Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (Hrsg.), Bildungsgesamtplan, Bd. 1, Stuttgart 1973, S. 24 f. 39 Siehe: Deutscher Bildungsrat, Die Bildungskommission. Bericht ’75. Entwicklungen im Bildungswesen. Verabschiedet auf der 48. Sitzung der Bildungskommission am 13.06.1975, Bonn 1975, S. 164, 175.
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Da der Bund im Rahmen der Zusammenarbeit in der Bund-Länder-Kommission seit 1971 Modellversuche mit Gesamtschulen finanziell förderte,40 legte auch die BLK – parallel zum KMK-Experimentalprogramm – mehrfach Berichte über diese Modellversuche vor, zuletzt einen 700 Seiten langen abschließenden Auswertungsbericht im Jahre 1982.41 Ergebnisse der von den Ländern in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Begleituntersuchungen, insbesondere zum Leistungsvergleich der neuen Gesamtschulen mit den herkömmlichen Schulformen des gegliederten Schulsystems, lagen ebenfalls ab Ende der 1970er Jahre vor. Eine generelle Leistungsüberlegenheit der Gesamtschule konnte nach allen Studien nicht festgestellt, die weitgesteckten Ziele zur Ernüchterung und Desillusionierung vieler Befürworter nicht erreicht werden, allerdings gab es auch keine eindeutigen Antworten im Hinblick auf das herkömmliche Schulsystem.42 Daraus zog bereits 1977 das bayerische Staatsinstitut für Bildungsforschung und Bildungsplanung bei der Vorlage seines ersten Ergebnisberichts über die Begleitforschung zu den Gesamtschulversuchen in Bayern den Schluss, dass „im Kern des Gesamtschulproblems eine politisch zu entscheidende Frage steckt, die durch die Veranstaltung von Schulversuchen und ihre wissenschaftliche Überprüfung nur freigelegt und schärfer gefaßt, nicht aber auch beantwortet werden kann.“43 Nachdem der BLK-Auswertungsbericht erschienen war, verständigte sich die Kultusministerkonferenz nach längeren, zwischen unions- und sozialde40 Grundlage hierfür war eine „Rahmenvereinbarung zur koordinierten Vorbereitung, Durchführung und wissenschaftlichen Begleitung von Modellversuchen im Bildungswesen“ v. 08.05.1971. Dazu näher unten in diesem Kapitel III.2. 41 Siehe: Bund-Länder Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, Modellversuche mit Gesamtschulen. Auswertungsbericht der Projektgruppe Gesamtschule, Bühl 1982. 42 Neben dem BLK-Auswertungsbericht war eine der zentralen und meist diskutierten Untersuchungen eine umfangreiche, 1982 veröffentlichte abschließende Studie eines Forschungsprogramms zur Gesamtschule an der Universität Konstanz unter Leitung des Erziehungswissenschaftlers Prof. Helmut Fend, die sich insbesondere auf Forschungsergebnisse zu den Gesamtschulversuchen in den Ländern Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen stützte: Helmut Fend, Gesamtschule im Vergleich. Bilanz der Ergebnisse des Gesamtschulversuchs, Weinheim/Basel 1982. Siehe zudem: Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Abschlußbericht der Wissenschaftlichen Beratergruppe Gesamtschulversuch in Nordrhein-Westfalen und Zweiter Bericht der Schulaufsicht über Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen (Bd. 38 der Schriftenreihe Strukturförderung im Bildungswesen des Landes Nordrhein-Westfalen), Köln 1979. – Zum Leistungsvergleich Gesamtschule und Schulen des gegliederten Schulsystems: Kurt Aurin (Hrsg.), Schulvergleich in der Diskussion, Stuttgart 1987. 43 Zitat: Staatsinstitut für Bildungsforschung und Bildungsplanung, Schulversuche mit Gesamtschulen in Bayern. Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung 1971– 1976, Stuttgart 1977, S. 373.
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mokratisch geführten Landesregierungen kontrovers verlaufenen Verhandlungen im Mai 1982 auf eine „Rahmenvereinbarung über die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen an Integrierten Gesamtschulen“.44 Dabei legte man gewisse strukturelle, von vielen Befürwortern der Gesamtschule als zu einengend kritisierte Bedingungen fest.45 Diese wurden im Zuge der Ablösung der Rahmenvereinbarung durch die „Vereinbarung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I“ vom 03.12.1993, in der die Gesamtschulen als Schulen, die alle Bildungsgänge integrieren, anerkannt wurden, erstmals gelockert. Im Zuge späterer Novellierungen weiteten die Kultusminister darin die Gestaltungsspielräume für Gesamtschulen noch mehrfach insbesondere im Hinblick auf einen binnendifferenzierten Unterricht aus. Beginnend 1979 in Hamburg und vor allem nach der Rahmenvereinbarung über die Abschluss anerkennung wurde die Gesamtschule in den westdeutschen Ländern mit Ausnahme von Bayern und Baden-Württemberg als zusätzliche Regelschulform schulgesetzlich abgesichert und das Versuchsstadium überall beendet. In Baden-Württemberg erhielten 1988 nach Abschluss der Versuchsphase drei integrierte Gesamtschulen, in Bayern 1994 drei integrierte und zwei kooperative Gesamtschulen gleichlautend schulgesetzlich den Status von „Schulen besonderer Art“.46 In einer Gesamtbewertung kommt der Bildungsforscher Hans-Georg Herrlitz zu der Feststellung, dass die reale Entwicklung der Gesamtschullandschaft nicht dem ursprünglich vereinbarten, methodisch außerordentlich anspruchsvollen Experimentalprogramm folgte, sondern einer politischen Eigendynamik, die zwangsläufig aus den Optionen der Parteien und Verbände, aus den Interessen der Kommunen sowie aus den Entscheidungen der Landesparlamente und -ministerien resultiert habe.47 Ein anderer Bildungsforscher, Jürgen Raschert, 44 „Rahmenvereinbarung über die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen an Integrierten Gesamtschulen“, Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 27./28.05.1982. Dazu: Führ, Deutsches Bildungswesen, S. 141 f. 45 Insbesondere: Fachleistungsdifferenzierung in Mathematik und Englisch ab Klasse 7, in Deutsch ab Klasse 8 auf mindestens zwei Ebenen, Fachleistungsdifferenzierung in Physik und Chemie ab Klasse 9, Koppelung der Abschlüsse an Zugehörigkeit zu Niveaukursen, Sechs-Notenskala statt Berichtszeugnisse. Zur Kritik: Wenzler, Gesamtschule (Fn. 36), S. 74 f.; Tillmann, Zwanzig Jahre Gesamtschulentwicklung, S. 324. 46 Siehe bis heute die Regelungen in § 107 SchulG BW bzw. Art. 126 BayEUG. – Dazu: Silvia Schwarz-Jung, Die Schulen besonderer Art – drei Exoten in Baden-Württemberg, in: Statistisches Monatsblatt Baden-Württemberg 5/2006, S. 9-12. 47 Herrlitz, Einleitung (Fn. 31), S. 18. Ähnlich: Klaus-Jürgen Tillmann, Mit dem neuen Boot in den falschen Hafen? Anmerkungen zur Schulreform in den letzten 25 Jahren, in: Hartmut Wenzel/Matthias Wesemann (Hrsg.), Schule auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Bilanz, Probleme, Perspektiven, Weinheim 1989, S. 23 f.; Christoph
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merkt zudem in der Rückschau an, in den Gesamtschulversuchen hätten sich nach Perioden der Stagnation so viele Reformvorhaben kumuliert, dass die Versuchsschulen häufig überlastet worden seien. Die Reformerwartungen in der Öffentlichkeit ebenso wie bei den Beteiligten mussten deshalb nach seiner Ansicht zwangsläufig zum Teil enttäuscht werden. Zugleich seien in dieser Periode die Zeithorizonte für Reformen und die Komplexität von Reformvorhaben ganz erheblich unterschätzt worden.48 Die Gesamtschulentwicklung verlief auch nach der Verankerung in den Schulgesetzen je nach Bundesland höchst unterschiedlich mit weiterhin größerer Zurückhaltung in unionsregierten Ländern unter Berufung auf die Notwendigkeit eines hinreichend differenzierten Schulsystems, aber auch durchaus wellenförmig in langjährig SPD-regierten Ländern. Dort wurde die Gesamtschule letztendlich entgegen früherer sozialdemokratischer Einheitsschul-Programmatik ebenso nicht als alleinige weiterführende Schule, als Strukturalternative zum gegliederten Schulsystem durchgesetzt, sondern deren Errichtung an den Elternwillen geknüpft. In Ländern mit SPD-Regierungsbeteiligung konkurriert die Gesamtschule neuerdings mit dem Konzept einer integrativen „Gemeinschaftsschule“, die – so schließt sich der Kreis – in manchen Ländern im Wege von Schulversuchen (Berlin, Sachsen und Nordrhein-Westfalen) erprobt wird.49 In Schleswig-Holstein führte dies bereits sogar dazu, dass alle integrierten Gesamtschulen bis 2010 gesetzlich zu Gemeinschaftsschulen umgewandelt wurden, und nach jüngsten Gesetzesänderungen in Thüringen, dem Saarland und Baden-Württemberg gehört dort gleichfalls die Gemeinschaftsschule und nicht die Gesamtschule zu den Regelschulformen.50 In Sachsen-Anhalt existieren diesbezüglich noch Gesamtschule und Gemeinschaftsschule nebeneinander.51 Insgesamt betrachtet steht die Gesamtschule heute weitgehend nicht mehr im Zentrum ideologischer Auseinandersetzungen, sondern wird wie alle anderen
Führ, Wie kommen Bildungsreformen in die Schule?, in: ders., Bildungsgeschichte und Bildungspolitik. Aufsätze und Vorträge, Köln u.a. 1997, S. 217. 48 Siehe: Raschert, Bildungspolitik im kooperativen Föderalismus (S. 280 Fn. 5), S. 113. 49 Siehe: § 17a SchulG BE – Öffnungsklausel für Gemeinschaftsschule in Berlin; Art. 2 Abs. 1 des 6. SchulrechtsänderungsG NRW vom 25.10.2011 (GV. NRW S. 540) – Bestandsschutz für zwölf 2011 als Versuchsschulen genehmigte Gemeinschaftsschulen in Nordrhein-Westfalen. In Sachsen soll ein in der Zeit der Großen Koalition 2006 eingeleiteter Schulversuch mit neun Gemeinschaftsschulen laut Koalitionsvertrag der derzeitigen CDU/FDP-getragenen Landesregierung vom September 2009 in den kommenden Jahren evaluiert und abgeschlossen werden. 50 Siehe: §§ 9 Abs. 1, 43 SchulG SH, §§ 4 Abs. 1, 6a Abs. 4–6 SchulG TH, §§ 3 Abs. 2, 3a Abs. 2 und 3 SchOG SL, §§ 4 Abs. 1, 8a SchulG BW. 51 Siehe: §§ 3 Abs. 2, 5a, 5b SchulG ST.
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Schulformen in Zeiten von PISA und nationalen Vergleichsarbeiten an ihren Ergebnissen gemessen. Gesamtschulen gibt es heute mit Ausnahme von Sachsen in allen Ländern. Insgesamt ist die Zahl der integrierten Gesamtschulen (einschließlich der Neuentwicklung als integrierte Gemeinschaftsschulen sowie der süddeutschen Varianten) angesichts einer kontinuierlich gestiegenen Nachfrage aus der Elternschaft zwischenzeitlich bundesweit auf 1019 zum Schuljahr 2010/2011 angestiegen, mit einem Anteil von rund 11 % aller Schüler der Sekundarstufe I.52 Daneben gibt es bundesweit unterschiedlichste Formen von Schulen mit mehreren Bildungsgängen, die teils additiv, auch als kooperative Gesamtschulen, häufig aber auch teilintegrativ ausgestaltet sind.
III. Modellversuche auf Initiative der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (1971–2009) 1. Rechtsgrundlage, Zusammensetzung und Aufgaben der BLK Wie bereits erwähnt wurde seit Anfang der siebziger Jahre die bildungspolitische Entwicklung durch eine neue Einrichtung, die Bund-Länder-Kommission (BLK) für Bildungsplanung, maßgeblich bestimmt. Sie war das unmittelbare Produkt der 1969 in der Zeit der Großen Koalition auf Bundesebene als Teil einer umfassenden Finanzreform beschlossenen Einfügung eines Art. 91b GG in das Grundgesetz. Danach konnten – neben anderen, zeitgleich in Art. 91a GG geregelten neuen Gemeinschaftsaufgaben53 – nunmehr Bund und Länder auch „auf Grund von Vereinbarungen bei der Bildungsplanung und bei der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung von über regionaler Bedeutung zusammenwirken“.54 52 Zu
den Zahlen: Statistisches Bundesamt, Bildung und Kultur. Allgemeinbildende Schulen. Schuljahr 2010/2011, Wiesbaden 2011, S. 12, 16. 53 Art. 91a GG (a.F.): Ausbau und Neubau von Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken, Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. 54 Eingefügt in das Grundgesetz durch das 21. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 12.05.1969 (BGBl. I S. 359). Eine ursprünglich vom Bund angestrebte eigene Rahmengesetzgebungskompetenz für die Bildungsplanung, vergleichbar der damals neu geschaffenen Rahmengesetzgebungskompetenz für die „allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens“ (Art. 75 Ziff. 1a GG a.F.), scheiterte am Widerstand der Länder im Bundesrat. Diesen erschien eine solche Bundeszuständigkeit als ein zu großer Eingriff in ihre Kompetenz für das Schulwesen. Der neue Art. 91b GG wurde im Vermittlungsausschuss von Bun-
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Im Jahr 1970 durch ein Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern gegründet,55 war die BLK anders als der Deutsche Ausschuss oder der Deutsche Bildungsrat ausschließlich eine Regierungskommission. Diese bestand aus – im Regelfall auf Minister- oder Staatssekretärsebene – sieben (später acht) Vertretern der Bundesregierung, insbesondere des 1969 zur Bündelung der bildungspolitischen Zuständigkeiten der Bundesregierung erstmals geschaffenen Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, und je einen bzw. für die Aufgabe der Forschungsförderung zwei Vertretern der Landesregierungen. Bund und Länder hatten gleiches Stimmengewicht, wobei für Beschlüsse eine Mehrheit von drei Vierteln der Stimmen erforderlich war. Im Forschungsbericht der Bundesregierung 1972 wurde die Errichtung der BLK, die eine eigene, vom Bund finanzierte Geschäftsstelle in Bonn erhielt, als „die wichtigste Grundlage für die Koordinierung und Förderung der Bildungsforschung im Rahmen einer Gesamtkonzeption für die Bildungsreform“56 herausgestellt. Zur Modernisierung des Bildungswesens erschien es allerdings nicht nur der damaligen neuen sozial-liberalen Bundesregierung notwendig, einen deutlichen Schwerpunkt auf die Bildungsforschung und eine darauf aufbauende längerfristige Bildungsplanung zu legen. Auch in den Kultusministerien der Länder waren Anfang der siebziger Jahre überall Planungsgruppen und -abteilungen entstanden. Dieses „neue Planungsbewusstsein“ entsprach einem Zug der Zeit.57 Bestärkt durch die Erfahrung einer durch staatliche Intervention erreichten Wirtschaftsdestag und Bundesrat formuliert. Siehe dazu: Deutscher Bundestag, 5. WP, Stenogr. Protokoll der 222. Sitzung v. 20.03.1969, S. 12057; von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 368; Theodor Maunz, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, (Loseblatt-)Kommentar, München (Stand 2013), Art. 91b Rn. 2 – Zur vorangegangenen politischen Debatte: Kurt Biedenkopf, Die Kulturpolitik der Länder wieder flottmachen. Ein Vorschlag zur Bundesrahmenkompetenz in Bildungsfragen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 275 v. 26.11.1968. Siehe allgemein zur damaligen Änderung der Finanzverfassung: Wolfgang Birke, Verfassungsrecht, in: Hans de With (Hrsg.), Deutsche Rechtspolitik. Entwicklungen und Tendenzen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949, Karlsruhe/Heidelberg 1976, S. 28-35. 55 „Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern über die Errichtung einer gemeinsamen Kommission für Bildungsplanung (BLK-Abkommen)“ v. 25.06.1970, abgedruckt in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung v. 03.07.1970, S. 891, i.d.F. v. 17./21.12.1990, abgedruckt in: BAnz 1991, S. 683. – Zu Struktur und Aufgabe der BLK: Führ, Deutsches Bildungswesen, S. 44 ff. 56 Forschungsbericht IV der Bundesregierung, Bonn 1972, Ziff. 140. 57 Dazu, einschließlich Zitat: von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 369; außerdem: Christoph Führ, Bildungsreform nach dem Ende der Illusionen, in: Herbert Stachowiak (Hrsg.), Werte, Ziele und Methoden der Bildungsplanung. Ein Diskussionsbeitrag jenseits von Utopie und Ad-hoc-Pragmatismus, Paderborn 1977, S. 34 f.
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belebung nach der ersten Nachkriegswirtschaftskrise Mitte der 1960er Jahre sah man eine zentrale staatliche Planung in allen Lebensbereichen und eine diese unterstützende Forschung als unabdingbare Voraussetzung rationalen politischen Handelns an. Im Bildungsbereich war bereits die Errichtung des Bildungsrates ein erster Schritt hierzu gewesen58 und gleichzeitig auch zu einer beginnenden Mitwirkung des Bundes an dieser bis dahin originären Länderaufgabe. Vor dem Hintergrund der 68er Ereignisse und der seit einigen Jahren eingesetzten rasanten Bildungsexpansion mit einem Zugang zu mittlerer und höherer Bildung (Realschulen, Gymnasien, Fachschulen, Zweiter Bildungsweg, Universitäten) für breite Bevölkerungsschichten wurde Bildungsreform als wesentlicher Bestandteil und Instrument einer grundlegenden Gesellschaftsreform angesehen.59 Bundeskanzler Willy Brandt vertrat nach Amtsantritt in seiner Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“ vom 28.10.1969 die Auffassung, der zentrale Auftrag des Grundgesetzes, allen Bürgern gleiche Chancen zu geben, sei bis dahin noch nicht annähernd erfüllt worden. Die Bildungsplanung müsse entscheidend dazu beitragen, „die soziale Demokratie zu verwirklichen“.60 Zu Beginn ihrer Tätigkeit konzentrierte sich die BLK auf die Vorbereitung des bereits erwähnten Bildungsgesamtplans. Nach langwierigen Verhandlungen 1973 verabschiedet, enthielt dieser erstmals von Bund und Ländern gemeinsam formulierte Leitlinien im Bildungsbereich.61 Der Plan umfasste die künftige Entwicklung bis 1985, wobei allerdings die unionsregierten Länder eine Festlegung auf weitreichende Strukturveränderungen im Schulwesen insbesondere durch Sondervoten in den seinerzeit bildungspolitisch umstrittenen Fragen Orien tierungsstufe, Gesamtschule und integrierte Lehrerbildung verhinderten.62 Die bildungspolitischen Gegensätze zwischen CDU/CSU- und SPD-regierten Ländern, die im Laufe der Jahre noch zunahmen, waren letztlich auch dafür verantwortlich, dass im März 1982 eine beabsichtigte, seit 1977 beratene Fortschreibung des Bildungsgesamtplans bis zum Jahr 1995 scheiterte, auch wenn die Beratungen konkret wegen einer fehlenden Einigung von Kultus- und Finanz ressorts über den künftigen Kostenrahmen für das Bildungswesen ausgesetzt
58 Siehe dazu bereits: Ulrich Scheuner, Bildungsplanung und ihre Rechtsgrund lagen, in: DÖV 1965, S. 541. 59 Vgl.: Peter Massing, Konjunkturen und Institutionen der Bildungspolitik, in: ders. (Hrsg.), Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Schwalbach 2003, S. 21. 60 Siehe: Deutscher Bundestag, 5. WP, Stenogr. Protokoll der 5. Plenarsitzung v. 28.10.1969, S. 20-34, Zitat S. 27. 61 Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (Hrsg.), Bildungsgesamtplan, Bd. 1, Stuttgart 1973. 62 Siehe oben Zweiter Teil Sechstes Kapitel II. 3.
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wurden.63 Damit entfiel der Bildungsgesamtplan, der ohnehin von Anfang an brüchig gewesen war, als weitere Leitlinie für eine gemeinsame Bildungspolitik von Bund und Ländern. 2. Modellversuche als Hauptbetätigungsfeld der BLK Als Hauptbetätigungsfeld der BLK bildete sich stattdessen die Förderung und Begleitung von Modellversuchen im Bildungswesen heraus. In Art. 2 Nr. 7 des BLK-Abkommens hatte die Kommission unter anderem die Aufgabe übertragen erhalten, „Vorhaben im Bereich der Bildungsforschung und der Bildungsplanung anzuregen und gegebenenfalls Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern über einzelne Vorhaben und Einrichtungen der Bildungsforschung und der Bildungsplanung von überregionaler Bedeutung vorzubereiten.“ In Umsetzung dieses Auftrages wurde sodann eine „Rahmenvereinbarung zur koordinierten Vorbereitung, Durchführung und wissenschaftlichen Begleitung von Modellversuchen im Bildungswesen (Rahmenvereinbarung Modellversuche)“ vom 07.05.1971 geschlossen,64 wobei man 1975 den Aufgabenbereich der BLK noch durch eine Rahmenvereinbarung Forschungsförderung mit einer entsprechenden Ergänzung der Kommissionsbezeichnung erheblich ausgeweitete.65 Auf der Basis der Rahmenvereinbarung Modellversuche brachte die BLK von 1971 bis Ende 2006 Modellversuche im Schulbereich (und seit 1973 auch im Hochschulbereich) auf den Weg. Solche Modellversuche waren vielfach Schulversuche im schulrechtlichen Sinne, enthielten also Abweichungen von bestehenden schulrechtlichen Bestimmungen. Über diese gemeinsame Schnittmenge hinaus waren BLK-Modellversuche aber ganz allgemein Vorhaben im Bildungsbereich, durch die etwas Neues mit dem Ziel des Transfers entwickelt und erprobt werden sollte. Viele Innovationen etwa im Bereich der Lehr- und Lernformen waren lediglich systeminterne Reformen und Verbesserungen, die keiner Änderung geltenden Schulrechts bedurften. In der bildungspolitischen 63 Vgl.: Führ, Deutsches Bildungswesen, S. 45 f.; Carl-Ludwig Furck, Allgemeinbildende Schulen. Entwicklungstendenzen und Rahmenbedingungen, in: Christoph Führ/Carl Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 352. – Eingehende Darstellung des Dissenses zwischen Finanz- und Kultusressorts: Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK), Jahresbericht 1982, Bonn 1983, S. 7 ff. 64 Abdruck: GMBl. 1971, S. 284. 65 „Rahmenvereinbarung zwischen Bund und Ländern über die gemeinsame Förderung der Forschung nach Artikel 91b GG (Rahmenvereinbarung Forschungsförderung)“ v. 28.11.1975, abgedruckt in: BAnz Nr. 240 v. 30.12.1975, S. 4, zuletzt geändert durch Vereinbarung v. 25.10.2001, abgedruckt in: BAnz S. 25218.
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Debatte und auch in den regelmäßig insbesondere gegenüber den Landesparlamenten erstatteten Berichten der Kultusministerien über BLK-Modellversuche wurde indes kaum zwischen solchen Modellversuchen im weiteren Sinne und Schulversuchen im engeren Sinne differenziert.66 Dennoch war der Unterschied gewichtig, erforderten Schulversuche über den BLK-Abstimmungsprozess hinaus eben auch noch ein schulgesetzliches Genehmigungsverfahren, einschließlich gegebenenfalls einer Zulassung nach dem „Hamburger Abkommen“. Über die Förderfähigkeit von Bund- oder Länderseite beantragter BLKModellversuche befand eine Arbeitsgruppe „Modellversuche im Bildungs wesen“, die wiederum einem Ausschuss „Innovationen im Bildungswesen“ der BLK zugeordnet war. Die Rahmenvereinbarung sah vor, dass sich – anders als bei Vorhaben der Kultusministerkonferenz üblich – nicht alle Länder an einem Modellversuch beteiligen mussten (§§ 4, 8) und in der Praxis blieb eine Erprobung durch sämtliche Länder auch die seltene Ausnahme. Die über die normalen Sach- und Personalkosten einer Schule hinausgehenden zusätzlichen Versuchskosten trugen Bund und die sich beteiligenden Länder nach § 8 der Rahmenvereinbarung (und in Umsetzung von Art. 91b Satz 2 GG a.F.) in der Regel je zur Hälfte, wobei die Aufteilung der sich beteiligenden Länder untereinander entsprechend dem sogenannten „Königsteiner Schlüssel“ erfolgte. Die dem Bund durch Art. 91b GG a.F. eingeräumte Mitwirkungskompetenz bei der Bildungsplanung und Forschungsförderung eröffnete ihm zwar nach Art. 104a GG Mitfinanzierungszuständigkeiten, allerdings keine, die über die Bereiche der Mitwirkung hinausgingen. Die Mitfinanzierung von Modellversuchen konnte sich daher verfassungsrechtlich nur auf das einzelne Vorhaben der Bildungsforschung (als Gegenstand der Bildungsplanung wie auch der Forschungsförderung) und nicht auf die Bildungseinrichtung, also vorliegend die jeweilige Versuchsschule als Ganzes erstrecken. Im verfassungsrechtlichen Schrifttum wurde durchaus zu Recht Zweifel daran geäußert, ob die Praxis der eher großzügigen Mitfinanzierung des Bundes von Modellvorhaben dieser Rechtslage immer entsprach.67 66 Immerhin
thematisiert wurde der Unterschied in: Antwort der Landesregierung NRW auf die Kleine Anfrage der Abg. Marie-Theres Kastner (CDU), Landtag NRW, 13. WP, LT-Drs. 13/1065 v. 12.04.2001, S. 2, Vorbemerkung. 67 Siehe etwa: Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 91b Rn. 14, 17 und 25, insb. Zitat: „Der Bund darf die Kompetenz nicht dazu verwenden, um durch großzügige Angebote zur Mitfinanzierung von sogen. Modellversuchen (z.B. Gesamtschulen) in den Vollzug des Bildungswesens hineinzuwirken und dadurch bestimmte Vorstellungen durchzusetzen.“ Nicht unproblematisch war auch die Festlegung der BLK, sogar partiell Baumaßnahmen als förderfähig anzusehen, und zwar „Baumaßnahmen für Modellversuche zur Ermöglichung der Integration von Behinderten, bei der Einführung von neuartigen Unterrichtstechnologien und zur a ußerunterrichtlichen Organisation der Schüler in Ganztagsschulen.“ Vor allem die beiden letzteren, offen
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3. Umfang und Schwerpunkte der Modellversuche bis 1997 Die Finanzplanung des Bundes sah zunächst für die Anfangsjahre ganz erhebliche Mittel für die Beteiligung des Bundes an Modellversuchen im Schulbereich vor, für 1972 75,5 Mio. DM und sodann jährlich steigend bis 1975 auf 255 Mio. DM.68 Zwar wurden diese Ansätze bei weitem nicht realisiert, doch erfolgte in den siebziger Jahren immer noch vergleichsweise die höchste Förderung von BLK-Modellversuchen. Zwischen 1971 und 1979 wurden Bundesmittel in Höhe von 732 Mio. DM aufgebracht, allerdings für Modellversuche nicht nur im Schulwesen, sondern in allen Bildungsbereichen. Diesen Bundesmitteln standen Mittel der Länder in mindestens derselben Höhe gegenüber.69 Die Bundesmittel und entsprechend die Landesmittel reduzierten sich in den Folgejahren deutlich um mehr als die Hälfte. Sie beliefen sich für Modellversuche in beiden Bereichen, Schule und Hochschule, in den letzten Jahren vor der Wiedervereinigung auf jährlich um die 30 Mio. DM (1989 und 1990 sogar nur noch jeweils 26 Mio. DM, wobei 58 bzw. 67 neue Modellversuche bewilligt wurden). Nach dem Beitritt der neuen Bundesländer auch zu dem Modellversuchsprogramm verdoppelten sich die Bundesmittel zunächst wieder zwischen 1993 und 1996 auf jährlich 60 bis 72 Mio. DM (bei durchschnittlich etwa derselben Zahl von Neubewilligungen), fielen dann im Jahr 1997 allerdings auf nur noch 48 Mio. DM und in den Folgejahren erneut auf das Niveau vor der Wiedervereinigung.70 In Umsetzung eines Auftrags aus § 2 der Rahmenvereinbarung Modellver suche beschloss die BLK erstmals am 22.04.1974 einen Schwerpunktkatalog, der und breit umschriebenen Bereiche boten dem Bund bis dahin undenkbare Mitfinanzierungsmöglichkeiten im Schulwesen und damit in diesem kompetenzrechtlichen „Hausgut der Länder“. Siehe Dokumentation des entsprechenden Beschlusses und der diesen umsetzenden Handreichung des BLK-Ausschusses „Innovation im Bildungswesen“: Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK), Informationsschrift 1980 über Modellversuche im Bildungswesen (außer Tertiärer Bereich), Bonn 1980, S. 8, 25. 68 Finanzplan des Bundes 1971 bis 1975, Deutscher Bundestag, 6. WP, BTDrs. VI/2651 v. 08.10.1971, S. 55. 69 Die Gesamtsumme der Bundesmittel entwickelte sich wie folgt: 1971: 33 Mio. DM, 1972: 79 Mio. DM, 1973: 112 Mio DM, 1974: 101 Mio. DM, 1975: 109 Mio. DM, 1976: 95 Mio. DM, 1977: 66 Mio. DM, 1978: 64 Mio. DM und 1979: 73 Mio. DM. Zu den Zahlen: BLK, Informationsschrift 1980 über Modellversuche, S. 14, außerdem im Detail die von der BLK herausgegebenen jeweiligen „Jahresberichte“ über ihre Tätigkeit. 70 Zu diesen Zahlen siehe ebenfalls die stets ein Jahr später veröffentlichten entsprechenden „Jahresberichte“ der BLK.
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auf der Grundlage des Bildungsgesamtplans von 1973 Themenfelder beschrieb, in denen prioritär im Bildungswesen (außer tertiärer Bereich) Modellversuche zur Klärung offener Fragen stattfinden sollten. Dieser Katalog wurde 1980 nochmals überarbeitet, wobei man überdies seit 1977 bestimmte Bereiche hervorhob, die mit Vorrang gefördert werden sollten (sogenannte Vorrangbereiche). Folgende Schwerpunkte wurden festgelegt (zusammengefasst): ● Modellversuche zur Verbesserung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule und zur Erprobung differenzierter Arbeitsformen im Primarbereich, ● Modellversuche zur inhaltlichen und organisatorischen Reform im Sekun darbereich I (vor allem Hauptschule, Gesamtschule, 10. Bildungsjahr, neue differenzierte Lernangebote und Arbeitsformen), ● Modellversuche zur Entwicklung eines Berufsgrundbildungsjahres, ● Modellversuche zur Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe und beruflicher Schulen (vor allem neue Unterrichtsangebote, Entwicklung von Kurssystemen mit Wahlmöglichkeiten, Erprobung von Kooperationsformen in berufs- und studienqualifizierenden Bildungsgängen, Lernangebote für Jugendliche ohne Ausbildungsvertrag), ● Modellversuche zum Ausbau der Schul- und Berufsberatung, zur Entwicklung neuer Beurteilungsverfahren und zum Einsatz von Medien und Technologien, ● Modellversuche zur Förderung und Integration von behinderten bzw. ausländischen Kindern und Jugendlichen, ● Modellversuche zur Organisation von Bildungseinrichtungen, zu Formen ganztägiger und außerunterrichtlicher Förderung sowie zur regionalen Entwicklungsplanung, ● Modellversuche zur Lehrer- und Schulleitungsfortbildung.71 Nachdem im Jahre 1982 die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans gescheitert war und sich die damit verbundenen doppelt so hohen Vorstellungen der Kultus- gegenüber den Finanzministern über die künftigen Mittel für die Bildungs politik nicht verwirklichen ließen, beschloss die BLK, angesichts dieser bildungsund finanzpolitischen Zwänge die Modellversuchsförderung noch weiter zu konzentrieren, und zwar auf die vier Bereiche: ausländische Kinder und Jugendliche, behinderte Kinder und Jugendliche, berufliche Bildung sowie Hochschule (Studienreform und Forschung).72 In den 1980er Jahren erfolgte allerdings schrittweise wieder eine Erweiterung um drei Förderbereiche: Neue Informations- und Kommunikationstechniken im Bildungswesen, Einbeziehung von Umweltfragen 71 Siehe
dazu: BLK, Informationsschrift 1980 über Modellversuche, S. 26 ff. BLK, Jahresbericht 1981, Bonn 1982, S. 18.
72 Siehe:
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in das Bildungswesen und musisch-kulturelle Bildung.73 Dieser Katalog wurde auch nach der Wiedervereinigung im Grundsatz beibehalten, wobei die Förderung von behinderten sowie ausländischen Kindern und Jugendlichen in einen Förderungsbereich „Differenzierte Förderung besonderer Gruppen“ aufging und ein neuer Bereich „Mädchen und Frauen im Bildungswesen“ hinzutrat.74 Die neuen Länder waren dem BLK-Verwaltungsabkommen von 1970 durch Vereinbarung vom 17./21.12.1990 mit Wirkung zum 01.01.1991 beigetreten.75 Die BLK und das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft ver öffentlichten mehrfach Übersichten zu den im Einzelnen geförderten Modellversuchen.76 4. Neuausrichtung auf Versuchsprogramme ab 1998 Nach einer grundlegenden Evaluation beschloss die BLK 1997 eine Neuordnung der Modellversuchsförderung. Ab 1998 erfolgte eine Umstellung von einer Einzelmodellversuchsförderung auf eine Programmförderung; bis dahin waren in den über 25 Jahren seit 1971 rund 2.400 Modellversuche gefördert worden. Nunmehr oblag es Bund und Ländern, im Rahmen von fünf Schwerpunkten gemeinsame Versuchsprogramme aufzustellen, und zwar im Hinblick auf die verfolgten Ziele, die geeigneten Instrumente (Einzelvorhaben, als Modellversuch gerichtet auf die Lösung spezieller Fragen innerhalb eines Programms, Forschungsvorhaben, Studien, Tagungen, Disseminations- und Implementationsvorhaben) sowie die Zeit- und Kostenplanung. Die Koordinierung der Programmvorbereitung, Durchführung und Ergebnissicherung übertrug das jeweils federführende Land dabei einem Programmträger, in der Regel einer in der Bildungsforschung aus73 Siehe:
BLK, Jahresbericht 1987, Bonn 1988, S. 15. BLK, Jahresbericht 1992, Bonn 1993, S. 22. 75 Abdruck: BAnz 1991, S. 683. 76 Siehe insbesondere: BLK, Informationsschrift 1980 über Modellversuche, S. 133199; Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.), Modellversuche in der Bewährung. Bericht zur Umsetzung von Modellversuchen im allgemeinen Bildungswesen und in der schulischen beruflichen Bildung, Bad Honnef 1989; Bund-LänderKommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK), Modellversuche in der Bewährung. 2. Bericht zur Umsetzung von Modellversuchen im Bildungswesen, Bonn 1995. – Siehe auch die Verteilung der Modellversuche im Schulwesen in den Jahren 1971–1982 nach Schwerpunkten und in den Jahren 1983–1987 nach Forschungsbereichen bei: Weishaupt, Schulversuche – Modellversuche (S. 282 Fn. 12), S. 386. Beispiel für einen BLK-Modellversuchsantrag mit Begründung: Modellversuch im Bildungswesen Berlin „Erweiterung von Kommunikationsstrukturen zwischen Lehrer und Schüler durch qualifizierte ‚dritte‘ Personen von außen mit dem Ziel einer Neu orientierung der Lehrerrolle“, Vorlage des Berliner Senats, Abgeordnetenhaus von Berlin, 13. WP, Drs. 13/38 v. 29.11.1995. 74 Siehe:
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gewiesenen universitären oder außeruniversitären Forschungseinrichtung oder einem von der Kultusadministration getragenen Landesinstitut für Schule.77 Als die fünf Schwerpunktbereiche wurden definiert: Neue Informations- und Kommunikationstechniken und Medien, Erweiterte Verantwortung und Qualitätssicherung im Bildungswesen, Neue Lernkonzeptionen und Kooperationsformen in der Berufsbildung sowie – im Hochschulbereich – Erweiterung der Berufsmöglichkeiten für Hochschulabsolventen im Hinblick auf neue Anforderungen im Beschäftigungssystem sowie Weiterentwicklung des Systems der Hochschulprüfungen und -abschlüsse. Alle drei Bildungsbereiche Schule, Berufliche Bildung und Hochschule sollten dabei von der finanziellen Ausstattung her angemessen berücksichtigt werden.78 Diese Neuausrichtung, noch vor dem „PISA-Schock“, begründeten Bund und Länder damit, dass sie sich auf eine veränderte gemeinsame zukunftssichernde Innovationsstrategie im Bildungswesen verständigen müssten, um angesichts eines durch die Globalisierung der Märkte verstärkten internationalen Wettbewerbs und Konkurrenzdrucks für die bestmögliche Qualifizierung der jungen Generation zu sorgen.79 Die Bildungspolitik schwenkte mit der Konzipierung von Modellversuchsprogrammen wieder auf eine Linie, die Bund und Länder bereits zwanzig Jahre vorher schon einmal mit den Experimentalprogrammen Ganztag und Gesamtschule verfolgt hatten. Auch wenn nunmehr durch die Einschaltung von Projektträgern die Programmabstimmung sowie wissenschaft liche Begleitung und Auswertung strukturierter und intensiver erfolgte, letztlich gelang auch jetzt nur bei wenigen Programmen ein hinreichender länderübergreifender Austausch. Zu nennen ist insoweit und auch im Hinblick auf eine breite Implementation der Ergebnisse vor allem das 1998 gestartete SINUS-Programm („Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“) und dessen spätere Fortführung als BLK-Programme SINUS-Transfer und SINUS-TransferGrundschule. Auch nach deren Auslaufen 2007 verfolgen bis heute fast alle Länder das Ziel, den SINUS-Ansatz möglichst flächendeckend in ihren Schulen zu verbreiten.80
77 Hierzu:
Bericht zur Neuordnung der Modellversuchsförderung im Rahmen der BLK v. 02.06.1997, in: Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK), Informationsschrift über gemeinsame Modellversuchsförderung im Bildungswesen durch Bund und Länder, Bonn 1997, S. 11-16; zu der Zahlangabe S. 12. 78 Siehe: BLK, Informationsschrift über gemeinsame Modellversuchsförderung 1997, S. 14, 17. 79 Siehe: Ebenda, S. 13. 80 Umfangreiche Selbstdarstellung des Projekts: http://www.sinus-transfer.de.
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Im Zeitraum von 1998 bis 2006 führten Bund und Länder gemeinsam 20 BLK-Versuchsprogramme, davon 14 im Schulbereich,81 und drei Verbund projekte82 durch. Diese beinhalteten rund 2500 Einzelvorhaben. Die Bundesförderung belief sich über den gesamten achtjährigen Zeitraum auf insgesamt 120 Mio. Euro, auch hier wiederum ergänzt durch die Länder in mindestens derselben Höhe.83 5. Ende der Modellversuche durch die Föderalismusreform I Die Rahmenvereinbarung Modellversuche wurde zum 31.12.2006 aufgehoben, ein Jahr, bevor die Bund-Länder-Kommission insgesamt ihrer Tätigkeit einstellte. Dies war die zwangsläufige Folge der Verfassungsänderungen aufgrund der sogenannten „Föderalismusreform I“ des Jahres 2006 und der hiermit vorgenommenen Neuregelung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Für die Bildung und insbesondere für das Schulwesen wurde durch diese Reform eine im Wesentlichen Alleinverantwortlichkeit der Länder wiederhergestellt. Die 81 Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts (SINUS); Systematische Einbeziehung von Medien; Informations- und Kommunikationstechnologien in Lehr- und Lernprozesse (SEMIK); Qualitätsverbesserung in Schulen und Schulsystemen (QUISS); SINUS-Transfer; SINUS-TransferGrundschule; Neue Lernkonzepte in der dualen Berufsausbildung; Kooperation der Lernorte in der Berufsausbildung (KOLIBRI); Innovative Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen (innovelle-bs); Modularisierung; Neue Studiengänge; Entwicklung eines Leistungspunktesystems an Hochschulen; Wissenschaftliche Weiterbildung; Weiterentwicklung dualer Studienangebote im tertiären Bereich; Bildung für eine nachhaltige Entwicklung; Kulturelle Bildung im Medienzeitalter (kubim); Lebenslanges Lernen; Demokratie lernen und leben; Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (FÖRMIG); Transfer-21. 82 Stärkung der Bildungs- und Erziehungsqualität in Kindertageseinrichtungen und Grundschule – Gestaltung des Übergangs (TransKiGS); Lernen für den GanzTag; Sprachen lehren und lernen. 83 Vgl.: BLK, Jahresbericht 2006, Bonn 2007, S. 23; dies., Die BLK: Rückblick auf 37 Jahre im Dienst von Bund und Ländern, Online-Ressource: http://www.blk-bonn.de/ blk-rueckblick.htm. Siehe auch mit detaillierten Angaben zu den einzelnen Projekten: BLK, Übersicht über die seit 1998 von Bund und Ländern gemeinsam geförderten Programme und Einzelvorhaben im Bildungswesen, Online-Ressource: http://www.bildungsserver.de/pdf/ blk_98.pdf. Zu den Länderausgaben siehe z.B. für NRW: Antwort Kleine Anfrage Kast ner (Fn. 66), S. 4. Diese betrugen danach 1996 3,5 Mio. DM / 36,0 Stellen, 1997 3,5 Mio. DM / 36,0 Stellen, 1998 3,3 Mio. DM / 27,4 Stellen, 1999 1,5 Mio. DM / 19,9 Stellen, 2000 1,6 Mio. DM / 25,6 Stellen.
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gemeinsame Bildungsplanung in Art. 91b GG und damit die Basis für gemeinsam finanzierte Modellversuche entfiel ersatzlos. Die Zusammenarbeit im Schulbereich beschränkte der Verfassungsgeber stattdessen darauf, dass Bund und Länder „auf Grund von Vereinbarungen zur Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich und bei diesbezüglichen Berichten und Empfehlungen zusammenwirken“ können.84 Dies betrifft vor allem internationale Schulvergleichsstudien (PISA, IGLU, TIMMS) und die nationale Bildungsberichterstattung.85 Die Verantwortung für noch laufende, in den Folgejahren aber planmäßig auslaufende Modellversuche (sieben Programme und zwei Verbundprojekte) ging konsequenterweise nunmehr in die alleinige Zuständigkeit der Länder über.86 In einem die Föderalismusreform begleitenden Entflechtungsgesetz wurde allerdings geregelt, den Ländern zunächst bis Ende 2013 noch jährlich 19,9 Mio. Euro aus dem Bundeshaushalt als Kompensation für die Beendigung 84 Siehe: „Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c, 143c)“ v. 28.08.2006 (BGBl. I S. 2034), hier Art. 1 Ziff. 13 des Änderungsgesetzes. Der dem zugrundeliegende Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD ist abgedruckt in: Deutscher Bundestag, 16. WP, BT-Drs. 16/813 v. 07.03.2006. – Siehe dazu, auch zur Vorgeschichte: Uwe Volkmann, in: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/ Christian Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl., München 2010, Art. 91b Rn. 2; Jörn Ipsen, Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nach der Föderalismusnovelle, in: NJW 2006, S. 2801-2806. Zu den intensiven Vorarbeiten durch die sogenannte „Föderalismuskommission“: Deutscher Bundestag/Bundesrat (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Berlin, Schriftenreihe „Zur Sache“ 1/2005. 85 Seit 2006 veröffentlichen das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Kultusministerkonferenz alle zwei Jahre einen nationalen Bildungsbericht, der durch eine unabhängige wissenschaftliche Autorengruppe unter Federführung des DIPF erstellt wird. Der Bildungsbericht enthält jeweils einen regelmäßig aktualisierten Satz von Indikatoren zum deutschen Schulwesen und ein wechselndes Schwerpunktkapitel. Der Bildungsbericht 2010 befasste sich mit „Perspektiven des demografischen Wandels“, der Bildungsbericht 2012 mit der „Kulturellen/musisch-ästhetischen Bildung.“ Dazu: Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bundesbericht Forschung und Innovation 2012, Berlin 2012, S. 182. 86 Siehe hierzu auch die Gesetzesbegründung der Verfassungsänderung, BTDrs. 16/813 v. 07.03.2006, S. 16: „Die Rahmenvereinbarung zur koordinierten Vorbereitung, Durchführung und wissenschaftlichen Begleitung von Modellversuchen im Bildungswesen – ‚Rahmenvereinbarung Modellversuche‘ – vom 7. Mai 1971 (GMBl. S. 284) ist wegen Wegfalls der bisherigen Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung … aufzuheben. Die aufgrund dieser Rahmenvereinbarung vereinbarten Modellversuche sollen entsprechend der jeweils bestehenden Befristungen auslaufen, sofern sie nicht zuvor aufgehoben werden. Die Länder treten grundsätzlich in die Pflichten des Bundes ein.“
6. Kap.: Normalisierung des Schulversuches
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der Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsplanung“ zur Verfügung zu stellen. Mit diesem Betrag wurden auch die Mittel zur Ausfinanzierung der vom Bund bis 2006 eingegangenen Verpflichtungen abgegolten, insbesondere auch für über das Jahr 2006 hinaus noch laufende BLK-Modellversuche. Bis 2008 ließ man überdies noch eine direkte Mitfinanzierung des Bundes für auslaufende Modellversuche zu.87 Die Kompensationsmittel nach dem Entflechtungsgesetz für die Beendigung der Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsplanung“ wurden sogar 2013 nochmals um fünf Jahre in gleicher Höhe von 19,9 Mio. Euro bis zum 31.12.2019 verlängert.88 Die letzten drei BLK-Modellversuchsprogramme fanden 2009 ihr Ende.89 Bemerkenswert allerdings ist, dass der Bund auch danach sich offensichtlich nicht vollkommen zurückgezogen hat. So förderte das Bundesbildungsministerium beispielsweise die wissenschaftliche Begleitung eines Schulversuchs im Saarland, der erst zum Schuljahr 2009/2010 begonnen wurde.90 6. Zur Wirksamkeit der Modellversuche Die bildungspolitische Öffentlichkeit und auch die Schulen nahmen von der Auflösung der BLK und der damit verbundenen Einstellung länderübergreifender Modellversuche kaum Notiz. Dabei war in den Veröffentlichungen der BLK immer wieder hervorgehoben worden, dass sich deren Modellversuche als wichtiges Instrument zur länderübergreifenden Weiterentwicklung des Bildungs87 Siehe:
§ 2 Abs. 2 „Gesetz zur Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen (Entflechtungsgesetz)“ v. 05.09.2006 (BGBl. I S. 2098). Dieses Gesetz fußte seinerseits auf die neue Übergangsvorschrift des Art. 143c Abs. 1 Satz 1 GG. – Hierzu auch: BLK-Jahresbericht 2006, S. 23 f.; Hans-Günter Hennecke, in: Bruno Schmidt-Bleibtreu/Friedrich Klein (Hrsg.), GG Kommentar zum Grundgesetz, 12. Aufl., Köln 2011, Art. 91b Rn. 17. 88 Siehe: Art. 4 Ziff. 1 „Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens ‚Aufbauhilfe‘ und zur Änderung weiterer Gesetze (Aufbauhilfegesetz)“ v. 15.07.2013 (BGBl. I S. 2401), wodurch § 2 Abs. 2 des Entflechtungsgesetzes (Fn. 87) entsprechend geändert wurde. 89 SINUSTransferGrundschule, Programmdauer: 01.08.2004 bis 31.07.2009 (www. sinustransfer.de); Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Programmdauer: 01.09.2004 bis 31.08.2009 (www.blkfoermig.unihamburg.de); Stärkung der Bildungsund Erziehungsqualität in Kindertageseinrichtungen und Grundschule und Gestaltung des Übergangs (TransKiGsS), Programmdauer: 01.02.2005 bis 31.12.2009. 90 Siehe die Vorbemerkung im Erlass des saarländischen Ministeriums für Bildung, Familien, Frauen und Kultur „Errichtung eines Schulversuchs ‚Reformklassen‘ an Erweiterten Realschulen und Gesamtschulen im Saarland“ v. 20.04.2009 (SaarABl. Nr. 197, S. 862).
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wesens, zur Steigerung seiner Attraktivität und seiner Leistungsfähigkeit erwiesen hätten. Laut einem Umsetzungsbericht der BLK aus dem Jahre 1995 sollen sogar etwa 90 % der Modellversuche zu nachhaltigen Verbesserungen geführt haben. Die intensive Betreuung der Antragsteller durch das jeweilige Land, den Bund und die gemeinsame Beratung in und im Umfeld der BLK-Projektgruppe „Innovationen im Bildungswesen“ hätten in der Regel die Durchführung misslingender Versuche vermieden.91 Dies ist gleichfalls der durchgehende Tenor in den Auswertungsberichten und Dokumentationen über BLK-Modellversuche, die in einer BLK-Schriftenreihe „Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung“ erschienen sind und mehr als ein Drittel der 169 Titel ausmachen. Doch anders als diese BLK-amtlichen Verlautbarungen es vermuten lassen, sahen durchaus politisch Verantwortliche in den Kultusministerien schon lange Zeit vor der Beendung durch die Föderalismuskommission die Schwächen der BLK-Modellversuche. So warnte im Jahre 2000 der damalige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair davor, bei der Konzipierung, Förderung, Durchführung und Auswertung von Modellversuchen nicht das Ziel zu vergessen, nämlich eine möglichst breite Umsetzung der entwickelten Ideen und der gewonnenen Erfahrungen und Ergebnisse. Selbstkritisch merkte er auch für die eigene Person an, man habe in den vergangenen Jahren dagegen manchmal den Eindruck gewinnen können, „dass einige Modellversuche Luft rausnahmen und ein Alibi waren – bis hin Alibi für Untätigkeit“.92 Dabei spielte er sicherlich vor allem auf solche Modellversuche an, die schulpolitisch kontroverse Fragen betrafen. Eine weitere Schwäche bestand darin, das gerade BLK-Modellversuche häufig unter privilegierten Rahmenbedingungen, insbesondere in Form zusätzlicher Lehrerstellen oder Anrechnungsstunden sowie sächlicher Versuchszuschlägen stattfanden, damit aber die flächendeckende Umsetzung in den Regelschulbe91 So:
BLK, Modellversuche in der Bewährung, S. 2. – Solch positive Bewertungen finden sich freilich auch fast immer in Stellungnahmen von Landesregierungen zu Schulversuchen. Exemplarisch: „Die im Land Sachsen-Anhalt an den öffentlichen Schulen durchgeführten Schulversuche haben durchweg ein positives Ergebnis gezeigt. Soweit Schulversuche bisher abgeschlossen wurden, konnten konkret umsetzbare pädagogische Erkenntnisse gewonnen werden, die nach einer Phase der erweiterten Erprobung und einer abschließenden Evaluierung der Ergebnisse in die zukünftigen Überlegungen zur Gestaltung der Schulen in Sachsen-Anhalt Eingang haben werden.“ Quelle: Antwort Landesregierung Sachsen-Anhalt auf die Kleine Anfrage des Abg. Bernhard Ritter (CDU), Landtag von Sachsen-Anhalt, 2. WP, LT-Drs. 2/376 v. 05.12.1994, S. 20, zu 2. 92 Siehe: Hans Zehetmair, Aus guten Beispielen lernen, in: Erster Kongress des Forum Bildung am 14. und 15. Juli 2000 in Berlin. Materialien des Forum Bildung, Nr. 3, Berlin o.J. (2000), S. 88 (Online-Ressource: http://www.blk-bonn.de/papers/ forum-bildung/band03.pdf).
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reich angesichts eines dafür notwendigen, jedoch überhaupt nicht zu deckenden erheblichen Finanzbedarfs auf Länderseite oft nicht gewährleistet werden konnte. Die Validität der Versuchsergebnisse wurde daher gerade von Lehrerseite immer wieder in Zweifel gezogen, das „Inseldasein“ vieler BLK-Modellversuche, die hierdurch nicht als Vorbild dienen könnten, kritisiert. In den Kultusministerien sah man diese Problematik zunehmend ebenso. Hinzu kam, dass durch die in den BLK-Beratungen angebotenen Bundesmittel selbst dann, wenn die Sinnhaftigkeit eines Modellvorhabens in Zweifel gezogen wurde, auf dem jeweiligen Land ein Beteiligungsdruck lastete. Anders als in der Kultusministerkonferenz, wo Entscheidungen mit finanziellen Auswirkungen einstimmig zu erfolgen haben, waren in der BLK Mehrheitsentscheidungen möglich, konnte also ein einzelnes Land solche Versuche nicht verhindern und musste sich bei Nichtbeteiligung dafür rechtfertigen, weshalb Bundesmittel nicht zur angeblichen Verbesserung des Schulwesens im Land genutzt wurden. Die BLK-Förderung entwickelte sich aus Sicht vieler Entscheidungsträger in den Ländern zu sehr als ein Einfallstor für den Bund, bildungspolitische Vorstellungen durch eine Politik des „goldenen Zügels“ zu verfolgen. Es war sogar von „Modellversuchen des Bundes“ die Rede.93 Die schon nach 1982 erfolgte Zurückführung und schließlich die endgültige Einstellung der BLK-Modellversuche beruhte deshalb nicht zuletzt darauf, dass die Länder angesichts knapper Finanzmittel im Bereich der Förderung von Schulversuchen wieder vornehmlich eigene Prioritäten setzen wollten, ohne sich – insbesondere bei divergierenden schulpolitischen Vorstellungen – mit dem Bund und im Länderkreis abstimmen zu müssen. Hatten sich in den 1970er bis Anfang der 1980er Jahre die Aktivitäten im Schulversuchsbereich fast ganz auf die BLK verlagert, so wurden ab 1982 wieder verstärkt hiervon losgelöst Schulversuche in den Ländern durchgeführt. Sichtbares Zeichen dafür, dass die Länder wieder jeweils mehr allein die Initiative ergreifen wollten, war das 1990 durch die Kultusministerkonferenz beschlossene Verfahren zur vereinfachten Zulassung von Schulversuchen nach dem „Hamburger Abkommen“.94 Seit den 1990er Jahren sind es zudem auch die Schulen selbst, die das Instrument des Schulversuchs für konkrete lokale Einzelvorhaben nutzen wollen. Die neueren Versuchsvorschriften in den Schulgesetzen gehen meist sogar 93 So etwa in der Begründung eines Abänderungsantrages zum Landeshaushalt 2003 der damaligen oppositionellen CDU-Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein, den Titelansatz für BLK-Modellversuche vollständig zu streichen: „Verzicht auf weitere Beteiligung an Modellversuchen des Bundes. Dadurch bekommt S-H zwar nicht mehr den Bundeszuschuss von 1,850,9 T € … kann aber seinen Anteil von 50 % der Kosten … hier einsparen und an andere Stelle nutzen. Siehe: Schleswig-Holsteinischer Landtag, 15 WP, LT-Drs. 15/2341 v. 11.12.2002, S. 13. 94 Ebenso: Weishaupt, Schulversuche – Modellversuche (S. 282 Fn. 12), S. 384.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
davon aus, dass ein Schulversuch weniger „von oben“ durch die Schulpolitik und Schulverwaltung auf den Weg gebracht wird als vielmehr „von unten“, also eine Schule aus ihrer eigenständigen pädagogischen Verantwortung heraus einen Schulversuch entwickelt. Auch im pädagogischen Schrifttum mehrte sich in den letzten Jahren immer stärker Kritik an einem Reformverständnis, wonach Schulreform weitgehend eine durch staatliche Instanzen nach dem Top-down-Prinzip geplante ist. Stattdessen wird heute fast durchgängig die Notwendigkeit einer größeren Selbstständigkeit der Schulen und pädagogischen Freiheit der einzelnen Lehrkraft sowie damit korrespondierend eines größeren Maßes an Verantwortung vor Ort betont.95 Allerdings ist nicht zu verkennen, dass in der Bildungswissenschaft neuerdings – im Einklang mit beachtlichen Teilen der Politik96 – nicht nur eine Auf 95 Exemplarisch
mit deutlicher Kritik an „planungsbeflissene Schulfunktionäre“: Hans Rauschenberger, Schulreform zwischen pädagogischem Programm und pädagogischem Takt, in: Charlotte Röhner/Gabriele Skischus/Wiltrud Thies (Hrsg.), Was versuchen Versuchsschulen? Einblick in die Reformschule Kassel, Baltmannsweiler 1998, S. 8-18, insb. S. 10 ff. – Eine allgemeine Skepsis gegenüber staatlicher Planung im Bildungswesen breitete sich bereits seit Ende der 1970er Jahre aus. Dazu mit instruktiver Erklärung: Rainer Brockmeyer, Veränderte Rahmenbedingungen, veränderte Ziele? Zur Situation der Bildungsplanung am Beginn der 80er Jahre, in: Rainer Brockmeyer/ Paul Hamacher (Hrsg.), Schule zwischen Recht, Politik und Planung, Paderborn u.a. 1982, S. 166-189, insb. S. 180 f. 96 Siehe etwa zur Diskussion in der 17. WP des Deutschen Bundestages (2009– 2013): Antrag der SPD-Fraktion „Kooperativen Bildungsföderalismus mit einem neuen Grundgesetzartikel stärken“, Deutscher Bundestag, 17. WP, BT-Drs. 17/8455 v. 24.01.2012; Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Konsequenzen aus dem nationalen Bildungsbericht ziehen – Bildungsblockaden aufbrechen und mehr Teilhabe ermöglichen“, Deutscher Bundestag, 17. WP, BT-Drs. 17/11074 v. 17.10.2012. Außerdem: Frank-Walter Steinmeier (als damaliger Vorsitzender SPD-Bundestagsfraktion), „Das Kooperationsverbot ist Blödsinn. Es muss weg“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.01.2012; Sylvia Löhrmann/Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), „Nur das Kooperationsverbot lockern reicht nicht“ (Gastbeitrag), in: Financial Times Deutschland v. 09.05.2012. Die schwarz-gelbe Bundesregierung strebte demgegenüber nur eine Erweiterung der Kooperation von Bund und Ländern im Wissenschaftsbereich an. Siehe den – nicht verabschiedeten – „Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91b)“, Deutscher Bundestag, 17. WP, BT-Drs. 17/10956 v. 10.10.2012. Hierzu und Überblick zu den Vorschlägen zur Lockerung oder Abschaffung des „Kooperationsverbotes“: Margrit Seckelmann, Das sog. „Kooperationsverbot“ und die Mittel zu seiner Behebung. Sollen Art. 91b bzw. 104b GG modifiziert werden?, in: DÖV 2012, S. 701-709. Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD für die 18. WP des Deutschen Bundestages (2013–2017) sieht in Bezug auf das sogenannte Kooperationsverbot keine Initiative für eine Grundgesetzänderung vor. Siehe: „Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode“ (http://
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hebung des sogenannten Kooperationsverbots sowohl im Hochschul- wie auch im Schulbereich und eine Wiedereinführung eines länderübergreifenden „Bildungsrates“ gefordert wird. Es wird zudem vorgeschlagen, ein solches Beratungsgremium könne Schulentwicklungsprogramme konzipieren und Modellversuche betreuen, wie es die BLK vor ihrer Abschaffung getan habe.97 Möglicherweise bahnt sich damit, wenn auch noch zaghaft, eine Renaissance von Bund-Länder-Versuchsprogrammen an.
www.cdu.de/artikel/der-koalitionsvertrag-von-cdu-csu-und-spd), insb. Bildungskapitel S. 26 ff. 97 So: Benjamin Edelstein/Jutta Allmendinger, Wofür brauchen wir eine nationale Bildungsstrategie?, in: Ute Erdsiek-Rave/Marei John-Ohnesorg (Hrsg.), Nationale Bildungsstrategie (Schriftenreihe des Netzwerk Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung), Berlin 2012, S. 23. Ähnliche Vorstellungen einer Bundesfinanzierung einzelner schulischer Projekte: Jürgen Oelkers, Bildungsföderalismus und Kooperationsverbot, Expertise für Deutsche Telekom-Stiftung und Robert-Bosch-Stiftung, 2011 (Online verfügbar: http://www.telekom-stiftung.de/dtag/cms/contentblob/Telekom-Stiftung/de/ 1520810/blobBinary/Expertise.pdf), S. 27 ff.
Siebtes Kapitel
Überblick zu den Schulversuchen der letzten fünfzig Jahre und aktuelle Situation I. Schulversuche in den westdeutschen Ländern bis 1990 Nach der im Schuljahr 1965/1966 erfolgten umfassenden Bestandsaufnahme der Schulversuche in den westdeutschen Ländern durch das Deutsche Institut für pädagogische Forschung wurde in den letzten fast fünfzig Jahren keine vergleichbare bundesweite Erhebung mehr durchgeführt. Zu Beginn der 1970er Jahre gab es lediglich noch Bestandaufnahmen für einzelne Bundesländer, so für Niedersachsen und Schleswig-Holstein.1 Für die Jahre nach 1965 bis Anfang 1977 erschließen sich der Umfang und die Gegenstände von Schulversuchen indirekt über eine ebenfalls in der Mitverantwortung des DIPF erschienenen Dokumentation über deutschsprachige Veröffentlichungen zu Schulversuchen in diesem Zeitraum.2 Verzeichnet sind darin neben wissenschaftlichen Publikationen auch Erfahrungs- und Ergebnisberichte von Versuchsschulen und Projektgruppen sowie Hinweise auf damals geltende Rechtsvorschriften, Errichtungserlasse für Schulversuche sowie parlamentarische Materialien. Insbesondere in den aufgelisteten Antworten auf parlamentarische Anfragen in den Ländern und Berichten der Landesregierungen an die Landtage finden sich jeweils landes- und zumeist themenbezogen Aussagen über den Umfang von Schulversuchen.3 1 Siehe: Kurt Aurin (Hrsg.), Schulversuche in Planung und Erprobung. Innova tionsstudien zur Schulreform an niedersächsischen Modellschulen und Schulversuchen, Hannover u.a. 1972; Kultusministerium Schleswig-Holstein (Hrsg.), Schule im Versuch. Erforschung, Ergebnisse, Berichte von Schulversuchen, Schriftenreihe der Landesregierung Schleswig-Holstein, Kiel 1970. 2 Annemarie Schaffernicht, Schulversuche und ihre wissenschaftliche Begleitung, Weinheim 1977. 3 Exemplarisch: Reform des Schulwesens. Zwischenbericht der Landesregierung über eine 1. Auswertung der Modelle, Versuche und Versuchsprogramme im Elementar- und Schulbereich in Baden-Württemberg (Vorlegung gem. Landtagsbeschluss v. 16.07.1970, LT-Drs. 5/2868), Landtag Baden-Württemberg, 6. WP, LT-Drs. 6/9005 v. 11.02.1976.
7. Kap.: Überblick zu den letzten fünfzig Jahren und aktuelle Situation
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In diese reformbewegte Zeit Ende der 1960er bis Ende der 1970er Jahre fällt die Gründung einiger bundesweit bekannt gewordener Versuchsschulen, über die es ein zum Teil reichhaltiges Schrifttum gibt. Als Beispiel seien genannt: ● die „Laborschule“ und das „Oberstufen-Kolleg“ in Bielefeld, beide 1974 auf Initiative des Bildungswissenschaftlers Hartmut von Hentig in Verbindung mit dem Aufbau der Universität Bielefeld gegründet;4 ● die „Glocksee-Schule“, ein 1972 in Hannover auf Elterninitiative gemeinsam mit dem Soziologen Oskar Negt eingerichteter Schulversuch in der Grundschule, der später auf die Sekundarstufe I ausgeweitet wurde;5 ● die „Freie Schule Frankfurt“, 1974 ebenfalls als Elterninitiative in der Kontinuität der antiautoritären Erziehung aus einer Kindergartengruppe heraus gegründete sechsjährige Grundschule, als Schulversuch 1973 zunächst abgelehnt und später nach einem Rechtsstreit als Ersatzschule mit besonderer pädagogischer Prägung (Versuchsschule) genehmigt;6 4 Dazu
statt vieler: Hartmut von Hentig, Die Bielefelder Laborschule. Aufgaben, Prinzipien, Einrichtungen. Eine empirische Antwort auf die veränderte Funktion der Schule, 5. Aufl., Bielefeld 1998; Annemarie von der Groeben/Hartmut von Hentig/ Helga Kübler/Annelie Wachendorf (Hrsg.), Strukturplan der Bielefelder Laborschule, Bielefeld 1988; Rainer Watermann/Susanne Thurn/Klaus-Jürgen Tillmann/Petra Stanat (Hrsg.), Die Laborschule im Spiegel ihrer PISA-Ergebnisse. Pädagogisch-didaktische Konzepte und empirische Evaluation reformpädagogischer Praxis, Weinheim/ München 2005; Ludwig Huber/Jupp Asdonk/Helga Jung-Paarmann/Hans Kroeger/ Gabriele Obst (Hrsg.), Lernen über das Abitur hinaus. Erfahrungen und Anregungen aus dem Oberstufen-Kolleg Bielefeld, Seelze 1999; Helga Jung-Paarmann, Reform pädagogik in der Praxis – Geschichte des Bielefelder Oberstufen-Kollegs, Bd. 1: 1969– 1982, Bielefeld 2010; Ludwig Huber/Klaus-Jürgen Tillmann, Versuchsschulen und das Regelschulsystem – Bielefelder Erfahrungen, Bielefeld 2005. – Zu beiden Versuchsschulen später auch Dritter Teil Erstes Kapitel III. 4.). 5 Oskar Negt, Schule als Erfahrungsprozeß. Gesellschaftliche Aspekte des Glocksee-Projekts, in: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung, Heft 22/23 (1975/76), S. 18-37; Lehrergruppe Glocksee-Schule, Die Glocksee-Schule in Hannover, in: Manfred Borchert/Karin Derichs-Kunstmann (Hrsg.), Schulen, die ganz anders sind. Erfahrungsberichte aus der Praxis für die Praxis, Frankfurt a.M. 1979, S. 41-62; Thomas Ziehe, Vom Umgang mit Theorie im Schulversuch Glocksee, in: Dietrich Goldschmidt/Peter Martin Roeder (Hrsg.), Alternative Schulen? Stuttgart 1979, S. 299-231; Ulrike Köhler/Doris Krammling-Jöhrens, Die Glocksee-Schule. Geschichte – Praxis – Erfahrungen, Bad Heilbrunn 2000; Benner/Kemper, Reform pädagogik, Teil 3.2, S. 304-321. 6 Monika Seifert/Herbert Nagel, Nicht für die Schule leben. Ein alternativer Schulversuch, Frankfurt a.M. 1977; Renate Stubenrauch, Was ist die Freie Schule Frankfurt? Schriftenreihe der FSF, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001; Marei Hartlaub, Konzept der Freien Schule Frankfurt. Schriftenreihe der FSF, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2004. – Vergleichbare „Freie Schulen“ aus der Studentenbewegung der 1960er Jahre (anti-
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
● das „Grundschulprojekt Gievenbeck“, ein 1979 als BLK-Modellprojekt geförderter Schulversuch eines Ganztagszweigs für Kinder aus einem sozialen Brennpunkt an der Wartburg-Grundschule in Münster.7 Fast vollständig erfasst unter jeweils eingehender Beschreibung der 191 Schulen sind die Gesamtschulversuche Anfang der siebziger Jahre durch die bereits erwähnte dreibändige KMK-Dokumentation zu diesen Versuchen aus dem Jahre 1974. Danach kamen nur noch wenige Gesamtschulen in Form von Versuchsschulen hinzu.8 Weitgehend erfasst sind die zwischen 1971 und 2009 im Rahmen der BLK-Modellversuchsförderung durchgeführten rund 4900 Einzelversuche, wobei in den entsprechenden Auflistungen allerdings fast nie eine Unterscheidung nach Schulversuchen im schulrechtlichen Sinn und rein pädagogischen oder organisatorischen Modellversuchen getroffen wurde. Überblicke sind in den zahlreichen von der BLK herausgegebenen Informationsschriften enthalten sowie vor allem in den beiden Berichten zur Umsetzung von Modellversuchen im Bildungswesen aus den Jahren 1989 und 1995, veröffentlicht durch die BLK bzw. das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft.9 Der Umfang und die Gegenstände der Schulversuche seit den 1980er Jahren – über die BLK-Modellversuche hinaus – lassen sich bis heute erneut vor allem aus den Antworten auf entsprechende parlamentarische Anfragen in den Ländern entnehmen. So berichtete die hessische Landesregierung 1989 in einer Antwort auf eine Große Anfrage, dass 349 Schulen – fast jede fünfte Schule in Hessen – im Schuljahr 1987/1988 an Schulversuchen beteiligt waren, davon 246 Schulen an Schulversuchen und 103 Schulen an Modellversuchen. Letzteres meinte die BLKModellversuche, während man unter Schulversuche nicht solche im schulrechtlichen Sinn, sondern Versuche ohne Bundesbeteiligung verstand. Durchgeführt autoritäre Kinderläden, Schülerläden) und aus Elterninitiativen heraus sind seit den 1970er Jahren v ielfach entstanden. Sie haben teilweise auch heute noch den Status als Schulversuch. Ein Großteil hat sich 1978 im „Bundesverband der Freien Alter nativschulen“ zusammengeschlossen, dem aktuell 88 Schulen angehören. Siehe: http:// www.freie-alternativschulen.de. Zur Entwicklung dieser Alternativschulbewegung: Hans Paukens, Historische Vorläufer und Ursprünge der Alternativschulen, in: Manfred Borchert/Karin Derichs-Kunstmann (Hrsg.), Schulen, die ganz anders sind. Erfahrungsberichte aus der Praxis für die Praxis, Frankfurt a.M. 1979, S. 174 ff. 7 Dazu: Dietrich Benner/Jörg Ramseger, Abschlußbericht der Wissenschaftlichen Begleitung über die vierjährige Modellphase des Grundschulprojekts Gievenbeck an der Wartburgschule in Münster, Münster 1984 (Online verfügbar unter: http:// www.pedocs.de/volltexte/2009/491/pdf/Ramseger_Joerg_Abschlussbericht_der_ wissenschaftlichen_Begleitung_ueber_die_vierjaehrige_); Benner/Kemper, Reform pädagogik, Teil 3.2, S. 291-303. 8 Siehe Zweiter Teil Sechstes Kapitel II. 3. 9 Siehe oben S. 323 Fn. 76.
7. Kap.: Überblick zu den letzten fünfzig Jahren und aktuelle Situation
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wurden danach insgesamt 83 Versuchsvorhaben, aufgeteilt in 62 Schulversuche und 21 Modellversuche, über die im Einzelnen mit den Namen der Schulen, den Zielsetzungen und den Versuchszeiträumen berichtet wurde.10 Schulversuche im schulrechtlichen Sinn waren davon knapp die Hälfte. Zu den Laufzeiten der Versuchsvorhaben wurde berichtet, dass nahezu 75 % auf eine solche von vier bis sechs Jahren eingerichtet waren. Vier Schulversuche liefen ohne eine Befristung, zwei davon bereits über einen bemerkenswert langen Zeitraum, nämlich seit 27 Jahren („Englisch in der Grundschule“) bzw. 20 Jahren („Eingangsstufe – differenzierte Grundschule“).11 Entgegen der auch von den Kultusministerien stets selbst aufgestellten Anforderung an die Validierung wurden fast 70 % der Schulversuche nicht wissenschaftlich begleitet.12 In der Vorbemerkung ihrer Antwort kritisierte dies die damalige Landesregierung sogar selbst überdeutlich. Schulversuche zur Erprobung und Vorbereitung notwendiger Innovationen im Schulwesen seien gegenüber Kindern, Eltern und Lehrern nur zu verantworten, wenn sie pädagogisch sinnvoll, wissenschaftlich begründet und zeitlich befristet angelegt würden. Diese unstreitige Grundlage für Schulversuche sei „in der Vergangenheit durch eine ausufernde Vielzahl von Versuchen, mit denen politisch gewollte Strukturveränderungen des Schulwesens faktisch vorweggenommen wurden, sowie durch unbefristete, zumeist wissenschaftlich und schulaufsichtlich nicht hinreichend ausgewertete Dauerversuche diskreditiert worden.“13 Freilich war der harsche Vorwurf nicht wirklich an die eigene Adresse gerichtet, sondern damit tadelte die zwei Jahre zuvor ins Amt gekommene CDU/ FDP-Regierungskoalition die Schulpolitik der seit der Nachkriegszeit stets von der SPD geführten Vorgängerregierungen in Hessen. Die Landesregierung versprach, ab jetzt keine neuen Versuche zu genehmigen, die den aufgezeigten Kriterien nicht entsprechen würden, und die seinerzeit laufenden Versuche einer kritischen Aufarbeitung zu unterziehen. Doch kam es schon zwei Jahre später zu einem erneuten Regierungswechsel in Hessen und der nunmehr wieder der SPD angehörende Kultusminister zeichnete in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zu „Schul- und Modellversuche im Schuljahr 1991/92“ nur noch eine positive Bilanz. Die Zahl der Versuche war allerdings mit 35 zwischenzeitlich deutlich mehr als halbiert; wissenschaftlich begleitet wurden davon 16.14 10 Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage des Abg. Korn (CDU) und Fraktion und des Abg. Kappel (FDP) und Fraktion betreffend Schulversuche in Hessen, Hessischer Landtag, 12. WP, LT-Drs. 12/4991 v. 21.08.1989, S. 1 f. 11 Ebenda, S. 5. 12 Ebenda, S. 6. 13 Zitat: Ebenda, S. 1 i.V.m. Berichtigung zu Drucksache 12/4991 v. 22.09.1989. 14 Antwort des Hess. Kultusministers, Kleine Anfrage Abg. Kartmann u.a. (CDU) „Schul- und Modellversuche im Schuljahr 1991/92“, Hessischer Landtag, 13. WP, LTDrs. 13/2442 v. 15.07.1992, insb. S. 1, 4, 6 f.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
II. Schulversuche in den Ländern seit der Wiedervereinigung Ausführliche Bestandsaufnahmen über Schulversuche in Form von Berichten und parlamentarischen Antworten der jeweiligen Landesregierungen finden sich für die Zeit nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 bis heute für: ● Baden-Württemberg 2009 (110 Schulversuche, davon 23 an allgemeinbildenden Schulen und 87 an beruflichen Schulen),15 ● Bayern 2011 zum Teilbereich Schulmodelle (4 Schulversuche mit insgesamt 58 teilnehmenden Schulen),16 ● Berlin 2002 (33 Schulversuche, davon 27 an allgemeinbildenden Schulen und 6 an beruflichen Schulen, mit insgesamt 273 teilnehmenden Schulen)17 und 2006 (weitere 12 neue Schulversuche, davon 10 an allgemeinbildenden und 2 an beruflichen Schulen, mit insgesamt 26 teilnehmenden Schulen),18 ● Hamburg 1993 (10 Schulversuche, davon 6 an allgemeinbildenden Schulen und 4 an beruflichen Schulen; hinzu kommen noch BLK-Modellversuche),19 ● Rheinland-Pfalz 1993 (29 Schul- und Modellversuche, davon 16 als BLKModellversuche),20 15 Antwort
des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport, Kleine Anfrage Abg. Gerhard Kleinböck (SPD) „Gesamtübersicht Schulversuche“, Landtag von BadenWürttemberg, 14. WP, LT-Drs. 14/5272 v. 19.10.2009. – Bereits 1987 hatte es schon einmal eine umfangreiche Auflistung gegeben: Mitteilung des Ministeriums für Kultus und Sport, „Schulversuche und Modellschulen in Baden-Württemberg“, Landtag von Baden-Württemberg, 9. WP, LT-Drs. 9/5055 v. 30.11.1987. 16 Antwort des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, Schriftliche Anfrage Abg. Günther Felbinger (Freie Wähler) „Schulmodelle in Bayern“, Bayerischer Landtag, 16. WP, LT-Drs. 16/8974 v. 14.07.2011. Das bayerische Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung listet daneben auf seiner Homepage für das Jahr 2012 sieben laufende Schul- und Modellversuche in Bayern auf. 17 Antwort des Senators für Bildung, Jugend und Sport v. 13.09.2002, Kleine Anfrage Nr. 15/633 Abg. Mieke Senftleben (FDP) „Schulversuche in Berlin“, Abgeordnetenhaus von Berlin, 15. WP, Landespressedienst 173/2002. 18 Antwort des Senators für Bildung, Wissenschaft und Forschung v. 28.11.2006, Kleine Anfrage Abg. Mieke Senftleben (FDP) „Schulversuche: Ziel, Sinn und Kosten?“, Abgeordnetenhaus Berlin, 16. WP, Drs. 16/10022. 19 Antwort des Senats, Kleine Anfrage Abg. Ingeborg Knipper (CDU) „Schulversuche“, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, 14. WP, Drs. 14/3958 v. 30.04.1993, S. 1. 20 Antwort des Ministeriums für Bildung und Kultur, Kleine Anfrage Abg. Lelle (CDU) „Modellversuche im Schulbereich“, Landtag Rheinland-Pfalz, 12. WP, LTDrs. 12/2821 v. 18.03.1993, S. 3 f.
7. Kap.: Überblick zu den letzten fünfzig Jahren und aktuelle Situation
337
● Sachsen 2006 (10 Schulversuche, davon 2 an allgemeinbildenden Schulen und 8 an beruflichen Schulen mit Teilnahme an letzteren Versuchen von insgesamt 51 beruflichen Schulen),21 ● Sachsen-Anhalt 1994 (11 Schul- und Modellversuche; Ankündigung eines Landesschulversuchsprogramm mit weiteren 12 Versuchsprojekten),22 ● Thüringen 2010 (4 Schulversuche mit insgesamt 60 teilnehmenden Schulen und 2 BLK-Modellversuche).23
III. Exemplarisch: Schulversuche in Nordrhein-Westfalen Das Land Nordrhein-Westfalen legte noch bis Anfang 2000 seinen Schwerpunkt auf die Durchführung von BLK-Modellversuchen. Es beteiligte sich an allen seinerzeit laufenden 12 Versuchsprogrammen im Schulbereich und führte überdies weitere 9 BLK-Modellversuche durch. Hingegen soll es damals nach einer Antwort auf eine Kleine Anfrage seit 1996 keinen einzigen Schulversuch im schulrechtlichen Sinn gegeben haben.24 Übersehen hatte das antwortende Kultusministerium allerdings die Bielefelder Laborschule und das dortige Oberstufen-Kolleg, die seit 1974 bis heute in der Doppelfunktion als staatliche Versuchsschule und Wissenschaftliche Einrichtung arbeiten, zudem den 1998 nach 15 Jahren ausgelaufenen Schulversuch „Kollegschule“,25 den Schulver-
21 Antwort
des Staatsministeriums für Kultus, Kleine Anfrage Abg. Astrid GüntherSchmidt (Bündnis 90/Die Grünen) „Schulversuche in Sachsen“, Sächsischer Landtag, 4. WP, LT-Drs. 4/3566 v. 12.01.2006, S. 1 ff. 22 Antwort der Landesregierung, Kleine Anfrage Abg. Bernhard Ritter (CDU) „Schulversuche“, Landtag von Sachsen-Anhalt, 2. WP, LT-Drs. 2/376 v. 05.12.1994, S. 20 ff. 23 Antwort des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Kleine Anfrage Abg. Hennig (Die Linke), Thüringer Landtag, 5. WP, Drs. 5/753, S. 3 ff. 24 Siehe: Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage der Abg. MarieTheres Kastner (CDU), Landtag NRW, 13. WP, LT-Drs. 13/1065 v. 12.04.2001, S. 2 f., die den Zeitraum 1996–2001 umfasst. 25 Zum Schulversuch Kollegschule siehe unten Zweiter Teil Neuntes Kapitel III. – Aus zwei parlamentarischen Antworten aus den Jahren 1988 und 1991 ergibt sich, dass Nordrhein-Westfalen zu dieser Zeit mit über 30 Schulversuchen zwar ein Drittel mehr Versuche durchführte, sein Engagement allerdings auch seinerzeit vorwiegend auf die Beteiligung an BLK-Modellversuche konzentrierte. Siehe: Antwort der Landesregierung, Kleine Anfrage Abg. Reul (CDU) „Schulversuche in Nordrhein-Westfalen“, Landtag Nordrhein-Westfalen, 10. WP, LT-Drs. 10/3518 v. 25.08.1988; Antwort der Landesregierung, Kleine Anfrage Abg. Reichel (FDP) „Schul- bzw. Modellversuche
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
such „Förderschule“ (1994–2000),26 den Schulversuch „Bilingualer Unterricht an Realschulen“ (1992–2001)27 sowie den bis heute laufenden Schulversuch „Islamkunde in deutscher Sprache“ (seit 1999). Letzterer ist ein religionskundliches Angebot ohne Verkündungscharakter, das ab dem Schuljahr 2012/2013 schrittweise durch einen „Islamischen Religionsunterricht“ als ordentliches Lehrfach abgelöst wird. 28 und ihre praktische Auswirkung auf den Schulalltag“, Landtag Nordrhein-Westfalen, 11. WP, LT-Drs. 11/307 v. 07.09.1990. 26 Dazu: Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Schulversuch Förderschule. Abschlussbericht, Düsseldorf 2001. Online verfügbar: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Schulsystem/Schulformen/ Foerderschulen/AbschlussberichtFoerderschule.pdf. 27 Albert-Reiner Glaap, Schulversuch Bilingualer Unterricht an Realschulen in Nordrhein-Westfalen. Abschlussbericht, im Auftrag des Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2011 (Online verfügbar: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Unterricht/Faecher/BilingualerUnterricht/BerichtRL.pdf). 28 Zu diesem religionskundlichen Angebot ohne Verkündungscharakter, an dem im Schuljahr 2009/2010 an 128 Schulen rund 10.000 muslimische Schüler teilnahmen: RdErl. des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung v. 28.05.1999 „Islamische Unterweisung als eigenständiges Unterrichtsfach (Schulversuch)“, abgedruckt in: ABl. NRW 1999, S. 96; Landesinstitut für Schule NRW, Islamkunde in Nordrhein-Westfalen, Soest 2007; Günter Winands, Religiöse Bildung und Integration von Muslimen, in: Bülent Ucar/Danja Bergmann (Hrsg.), Islamischer Religionsunterricht in Deutschland: Fachdidaktische Konzeption, Ausgangslage, Erwartungen und Ziele, Göttingen 2010, S. 23 f. Die Einführung des „Islamischen Religionsunterrichts“ wurde in Nordrhein-West falen Ende 2011 nach jahrelanger Vorbereitung durch eine auf Vorarbeiten der Deutschen Islamkonferenz aufbauende schulgesetzliche Übergangsregelung, § 132a SchulG, ermöglicht. Siehe: Gesetz zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (7. Schulrechtsänderungsgesetz) v. 22.12.2011 (GV. NRW S. 223). Zur Intention siehe die Gesetzesbegründung: Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Gesetz zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (6. Schulrechtsänderungsgesetz), Landtag Nordrhein-Westfalen, 15. WP, LT-Drs. 15/2209 v. 21.06.2011, S. 5 ff.; Sachverständigenanhörung zu diesem Gesetzentwurf im Ausschuss für Schule und Weiterbildung, Landtag Nordrhein-Westfalen, APr 15/279 v. 14.09.2011. Zur schrittweisen Überführung des Schulversuchs: RdErl. des Ministeriums für Schule und Weiterbildung v. 06.03.2012 „Einführung des islamischen Religionsunterrichts zum Schuljahr 2012/2013“. Online verfügbar im Schulmail-Archiv: http://www.schulministerium. nrw.de/SV/Schulmail/Archiv/1203062/index.html. Erläuterung hierzu: Thomas Heuß ner/Ahmet Ünalan, Islamischer Religionsunterricht. Ordentliches Lehrfach, in: Schule NRW 2012, S. 122-125. Zur allgemeinen bundesweiten Diskussion der Thematik und vergleichbaren Bestrebungen in anderen Bundesländern: Deutsche Islam Konferenz (Hrsg.), Islamischer Religionsunterricht in Deutschland. Perspektiven und Herausforderungen. Doku-
7. Kap.: Überblick zu den letzten fünfzig Jahren und aktuelle Situation
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Im Jahr 2001 brachte Nordrhein-Westfalen den laut der damaligen Bildungsministerin Gabriele Behler (SPD) „größten Schulversuch Deutschlands“29 auf den Weg, das zwischen 2002 und 2008 mit Unterstützung der BertelsmannStiftung durchgeführte Modellvorhaben „Selbstständige Schule“. Die teilnehmenden Schulen in diesem sechs Jahre lang dauernden Modellversuch wurden gemeinsam mit ihren Schulträgern zur Erprobung neuer Formen der eigenverantwortlichen Steuerung von Schule ermächtigt. Ziel war es, durch mehr Entscheidungen vor Ort die Qualität der schulischen Arbeit, insbesondere des Unterrichts zu verbessern. An diesem Schulversuch, für den eine eigene schulgesetzliche Grundlage einschließlich einer Ausführungsverordnung für eine Reihe von Abweichungen von allgemeinen schulrechtlichen Regeln geschaffen wurde, haben am Ende 278 Schulen und 413 Korrespondenzschulen in NordrheinWestfalen teilgenommen.30 Der damalige Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) bezeichnete den Schulversuch als das seinerzeit wichtigste Reformprojekt seines Landes im Bildungssektor.31 Neben diesem Großversuch sind in Nordrhein-Westfalen seitdem noch folgende Schulversuche gestartet: ● Erprobungsversuch „Personalkostenpauschale“ (§ 115 Abs. 2 SchulG NRW) in der Ersatzschulfinanzierung (2006–2010).32 ● Schulversuch „Kompetenzzentren für die sonderpädagogische Förderung“ (2008–2014). Ziel des 2014 ersatzlos auslaufenden Schulversuches war es, durch den Ausbau von Förderschulen zu regionalen Kompetenzzentren für sonderpädagogische Förderung und deren Kooperation mit allgemeinen Schulen Schüler mit entsprechendem Förderbedarf möglichst wohnortnah in der Regelschule zu unterrichten. Zunächst wurde mit 20 Pilotregionen begonnen, mentation Tagung der Deutschen Islam Konferenz 13. bis 14. Februar 2011 in Nürnberg (Online verfügbar unter: http://www.deutsche-islam-konferenz.de); Martin Stock, Islamunterricht in öffentlichen Schulen in Nordrhein-Westfalen. Zur Lage nach dem Urteil des BVerwG vom 23.2.2005, in: NWVBl. 2005, S. 285-300. 29 Zitat nach: Rheinische Post v. 18.07.2002. 30 Näher dazu unten Zweiter Teil Neuntes Kapitel III. 3. 31 Wolfgang Clement, Früher besser ausbilden und gemeinsam das Dienstrecht ändern, in: Nelson Killius/Jürgen Kluge/Linda Reisch (Hrsg.), Die Bildung der Zukunft, Frankfurt a.M. 2003, S. 342. 32 In einem auf fünf Jahre befristeten Zeitraum wurde aufgrund der speziellen schulgesetzlichen Versuchsermächtigung des § 115 Abs. 2 SchulG NRW mit 39 Ersatzschulen in den Regierungsbezirken Arnsberg und Detmold als Modellregionen erprobt, ob auch die Personalausgaben zur Deckung des lehrplanmäßigen Unterrichts abweichend von § 106 Abs. 2 Nr. 1 SchulG NRW sowie von § 107 Abs. 2 SchulG NRW ohne größere nachteilige finanzielle Auswirkungen für alle Beteiligten pauschal abgerechnet werden können.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
seit 2010 wurde der Schulversuch auf 50 Pilotregionen ausgebaut.33 Diese umfassten teilweise ganze Kreise und kreisfreie Städte, wodurch sich damit laut Schulministerium am Ende der Versuchsphase insgesamt rund ein Fünftel des Landes in einem Schulversuch befand.34 Der Schulversuch knüpfte an eine seit 2005 im Schulgesetz enthaltene Ermächtigung zur Errichtung von Kompetenzzentren für die sonderpädagogische Förderung an (§ 20 Abs. 5 Satz 2–5 SchulG NRW) und sollte ursprünglich den Erlass einer dort vorgesehenen Rechtsverordnung vorbereiten. Nach dem Regierungswechsel 2010 beschloss die neue rot-grüne Regierungsmehrheit, im Zuge eines von ihr verfolgten Inklusions-Konzepts den Schulversuch nicht mehr weiter zu verfolgen und die bestehenden Kompetenzzentren aufzulösen. Nach kon troversen Diskussionen, nicht zuletzt mit den Kommunalen Spitzenverbänden wegen der Kosten, wurde im Herbst 2013 durch ein „Erstes Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz)“ festgelegt, dass künftig im nordrhein-westfälischen Schulsystem Menschen mit und ohne Behinderung im Regelfall in der allgemeinen Schule gemeinsam unterrichtet werden sollen.35 Dieses Gesetz bestimmt gleichzeitig das Ende des Schulversuchs „Kompetenzzentren für die sonderpädagogische Förderung“ mit Ablauf des Schuljahres 2013/2014.36 Für eine umfassende Entwicklung eines inklusiven Schulsystems sei, so die Begründung für die Aufhebung der Kompetenzzentren, eine Anbindung an eine Förderschule nicht zielführend. Die Kompetenzzentren hätten allerdings während des Schulversuchs eine „Türöffner-Funktion“ entwickelt. Kernele33 Dazu: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-West falen, „Eckpunkte für den Ausbau von Förderschulen zu Kompetenzzentren für sonderpädagogische Förderung gem. § 20 Abs. 5 Schulgesetz NRW“ v. 17.10.2007. Online verfügbar unter: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Schulsystem/Modellprojekte/ Kompetenzzentren_sonderpaedagogische_Foerderung/Eckpunkte.pdf). Siehe auch: Rolf Werning, Kompetenzzentren für sonderpädagogische Förderung im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen in Nordrhein-Westfalen. Untersuchung der Grundkonzeption auf ihre Eignung zur Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems in Nordrhein-Westfalen, Gutachten, Hannover (2011); Online verfügbar unter: http://www.schulministerium.nrw.de/docs/Schulsystem/Inklusion/Gutachten-_ Kompetenzzentren-fuer-sonderpaedagogische-Foerderung-im-Bereich-der-Lern-undEntwicklungsstoerungen-in-Nordrhein-Westfalen_.pdf. 34 So: Schulministerin Sylvia Löhrmann, Landtag Nordrhein-Westfalen, 15. WP, Plenarprotokoll 15/16 v. 01.12.2010, S. 1226. 35 Siehe: Erstes Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz) v. 05.11.2013 (GV. NRW S. 613), wodurch zum 01.08.2014 in § 2 Abs. 5 SchulG NRW ein entsprechender Bildungsund Erziehungsauftrag zur „inklusiven Bildung“ verankert und in dessen Ausfüllung die Bestimmungen der §§ 19, 20 SchulG NRW zur sonderpädagogischen Förderung grundlegend neu gefasst werden. 36 Art. 1 Ziff. 6d) i.V.m. Art. 2 Abs. 2 des 9. Schulrechtsänderungsgesetz.
7. Kap.: Überblick zu den letzten fünfzig Jahren und aktuelle Situation
341
mente des Schulversuchs könnten in ein inklusives Schulsystem übertragen werden.37 ● Schulversuch „Alevitischer Religionsunterricht nach den Grundsätzen der alevitischen Gemeinde Deutschland“ (seit 2008).38 Der Schulversuch beschränkte sich zunächst auf 18 Grundschulen. Ab dem zweiten Halbjahr des Schuljahres 2011/2012 dehnte das Schulministerium den Schulversuch auf weiterführende Schulen aus, wobei zunächst eine Gesamtschule damit begann.39 ● Schulversuch „Leistungsbewertung ohne Ziffernzeugnisse“ (LUZI) an Grundschulen in Nordrhein-Westfalen (2008–2012). Der Schulversuch hatte vier Grundschulen ermöglicht, auf Noten in Zeugnissen bis einschließlich Klasse 3 zu verzichten und stattdessen einzig Leistungsbeschreibungen in Berichtsform zu geben. Durch eine Anfang 2012 erfolgte, auf den Schulversuch Bezug nehmende Änderung der Ausbildungsordnung Grundschule (§ 5 Abs. 2, 3 und § 6 Abs. 3) kann die jeweilige Schulkonferenz nunmehr entscheiden, dass bis einschließlich der 3. Klasse auf Ziffernoten in den Zeugnissen verzichtet wird.40 37 Siehe: Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung „Erstes Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz)“, Landtag NRW, 16. WP., LT-Drs. 16/2432 v. 21.03.2013, S. 55 f. 38 Siehe dazu: RdErl des Ministeriums für Schule und Weiterbildung v. 21.07.2008 „Alevitischer Religionsunterricht nach den Grundsätzen der alevitischen Gemeinde Deutschland (AABF)“, abgedruckt in: ABl. NRW S. 410, geändert durch RdErl. v. 10.02.2012 (ABl. NRW S. 158). Außerdem: Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW (Hrsg.), Lehrplan für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Alevitischer Religionsunterricht, Klasse 1 bis 4, Heft 2013 der Schriftenreihe „Schule in NordrheinWestfalen“, Frechen 2008; Bericht der Landesregierung zur Unterrichtsversorgung alevitischer Religionsunterricht v. 13.01.2012, Landtag Nordrhein-Westfalen, 15. WP, Vorlage des Ausschusses für Schule und Weiterbildung, LT-Drs. 15/1127; Seyhan Schminke/Dorothea Paschen, Alevitischer Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach, in: Schule NRW 2012, S. 243-244. 39 Die Erweiterung erfolgte mit dem Änderungserlass v. 10.02.2012 (Fn. 38). Gleichzeitig wurde auch ein Kernlehrplan „Alevitische Religionslehre“ für die Sekundarstufe I in Kraft gesetzt. 40 „Verordnung zur Änderung der Ausbildungsordnung Grundschule“ v. 17.02.2012, (ABl. NRW S. 159). – Zum Schulversuch und zur Änderung der Ausbildungsordnung Grundschule, siehe: Pressemitteilung des Ministeriums für Schule und Weiterbildung v. 01.02.2012, online abrufbar unter: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Presse/ Pressemitteilungen/index.html. Zur wissenschaftlichen Begleitung: Wilfried Bos/Silvia-Iris Beutel/Nils Berkemeyer/Sarah Schenk, Leistungsbewertung ohne Ziffernzeugnisse – ein Modellversuch in NRW. Online verfügbar: http://www.fk12.tu-dortmund.de/cms/IADS/de/projekte/ Projekt_Leistungsbewertung_ohne_Ziffernzeugnisse.pdf.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
● Schulversuch „Stärkung des naturwissenschaftlich-technischen Aufgabenfeldes in einzelnen Fachbereichen der Beruflichen Gymnasien“ (seit 2008). Der Schulversuch ermöglicht, abweichend von der KMK-Oberstufenvereinbarung (Ziff. 8.3)41, ein Profil bildendes Leistungskursfach als zweites Prüfungsfach im Abitur des Beruflichen Gymnasiums.42 ● Diverse, an einzelne Berufskollegs durchgeführte Schulversuche zum Fächerkanon im Bereich der beruflichen Bildung. Beispielsweise wurde bis Mitte 2011 im Rahmen eines Schulversuchs die Erweiterung der Fachoberschule Klasse 12 B in Fachrichtung Technik, fachlicher Schwerpunkt Metalltechnik, um die Profilierung „Fahrzeugtechnik“ an zwei Berufskollegs erprobt und sodann dieser „Schulversuch Fahrzeugtechnik“ ins Regelsystem überführt.43 ● Schulversuch „Fach Wirtschaft an Realschulen“ (seit 2010, auf drei Jahre befristet, beteiligt derzeit 70 Realschulen).44 ● Schulversuch „Leistungskursfach Sport – Schwerpunkt Tanz (erhöhtes Anforderungsniveau) am Gymnasium Essen-Werden“ (seit 2010).45 ● Schulversuch „Abitur an Gymnasien nach 12 oder 13 Jahren“ (seit 2011, bis zum Schuljahr 2023/24 befristet).46 Allen Gymnasien in Nordrhein-West41 Zu
dieser, siehe oben Erster Teil Fünftes Kapitel, Fn. 25. entsprechend den KMK-Schulversuchsregularien im Jahre 2008 gegenüber dem KMK-Sekretariat angezeigte Schulversuch wurde nicht als RdErl. veröffentlicht, findet sich aber seitdem als Hinweis in der einschlägigen „Verordnung über die Ausbildung und Prüfung in den Bildungsgängen des Berufskollegs (Ausbildungs- und Prüfungsordnung Berufskolleg – APO-BK)“ v. 26.05.1999 i.d.F. v. 10.07.2011 (SGV. NRW S. 223), hier Fußnoten zu den Anlagen D 3–D 23. Der Schulversuch ist in der KMKSchulversuchsliste als Ziff. 69 aufgenommen. 43 Siehe den entsprechenden RdErl. des Ministeriums für Schule und Weiterbildung v. 14.06.2011 (ABl. NRW S. 373) mit vorangestellter Erläuterung. 44 Siehe: RdErl. des Ministeriums für Schule und Weiterbildung betr. „Modell versuch Fach Wirtschaft an Realschulen“ v. 12.04.2010. Online verfügbar: http:// www.schulministerium.nrw.de/SV/Schulmail/Archiv/2010/1004122/index.html.; sowie hierzu ergänzender Erlass v. 18.06.2010, http://www.schulministerium.nrw.de/ SV/Schulmail/Archiv/2010/100618/index.html. – Dazu: Bericht der Landesregierung „Modellversuch Wirtschaft an Realschulen“, Landtag Nordrhein-Westfalen, Ausschuss für Schule und Weiterbildung, 15. WP, Vorlage 15/722 sowie die dazu gehörige Ausschussberatung, Top 5 der 25. Sitzung, Ausschussprotokoll APr 15/277 v. 14.09.2011, S. 22-25; Werner Halver, Chance für eine Ausbildung zum „Wirtschaftsbürger“. Ökonomische Bildung in der Realschule, in: lehrer nrw, Ausgabe 4/2010, S. 13-16. 45 Der Schulversuch wurde 2010 dem KMK-Sekretariat angezeigt und als Ziff. 71 in die KMK-Schulversuchsliste aufgenommen. 46 Siehe: Erlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung betr. Schulversuch „Abitur an Gymnasien nach 12 oder 13 Jahren“ v. 21.09.2010 mit Anla42 Der
7. Kap.: Überblick zu den letzten fünfzig Jahren und aktuelle Situation
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falen hat das Schulministerium einmalig im Herbst 2010 die Möglichkeit eingeräumt, durch eine Beteiligung an diesem Schulversuch die eingeführte Schulzeitverkürzung auf acht Jahre47 wieder rückgängig zu machen. An dem rechtlich nicht problemlosen Schulversuch beteiligen sich 13 Schulen; der Versuchserlass hatte dies bis zu 10 % der Gymnasien, d.h. rund 60 Schulen eröffnet.48 ● Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ (seit 2011). Dieser ursprünglich ebenfalls rechtlich umstrittene Schulversuch wurde, wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit erwähnt, zunächst im Juni 2011 durch das OVG NordrheinWestfalen in einem konkreten Einzelfall gestoppt. Diese Entscheidung führte dazu, dass die beiden Regierungsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen in einem „Schulkonsens“ mit der CDU von der beabsichtigten flächendeckenden Einführung der „Gemeinschaftsschule“ Abstand nahmen und stattdessen schulgesetzlich eine neue „Sekundarschule“ (§ 17a SchulG NRW) eingeführt wurde. Im Zuge dieser Schulgesetznovelle erhielten die nicht beklagten Schulversuche in einer Übergangsvorschrift gesetzlichen Bestandsschutz. Danach können die betroffenen 12 genehmigten Gemeinschaftsschulen bis Ablauf des Schuljahres 2019/2020 und danach auslaufend nach den Versuchsbedingungen arbeiten.49 ● Schulversuch „PRIMUS – Schulversuch zum längeren gemeinsamen Lernen“ (Zusammenschluss von Grundschulen und Schulen der Sekundarstufe I). In der „Primus-Versuchsschule“ bleiben alle Schüler nach der vierten Klasse zusammen und werden bis zur zehnten Klasse gemeinsam unterrichtet. An diesem im Juni 2012 eingeleiteten Schulversuch können nach einer schulgesetzlichen Übergangsvorschrift, die ebenfalls 2011 im Zuge des Schulkonsenses beschlossen wurde, bis zu 15 Schulen mit Beginn des Schuljahres 2013/2014 bzw. 2014/2015 teilnehmen.50 ● Schulversuche zur Unterrichtsorganisation an einzelnen Schulen auf der Grundlage der Experimentierklausel des § 25 Abs. 3 SchulG NRW und des diesbezüglich zu seiner Umsetzung ergangenen Runderlasses des Schulministeriums „Mehr Freiräume für innovative schulische Vorhaben“ vom gen. Online verfügbar unter: http://www.schulministerium.nrw.de/SV/Schulmail/ Archiv/2010/1009212/index.html. 47 Dazu: Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW, Das achtjährige Gymnasium in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2009. 48 Siehe: Renate Acht, Abitur an Gymnasien nach 12 oder 13 Jahren. Schulversuch startet zum kommenden Schuljahr, in: Schule NRW 2011, S. 353-355. Zur rechtlichen Problematik siehe unten Dritter Teil Zweites Kapitel II. 3. 49 Siehe ausführlich unten Zweiter Teil Neuntes Kapitel IV. 3. 50 Siehe ebenfalls unten Zweiter Teil Neuntes Kapitel IV. 4.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
18.06.2008 und in der Neufassung vom 02.07.2012, geändert nochmals am 18.08.2012. Das Ministerium genehmigte bisher zwischen 2008 und Mitte 2012 insgesamt 49 sogenannte Entwicklungsvorhaben als Schulversuch, davon mehr als die Hälfte an Hauptschulen in Zusammenhang mit einer 2007 gestarteten, aber seit dem Regierungswechsel 2010 nicht mehr fortgeführten „Qualitätsoffensive Hauptschule“.51
51 Dazu
ausführlich später Dritter Teil Zweites Kapitel II. 5.
Achtes Kapitel
Versuchsvorschriften im „Entwurf für ein Landesschulgesetz“ der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages (1981) Bereits bei der Darstellung der schulgesetzlichen Entwicklung in der Bundesrepublik wurde hingewiesen auf die Vorarbeiten der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages, die 1981 in dem konkreten Vorschlag eines Musterschulgesetzes mit ausführlicher Begründung der einzelnen Bestimmungen mündeten.1 Bei der seinerzeit wegen der Verfassungsrechtsprechung zum Vorbehalt des Gesetzes notwendigen Neufassung der schulgesetzlichen Grundlagen in den Ländern wurde nicht zuletzt bei der Ausformulierung der Schulversuchsermächtigungen hierauf zurückgegriffen. Für die heutige Auslegung solcher Ermächtigungen sind vor allem die erläuternden Begründungen der einzelnen Bestimmungen gewinnbringend. Aus Sicht der Kommission stellte sich zunächst die Grundfrage, ob die Schulverwaltung auch unter der Geltung des durch die Verfassungsrechtsprechung „erweiterten Parlaments- und Gesetzesvorbehalts einen gesetzlich ungeregelten Spielraum zum Versuch und zum Experiment behalten soll, oder ob alle Abweichungen vom ‚normalen‘ Schulaufbau und vom ‚normalen‘ Curriculum der gesetzlichen Regelung oder doch zumindest der gesetzlichen Legitimation bedürfen.“ Da Versuche dazu dienen könnten, kaum noch zu beseitigende bildungspolitische Tatbestände zu schaffen, und häufig Grundrechtsrelevanz für Eltern und Schüler hätten, z.B. bei Veränderungen in der Differenzierung des Schulwesens, verlange der Vorbehalt des Gesetzes nach einer gesetzlichen Regelung.2 Nach Ansicht der Kommission enthielten die im Anhang der vorliegenden Arbeit wiedergegebenen Versuchsvorschriften des Musterentwurfs (§§ 34 bis 36) einen Vorschlag für die notwendigen Leitentscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers. Hierzu verwies die Kommission auf die Aussagen zu Zielen und Aufgaben von Versuchen (§ 34 Abs. 1), den verschiedenen Versuchsarten (§ 34 Abs. 2 und 3), Verfahrensmodalitäten und Beteiligungsformen des 1 Siehe
oben Zweiter Teil Erstes Kapitel III. einschließlich Zitat: Deutscher Juristentag, Entwurf für ein Landesschulgesetz, S. 221 f. 2 Siehe,
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Parlaments (§ 34 Abs. 5 und 6), Zuständigkeiten und Beteiligungsformen der Schulträger (§ 35) sowie Besonderheiten im Hinblick auf das Schulverhältnis bei Versuchen (§ 36).3 Im Ergebnis verneinte die Kommission die Frage, ob nicht generell jede Einzelentscheidung, eine Versuchsschule oder einen Schulversuch einzurichten, einer besonderen, d.h. über solch allgemeine Gesetzesvorschriften wie in den §§ 34 bis 36 hinausgehenden Grundlage in Form eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung bedürfen, weil jeder Versuch eine Abweichung von dem ebenfalls durch Gesetz oder Rechtsverordnung normierten Regelschulwesen darstellt. Der Gesetzgeber selbst lasse Abweichungen durch eine schulgesetzliche „Global ermächtigung“ zu Versuchszwecken ausdrücklich zu und verschaffe ihnen damit die notwendige demokratische Legitimation. Den Grundrechten von betroffenen Schülern und Eltern könne hinsichtlich Versuchsschulen bei einer gesetzlichen Garantie der Freiwilligkeit der Teilnahme Rechnung getragen werden (wie in § 36 Abs. 1 Satz 2 des Musterentwurfs). Zur Teilnahme an einfachen Schulversuchen seien Schüler zwar verpflichtet (§ 36 Abs. 1 Satz 2), doch bestehe hier grundsätzlich das Recht zum Schulwechsel.4 Eine Globalermächtigung reicht nach Ansicht der Kommission allerdings nicht aus bei von ihr als „flächendeckende Versuche“ bezeichneten Vorhaben, also wenn Versuche in einer solchen räumlichen Ausdehnung eingerichtet werden, dass im Versuchsgebiet wohnende Schüler keine Ausweichmöglichkeit zu einer in zumutbarer Nähe befindlichen Regelschule haben. Flächendeckende Versuche führten zwar nicht rechtlich, aber faktisch zu einem Teilnahmezwang und deshalb bedürfe es wegen der dadurch tangierten Grundrechte von Schülern und Eltern, insbesondere der Wahl des Bildungsganges, einer besonderen gesetzlichen Legitimation, die ausdrücklich für den jeweiligen Fall oder einer Gruppe von Einzelfällen diesen Versuch für zulässig erkläre. Die Kommission hielt es für notwendig, eine entsprechende Bestimmung, wonach flächendeckende Versuche des Gesetzes bedürfen, in ihren Musterentwurf aufzunehmen (§ 34 Abs. 4).5 Eine solche Bestimmung hat allerdings kein Land adaptiert. Zum einen folgt die Unzulässigkeit solcher flächendeckender Versuche bereits aus der in den Schulgesetzen heute oft auch ausdrücklich vorgeschriebenen Vorgabe der Freiwilligkeit für den Besuch von Versuchsschulen. Der Hinweis auf ein besonderes Gesetz könnte zudem nur deklaratorisch sein, ein Hinweis des Gesetzgebers auf die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Globalermächtigung. Dass bei fehlender zumutbarer Schulbesuchsalternative 3 Ebenda. 4 Ebenda, S. 223. – Diese Differenzierung ist sachlich unbegründet, worauf später noch im Dritten Teil Erstes Kapitel III. 2. eingegangen wird. 5 Ebenda, S. 223 f.
8. Kap.: Versuchsvorschriften der Kommission Schulrecht
347
Versuche nicht auf eine Globalermächtigung gestützt werden können, dürfte ohnehin außerhalb jeden Streites sein. Die Kommission führte noch einen weiteren Grund an, weshalb sie aber im Regelfall die von ihr vorgeschlagene globale Versuchsermächtigung als ausreichend ansah. Zwar sei unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten eine gewisse Voraussehbarkeit von Versuchsmaßnahmen erforderlich. Diese sah sie aber dadurch gewährleistet, dass in ihrem Musterentwurf die Aufstellung von „Versuchsprogrammen“ durch den Kultusminister gesetzlich gefordert wurde, welche alle zwei Jahre fortzuschreiben und dem Landtag zur Kenntnisnahme zuzuleiten waren.6 Dieses Erfordernis findet sich allerdings heute in keinem Schulgesetz. Zwar kennen die Versuchsvorschriften in Hamburg (§ 10 Abs. 3 SchulG HH) und Mecklenburg-Vorpommern (§ 38 Abs. 3 SchulG MV) „Versuchsprogramme“, doch sind diese auf den jeweiligen Einzelversuch an einer Schule bezogen, nicht auf ein Landes-Versuchsprogramm. Die Juristentags-Kommission war offensichtlich noch stark den Gedankengängen des Deutschen Bildungsrates und den Anfängen der Bund-Länder-Kommission zur umfassenden zentralen Bildungsplanung verhaftet, obwohl zu Beginn der 1980er Jahre die Grenzen von Experimentalprogrammen erkennbar wurden. Die Voraussehbarkeit von einzelnen Schulversuchen wäre durch solche Landesprogramme auch nur bedingt gegeben, weil sie wahrscheinlich nur allgemeine Leitlinien aufzeigen könnten. Enthielten sie bereits konkrete einzelschulbezogene Aussagen, wäre ein Versuchsgenehmigungsverfahren überflüssig, weil dann die Entscheidung ohnehin bereits auf Ministeriumsebene getroffen würde. Die drei Versuchsparagraphen im „Entwurf für ein Landesschulgesetz“ bildeten darin einen eigenen 5. Teil „Versuchsschulen und Schulversuche“, wodurch der Stellenwert deutlich wird, dem man diesem Instrumentarium beimaß. Sie werden an dieser Stelle nicht weiter kommentiert, sondern einschließlich der Entwurfsbegründungen in die abschließende Erörterung der aktuellen Rechtslage in den Ländern einbezogen.
6 Ebenda,
S. 223.
Neuntes Kapitel
Schulgesetzliche Entwicklung des Schulversuchs in Nordrhein-Westfalen. Exemplarische Darstellung I. Erste gesetzliche Schulversuchsregelung 1958 im Schulverwaltungsgesetz 1. Inhalt der Regelung des § 4 Abs. 5 SchVG Eine erste gesetzliche Regelung für die Zulassung von Schulversuchen wurde für das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen durch das Schulverwaltungsgesetz (SchVG) vom 03.06.19581 geschaffen, und zwar in § 4 Abs. 5 SchVG. Die Regelung war angefügt an die Festlegung der einzelnen Schulformen von der damaligen Volksschule bis zum Zweiten Bildungsweg in den voranstehenden Absätzen der Vorschrift und stand unter der gemeinsamen Überschrift „Gliederung des Schulwesens“: § 4 SchVG Gliederung des Schulwesens
(1) Die Gliederung des Schulwesens wird durch die Mannigfaltigkeit der Lebensund Berufsaufgaben bestimmt.
(2) Allgemeinbildende Schulen sind insbesondere die Volksschulen, die Mittelschulen (Realschulen) und die höheren Schulen.
(3) Berufsbildende Schulen sind insbesondere die Berufsschulen, die Berufsfachschulen, die Fachschulen, die Ingenieurschulen und andere höhere Fachschulen.
(4) Besondere Einrichtungen des zweiten Bildungsweges sind Institute, die über Berufs- und Fachausbildung und auf Grund einer angemessenen Allgemeinbildung zur Hochschule führen.
(5) Der Kultusminister kann Versuchsschulen auch außerhalb der in Abs. 2 bis 4 aufgeführten Gliederung zulassen.
1 GV. NRW
S. 241.
9. Kap.: Entwicklung des Schulversuchs in Nordrhein-Westfalen
349
Das Schulverwaltungsgesetz galt für öffentliche und private Schulen, soweit sich nicht aus den jeweiligen Bestimmungen ergab, dass sie nur für öffentliche Schulen anzuwenden waren. § 4 SchVG galt danach auch für Privatschulen, und zwar sowohl für Ersatzschulen wie auch Ergänzungsschulen.2 Zugelassen werden konnten nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 5 SchVG nicht Schulversuche allgemein, sondern „Versuchsschulen“, näher definiert als solche, die außerhalb der vorgeschriebenen Gliederung des Schulwesens standen, also nicht unter einer der aufgezählten Schulformen subsumierbar waren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass seinerzeit schulgesetzlich nur die Volksschule rudimentär in § 16 des Schulordnungsgesetzes von 19523 umschrieben war. Die einzelnen Schulformen sah man aufgrund von Verwaltungsvorschriften und Gewohnheitsrecht als hinreichend definiert an; Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für die einzelnen Schulformen im Verordnungswege gab es noch nicht. Angesichts fehlender gesetzlicher oder rechtsverordnungsmäßiger Festlegungen war ein partielles Abweichen von den herkömmlichen Strukturen aufgrund dieser schulrechtlichen Situation kein Fall, der einer gesetzlichen Ausnahmeermächtigung bedurfte. Dies wurde nur dann erforderlich, wenn die Abweichungen ein solches Maß annahmen, dass die experimentierfreudige Schule als Ganzes nicht mehr unter das tradierte Bild einer der bestehenden Schulform passte. 2. Entstehungsgeschichte der Vorschrift Die Versuchsvorschrift war im ursprünglichen Regierungsentwurf noch nicht enthalten und wurde erst im Zuge der parlamentarischen Beratungen eingefügt. Während die Abgeordneten andere Vorschriften des Schulverwaltungsgesetzes (Zusammensetzung kommunaler Schulausschüsse, Ausgestaltung der Schulaufsicht, Regelungen zu privaten Schulen) zunächst höchst kontrovers diskutierten, ist bezüglich des nachträglich eingearbeiteten Versuchsschul-Absatzes in den Landtagsdokumenten kein Streit erkennbar. Der Regierungsentwurf hatte allerdings bereits eine gewisse Offenheit für Weiterentwicklungen gezeigt. Ursprünglich war eine detaillierte gesetzliche Festlegung der Schulformen einschließlich deren Aufgaben und Bildungsziele (§ 2 SchVG-E Allgemeinbildende Schularten, § 3 SchVG-E Berufsbildende 2 Siehe:
Begründung „Entwurf eines Schulverwaltungsgesetz (SchVG)“, Landtag NRW, 3. WP, LT-Drs. 3/275 v. 14.12.1955, S. 21, zu § 1. – Außerdem: Hermann Meyerhoff/Tilman Pünder/Hans-Joachim Schäfer, Schulverwaltungsgesetz und Schulfinanzgesetz Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1968, S. 45; Siegfried Tiebel, Schulverwaltungsgesetz. Schulfinanzgesetz Nordrhein-Westfalen, Köln 1960, S. 1. 3 „Erstes Gesetz zur Ordnung des Schulwesens im Lande Nordrhein-Westfalen (Schulordnungsgesetz – SchOG)“ v. 08.04.1952 (GS. NW S. 430).
350
2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Schulen) vorgesehen. Für den Bereich der höheren Schule und der berufsbildenden Schulen waren dabei die seinerzeit bestehenden Schultypen (altsprachliches, neusprachliches und mathematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium, Aufbaugymnasium, Abendgymnasium bzw. gewerbliche, kaufmännische, hauswirtschaftliche Berufsschule etc.) aufgeführt, und zwar als eine exemplikative Aufzählung; „insbesondere“ hieß es stets in der Gesetzentwurfsterminologie. In der Begründung des Gesetzentwurfs hieß es, damit sei „der Entwicklung des Schulwesens nach jeder Richtung hin freier Raum gelassen, und neue Formen des Unterrichts und des schulischen Gemeinschaftslebens sind gewährleistet.“4 Dies war im Hinblick auf das Gymnasium bemerkenswert, weil gerade in der Landeshauptstadt wenige Monate vorher im Februar 1955 das „Düsseldorfer Abkommen“ vereinbart worden war, nach dem nur noch die darin aufgeführten Schultypen des Gymnasiums zulässig sein sollten.5 Im Zuge der parlamentarischen Ausschussberatungen gab man nicht nur die Detailgenauigkeit auf, indem die Aufgabenbeschreibungen der Schulformen entfielen. Der Gesetzgeber bestimmte obendrein den Kreis der Schulformen generell nicht mehr abschließend. Bezüglich der allgemeinbildenden wie berufsbildenden Schulen führte der neue § 4 SchVG im zweiten und dritten Absatz jetzt die bestehenden Schulformen durch ein vorangestelltes „insbesondere“ auf. Hinzu kam außerdem die neue Versuchsschul-Regelung in § 4 Abs. 5 SchVG, wobei aus der Systematik folgte, dass eine bislang nicht vorhandene Schulform – „außerhalb der in Abs. 2 bis 4 aufgeführten Gliederung“ – nur im Wege eines Schulversuchs errichtet werden konnte. Es entsprach wohl auch nicht der Intention des Gesetzgebers, die Voranstellung des Wortes „insbesondere“ in § 4 Abs. 2 und 3 SchVG so auszulegen, dass neue Schulformen neben den bereits bestehenden ohne weiteres möglich sein sollten, also von Schulträgern ohne besondere Zulassung des Kultusministeriums hätten gegründet werden können. Allerdings sind die Gesetzesmaterialien nicht ganz eindeutig. Für die Regierungsfraktionen führte die Abgeordnete Liselotte Funcke (FDP) in der abschließenden Lesung des Gesetzes aus, § 4 SchVG enthalte eine Aufzählung der Schulen, ohne dass dabei bis ins Einzelne gegangen worden sei. Die Aufzählung sei, was sie als Verbesserung herausstellte, „offen für die Möglichkeit, neue Formen etwa in der Verbindung zwischen allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen zu entwickeln.“6 Der Berichterstatter, der Abgeordnete Dr. Josef Hofmann (CDU), erläuterte, in der Vorschrift werde nur noch das Allernotwendigste angesprochen, „um die weitere Entwicklung nicht einzubetonieren 4 SchVG-E
(Fn. 2), S. 22, zu § 2 und 3 gemeinsam. – Diese Begründung wiederholte der damalige amtierende Kultusminister Schütz bei der Einbringungsrede im Landtag: Landtag NRW, 3. WP, Stenogr. Bericht der 31. Sitzung v. 18.01.1956, S. 982. 5 Siehe oben Zweiter Teil Erstes Kapitel I. und Viertes Kapitel IV. 6 Landtag NRW, 3. WP, Stenogr. Bericht der 80. Sitzung v. 30.04.1958, S. 2791.
9. Kap.: Entwicklung des Schulversuchs in Nordrhein-Westfalen
351
und um der Notwendigkeit dauernder Novellierungen zu entgehen“.7 Auch diese Äußerungen waren erstaunlich vor dem Hintergrund des „Düsseldorfer Abkommens“. Dem historischen Gesetzgeber ging es, wie die Abgeordnete Funcke bemerkte, darum, den Weg zu „pädagogischen Versuchen“ in Versuchsschulen zu ermöglichen.8 Der Koalitionsabgeordnete und spätere Kultusminister Fritz Holthoff (SPD) verdeutlichte: „Von Versuchsschulen können wir die Aufhebung des starren Klassenverbandes und des Frontalunterrichts erwarten; sie könnten die Neigung des Schülers, seine besondere und einmalige Veranlagung zur Dominante eines erziehenden Unterrichts erheben, und die gegenseitige Schülerhilfe in Arbeitsgemeinschaften, in kleinen Zirkeln, die Eigenaktivität des Schülers und sein soziales Wohlverhalten könnten durch diese Versuchsschulen angebahnt und gefördert werden.“9 Versuchsschulen verstand der damalige nordrhein-westfälische Gesetzgeber also in erster Line als pädagogische Reformwerkstätten. In der zeitgenössischen Kommentierung hieß es entsprechend: Versuchsschulen seien vornehmlich Schulen, in denen neuartige Unterrichtsmethoden und Erziehungsprinzipien erprobt würden. Aus diesem Grunde würden sie sich oft nicht nach den allgemeinen Merkmalen in die Gliederung des Schulwesens einfügen.10 3. Annex-Regelungen sowie Veränderungen der Grundnorm bis Ende der 1960er Jahre Im Schulverwaltungsgesetz war überdies ohne weitere Kautelen bestimmt, dass Versuchsschulen sowohl in Trägerschaft der Kommunen (§ 10 Abs. 3) wie auch des Landes (§ 10 Abs. 6) sein konnten. Diese Regelung wurde später bezüglich der Kommunen im Zuge einer Novellierung 1973 ersatzlos gestrichen11
7 Ebenda,
S. 2777. S. 2791. 9 Zitat: Ebenda, S. 2832. – Siehe zur damaligen parlamentarischen Beratung auch: Günter Heumann, Die Entwicklung des allgemeinbildenden Schulwesens in NordrheinWestfalen (1945/46–1958), Frankfurt a.M. u.a. 1989, S. 412-417. 10 Siehe: Meyerhoff/Pünder/Schäfer, Schulverwaltungsgesetz, S. 72. 11 Art. I Ziff. 4 „Gesetz zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes und zur Überführung staatlicher Schulen auf die Gemeinden und Gemeindeverbände“ v. 06.11.1973 (GV. NRW S. 492). Danach entfiel der bisherige Absatz 5 des § 10 SchVG, zu dem der frühere Absatz 3 aufgrund einer Änderung durch das „Gesetz zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes“ v. 24.06.1969 (GV. NRW S. 454) geworden war. 8 Ebenda,
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
und für das Land insofern modifiziert, dass dieses berechtigt sei, „zur Weiterentwicklung des Schulwesens“ Versuchsschulen zu errichten und fortzuführen.12 Im Zuge einer Novellierung des Schulverwaltungsgesetzes im Jahre 196813 wurde aus Absatz 5 des § 4 SchVG – wegen der Hereinnahme des Schulkindergartens und der Sonderschulen in die Schulformaufzählung sowie der Aufteilung der Volksschule in Grund- und Hauptschule – nunmehr Absatz 7 der Vorschrift. Außerdem ersetzte der Gesetzgeber redaktionell ohne sachliche Änderung14 den Begriff „Gliederung“, und zwar angepasst an die neue Überschrift der Vorschrift: „Aufbau des Schulwesens“. Die Versuchsklausel lautete daher jetzt: „Der Kultusminister kann Versuchsschulen auch außerhalb des sich aus Absatz 1 bis 6 ergebenden Aufbaus des Schulwesens zulassen.“
Diese Novelle war Teil eines überparteilichen Schulkompromisses einschließlich einer Änderung der Landesverfassung, an dessen Ende die Aufteilung der Volksschule in die Grundschule und – als neuer selbstständiger weiterführender Schulform – die Hauptschule stand. Gleichzeitig wurde in der bis dahin heftig umstrittenen Frage der weltanschaulichen Gliederung des Schulwesens für letztere ein Vorrang der Gemeinschaftsschule begründet.15 Die mit dem Schuljahr 1968/1969 landesweit eingeführte Hauptschule, damals eine Reformschule, war hervorgegangen aus einem „Schulversuch Hauptschule“, der zwei Jahre vorher in Nordrhein-Westfalen in Umsetzung des „Hamburger Abkommens“ gestartet worden war.16 Dieser Schulversuch wurde trotz der Aufnahme der Hauptschule als Regelschule in das Schulverwaltungsgesetz noch nicht beendet, 12 Art. I Ziff. 6
ÄndG SchVG, ebenda. zur Änderung des ersten Gesetzes zur Ordnung des Schulwesens im Lande Nordrhein-Westfalen, des Schulverwaltungsgesetzes und des Schulfinanzgesetzes“ v. 05.03.1968 (GV. NRW S. 36). 14 Vgl. Begründung Regierungsvorlage: Landtag NRW, 6. WP, LT-Drs. 6/321 v. 30.06.1967, zu Art. II Ziff. 1. 15 Vgl.: Wilhelm Fernau, Das neue Schulrecht, 2. Aufl., Wuppertal 1970, Einführung; Werner Haugg, Schulgesetze in Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl., Wiesbaden 1968, S. 611. Zur Neuregelung der weltanschaulichen (konfessionellen) Gliederung: Ernst Wolfgang Böckenförde/Rolf Grawert/Adalbert Podlesch, Rechtsfragen der Neuordnung des Schulwesens im Lande Nordrhein-Westfalen (Schriftenreihe des Kultusministers: Strukturförderung im Bildungswesen des Landes Nordrhein-Westfalen, Nr. 9), Düsseldorf 1969. 16 Nach § 9 des „Hamburger Abkommens“ endete die aus der Volksschule hervor gegangene Hauptschule jetzt ein Jahr später mit der 9. Klasse, wobei auch eine 10. Klasse zugelassen wurde. Außerdem war eine durchgehende Fremdsprache ab Klasse 5, in der Regel Englisch, eingeführt worden (siehe oben Zweiter Teil Fünftes Kapitel II.). Im NRW-Schulversuch Hauptschule erprobte die Schulverwaltung neue Richtlinien und Lehrpläne für die Hauptschule. Siehe, auch zur wissenschaftlichen Begleitung: Ant13 „Gesetz
9. Kap.: Entwicklung des Schulversuchs in Nordrhein-Westfalen
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sondern zunächst mit den beteiligten Schulen fortgesetzt, sofern sie die Voraussetzung eines geordneten Schulbetriebes im Sinne von § 16a SchOG erfüllten, nämlich die für Hauptschulen nunmehr geforderte Zweizügigkeit.17
II. Grundlegende Neuregelung 1975 mit Schaffung einer eigenen Schulversuchsvorschrift 1. Inhalt der Neuregelung des § 4b SchVG Anfang 1975 kam es zu einer grundlegenden Neuregelung, jetzt erstmals unter der Paragraphen-Überschrift „Schulversuche“ als neu eingefügter § 4b SchVG.18 Eine über die bisherige, auf die Zulassung von Versuchsschulen beschränkte pauschale Ermächtigung des Kultusministers hinausgehende gesetzliche Grundlage für Schulversuche wurde allgemein als erforderlich angesehen, nachdem sich bis dahin im Schulrecht der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie durchgesetzt hatten.19 § 4b SchVG Schulversuche
(1) Zur Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Inhalte und Formen können Schulversuche durchgeführt werden; hierzu können auch Versuchsschulen zugelassen werden. Schulversuche bedürfen der Genehmigung des Kultusministers.
(2) Es werden insbesondere Schulversuche mit Gesamtschulen durchgeführt, in denen Schülern in einem differenzierten Unterrichtssystem ohne Zuordnung zu unterschiedlichen Schulformen verschiedene Bildungsgänge zu Abschlüssen der Sekundarstufe I und II ermöglicht werden. (3) Es werden insbesondere Schulversuche mit Kollegschulen durchgeführt, in denen Schüler in einem differenzierten Unterrichtssystem ohne Zuordnung zu unterschiedlichen Schulformen studien- und berufsbezogene Bildungsgänge zu Abschlüssen in der Sekundarstufe II ermöglicht werden.
wort der Landesregierung auf die Große Anfrage der CDU-Fraktion „Schulsituation in Nordrhein-Westfalen“, Landtag NRW, 7. WP, LT-Drs. 7/3397 v. 11.12.1973, S. 72. 17 So geregelt in den Durchführungsbestimmungen zu der Änderungsnovelle, Nr. II, RdErl. des Kultusministers v. 27.03.1968, abgedruckt in: Haugg, Schulgesetze in Nordrhein-Westfalen, S. 668. 18 Neuregelung durch das „Gesetz zur Änderung des Schulverwaltungsgesetz und des Schulpflichtgesetzes“ v. 18.03.1975 (GV. NRW S. 245). 19 Dazu: Dieter Margies/Karsten Roeser (Hrsg.), Schulverwaltungsgesetz. Kommentar für die Schulpraxis, 3. Aufl., Essen 1995, § 4b Rn. 2.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
(4) Der Kultusminister kann bei der Genehmigung von Schulversuchen von dem Aufbau und der Gliederung des Schulwesens, den Vorschriften über die Schulleitung und den Bestimmungen über die Mitwirkung der Erziehungsberechtigten Ausnahmen zulassen, soweit dies zur Erreichung der Ziele nach den Absätzen 1 bis 3 erforderlich ist.
Die neue Vorschrift unterschied jetzt erstmals gesetzgeberisch zwischen Schulversuchen und Versuchsschulen. Dabei umfasste der Begriff „Schulver such“ – wie im heutigen Schulgesetz – als übergeordneter Begriff sowohl Teilversuche in bestehenden Schulformen als auch umfassende Gesamtversuche in besonderen Versuchsschulen. In den Gesetzesmaterialien liest sich dies wie folgt: „Diese gesetzliche Klarstellung ermöglicht sowohl Versuche innerhalb der bestehenden Schulformen als auch in neu errichteten Einrichtungen des Schulwesens.“20 Weiterhin enthielt die Vorschrift erstmals eine gesetzliche Zweckbeschreibung, wozu Schulversuche dienen, nämlich zur „Erprobung neuer pädagogischer oder organisatorischer Inhalte und Formen“. Der letzte Absatz 4 der Vorschrift ermöglichte über die bisherige Ermächtigung zu Abweichungen vom Aufbau und der Gliederung des Schulwesens hinaus nunmehr auch Ausnahmen von den Vorschriften über die Schulleitung und den Bestimmungen über die Mitwirkung der Erziehungsberechtigten. Hervorzuheben ist die damalige ausdrückliche Einschränkung dahingehend, dass die Ausnahmen zur Erreichung der Versuchsziele „erforderlich“ sein mussten. 2. Besondere Ermächtigung für Schulversuche mit Gesamtschulen und Kollegschulen Die Absätze 2 und 3 des neuen § 4b SchVG beinhalteten spezielle, die allgemeine Schulversuchs-Regelung konkretisierende Ermächtigungen für Schulversuche mit Gesamtschulen und mit Kollegschulen. Beide Absätze waren im Regierungsentwurf zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes noch nicht enthalten gewesen. Der nordrhein-westfälische „Schulversuch Gesamtschule“ war 1969 in Umsetzung des im selben Jahr beschlossenen entsprechenden länderübergreifenden KMK-Experimentalprogramms eingeleitet worden, und zwar ausschließlich auf dem Erlasswege gestützt auf die Versuchsklausel des vormaligen § 4 SchVG. Die Versuchsgenehmigungen waren damit noch zu einer Zeit erteilt worden, bevor das Bundesverfassungsgericht im Dezember 1972 mit seinem Grund 20 Bericht
des Kulturausschusses zur 2. Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes und des Schulpflichtgesetzes, Landtag NRW, 7. WP, LT-Drs. 7/4744 v. 19.02.1975, S. 7.
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satzurteil zur hessischen Förderstufe dem Gesetzesvorbehalt im Schulbereich zum Durchbruch verhalf.21 Zunächst hatte die Landesregierung beim Versuchsstart die Errichtung von 30 Versuchsschulen bis 1975 angekündigt,22 errichtet wurden dann in einer ersten Phase (1969–1973) 14 Gesamtschulen und in einer zweiten Phase (1973–1975) weitere 9 Gesamtschulen.23 Diese hatte das Kultusministerium, wie bereits dargelegt, nur in der integrierten Form zugelassen, ein Antrag der oppositionellen CDU aus dem Jahre 1971 auf einen „Schulversuch kooperative Gesamtschule“ war seitens der sozial-liberalen Regierungskoalition abgelehnt worden.24 Bei Einbringung des Änderungsgesetzes war ursprünglich beabsichtigt, den nordrhein-westfälischen Gesamtschulversuch auslaufen zu lassen und die integrierte Gesamtschule in einem neuen § 4d SchVG bereits als eigenständige Schulform gesetzlich zu verankern.25 In der Gesetzesbegründung hieß es, wegen des Grundsatzes der Normklarheit und des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sei es notwendig, die wesentlichen Merkmale der neuen Schulform Gesamtschule im Gesetz festzulegen.26 Das Vorhaben, die Gesamtschule fest zu etablieren, ließ die Regierungs koalition im Laufe der Gesetzesberatungen fallen, nicht zuletzt wegen der damaligen heftigen öffentlichen und parteipolitischen Auseinandersetzungen um die Gesamtschule. Der federführende Kulturausschuss hielt in seinem abschließenden Bericht einvernehmlich fest, dass die bis dahin bekannten Versuchsergebnisse über die pädagogisch-inhaltlichen Fragen der Integration noch keine hinreichende Entscheidungsgrundlage für das Parlament böten, um die Gesamtschule als eigenständige Schulform gesetzlich zu verankern.27 Die im Regierungsentwurf enthaltene Rahmendefinition der Schulform Gesamtschule wurde inhaltlich in die nunmehr spezielle gesetzliche Ermächtigung für Schulversuche mit Gesamtschulen nach dem neu eingefügten § 4b Abs. 2 SchVG übernommen. Dem Gesetzgeber erschien angesichts der seinerzeit erfolgten wegweisenden Rechtsprechung des Bundesverfassungs gerichts zum Gesetzesvorbehalt eine allgemeine Versuchsschul-Ermächtigung nicht mehr als ausreichend für eine Fortsetzung und weitere zahlenmäßige Ausweitung des Gesamtschulversuchs, wie es die Landesregierung beabsichtigte. Er 21 BVerfGE 34,
165 ff. Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Nordrhein-Westfalen-Programm 1975, Düsseldorf 1970, S. 53 f. 23 Überblick: Kultusministerium NRW (Hrsg.), Gesamtschule in Nordrhein-West falen, Düsseldorf 1979, S. 103 f., 154. 24 Siehe oben Zweiter Teil Sechstes Kapitel II. 3., Fn. 35. 25 Siehe: „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes und des Schulpflichtgesetzes“, Landtag NRW, 7. WP, LT-Drs. 7/3844 v. 07.05.1974. 26 Ebenda, S. 13, zu Art. I Nr. 5. 27 Siehe: Bericht des Kulturausschusses (Fn. 20), S. 7. 22 Siehe:
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schuf deshalb eine eigene gesetzliche Grundlage für Schulversuche mit Gesamtschulen. Gleiches tat er parallel für einen seinerzeit in der Entwicklungsphase befindlichen „Schulversuch Kollegschule“ im Bereich der beruflichen Bildung. Erst nach der ausdrücklichen Verankerung in § 4b Abs. 3 SchVG wurde die Hauptphase dieses Schulversuchs Kollegschule gestartet.28
III. Normative Regelungen zu Schulversuchen zwischen 1975 und 2004 1. Kleinere Ergänzungen und Änderungen Im Zuge einer Schulverwaltungsgesetz-Novelle zur Einführung einer „Kooperativen Schule“ mit einer schulformunabhängigen Orientierungsstufe in den Klassen 5 und 6 verabschiedete 1977 die damalige sozial-liberale Parlamentsmehrheit ein gesetzliche Bestimmung (§ 15 Abs. 5 Satz 2 SchVG), durch die der Kultusminister ermächtigt wurde, für Versuchsschulen und „Kooperative Schulen“ die Schulaufsicht abweichend gegenüber der allgemeinen Zuständigkeitsverteilung durch Rechtsverordnung zu regeln.29 Zwar scheiterte die „Kooperative Schule“ nach heftigen öffentlichen bildungspolitischen Ausein andersetzungen 1978 an einem Volksbegehren („Koop“) und die entsprechenden Vorschriften im Schulverwaltungsgesetz wurden, um einem sonst erforderlichen Volksentscheid zu entgehen, aufgrund einer Gesetzesvorlage der sozial-liberalen Landesregierung wieder aufgehoben,30 doch blieb es bei der nunmehr auf Versuchsschulen reduzierten Ermächtigung, für diese eine besondere schulaufsichtliche Zuständigkeit zu ermöglichen.31 28 Siehe dazu den Planungsbericht über die Versuchsvorbereitungen in der Planungsphase I (1972 bis 1975): Kultusministerium Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Schulversuch Kollegschule NW (Bd. 31 der Schriftenreihe „Strukturförderung im Bildungswesen des Landes Nordrhein-Westfalen“), Köln 1976. 29 Art. I Ziff. 5 „Gesetz zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes“ v. 08.11.1977 (GV. NRW S. 378). 30 Zum Kampf um die „Kooperative Schule“: Fritz Bohnsack (Hrsg.), Kooperative Schule. Ziele und Möglichkeiten eines Schulkonzepts, Weinheim/Basel 1978; Christian Jülich, Schulgesetzgebung in Nordrhein-Westfalen – ein Rückblick, in: Rainer Brockmeyer/Paul Hamacher (Hrsg.), Schule zwischen Recht, Politik und Planung, Paderborn u.a. 1982, S. 34 f.; Werner Blumenthal, Die bildungspolitische Auseinandersetzung und das Volksbegehren um die kooperative Schule in Nordrhein-Westfalen. Eine Analyse ihrer politischen Faktoren, Ursachen und Strategien sowie die Folgen für die Bildungspolitik in Nordrhein-Westfalen, Diss. Bonn 1988. 31 Siehe: Art. I „Gesetz zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes“ v. 25.04.1978 (GV. NRW S. 177).
9. Kap.: Entwicklung des Schulversuchs in Nordrhein-Westfalen
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Da Nordrhein-Westfalen im Jahr 2000 durch das sogenannte Zweite Modernisierungsgesetz einheitlich für alle Landesressorts die sächliche Bezeichnungsform einführte, wurde die auf den „Kultusminister“ in § 4b SchVG lautende Genehmigungsbefugnis für Schulversuche auf „das für den Schulbereich zuständige Ministerium“ umgestellt.32 Durch das seinerzeit neue Schulmitwirkungsgesetz erfolgte 1977 erstmals die Vorgabe, dass eine Schule von ihrem Schulträger bei Anträgen auf Einbeziehung in Schulversuche zu beteiligen ist. Außerdem schrieb es nunmehr für Schulversuche eine vorherige Verbändebeteiligung seitens des Kultusministers vor.33 Gestützt auf eine Rechtsverordnungsermächtigung in § 26b SchVG wurde 1979 eine Ausbildungs- und Prüfungsordnung für das Gymnasium erlassen, die in § 7 Abs. 4 regelte: „Zur Erprobung neuer Unterrichtsfächer können mit Genehmigung des Kultusministers Versuche durchgeführt werden.“ Und in Abs. 5: „Der Kultusminister kann weitere Fächer für die Oberstufe zulassen, wenn im Versuch erprobte Richtlinien für die Jahrgangsstufe 11 bis 13 und veröffentlichte Prüfungsanforderungen vorliegen.“34 2. Aufhebung der speziellen Versuchsermächtigungen für Gesamtschulen und Kollegschulen Eine wesentliche Änderung erfolgte im Juli 1981 durch die auch in anderen Ländern in dieser Zeit stattfindende Beendigung des Schulversuchs Gesamtschule, wobei Nordrhein-Westfalen den abschließenden Auswertungsbericht der BLK nicht mehr abwartete. Allerdings lag bereits seit 1979 ein Abschlussbericht der „Wissenschaftlichen Beratergruppe Gesamtschulversuch in Nordrhein-Westfalen“ vor. Darin wurde trotz eher ernüchternder Leistungsergebnisse empfohlen, die Gesamtschule zur Regelschule zu machen. Für die Überwindung der Probleme an den Gesamtschulen wäre, so der Abschlussbericht damals, eine Beibehaltung des Status als Versuchsschule nicht günstig. „Wünschenswert ist vielmehr gerade dafür die Sicherheit und Konsolidierung, die mit der Einführung als Regelschule verbunden ist. Für die Weiterentwicklung der Gesamtschule sollten
32 Art. 15 II Ziff. 1 „Zweites Gesetz zur Modernisierung von Regierung und Verwaltung in Nordrhein-Westfalen (Zweites Modernisierungsgesetz)“ v. 09.05.2000 (GV. NRW S. 462). 33 § 15 Satz 2 Ziff. 9 bzw. § 16 Satz 2 Ziff. 4 „Gesetz über die Mitwirkung im Schulwesen (Schulmitwirkungsgesetz – SchMG)“ v. 13.12.1977 (GV. NRW S. 448). 34 „Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung in der Oberstufe des Gymnasiums“ v. 28.03.1979 (GV. NRW S. 248, 440).
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dagegen Versuche an Gesamtschulen gefördert werden, wie es sie auch im traditionellen Schulsystem gibt und in Zukunft geben sollte.“35 Der Gesetzgeber verankerte die integrierte Gesamtschule als weitere Regelschulform in einem neuen § 4e SchVG und strich infolgedessen die bisherige besondere Regelung zu Schulversuchen mit Gesamtschulen im zweiten Absatz des § 4b SchVG. Die aufgrund jener Vorschrift errichteten Versuchsschulen wurden mit einer einjährigen Überleitungszeit zum 01.08.1982 ebenfalls in Regel-Gesamtschulen umgewandelt.36 Während der Laufzeit des Schulversuchs von 1969 bis 1981 waren insgesamt 36 Gesamtschulen errichtet worden; seitdem hat sich bis zum Schuljahr 2011/2012 deren Zahl auf 232 erhöht, wobei der stärkste Anstieg in den 1980er bis Mitte der 1990er Jahren erfolgte.37 Die Schulversuchsbestimmung zu Kollegschulen in Absatz 3 wurde jetzt für die nächsten 15 Jahre neuer Absatz 2 des § 4b SchVG. Der Schulversuch Kollegschule ging seinerseits dann zum Schuljahr 1998/1999 in das damals neu geordnete Berufskolleg auf. Bis dahin waren seit 1975 insgesamt 39 Versuchs-Kollegschulen entstanden.38 Durch das Berufskolleggesetz vom 25.11.1997 wurde die Schulversuchsbestimmung des § 4b Abs. 2 SchVG gestrichen, die Gesamtschule rückte aufgrund weiterer Streichungen zu § 4d SchVG auf und das Berufskolleg etablierte sich jetzt als gesetzliche Regelschulform in § 4e SchVG.39
35 Zitat: Kultusministerium NRW, Abschlußbericht der Wissenschaftlichen Beratergruppe Gesamtschulversuch, S. 139. Für weitere Versuche mit Gesamtschulen auch nach Einführung als Regelschule, insbesondere zur Beantwortung der Frage nach dem optimalen Differenzierungssystem, plädierte damals auch: Fend, Gesamtschule im Vergleich, S. 287, 302, 487. 36 Art. I Ziff. 3 und Übergangsregelung Art III „Gesetz zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes“ v. 21.07.1981 (GV. NRW S. 402). Siehe auch Neufassung des Schulverwaltungsgesetzes v. 18.01.1985 (GV. NRW S. 155). 37 Vgl.: MSW, Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2011/12, S. 171. 38 Dazu: Hermann Hansis, Die Kollegschule, in: Dietmar Katzy/Oliver Ermert, Handbuch Praxis Schule NW, Bonn 1995, S. 157-171. 39 Art. I „Gesetz zur Änderung des Schulverwaltungsgesetzes (Berufskolleggesetz)“ v. 25.11.1997 (GV. NRW S. 425).
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3. Besondere Ermächtigung für den Schulversuch „Selbstständige Schule“ durch das Schulentwicklungsgesetz (2001) und die VOSS (2002) Im Jahr 2001 wurde mit dem Schulentwicklungsgesetz40 die rechtliche Grundlage für das bereits erwähnte, zwischen 2002 und 2008 in Nordrhein-Westfalen durchgeführte große Modellvorhaben „Selbstständige Schule“ geschaffen. Nach dessen Art. 1 Abs. 1 konnte das Ministerium „zur Erprobung neuer Modelle der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung … für die Dauer von bis zu sechs Jahren abweichend von den bestehenden Rechtsvorschriften einer begrenzten Zahl von Schulen im Rahmen von Kooperationsvereinbarungen ermöglichen, zur Weiterentwicklung des Schulwesens bei der Personalverwaltung, Stellenbewirtschaftung und Sachmittelbewirtschaftung sowie in der Unterrichtsorganisation und -gestaltung selbstständige Entscheidungen zu treffen und neue Modelle der Schulmitwirkung und der Personalvertretung zu erproben.“
Diese Öffnungsklausel, auch Experimentierklausel genannt, wurde aufgrund einer entsprechenden Ermächtigung in Art. 1 Abs. 5 des Gesetzes ausgefüllt durch eine Verordnung „Selbstständige Schule“ (VOSS).41 Die Schule konnte hierdurch von im Einzelnen näher aufgeführten Bestimmungen der „Verordnung zur Ausführung des § 5 Schulfinanzgesetz“, der „Allgemeinen Schulordnung“, der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen, des Schulmitwirkungsgesetzes und der „Verordnung über beamtenrechtliche Zuständigkeiten im Geschäftsbereich des Ministeriums für Schule und Weiterbildung“ abweichen. Ziel des Projektes insgesamt war es zu erproben, wie durch eine eigenverantwortliche Steuerung der Schulen die Qualität von Unterricht und Erziehung und damit die Qualität schulischer Arbeit verbessert werden kann.42
40 „Gesetz zur Weiterentwicklung von Schulen“ v. 27.11.2001 (GV. NRW S. 811). – Z ur Historie und den Ergebnissen: Heinz Günter Holtappels/Klaus Klemm/Hans-Günter Rolff (Hrsg.), Schulentwicklung durch Gestaltungsautonomie. Ergebnisse der Begleitforschung zum Modellvorhaben „Selbstständige Schule“ in Nordrhein-Westfalen, Münster 2008. 41 „Verordnung zur Durchführung des Modellvorhabens ,Selbstständige Schule‘ (Verordnung ,Selbstständige Schule‘ – VOSS)“ v. 12.04.2002 (GV. NRW S. 122). 42 Vgl.: Begründung Gesetzentwurf der Landesregierung, Landtag NRW, 13 WP, LT-Drs. 13/1173 v. 11.05.2001, S. 13.
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IV. Ermächtigung zu Schulversuchen gemäß § 25 SchulG (seit 2005 / 2006) und ergänzende Bestimmungen 1. Inhalt der Grundnorm § 25 SchulG Mit der Zusammenfassung von bis dahin sieben Schulgesetzen, unter anderem auch des Schulverwaltungsgesetzes, das bis dahin 33 Novellierungen und drei Neufassungen erlebt hatte, in ein einheitliches Landesschulgesetz entstand 2005 die derzeit geltende Schulversuchsvorschrift des § 25 SchulG NRW. Dabei kamen im Zuge einer Novellierung des Schulgesetzes im Jahre 2006 der heutige dritte Absatz und eine Ergänzung um das Wort „Dauer“ im vierten Absatz hinzu.43 § 25 SchulG NRW Schulversuche, Versuchsschulen, Experimentierklausel (1) Schulversuche dienen dazu, das Schulwesen weiterzuentwickeln. Dazu können insbesondere Abweichungen von Aufbau und Gliederung des Schulwesens sowie Veränderungen oder Ergänzungen der Unterrichtsinhalte, der Unterrichtsorganisation sowie der Formen der Schulverfassung und der Schulleitung zeitlich und im Umfang begrenzt erprobt werden. In Schulversuchen müssen die nach diesem Gesetz vorgesehenen Abschlüsse erreicht werden können.
(2) Zur Erprobung von Abweichungen, Veränderungen oder Ergänzungen grundsätzlicher Art können Versuchsschulen errichtet werden. Der Besuch von Versuchsschulen ist freiwillig.
(3) Zur Erprobung neuer Modelle erweiterter Selbstverwaltung und Eigenverantwortung kann Schulen auf deren Antrag im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung mit dem Schulträger und der Schulaufsichtsbehörde gestattet werden, abweichend von den bestehenden Rechtsvorschriften bei der Stellenbewirtschaftung, der Personalverwaltung, der Sachmittelbewirtschaftung und der Unterrichtsorganisation selbstständige Entscheidungen zu treffen und neue Modelle der Schulleitung und der Schulmitwirkung zu erproben. Es muss gewährleistet sein, dass die Standards der Abschlüsse den an anderen Schulen erworbenen Abschlüssen entsprechen und die Anerkennung der Abschlüsse in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland gesichert ist.
(4) Schulversuche, Versuchsschulen und Modellvorhaben bedürfen der Genehmigung des Ministeriums. Dabei werden Inhalt, Ziel, Durchführung und Dauer in einem Programm festgelegt.
(5) Die Absätze 1, 2 und 4 gelten auch für Ersatzschulen.
43 „Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (Schulgesetz NRW – SchulG)“ v. 15.02.2005 (GV. NRW S. 102), geändert durch Gesetz v. 27.06.2006 (GV. NRW S. 278). – Aktuell i.d.F. des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes v. 15.11.2013 (GV. NRW S. 613), wobei § 25 SchulG seit 2006 unverändert blieb.
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In der knappen Gesetzesbegründung von 2005 hieß es nur lapidar, die Regelung der Schulversuche „knüpft an § 4b SchVG an und nennt Beispiele für solche Schulversuche. Besonders betont wird in dieser Vorschrift die nach wie vor gegebene Möglichkeit, Versuchsschulen zu errichten. Sowohl Schulversuche als auch die Errichtung von Versuchsschulen werden dem Genehmigungsvorbehalt des Ministeriums unterstellt. Dies gilt auch für Ersatzschulen.“44 In den parlamentarischen Beratungen blieb die Vorschrift unverändert. Die geltende Schulversuchs-Vorschrift enthält keine namentliche Nennung einzelner Versuchsschulvorhaben. Anknüpfend an die Vorgängervorschrift zählt sie aber im ersten Absatz, vorangestellt durch das Wort „insbesondere“, einzelne Bereiche auf, in denen Abweichungen vom Regelsystem möglich sind. Erstmals wird dabei nunmehr ausdrücklich gesetzlich geregelt, dass Schulversuche „zeitlich und im Umfang begrenzt“ sein müssen, und deshalb im Genehmigungsbescheid des Schulministeriums sowohl Inhalt, Ziel und Durchführung als auch Dauer des Schulversuchs in einem Programm festzulegen sind. Entfallen ist gegenüber der Vorgängervorschrift – ohne jede Erläuterung in der Gesetzesbegründung – die Einschränkung, wonach Abweichungen zur Erreichung der Versuchsziele „erforderlich“ sein müssen, wobei diese Anforderung sich aber auch aus dem Ausnahmecharakter des Versuchs ableiten läßt. Die Zweckbestimmung wurde mit der sehr allgemeinen Aussage, dass Schulversuche dazu dienen, „das Schulwesen weiterzuentwickeln“, neu gefasst; man ersetzte hierdurch die bisherige Formulierung, wonach Schulversuche „zur Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Inhalte und Formen“ durchgeführt werden konnten. Die Funktion der „Erprobung“ findet sich aber im Satz 2 des ersten Absatzes sowie im zweiten Absatz wieder. Eine inhaltliche Veränderung ist insofern festzustellen, als die Erprobung neuer Inhalte und Formen tatsächlich der Weiterentwicklung des Schulwesens und damit einem positiv konnotierten Ziel verpflichtet ist. Die Formel „zur Weiterentwicklung des Schulwesens“ übernahm der Gesetzgeber dabei aus dem früheren § 10 Abs. 9 SchVG, der das Land unter dieser Voraussetzung zur Durchführung von Schulversuchen berechtigte.45 Neu ist im ersten Absatz des § 25 SchulG NRW zudem die Anforderung, wonach bei Schulversuchen sichergestellt sein muss, dass alle schulgesetzlich vorgesehenen Bildungsabschlüsse erreicht werden können. 44 Zitat: Gesetzentwurf der Landesregierung, Landtag NRW, 13. WP, LTDrs. 13/5394 v. 05.05.2004, S. 95. 45 Diese Vorschrift war ursprünglich § 10 Abs. 6 SchVG, seit einer Änderungsnovelle 1969 (GV. NRW S. 454) dann Abs. 8 und seit einer weiteren Änderung 1981 (GV. NRW S. 402) schließlich Abs. 9. Vgl. auch Bekanntmachung der Neufassung des Schulverwaltungsgesetzes v. 18.01.1985 (GV. NRW S. 155).
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Für Versuchsschulen als umfassenden Schulversuch sieht § 25 SchulG NRW im Gegensatz zu den Vorgängernormen einen eigenen zweiten Absatz vor. Darin wird erstmals gesetzlich klargestellt und vorgeschrieben, dass der Besuch von Versuchsschulen freiwillig ist. Durch das 2. Schulrechtsänderungsgesetz 2006 wurde mit dem dritten Absatz eine schulgesetzliche Experimentierklausel eingeführt, die „im Rahmen der bestehenden Lastenverteilung gemäß § 92 (SchulG NRW) Modellvorhaben zur Erprobung neuer Modelle zur Stärkung der Selbstverantwortung der Schule ermöglicht“.46 Diese Klausel geht zurück auf den dann planmäßig mit dem Schuljahr 2007/2008 ausgelaufenen Schulversuch „Selbstständige Schule“; sie hat – mit Modifikationen – die für diesen Schulversuch in Art. 1 Abs. 1 Schulentwicklungsgesetz von 2001 enthaltene, auf sechs Jahre zeitlich befristete Experimentierklausel ersetzt.47 2. Ergänzende allgemeine Vorschriften für Schulversuche im Schulgesetz Anknüpfend an die bereits soeben erwähnte Vorgängerbestimmung des § 10 Abs. 9 SchVG ist in § 78 Abs. 7 SchulG NRW geregelt, dass auch das Land Versuchsschulen errichten und fortführen kann, wobei es statt bisher zur Weiterentwicklung, nunmehr „zur Ergänzung des Schulwesens“ heißt. Eine inhalt liche Veränderung war damit allerdings nicht beabsichtigt; es ging allein um eine redaktionelle Straffung der Vorschrift48. Eine ausdrückliche Versuchsermächtigung für die Kommunen enthält das Schulgesetz – wie auch schon seit 1973 das Schulverwaltungsgesetz – nicht. Eine solche wäre überflüssig, weil die Kommunen gemäß § 78 Abs. 1 bis 3 SchulG NRW grundsätzlich Träger der öffent lichen Schulen sind, gleich ob Regel- oder Versuchsschule. Da nach § 78 Abs. 4 SchulG NRW die kommunalen Schulträger „gemeinsam mit dem Land für eine zukunftsgerichtete Weiterentwicklung der Schulen verantwortlich“ sind und Schulversuche nach § 25 Abs. 1 SchulG NRW dazu dienen, „das Schulsystem weiterzuentwickeln“, unterstreicht das Schulgesetz, dass Kommunen nicht nur Träger von Regel-, sondern auch von Versuchsschulen sein können. Vor der Teilnahme an einem Schulversuch ist die Schule nach § 76 Satz 2 und Satz 3 Ziff. 9 SchulG NRW durch den Schulträger rechtzeitig zu beteiligen. Diese Vorschrift übernahm der Gesetzgeber fast wortgleich aus dem Schulmit46 Gesetzentwurf
der Landesregierung, Landtag NRW, 14. WP, LT-Drs. 14/1572 v. 28.03.2006, S. 87. 47 Vgl.: Gesetzesbegründung, ebenda. 48 Siehe: Begründung Gesetzentwurf der Landesregierung, Landtag NRW, 13. WP, LT-Drs. 13/5394 v. 05.05.2004, S. 110.
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wirkungsgesetz (§ 15); durch die Schulgesetznovelle 2006 fügte er allerdings noch das Wort „rechtzeitig“ als erhöhte Anforderung an die Beteiligungsverpflichtung ein. Dadurch stärkte das Parlament die Verfahrensrechte der Schule und damit der für sie diesbezüglich gemäß § 65 Abs. 2 Nr. 22 SchulG NRW handelnden Schulkonferenz als oberstes Mitwirkungsgremium der Schule.49 Schulversuche sind nicht nur auf Schulträgerebene, sondern ebenfalls auf der Ebene des Schulministeriums mitwirkungspflichtig. Nach § 77 Abs. 1 SchulG NRW beteiligt das Ministerium in schulischen Angelegenheiten von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung die am Schulleben beteiligten Verbände und Organisationen. Diese Beteiligung erstreckt sich nach Abs. 2 Ziff. 4 insbesondere auf Schulversuche. Auch diese Regelung entstammt aus dem früheren Schulmitwirkungsgesetz (§ 16 SchMG). Nach § 89 Abs. 2 SchulG NRW kann das Ministerium für Schulversuche und Versuchsschulen durch Rechtsverordnung besondere schulaufsichtliche Zuständigkeiten vorsehen, d.h. die Schulaufsicht abweichend von § 88 Abs. 2 und 3 SchulG NRW regeln, in denen die Zuständigkeiten der Bezirksregierungen als obere Schulaufsicht und der Schulämter als untere Schulaufsicht schulformbezogen festgelegt sind. Eine solche Rechtsverordnung wurde allerdings bislang nicht erlassen, auch früher nicht unter Geltung des Schulverwaltungsgesetzes, das – wie bereits erwähnt – eine inhaltsgleiche Vorläuferbestimmung enthielt (zuletzt § 16 Abs. 4 SchVG). 3. Bestandsschutz für den Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ durch Schulgesetzänderung 2011 Wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit angeführt hat im Juni 2011 das OVG Nordrhein-Westfalen den ursprünglichen, nach dem Regierungswechsel 2010 durch die neue rot-grüne Landesregierung auf den Weg gebrachten Schulversuch einer „Gemeinschaftsschule“ mangels Darlegung eines „Erprobungsbedarfs“ i.S.v. § 25 Abs. 2 SchulG NRW für rechtswidrig erklärt.50 Daraufhin kam es im Sommer 2011 zur Verabredung eines Schulkonsenses mit der oppo49 Vgl.:
Begründung Gesetzentwurf der Landesregierung, Landtag NRW, 14. WP, LT-Drs. 14/1572 v. 28.03.2006, S. 102. 50 Siehe: Einleitung I. – Die von 2010 bis 2012 amtierende Minderheitsregierung hatte im Bildungsbereich die flächendeckende Einführung von „Gemeinschaftsschulen“ angekündigt. In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen war als Ziel vorgegeben, in fünf Jahren mindestens 30 % der allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I zu „Gemeinschaftsschulen“ umzuwandeln. Dies wären mindestens rund 625 weiterführende Schulen (ohne Förderschulen und Waldorfschulen) gewesen. Außerdem sollten neue Schulen zukünftig in der Regel nur noch als „Gemein-
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
sitionellen CDU.51 Dieser bestand im Wesentlichen darin, schulgesetzlich eine neue „Sekundarschule“ einzuführen und dafür sowohl das Regierungskonzept der „Gemeinschaftsschule“, einschließlich eines dazu eingebrachten Änderungsgesetzentwurfs, als auch die von der CDU durch einen parallelen Gesetzentwurf favorisierte Erleichterung der Gründung von „Verbundschulen“, d.h. von organisatorischen Zusammenschlüssen von Haupt- und Realschulen gemäß § 83 Abs. 1–3 SchulG NRW (alte Fassung), aufzugeben.52 Allerdings sollte der schaftsschulen“ gegründet werden. In der formellen Auslobung des Schulversuchs wurden keine quantitativen Grenzen festgelegt. Ende Januar 2011 genehmigte das Schulministerium 17 Versuchsschulen, zwei Anträge wurden abgelehnt. Das Vorhaben war politisch umstritten und führte zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Das OVG NRW verwarf – wie in der Einleitung erwähnt – in einem von zwei Nachbarkommunen gegen die „Gemeinschaftsschule Finnentrop“ im Sauerland angestrengten Eilverfahren den dortigen Versuch. Auf diese Entscheidung wird später noch eingehend zurückzukommen sein. Auch das erstinstanzlich zuständige VG Arnsberg hatte in einem eingehend begründeten, noch auf weitere Gesichtspunkte abstellenden Beschluss die Voraussetzungen für einen Schulversuch verneint. Siehe: VG Arnsberg, Beschl. v. 08.04.2011 – 10 L 141/11 und 10 L 155/11, justiz.nrw.de. Dazu: Klaus Ferdinand Gärditz, Schulversuche zwischen interkommunaler Rücksichtnahme und Vorbehalt des Gesetzes. Zu VG Arnsberg, Beschlüsse vom 08.04.2011 – 10 L 141/11 und 10 L 155/11, in: DVBl. 2011, S. 712-715. Dieser hatte bereits vorher den Schulversuch wegen Verstoßes gegen den Vorbehalt des Gesetzes für unzulässig angesehen. Siehe: Klaus Ferdinand Gärditz, Stellungnahme zu Verfassungsfragen des Schulreformvorhabens der Landes regierung von Nordrhein-Westfalen. Gutachten für den Philologenverband NordrheinWestfalen (Online verfügbar: www.phv-nw.de/cms/images/stories/Inhalt/Presse/ Pressemitteilungen/Gutachten.pdf), S. 2 ff. 51 Gemeinsame Leitlinien von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen für die Gestaltung des Schulsystems in Nordrhein-Westfalen v. 19.07.2011, später eingekleidet in einer, von deren Parlamentsfraktionen eingebrachten und beschlossenen Entschließung des Landtages. Siehe: Entschließungsantrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Schulkonsens für Nordrhein-Westfalen auf den Weg bringen“, Landtag NRW, 15. WP, LT-Drs. 15/2428 v. 20.07.2011. 52 Gesetzentwurf der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Gesetz zur Einführung der Gemeinschaftsschule (6. Schulrechtsänderungsgesetz)“ v. 12.07.2011, Landtag NRW, 15. WP, LT-Drs. 15/2362; Unterrichtung durch den Präsidenten des Landtags über die Zurückziehung dieses Gesetzentwurfs, LT-Drs. 15/3006 v. 12.10.2011 bzw. des Gesetzentwurfs der CDU-Fraktion „Sechstes Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (6. Schulrechtsänderungsgesetz)“ v. 10.05.2011, Landtag NRW, 15. WP, LT-Drs. 15/1915; Unterrichtung durch den Präsidenten des Landtags über die Zurückziehung dieses Gesetzentwurfs, LT-Drs. 15/3017 v. 14.10.2011. – Überdies wurde in der Landesverfassung die Garantie der Hauptschule gestrichen und ersetzt durch einen neuen Art. 10 Abs. 1 Satz 2 LVerf NRW: „Das Land gewährleistet ein ausreichendes und vielfältiges öffentliches Schulwesen, das ein gegliedertes Schulsystem, integrierte Schulformen sowie weitere andere Schulformen ermöglicht.“
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Schulversuch für zwölf „Gemeinschaftsschulen“, gegen deren Errichtung vor Ort keine verwaltungsrechtliche Klage erhoben worden war, im Interesse der betroffenen Schüler und Kommunen, da das neue Schuljahr 2011/2012 unmittelbar bevorstand, gesetzlich abgesichert werden. Inwieweit diese „Gemeinschaftsschulen“ ohne gesetzliche Absicherung tatsächlich, wie die Schulministerin anfangs unter Berufung auf eine einmonatige Klagefrist stets behauptete,53 ansonsten rechtlich bestandsgeschützt gewesen waren, ist zweifelhaft. Immerhin räumte die Landesregierung in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage später ein, dass sie nicht ausschließen konnte, dass in keinem Fall mangels ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung statt der einmonatigen Klagefrist gemäß § 58 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung eine Klagefrist von einem Jahr galt.54 In der Schulgesetznovelle55 zur Umsetzung des für den Zeitraum bis 2023 verabredeten Schulkonsenses wurde der Rettungsanker für den verbliebenen Restversuch als neuer Art. 2 Abs. 1 des Schulgesetzes unter „Übergangs vorschriften“ platziert: „Schulen, die an dem zum 1. August 2011 begonnenen Schulversuch ‚Längeres gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule‘ teilnehmen, können bis zum Ablauf des Schuljahres 2019/2020 und danach auslaufend nach den Versuchsbedingungen arbeiten. Ab 1. August 2020 werden sie kraft dieses Gesetzes als Sekundarschule gemäß § 17a SchulG geführt, wenn sie nur die Sekundarstufe I umfassen, oder als Gesamtschule gemäß § 17 SchulG, wenn sie die Sekundarstufen I und II umfassen. Die gesetzliche Mindestgröße muss gewährleistet sein. Auf Antrag des Schulträgers ist die Überführung auch vorher möglich. Gemeinschaftsschulen, die die Sekundarstufen I und II umfassen, können Kooperationspartner gemäß § 17a Abs. 2 Satz 2 SchulG sein.“ 53 Siehe: Landtag NRW, Stenogr. Protokoll der 36. Sitzung v. 29.06.2011, 15. WP, Plenarprotokoll 15/36, S. 3560. Ebenfalls so die Einlassung der Schulministerin in einer Sondersitzung des Ausschusses für Schule und Weiterbildung des Landtages NRW am 22.06.2011, APr 15/237, S. 6. 54 Siehe: Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage des Abg. Prof. Thomas Sternberg (CDU) „Rechtliche Konsequenzen der ‚offensichtlich rechtswidrigen‘ Genehmigung der Gemeinschaftsschulen – Unterblieben zudem auch richtige Rechtsmittelbelehrungen?“, Landtag NRW, 15. WP, LT-Drs. 15/2527 v. 05.08.2011, zu Frage 2. 55 „Gesetz zur Weiterentwicklung der Schulstruktur in Nordrhein-Westfalen (6. Schulrechtsänderungsgesetz)“ v. 25.10.2011 (GV. NRW S. 540). – Siehe dazu auch die Erläuterungen bei: Christian Jülich/Werner van den Hövel (Hrsg.), Schulrechtshandbuch Nordrhein-Westfalen, (Loseblatt-)Kommentar zum Schulgesetz NRW mit Ratgeber und ergänzenden Vorschriften, Köln/Neuwied (Stand 2012), Art. 2 Rn. 3 f.; Gerhard Bülter, in: Winfried Jehkul u.a. (Hrsg.), Schulgesetz für das Land NordrheinWestfalen, (Loseblatt-)Kommentar für die Schulpraxis, Essen (Stand 2012), § 132 Anm. 2.1.
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Somit können die zwölf „Gemeinschaftsschulen“ bis Ablauf des Schuljahres 2019/2020, was einem vollständigen neunjährigen Durchgang der zur Schul errichtung im Schuljahr 2011/2012 eingeschulten Schüler entspricht, und danach auslaufend nach den Versuchsbedingungen arbeiten. Durch die gesetzliche Zusicherung, dass die Versuchsbedingungen den Schulen erhalten bleiben, soll nach der Gesetzesbegründung dem angeblichen „Vertrauensschutz“ genehmigter Schulen hinsichtlich der festgesetzten Rahmenbedingungen einschließlich der Ressourcen Rechnung getragen werden.56 Änderungen der Schulen im Sinne des Schulgesetzes, etwa zur Zügigkeit, sind in diesem Rahmen möglich.57 Damit verbleiben den zwölf Schulen erheblich bessere Rahmenbedingungen, insbesondere kleinere Klassen und diverse Stellenzuschläge, als allen anderen weiterführenden Schulen, auch den neuen Sekundarschulen.58 Nach Auslaufen des Versuchs im Jahre 2020 werden die „Gemeinschaftsschulen“ als Sekundarschulen geführt, wenn sie nur eine Sekundarstufe I umfassen, oder als Gesamtschulen, wenn sie über eine eigene gymnasiale Oberstufe ver56 Siehe:
Gesetzentwurf der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Gesetz zur Weiterentwicklung der Schulstruktur in Nordrhein-Westfalen (6. Schulrechtsänderungsgesetz)“, Landtag NRW, 15. WP, LTDrs. 15/2767 v. 06.09.2011, S. 29, Begründung zu Art. 2 Abs. 1. – Zutreffend spricht Bülter, ebenda, von einem „rechtlich zweifelhaften, aber politisch gewollten Vertrauensschutz“. 57 So: Gesetzesbegründung, ebenda. 58 Die ministeriellen Eckpunkte des Schulversuchs sehen für die „Gemeinschaftsschulen“ die nachfolgenden günstigen Ressourcen vor, die dementsprechend in den Genehmigungsbescheiden aufgenommen sind: Bei der Errichtung Mindestklassengröße 23 Schüler (statt 25 bei Grundschulen, Gesamtschulen und den neuen Sekundarschulen, ansonsten 28 gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW); Klassenfrequenzhöchstwert für die integrative Form 25, in der kooperativen Form 29 Schüler (derzeit 30 in dreizügigen und 29 in vierzügigen weiterführenden Schulen), Klassenfrequenzrichtwert 24 (nur bisher in der Hauptschule, ansonsten 28 in allen anderen weiterführenden Schulformen, für Sekundarschule nunmehr 25), Pflichtstundenzahl der Lehrkräfte 25,5 (wie an Gesamtschulen und Gymnasien, dagegen derzeit 28 an Haupt- und Realschulen, und nunmehr auch 25,5 an Sekundarschulen). Außerdem: Stellenzuschlag in Höhe von 0,5 Stunden je Klasse je Woche wegen eines unterstellten erhöhten Differenzierungs-/Förderbedarfs; „Versuchszuschlag“ in Höhe von 0,5 Stellen pro Schule und Jahr wegen eines angenommenen erhöhten Schulentwicklungsaufwands; Errichtung in der Regel als gebundene Ganztagsschule. Siehe: „Zentrale Eckpunkte für das Modellvorhaben ‚Gemeinschaftsschule‘ (Schulversuch gem. § 25 Abs. 1 und 4 SchulG)“. RdErl. des Ministeriums für Schule und Weiterbildung v. 21.09.2010, Online verfügbar im Schulmailarchiv: http://www.schulministerium.nrw.de/SV/Schulmail/Archiv/1009211/ index.html. – Zum Problem, wenn die Einrichtung und Durchführung eines Schulversuchs mit einer erheblichen ressourcenmäßigen Besserstellung erfolgt, später näher unten Dritter Teil Drittes Kapitel III. Siehe auch: Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 51 f.
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fügen. Auf Antrag des Schulträgers ist die Überführung auch vorher möglich.59 Nach Art. 2 Abs. 3 der Schulgesetznovelle wird die Arbeit der Schulen wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Das Schulministerium hat dem nordrheinwestfälischen Landtag bis 31.12.2016 über das Ergebnis der Arbeit zu berichten. 4. Schulgesetzliche Regelung eines Schulversuchs zum Zusammenschluss von Grundschulen und weiterführenden Schulen (2011) Im Rahmen des Schulkonsenses wurde auf Betreiben der rot-grünen Regierungskoalition Einvernehmen über einen weiteren, gleichfalls schon auf der Ebene des Schulgesetzes anzusiedelnden Schulversuch erzielt.60 Danach sollen bis zu 15 Versuchsschulen den Zusammenschluss einer Grundschule und einer weiterführenden Schule erproben. Die Teilnahme daran ist nur zu Beginn des Schuljahres 2013/2014 oder des Schuljahres 2014/2015 möglich. Die entsprechende gesetzliche Versuchsbestimmung ist ebenfalls in den Übergangsvorschriften aufgenommen, und zwar in Artikel 2 Abs. 2: „Das Ministerium kann auf Antrag des Schulträgers und nach Anhörung der betroffenen Schulen an bis zu 15 Schulen beginnend mit dem Schuljahr 2013/2014 oder dem Schuljahr 2014/2015 für einen Zeitraum von zehn Schuljahren und danach jahrgangsstufenweise auslaufend erproben, ob durch den Zusammenschluss mit einer Grundschule zu einer Schule die Chancengerechtigkeit und die Leistungs fähigkeit des Schulwesens erhöht werden und die Schülerinnen und Schüler dadurch zu besseren Abschlüssen geführt werden können. Außerdem soll hierbei erprobt werden, wie im Hinblick auf die demografische Entwicklung und die sich wandelnde Abschlussorientierung der Eltern weiterhin ein wohnortnahes Schul angebot ermöglicht werden kann. Die Anerkennung der Abschlüsse in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland muss gesichert sein. Die näheren Regelungen über Änderungen und Ergänzungen der Unterrichtsinhalte, der Unterrichtsorganisation, über die Formen der Schulverfassung und der Schulleitung sowie über die Rahmenbedingungen trifft das Ministerium.“
59 Die Verbundschule wird in gleicher Weise durch die Sekundarschule ersetzt. Bereits bestehende oder genehmigte Verbundschulen aus Haupt- und Realschulen können nach Art. 2 Abs. 4 des 6. Schulrechtsänderungsgesetzes ebenfalls noch bis zum Ablauf des Schuljahres 2019/2020 und danach auslaufend fortgeführt werden. Ab 01.08.2020 werden auch sie kraft dieses Gesetzes als Sekundarschulen gemäß § 17a SchulG NRW geführt. 60 Dieser war bereits als – bis auf den weiteren Startbeginn zum Schuljahr 2014/2015 – wortgleicher § 132b Abs. 2 SchulG NRW im später zurückgezogenen Gesetzentwurf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen (Fn. 52) enthalten. Siehe dort Art. 1 Ziff. 7.
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2. Teil: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
In der Gesetzesbegründung ist das Ziel des Schulversuchs noch klarer umschrieben. Danach soll erprobt werden, welche Rolle Schulformempfehlungen unter den besonderen Bedingungen dieser Schulen spielen, wie stark die Bindung von Schülerinnen und Schülern der Grundschule an eine solche Schule in der Sekundarstufe I ist und wie der Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe I ausgestaltet und verbessert werden kann.61 Für diesen Zusammenschluss kommen, auch wenn dies weder im Gesetz noch in seiner Begründung explizit zu lesen ist, zwangsläufig nur weiterführende Schulen in Betracht, die entweder integrativ arbeiten oder in kooperativer Form alle Bildungsgänge anbieten, d.h. Gesamtschulen und die neue Sekundarschule. Auch für diesen Schulversuch sieht Art. 2 Abs. 3 der schulgesetzlichen Übergangsvorschriften eine wissenschaftliche Begleitung und Auswertung sowie eine Berichtspflicht des Schulministeriums gegenüber dem Landtag vor, hier aber erst bis zum 31.07.2020. Das Schulministerium NRW hat, wie bereits ausgeführt,62 im Juni 2012 aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung den entsprechenden Schulversuch unter der Bezeichnung „PRIMUS – Schulversuch zum längeren gemeinsamen Lernen“ auf den Weg gebracht.63 61 Siehe: Entwurf 6. Schulrechtsänderungsgesetz (Fn. 56), S. 30, Begründung zu Art. 2 Abs. 2. Zur weiteren Präzisierung heißt es dort: „Im Schulversuch ist insbesondere zu klären, in welcher Weise die Arbeit der Primarstufe in die der weiterführenden allgemein bildenden Schulen einbezogen werden kann und welche Auswirkungen das längere gemeinsame Lernen unter diesen besonderen Bedingungen auf das Lernverhalten, die Leistungsentwicklung und das Sozialverhalten hat. Dabei soll auch untersucht werden, welche Rolle unterschiedliche Ausgangssituationen und Anforderungen in städtischen Ballungszonen und im ländlichen Raum spielen. Dies ist bei der Auswahl der Schulen zu berücksichtigen. Darüber hinaus sollen Erkenntnisse dazu gewonnen werden, welche besonderen Voraussetzungen Lehrkräfte dieser Schulen erfüllen müssen und in welchen Jahrgangsstufen Lehrkräfte mit dem Lehramt Primarstufe oder Sekundarstufe I sinnvoll eingesetzt werden können.“ Siehe zu dieser Übergangsvorschrift ebenfalls die Erläuterungen bei: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, Art. 2 Rn. 5 ff.; Bülter, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 132 Anm. 2.2. 62 Siehe oben Zweiter Teil Siebtes Kapitel III. 63 Siehe: Pressemitteilung des Ministeriums für Schule und Weiterbildung v. 29.06.2012, Online verfügbar: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Presse/ Meldungen/Pressemitteilungen/PM_2012/pm_29_06_2012.html. Siehe dazu näher außerdem: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Schulsystem/Modellprojekte/PRI MUS/index.html – Rechtliche Bedenken gegen den Schulversuch äußert: Bülter, in: Jehkul u.a, Schulgesetz NRW, § 132 Anm. 2.2. Weder der gesetzlichen Übergangsbestimmung noch deren Begründung, dem „Schulpolitischen Konsens“ oder den Eckpunkten des Schulministeriums für den Schulversuch PRIMUS lasse sich entnehmen, ob hinsichtlich der Erprobungsziele auch ein Erprobungsbedarf im Sinne der Rechtsprechung des OVG NRW bestehe.
Dritter Teil
Die Ausgestaltung des Schulversuchs im geltenden Recht Erstes Kapitel
Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung des Schulversuchs in den Ländern I. Die Vorschriften in den Landesschulgesetzen im Überblick Alle 16 deutschen Länder weisen heute in ihren Schulgesetzen mehr oder minder detaillierte Vorschriften zur Durchführung von Schulversuchen auf. Wie für Nordrhein-Westfalen eingehend beschrieben, sind die im Anhang dieser Arbeit abgedruckten aktuellen Fassungen meist ein Ergebnis mehrfacher Novellierungen durch den jeweiligen Landesgesetzgeber. Demgegenüber bleibt der Bund mangels Gesetzgebungskompetenz für das allgemeine Schulwesen diesbezüglich völlig außen vor.1 Nach dem aufgezeigten, durch die Änderung 1 Zur ausschließlichen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz der Länder aufgrund der Grundentscheidungen der Art. 7, 26 Abs. 6, 30, 70 ff. GG statt vieler: BVerfGE 34, 165 (181); Peter Badura, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 7 Rn. 26 f. – Zwar kann der Bund für den Bereich der beruflichen Bildung eine Gesetz gebungszuständigkeit aus der allgemeinen, nicht speziell bildungsbezogenen Kompetenz für das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Nr. 11 GG) herleiten. Letztere erstreckt sich auch darauf, Berufe in der Wirtschaft rechtlich zu ordnen und ihre Berufsbilder zu fixieren, und damit auch „sowohl den Inhalt der beruflichen Tätigkeit wie auch die Voraussetzungen für die Berufsausübung (Ausbildung, Prüfungen) zu normieren“ [BVerfGE 26, 246 (255)]. Doch beschränkt sich die Zuständigkeit des Bundes, Ausbildungs- und Prüfungsregelungen zu treffen, nach völlig herrschender Rechtsauffassung (vgl. Badura, ebenda) auf die betriebliche Berufsausbildung, also im dualen System der Berufsausbildung auf den außerschulischen Lernort Betrieb und nicht auf die Berufsschule. – Weitergehend, Bundeszuständigkeit auch für schulische Ausbildungsregelungen mit konkretem Wirtschaftsbezug: Karl Heinrich Friauf, Verfassungsrechtliche Probleme der Neuordnung des Bildungswesens im Sekundarbereich. Rechtsgutachtliche Stellungnahme zu der Empfehlung „Zur Neuordnung der Sekundarstufe II“ (Gut-
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
des Art. 91b GG im Zuge der Föderalismusreform des Jahres 2006 bewirkten Rückzug des Bundes aus der gemeinsamen Bildungsplanung und hierbei insbesondere der Finanzierung von Bund-Länder-Modellvorhaben im Bildungswesen besteht für diesen keinerlei Regulierungsnotwendigkeit im Schulbereich mehr. Dabei enthielt auch der frühere Art. 91b GG keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes, sondern räumte ihm nur eine Kooperations- und Mitfinanzierungsmöglichkeit ein.2 Die derzeit eingehendste schulgesetzliche Normierung des Schulversuchs besteht in Bayern. Dabei hatte Bayern als eines der letzten Länder Anfang der 1970er Jahre – als Reaktion auf die Verfassungsrechtsprechung zum Vorbehalt des Gesetzes im Schulbereich und nach deutlicher Kritik im rechtswissenschaftlichen Schrifttum – den Schritt von einer nur verwaltungsrechtlichen zu einer gesetzlichen Regelung vollzogen.3 Die Länder Berlin und Hessen, die das Instrument des Schulversuchs seit den 1950er Jahren überdurchschnittlich genutzt haben, weisen aktuell gegenüber den anderen Ländern ebenfalls eine größere Regelungstiefe auf. Bis auf Sachsen und Thüringen, die mit nur zwei knapp gefassten Absätzen auskommen, bewegen sich die Schulversuchs-Vorschriften der meisten Länder im Rahmen des bereits dargelegten Regelungsumfangs des Landes Nordrhein-Westfalen. Ein Großteil der Versuchsparagraphen wurde in den 1970er und 1980er Jahren als Folge der Verfassungsrechtsprechung zum Vorbehalt des Gesetzes zwar nicht wie in Bayern erstmalig geschaffen, aber doch wesentlich ergänzt und modifiziert. Da bei der Ausformulierung der damals neuen Schulversuchserachten und Studien der Bildungskommission, hrsg. v. Deutschen Bildungsrat, Bd. 39), Stuttgart 1975, S. 22 f. Friauf sieht dafür allerdings nur einen schmalen Anwendungsbereich. Dass eine gute (Vor-)Bildung ganz allgemein auch der Tätigkeit im Beruf zugutekomme, reiche zur Kompetenzbegründung des Bundes über Art. 74 Nr. 11 GG nicht aus. 2 Statt vieler: Theodor Maunz, in Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 91b GG Rn. 6, 8 und 25. – Allgemein zur Entwicklung der früheren Gemeinschaftsaufgaben im Bereich Bildung und Forschung in einer verfassungshistorischen Betrachtung: Peter Collin, Entwicklungslinien verfassungsrechtlicher Konturierung und verfassungsdogmatischer Problematisierung der Gemeinschaftsaufgaben im Bildungs- und Forschungsbereich, in: Margrit Seckelmann/Stefan Lange/Thomas Horstmann (Hrsg.), Die Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern in der Wissenschafts- und Bildungspolitik. Analysen und Erfahrungen, Baden-Baden 2010, S. 37-64. 3 Einfügung Art. 26a (Zweck der Schulversuche), Art. 26b (Zulässigkeit der Schulversuche) und Art. 26c (Organisation der Schulversuche) durch Gesetz zur Änderung des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen v. 27.07.1971 (GVBl. S. 252), nach späteren Änderungen nunmehr Art. 58 bis 60 BayEUG. – Zur vorherigen Kritik siehe etwa: Horst Säcker, Schulversuche und Verfassungsrecht, in: RdJB 1972, S. 15.
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
371
mächtigungen, wie bereits referiert, oftmals auf die entsprechenden Bestimmungen des Musterentwurfs des Deutschen Juristentages für ein Landesschulgesetz zurückgegriffen wurde und die Länder darüber hinaus häufig voneinander abgeschrieben haben, enthalten die Vorschriften heute weitgehend den gleichen Regelungsinhalt und stimmen mitunter ebenso im Wortlaut passagenweise überein. Geregelt sind überall eingangs die Ziele und Aufgaben von Schulversuchen. Dies geschieht grosso modo in der Umschreibung, das Schulwesen pädagogisch und organisatorisch weiterzuentwickeln und hierzu, meist durch nicht abschließende Benennung bestimmter Bereiche (insbesondere Aufbau des Schulwesens, Unterrichtsorganisation, Lerninhalte), Abweichungen von schulgesetzlichen Bestimmungen zu erproben. Fast alle Schulgesetze sehen wie in Nordrhein-Westfalen die Möglichkeit vor, Schulversuche nicht nur im Rahmen bestehender Schulformen durchzuführen, sondern hierfür auch besondere Versuchsschulen zu errichten. In allen Schulgesetzen ist weiterhin geregelt, dass die Genehmigung von Schulversuchen durch die oberste Schulaufsichtsbehörde, also auf ministerieller Ebene erfolgt. Im Regelfall sind auch Bestimmungen zu den Beteiligungsformen der Schulträger sowie durchaus uneinheitlich zu zwingenden Versuchsmodalitäten (Befristung, umfangmäßige Begrenzung, Freiwilligkeit des Besuchs von Versuchsschulen, wissenschaftliche Begleitung) enthalten.
II. Verfassungsrechtliche Anforderungen nach dem „Vorrang des Gesetzes“ Bei der Normierung wie auch der Durchführung von Schulversuchen sind die beiden Ausprägungen des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die rechts- und demokratiestaatlichen Grundsätze des Vorrangs sowie des Vorbehalts des Gesetzes, zu beachten. Schulen sind Teil der vollziehenden Gewalt und als solche nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Die Gesetzesbindung und damit die Beachtung des Gesetzesvorrangs, also die Vorgabe, dass Schulen wie auch die sie beaufsichtigende Schulverwaltung nicht gegen das Gesetz verstoßen dürfen, steht seit Inkrafttreten des Grundgesetzes außer Frage. Wie bereits dargelegt, ist seit den klärenden Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in den 1970er Jahren darüber hinaus auch die Geltung des Vorbehalts des Gesetzes im Schulwesen nicht mehr im Streit. Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes dürfen Schulen organisatorisch und in ihrem schulischen Handeln nicht gegen geltendes Gesetzesrecht verstoßen. Schulversuche benötigen deshalb bereits nach dem Gesetzesvorrang einer gesetzlichen Grundlage, weil sie per definitionem von allgemein geltenden Bestimmungen eines Schulgesetzes oder aufgrund eines solchen Gesetzes erlas-
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
senen Rechtsverordnungen abweichen.4 Sofern also eine Materie oder eine Fragestellung im Schulbereich gesetzlich oder durch Rechtsverordnung geregelt ist, bedarf jede Abweichung hiervon ebenfalls der gesetzlichen Grundlage. Die Notwendigkeit einer allgemeinen schulgesetzlichen Versuchsermächtigung haben deshalb alle Landesgesetzgeber gesehen, weil anderenfalls eine versuchsweise Weiterentwicklung ihres Schulwesens außerhalb der Bahnen des geltenden Schulrechts nicht möglich wäre. 1. Konnexität des Schulversuchs mit der Verrechtlichung des Schulwesens Solange sich zuvor bis Ende der 1960er Jahre das zweite Prinzip, der Vorbehalt des Gesetzes, im Schulbereich noch nicht durchgesetzt hatte, also nach der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis die Regelung des Schulbetriebs weitgehend der Exekutive überlassen war, bedurfte es nach dieser Sichtweise auch keiner gesetzlichen Normierung des Schulversuchs. Als umgekehrt seit den 1970er Jahren aufgrund der stetigen Durchsetzung des Gesetzesvorbehalts eine zunehmende tiefgreifende Verrechtlichung des Schulwesens einsetzte, erhielten damit korrespondierend auch die nunmehr gleichzeitig geschaffenen bzw. novellierten Versuchsvorschriften der Schulgesetze einen immer größeren Anwendungsbereich. Je mehr die schulgesetzliche Regelungsdichte zunahm, umso häufiger mussten bei Erprobung von neuen schulischen Ansätzen die schulgesetzlichen Versuchsvorschriften in Anspruch genommen werden. Die Zunahme von Schulversuchen Anfang der 1970er Jahre war also auch eine Folge der Verrechtlichung des Schulwesens, ein Korrektiv zur Erhaltung pädagogischen und organisatorischen Gestaltungsspielraums. Erst in den letzten Jahren schlägt das Pendel wieder um. Die Schulgesetzgeber in allen Bundesländern gehen vermehrt dazu über, zur Gewährleistung von mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schulen wie auch der Lehrkräfte überschießende, vom Gesetzesvorbehalt nicht geforderte Detailregelungen zurückzunehmen. 2. Entbehrlichkeit von Schulversuchen durch mehr Schulautonomie Zunehmend werden die schulrechtlichen Vorschriften – soweit dies bei Beachtung des Vorbehalts des Gesetzes möglich ist – auch bewusst weiter gefasst, um den Schulen und den Lehrkräften mehr pädagogische Freiheit einzuräumen. Beispielhaft steht dafür § 29 SchulG NRW. Zur inhaltlichen Gestaltung der Schule wird darin zwar vorgeschrieben, dass das Schulministerium in der Regel schul4 Ebenso:
Avenarius, in: Avenarius/Füssel, Schulrecht, S. 97.
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
373
formspezifische Vorgaben für den Unterricht (Richtlinien, Rahmenvorgaben, Lehrpläne) erlässt und die Schulen hierauf basierend schuleigene Unterrichtsvorgaben bestimmen. Die ministeriellen und die schuleigenen Unterrichtsvorgaben sind aber „so zu fassen, dass für die Lehrerinnen und Lehrer ein pädagogischer Gestaltungsspielraum bleibt.“ Dahinter steht in Bezug auf Lehrpläne ein Wandel von einem herkömmlich eher stoff- und kanonorientierten Unterricht zu einem an zu erreichenden Bildungsstandards ausgerichteten kompetenzorientierten Unterricht, ein Unterricht, bei dem also nicht einseitig im Mittelpunkt steht, was durchgenommen wurde, sondern was die Schüler am Ende tatsächlich können.5 Ein derartiger Paradigmenwechsel vollzieht sich seit zehn Jahren – gestützt auf entsprechende Erkenntnisse aus den internationalen Leistungsvergleichsstudien (PISA, IGLU, TIMMS) und forciert durch die Bildungswissenschaft – in allen deutschen Ländern. Dies bedeutet mehr Autonomie für Schulen und Lehrkräfte, aber im Gegenzug auch deutlich mehr Verantwortung für das, insbesondere auch durch zentrale Vergleichsarbeiten zu überprüfende, Erreichen von Zielen.6 Diese neue Offenheit in Schulgesetzen, ausführenden Ausbildungs- und Prüfungsordnungen sowie nunmehr sogenannten „Kern“-Lehrplänen führt dazu, dass mitunter etwas als Schulversuch diskutiert und beantragt wird, was zwar eine pädagogische Neuerung und ein Schulversuch im pädagogischen Sinne sein mag, aber nach geltendem Schulrecht bereits ohne weiteres möglich ist. Exemplarisch aufgezeigt sei dies an der immer wieder in den Schulen diskutierten Frage der Dauer einer Schulstunde. In den letzten Jahren rücken viele Schulen in Nordrhein-Westfalen vom traditionellen 45-Minutentakt für eine Unterrichtsstunde ab und experimentieren mit Zeitrastern von 60 Minuten und mehr. Dafür bedarf es keines Schulversuchs. Die Unterrichtsdauer ist in Nordrhein-Westfalen schulgesetzlich nicht vorgeschrieben, vielmehr kann jede Schule diese innere Angelegenheit in eigener Verantwortung selbstständig regeln.7 Als „Organisationsform ihrer pädagogischen Arbeit“ ist sie allerdings im Schulprogramm fest5 So: Eckhard Klieme, Bildungsstandards und Kompetenzorientierung – mehr Transparenz und Eigenverantwortung, in: Schule NRW 2011, S. 57. – Grundlegend bis heute die Gemeinschaftsstudie führender deutscher Bildungswissenschaftler unter Federführung des DIPF: Eckhard Klieme u.a., Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, Frankfurt a.M. 2003. 6 Zu diesem Zusammenhang: Avenarius u.a., Bildungsbericht für Deutschland, S. 109; Jürgen Baumert, Transparenz und Verantwortung, in: Nelson Killius/Jürgen Kluge/Linda Reisch (Hrsg.), Die Bildung der Zukunft, Frankfurt a.M. 2003, insb. S. 221, 226. 7 Der Vorwurf, der einzige Sinn der 45-Minuten-Stunde sei administrativ normierende Kontrolle – so der Bildungshistoriker Heinrich Bosse [in: Nacim Ghanbari, Die Erfindung der Bildung. Gespräch mit Heinrich Bosse, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 66 (2012), S. 702] – trifft jedenfalls für Nordrhein-Westfalen nicht mehr zu.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
zulegen, über das die Schulkonferenz, also das oberste Mitwirkungsgremium aus Lehrkräften, Eltern und Schülern, entscheidet (§ 65 Abs. 2 Nr. 1 SchulG NRW i.V.m. § 3 Abs. 1, 2 SchulG NRW). Entgegen landläufiger Meinung in den Schulen enthalten auch die auf schulgesetzlicher Grundlage als Rechtsverordnungen ergangenen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für die einzelnen Schulformen diesbezüglich keine Beschränkungen.8 Festzuhalten bleibt mithin, dass, bevor eine neue schulische Maßnahme auf eine schulgesetzliche Versuchsklausel gestützt wird, zu prüfen ist, ob überhaupt eine Abweichung von geltendem Gesetzes- und Verordnungsrecht im Schul wesen und damit ein Schulversuch im Sinne des jeweiligen Schulgesetzes vorliegt. 3. Infragestellung des Gesetzesvorrangs durch exzessive Versuchspraxis Die Vorschriften aller Länder über den Schulversuch vermeiden es, diesen ausdrücklich als „Ausnahme“ zu bezeichnen. Der Ausnahmecharakter erschließt sich vielmehr dadurch, dass als Rechtsfolge eines Schulversuchs zumeist eine Befugnis zu „Abweichungen“ von den jeweiligen schulgesetzlichen Bestim-
8 Viele nordrhein-westfälische Schulen erliegen einer Fehlinterpretation des § 3 Abs. 1 Satz 3 AO-GS bzw. § 4 Abs. 1 Satz 1 APO S I („Eine Unterrichtsstunde nach der Stundentafel wird mit 45 Minuten berechnet.“). Damit ist in diesen Rechtsverordnungen keine Sperre gegen eine längere Unterrichtsdauer errichtet, vielmehr ist der 45-Minutentakt hier lediglich als Berechnungseinheit (insbesondere als Berechnungsgrundlage für die Fächeranteile nach der Stundentafel) festgelegt. Es ist daher unschädlich, dass in der AO-GS und den anderen nordrhein-westfälischen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen eine Ausnahmeregelung wie in § 4 Abs. 1 Satz 2 APO S I, wonach die Schulkonferenz andere Zeiteinheiten als diejenige von 45 Minuten beschließen kann, fehlt. Nach einem Erlass, also nicht einer Rechtsverordnung des Schulministeriums darf allerdings die mit 45 Minuten berechnete Grundeinheit für eine Schulstunde nicht gekürzt werden. Siehe: RdErl. d. Kultusministeriums „Unterrichtsbeginn an allgemeinbildenden Schulen“ v. 14.12.1983 (GABl. NRW 1984, S. 5) i.d.F. v. 23.10.1984 (GABl. NRW S. 504 / BASS 12–63 Nr. 3). Ein anderer Erlass, RdErl. d. Kultusministeriums „Fünf-Tage-Wochen an Schulen“ v. 24.06.1992, (GABl. NRW I, S. 149) i.d.F. v. 23.12.2010 (ABl. NRW. 1/11 S. 38 / BASS 12–62 Nr. 1), hier Ziff. 2.5, geht schließlich ausdrücklich auf die „Schulen ein, die statt der 45 Minuten dauernden Unterrichtsstunde andere Zeiteinheiten für die Organisation des Unterrichts eingeführt haben.“ Für diese gelten danach die darin getroffenen Regelungen zur Unterrichtsverteilung entsprechend. – Vgl. zur Vorgabe als bloße Berechnungseinheit: Ulrich Pfaff/Norbert Rieth/Thomas Schüssel, Ausbildungsordnungen für die Grundschule, für die Sekundarstufe I und für die sonderpädagogische Förderung in NRW, Köln 2007, § 3 AO-GS Rn. 4.
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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mungen vorgesehen ist.9 Ein „Abweichen“ setzt indes logisch voraus, dass die schulgesetzlichen Bestimmungen für den Normalfall Geltung beanspruchen; an der grundsätzlichen Bindung der Schulen an die schulgesetzlichen Vorgaben soll, auch wenn diese für Schulversuche suspendiert sind, nichts geändert werden.10 Der Vorrang des Schulgesetzes kann allerdings durch eine exzessive Versuchspraxis in Frage gestellt werden. Genehmigt ein Ministerium Schulversuche zu großzügig oder initiiert die Schulaufsicht selbst laufend zu allen möglichen Bereichen Schulversuche, womöglich auch noch wenig sachorientiert und ohne ausreichende Vorbereitung sowie wissenschaftliche Begleitung, besteht die Gefahr, dass die Achtung vor dem Schulgesetz in den Schulen und in der schulpolitischen Öffentlichkeit verloren geht. Dass eine reservierte Haltung in Lehrer- und Elternschaft gegenüber Schulversuchen keine Seltenheit ist und daran häufig eine zu große Experimentierfreude der Schulaufsichtsbehörden einen maßgeblichen Anteil hat, wurde verschiedentlich im historischen Teil dargestellt. Eine unübersichtliche Zahl gesetzesdurchbrechender Schulversuche tangiert den Gesetzesgehorsam in den Schulen. Degradiert die ungebremste Versuchseuphorie im Extremfall das Gesetz in einzelnen Teilen zur bloßen Hülse, indem dort der Gesetzesbefehl weitgehend durch Schulversuche ausgebootet ist, d.h. der Schulversuch zur Regel wird, setzt die Schulverwaltung sich in einen Gegensatz zum Vorrang des Gesetzes. Ein derartiger Extremfall mag bisher theoretischer Natur geblieben sein, er ist indes denkbar. Die Schulaufsicht handelt verantwortungsvoll, wenn sie das Ausnahmeinstrument Schulversuch entsprechend maßvoll in Anspruch nimmt.
III. Verfassungsrechtliche Anforderungen nach dem „Vorbehalt des Gesetzes“ Ergibt sich die Notwendigkeit einer schulgesetzlichen Normierung des Schulversuchs bereits nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes, hat derjenige des Vorbehalts des Gesetzes Bedeutung für den Inhalt und das Ausmaß einer gesetzlichen Schulversuchsermächtigung.11 Nach der bereits wiedergegebenen 9 Eine solche Rechtsfolgeanordnung weisen die Versuchsvorschriften in BadenWürttemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Sachsen-Anhalt nicht auf. In Bayern und dem Saarland findet der Begriff „Abweichung“ nur bei den Vorschriften zu Versuchsschulen Verwendung, in Mecklenburg-Vorpommern wird der Begriff „Veränderung“ genutzt. 10 Vgl. zur Verwendung des Begriffs „Abweichen“ in Ermächtigungen zum Dispens: Mußgnug, Dispens von gesetzlichen Vorschriften, S. 67. 11 Da heutzutage weitgehend alle wesentlichen Fragen des Schulwesens gesetzlich geregelt sind, ist mit dem Vorrang des Gesetzes gleichzeitig eine Vorbehaltswirkung verbunden. Abweichungen vom geltenden Schulrecht für Schulversuchszwecke sind
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vorbehalt des Gesetzes verpflichten das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip den parlamentarischen Gesetzgeber, die für den Schulbereich wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und sie nicht der Exekutive zu überlassen.12 Zwischenzeitlich existiert auch hinsichtlich der Reichweite und Tiefe des Gesetzesvorbehalts, also dessen, was wesentliche Entscheidungen im Schulbereich sind und deshalb einer jeweiligen Ermächtigung durch förmliches Parlamentsgesetz bedarf, eine umfangreiche Kasuistik und rechtswissenschaftliche Literatur.13 Die Eckpunkte sind hierdurch abgesteckt, doch hat die Publikationsflut die Rechtsunsicherheit hinsichtlich dessen, was „wesentlich“ im Schulbereich ist und mit welcher Intensität gesetzlich zu regeln ist, letztlich nicht beseitigt. Dies bedarf mangels trennscharfer verlässlicher Kriterien immer noch in jedem Einzelfall einer klärenden Abwägung.14 Die Grundentscheidung, Schulversuche und hierfür Abweichungen von schulrechtlichen Bestimmungen (Schulgesetze, Rechtsverordnungen) zuzulassen, haben die jeweiligen Gesetzgeber in den Schulgesetzen der Länder getroffen. Doch folgen aus dem Parlamentsvorbehalt auch Anforderungen an die konkrete Ausgestaltung einer allgemeinen Versuchsklausel in den Schulgesetzen, nämlich ein Gebot an den parlamentarischen Gesetzgeber zur hinreichenden Konkretisierung, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Ausmaß Schulversuche allgemein möglich sein sollen. Eine Vorschrift, die lapidar Schulversuche und unbegrenzte Abweichungen vom geltenden Schulgesetz zuließe, quasi ein „Blankoscheck“ zum Experimentieren außerhalb schulrechtlicher Bindungen, würde über die Infragestellung des Gesetzesvorrangs hinaus keinesfalls dem Vorbehalt des Gesetzes genügen. Darüber hinaus folgt aus der Wesentlichkeitstheorie, dass im Einzelfall eine allgemeine schulgesetzliche Versuchsklausel als Versuchslegitimation nicht ausreicht, sondern es hierzu einer auf die konkrete Fallkonstellation bezogenen ausnur noch auf schulgesetzlicher Grundlage möglich. Es bedarf daher heute zur grundsätzlichen Begründung der Notwendigkeit einer allgemeinen Schulversuchsermächtigung, also des „ob“ einer gesetzlichen Ermächtigung, nicht mehr des Rückgriffs auf den Gesetzesvorbehalt. Insoweit gilt die klassische Feststellung, dass der Anwendungsbereich des Vorbehalts des Gesetzes vor allem durch den Vorrang der schon vorhandenen förmlichen Gesetze umschrieben wird. So schon: Richard Thoma, Der Vorbehalt der Legislative und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Rechtsprechung, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, Tübingen 1932, S. 222. 12 Siehe oben Zweiter Teil Erstes Kapitel III., insb. auch dort Fn. 36. 13 Aktuelle Überblicke: Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, Art. 7 GG Rn. 24 f.; Uhle, in: Epping/Hillgruber, GG-Kommentar, Art. 7 GG Rn. 4 f.; Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl., München 2011, § 6 Rn. 27. 14 Dazu grundlegend: Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Rz. 44 ff.; ders., Schule im Rechtsstaat, S. 878 ff.
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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drücklichen Entscheidung des Parlaments und damit einer besonderen gesetz lichen Ermächtigung bedarf. Die Inanspruchnahme einer allgemeinen Schulversuchsklausel durch die Schuladministration ist demgemäß nicht unerschöpflich möglich. Der Vorbehalt des Gesetzes zeigt vielmehr die Grenzen auf, in denen bei verfassungskonformer Auslegung einer Schulversuchsklausel die allgemeine Ermächtigung zum Schulexperiment endet.15 1. Zur notwendigen Regelungsdichte von Schulversuchsklauseln aufgrund der Wesentlichkeitstheorie Zunächst muss sich also die Ausgestaltung der allgemeinen Schulversuchsermächtigungen in den Schulgesetzen der Länder daran messen lassen, ob sie unter Beachtung der Wesentlichkeitstheorie hinreichend konkretisiert sind. In einer systematischen Betrachtung ist dabei die Situation zugrunde zu legen, dass mit dem Schulversuch von schulgesetzlichen Regelungen abgewichen wird, die ihrerseits vom Gesetzesvorbehalt geboten sind. Soweit dies nicht der Fall ist, also im Falle einer schulgesetzlichen Regelung nicht „wesentlicher“ Sachverhalte etwa im Bereich der Schulorganisation, bedarf es zwar auch nach dem Vorrangprinzip einer Schulversuchsklausel, doch würde hier der Gesetzesvorbehalt hinsichtlich deren Ausgestaltung nicht greifen.16 Die weitere verfassungsrechtliche Beurteilung der Schulversuchsklauseln kann daher letztere, unproblematische Fallkonstellation zunächst ausblenden. Die Regelungsdichte und damit der Bestimmtheitsgrad einer aufgrund des Gesetzesvorbehalts notwendigen gesetzlichen Regelung hängen wiederum von der „Wesentlichkeit“ der zu regelnden Materie ab. Nicht nur die Frage „ob“, sondern auch „inwieweit“ Regelungen des parlamentarischen Gesetzgebers erforderlich sind, richten sich allgemein nach der Intensität, mit der tragende Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere Grundrechte, durch die jeweilige Maßnahme betroffen sind. Je intensiver die Auswirkungen, desto konkreter und detaillierter muss die schulgesetzliche Regelung sein.17 Die Auswirkungen eines Schulversuchs stehen in direktem Zusammenhang mit der schulgesetzlichen Regelung, von der abgewichen werden soll. Sind 15 Ebenso:
Gärditz, Schulversuche, DVBl. 2011, S. 715. in diesem Zusammenhang zutreffend auch: Maaß, Experimentierklauseln für die Verwaltung, S. 100: „Der Umstand des Experimentierens allein führt nicht zur Wesentlichkeit einer Maßnahme.“ 17 Vgl.: BVerfGE 58, 257 (274); 98, 218 (252); Norbert Niehues/Johannes Rux, Schul- und Prüfungsrecht, Bd. 1: Schulrecht, 4. Aufl., München 2006, Rn. 33 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 28; Gärditz, Schulversuche, DVBl. 2011, S. 715. 16 Siehe
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
bei jener Gesetzesvorschrift für den schulischen Normalbetrieb grundrechtsrelevante Bereiche betroffen, namentlich das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG, Art. 8 Abs. 1 Satz 2 LVerf NRW) und das Entfaltungsrecht der Schüler (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 LVerf NRW), erfordert die Freistellung der Schule hiervon im Prinzip einen Bestimmtheitsgrad, den gesetzestechnisch eine allgemeine, nicht auf eine konkrete Fallgestaltung bezogene Ausnahmevorschrift – wie diejenige einer Schulversuchsklausel – nicht aufweisen kann. Erst recht nicht möglich ist eine Abstufung nach der Intensität der Grundrechtsbetroffenheit. Eine Schulversuchsvorschrift, die generell Abweichungen vom Regelbetrieb zulassen will, kann rechtstechnisch aus Gründen der Praktikabilität nur eine mit bestimmten Kautelen versehene Generalklausel sein. Da über den Schulversuch schulgesetzliche Bestimmungen in weiten Teilbereichen außer Kraft gesetzt werden können, kollidiert dies mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass die Auswirkungen, jedenfalls soweit sie im grundrechtlichen Bereich die Intensität von Eingriffen in den Rechtskreis des Einzelnen erreichen, hier das elterliche Erziehungsrecht und das Entfaltungsrecht der Schüler, messbar und in gewissem Ausmaß für den Betroffenen voraussehbar und berechenbar sein müssen.18 Eine Generalermächtigung der Exekutive, Schüler zur Teilnahme an aus dem Schulgesetz sich nicht konkret ableitbaren Schulversuchen zwingen zu können, wäre ein Rückfall in die Zeit des „besonderen Gewaltverhältnisses“. Das ist indes nicht der Fall. 2. Freiwilligkeit der Teilnahme als Prämisse generalklauselartiger Versuchsermächtigungen a) Keine (Schul-)pflicht zur Teilnahme an Versuchen Rechtsstaatlich vereinbar kann angesichts der jedem Experiment innewohnenden Unsicherheiten nur ein Schulversuch sein, dem der einzelne Schüler bzw. die für ihn entscheidenden Eltern sich ohne irgendwelche Begründungsnotwendigkeiten entziehen können. Die staatlich auferlegte Schulpflicht bezieht sich auf den Besuch der Regelschule und der allgemein vorgehaltenen Bildungsgänge. Nur insoweit ist der mit der Schulpflicht verbundene Eingriff in das grundrechtlich garantierte Erziehungsrecht der Eltern und das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Schülers verfassungsrechtlich gerechtfertigt.19 Indem der Staat schul18 Vgl.:
BVerfGE 9, 137 (147); 56, 1 (12). steht nicht im Widerspruch, dass die Schulpflicht auch an einer Versuchsschule oder im Rahmen eines Schulversuchs an einer herkömmlichen Schule erfüllt wird. Insoweit ist die Rechtslage nicht anders als bei dem Besuch einer privaten Ersatzschule. In beiden Fällen ist der Besuch der Schule freiwillig, wodurch die Eingriffsqualität partiell hinsichtlich der Schulauswahl entfällt, allerdings nicht hinsichtlich des 19 Damit
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gesetzlich und in Ausbildungs- und Prüfungsordnung bestimmte Bildungsgänge festlegt, regelt er zugleich, dass diese Bildungsgänge notwendig, aber auch ausreichend sind, um dem Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG zu genügen. Da die gesetzliche Schulpflicht dem legitimen Ziel der Durchsetzung dieses Auftrages dient,20 erfährt sie daraus auch ihre Begrenzung. Allein soweit das durch den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag geforderte und vom Gesetz- bzw. Verordnungsgeber entsprechend normierte allgemeine Bildungsprogramm reicht, ist eine Inpflichtnahme von Eltern und Schülern zulässig. Das dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag gleichgeordnete elterliche Erziehungsrecht21 muss nur insoweit zurücktreten; jenseits der durch die Schulpflicht gezogenen Grenze liegt die Verfügung über den Bildungsweg des Kindes allein bei seinen Eltern bzw. bei volljährigen Schülern bei diesen selbst. Schüler und Eltern haben einen aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG folgenden, der Schulpflicht korrespondierenden Anspruch auf Zugang zum schulgesetzlich normierten Normalprogramm;22 eine Pflicht, „Sonderopfer“ für die allgemeine Weiterentwicklung des Schulwesens zu erbringen, kann es nicht geben. Der Schüler kann durch die Schulpflicht nur angehalten werden, die vom Gesetz- bzw. Verordnungsgeber allgemein für alle Schüler eines Landes vorgesehenen staatlichen Bildungsleistungen entgegenzunehmen, nicht aber, sich gegen seinen bzw. den Willen seiner Eltern auf Experimente einzulassen. In einer Zeit, in der nicht zuletzt die Bildungswissenschaft die entscheidende Bedeutung der schulischen Ausbildung für den späteren beruflichen Lebensweg hervorhebt, ist es dem Einzelnen insbesondere zur Wahrung gleicher Bildungschancen nicht zumutbar, ohne sein Einverständnis eine bislang nicht erprobte und in seinen Wirkungen noch ungewisse Ausbildungssituation hinzugenerellen Zwangs, eine Schule besuchen zu müssen statt etwa häuslichen Privatunterricht zu nehmen. Zur verfassungsrechtlichen Garantie und Funktion der Schulpflicht: Josef Isensee, Die verdrängten Grundpflichten des Bürgers. Ein grundgesetzliches Interpretations vakuum, in: DÖV 1982, S. 617. – Siehe auch: Timo Hebeler/Julia Schmidt, Schulpflicht und elterliches Erziehungsrecht – Neue Aspekte eines alten Themas?, in: NVwZ 2005, S. 1369 f. 20 Vgl.: BVerfG, Beschl. v. 29.04.2003 – 1 BvR 436/03, NVwZ 2003, 1113; OVG Bremen, Urt. v. 03.02.2009 – 1 A 21/07, NordÖR 2009, 158 (159). 21 Vgl.: BVerfGE 34, 165 (183); 98, 218 (244); BVerwGE 18, 40 (42); 107, 75 (83); Badura, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 7 GG Rn. 23. 22 Noch weitergehend „Anspruch auf lehrplanmäßigen Unterricht“ (und damit auf Kompensation von Unterrichtsausfällen und Unterrichtsverkürzungen), abgeleitet aus den staatlichen Lehrplänen und Stundentafeln, der Schulpflicht und dem Grundsatz der Chancengleichheit: Hans-Walter Forkel, Unterrichtsausfall als Rechtsproblem – Schulpflicht, Teilhaberecht, Chancengleichheit, in: SächsVBl. 2010, S. 284 f.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
nehmen.23 Wenn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Staat gehalten ist, „ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet“,24 so folgt daraus zwar kein subjektives Recht auf eine bestimmte Ausgestaltung des Schulsystems,25 doch verstärkt diese Zielbestimmung in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz das Teilhaberecht jedes Einzelnen an dem in Umsetzung dieses Auftrags bisher eingeführten Schulsystem. Allerdings wurde vor allem im Zuge der Gesamtschulversuche Anfang der 1970er Jahre durchaus die Rechtsauffassung vertreten, ein Zwang zum Besuch einer Versuchsschule sei verfassungsrechtlich zulässig, sofern die betroffenen Schüler keine vermeidbaren Nachteile erleiden bzw. für entstehende Nachteile ein Ausgleich geschaffen wird.26 Die Inpflichtnahme der Schüler soll nach dieser, auch in einigen Schulgesetzen heute durchaus noch in Ansätzen Widerhall findenden Auffassung keineswegs gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen; der Teilnahmezwang wird vielmehr durch eine Überhöhung des Schulversuchs als Instrument fortschrittlicher Sozialgestaltung gerechtfertigt: Der Schulversuch sei ein notwendiger Schritt zur Fortentwicklung bzw. Anpassung des Schulwesens an sich verändernde soziale Verhältnisse und Wertvorstellungen. Diese Fortentwicklung sei aber allgemein in dem sozialstaatlichen Auftrag zur Sozialgestaltung und speziell in Art. 7 Abs. 1 GG für das Schulwesen als öffentliche Aufgabe normiert. Wenn für Veränderungen des Schulsystems vorübergehend Differenzierungen zwischen Schülergruppen (Schüler an Regelschulen bzw. solchen an Versuchsschulen) notwendig würden, so seien diese durch eben jenen verfassungsrechtlichen Auftrag sachlich begründet und damit legitimiert. Der Gleichheitssatz könne nicht verbieten, was andere Verfassungsnormen gebieten würden.27 Diese Argumentation indes ist unhaltbar. Öffentliche Interessen kön23 Ähnlich: Dietrich Pirson, Vorläufige und experimentelle Rechtsetzung im Schulrecht und Hochschulrecht, in: Institut für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht der Universität zu Köln (Hrsg.), Festschrift für Herrmann Jahrreiß zum 80. Geburtstag, Köln u.a. 1974, S. 192. – Nach Ansicht von Pirson (ebenda, dort Fn. 30) könnte in Extremfällen die „Auslieferung“ des Einzelnen an schulpolitische Versuche das aus Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitende Verbot einer Behandlung des Einzelnen als bloßes Objekt staatlicher Tätigkeit verletzen. 24 Zitat: BVerfGE 26, 228 (238); 47, 46 (71); 53, 185 (196); 59, 360 (377). 25 Dazu: Ernst Wilhelm Luthe, Bildungsrecht. Leitfaden für Ausbildung, Administration und Management, Berlin 2003, S. 18 m.w.N. 26 Siehe: Horst Harnischfeger/Gerhard Heimann, Rechtsfragen der Gesamtschule (Bd. 13 der „Gutachten und Studien“ der Bildungskommission), Stuttgart 1970, S. 33 f.; Ingo Richter, Schulversuche vor Gericht, in: JZ 1978, S. 555. 27 So: Harnischfeger/Heimann, ebenda. – Siehe auch apodiktisch: Richter, ebenda, wonach die Grundrechte von Eltern und Schüler (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 2 GG,
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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nen auch im Schulwesen nicht pauschal Individualinteressen zurückdrängen.28 Zuzustimmen ist der Feststellung, dass verfassungsrechtlich keine Rechtsmacht des Gesetzgebers zu Handlungen begründbar ist, „als deren Folge die von einem Test Betroffenen im Interesse des zukünftigen Erfahrungsgewinns für andere Beeinträchtigungen in Kauf zu nehmen haben, die sie an sich nicht zu tolerieren hätten“.29 Und weiter trifft zu: „Einen innovationspolitischen Bonus zum Ausprobieren von Grundrechtseingriffen gibt es nicht.“30 Sieht die Schulverwaltung die Notwendigkeit, Neues im Schulversuch zu erproben, muss sie auf freiwillige Teilnahme setzen, selbst wenn dies – wie etwa die Leipziger Schulreformer in der Weimarer Zeit vorbrachten – das Ergebnis verzerren kann. Das aus pädagogischer Sicht nachvollziehbare Interesse an einer Erprobung unter wirklichkeitsgetreuen Bedingungen und deshalb möglichst unveränderten Schülerschaft rechtfertigt in keiner Weise, jungen Menschen ein für ihre weitere Zukunft substanzielles Sonderopfer, das insbesondere im Falle eines misslungenen Versuchs folgenschwer sein kann, zwangsweise abzuverlangen.31 Es würde – so eine zutreffende Conclusio – „dem Wesen des demoArt. 6 Abs. 2 GG) durch die staatliche Schulorganisation eingeschränkt werde. Einen ausdrücklichen grundsätzlichen Teilnahmezwang an Schulversuchen statuiert beispielsweise auch eine Versuchsregelung in der benachbarten Schweiz. § 3 der „Verordnung über Schulversuche an der Volksschule“ des Kantons Zürich v. 11.07.2007 (OS 62, S. 245) i.d.F. v. 09.05.2012 (OS 67, S. 213) lautet: „Wegen der Durchführung eines Schulversuchs werden keine Änderungen der Zuteilung von Schülerinnen oder Schülern zu einer Schule oder Klasse vorgenommen. Die Versuchsgemeinden können auf begründetes Gesuch hin Ausnahmen bewilligen.“ 28 Ähnlich: Luthe, Bildungsrecht, S. 22. 29 Zitat: Wolfgang Hoffmann-Riem, Experimentelle Gesetzgebung, in: Bernd Becker/Hans Peter Bull/Otfried Seewald (Hrsg.), Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, Köln u.a. 1993, S. 65 f. 30 So ebenfalls das prägnante Zitat zu den seiner Ansicht nach nicht abgeschwächten Anforderungen des Verfassungsrechts an eine experimentelle Gesetzgebung: Hoffmann-Riem, ebenda, S. 67. – Ähnlich: BayVerfGH 39, 79 (142), wonach die verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen experimentierenden Gesetzgeber bestehen bleiben und ein Gesetzgebungsexperiment nicht als Spielwiese für verfassungswidrige Normierungen missverstanden werden dürfe. 31 Siehe dazu auch die Grundsatzentscheidung des BVerfG zur hessischen Förderstufe. Nach Ansicht des Gerichts griff, insoweit der Situation beim Schulversuch vergleichbar, der seinerzeit vorgetragene pädagogische Gesichtspunkt nicht durch, dass die Förderstufe ihrer Anlage nach Schüler aller Begabungsgrade und Begabungsrichtungen benötige, um ihr Ziel zu erreichen. „Da das System der Förderstufe relativ neu ist und eine Schulreform erfahrungsgemäß Unsicherheiten und Beschwernisse mit sich bringt, muß den Eltern – solange noch herkömmliche Klassen bestehen – die Wahl der auswärtigen Schule offengehalten werden. … Im übrigen ist es Sache der Schulverwaltung, die Eltern von den Vorzügen der Förderstufe gegenüber dem herkömmlichen Schulsystem zu überzeugen und sie auf diesem Wege dazu zu bringen, ihre Kinder
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
kratischen Rechtsstaates, dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und dem Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule widersprechen, wenn man schulpflichtige Kinder zwangsweise an Schulexperimenten – auch im Rahmen bestehender Schulen – teilnehmen lassen würde. Denn die Weiterentwicklung des Schulwesens bezweckt ja gerade, daß Reformmaßnahmen erst nach ausreichender Erprobung im allgemeinen Unterricht angeboten und dann mit Zwang durchgesetzt werden.“32 b) Ausschluss grundrechtswesentlicher Versuchsauswirkungen durch Freiwilligkeit Der Schlüssel für die Zulässigkeit einer generalklauselartigen Ermächtigung zum Schulversuch und damit einer geringeren Regelungsdichte liegt in der Freiwilligkeit. Die Teilnahme am staatlichen Schulversuch hat auf freiwilliger Basis zu erfolgen. Eine Ausnahme kann – wie in § 10 Abs. 5 SchulG HH geregelt – nur der Förderstufe anzuvertrauen. Gerade umstrittene Schulreformen sollten in einem freiheitlichen Staat weniger mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzt als vielmehr unter – soweit wie möglich – freiwilliger Beteiligung der Betroffenen vorangetrieben werden. Daß das ganze Reformvorhaben dadurch gefährdet werde, kann ernstlich nicht behauptet werden.“ Zitat: BVerfGE 34, 165 (198). 32 Zitat: Rolf Stober, Zum Gesetzesvorbehalt beim Schulversuch, in: DÖV 1976, S. 521. Dezidiert für die Freiwilligkeit der Teilnahme am Schulversuch ebenfalls: Säcker, Schulversuche, RdJB 1972, S. 16; Pirson, Experimentelle Rechtsetzung, FS Jahrreiß, S. 192; Hans-Wolfgang Arndt, Anmerkung zu VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 10.04.1974 – IX 162/74, in: DÖV 1974, S. 860; Thomas Clemens, Grenzen staatlicher Maßnahmen im Schulbereich, NVwZ 1984, S. 70; Harald Gampe/Rudolf Knapp/Dieter Margies/Gerald Rieger, Schulmitwirkung und Schulorganisation Nordrhein-Westfalen, (Loseblatt-)Kommentar, Neuwied (Stand 1990), I/§ 15 Nr. 9, S. 301; Wilhelm Holfelder/Wolfgang Bosse/Hans H. Benda/Andreas Runck, Sächsisches Schulgesetz mit ergänzenden Rechtsverordnungen. Handkommentar, 4. Aufl., Neuwied u.a. 1995, § 15 Anm.; Wolfgang Bosse/Stefan Reip, Schulrecht Baden-Württemberg. Kommentar zum Schulgesetz, 13. Aufl., Stuttgart u.a. 2005, S. 104; Pieroth/Barczak, Gemeinschaftsschule, NWVBl. 2011, S. 124; Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 46. Siehe auch: Thomas Oppermann, Nach welchen rechtlichen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen und die Stellung der an ihm Beteiligten zu ordnen? Gutachten C zum 51. Deutschen Juristentag, München 1976, S. 56; Friedhelm Hufen, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen schulischer Selbstgestaltung, in: FrankRüdiger Jach/Siegfried Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schule und freies Schulwesen. Festschrift zum 65. Geburtstag von J. P. Vogel, Berlin 1998, S. 72. – Auch Hans Heckel sah schon 1958 (wie oben Zweiter Teil Viertes Kapitel VII dargestellt) in seinem Musterentwurf für ein „Gesetz zur Ordnung des Schulwesens“ (§ 6 Satz 2) eine Zustimmungsnotwendigkeit der Erziehungsberechtigten für den Besuch einer Versuchsschule vor und führte zur Begründung an, dies diene dazu, Kinder und Eltern vor unliebsamen Überraschungen beim Übergang von einer Versuchs- auf eine Normalschule zu bewahren.
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für Schulversuche bestehen, in denen Rechte von Eltern und Schüler nicht tangiert werden, etwa für Schulversuche zur Erprobung neuer Formen der Schulverfassung und Schulleitung.33 Das Prinzip der Freiwilligkeit bedeutet für Versuchsschulen in erster Linie, dass für deren Besuch keine Schulbezirke („Schulsprengel“) und Schuleinzugsbereiche gelten. Über diese zentrale Errichtungsvoraussetzung hat es – wie in der historischen Rückschau aufgezeigt – vor allem in der Weimarer Zeit oftmals erbitterte Auseinandersetzungen zwischen reformüberzeugten Lehrkräften und Eltern gegeben; letztendlich hatte sich aber auch seinerzeit bereits das Prinzip der Versuchsschule als Wahlschule durchgesetzt. Entscheiden sich erziehungsberechtigte Eltern und volljährige Schüler nach ausreichender vorheriger Information über die Rahmenbedingungen aus eigenem Willen für den Besuch einer Versuchsschule oder – im Rahmen bestehender Schulen – für die Teilnahme an einem Schulversuch, so akzeptieren sie die damit verbundenen Abweichungen vom Regelbetrieb; die Grundrechte von Schülern und Eltern, insbesondere hinsichtlich der Wahl des Bildungsganges, sind insoweit dann nicht tangiert. Die Einwilligung des Betroffenen schließt den grundrechtseingreifenden bzw. -tangierenden Charakter einer behördlichen Maßnahme aus, wenn sie frei erteilt wurde.34 Die Annahme einer frei erteilten Einwilligung setzt allerdings voraus, dass die Zustimmung zu der die Grundrechte berührenden Maßnahme frei von jedem unzulässigem Druck erfolgte.35 Eine Freiwilligkeit ist nicht gegeben, wenn durch fehlende Alternativen faktisch ein Zwang zur Teilnahme am Versuch besteht. Sofern es keine Möglichkeit gibt, am Wohnort oder in zumutbarer Entfernung eine Schule mit Regelangebot zu besuchen bzw. sich einem Schulversuch an einer bestehenden Schule ohne Nachteile zu entziehen, bedeutet eine Entscheidung zur Versuchsteilnahme kein die Grundrechtsbetroffenheit ausschließendes Einverständnis, sondern nur die faktisch unvermeidbare Inkaufnahme dieser schulischen Situation. Der Deutsche Juristentag hatte diese Fallkonstellation in seinem Musterentwurf zutreffend als sogenannte flächendeckende Versuche bezeichnet, die sich wegen des faktischen Teilnahmezwangs nicht auf eine allgemeine Versuchsklausel stützen lassen, sondern für die es nach dem Mustergesetzentwurf 33 Auch
bei Schulversuchen zur Schulfinanzierung bedarf es nicht der Freiwilligkeit, sofern hiervon Schüler und Eltern nicht betroffen sind, z.B. bei Schulversuchen zur Bewirtschaftung von Schulmitteln. Anders sieht es aber etwa bei Versuchen zur Lernmittelfreiheit aus. 34 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.03.2011 – 2 BvR 882/09, NJW 2011, 2113 (2114). 35 Vgl.: BVerfG, ebenda, S. 2114; BVerfG, Beschl. v. 18.08.1981 – 2 BvR 166/81, NJW 1982, 375; Wolfgang Durner, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 10 Rn. 126; Udo Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 2 Abs. 1 Rn. 228.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
einer besonderen gesetzlichen Legitimation bedarf.36 Ob allerdings ein solch gesetzlicher Zwang sich materiell mit den Grundrechten der betroffenen Eltern und Schüler verträgt, ist höchst zweifelhaft. c) Die schulgesetzlichen Regelungen zur Freiwilligkeit Das grundrechtliche Erfordernis, dass die Teilnahme am Schulversuch für die Schüler freiwillig sein muss, regeln so ausdrücklich in ihren Schulversuchsvorschriften lediglich die Schulgesetze in Berlin, Brandenburg, Bremen und Hamburg,37 wobei die Stadtstaaten damit in einer schulrechtlichen Tradition der Weimarer Versuchsschulzeit stehen. Im Schrifttum findet sich hierfür allerdings auch ein Erklärungsversuch, der dahin geht, dass es in Großstädten leicht fällt, Schulversuche einzurichten und dennoch das normale Schulwesen voll aufrechtzuerhalten. Die Stadtstaaten könnten sich deshalb zum Prinzip der Freiwilligkeit bekennen, während in Flächenstaaten organisatorische Probleme entstünden, wenn es etwa in einer Kleinstadt nur ein Gymnasium gebe und dieses einen Schulversuch durchführen wolle.38 Die Länder Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein differenzieren – wie der Mustergesetzentwurf des Deutschen Juristentages – zwischen Schulversuchen und Versuchsschulen; nur der Besuch von Versuchsschulen ist nach deren Schulgesetzen freiwillig.39 Da für normale Schulversuche eine solche Regelung fehlt, wird daraus in der Schulrechtsliteratur der Umkehrschluss gezogen, dass die Teilnahme diesbezüglich nicht unter einem Freiwilligkeitsvorbehalt steht.40 Eine solche Differenzierung ist allerdings rechtlich nicht haltbar, weil Versuchs36 Siehe
oben Zweiter Teil Achtes Kapitel. 18 Abs. 4 Satz 1 SchulG BE, § 8 Abs. 2 Satz 2 SchulG BB, § 13 Abs. 3 Satz 3 SchulG HB; § 10 Abs. 4 Satz 1 SchulG HH. 38 So: Richter, Schulversuche, JZ 1978, S. 555. – Siehe auch: Harnischfeger/ Heimann, Rechtsfragen der Gesamtschule, S. 32 f., die bereits bei den GesamtschulVersuchen Anfang der 1970er Jahre das Problem sahen, dass in ländlichen Gebieten bei Zulassung einer Gesamtschule daneben oftmals keine Hauptschule mehr existieren konnte. Einen damit verbundenen faktischen Zwang zum Besuch der Gesamtschule hielten sie allerdings – wie bereits dargestellt – aufgrund des staatlichen Auftrags zur Ordnung und Organisation des Schulwesens für vereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz. 39 Siehe: § 25 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW, § 138 Abs. 3 Satz 2 SchulG SH. – Kritisch insoweit auch zum Mustergesetzentwurf: Clemens, Grenzen, NVwZ 1984, S. 70 Fn. 65. 40 So explizit: Manfred Oeynhausen/Christian Birnbaum, Schulrecht NordrheinWestfalen. Handbuch für die Praxis, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 2005, S. 244 Rn. 551. Wohl auch: Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG NRW Rn. 10. 37 §
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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schulen sich nach beiden Schulgesetzen nur dadurch von normalen Schulversuchen unterscheiden, dass sie für Abweichungen „grundsätzlicher Art“ eingerichtet werden sollen. Ob eine grundsätzliche Abweichung vorliegt, bestimmt sich nach der Bedeutung für das Schulsystem, ob also Grundentscheidungen des Schulwesens in einem Land oder andere wesentliche, zentrale schulgesetzliche Regelungen berührt sind, nicht aber nach dem Gewicht der Betroffenheit von Schüler- und Elternbelangen, auch wenn diesbezüglich im Regelfall eine enge Korrelation besteht. Da die Klassifizierung als Versuchsschule also nicht primär anknüpft an das Gewicht und die Tragweite eines Schulversuchs für den einzelnen Schüler, sondern die abstrakten Interessen der Allgemeinheit im Blick hat, ist es nicht sachgerecht, hieran die Freiwilligkeit zu binden. Normale Schulversuche können genauso oder unter Umständen sogar noch schwerere Auswirkungen für den einzelnen Schüler zeitigen als die Einrichtung von Versuchsschulen. Im Übrigen bestünde, wäre die Freiwilligkeit nur dort obligatorisch, die Gefahr sachfremder Erwägungen hinsichtlich der Wahl des Versuchsstatus – normaler Schulversuch oder Versuchsschule. Eine Absage an die grundsätzliche Bedeutung eines Versuchs würde die Möglichkeit eines Teilnahmezwangs eröffnen. Für Schulversuche ist in Nordrhein-Westfalen wie auch – ohne jene Differenzierung – in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen41 vorgesehen, dass die am Schulversuch teilnehmenden Schüler in der Lage sein müssen, die gleichen („gleichwertige“, „vergleichbare“) Abschlüsse wie an den Regelschulen zu erwerben. Damit ist offenbar die Vorstellung verbunden, Schülern sei im Verlauf ihrer Schullaufbahn die Teilnahme an Schulversuchen zumutbar, solange sichergestellt ist, dass sie hinsichtlich des Abschlusses ihres Bildungsgangs keine Nachteile erleiden. Eine solche, allein auf den Abschluss fixierte Sichtweise greift indes zu kurz. Schulische Bildung und Erziehung ist ein kontinuierlicher, sich aufeinander aufbauender Prozess. Entscheidende Weichenstellungen werden während des Bildungsgangs etwa, soweit Wahlmöglichkeiten bestehen, durch die Fächerwahl gesetzt. Erhebliche Auswirkungen können auch die Art und Weise der Leistungsbeurteilung oder die Ausgestaltung der Versetzungsregelungen haben. Wie bereits dargelegt, haben Schüler unter dem Gleich behandlungsgrundsatz einen Anspruch darauf, ihre Schullaufbahn unter den in den Schulgesetzen und den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen geregelten „normalen“ Bedingungen zu durchlaufen. Sie haben das Recht auf Teilnahme an dem vorgeschriebenen geordneten Bildungsgang. Die Teilnahme an Schulver suchen, z.B. in Nordrhein-Westfalen an „Islamkunde in deutscher Sprache“, „Bilingualer Unterricht an Realschulen“ oder „Leistungsbewertung ohne Ziffernzeugnisse“, konnte deshalb nur mit Einverständnis der Eltern erfolgen.
41 Siehe: § 25 Abs. 1 Satz 3 SchulG NRW, § 38 Abs. 2 SchulG MV, § 22 Abs. 4 SchulG NI.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Die Länder Bayern und Thüringen verlangen, dass Schüler im Rahmen des Schulversuchs nicht nur gleiche oder gleichwertige Berechtigungen und Abschlüsse erwerben können, sondern überdies, dass während des Schulversuchs der Übertritt an Schulen außerhalb des Schulversuchs möglich bleibt.42 Diese zusätzliche Anforderung ermöglicht zwar, sich nach Einleitung eines Schulversuchs diesem zu entziehen, doch ist auch dies unzureichend, um dem Gebot der Freiwilligkeit vollauf Rechnung zu tragen.43 Der Schüler wird, will er 42 Siehe:
Art. 82 Abs. 1 BayEUG, § 12 Abs. 2 SchulG TH; ähnliche zweite Bedingung § 38 Abs. 2 SchulG MV, § 14 Abs. 2 SchulG HE (nur für Versuchsschulen). – In der Gesetzesbegründung des Regierungsentwurfs bei Einführung der bayerischen Regelung, seinerzeit in Art. 26b, hieß es, diese „zieht die Grenze, von der ab die Individualinteressen der betroffenen Schüler und Erziehungsberechtigten gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Durchführung eines Schulversuchs zurücktreten müssen. Diese Bestimmung ist u.a. notwendig, um Schulversuche nicht nur in großen Gemeinden durchführen zu können“ (Bayerischer Landtag, 7. WP, LT-Drs. 7/901, S. 4). Bayern kennt überdies noch seitdem die Variante, dass, wenn der Schulversuch keine gleichwertigen Abschlüsse oder keinen Schulwechsel zulässt, er nur zulässig ist, soweit das Einverständnis der Betroffenen vorliegt und zudem der Besuch einer herkömmlichen Schule in zumutbarer Entfernung möglich ist (Art. 82 Abs. 3 BayEUG). In der Praxis stellt auch Bayern bei Schulversuchen auf Freiwilligkeit ab. Siehe etwa: Schulversuch „Gelenkklasse an einer Grundschule“, Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus v. 01.09.2010 (KWMBl. S. 332), hier unter Ziff. 5 „Der Besuch der Gelenkklasse ist freiwillig.“ In Thüringen wurde sogar allgemein die Freiwilligkeit der Teilnahme an einem Schulversuch festgeschrieben in einer Richtlinie des thüringischen Kultusministeriums v. 02.09.1993 „Antragsstellung, Genehmigung und Durchführung von Schulversuchen/Modellversuchen“ (GABl. des Thüringer Kultusministeriums und des Thüringer Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur S. 322), unter Ziff. II.2. Abdruck auch in: Stefanie Assmann, Thüringer Schulrecht. Schulgesetz mit Erläuterungen und schulrechtlichen Nebenbestimmungen, Stuttgart u.a. 1995, S. 200. Siehe auch: Antwort des Thüringer Kultusministerium auf die Kleine Anfrage MdL Döring (SPD) betr. Schulversuche, Thüringer Landtag, 1. WP, LT-Drs. 1/1203 v. 27.03.1992, zu Frage 6: „Der Elternwille ist zu respektieren, am Ort des Schulversuches müssen in zumutbarer Nähe Alternativangebote zur Versuchsschule vorhanden sein.“ 43 Wie hier explizit zur bayerischen Regelung: Horst Säcker, Zur gesetzlichen Regelung von Schulversuchen, DVBl. 1972, S. 314 ff. Unkritische Gesetzeswiedergabe des Art. 82 Abs. 1 BayEUG (Schulversuche „ohne Einverständnis der Erziehungsberechtigten und volljährigen Schüler“) hingegen bei: Udo Dirnaichner, Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen, (Loseblatt-)Kommentar, München (Stand 2011), Art. 82 Anm. 1. Ebenso für die Vorgängervorschrift des Art. 59 BayEUG a.F.: Dieter Falckenberg/Werner Schiedermair/Hellmuth Amberg, Bayerisches Gesetz für das Erziehungs- und Unterrichtswesen, 2. Aufl., München 1989, Anm. 2 ff. – Eine solche zweifache Bedingung halten ebenfalls ohne nähere Begründung für ausreichend, wobei ansonsten eine Wahlmöglichkeit der Eltern für zwingend geboten angesehen wird: Avenarius, in: Avenarius/Füssel, Schulrecht, S. 98; Niehues/Rux, Schul- und Prüfungsrecht, Rn. 328. Die Landesregierung NRW ließ sich im Jahre 1973 entsprechend
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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dem Schulversuch entgehen, gezwungen, seine bisherige Schule zu verlassen. Er muss damit nicht nur sein gewohntes Umfeld aufgeben, verliert also einen seiner wichtigsten Bezugsmittelpunkte. Ein Schulwechsel birgt auch immer Risiken im Hinblick auf die schulischen Leistungen. Hinzu kommen eventuell längere Schulwege und andere, im ungünstigen Fall reduzierte Angebote im Bereich des Ganztags, der Sprachen, des Sports oder der musischen Erziehung. Ein Schüler muss dies nicht hinnehmen. Er und seine Eltern können vielmehr darauf vertrauen, dass die einmal gewählte Schule im Verlauf des dort eingeschlagenen Bildungsweges den Unterricht nach den für alle geltenden schulischen Bestimmungen durchführt. Das Ermöglichen eines Schulversuchs ist kein hinreichender sachlicher Grund, geschaffenes Vertrauen zu entwerten und faktisch einen Zwang zum Schulwechsel auszuüben, wenn der Einzelne sich nicht auf den Versuch einlassen will. Um dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes aus Art. 20 Abs. 3 GG zu genügen, kann ein Schulversuch an einer bestehenden Schule nur für Schüler beginnend ab den Eingangsklassen der Grundschule und der Sekundarstufe I, den Eingangsjahrgangsstufen der Sekundarstufe II oder als zusätzliches, das bisherige Regelangebot nicht beeinträchtigendes Angebot (z.B. Schulversuch „Fach Wirtschaft an Realschulen“ in Nordrhein-Westfalen) eingerichtet werden. Fünf Länder, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt weisen in ihren Schulgesetzen überhaupt keine Regelungen zur Freiwilligkeit des Schulversuchs auf. Das aufgezeigte rechtsstaatliche Defizit in den Vorschriften zum Schulversuch eines überwiegenden Teils der Länder relativiert sich dort dann, wenn für eine Schulform keine Schulbezirke (Schulsprengel) oder Schuleinzugsbereiche bestehen. Die damit verbundene allgemeine Freiheit hinsichtlich der örtlichen Schulwahl gilt in diesem Fall auch für Versuchsschulen. Allerdings muss die entsprechende Regelschule in zumutbarer Entfernung liegen, damit kein faktischer Besuchszwang besteht. Die Wahlfreiheit wird zwischenzeitlich in fast allen Ländern für den Bereich der Sekundarstufe I und der gymnasialen Oberstufe ermöglicht, hingegen sind für Grundschulen, Förderschulen und Berufsschulen fast durchgängig Begrenzungen der örtlichen Schulwahl vorgesehen. Hinsichtlich von Schulversuchen an bestehenden Schulen hilft eine Freiheit der Schulein. Sie wies seinerzeit einerseits rechtliche Einwendungen gegen eine Teilnahmepflicht an Schulversuchen zurück. Es bestehe insoweit keine willkürliche, den Gleichheitssatz verletzende Ungleichbehandlung. Andererseits sei bei Durchführung und Gestaltung der Schulversuche darauf geachtet worden, dass auch an den Versuchsschulen gleiche oder gleichwertige Abschlüsse erworben werden könnten und der Wechsel an Schulen, die nicht am Schulversuch teilnähmen, möglich bleibe. Siehe: Antwort der Landes regierung auf die Große Anfrage der CDU-Fraktion „Schulsituation in NordrheinWestfalen“, Landtag NRW, 7. WP, LT-Drs. 7/3397 v. 11.12.1973, S. 24.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
wahl nicht weiter, da, wie aufgezeigt, ein faktischer Zwang zum Schulwechsel nicht legitimierbar ist. Welche Folgen das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung zur Freiwilligkeit des Schulversuchs für die Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden schulgesetzlichen Versuchsklausel hat, soll nur kurz angerissen werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus der grundsätz lichen Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes das Gebot, dieses im Zweifel verfassungskonform auszulegen.44 Eine Norm ist erst dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach den anerkannten Auslegungsgrund sätzen zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist, wozu auch die teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs einer Norm zählt.45 Letztere ist nach der Verfassungsrechtsprechung dann vorzunehmen, wenn die auszulegende Vorschrift auf einen Teil der vom Wortlaut erfassten Fälle nicht angewandt werden soll, weil Sinn und Zweck der Norm, ihre Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen.46 Eine solche teleologische Reduktion und damit verfassungskonforme Auslegung erscheint bei denjenigen Versuchsklauseln prüfenswert, die keinerlei Regelung zur Freiwilligkeit kennen, stößt aber dort von vornherein auf Grenzen, wo – wie in Bayern – die Lösung durch den Gesetzgeber darin gesehen wurde, gleichwertige Abschlüsse und das Offenhalten eines Wechsel zu einer konventionellen Schule zu verlangen. Hier besteht auf jeden Fall gesetzgeberischer Nachholbedarf. 3. Analogie zu Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG: Bestimmbarkeit von Inhalt, Zweck und Ausmaß der Versuchsermächtigung Über die Freiwilligkeit hinaus ergeben sich aus dem Gesetzesvorbehalt noch weitere Anforderungen an die konkrete Ausgestaltung allgemeiner Versuchsklauseln in den Schulgesetzen. Dies betrifft insoweit auch Schulversuche in „wesentlichen“ schulischen Bereichen, die keine grundrechtliche Relevanz besitzen. Ausgangspunkt bleibt, dass die notwendige Regelungsdichte in Relation zur Intensität und Bedeutsamkeit der Versuchsmaßnahme steht. Vorliegend ist dabei erstens in Rechnung zu stellen, dass aufgrund der Freiwilligkeit der Teilnahme bzw. bei Fallgestaltungen mit ohnehin fehlendem Grundrechtsbezug durch Schulversuche in keine grundrechtlich geschützten Positionen eingegriffen 44 Vgl.:
BVerfGE 2, 266 (282); 122, 39 (60).
45 Vgl.: BVerfGE 88, 145 (166 f.); BVerfG, Beschl. v. 06.04.2000 – 1 BvL 18/99 u.a.,
NVwZ 2000, 910; Beschl. v. 19.8.2011 – 1 BvR 2473/10, Anwaltsblatt 2011, 867 (869). 46 So: BVerfG, Beschl. v. 07.04.1997 – 1 BvL 1 1/96, NJW 1997, 2230 (2231); Beschl. v. 19.8.2011 – 1 BvR 2473/10, Anwaltsblatt 2011, 867 (869).
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werden kann. Zweitens sind Schulversuche per Definition zeitlich und gegenständlich begrenzte Experimente. In Kombination beider Gesichtspunkte dürfen die Anforderungen an die Bestimmtheit nicht überzogen werden. Hinzunehmen sind insbesondere generalklauselartige Formulierungen, die der Exekutive im Interesse der Schulentwicklung den notwendigen Gestaltungsspielraum für das Betreten und Erproben neuer pädagogischer Wege lassen.47 Der Gesetzgeber wäre auch gar nicht in der Lage, alle Konstellationen möglicher Schulversuche im Voraus präzise zu normieren; und es wäre eine Überdehnung des Parlamentsvorbehalts, für jeden Schulversuch die Schulgesetze ständig zu novellieren.48 Zur weiteren Konkretisierung kann allerdings angesichts einer durchaus vergleichbaren Situation der Rechtsgedanke des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG heran gezogen werden.49 Wie diese Verfassungsnorm die Exekutive ermächtigt, Rechtsverordnungen zu erlassen, die auch Änderungen des Gesetzes zum Inhalt haben können, ermächtigen die schulgesetzlichen Versuchsklauseln ebenfalls die Exekutive zur Abweichung von geltenden Gesetzesbestimmungen. In beiden Fällen entlastet sich der Gesetzgeber davon, den jeweiligen Bereich selbst im Detail zu regeln, in beiden Fällen bedarf es aber auch einer Vorkehrung gegen eine Selbstentmachtung des Parlaments durch eine allzu offene pauschale Ermächtigung der Exekutive zur Durchbrechung der generellen Geltung des jeweiligen Gesetzes. Die Notwendigkeit, Blankoermächtigungen der Verwaltung zu verhindern, besteht im Übrigen auch bei anderen gesetzlichen Experimentierklauseln sowie Dispensermächtigungen, und jedenfalls für Letztere wird hierzu auch vereinzelt im Schrifttum das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG analog herangezogen.50 47 Ähnlich insoweit: Gerhard Eiselt/Wolfgang Heinrich, Grundriß des Schulrechts in Berlin, 3. Aufl., Neuwied/Frankfurt a.M. 1990, S. 8.; Stober, Gesetzesvorbehalt, DÖV 1976, S. 523. 48 Ebenso: Jürgen Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis. Zur „Wesentlichkeitstheorie“ und zur Reichweite legislativer Regelungskompetenz, insbesondere im Schulrecht, Berlin 1986, S. 265 f., 344. 49 So auch: Säcker, Schulversuche, RdJB 1972, S. 15. Allgemein für Ermächtigungen im Schulbereich: Bernd Löhning, Der Vorbehalt des Gesetzes im Schulverhältnis, Berlin 1974, S. 196. 50 Mußgnug, Dispens von gesetzlichen Vorschriften, S. 128 ff.; Isensee, Billigkeitskorrektiv des Steuergesetzes, FS Flume, S. 131. – Im Ergebnis wohl auch für Experimentierklauseln: Lange, Kommunalrechtliche Experimentierklausel, DÖV 1995, S. 770 ff. in der Replik auf: Heinrich Siedentopf, Experimentierklausel – eine Freisetzungsrichtlinie für die öffentliche Verwaltung, in: DÖV 1995, S. 193. Siedentopf kommentierte die 1994 eingeführte Experimentierklausel in § 133 der hessischen Gemeindeordnung als „ein bemerkenswertes Beispiel für die Selbstverstümmelung eines Gesetzgebers“. Bisher sei die Pflicht des Gesetzgebers zur Regelung des Wesentlichen nicht als Möglichkeit zur „Entregelung des Wesentlichen“ verstanden worden. Ein flächendeckender Gesetzesvorbehalt enge die Handlungsfähigkeit der Verwaltung ein. Deren weit
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung durch den Gesetzgeber bestimmt werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dem nicht genüge getan, wenn nicht mehr, auch im Wege der Auslegung, vorauszusehen ist, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von der Ermächtigung Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die zu erlassende Rechtsverordnung haben kann.51 Da somit die Bestimmbarkeit ausreicht, sind die Ansprüche der Verfassungsrechtsprechung nicht allzu hochgeschraubt. Je mehr allerdings der Regelungsbereich Eingriffe in grundrechtlich geschützte Positionen zulässt, umso strengere Maßstäbe sollen anzulegen sein.52 Übertragen auf die Schulversuchsklauseln müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigungen zur Abweichung von geltendem Schulrecht in einer hinreichenden Präzision bestimmt werden können.53 Eine Zweckbestimmung ist in allen Landesschulgesetzen enthalten. Danach dienen Schulversuche der „Weiterentwicklung des Schulwesens“ durch „Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Konzeptionen“, wobei dies meist in ähnlichen Formulierungen in unterschiedlicher Ausführlichkeit beschrieben wird. Ob eine konkrete Konzeption „neu“ oder, wie in der Berliner Schulversuchsklausel (§ 18 Abs. 1 Satz 1 SchulG BE) formuliert, „innovativ“ ist, bedarf gehende Freistellung vom geltenden Kommunalrecht überantworte dieses jedoch dem freien Aushandeln zwischen der Kommunalverwaltung und der Ministerialverwaltung. In seiner Entgegnung legte Klaus Lange dar, dass die nach den kommunalrechtlichen Experimentierklauseln zulässigen Ausnahmen durchaus inhaltlich, nach ihrem Zweck und auch ihrem Umfang normativ begrenzt sind und damit insoweit kein Blankoscheck seitens des Gesetzgebers erteilt wird. Für Experimentierklauseln ausdrücklich eine Analogie zu Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG ablehnend, weil angesichts des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes entbehrlich: Maaß, Experimentierklauseln für die Verwaltung, S. 126. Siehe auch Grzeszick (Öffnungsklauseln, Die Verwaltung 1997, S. 566), der kommunalrechtliche Öffnungsklauseln an einem auf dem Rechtsstaatsprinzip beruhenden allgemeinen Gebot der sachgerechten Normenklarheit misst. Soweit sie Ausnahmen von Rechtsverordnungen zulassen würden, müssten auch die Ausnahmeregelungen den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG genügen. 51 Siehe: BVerfGE 19, 354 (361); 42, 191 (200). 52 Vgl.: BVerfGE 41, 256 (266), hier bzgl. Schulausschluss als Ordnungsmaßnahme. 53 Ohne auf Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG zu rekurrieren, hält Staupe (Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, S. 344) aufgrund des Parlamentsvorbehalts eine gesetzliche Regelung für erforderlich zur „Grundentscheidung“, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen und rechtlichen Absicherungen für die beteiligten Schüler Versuchsschulen oder sonstige Schulversuche durchgeführt werden dürfen, wer über ihre Einführung entscheidet und ob die Teilnahme an ihnen obligatorisch ist oder nicht. Die Kernfrage, welche Voraussetzungen konkret im Gesetz festzulegen sind, beantwortet er nicht.
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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einer Subsumtion anhand pädagogischer Kriterien und Wertungen. Dies ist aber kein Grund, die Justiziabilität in Frage zu stellen oder sogar den Begriff des „Neuen“ bzw. „Innovativen“ als zu unbestimmt anzusehen.54 Den in allen Ländern für die Versuchsgenehmigung zuständigen Schul- bzw. Kultusministerien ist hier aber ein nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zuzubilligen, weil nur sie wegen ihrer Gesamtverantwortung für das jeweilige Schulwesen sicherstellen können, dass der Schulversuch sich darin einfügt und nicht durch eine Vielzahl von Experimenten ein Schulchaos herbeigeführt wird.55 Der Inhalt der Ermächtigung zum Schulversuch ist meist dahingehend beschrieben, dass „Abweichungen“ möglich sind, wobei nur wenige Schulgesetze dies explizit auf die geltenden Schulgesetze und -verordnungen beziehen. Meist wird dies gegenständlich beschrieben, wie etwa in § 25 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW („Abweichungen von Aufbau und Gliederung des Schulwesens sowie Veränderungen oder Ergänzungen der Unterrichtsinhalte, der Unterrichtsorganisation sowie der Formen der Schulverfassung und der Schulleitung“). In fünf Ländern (Bayern, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen) findet sich hingegen keine solche ausdrückliche inhaltliche Festlegung der Ermächtigung. Dort geht der Gesetzgeber anscheinend davon aus, dass durch die begriffliche Aufnahme des „Schulversuchs“ im Schulgesetz verbunden mit der Zweckbestimmung „Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Konzeptionen“ hinreichend klar ist, dass die Exekutive zu „Neuem“ und damit zu Abweichungen vom „Bestehenden“, soweit es schulgesetzlich geregelt ist, legitimiert wird. Da ein solcher Inhalt der Versuchsermächtigung im Wege der Auslegung bestimmbar ist, bestehen auch bezüglich dieser Versuchsklauseln insoweit keine durchgreifenden Bedenken. Rechtliche Bedenken bestehen auch nicht, soweit in einigen Schulgesetzen (Berlin, Brandenburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein) den möglichen Abweichungen das Wort „insbesondere“ vorangestellt ist, also beispielhaft damit Bereiche genannt sind, in denen hauptsächlich Schulversuche in Betracht kommen können. Damit ist zwar der thematische Bereich möglicher Abweichungen und damit von Schulversuchen nicht abschließend geregelt. Aufgrund der Vielzahl möglicher Versuchsgegenstände 54 Soweit
früher in den ersten Nachkriegsfassungen der Schulklauseln in Bremen und Hamburg die Formulierung „Erprobung wertvoller pädagogischer Gedanken“ gewählt wurde und es in derjenigen Groß-Berlins noch verstärkend hieß „wertvolle fortschrittliche pädagogische Ideen“ [siehe oben Zweiter Teil Zweites Kapitel I.2.–4.], konnte man allerdings durchaus die heute nicht mehr zu vertiefende Frage aufwerfen, „sollte ein mit der Rechtsanwendung befasster Jurist befugt sein, pädagogische Gedanken für nicht wertvoll zu halten?“ So pointiert: Pirson, Experimentelle Rechtsetzung, FS Jahrreiß, S. 185 Fn. 11. 55 Dazu eingehender im nachfolgenden Zweiten Kapitel, unter I. 2.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
muss es aber, da im Falle freiwilliger Teilnahme auch keine Grundrechtsrelevanz gegeben ist, ausreichen, eine nicht enumerativ formulierte Abweichungsmöglichkeit zuzulassen. Erst recht ist es dann unbedenklich, wenn der Gesetzgeber einzelne Hauptanwendungsbereiche identifiziert, auch wenn dies gesetzestechnisch eher in die Begründung statt in den Text eines Gesetzes gehört. Beschränkt der Gesetzgeber indes den Bereich der Abweichungen auf einzelne genannte Felder, so ist der gegenständliche Anwendungsbereich der Schulklauseln entsprechend begrenzt. Solche abschließende, wenn auch weit gefasste Aufzählungen finden sich in den Schulversuchsbestimmungen der Länder Bremen, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. Schließlich muss sich aus den Schulklauseln das Ausmaß der erteilten Ermächtigung ergeben. Die hieraus abzuleitenden beiden Grunderfordernisse jeden Schulversuchs benennt einzig die nordrhein-westfälische Schulversuchsklausel, dass nämlich die Erprobung „zeitlich und im Umfang begrenzt“ sein muss (§ 25 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW). Geregelt ist dort zudem (im vierten Absatz), dass dies in einem Versuchsprogramm als Bestandteil der Genehmigung festzulegen ist. Die Befristung von Schulversuchen ist ausdrücklich auch in Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein gesetzlich vorgeschrieben.56 Eine genaue gesetzliche Festlegung der Dauer von Schulversuchen erfolgt jedoch wie auch in Nordrhein-Westfalen nicht. Allerdings hat die Berliner Schulverwaltung nach eigenen Angaben eine dahingehende Genehmigungspraxis entwickelt, dass sich die Befristung von Schulversuchen in der Regel nach der Zeitdauer des jeweiligen Bildungsganges, in welchem der Schulversuch stattfindet, richtet. Um tragfähige Erkenntnisse zu erhalten, legt die Schulverwaltung die Mindestdauer auf zwei komplette Durchläufe von Schülerjahrgängen fest, also bei einem auf die vierjährige Grundschule beschränkten Schulversuch auf acht Jahre.57 Bayern und das Saarland kennen eine Befristung nur für Versuchsschulen. In Bayern gilt dies für alle Versuchsschulen, die dort, anknüpfend an einen 2002 auf den Weg gebrachten Modellversuch, als sogenannte MODUS-Schulen („MODell Unternehmen Schule im 21. Jahrhundert“) jeweils nur für einen Zeitraum von fünf Jahren mit der Möglichkeit einer Verlängerung um jeweils weitere
56 § 18 Abs. 2 Satz 1 SchulG BE, § 14 Abs. 1 Satz 3 SchulG HE, § 38 Abs. 3 Satz 2 SchulG MV, § 22 Abs. 3 Satz 2 SchulG NI, § 138 Abs. 2 Satz 4 SchulG SH. 57 Vgl.: Antwort des Berliner Senators für Bildung, Wissenschaft und Forschung v. 28.11.2006 auf die Kleine Anfrage der Abg. Mieke Senftleben (FDP) „Schulversuche: Ziel, Sinn und Kosten?“, Abgeordnetenhaus Berlin, 16. WP, Drs. 16/10022, S. 2 (zu 4. und 5.).
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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fünf Jahre genehmigt werden dürfen.58 Das Saarland sieht eine Dauer von bis zu sechs Jahren für solche Versuchsschulen vor, die neue Modelle der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung erproben wollen. Außerdem ist geregelt, dass dies nur einer begrenzten Zahl von Schulen ermöglicht werden soll.59 Das Erfordernis einer umfangmäßigen Begrenzung von Schulversuchen, neben einer zeitlichen, ist außer in Nordrhein-Westfalen und partiell für bestimmte Versuchsschulen im Saarland in keinem anderen Land ausdrücklich gesetzlich geregelt. „Im Umfang begrenzt“ sein müssen die Versuchsabweichungen sowohl inhaltlich, d.h. hinsichtlich des Versuchsprogramms, als auch quantitativ, also bezogen auf die Anzahl der teilnehmenden Schulen.60 Die aufgezeigten Regelungslücken im Hinblick auf die zeitliche und umfangmäßige Begrenzung von Schulversuchen können allerdings im Wege der Aus legung der schulgesetzlichen Versuchsvorschriften behoben werden. Schon vom Wortsinn her wird unter einem Versuch ein zeitlich und umfangmäßig überschaubares Experiment, mit dem man eine vom Bestehenden abweichende Maßnahme erprobt, verstanden. Konstitutives Element eines Versuchs ist die Erprobung, und jede Erprobung beinhaltet zwangsläufig ein zeitliches Ende, weil ansonsten die notwendige Auswertung des Experiments und die daraus zu ziehenden Folgerungen nicht möglich sind. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Obiter dictum diesbezüglich ausgeführt, dass bei staatlichen Schulversuchen die Erprobung einer „engen zeitlichen Begrenzung“ unterliegt, nach deren Abschluss das erprobte Konzept entweder mangels Bewährung zu verwerfen oder in das gesamte Schulwesen zu übernehmen ist.61 Eine Erprobung setzt außerdem eine umfangmäßige Begrenzung voraus; nur dann bleibt der Ausnahmecharakter des Schulversuchs erhalten und nur dann
58 Siehe:
Art. 82 Abs. 5 Satz 1 BayEUG. Außerdem: Verfahren zur Erlangung des MODUS-Status. Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus v. 27.10.2008 (KWMBl. S. 434) i.d.F. v. 01.07.2010 (KWMBl. S. 200). 59 Siehe: § 5 Abs. 3 Satz 1 SchOG SL – Eine generelle Festlegung der Höchstdauer, hier allerdings allgemein für Schulversuche, findet sich etwa auch in der „Verordnung über Schulversuche an der Volksschule“ des Kantons Zürich (Fn. 27). Nach § 2 der Verordnung dauert ein Schulversuch längstens sechs Jahre, wobei allerdings Verlängerungen genehmigt werden können. 60 Vgl.: Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG NRW Rn. 6. 61 BVerfGE 88, 40 (54) – Im Gegensatz dazu bestehe eine solche Beschränkung auf kurze Erprobungszeiträume nicht in Bezug auf die Erprobung pädagogischer Konzepte in privaten Grundschulen. Die gemäß Art. 7 Abs. 5 GG für deren Zulassung erforderliche „Besonderheit“ des pädagogischen Interesses, um die es in besagter Verfassungsentscheidung maßgeblich ging, würde deswegen nicht entfallen.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
kann auch eine sinnvolle Auswertung des Versuchs erfolgen.62 Die Anzahl und damit auch die Obergrenze der am Schulversuch teilnehmenden Schulen hängt davon ab, wie viele Versuche notwendig sind, um für die Auswertung hinreichend aussagekräftige empirische Informationen zu gewinnen.63 Hingegen können weder der Umfang des Interesses der Schulen und Schulträger an einer Beteiligung und noch weniger die Experimentierlust der Schulaufsichtsbehörden oder schulpolitische Wunschvorstellungen maßgeblich sein. Insbesondere darf dies nicht dazu führen, den Versuch ohne erkennbaren zusätzlichen Erprobungsbedarf sukzessive immer weiter quantitativ auszudehnen.64 Denn der Schulversuch ist nach Sinn und Zweck dieses Rechtsinstituts eine zeitlich und umfangmäßig begrenzte Ausnahme von der Regel; er ist kein schulischer Normalzustand, wie Experimentierklauseln prinzipiell nur erprobungshalber in einzelnen Fällen die Zulassung zeitlich befristeter Ausnahmen gestatten.65 Wo die Grenze hinsichtlich der Schulversuchsdauer, des inhaltlichen Aus maßes wie auch der Anzahl der teilnehmenden Schulen zu ziehen ist, lässt sich nicht generell regeln. Dies hängt vom Gegenstand des Versuchs, dem Erprobungsbedarf sowie sonstigen Rahmenbedingungen ab und kann deshalb nur spezifisch für jedes einzelne Versuchsvorhaben bestimmt werden. Richtschnur 62 Dazu: Antwort Landesregierung auf die Große Anfrage „Schulsituation in Nordrhein-Westfalen“ (Fn. 43), S. 24 („Es liegt im Charakter von Schulversuchen, daß sie nur einige wenige Schulen erfassen.“). 63 So zutreffend: Gärditz, Schulversuche, DVBl. 2011, S. 715. 64 Zur umfangmäßigen Begrenzung von Schulversuchen durch den hierfür notwendigen Erprobungsbedarf siehe auch: Johannes Lambert, Schulversuch und Verfassungsrecht. Die Erprobungsklausel des § 22 SchG und die Rechte des Landtages, in: SchVw BW 2010, S. 66; Johannes Lambert/Wolf-Ulrich Müller/Alexander Sutor, Schulgesetz Baden-Württemberg. Kommentar für die Praxis, Köln/Kronach 2008, § 22 Anm. 2. 65 Vgl. zu Experimentierklauseln: Lange, Kommunalrechtliche Experimentierklausel, DÖV 1995, S. 771; Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, § 81 Rn. 94. – Zu Recht wird auch davor gewarnt, dass die mit Experimentierklauseln verbundenen Zielsetzungen, mehr Kreativität und Flexibilität zu ermöglichen, nicht zur Bindungslosigkeit der Verwaltung führen dürfen. Vermieden werden müsse auf jeden Fall, dass solche Klauseln die Bedeutung von Recht fortlaufend relativieren oder unter den Vorbehalt einer Dispensation stellen. So: Eberhard Schmidt-Aßmann, Gefährdungen der Rechtsund Gesetzesbindung der Exekutive, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungswirklichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 750. Das BVerfG hat eine in das Altenpflegegesetz des Bundes (§ 4 Abs. 6 AltPflG) aufgenommene Experimentierklausel ausdrücklich gebilligt. Diese sei „erforderlich, weil sie Raum schafft zur befristeten Erprobung von integrierten und generalistischen Ausbildungsmodellen mit neuartigen Inhalten und berufsfeldbezogenen Spezialisierungen. Die Ergebnisse dieser Modellvorhaben sollen systematisch beobachtet und ausgewertet werden, um dem langfristigen Ziel eines einheitlichen Berufsfelds ‚Pflege‘ näher zu kommen.“ Zitat: BVerfGE 106, 61 (163).
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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muss indes sein, dass der Schulversuch immer eine begrenzte Ausnahme bleiben muss66 und faktisch nicht bereits irreversible Sachlagen oder derartige Verfestigungen zeitigt, die den Versuchscharakter in Frage stellen. Insbesondere darf ein Schulministerium nicht durch im Übermaß zugelassene Schulversuche das Parlament für die ihm obliegende schulgesetzliche Entscheidung vor vollendete Tatsachen stellen.67 Es muss bildungspolitisch möglich und allen Beteiligten zumutbar sein, nach Ablauf der Versuchszeit – auch unter dem Gesichtspunkt der für den Versuch aufgewendeten Kosten des Schulträgers – von der Experimentallösung Abschied zu nehmen, also je nach Versuchsergebnis tatsächlich noch eine Auswahl zwischen Alternativen gewährleistet sein.68 „Der Versuch muss also Versuch bleiben können und darf nicht unter der Hand zur Weichenstellung denaturieren“.69 Hierauf wird im Einzelnen noch später einzugehen sein. Es bleibt die Frage, ob aus dem Vorbehalt des Gesetzes und dem Bestimmtheitsgrundsatz noch weitere schulgesetzliche Regelungsnotwendigkeiten hinsichtlich der Durchführung von Schulversuchen folgen, also insbesondere bezüglich Antragsbefugnis, Beteiligung von schulinternen Gremien, Abstimmung mit Nachbarkommunen, Genehmigungszuständigkeit, personelle und sächliche Versuchsbedingungen, vorzeitige Beendigung sowie Erfolgskontrolle von Schulversuchen.70 Die Antwort ergibt sich bereits daraus, dass, wenn für den Schulversuch keine besonderen Regelungen getroffen sind, die allgemeinen schulrechtlichen Vorschriften, die ihrerseits Ausfluss des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sind, greifen. Eine generalklauselartige Ermächtigung zum Versuch kann diesen keinesfalls wie einen erratischen Fremdkörper im Schulwesen eines Landes zulassen, außerhalb des durch den Gesetzgeber für die Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags, den Ausgleich mit den Rechten von Eltern und Schülern sowie die Funktionsfähigkeit des Schulsystems normierten allgemeinen schulrechtlichen Rahmens. Den Schulversuchsermächtigungen würde auch die notwendige Bestimmtheit fehlen, wenn nicht die Vorschriften der Schulgesetze über das Schulverhältnis, die Schulverfassung, die Schulträgerschaft, die Schulaufsicht und die
66 Siehe auch Hervorhebung des Ausnahmecharakters: OVG NRW, Beschl. v. 09.06.2011 – 19 B 478/11, NWVBl. 2011, 436 (438). 67 Ebenso dezidiert: Lambert, Schulversuch, SchVw BW 2010, S. 66. 68 So ähnlich für Versuchsgesetze: Rupert Stettner, Verfassungsbindungen des experimentierenden Gesetzgebers, in: NVwZ 1989, S. 810 f. 69 Zitat: Stettner, ebenda, S. 811. 70 Zur nur bedingt vergleichbaren Fragestellung bei kommunalrechtlichen Experimentierklauseln, da diese nur reines Binnenrecht der kommunalen Selbstverwaltung betreffen: Brüning, Experimentierklauseln, DÖV 1997, S. 287.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Schulfinanzierung grundsätzlich Anwendung finden würden.71 Dies wird durch die rechtssystematische Verortung in den Schulgesetzen noch erhärtet. Die Versuchsklauseln stehen meist – wie in Nordrhein-Westfalen – in den Abschnitten zur Gliederung des Schulwesens, als Appendix zur Auflistung der zulässigen Schulformen. Sie bringen damit zum Ausdruck, dass mögliche Abweichungen sich in erster Linie auf pädagogische und organisatorische Modifizierungen dieses Schulformangebots beziehen. Schließlich muss der Schulversuch materiell auch mit dem in den jeweiligen Landesverfassungen (z.B. Art. 7–14 LVerf NRW) und Schulgesetzen (z.B. §§ 1–5 SchulG NRW) vorgegebenen, unterschiedlich detailliert formulierten Auftrag der Schule, vor allem deren Bildungs- und Erziehungsauftrag, konform gehen.72 Schulversuche können die tragenden Säulen der durch die Landesverfassungen und die Schulgesetze festgelegten Bildungsziele nicht abändern.73 Damit lassen sich, worauf später noch einzugehen ist, alle angesprochenen Durchführungsfragen von Schulversuchen bis auf zwei Aspekte klären. Die Genehmigungszuständigkeit ist in allen Schulversuchsermächtigungen auf die oberste Schulaufsichtsebene, das für das Schulwesen zuständige Ministerium, hochgezont, eine zur Sicherung der Einpassung des Versuchs ins Schulsystem sowie aus der Analogie zu Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG folgende Notwendigkeit. Zweitens könnte auch bezüglich der Erfolgskontrolle ein Regelungsbedarf in den Versuchsvorschriften bestehen. Die Notwendigkeit einer Erfolgskontrolle leitet sich allerdings bereits aus dem Charakter des Versuchs ab, da am Ende eines Versuchs die Entscheidung ansteht, ob eine Übertragbarkeit und Verankerung im Regelsystem angeraten ist oder nicht. Schulversuche können aber nur dann 71 Ebenso:
Gärditz, Schulversuche, DVBl. 2011, S. 713. Im Ergebnis: Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 50 f. 72 Vgl.: Gärditz, ebenda; Eiselt/Heinrich, Grundriß des Schulrechts in Berlin, S. 54; Ludwig Niebes/Bernhard Becher/Andrea Pollmann, Schulgesetz im Freistaat Sachsen. Praxiskommentar mit Lehrerdienstrecht, 4. Aufl., Stuttgart u.a. 2004, § 15 SchulG Rn. 3; Stober, Gesetzesvorbehalt, DÖV 1976, S. 523. Siehe auch: Harnischfeger/Heimann, Rechtsfragen der Gesamtschule, S. 36, wonach die Unterrichtsorganisation einer Versuchsschule sich nicht so weit von derjenigen der Regelschulen entfernen kann, dass jede Vergleichbarkeit entfiele. 73 Prägnant: Stober, ebenda. – Siehe auch die Begründung zu den Schulversuchsvorschriften des DJT-Entwurfs für ein Landesschulgesetz (DJT, Schule im Rechtsstaat, Bd. I, S. 224). Danach geht der Entwurfsvorschlag „davon aus, daß sich Versuche im Rahmen des Bildungsauftrags der Schule sowie der allgemeinen Unterrichtsziele bewegen müssen (§§ 2 bis 6). Diese Bindung stellt sicher, daß die Schüler nicht beliebigen Versuchen unterworfen werden.“ Eine entsprechende gesetzliche Klarstellung enthält die Vorschrift über Schulversuche im Bildungsgesetz des Kantons Zürich [v. 01.07.2002 (OS 58, S. 3) i.d.F. v. 22.03.2010 (OS 65, S. 390)]. Dort heißt es in § 11 Abs. 2 Satz 1: „Im Rahmen der Versuche kann von der ordentlichen Gesetzgebung abgewichen werden, soweit die Erreichung der Ziele des Bildungswesens gewährleistet bleibt.“
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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die entsprechenden Entscheidungsgrundlagen liefern, wenn sie auch ausgewertet werden. Fraglich kann nur die Art und Weise der Erfolgskontrolle sein, vor allem ob eine wissenschaftliche Begleitung und Auswertung des Versuchs schulgesetzlich vorzuschreiben ist. Die Schulgesetze von sechs Ländern sehen Letzteres in ihren Versuchsklauseln verbindlich vor und zwei weitere als Regelfall.74 Nordrhein-Westfalen und die andere Hälfte der Länder hingegen kennen eine solche Bestimmung nicht. Zwar ist eine wissenschaftlich basierte Erfolgskontrolle mittlerweile auch in diesen Ländern zur Regel geworden,75 dennoch kann es durchaus auch Versuche geben, insbesondere in organisatorischen oder schulfinanzrechtlichen Bereichen, bei denen diesbezüglich ausreichend Fachkompetenz in den Schulverwaltungen besteht. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Gesetzgeber in den Ländern nicht dazu verpflichtet sind, schulgesetzliche Neuerungen zunächst durch die jeweilige Schulverwaltung versuchsweise erproben zu lassen, selbst wenn die Auswirkungen der Gesetzesänderung nicht sicher vor-
74 Siehe: § 10 Abs. 3 Satz 4 SchulG HH, § 14 Abs. 6 SchulG HE, § 38 Abs. 3 Satz 4 SchulG MV, § 20 Abs. 4 SchulG RP, § 11 Abs. 2 SchulG ST, § 12 Abs. 2 SchulG TH. – In Niedersachsen und Sachsen soll im Regelfall eine wissenschaftliche Begleitung erfolgen: § 22 Abs. 2 SchulG NI („nach Möglichkeit“), § 15 Abs. 2 SchulG SN („in der Regel“). In Hessen und Sachsen-Anhalt ist zusätzlich geregelt, dass die Form der wissenschaftlichen Begleitung das Ministerium regelt; in Mecklenburg-Vorpommern ist dies in der Versuchsklausel dem dortigen Institut für Qualitätssicherung übertragen. In Hamburg ist zusätzlich eine Verpflichtung zur Veröffentlichung der Ergebnisse vorgeschrieben. In der Kommentierung der niedersächsischen Bestimmung wird die Ausgestaltung als Regelfall vor allem damit begründet, dass eine Versuchsgenehmigung nicht daran scheitern soll, dass keine geeigneten und interessierten Wissenschaftler zur Begleitung gefunden werden. Das Kultusministerium sei aber verpflichtet, die Möglichkeiten zur Einrichtung einer wissenschaftlichen Begleitung auszuschöpfen. Im Übrigen sei eine wissenschaftliche Begleitung bei manchen Versuchen (z.B. Schulverfassungsversuchen) von der Sache her auch nicht unbedingt erforderlich. So: Herbert Woltering/Peter Bräth, Niedersächsisches Schulgesetz. Handkommentar, 4. Aufl., Stuttgart u.a. 1998, § 22 SchulG Rn. 3; Peter Bräth/Manfred Eickmann/Dieter Galas, Niedersächsisches Schulgesetz, 7. Aufl., Köln 2012, § 22 SchulG Rn. 2. 75 Vgl.: Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG Rn. 6. Demgegenüber wurden bei Schulversuchen in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik größtenteils keine wissenschaftlichen Begleituntersuchungen durchgeführt, wie insbesondere die DIPF-Erhebung über Schulversuche im Schuljahr 1965/1966 ergab. Siehe: Führ, Schulversuche 1965/66, Teil I, S. 108. Dies änderte sich Ende der 1960er Jahre mit dem Beginn der BLK-Modellversuchsprogramme. Dazu: Horst Weishaupt, Modellversuche im Bildungswesen und ihre wissenschaftliche Begleitung, in: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Hrsg.), Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Daten und Analysen, Bd. 2: Gegenwärtige Probleme, Stuttgart 1980, S. 1302 ff.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
hersehbar sind.76 Noch weniger besteht eine Verpflichtung, Gesetzesänderungen zwingend einer vorherigen wissenschaftlichen Beurteilung zu unterziehen. Der Gesetzgeber ist zwar in der Schulpolitik gut beraten, wenn er vor Einführung pädagogischer Neuerungen deren voraussichtliche Wirkung wissenschaftlich abschätzen lässt,77 er kann sich aber auch allein auf seine eigene Einschätzung und diejenige der zuarbeitenden Exekutive verlassen. Ob der Schulgesetzgeber eine wissenschaftliche Begleitung von Schulversuchen zur Bedingung erhebt, ist daher eine allein durch das Parlament zu entscheidende Frage, ohne Vorgabe der Verfassung. Als Ergebnis ist nach alledem festzuhalten, dass trotz ihres zum Teil knappen Wortlauts die Schulversuchsvorschriften der Länder letztlich auch im Hinblick auf den Inhalt, Zweck und das Ausmaß der erteilten Ermächtigungen, wenn auch im Wege der Auslegung und hinsichtlich des Erfordernisses der Freiwilligkeit nicht in allen Ländern, hinreichend bestimmt sind.78 4. Grenzen einer allgemeinen Schulversuchsklausel und Erfordernis einer besonderen Ermächtigung des Gesetzgebers Aus der Wesentlichkeitstheorie folgt, wie bereits eingangs dieses Kapitels thematisiert, dass eine allgemeine schulgesetzliche Versuchsklausel in bestimmten Fallkonstellationen als Legitimation schulbehördlichen Handelns nicht ausreicht. Einer gesetzlichen Spezialermächtigung bedarf es, wenn der Schulversuch über das Ausmaß eines idealtypischen Versuchs hinausgeht, also nicht, wie vorstehend als Notwendigkeit ausgeführt, zeitlich und quantitativ hinreichend begrenzt ist oder es sich um einen „flächendeckenden Versuch“ handelt. 76 So
auch klarstellend: Niehues/Rux, Schul- und Prüfungsrecht, Rn. 328. – Siehe dazu auch die allgemeine Feststellung des BVerfG im Mitbestimmungsurteil BVerfGE 50, 290 (332): „Ungewißheit über die Auswirkungen eines Gesetzes in einer ungewissen Zukunft kann nicht die Befugnis des Gesetzgebers ausschließen, ein Gesetz zu erlassen, auch wenn dieses von großer Tragweite ist.“ 77 Zur damit verbundenen Notwendigkeit einer intensiveren empirischen Wirkungsforschung („What works“) statt einer aktuell zu engen Ausrichtung der Bildungswissenschaft auf die Beschreibung und Analyse der Schwächen und Stärken des Bildungssystems anhand schulischer Leistungsdaten: Günter Winands, Zum Verhältnis von Bildungswissenschaft und Schulpraxis. Mehr Austausch tut Not, in: SchVw NRW 2012, S. 26. – Siehe in diesem Zusammenhang auch: Gerald A. Straka, Forschungsstrategien zur Evaluation von Schulversuchen. Probleme empirischer Begleitung und empirischer Kontrolle von Schulversuchen, Weinheim/Basel 1974. 78 Dagegen die im Jahre 1972 geltenden Schulversuchsklauseln als zu unbestimmt ablehnend, wobei ein Teil der Bedenken sich auch gegen die heute geltenden Fassungen richten würde: Säcker, Schulversuche, RdJB 1972, S. 15.
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a) Flächendeckende Schulversuche Letzteres war ausdrücklich, wie bereits aufgezeigt, im Musterentwurf für ein Landesschulgesetz des Deutschen Juristentages klargestellt, und zwar in § 34 Abs. 4: „Die Einführung flächendeckender Versuche bedarf des Gesetzes.“ Eine besondere parlamentarische Legitimation ist also erforderlich, wenn Schulversuche und insbesondere Versuchsschulen in einer solchen räumlichen Ausdehnung eingerichtet werden, dass im Versuchsgebiet wohnende Schüler keine Ausweichmöglichkeit zu einer in zumutbarer Entfernung befindlichen Schule mit Regelangebot haben.79 Ergibt sich wegen der durch den faktischen Teilnahmezwang nachteilig tangierten Grundrechten von Eltern und Schülern, insbesondere der Wahl des Bildungsganges, nach dem Vorbehalt des Gesetzes die Notwendigkeit einer speziellen Ermächtigungsnorm, so ist damit allerdings – worauf bereits hingewiesen wurde – noch nicht entschieden, ob solche spezialgesetzlich vorgesehenen Grundrechtsbeeinträchtigungen materiell verfassungskonform sind. Im Regelfall dürfte dem das durch Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) und Entfaltungsrecht der Schüler (Art. 2 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Gleichheitssatz grundrechtlich verbürgte Recht auf Teilnahme an den schulgesetzlich geregelten regulären Bildungsgängen entgegenstehen. b) Obergrenze teilnehmender Schulen Eine spezielle Ermächtigung des Gesetzgebers ist des Weiteren erforderlich, wenn die Anzahl der teilnehmenden Schulen nicht mehr mit einem Schulversuch zu vereinbaren ist. Dabei muss es sich nicht unbedingt um einen flächendeckenden Versuch handeln. Der Versuchscharakter ist ebenso in Frage gestellt, wenn die Schulversuche bzw. Versuchsschulen zwar derart räumlich über das Land verteilt sind, dass Schüler tatsächlich noch eine Wahlmöglichkeit haben, andererseits jedoch eine so große Zahl von Schulversuchen zugelassen werden soll, dass die Ministerialverwaltung damit faktisch die Regeleinführung vorwegnimmt. Werden mehr Schulversuche ermöglicht als für eine praktische Erprobung und Evaluation notwendig sind, so setzt die Administration damit ein untrügliches schulpolitisches Zeichen. Sie übt dann insoweit einen originären schulpolitischen Gestaltungswillen aus, der nach dem Vorbehalt des Gesetzes dem Parlament obliegt.80 Da die Genehmigungsbefugnis für Schulversuche in allen Bundesländern bei den Schulministerien liegt, ist hierbei freilich immanent
79 Vgl. auch: Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG Rn. 12.; Oppermann, Gutachten C zum 51. DJT, S. 56. 80 Betonung dieser Grenzlinie: BVerfGE 78, 249 (273).
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
eine Nähe zu politischen Interessen gegeben;81 die Vergangenheit lehrt, so etwa die Strukturversuche zur Gesamtschule oder jüngst zur „Gemeinschaftsschule“, dass dabei eine Verquickung mit ideologisch motivierten, den Schulversuch hierfür instrumentalisierenden Steuerungs- und Veränderungsabsichten nicht auszuschließen ist. Wo bei Schulversuchen die zahlenmäßige Obergrenze im Einzelnen zu ziehen ist, hängt insbesondere davon ab, ob es sich um einen Schulversuch an bestehenden Schulen oder um Versuchsschulen handelt. Bei Ersteren ist zudem zu berücksichtigen, ob der Schulversuch ein additives Angebot ist, wie etwa der Schulversuch Islamkunde in Nordrhein-Westfalen, oder aber ein Regelangebot ersetzt. Bei additiven Angeboten kann der Maßstab, weil das Regelsystem nur ergänzt wird, großzügiger sein. Außerdem kann es in einem großen Bundesland wie Nordrhein-Westfalen sachnotwendig sein, den Schulversuch in unterschiedlichen Regionen und sozialräumlichen Umgebungen durchzuführen. Dies erhöht zwangsläufig deutlich die Zahlen. Für Schulversuche an bestehenden Schulen in Nordrhein-Westfalen wurde in den letzten Jahren häufig als Obergrenze die Zahl 60 angesetzt, was angesichts von – allerdings über alle Schulformen hinweg – insgesamt über 6.300 öffentlich und private Schulen82 als im Regelfall vertretbar angesehen werden kann. Die Obergrenze bei Versuchsschulen, die im Rahmen eines Versuchsprogramms errichtet werden sollen, ist deutlich enger zu ziehen. Wenn bei diesen per Definition Abweichungen, Veränderungen oder Ergänzungen grundsätzlicher Art erprobt werden, tangiert dies das Primat des Gesetzgebers deutlich stärker als bei einfachen Schulversuchen. Denn Versuchsschulen weichen damit nicht nur in Bezug auf einzelne schulgesetzliche Regelungen, sondern zwangsläufig in wesentlichen Beziehungen von den Schulformmodellen ab, die der Gesetzgeber strukturell und inhaltlich festgelegt hat. Der Gesetzgeber ist zu Letzterem berufen, weil die Bestimmung der zulässigen Schulformen, unabhängig von einer möglichen Grundrechtsrelevanz, zu den bildungspolitischen Grundsatzentscheidungen gehört. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung und Literatur, dass insbesondere bei Wandlungen der Schulstruktur, die das bestehende Gefüge des Schulwesens durch neue Formen ersetzen oder ergänzen sollen, eine eindeutige Entscheidung der Legislative unabdingbar ist. Das Parlament muss zumindest die typusbestimmenden inhaltlichen Merkmale der verschiedenen Schulformen 81 Eine
ähnliche Situation besteht bei den meisten verwaltungsrechtlichen Experimentierklauseln und Dispensmöglichkeiten. Auch diese geraten wegen der Überantwortung der Suspension der jeweiligen gesetzlichen Vorschriften an die oberste Exekutivebene „allzu leicht in den Sog des Politischen“. Zitat: Isensee; Billigkeitskorrektiv des Steuergesetzes, FS Flume, S. 133, der dies für den Steuererlass konstatiert. 82 Vgl.: MSW, Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2011/12, S. 9.
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und Schulstufen, ihr Unterrichtsprogramm und ihr spezifisches Qualifikationsprofil festlegen.83 Die Exekutive darf diesbezüglich den Parlamentsvorbehalt nicht in Frage stellen, insbesondere nicht über den Weg großzügig genehmigter Schulversuche anstelle des dazu demokratisch legitimierten Parlaments schulpolitische Weichenstellungen vornehmen. Versuchsschulen müssen – als Ort der Erprobung und eben nicht der Implementierung – die begrenzte Ausnahme bleiben, die Entscheidung des Parlaments darf nicht faktisch durch eine zu große Anzahl von Versuchsschulen vorweggenommen werden. In Nordrhein-Westfalen gibt es hierzu einen wichtigen, bereits im historischen Teil dargestellten Präzedenzfall. Nachdem bis 1975 gestützt auf eine Versuchsklausel im damaligen Schulverwaltungsgesetz des Landes 21 Gesamtschulen errichtet worden waren, sah der Gesetzgeber dort die Notwendigkeit, für weitere Schulversuche mit Gesamtschulen – unter ausdrücklichem Hinweis auf die seinerzeit neue Verfassungsrechtsprechung zum Gesetzesvorbehalt – eine spezielle gesetzliche Grundlage zu schaffen.84 Bei der Einordnung der Zahl 21 ist zu berücksichtigen, dass der Gesamtschulversuch in einer Periode ansteigender Schülerzahlen durchgeführt wurde und damit als zusätzliches Angebot zunächst bestehende Regelschulen nicht unmittelbar tangierte. Die Situation heute bei stark zurückgehenden Schülerzahlen ist damit nicht vergleichbar; die Errichtung von Versuchsschulen hat im Regelfall derzeit zur Konsequenz, dass bestehende Schulen hierfür umgewandelt werden oder auslaufen müssen. Daher wird die Obergrenze in Nordrhein-Westfalen aktuell bei maximal 20 Versuchsschulen zu ziehen sein. Der Landesgesetzgeber hat für den im Schulkonsens 2011 vereinbarten Schulversuch PRIMUS sogar nunmehr schon eine besondere gesetzliche Ermächtigung für die beabsichtigte Errichtung von 15 Versuchsschulen geschaffen. Dabei 83 Grundlegend: BVerfGE 34, 165 (192); 45, 400 (417 ff.). – Siehe auch: Norbert Niehues, Der Vorbehalt des Gesetzes im Schulwesen, in: DVBl. 1980, S. 468; Peter Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt. Rechtsgutachten erstattet im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, München 1981, S. 53 ff., 90 ff.; Avenarius, in: Avenarius/Füssel, Schulrecht, S. 35. 84 Siehe oben Zweiter Teil Neuntes Kapitel II. 2. – Ausdrücklich auf den damaligen Schulversuch nahm in der Diskussion über den Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ ebenfalls Bezug: Christian Jülich, Schulstruktur zwischen Chaos und Konsens, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19.08.2010, S. 6. Er wies darauf hin, dass schon der frühere Gesamtschulversuch in Nordrhein-Westfalen (1969–1982) mit 30 Schulen der Entscheidung des Gesetzgebers bedurfte. Er sieht wohl jedenfalls bei Überschreitung einer solchen Zahl den Gesetzgeber gefordert. So jetzt auch: Jülich, in: Jülich/ van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG Rn. 6. Deutlich höher (nicht mehr als 40 bis 50) die Grenzziehung bei: Pieroth/Barczak, Gemeinschaftsschule, NWVBl. 2011, S. 125; Matthias Menzel, Schulträgerrelevante Initiativen der Landesregierung in NRW. Anmerkungen aus kommunaler Sicht, in: SchVw NRW 2011, S. 74.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
hatte die Schuladministration in Person der Schulministerin allerdings noch ein Jahr zuvor erklärt, es gebe hinsichtlich der Inanspruchnahme der Schulversuchsklausel überhaupt keine gesetzliche Obergrenze,85 und so wurde in der förm lichen Auslobung des zunächst auf § 25 SchulG NRW gestützten Schulversuchs „Gemeinschaftsschule“ keine quantitative Begrenzung festgelegt.86 Nach hieran geäußerter Kritik glaubte die Schulministerin, die Grenze bei 50 Versuchsschulen ziehen zu können,87 bis dann das Vorhaben vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen gestoppt und die verbliebenen 12 genehmigten Versuchsschulen im Vollzug des Schulkonsenses durch eine schulgesetzliche Übergangsregelung Bestandsschutz erhielten.88 In der Schulgeschichte des Landes Nordrhein-Westfalen gibt es nach diesem gescheiterten Vorstoß nach wie vor keinen Fall, in dem die Exekutive aufgrund einer Schulversuchsklausel mehr als jene 21 Versuchsschulen des Gesamtschulversuchs zugelassen hat. So wurde insbesondere für den Schulversuch „Kollegschule“, durch den im Laufe der Zeit 39 Versuchs-Kollegschulen entstanden, zeitgleich zur Gesamtschule eine spe zielle gesetzliche Ermächtigung geschaffen.89 85 Laut dpa-Meldung v. 27.08.2010, wiedergegeben z.B. in: Münstersche Zeitung v. 28.08.2010. 86 Siehe: RdErl. v. 21.09.2010, online im Schulmailarchiv des Schulministeriums unter: http://www.schulministerium.nrw.de/SV/Schulmail/Archiv/1009211/index.html. Vorangegangen war ein Kabinettbeschluss v. 17.09.2010, vorgestellt in einer Presse konferenz der Schulministerin v. 20.09.2010. Zu letzterer: http://www.schulministerium. nrw.de/BP/Presse/Konferenzen15LP/index.html. 87 Nach Zeitungsberichten führte die Schulministerin Mitte November 2010 bei der vorgezogenen Genehmigung einer ersten „Gemeinschaftsschule“ in Ascheberg aus, wenn mehr als 50 Anträge eingingen, „würde ich das Parlament fragen.“ Siehe etwa: Ahlener Zeitung v. 18.11.2010. Der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen sekundierte kurz darauf diese Rechtsauslegung im Landtagsplenum mit den Worten, „wenn sich mehr als 50 melden, muss man es gesetzlich regeln“. Das gehe nicht am Parlament vorbei. So: Reiner Priggen, Landtag Nordrhein-Westfalen, 15. WP, Plenarprotokoll 15/10 v. 30.09.2010, S. 675. Siehe im Übrigen zum Sachverhalt auch Zweiter Teil Neuntes Kapitel IV. 3. 88 Zur Rechtfertigung der Zahl 50 wurde regierungsseitig mitunter darauf verwiesen, dass die Vorgängerregierung beim Schulversuch „Kompetenzzentren sonder pädagogische Förderung“ bis zu 50 Pilotregionen ausgeschrieben hatte. Doch ein solcher Vergleich trägt nicht. Denn die Kompetenzzentren waren mit dem Schulgesetz von 2006 bereits in § 20 Abs. 5 SchulG NRW gesetzlich zugelassen worden. Dieser Schulversuch diente einzig zur Vorbereitung einer – nicht der Zustimmung des Landtags bedürftigen – detailregelnden Rechtsverordnung des Ministeriums. Vgl.: Winands, Schein-Versuch, lehrer nrw 2/2011, S. 14. 89 Beim „Schulversuch Förderschule“ (1994–2000) in Nordrhein-Westfalen (siehe oben Zweiter Teil Siebtes Kapitel III) waren zwar am Ende 31 Schulen beteiligt, ohne dass es eine gesetzliche Spezialermächtigung gab. Sie erprobten, wie eine Zusammenführung der damaligen drei unterschiedlichen Sonderschultypen (Schule für Lernbe-
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Einer solchen Spezialermächtigung bedarf es also zwingend dann, wenn an einem Versuchsprogramm mehr Schulen teilnehmen sollen als für eine Entscheidungsfindung im Hinblick auf eine mögliche Übernahme ins Regelsystem notwendig ist oder wenn von vornherein keine zahlenmäßige Begrenzung in Betracht gezogen wird wie anscheinend seinerzeit in Nordrhein-Westfalen zu Beginn der regierungsamtlichen Überlegungen zur „Gemeinschaftsschule“. In Berlin fügte man im Jahre 2008 bei der Einleitung des dortigen Versuchsvorhabens „Gemeinschaftsschule“ nicht nur eine Öffnungsklausel ins Schulgesetz ein.90 Die Begründung zur Schulgesetzänderung enthält auch einen ausdrücklich Hinweis darauf, dass eine gesetzliche Regelung bei einem solch „groß angelegten Schulversuch erforderlich“ sei.91 Allerdings sollte der Gesetzgeber in derartigen Fällen nicht mehr die Begriffe Schulversuch oder Versuchsschule verwenden, sondern besser die Bezeichnungen Pilotschulen, Modellschulen oder – wie in einigen Bundesländern – „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“, da die Charakteristika eines Versuchs (zeitliche und umfangmäßige Begrenzung) eben gerade nicht gegeben sind. c) Strukturversuche und Grenzen inhaltlicher Art Schließlich ist eine gesetzliche Spezialermächtigung erforderlich, wenn zwar die Anzahl der Schulen begrenzt ist, das Ausmaß der Versuchsabweichungen inhaltlicher Art aber derart weit und grundlegend ist, dass deshalb nicht mehr von einem im Umfang begrenzten Schulversuch gesprochen werden kann. Dies wird auch vereinzelt so im Schrifttum gesehen. Selbst bei in der Anzahl begrenzten Schulversuchen soll es danach einer ausdrücklichen Entscheidung des Parlaments und damit einer besonderen, hinreichend bestimmten gesetzlichen Ermächtigung bedürfen, wenn durch den Schulversuch grundsätzliche Umgehinderte, Schule für Sprachbehinderte und Schule für Erziehungshilfe) erreicht werden konnte, ohne den jeweils schwerpunktmäßigen Förderanspruch des einzelnen Kindes oder Jugendlichen zu gefährden. Gemäß § 4 Abs. 6 Satz 4 des damaligen Schulverwaltungsgesetzes NRW konnten aber einzelne Sonderschultypen seit 1995 auch im organisatorischen und personellen Verbund als eine Schule geführt werden, so dass der Schulversuch ab diesem Zeitpunkt der inhaltlichen Ausgestaltung des im Grundsatz gesetzlich zugelassenen Verbundes diente. 90 § 71a SchulG BE, eingefügt durch ein „Zweites Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes“ v. 17.04.2008 (GVBl. S. 95). 91 Zitat: Antrag der Fraktion der SPD und der Linksfraktion „Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes“, Abgeordnetenhaus Berlin, 16. WP, Drs. 16/1142, Allgemeine Begründung S. 4. Weiterhin heißt es dort: „Die teilnehmenden Schulen benötigen aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit eine gesetzliche Regelung, die sie explizit dazu befähigen, von bisher essentiellen Vorschriften des Schulgesetzes abzuweichen.“
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
staltungen des Schulwesens mit weitreichenden bildungspolitischen Zielen und vor allem schrittweise irreversible Reformen eingeleitet werden.92 Auf den Punkt gebracht geht es darum, ob „ein ausschließlich experimentelles Ziel oder bereits eine versuchsunabhängige Reformagenda verfolgt wird“.93 Aus dem allgemeinen Gebot der Formenadäquanz folgt, dass nicht „im Gewande der Rechtsfigur des bloßen Experiments faktisch Effekte erzeugt werden dürfen, die nur der formelle Gesetzgeber bewirken darf“.94 Die Tatsache, dass eine Frage politisch umstritten ist, führt zwar für sich genommen nicht dazu, dass diese als wesentlich verstanden werden müsste.95 Die Allgemeinheit berührende, tiefgehende Kontroversen, insbesondere wenn es um höchst umstrittene grundlegende Weichenstellungen geht, deuten aber indiziell auf die Gebotenheit parlamentarischer Entscheidung hin.96 „Es geht darum, ob an einer Entscheidung mehrere Instanzen mitwirken sollen, ob in der Öffentlichkeit eine entsprechende Diskussion stattfindet, ob die Opposition im Parlament an der Entscheidung beteiligt werden soll, ob die Mehrheit gezwungen wird, ihre Entscheidung im Forum des Parlaments, also in der Öffentlichkeit zu begründen und zu verteidigen – oder ob dies alles unnötig ist, ob die Entscheidung bürokratisch-diskretionär getroffen werden darf, weil ihr Gegenstand die vorgenannten Verfahrenskautelen nicht erfordert.“97 Als Exempel für solch einen unzulässigen Strukturversuch ist in Teilen des Schrifttums auch der ursprüngliche 2010 eingeleitete Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ in Nordrhein-Westfalen angesehen worden.98 Ausschlaggebend 92 Oppermann, Gutachten C zum 51. DJT, S. 56 ff.; Avenarius, in Avenarius/Füssel, Schulrecht, S. 98; Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, S. 28 f., 93; Säcker, Schulversuche, RdJB 1972, S. 13 ff.; ders., Regelung von Schulversuchen, DVBl. 1972, S. 312 ff.; wohl auch, soweit es um das Für und Wider des Erhalts kleinerer, ortsnaher Schulen geht: Niehues, Vorbehalt des Gesetzes im Schulwesen, S. 468. 93 Zitat: Gärditz, Schulversuche, DVBl. 2011, S. 715. 94 Zitat: Lerche, ebenda, S. 28 f., unter Hinweis auf: Christian Pestalozza, Formenmißbrauch des Staates, München 1973. 95 Siehe statt vieler: BVerfGE 94, 218 (251). 96 Zu diesem Indizcharakter mit ausführlicher Begründung: Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, S. 20 ff. 97 Zitat: Fritz Ossenbühl, Aktuelle Probleme der Gewaltenteilung, in: DÖV 1980, S. 549. Pointiert führt er dort weiter aus, es könne „nicht gleichgültig sein, ob ein Kultusminister sich mit einigen Pädagogen und Soziologen seiner Wahl umgibt und Schulpolitik nach seinem Gusto betreibt oder ob die Schulpolitik im Landtag gemacht wird.“ 98 So: Gärditz, Schulversuche, DVBl. 2011, S. 715; ders., Gutachtliche Stellungnahme; Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 49; Johannes Orth, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Schulstruktur, in: NVwZ 2011, S. 18. Wohl auch: Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG Rn. 12: „Die Exekutive kann nicht entgegen der schulgesetzlichen Regelung unter der Überschrift
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hierfür war, dass nach Beendigung des Versuchs keine wirkliche Evaluation stattfinden sollte, sondern vielmehr der Erfolg des Schulversuchs bereits antizipiert wurde, indem die Landesregierung schon vor Beginn des Schulversuchs eine Ausweitung der neuen Schulform „Gemeinschaftsschule“ auf eine in der da maligen rot-grünen Koalitionsvereinbarung fixierte Zielmarke von 30 % aller weiterführenden Schulen verkündete.99 Offenkundig war kein wirklicher Schulversuch gewollt, weshalb das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-West falen schon die für einen Schulversuch notwendige Voraussetzung eines Erprobungsbedarfs verneinte, worauf im nächsten Kapitel noch eingegangen wird. Aber selbst wenn man es bereits hieran nicht scheitern lassen wollte, so war das Versuchsprogramm der Landesregierung nach deren eigenen Einlassungen der erste Schritt zur landesweiten Einführung einer irreversiblen Reform, zumal mit der Genehmigung der Versuchsschulen gleichzeitig im Regelfall die Auflösung doppelt so vieler bestehender Haupt- und Realschulen verbunden gewesen wäre. Mit deren Auflösung wären vollendete Tatsachen geschaffen worden, die Versuchsschule damit in Zeiten deutlichen Schülerrückgangs dann in kleinen Kommunen oftmals als einzig verbleibende weiterführende Schule übrig geblieben. Aufgrund des verfassungsrechtlichen Gebots der Gewährleistung differenzierter und vielfältiger Schulformen,100 kann indes die auch gegebenenfalls schleichende Veränderung des Verhältnisses zwischen den Schulformen nicht der ‚Schulversuch‘ eine andere Schullandschaft aufbauen.“ Anderer Ansicht, Zulässigkeit wegen einer noch begrenzten Zahl teilnehmender Schulen, waren gewesen: Christoph Gusy, Gemeinschaftsschule – Schulversuch in NRW verfassungsgemäß, Schriftenreihe Denkanstöße des Verbandes Bildung und Erziehung NRW, Dortmund 2010 (Online verfügbar: www.vbe-nrw/downloads/PDF%20Dokumente/Da4_JurEinschätzung.pdf); Bodo Pieroth/Tristan Barczak, Die neue Gemeinschaftsschule am Maßstab der Schulversuchsklausel und der Hauptschulgarantie, in: NWVBl. 2011, S. 121 ff., insb. S. 127. 99 Siehe oben Zweiter Teil Neuntes Kapitel, Fn. 50. 100 Zur Notwendigkeit differenzierter Bildungsgänge als Voraussetzung für die Ausübung eines echten Elternwahlrechts im Hinblick auf die weiterführenden Schulen: BVerfGE 34, 165 (184 f.); 45, 400 (416); 96, 288 (306); Markus Kotzur, in: Klaus Stern/Florian Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar. Die Grundrechte des Grundgesetzes mit ihren europäischen Bezügen, Köln 2010, Art. 7 Rn. 68; Frank-Rüdiger Jach, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, Berlin 1991; Jochen Abr. Frowein, Das Verfassungsgebot des gegliederten Schulwesens in Nordrhein-Westfalen, in: Rolf Stödter/ Werner Thieme (Hrsg.), Hamburg. Deutschland. Europa, Festschrift für Hans-Peter Ipsen, Tübingen 1977, S. 31 ff., insb. S. 46. In Nordrhein-Westfalen, aber auch in anderen Bundesländern wie Thüringen, ergibt sich dies darüber hinaus aus der Landesverfassung. Bis zur Änderung der nordrheinwestfälischen Verfassung im Zuge des Schulkonsenses war dies schon herleitbar aus Art. 10 Abs. 1 Satz 2 LVerf NRW a.F.: „Die Gliederung des Schulwesens wird durch die Mannigfaltigkeit der Lebens- und Berufsaufgaben bestimmt.“ Seit der Verfassungsänderung 2011 ist dies – wie bereits erwähnt (Zweiter Teil Neuntes Kapitel, Fn. 52) – noch klarer in Art. 10 Abs. 1 Satz 2 und 3 LVerf NRW festgeschrieben.
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Verwaltung überlassen werden. Wenn solches wie im Falle der „Gemeinschaftsschule“ in Nordrhein-Westfalen politisch gewollt wird, hat dies der demokratisch gewählte Gesetzgeber im Rahmen des verfassungsrechtlich Möglichen zu entscheiden.101 Zutreffend erklärte schon 1973 gerade die nordrhein-westfälische Landesregierung gegenüber dem Landtag, dass „ausschließlich Maßnahmen mit Versuchscharakter“ auf eine schulgesetzliche Versuchsvorschrift gestützt werden können. Prägnant hieß es weiter: „Die generelle Einführung gesetzlich nicht vorgesehener Schulformen wird durch diese Vorschrift nicht gedeckt.“102 Eindeutig überschießende Strukturversuche wären zudem, wenn mit bislang unbekannten Zugangsvoraussetzungen für weiterführende Schulformen, mit neuen Notenstufen oder völlig neuen Schulabschlüssen experimentiert würde und damit keine Kompatibilität mit dem Regelsystem mehr bestünde. Wegen der offenkundig erheblichen Grundrechtsrelevanz können Entscheidungen im Bereich des Noten- und Berechtigungswesens allein durch den Gesetzgeber getroffen werden. Wenn es um die konkrete individuelle Verteilung von Zukunftsund Lebenschancen der Schüler geht, endet die allgemeine Ermächtigung der Exekutive zum Experiment. Im Schulversuch dürfen das Unterrichtsangebot und die Leistungsbedingungen sich nicht so weit von der Regelschule entfernen, dass der Versuch sich nicht mehr in das Schulsystem eines Landes einfügt, eine Vergleichbarkeit nicht mehr gegeben ist und damit auch Übertritte in das Regelsystem ausscheiden.103 Als eine Ausprägung dieser Grenzziehung kann die in § 25 Abs. 1 SchulG NRW und auch in anderen Schulgesetzen normierte Tatbestandsvoraussetzung angesehen werden, wonach Schulversuche dazu dienen, das Schulwesen „weiterzuentwickeln“. Aus einer solchen Begriffswahl wird denn auch vereinzelt gefolgert, dass durch Schulversuche „an Bestehendes angeknüpft werden soll und die Schule trotz der vielfältigen äußeren Wandlungen und veränderten kulturellen, wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Anforderungen in ihrem Wesen und in ihrem spezifischen Auftrag unverändert bleiben muss“.104 Doch wird dies nur auf die in den Landesverfassungen und den Schulgesetzen festgelegten Erziehungs- und Bildungsziele bezogen, nicht hingegen als Sperre gegen überschießende Strukturversuche ausgelegt. Nach hiesiger Ansicht entwickeln 101 So:
Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 49. – Ähnlich auch allgemein: Karl-Heinz Ladeur, Elternrecht, kulturstaatliches Vielfaltgebot und gesetzliche Regelung der Schulschließung, in: DÖV 1990, S. 952. 102 Antwort Landesregierung auf die Große Anfrage „Schulsituation in NordrheinWestfalen“ (Fn. 43), S. 23. 103 Ähnlich: Harnischfeger/Heimann, Rechtsfragen der Gesamtschule, S. 36, von diesen erörtert und Vergleichbarkeit bejaht in Bezug auf die Gesamtschulversuche der 1970er Jahre. 104 Zitat: Stober, Gesetzesvorbehalt, DÖV 1976, S. 523.
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Schulversuche das bestehende Schulwesen zudem auch dann nicht weiter, sondern sprengen dieses, wenn das Versuchsvorhaben sich nicht mehr in das bestehende Schulsystem eines Landes einfügt und eine Vergleichbarkeit mit anderen Schulen nicht mehr gegeben ist.105 d) Zeitliche Grenze von Schulversuchen Wo die zwingende zeitliche Grenze eines Schulversuchs verläuft, ist, wie bereits ausgeführt, je nach Einzelfall anhand des spezifischen Erprobungs- und Auswertungsbedarfs zu bestimmen. Unzulässig ist auf der Basis einer Versuchsklausel ein zeitlich unbegrenzter oder ein aufgrund langer zeitlicher Fristen bzw. mehrfacher Versuchsverlängerungen faktischer Dauerversuch. In der historischen Rückschau wurde ein Schulversuch in Hamburg erwähnt, der 1950 begann und erst 1969 als Folge eines Monitums des Landesrechnungshofes wegen der langen Versuchsdauer sein Ende fand. Die damals in eine – als Regelschulform im hamburgischen Schulgesetz aufgenommene – „Gesamtschule besonderer pädagogischer Prägung“ umgewandelte Albert-SchweitzerSchule kehrte allerdings im Zuge der dortigen Schulreform 2009 wieder zu ihren Ursprüngen zurück, indem sie per schulgesetzlicher Einzelnormierung den Status einer staatlichen Versuchsschule erhielt.106 Auch die in der unmittelbaren Nachkriegszeit wiedergegründete Schulfarm Insel Scharfenberg sowie zwei weitere seinerzeit in Berlin errichtete Versuchsschulen behielten über Jahrzehnte diesen Status, bis sie beginnend in den 1970er Jahren in eine Gesamtschule bzw. „Schule mit besonderer pädagogischer Prägung“ umgewandelt wurden.107 Eine „enge zeitliche Begrenzung“, wie sie das Bundesverfassungsgericht für Schulversuche und Versuchsschulen fordert,108 ist derzeit auch nicht mehr bei den beiden bekanntesten Versuchsschulen in Nordrhein-Westfalen, der Laborschule und dem Oberstufen-Kolleg in Bielefeld, gegeben. Gegründet wurden beide 1974 zunächst noch auf der rudimentären Rechtsgrundlage des damaligen § 4 Abs. 7 SchVG NRW, wonach der Kultusminister Versuchsschulen auch 105 Eine engere Formulierung in der Schulversuchsermächtigung von SachsenAnhalt, in der nicht von der Weiterentwicklung des Schulwesens, sondern der „Schulformen“ die Rede ist (§ 11 Abs. 1 SchulG ST), wird in einer Kommentierung dahingehend ausgelegt, dass die dortigen bestehenden Schulformen zwar weiterentwickelt werden können, Schulversuche aber nicht auf die Aufhebung einzelner Schulformen hinauslaufen dürfen. So: Andreas Reich, Schulgesetz Sachsen-Anhalt. Kommentar, 2. Aufl., Bad Honnef 2006, § 11 Rn. 1. 106 Siehe oben Zweiter Teil Zweites Kapitel I. 4. 107 Siehe oben Zweiter Teil Zweites Kapitel I. 6. 108 Siehe oben Dritter Teil Erstes Kapitel III. 3.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
außerhalb des normalen Aufbaus des Schulwesens zulassen konnte.109 Später wurde bei einer Neuausrichtung der Laborschule im entsprechenden Kabinettbeschluss der Landesregierung ausdrücklich die Versuchsklausel des früheren § 4b SchVG NRW herangezogen.110 Da in der Folgezeit keine besondere schulgesetzliche Absicherung erfolgte, bildet heute die allgemeine Versuchsklausel des § 25 Abs. 1 und 2 SchulG NRW die Ermächtigungsgrundlage für beide Versuchsschulen in Trägerschaft des Landes.111 Zwar regelt § 78 Abs. 7 SchulG NRW, das Land kann „Versuchsschulen errichten und fortführen“, doch handelt es sich hierbei nur um eine Kompetenznorm, die abweichend vom Grundsatz der kommunalen Schulträgerschaft (geregelt in § 78 Abs. 1 SchulG NRW) insoweit das 109 Aktuell
geltende Errichtungserlasse: a) RdErl. des Kultusministeriums „Laborschule des Landes Nordrhein-Westfalen an der Universität Bielefeld“ v. 19.01.1990 (GABl. NRW S. 74), geändert durch RdErl. v. 25.01.1994 (GABl. NRW S. 38) und v. 05.05.1999 (ABl. NRW S. 74), hier § 1: „Die Laborschule an der Universität Bielefeld wird, soweit sie schulische Aufgaben erfüllt, als staatliche Versuchsschule (§ 14 Landesorganisationsgesetz – SGV. NRW. 2005) fortgeführt.“; b) RdErl. des Kultusministeriums „Oberstufen-Kolleg des Landes Nordrhein-Westfalen an der Universität Bielefeld; Errichtung“ v. 06.02.1974 (GABl. NRW S. 123), geändert mit RdErl. v. 19.08.2003 (ABl. NRW S. 298), hier insb. § 1: „Das Oberstufen-Kolleg ist staatliche Versuchsschule mit Forschungs- und Erprobungsaufgaben (§ 14 Landesorganisationsgesetz/LOG – SGV. NRW. 2005). Es hat den Auftrag, Wege zur allgemeinen Hochschulreife zu erproben.“ – Beide Errichtungserlasse zitieren nicht die schulrechtliche Grundlage, sondern mit § 14 LOG nur eine Zuständigkeitsnorm. Danach können Einrichtungen des Landes, genannt werden explizit auch Schulen, von den obersten Landesbehörden im Rahmen ihres Geschäftsbereichs errichtet werden, und zwar „vorbehaltlich der besonderen hierfür geltenden Vorschriften“. Zum Oberstufen-Kolleg als staatliche Versuchsschule: BAG, Urt. v. 14.10.2004 – 6 AZR 472/03, ZTR 2005, 330. 110 Beschluss der Landesregierung Nordrhein-Westfalen v. 24.10.1989: „Die Laborschule des Landes Nordrhein-Westfalen an der Universität Bielefeld umfaßt zwei selbständige Einrichtungen: die ‚Laborschule‘ als staatliche Versuchsschule gemäß § 14 Landesorganisationsgesetz und § 4b Schulverwaltungsgesetz … mit den Jahrgangsstufen 0–10 (Vorschuljahr, Primarstufe und Sekundarstufe I); die ‚Wissenschaftliche Einrichtung Laborschule‘ der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld gemäß § 29 des Gesetzes über die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen (HG – SGV. NRW 223)“. Abdruck im Vorspann: Gemäß RdErl. des Kultusministeriums u. des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung v. 13.07.1992 „Laborschule des Landes Nordrhein-Westfalen an der Universität Bielefeld; Grundlagenerlaß für die Aufgaben und die Zusammenarbeit von Versuchsschule, Wissenschaftlicher Einrichtung, Gemeinsamer Leitung und Wissenschaftlichem Beirat“ (GABl. NRW S. 182), geändert durch RdErl. v. 25.01.1994 (GABl. NRW S. 39). 111 Das Schulministerium hat in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage selbst § 25 Abs. 2 SchulG NRW als Rechtsgrundlage für die Laborschule angeführt. Siehe: Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage der Abg. Astrid Birkhahn (CDU), „Versuchsschule Bielefeld“, Landtag NRW, 15. WP, LT-Drs. 15/1854 v. 02.05.2011, S. 1 (Vorbemerkung).
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Land überhaupt zu einer Schulträgerschaft berechtigt. Die Verortung als Zuständigkeitsbestimmung und nicht als formelle Ermächtigungsgrundlage ist gesetzessystematisch eindeutig, weil sie im achten Teil des Gesetzes unter der Überschrift „Schulträger“ steht und nicht wie § 25 SchulG NRW im zweiten Teil unter der Überschrift „Aufbau und Gliederung des Schulwesens“. Im Zuge einer Novellierung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für das Oberstufen-Kolleg im Jahre 2011112 kritisierte der Philologenverband die zeitliche Länge dieses Schulversuchs. Die Versuchsdauer von zu diesem Zeitpunkt 37 Jahren widerspreche § 25 SchulG NRW, nach dem Schulversuche zeitlich begrenzt sein müssten. Die neugefasste Verordnung sehe in § 47 Abs. 3 sogar eine Berichterstattung über den weitergeführten Versuch in Fünf-Jahres-Schritten vor und dies bedeute, dass von einer gesetzlich vorgeschriebenen zeitlichen Begrenzung weiterhin nicht die Rede sein könne.113 Entsprechenden Bedenken der Opposition in den Beratungen des Ausschusses für Schule und Weiterbildung des nordrhein-westfälischen Landtages trat die zuständige Schulministerin mit einer kühnen Rechtsauffassung entgegen. Es gebe im geltenden Schulgesetz einen rechtlichen Unterschied zwischen Schulversuchen und Versuchsschulen. Versuchsschulen wie das Oberstufen-Kolleg und die Laborschule müssten genau definiert sein, seien aber nicht befristet angelegt. Somit stelle sich die Frage bei diesen völlig anders als bei Schulversuchen, die zeitlich befristet und in Ausmaß und Umfang begrenzt seien. Diese seien darauf auszuwerten, ob und in welcher
112 „Verordnung
über die Ausbildung und Prüfung am Oberstufen-Kolleg an der Universität Bielefeld (APO OS) v. 20.06.2002 (GV. NRW S. 268), zuletzt geändert durch Art. 7 der VO v. 10.07.2011 (GV. NRW S. 365). – Die APO OS hatte bis dahin in wesentlichen Bereichen von der Regelform der gymnasialen Oberstufe abgewichen. Beispielsweise waren „Geologie“, „Umweltwissenschaften“ und „Frauenkunde“ als Grund- oder Leistungskurse zugelassen gewesen (§ 9 APO OS a.F.), was nunmehr gestrichen wurde. Erforderlich waren die Anpassungen an das Regelsystem auch im Interesse einer bundesweiten Anerkennung des Abiturs am Oberstufen-Kolleg vor dem Hintergrund der neuen KMK-Vereinbarung zur gymnasialen Oberstufe mit Wirkung ab 2013. Laut ministerieller Begründung des Verordnungsentwurfs wurden die Änderungen der APO OS „so angelegt, dass sie dem Oberstufen-Kolleg auf der einen Seite seinen Status als eine Versuchsschule belassen, anderseits aber die neue Richtung der KMK-Vereinbarung umsetzen.“ Zitat: Entwurf des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen einer „Verordnung zur Änderung von Ausbildungs- und Prüfungsordnungen gemäß § 52 SchulG“ v. 24.05.2011, Landtag Nordrhein-Westfalen, 15. WP, Vorlage 15/635, S. 19. 113 Stellungnahme des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen v. 31.03.2011, abgedruckt in: Entwurf einer „Verordnung zur Änderung von Ausbildungs- und Prüfungsordnungen gemäß § 52 SchulG“, ebenda, Zusammenstellung der Verbändestellungnahmen (Anhang).
410
3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Weise und zu welchem Zeitpunkt ihre Ergebnisse in die Fläche getragen würden.114 Eine derartige ministerielle Unterscheidung steht im klaren Gegensatz zur einhelligen Kommentarliteratur sowohl zu § 25 SchulG NRW wie auch zu dessen Vorläufer § 4b SchVG. Danach ist die Versuchsschule – vergleichbar der Rechtslage in fast allen Ländern – kein Aliud zum Schulversuch, sondern eine besondere Art und damit ein Unterfall eines Schulversuchs.115 Damit aber ist schon einfachgesetzlich die zeitliche Befristung von Versuchsschulen vorgegeben und dies wird verstärkt durch § 25 Abs. 4 SchulG NRW, wonach selbst redend auch für Versuchsschulen im Genehmigungsbescheid des Ministeriums die Dauer in einem Versuchsprogramm festzulegen ist.116 Zudem ergibt sich, wie eingehend dargelegt wurde, die Befristung für Versuchsschulen aus dem Vorbehalt des Gesetzes in seiner demokratischen Dimension. Der Umstand, dass die besagte Rechtsverordnung zur Ausbildung und Prüfung am Oberstufen-Kolleg mit Zustimmung des Landtagsausschusses erging, ersetzt eine Entscheidung des Gesetzgebers nicht. Genauso wenig heilt daher nicht den Mangel eine Ende 2012 erfolgte Einfügung einer besonderen Bestimmung für die Laborschule Bielefeld in die Ausbildungs- und Prüfungsordnung der Sekundarstufe I, § 46 Abs. 1 APO S I, wonach das Ministerium für die Laborschule Abweichungen von den Regelungen dieser Verordnung erlassen kann.117 114 So:
Schulministerin Sylvia Löhrmann (Bündnis 90/Die Grünen), Landtag Nordrhein-Westfalen, 15. WP, 22. Sitzung des Ausschuss für Schule und Weiterbildung v. 06.07.2011, APr 15/247, S. 15. Replik auf die Bedenken der MdL Astrid Birkhahn (CDU) und Ingrid Pieper-von Heiden (FDP), ebenda, S. 12. 115 So: Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG Rn. 11; Daniel Weber, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 2; Margies/ Roeser, Schulverwaltungsgesetz, § 4b SchVG Rn. 4; Gampe/Knapp/Margies/Rieger, Schulmitwirkung und Schulorganisation NRW, S. 301. Siehe auch: Avenarius, in: Avenarius/Füssel, Schulrecht, S. 97 Fn. 32. – Zwar sah der DJT-Entwurf für ein Landesschulgesetz eine inhaltliche Unterscheidung zwischen Schulversuchen und Versuchsschulen vor, doch ist dem nur Hessen (§ 14 Abs. 1, 2 SchulG HE) gefolgt, und obendrein enthielt dieser DJT-Entwurf eine zeitliche Begrenzung für beide Versuchsformen (§ 34 Abs. 2, 3, 5). Siehe zu Letzterem auch die dortige Begründung: DJT, Schule im Rechtsstaat, S. 224. 116 Im Übrigen hatte dieselbe Ministerin erst ein halbes Jahr zuvor in dem Runderlass zur Einführung der „Gemeinschaftsschule“ als Versuchsschule ausdrücklich eine zeitliche Befristung vorgesehen (siehe oben Fn. 86) und dabei war stets sowohl in dem Erlass wie auch in sonstigen ministeriellen Äußerungen und Stellungnahmen von einem „Schulversuch“ die Rede. Die erteilten Genehmigungsbescheide waren allesamt auf § 25 Abs. 1 SchulG gestützt. 117 Neuregelung durch: „Verordnung zur Neufassung und Änderung von Ausbildungs- und Prüfungsordnungen gemäß § 52 Schulgesetz NRW“ v. 02.11.2012 (GV. NRW S. 488).
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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Nur der Gesetzgeber, und nicht das Ministerium als Verordnungsgeber hat nach dem nordrhein-westfälischen Schulgesetz die Kompetenz zur Festlegung der zulässigen Schulformen. Die im Gesetz enthaltene Verordnungsermächtigung des § 52 SchulG NRW bezieht sich nicht auf den Gesetzesabschnitt über die Schulstruktur (§§ 10–25 SchulG NRW). Es ist schließlich auch – trotz gewisser Modifikationen der Versuchsausrichtungen über die fast 40 Jahre ihres Bestehens – nicht feststellbar, dass beide Bielefelder Versuchsschulen mehrere zeitlich aufeinanderfolgende, in sich ab geschlossene Versuchsaufträge hatten. Selbst dann würde sich die Frage stellen, ob derlei Versuchsschulen als institutionelle „Kettenversuchs“-Einrichtungen aufgrund des Gesetzesvorbehalts einer Grundentscheidung des Gesetz gebers bedürften. Da auch hier einer Schule letztlich auf unbestimmte Zeit die Fähigkeit zugesprochen würde, geltendes Schulrecht und damit den Vorrang des Gesetzes zu durchbrechen, wäre dies zu bejahen. Festzuhalten bleibt, dass die beiden Versuchsschulen des Landes Nordrhein-Westfalen, die Laborschule und das Oberstufen-Kolleg, zwischenzeitlich wegen ihrer überlangen Versuchsdauer ohne hinreichende schulgesetzliche Rechtsgrundlage arbeiten und beide Dauerversuche auch verfassungsrechtlich nicht mehr mit dem Vorbehalt des Gesetzes vereinbar sind.118 Über den sachlich notwendigen Erprobungszeitraum eines Schulversuchs hinausgehende Abweichungen kann nur der Gesetz- oder ggfls. Verordnungsgeber durch eine spezielle Ermächtigung legitimieren. Doch handelt es sich dann in Wirklichkeit nicht mehr um einen Schulversuch oder eine Versuchsschule, sondern der Gesetz- oder Verordnungsgeber normiert in diesem Fall eine gleichgestellte Alternative zur Regeleinrichtung. 5. Inkurs: Dauerhafte Umwandlung von Versuchsschulen in (Reform-)Schulen besonderer Art Die Länder Berlin, Brandenburg und Bremen haben schulgesetzlich eine solche Möglichkeit eröffnet, dass mit Entscheidung der obersten Schulbehörde einzelne experimentierfreudige Schulen dauerhaft – wie auch jetzt in der 2012 neu gefassten KMK-Vereinbarung für Schulversuche (Ziff. 1) vorgesehen – von 118 Kritisch ebenso: Weber, in: Jehkul u.a, Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 2. Laborschule und Oberstufenkolleg seien seit 38 Jahren (!) im Versuchsstadium. Wenn die Errichtung einer Versuchsschule als besonderer Fall des Schulversuchs angesehen werde und letzterer sich vor allem durch zeitliche Begrenzung auszeichne, dürfe die Frage gestellt werden, weshalb beide Einrichtungen nach so langer Zeit das Etikett eines „Versuchs“ trügen. Ein „Dauerversuch“ widerspreche den zeitlichen Begrenzungsvorhaben in § 25 Abs. 1 und 4 SchulG NRW.
412
3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
schulgesetzlichen Regelvorgaben abweichen können. Alle drei Länder kennen in ihren Schulgesetzen begrifflich nicht die Einrichtung einer „Versuchsschule“, sondern einzig den Schulversuch. So können in Berlin und Brandenburg „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“ bzw. „Schulen mit besonderer Prägung (Spezialschulen)“ eingerichtet werden. In Berlin erfolgt dies im Wege einer Rechtsverordnung, in Brandenburg durch Genehmigung des Schulministeriums.119 Voraussetzung ist in Brandenburg, dass die betreffende Schule einen Schulversuch erfolgreich abgeschlossen hat, während dies in Berlin nach § 18 Abs. 3 SchulG BE nicht zwingend ist. Der Schulsenator hat aber im Jahre 2006 gegenüber dem Abgeordnetenhaus klargestellt, dass eine Schule erst dann per Rechtsverordnung Schule besonderer pädagogischer Prägung werden soll, wenn ihr besonderes Konzept bereits längerfristig – vor allem im Rahmen eines Schulversuchs – erfolgreich erprobt worden ist.120 Auch das Schulgesetz sieht einen vorangegangenen Schulversuch offensichtlich in § 18 Abs. 2 Satz 3 SchulG BE als Hauptanwendungsfall an. Wenn ein Schulversuch erfolgreich abgeschlossen wurde und eine flächendeckende Einführung des pädagogischen oder organisatorischen Konzepts nicht in Betracht kommt, kann, so ist dort geregelt, dieser Schulversuch Grundlage für die Einrichtung einer Schule besonderer Prägung sein. Insgesamt gibt es in Berlin 46 und in Brandenburg acht solcher Schulen.121
119 Siehe:
§ 18 Abs. 3 SchulG BE und die „Verordnung über die Aufnahme in Schulen besonderer pädagogischer Prägung (AufnahmeVO-SbP)“ v. 23.03.2006 (GVBl. S. 306) i.d.F. v. 14.02.2012 (GVBl. S. 50) bzw. § 8a SchulG BB. 120 Siehe: Antwort des Berliner Senats v. 07.11.2011 auf die Kleine Anfrage der Abg. Senftleben „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“, Abgeordnetenhaus Berlin, 16. WP, Drs. 16/10023, S. 2. – Weiterhin ist dort zum Charakter dieser Schulen ausgeführt: „Schulen besonderer pädagogischer Prägung sind in der Regel aus erfolgreich verlaufenen Schulversuchen oder abweichenden Organisationsformen hervorgegangen, die sich aufgrund ihres speziellen Profils nicht für eine flächendeckende Einführung eigneten. Die Statusbeschreibung dieser Schulen weicht entweder im Profil, mindestens aber von der Intensität, in der dieses Profil die schulische Ausrichtung prägt, von Schulen gleicher Schulart und ähnlichen Schwerpunkts ab. Beispielsweise ist an Musikgymnasien der Musikunterricht von zentraler Bedeutung, an Sportschulen der Sportunterricht, an den Staatlichen Europa-Schulen wird konsequent zweisprachig unterrichtet. Die besondere pädagogische Prägung führt daher u.a. meist zu Besonderheiten im Aufnahmeverfahren, in der die spezifische Eignung einer Schülerin oder eines Schülers berücksichtigt wird, als auch bei der Bildung von Klassen und der Gestaltung der Stundentafel.“ 121 In der Berliner Aufnahmeverordnung für Schulen besonderer pädagogischer Prägung (oben Fn. 119) werden aktuell 46 Schulen aufgeführt: 35 Schulen mit fremdsprachlicher Prägung (davon 30 als „Staatliche Europa-Schulen Berlin“ firmierende Primar- und weiterführende Schulen, an denen jeweils eine Fremdsprache als sogenannte Partnersprache angeboten wird und die zur Hälfte Kinder aufnehmen, deren Muttersprache die jeweilige nichtdeutsche Sprache ist), drei Schulen mit mathematisch-
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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In Bremen können nach § 13 Abs. 2 SchulG HB seit einer Schulgesetz änderung im Jahre 2009 dauerhaft „Reformschulen“ eingerichtet werden. Dies „sind Schulen, die einem geschlossenen reformpädagogischen Gesamtkonzept folgen.“ Sie werden von der Bildungsbehörde eingerichtet und die jeweiligen Abweichungen vom Regelsystem durch Ziel- und Leistungsvereinbarungen zwischen der Fachaufsicht und der Schule konkretisiert. Der Besuch solcher Schulen ist – wie in den beiden anderen Ländern ebenfalls schulgesetzlich geregelt – freiwillig. Das Nähere über Inhalt und Form der Ziel- und Leistungsvereinbarungen, die Mindestanforderungen an Reformschulen sowie die Veröffentlichung der eingerichteten oder genehmigten Reformschulen soll nach § 13 Abs. 4 SchulG HB eine Rechtsverordnung regeln. Diese steht aktuell noch aus und so verlieh die Schulverwaltung bislang auch noch keiner Schule den neuen Status einer Reformschule. Die bremische Variante knüpft bei der gesetzlichen Definition der Reformschulen in offenkundiger historischer Reminiszenz an die Reformpädagogik an. Diese Legaldefinition führt indes zu beträchtlichen Schwierigkeiten bei der juristischen Subsumtion. Kann schon, wie im historischen Teil dargelegt, die Erziehungswissenschaft kaum eine Begriffsbestimmung der Reformpädagogik leisten und streiten dort gewichtige wissenschaftliche Stimmen diesem Begriff sogar einen fassbaren Inhalt ab,122 so ist die hinreichende Bestimmtheit der Norm in Frage gestellt. Schon die erste Nachkriegsfassung im bremischen Schulgesetz,
naturwissenschaftlicher, eine mit sportlicher und zwei mit musikalischer Prägung sowie fünf weitere Schulen mit besonderer Prägung, u.a. die Schulfarm Insel Scharfenberg. In Brandenburg sind die vorhandenen acht Spezialschulen ausschließlich Angebote für Schüler, die über besondere Begabungen oder Talente verfügen. Es handelt sich um fünf, als Ganztags-Gesamtschulen mit gymnasialer Oberschule organisierte Sportschulen, die Bestandteil eines Schule-Leistungssport-Verbundsystems sind, sowie zwei mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichtete Gymnasien und eine sorbische Schule (Niedersorbisches Gymnasium Cottbus). Siehe: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (Hrsg.), Allgemeinbildende Schulen des Landes Brandenburg. Verzeichnis Schuljahr 2010/11, Potsdam 2011. 122 Insbesondere der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers hat, wie schon im Ersten Teil Zweites Kapitel I. 1. wiedergegeben, in seiner einschlägigen Monographie dargestellt, dass es keine fest umrissene Größe „Reformpädagogik“ gibt. Seiner Ansicht nach ist unklar, auf was sich der Ausdruck „Reformpädagogik“ genau beziehen soll. Oelkers spricht in einer neueren Veröffentlichung (2010) von einem „diffusen Gegenstand“ und rät dazu, bei der heutigen Reflexion über Erziehungsformen nicht ständig auf „die“ Reformpädagogik zurückzugreifen. Dadurch könne vermieden werden, in der Reflexion zwei Welten anzunehmen, die sich mit Dualismen wie „fortschrittlich“ und „reaktionär“ oder „modern“ und „unmodern“ beschreiben ließen. Siehe: Oelkers, Geschichtsschreibung der deutschen Reformpädagogik, S. 1 f.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
die für die Zulassung von Schulversuchen die „Erprobung wertvoller pädagogischer Gedanken“ forderte, begegnete ähnlichen Bedenken.123 Ob der Landesgesetzgeber vor dem Hintergrund der Wesentlichkeitstheorie die Exekutive ermächtigen kann, Schulen besonderer pädagogischer Prägung bzw. Reformschulen dauerhaft Abweichungen vom Regelsystem zu ermöglichen, ist fraglich. Jedenfalls dann, wenn unbeschadet der freiwilligen Teilnahme der Schüler grundlegende Abweichungen über den schulorganisatorischen Bereich hinaus ermöglicht werden, bestehen hier erhebliche Bedenken. Zumindest muss die Errichtung solcher Schulen, wie in Berlin vorgeschrieben, jeweils im Wege der Rechtsverordnung erfolgen,124 ein rein administrativer Akt reicht nicht aus. Auch muss der Ausnahmecharakter deutlich im Gesetz festgeschrieben werden, woran es derzeit in allen drei Ländern mangelt, ergänzt zudem durch zeitlich vorgeschriebene Überprüfungsklauseln sowie Berichtspflichten der Schul ministerien gegenüber den Landesparlamenten. Ansonsten manifestieren sich am Gesetzgeber vorbei dauerhafte Durchbrechungen des allgemeinen Gesetzes, die keine demokratische Legitimation haben. Im Extremfall könnten bei einer extensiven Inanspruchnahme die Schulgesetze in weiten Teilen nur noch als leere Hülsen dastehen. Eine derartige Selbstausschaltung des Parlaments wäre rechtsstaatlich inakzeptabel.125 Eine einzelfallbezogene gesetzgeberische Entscheidung zur unbefristeten Zulassung einer Versuchsschule gibt es allerdings, wie bereits erwähnt,126 seit 2009 in Hamburg. Um der dortigen Albert-Schweitzer-Schule weiterhin die seit 1949 eingeräumte Möglichkeit einer Beschulung vom ersten bis zum zehnten Schuljahr zu belassen, was nach der heutigen schulgesetzlichen Beschreibung der in Hamburg bestehenden Regelschulformen ausschiede, deklariert § 117
123 Siehe
oben Dritter Teil Erstes Kapitel, Fn. 54. Berliner Schulsenator vertritt dezidiert die Auffassung, dass eine solche Errichtung durch Rechtsverordnung „angemessen und ausreichend“ ist. Einer Regelung durch formelles Gesetz bedürfe es mangels Eingriffs in Rechte von Schülern (aufgrund der Freiwilligkeit des Schulbesuchs) nicht. Siehe: Mitteilung der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung „Staatliche Europa-Schule Berlin – bewährten Schulversuch abschließen und Europaschulzentren schaffen!“, Abgeordnetenhaus Berlin, 16. WP, Drs. 16/3575 v. 22.10.2010, S. 1. 125 Prägnant bezüglich der insoweit vergleichbaren Konstellation beim Dispens: Isensee, Billigkeitskorrektiv des Steuergesetzes, FS Flume, S. 133. Danach besitzt der Gesetzgeber „keinen rechtsstaatlichen Freibrief dazu, eine zwingende Norm mit einem unbegrenzten Dispensvorbehalt zu versehen. … Denn wenn der Gesetzgeber ius cogens schafft, ist es Gebot rechtsstaatlicher Systemkonsequenz und Normklarheit, daß die Rigidität der Regelung nicht nach Belieben der Exekutive aufgeweicht wird.“ 126 Siehe oben Zweiter Teil Zweites Kapitel I. 4. und Dritter Teil Erstes Kapitel III. 4. d). 124 Der
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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Abs. 2 SchulG HH diese zu einer staatlichen Versuchsschule.127 Diese hamburgische Kuriosität achtet damit zwar in der Frage des „ob“ den Primat des Parlaments, allerdings fehlen jedwede inhaltliche Festlegungen zum Umfang der Versuchsbefugnis. Angesichts der Entstehungsgeschichte liegt es nahe, die zugelassene Abweichung auf die organisatorische Zusammenfassung von Primar- und Sekundarstufe I zu beschränken. Dafür hätte es allerdings nicht der Bezeichnung „Versuchsschule“ bedurft, zumal nach fast 60 Jahren ein Erprobungsbedarf insoweit nicht mehr begründbar ist. Ob die allgemeine Vorschrift über Schulversuche in § 10 SchulG HH zur näheren Bestimmung des Versuchsausmaßes herangezogen werden kann, ist fraglich. Denn damit hätte auch hier das Parlament – vergleichbar der Situation in Berlin, Brandenburg und Bremen – der Exekutive dauerhaft eine Befugnis verschafft, dieser Versuchsschule über die bisherigen Abweichungen hinaus Durchbrechungen des Schulgesetzes zuzugestehen. Allerdings dürften die Bestimmungen über die Freiwilligkeit des Schulbesuchs und die notwendige Gleichwertigkeit von Abschlüssen und Berechtigungen analog anwendbar sein. Auch in Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern gibt es vormalige Reformschulen, für die der Gesetzgeber nach Auslaufen der Versuchsphase besondere schulgesetzliche Grundlagen geschaffen hat. In den Schluss- bzw. Übergangsbestimmungen der Schulgesetze in Baden-Württemberg (§ 107 SchulG BW) und Bayern (Art 126 BayEUG) finden sich die drei bzw. fünf Gesamtschulen, die dort bei Beendigung des jeweiligen Schulversuchs „Gesamtschule“ bestanden, unter derselben Bezeichnung „Schulen besonderer Art“ wieder.128 Diesen namentlich genannten Schulen werden darin Abweichungen von den jeweils schulgesetzlich festgelegten Regelschulformen ermöglicht. Die früheren integrierten Gesamtschulen können danach weiterhin ohne jede Gliederung nach Schulformen und drei ehemals kooperative Gesamtschulen in Bayern als Zusammenschluss einer Hauptschule, einer Realschule und eines Gymnasiums unter einer Leitung geführt werden. Die Kultusminister sind in beiden Ländern ermächtigt, die weiteren organisatorischen Einzelheiten durch eine Rechtsverordnung zu regeln.
127 Zu
dieser Intention: Antwort des Hamburger Senats auf die Kleine Anfrage der Abg. Gunnar Eisold u. Ties Rabe (SPD) „Bleibt die besondere pädagogische Prägung der Albert-Schweitzer-Schule nach dem Volksentscheid erhalten?“, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, 19. WP, Drs. 19/7087 v. 03.09.2010; Presseerklärung der Abg. Michael Gwosdz (GAL) und Marino Freistedt (CDU) v. 01.09.2010, beide Mitglieder der damaligen Regierungsfraktionen, zur „Zukunft der Albert-SchweitzerSchule“, online verfügbar unter: http://www.albert-schweitzer-schule.hamburg.de/ index.php/article/detail/1704. 128 Siehe auch oben Zweiter Teil Sechstes Kapitel II. 3.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Eine 1993 in das niedersächsische Schulgesetz aufgenommene Bestands regelung, § 182 SchulG NI, verzichtet auf die ausdrückliche Nennung einzelner früherer Versuchsschulen. Nach der Übergangsvorschrift können (seinerzeit) „bestehende öffentliche Schulen mit besonderem pädagogischen Auftrag“, auch abweichend von der im Schulgesetz geregelten Gliederung des Schulwesens, „in ihrer bisherigen pädagogischen und organisatorischen Form weitergeführt und entsprechend ihrem Auftrag fortentwickelt werden.“ Hierdurch schuf der Landtag eine Rechtsgrundlage für den Fortbestand der vormaligen alternativen Versuchsschule Glockseeschule in Hannover, einer nunmehr einzügigen Schule mit besonderer pädagogischer Konzeption der Schuljahrgänge 1–10, der Integrierten Gesamtschule Hannover-Roderbruch, die auch einen Primarbereich umfasst, und des aus einem „Modellversuch Sekundarstufe II mit beruflichem Schwerpunkt“ hervorgegangenen besonderen Gymnasialzweigs der Michelsenschule Hildesheim (Berufliches Gymnasium Gesundheit und Soziales mit Schwerpunkt Agrarwirtschaft).129
IV. Entbehrlichkeit eines Versuchsschulstatus für Schulmodelle der reformpädagogischen Bewegungen der 1920er Jahre In der Regel nicht mehr auf den Status einer Versuchsschule angewiesen und in das deutsche Schulwesen durchgehend integriert sind die in der Nachkriegszeit wieder oder neu gegründeten Schulen, die in der Tradition der reformpädagogischen Bewegungen der 1920er Jahre stehen, also die Waldorfschulen, Landerziehungsheime, Jena-Plan- und Montessori-Schulen.
129 Vgl.: Woltering/Bräth, Niedersächsisches Schulgesetz, § 182 SchulG Anm.; Bräth/
Eickmann/Galas, Niedersächsisches Schulgesetz, § 182 SchulG Anm. – Eine zunächst ebenfalls erfasste Förderschule des Landes Niedersachsen für spätausgesiedelte Kinder und Jugendliche in Celle ist zwischenzeitlich seit 2003 aufgelöst. Zur Glockseeschule: Köhler/Krammling-Jöhrens, Die Glocksee-Schule, S. 20. Zum früheren Modellversuch an der Michelsenschule: Karlheinz Fingerle/Erhard Wicke, Die neugestaltete gymnasiale Oberstufe ohne bildungstheoretische Legitimation, in: Zeitschrift für Pädagogik 28 (1982), S. 94 f., 108. In einer weiteren Übergangsvorschrift, § 181 SchulG NI, ist seit einer Schulgesetznovelle vom Juli 1980 und einer Neufassung der Vorschrift 1993 geregelt, dass Schulverfassungsversuche (d.h. Versuche zur Erprobung neuer Mitwirkungs- und Mitbestimmungsformen), die vor dem 01.08.1980 unbefristet genehmigt worden sind (aufgrund der vormaligen §§ 32–34 SchulG NI), bis auf Widerruf fortgeführt werden können.
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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1. Waldorfschulen und Landerziehungsheime als genehmigte Ersatzschulen Waldorfschulen und Landerziehungsheime sind, wie in der Weimarer Zeit, ausschließlich Privatschulen. Alle Länder haben – gemäß den grundgesetzlichen Vorgaben in Art. 7 GG zur Errichtung und Zulassung privater Schulen – schulrechtlich vorgesehen, private Schulen unter dem Vorbehalt staatlicher Genehmigung als Ersatz für öffentliche Schulen gründen zu können. Auf die Genehmigung besteht unter den in Art. 7 Abs. 4 und Abs. 5 GG aufgeführten Voraussetzungen ein verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsanspruch,130 wenn also Ersatzschulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen, eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird und die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte genügend gesichert ist. Im Falle einer privaten Volksschule und damit vor allem für eine private Grundschule bedarf es zusätzlich der Anerkennung eines besonderen pädagogischen Interesses. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner grundlegenden Entscheidung zum Privatschulwesen zudem hervorgehoben, dass sich das Grundgesetz gegenüber der Weimarer Reichsverfassung mit verstärkten Garantien zu einem „System der begrenzten Unterrichtsfreiheit“ der Privatschulen bekennt. Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG verbinde mit der Gründungsfreiheit zugleich eine Garantie der Privatschule als Institution, die der Privatschule verfassungskräftig eine ihrer Eigenart entsprechende Verwirklichung sichere.131 „Der dem staatlichen Einfluß damit entzogene Bereich ist dadurch gekennzeichnet, daß in der Privatschule ein eigenverantwortlich geprägter und gestalteter Unterricht erteilt wird, insbesondere soweit er die Erziehungsziele, die weltanschauliche Basis, die Lehrmethode und Lehrinhalte betrifft. Diese Gewährleistung bedeutet die Absage an ein staatliches Schulmonopol und ist zugleich eine Wertentscheidung, die eine Benachteiligung gleichwertiger Ersatzschulen gegenüber den entsprechenden staatlichen Schulen allein wegen ihrer andersartigen Erziehungsformen und -inhalte verbietet. Dieses Offensein des Staates für die Vielfalt der Formen und Inhalte, in denen Schule sich darstellen kann, entspricht den Wertvorstellungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die sich zur Würde des Menschen und zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität bekennt.“132
130 Vgl.:
BVerfGE 27, 195 (200). BVerfGE 27, 195 (200 f.). 132 Zitat: ebenda. Vgl. auch: BVerfGE 88, 40 (46); 90, 107 (114); BVerfG, Beschl. v. 08.06.2011 – 1 BvR 759/08, juris Rn. 15. 131 Vgl.:
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Die so ausgelegte institutionelle Verfassungsgarantie des Privatschulwesens hat in ihrer schulgesetzlichen und schuladministrativen Umsetzung den Ersatzschulen einen solchen Freiraum für einen Unterricht eigener Prägung sowie für organisatorische Vielfalt verschafft, dass auch die Waldorfschulen und Landerziehungsheime damit grundsätzlich ihre spezifischen pädagogischen Konzep tionen verfolgen können. Sie bedürfen, anders als noch zur Weimarer Zeit, im Regelfall nicht des zusätzlichen Status einer Versuchsschule bzw. sind nicht auf die Genehmigung von Schulversuchen angewiesen. Die Schulgesetze verlangen meist, wie etwa das nordrhein-westfälische Schulgesetz (§ 100 Abs. 2), dass die Ersatzschulen in ihren Bildungs- und Erziehungszielen „im Wesentlichen“ Bildungsgängen und Abschlüssen des öffent lichen Regelsystems entsprechen müssen. In einigen Ländern findet sich zudem die ausdrückliche Ergänzung, dass „Abweichungen in der Lehr- und Erziehungsmethode, den Lehrstoffen und der schulischen Organisation“ möglich sind (so etwa § 3 Satz 2 Sächsisches Gesetz über Schulen in freier Trägerschaft). Sind darüber hinausgehende gravierende Abweichungen vom öffentlichen Regelschulwesen beabsichtigt, durch die eine „Gleichwertigkeit“ in Frage gestellt ist, kann auch einer Ersatzschule eine befristete Erprobung in einem Schulversuch genehmigt werden. Festzuhalten ist aber, dass diese aufgrund ihrer Privatschulfreiheit im weitaus stärkeren Maße in der Lage sind, pädagogische und organisatorische Konzepte zu erproben als öffentliche Schulen.133 Die Geltung der Versuchsschulklausel für Ersatzschulen ist ausdrücklich normiert z.B. in § 25 Abs. 5 SchulG NRW. Nordrhein-Westfalen ermöglicht bestimmten Ersatzschulen allerdings sogar Freiräume, durch die eine „Gleichwertigkeit“ mit dem öffentlichen Regelschulwesen nicht mehr gegeben ist. Gemäß § 100 Abs. 6 Satz 1 SchulG NRW können „Schulen in freier Trägerschaft, die besondere pädagogische Reformgedanken verwirklichen“, als „Ersatzschulen eigener Art“ genehmigt werden. Darunter werden hauptsächlich die Waldorfschulen subsumiert, wobei hier vergleichbare Bedenken hinsichtlich der hinreichenden Bestimmtheit dieser Vorschrift bestehen wie bei der Definition der „Reformschulen“ im bremischen Schulgesetz. Die weitreichende Freistellung dieser Schulen hat allerdings eine, bereits im historischen Teil zu den Anfängen der Waldorfbewegung thematisierte einschneidende Konsequenz. Nach Satz 2 des § 106 Abs. 6 SchulG NRW findet dessen Absatz 4 keine Anwendung, wonach Ersatzschulen das Recht haben, mit gleicher Wirkung wie öffentliche Schulen Zeugnisse zu erteilen, Abschlüsse zu vergeben und unter Vorsitz einer staatlichen Prüfungsleitung Prüfungen abzuhalten. Wegen 133 Dazu: BVerfGE 90, 128 (140); BVerwGE 112, 263 (268 f.). – Siehe zu einem Schulversuch an einer baden-württembergischen Waldorfschule (Schulversuch zur integrativen Beschulung von geistig behinderten Kindern und Jugendlichen): VG Freiburg, Urt. v. 25.03.2009 – 2 K 1638/08, juris, insb. Rn. 24 ff.
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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der grundlegenden Abweichungen des Waldorf-Bildungsgangs von denjenigen der öffentlichen Schulen ist es also in Nordrhein-Westfalen, wie auch in fast allen Bundesländern, bei der schulrechtlichen Einschränkung der Weimarer Zeit geblieben, das Abitur an den Waldorfschulen als externe Prüfung abzunehmen. Dies gilt in Nordrhein-Westfalen und einigen Bundesländern auch für den mittleren Bildungsabschluss. Die Prüfungsordnungen orientieren sich dabei an denjenigen der sogenannten „Nicht-Schüler-Prüfungen“,134 stellen damit Waldorfschüler insoweit solchen Prüflingen gleich, die aus unterschiedlichen Gründen ohne vorangegangenen entsprechenden Schulbesuch das Abitur oder die mittlere Reife anstreben. Letzteres kritisiert die Waldorfbewegung seit ihren Anfängen immer wieder als Diskriminierung ihrer Schulen und Schüler.135 Diese Kritik und die Forderung nach einer eigenen Prüfungsberechtigung verkennt indes noch eine besondere Problematik der Waldorfschulen. Basierend auf einem jeweiligen Trägerverein, in dem die Eltern für die Dauer des Schulbesuchs ihres Kindes und die Lehrer für die Dauer ihres Dienstverhältnisses an der betreffenden Schule Mitglied (und damit Finanzier136) sind, werden die Waldorfschulen von der Eltern134 „Verordnung
über den Erwerb von Abschlüssen der Sekundarstufe I an Waldorfschulen“ v. 21.06.2008 (GV. NRW S. 533) i.d.F. v. 02.11.2012 (GV. NRW S. 488); „Verordnung über die Abiturprüfung für Schülerinnen und Schüler an Waldorfschulen“ v. 31.01.2000 i.d.F. v. 14.06.2007 (SGV. NRW 223). 135 So gab es in Nordrhein-Westfalen 2008 im Zuge der Novelle der Waldorf-Prüfungsordnung für die Sekundarstufe I eine heftige öffentliche Kontroverse zur Nichtberücksichtigung der von den Waldorfschulen vergebenen Vornoten. Der Konflikt wurde schließlich durch einen Kompromiss zwischen Waldorfverband und Schulministerium beigelegt. Siehe dazu die Ausschussberatungen: Landtag Nordrhein-Westfalen, 14. WP, 60. Sitzung des Ausschusses für Schule und Weiterbildung v. 11.06.2008, APr 14/678, S. 21 ff. Siehe auch die kritische Anmerkung, es gebe dauernde Schwierigkeiten mit den Schulverwaltungen hinsichtlich des Prüfungsrechts (sowie des Status der Schulen und der Lehrergenehmigungen), weil die Walddorfschulform nach wie vor „querständig“ im Schulwesen sei, bei: Johann Peter Vogel, Die Schulen in freier Trägerschaft, in: Christoph Führ/Carl Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart, Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 393 f. 136 Der Umstand, dass die Waldorfschulen neben den staatlichen Zuschüssen auf Elternbeiträge zum jeweiligen Trägerverein in nicht unbeträchtlicher Höhe angewiesen sind, hat das Profil der deutschen Waldorfschulen in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Der Bildungswissenschaftler Peter Schneider, selbst der Waldorfpädagogik verbunden, sieht „schwerwiegende Fehlentwicklungen der Waldorfschulbewegung“, die nicht verschwiegen werden dürften: „Im Laufe der Jahre hat sich die Mehrzahl der deutschen Waldorfschulen auf den einseitigen Bildungsweg theoretisch-künstlerischer Schulung verlegt, der schließlich zur allgemeinen Hochschulreife führt, ohne dieser eine gleichwertige praktisch-technische Bildung zur Seite zu stellen. Damit hat sich die
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
schaft und dem Lehrerkollegium in Selbstverwaltung geführt. Da alle fast 200 Waldorfschulen in Deutschland rechtlich eigenständige Einrichtungen sind, kann somit jede einzelne Schule eigene pädagogische Ansätze bis hin zu den Lehrplänen verwirklichen. Die Waldorfverbände als verbandliche Zusammenschlüsse besitzen keinerlei Eingriffsrechte, auch nicht in die pädagogische Arbeit.137 Es ist erst ein kleiner Fortschritt, dass sich der Unterricht nach einem 2009 beschlossenen „Gemeinsamen Leitbild der deutschen Waldorfschulen“ heutzutage an vom Bund der Freien Waldorfschulen veröffentlichten Rahmenlehrplänen und Kompetenzbeschreibungen orientieren soll.138 Für die staatliche Schulaufsicht besteht aber weiterhin keine Möglichkeit, die Einhaltung solcher pädagogischen Standards, die eine Gleichstellung im Berechtigungswesen mit den öffentlichen Schulen oder anderen Ersatzschulen rechtfertigen könnte, mit dem Bund der Freien Waldorfschulen verbindlich für alle Waldorfschulen abzustimmen. Eine Abstimmung mit jeder einzelnen Waldorfschule wäre eine Überforderung der Schulverwaltung.139 Die Landerziehungsheime, von denen keines in Nordrhein-Westfalen ansässig ist, sind durchgängig als Ersatzschulen anerkannt. Sie sind fast alle Gym nasien mit Internat und Tagesheimen, nur vereinzelt mit weiteren Bildungs gängen der Sekundarstufe I angegliedert. Im Gegensatz zu den reformpädagogischen Anfängen der Landerziehungsheimbewegung wenden sie in aller Regel die amtlichen Lehrpläne an. Bereits seit den 1960er Jahren hatten sie – bis auf die Odenwaldschule – ihre besonderen Unterrichtsformen aufgegeben, um als anerkannte Ersatzschulen die Zeugnis- und Prüfungsberechtigung zu erhalten.140 Für die Landerziehungsheime gilt wohl noch stärker als für die anderen reformpädagogischen Richtungen, dass keine der Einrichtungen noch eins zu
Waldorfschule als ‚patentgeschütztes‘ Alternativgymnasium behauptet, mit einer entsprechend bildungsprivilegierten Elternschaft. Dabei ist sowohl der soziale Auftrag der Waldorfschulen verloren gegangen als auch eins der pädagogischen Grundprinzipien …, nämlich das Gleichgewicht zwischen praktischem und theoretischem Bildungsgang zu vermitteln.“ Zitat: Peter Schneider, Ursprung und Ziel der Waldorfschule. Eine notwendige Besinnung, in: Bauer/Schneider, Waldorfpädagogik, S. 114. 137 Siehe etwa zu den Aufgaben und der Interessenwahrnehmung des deutschen Dachverbandes, dem Bund der Freien Waldorfschulen, deren Darstellung auf der Homepage: www.waldorfschule.info. 138 Gemeinsames Leitbild der deutschen Waldorfschulen, verabschiedet auf der Mitgliederversammlung des Bundes der Freien Waldorfschulen am 25.10.2009 in Stuttgart, Fundstelle: www.waldorfschule.info/upload/bund/leitbild.pdf. 139 Siehe dazu auch: Staatssekretär Günter Winands (Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW), Redebeitrag, Landtag Nordrhein-Westfalen, 14. WP, 69. Sitzung des Ausschusses für Schule und Weiterbildung v. 10.12.2008, APr 14/787, S. 18 f. 140 Vgl.: Vogel, Schulen in freier Trägerschaft (Fn. 135), S. 394.
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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eins so arbeitet, wie deren Begründer ihre Schulen geplant hatten.141 Die Land erziehungsheime profilieren sich heute in erster Linie durch die Internatsbetreuung und einen damit verbundenen Anspruch auf ganzheitliche Bildung und Erziehung, durch inhaltliche Schwerpunktsetzungen vor allem im künstlerischmusischen Bereich und zum Teil auch unausgesprochen als Bildungsanstalt gesellschaftlicher Eliten.142 Sie waren 65 Jahre lang in der „Vereinigung deutscher Landerziehungsheime e.V.“ als Dachverband organisiert. Aufgrund einer, nicht zuletzt nach den bereits erwähnten Missbrauchsskandalen ins Rollen gekommenen selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte der Landerziehungsheime haben sich 14 von 21 ehemaligen Mitgliedsschulen in einer neuen „Internate Vereinigung e.V.“ als Nachfolgeorganisation zusammengefunden.143 2. Umsetzung von Jena-Plan und Montessori-Pädagogik vorwiegend im öffentlichen Schulwesen Der Jena-Plan und die Montessori-Pädagogik benötigen heute ebenfalls zu ihrer Verbreitung nicht mehr das Instrument des Schulversuchs. Im Gegensatz zu den beiden vorherigen reformpädagogischen Richtungen wird deren Konzeption sogar nunmehr weit überwiegend im öffentlichen Schulwesen umgesetzt. So handelt es sich bei den knapp 50 Schulen in Deutschland, die sich eng am Jena-Plan orientieren, meistenteils um staatliche Schulen.144 Das pädagogische Konzept richtet sich mittlerweile auch an zeitgemäßen „20 Basisprinzipien“ der Jena-Plan-Pädagogik aus, die vor etwa zwanzig Jahren für die niederländischen Jena-Plan-Schulen fortentwickelt wurden.145 Eine Reihe von Jena-Plan-Schulen 141 So
allgemein: Otto Seydel, Reformpädagogik – Acht Fragen, in: Informationsschrift „Recht und Bildung“ des „Instituts für Bildungsforschung und Bildungsrecht e.V.“ 8 (2011), S. 5. 142 Siehe das 2010 beschlossene „Leitbild 2020. Die reformpädagogischen LEHInternate am Anfang ihres zweiten Jahrhunderts. Lernen als Lebensform: Traditionen pflegen – Neues gestalten“, online verfügbar unter: http://www.leh-internate.de/index. php?/LEH/leitbild.html. 143 Siehe: Pressemeldung der „Internate Vereinigung e.V“ v. 28.04.2012, online ver fügbar: http://www.internate.de/index.php/internate/pressespiegel/die-internate-vereinigung. html. 144 Zahlangabe nach: Seydel, Reformpädagogik, S. 6. Die „Gesellschaft für Jena plan-Pädagogik in Deutschland e.V.“ listet Ende 2012 im Internet die Websites von 41 Jena-Plan-Schulen (nicht abschließend) auf: http://www.jenaplan.eu/html/schulen.htm. 145 Dazu: Kees Both, Die Basisprinzipien – Beobachtungskriterien für die Praxis, in: Kinderleben. Zeitschrift für Jenaplan-Pädagogik, Heft 17/18 (2003), S. 35-40. Außerdem: Ehrenhard Skiera, Die Jena-Plan-Bewegung in den Niederlanden. Beispiel
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
firmiert immer noch unter dem Namen ihres Spiritus Rectors als Peter-PetersenSchule, einige haben sich aber in den letzten Jahren im Zuge der Aufarbeitung des geschilderten Verhaltens Petersens in der NS-Zeit umbenannt. Über die Jena-Plan-Schulen hinaus gibt es in fast allen Bundesländern noch eine hohe Zahl von Grundschulen, die nur das Konzept des jahrgangsübergreifenden Lernens anwenden. In Nordrhein-Westfalen hat der Gesetzgeber in § 11 Abs. 2–4 SchulG NRW den jahrgangsübergreifenden Unterricht in der Grundschule als eine mit dem nach Jahrgängen getrennten Unterricht grundsätzlich gleichwertige Form der Unterrichtsorganisation anerkannt. Nachdem der Gesetzgeber mit rot-grüner Mehrheit ursprünglich im nordrhein-westfälischen Schulgesetz von 2005 sogar dem jahrgangsübergreifenden Unterricht in der Schuleingangsphase der Vorzug gegeben hatte, übertrug er unter veränderter CDU/FDP-Parlamentsmehrheit im Zuge der Schulgesetz-Novellierung 2006 der Schulkonferenz die Entscheidungsbefugnis darüber, welche Organisation für die jeweilige Grundschule am besten geeignet ist.146 Die nach der Wiedervereinigung am Ursprungsort Jena errichtete „Staatliche Jena-Plan-Schule“ war bis 2006 eine Versuchsschule. Auch nach ihrer Entlassung in die „Normalität“ konnte sie, so heißt es auf ihrer Homepage, die bis herige Schulpraxis beibehalten, da das Schulgesetz Thüringens dafür die nötigen Freiräume biete.147 Eine andere Neugründung nach der Wende, die Jena-PlanSchule Markersbach (Sachsen), startete ebenfalls als „staatlicher Schulversuch mit reformpädagogischem Ansatz nach Jenaplan“, wurde dann aber 2002 nach zehnjährigem Bestehen in eine Schule in freier Trägerschaft überführt.148 Soweit Jena-Plan-Schulen als staatlich anerkannte Ersatzschulen arbeiten, trifft man diese wie hier meist in den neuen Ländern an, aber auch dort eben jetzt nicht mehr als Versuchsschulen. Ähnlich verhält es sich mit der Montessori-Pädagogik, wobei diese mit rund 400 Schulen, davon knapp 300 Schulen im Primar- und gut 100 im Sekundar bereich, und zusätzlich einer Vielzahl von Schulen, die Montessori-Materialien im Unterricht verwenden, noch weit verbreiteter ist. Die Umsetzung der Montessori-Pädagogik geschieht heute im Regelfall im Rahmen der allgemeinen Lehrpläne und schulrechtlichen Bestimmungen. Die Montessori-Pädagogik als solche ist dem Versuchsstadium entwachsen, ihre pädagogischen Anliegen und Methoden sind vom Regelsystem aufgenommen worden. einer pädagogisch fundierten Schulreform, Weinheim/Basel 1982; ders., Reformpäda gogik, S. 296 f. 146 Siehe hierzu Begründung des damaligen Regierungsentwurfs: Gesetzentwurf der Landesregierung, Landtag NRW, 14. WP, LT-Drs. 14/1572 v. 28.03.2006, S. 81. 147 Siehe: http://www.jenaplanschule.jena.de. 148 Dazu: http://www.jenaplanschule-markersbach.de, unter Schulchronik.
1. Kap.: Zur aktuellen schulgesetzlichen Normierung in den Ländern
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Neben den vier genannten, in der deutschen Tradition der Reformpädagogik stehenden Schulkonzeptionen haben in den letzten Jahrzehnten ebenso zwei auf ausländische Reformpädagogen der 1920er Jahre zurückgehende pädagogische Richtungen im deutschen Schulwesen vereinzelt Fuß gefasst, die Freinet-Pädagogik (nach Célestin Freinet, Frankreich)149 sowie der Dalton-Plan (nach Helen Parkhurst, USA, einer Schülerin von Maria Montessori)150. Auch diese Modelle, die ebenfalls zumeist nicht in vollem Umfang adaptiert werden, oft vielmehr nur als Orientierung dienen, setzt man in Deutschland durchweg in „normalen“ öffentlichen Schulen oder Ersatzschulen um, also nicht in Versuchsschulen.
149 Überblick:
Inge Hansen-Schaberg/Bruno Schonig (Hrsg.), Basiswissen Pädagogik – Reformpädagogische Schulkonzepte, Bd. 5: Freinet-Pädagogik, Baltmannsweiler 2002. Siehe auch: http://freinet.paed.com/freinet/frschule.php. Auf dieser Website sind derzeit 19 deutsche Freinet-Schulen aufgeführt. 150 In Europa ist dieses Konzept vorwiegend in den Niederlanden und in Großbritannien verbreitet. In Deutschland gibt es bislang nur eine einzige Schule, die sich explizit als Dalton-Plan-Schule versteht, das Gymnasium Alsdorf (NRW). Die Grundprinzipien des Dalton-Plans werden aber teilweise auch in einigen anderen deutschen Regelschulen angewandt. Siehe dazu: Wilfried Bock/Dieter Handke, Individuelle Förderung nach dem Dalton-Plan am Gymnasium Alsdorf – Ein Beispiel für pragmatische Schulentwicklung, in: Ingrid Kunze/Claudia Solzbacher (Hrsg.), Individuelle Förderung in der Sekundarstufe I und II, 2. Aufl., Baltmannsweiler 2009, S. 215-220.
Zweites Kapitel
Die Genehmigung von Schulversuchen aufgrund schulgesetzlicher Ermächtigungen insbesondere am Beispiel § 25 SchulG NRW I. Tatbestandsvoraussetzungen einer Versuchsgenehmigung 1. Notwendigkeit einer schulrechtlichen Ausnahme Eine ministerielle Genehmigung für die Erprobung innovativer schulischer Konzepte einzuholen, ist nur erforderlich, wenn die Durchführung des Vorhabens mit geltenden Bestimmungen des jeweiligen Schulgesetzes oder von aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen kollidiert. Die Versuchsermächtigungen in den Schulgesetzen regeln einzig den Schulversuch im juristischen Sinn. Dieser definiert sich gerade dadurch, dass er von geltendem bindendem Schulrecht abweicht und nach dem Prinzip des Vorrangs des Gesetzes einer gesetzlichen Ermächtigung bedarf. Dass die Schulversuchsvorschriften eine Ausnahme ermöglichen, wird, wie bereits erwähnt,1 in diesen zumeist nicht expressis verbis ausgesprochen. Vielmehr ergibt sich dies inzidenter daraus, dass namentlich benannte, zumeist nicht abschließend formulierte Abweichungen vom Regelsystem zugelassen werden können; dieses Regelsystem wiederum ist schulgesetzlich festgeschrieben. Bleiben umgekehrt beabsichtigte schulische Neuerungen im Rahmen des geltenden Schulrechts, so bedarf es keiner Schulversuchsermächtigung und damit keiner ministeriellen Genehmigung.2 Indes verfahren manche Schulen und Schulträger mitunter nach einem Prinzip, zu dem sogar im Schrifttum jüngst noch ein Vertreter der baden-württembergischen Kultusadministration riet. Sollen bislang in einer Schule unübliche Methoden und Inhalte erprobt werden, kann es nach dessen Ansicht, auch wenn 1 Siehe
oben Dritter Teil Erstes Kapitel I und III. 3. VG Berlin, Urt. v. 25.03.2009 – 3 A 293.06, juris Rn. 22; Urt. v. 25.03.2009 – 3 A 286.08, juris Rn. 20. Es könne der „durchgeführte Ganztagsbetrieb in geschlossener Form als solcher keinen Schulversuch darstellen, da es sich nicht um eine pädagogische und organisatorische Weiterentwicklung des bereits bestehenden Schulwesens handelt (vgl. § 18 Abs. 1 SchulG). Vielmehr sind Ganztagsgrundschulen in gebundener Form bereits fester Bestandteil des Schulwesens (vgl. § 27 GsVO).“ 2 Exemplarisch:
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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es rechtlich nicht notwendig ist, dennoch opportun sein, das für einen „Schulversuch“ im Schulgesetz vorgesehene Verfahren zu beschreiten, um innerhalb der schulinternen Willensbildung eine stärkere Ausgangsposition zu haben, d.h. Einholung eines Erlasses des Kultusministeriums und zustimmender Gremienbeschlüsse.3 Diese Empfehlung ist nicht nur unvereinbar mit den gesetzlichen Bestimmungen, sie ist zudem schlechthin kontraproduktiv hinsichtlich des zwischenzeitlich allseits erkannten Ziels, die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schulen zu stärken und hierzu unnötige Schulbürokratie abzubauen. Hingegen ist die Einbeziehung der internen Schulgremien ein Gebot der Klugheit, um Akzeptanz in der Eltern-, Schüler- und Lehrerschaft für Neuerungen zu gewinnen. Insoweit besteht aufgrund der allgemeinen schulgesetzlichen Vorschriften über die Mitwirkung an wichtigen Angelegenheiten der Schule ohnehin das – noch zu behandelnde – Erfordernis einer Beteiligung von Klassen- und Schulpflegschaft, Schülervertretung, Lehrerkonferenz und Lehrerrat sowie der Schulkonferenz. Die Notwendigkeit einer schulrechtlichen Ausnahme bzw. die Kollision mit geltendem Schulrecht, beides bereits bei der Thematik des Gesetzesvorrangs näher behandelt, steht folglich am Anfang jeder rechtlichen Prüfung eines Schulversuchs. Die zur Erprobung beabsichtigten Maßnahmen definieren den gegenständlichen normativen Abweichungsbedarf. Dieser Abweichungsbedarf ist bereits Tatbestandsmerkmal, die Zulassung der Abweichungen und deren zeitliche und umfangmäßige Begrenzung gehört indes auf die Rechtsfolgenseite. 2. Vorhaben zur „Weiterentwicklung des Schulwesens“ Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW dienen Schulversuche dazu, das Schulwesen weiterzuentwickeln. In allen Schulgesetzen findet sich eine solche oder vergleichbare Zweckbestimmung hinsichtlich des Schulversuchs.4 Das Versuchsvorhaben zur Weiterentwicklung des Schulwesens hat die Anbindung an neuere pädagogische Erkenntnisse und schulpolitisch erwünschte und realisierbare Ziele vorzubereiten. Erforderlich ist damit, dass der Antragsteller im Verfahren zur Genehmigung eines Schulversuchs einen konkreten Reformbedarf im bestehenden Schulwesen seines Landes benennt und darlegt, dass wegen dieses 3 Lambert,
Schulversuch, SchVw BW 2010, S. 65. Ebenfalls bereits in: Lambert/ Müller/Sutor, Schulgesetz BW, § 22 Anm. 1. 4 Die Experimentierklauseln in anderen Verwaltungsbereichen verwenden im Übrigen ebenfalls häufig den unbestimmten Rechtsbegriff „Weiterentwicklung“ und auch denjenigen der „Erprobung“, so etwa die kommunalrechtliche Experimentierklausel des § 129 GO NRW „Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung (Experimentierklausel)“.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Reformbedarfs die beabsichtigten, von schulgesetzlichen Vorschriften abweichenden Maßnahmen ergriffen werden sollen.5 Ein solcher Reformbedarf sowie die Eignung des Vorhabens zur entsprechenden schulischen Weiterentwicklung und damit zur Übertragbarkeit der angestrebten Versuchsergebnisse auf das Regelsystem,6 müssen allerdings auch objektiv vorhanden sein. Dem für die Genehmigung zuständigen Ministerium ist diesbezüglich ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Den Gerichten fehlt eine vergleichbare Interpretationskompetenz.7 Eine gerichtliche Kontrolle in vollem Umfang kann nicht stattfinden, soweit eine gesetzliche Regelung der Verwaltung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlangt, ohne dafür hinreichend bestimmte Vorgaben (Entscheidungsprogramme) zu enthalten.8 Eine solche Lage, in der die Verwaltung kraft eigener Kompetenz handelt, hat das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Anerkennung eines „besonderen pädagogischen Interesses“ an der Zulassung einer privaten Grundschule gemäß Art. 7 Abs. 5 GG gesehen. Bei der hier vorzunehmenden Bewertung eines konkreten pädagogischen Kon5 Zu
dieser „Darlegungslast“ können analog die Anforderungen herangezogen werden, die das Bundesverfassungsgericht diesbezüglich im Hinblick auf ein „besonderes pädagogisches Interesse“ für die Zulassung einer privaten Volksschule aufgestellt hat. Danach ist es „nicht Sache der Unterrichtsverwaltung, nach einem denkbaren pädagogischen Konzept für eine nach Art. 7 Abs. 4 Satz 2 GG beantragte private Grundschule erst selbst zu suchen oder nur skizzenhaft vorgestellte Konzeptionen anhand allgemein verfügbarer pädagogischer Erkenntnisse auszudeuten; der Antragsteller muß das von ihm entwickelte Konzept vielmehr auf das konkrete Vorhaben bezogen so substantiiert darlegen, daß der Unterrichtsverwaltung ein Vergleich mit bestehenden pädagogischen Konzepten und eine prognostische Beurteilung seiner Erfolgschancen und der möglicherweise mit ihm verbundenen Risiken und Gefahren für die Entwicklung der Schüler ohne weiteres möglich ist.“ Zitat: BVerfGE 88, 40 (51). 6 Zur potentiellen Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse als Genehmigungs voraussetzung: Niebes/Becher/Pollmann, Schulgesetz im Freistaat Sachsen, § 15 SchulG Rn. 4. 7 Siehe auch die nicht ganz unähnliche Situation beim Dispens. Nach Josef Isensee [Billigkeitskorrektiv des Steuergesetzes, FS Flume, S. 138] besitzt die Verwaltung gegenüber den Gerichten den Primat in der Auslegung der generalklauselartigen, offenen Dispensermächtigung des § 227 Abgabenordnung (Steuererlass wegen „Unbilligkeit“ der Einziehung): „Wenn einer Sachnorm Trennschärfe fehlt, wird die Rechtsunsicherheit kompensiert durch die Eindeutigkeit der Interpretationskompetenz. Die kompetente Verwaltung konkretisiert den Erlaß aus ihrer existentiellen Erfahrung des Einzelfalles. Die Exekutive wird geleitet von der Gesamtverantwortung, die sie für den Vollzug der Steuergesetze, damit für die Realisierung der Lastengleichheit, trägt. Das Gericht hat die primäre Kompetenz und Verantwortung der Verwaltung zu respektieren. Es kontrolliert die vorgegebene Erlaßentscheidung auf seine Rechtmäßigkeit, aber es ersetzt sie nicht voraussetzungslos durch eigene, ursprunghafte Interpretation.“ 8 So: BVerfGE 88, 40 (61).
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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zepts und der Abwägung mit dem Vorrang der öffentlichen Volksschule könnten die Gerichte ihre Auffassung nicht an die Stelle der behördlichen setzen.9 Die dortigen Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts gelten entsprechend für die Einschätzung, ob ein bestimmtes Vorhaben das Schulwesen weiterentwickeln kann. Auch diesbezüglich bedarf es einer individuellen Bewertung und Prognose nach pädagogisch-fachlichen Gesichtspunkten. Dies schließt ebenfalls Elemente wertender Erkenntnis ein, deren Ergebnisse nicht vollständig auf eine Anwendung der einschlägigen gesetzlichen Norm zurückzuführen sind. Erforderlich ist auch hier eine Gewichtung unterschiedlicher Belange, für die § 25 SchulG NRW keine vollständige rechtliche Bindung vorgibt.10 Den Gerichten fehlen rechtliche Maßstäbe zur Beurteilung pädagogischer Reformerfordernisse. Insbesondere gibt das Grundgesetz – von äußersten Grenzen abgesehen – keinen Maßstab für die pädagogische Beurteilung von Schulsystemen11 und damit erst recht nicht bezüglich deren Reformbedarfe. Besonders prekär wäre es, wenn ein Ministerium nicht nur keinen Erneuerungsbedarf, sondern in dem von ihm abgelehnten Schulexperiment sogar einen Rückschritt, statt einer Weiterentwicklung also eine „Rückentwicklung“ des Schulwesens sehen würde. Könnte ein Gericht dennoch die Schulverwaltung zur positiven Bescheidung eines solchen Versuchsantrags verpflichten, also ihr den aus fachlich-ministerieller Einschätzung schulpolitischen Rückschritt oktroyieren, wäre insoweit die Funktionsfähigkeit der obersten Schulaufsichtsbehörde in Frage gestellt. Zwar kann man diese Gefahr auch dadurch als begrenzt ansehen, dass die Genehmigung eines Schulversuchs nach allen schulgesetzlichen Ermächtigungsnormen jeweils im Ermessen der Schulverwaltung liegt. Doch besteht erst gar nicht die Notwendigkeit einer Ermessensabwägung, wenn es bereits an der Reformeignung des Versuchs mangelt. Die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte gilt umso mehr, als die Entscheidung, ob eine Maßnahme das Schulwesen weiterentwickelt, nicht nur eine prognostische und eine schulplanerische, sondern vor allem eine (schul-) politische Bewertung enthält. Die Entscheidung, ob ein durch den Versuch nachzukommender Reformbedarf besteht, hat die politischen Ziele einzubeziehen, die durch ein Regierungsprogramm, Koalitionsabsprachen und Kabinettentscheidungen vorgegeben sind, und wird wesentlich durch diese bestimmt. Eine gerichtliche Kontrolle, die politische Prioritätensetzungen und Gestaltungsvorstellungen in ihre Prüfung einbeziehen müsste, scheidet indes aus. Den Gerich9 BVerfGE 88,
40 (56 f.). dazu: BVerfGE 88, 40 (61). 11 So: BVerfGE 34, 165 (185, 189); 45, 400 (405); 53, 185 (197). Dem folgend auch: OVG NRW, Beschl. v. 16.04.2003 – 19 B 403/03, juris Rn. 19; Jestaedt, Schule und außerschulische Erziehung, § 156 Rn. 87. 10 Vgl.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
ten steht nach der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung kein Letztentscheidungsrecht bei eklatant politisch vorgeprägten Entscheidungen zu. Die Genehmigung von Schulversuchen ist nicht zuletzt wegen ihrer Einbettung in die Schulpolitik eines Landes überall den Schul- bzw. Kultusministerien als oberste Schulaufsichtsbehörden – ohne Delegationsmöglichkeit – vorbehalten. Diese besitzen die administrative Gesamtverantwortung für das Schulwesen und können hierdurch gewährleisten, dass Schulversuche sich in die Schulstrukturen eines Landes einfügen.12 Zudem besteht eine unmittelbare Verantwortlichkeit des Ministers gegenüber dem Parlament, also desjenigen, der Ausnahmen vom Parlamentsgesetz zulässt. Die exekutive Verantwortung für das Ganze obliegt der staatlichen Schulaufsicht nach Art. 7 Abs. 1 GG im Übrigen exklusiv, ohne dass die Schulträger insoweit hierfür eine Mitverantwortung tragen. Das Schulministerium könnte seinen aus Art. 7 Abs. 1 GG folgenden administrativen Gestaltungsauftrag zur zentralen Organisation, Planung, Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens,13 wozu auch die Planung und Erprobung neuer Inhalte und Formen des Schulunterrichts gehört,14 nicht mehr angemessen wahrnehmen, wenn versuchsfreudige Schul träger ihm gegen seinen Willen „pädagogische Sprengsätze“ ins Schulsystem installieren dürften und schulpolitisch unerwünschte Reformnotwendigkeiten diktieren könnten. Im Gegensatz zur Genehmigung von Tierversuchen, bei denen der antragstellende Forscher aufgrund seiner Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) den Primat zur Einschätzung der Versuchsnotwendigkeit haben muss und die Genehmigungsbehörde nur eine Prüfungskompetenz hinsichtlich der Vertretbarkeit der wissenschaftlichen Antragsbegründung besitzt,15 ist es beim Schulversuch umgekehrt. Der antragstellende Schulträger kann in Zusammenarbeit mit den Schulen Versuchsideen entwickeln, die Letztverantwortung und damit Entscheidungskompetenz trägt indes aufgrund Art. 7 Abs. 1 GG das Schulministerium als Genehmigungsbehörde. Da dem Schulministerium bei seiner Einschätzung sowohl des generellen Reformbedarfs als auch der konkreten Reformeignung eines beantragten Ver12 Ebenso: Assmann, Thüringer Schulrecht, § 12 SchulG Anm.; ähnlich: Weber, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 4. 13 Siehe dazu: BVerfGE 26, 228 (238). 14 Vgl.: Weber, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 1.2; Margies/ Roeser, Schulverwaltungsgesetz, § 4b SchVG Rn. 3; Dirnaichner, BayEUG Kommentar, Art. 81 Anm. 1; Rolf Stober, Die Zulassung zum Schulversuch, in: RdJB 1974, S. 55. 15 Dazu: Klaus Ferdinand Gärditz, Innovative Tierversuche zwischen Wissenschaftsethik und Wissenschaftsfreiheit, in: Wissenschaftsrecht. Zeitschrift für deutsches und europäisches Wissenschaftsrecht, Beiheft 21: Wissenschaft und Ethik, Tübingen 2012, S. 116 f. m.w.N.
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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suchsvorhabens ein Beurteilungsspielraum zusteht, ist eine gerichtliche Überprüfung ihrem Wesen nach darauf beschränkt, ob es seiner Entscheidung einen zutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt hat, keinen sachwidrigen Erwägungen gefolgt ist und einem vorgetragenen Reformbedarf ernsthaft nachgegangen ist. Deshalb muss die Ablehnung einer Versuchsgenehmigung entsprechend hinreichend begründet werden. Umgekehrt ist in einem Genehmigungsbescheid nachvollziehbar darzulegen, weshalb sich der Schulversuch vom Bestehenden absetzt, worin also das „Neue“ oder „Innovative“ gesehen wird. 3. Erprobungsbedürftigkeit der Reformmaßnahme Kann ein Reformbedarf bejaht werden, so ist für die Zulässigkeit eines Schulversuchs weiterhin erforderlich, dass auch eine Erprobungsbedürftigkeit der beabsichtigten Reformmaßnahme besteht. Das Vorliegen eines Erprobungsbedarfs ist ein Wesensmerkmal des Schulversuchs.16 Da im Schulbereich die Wirkungen von Veränderungen nicht immer vollständig vorhersehbar sind, soll vor der flächendeckenden Einführung einer Neuerung diese in kleinerem, von den Auswirkungen her beherrschbarem Rahmen mit freiwilliger Teilnahme und möglichst wissenschaftlicher Begleitung erprobt werden.17 Eine Erprobung setzt demgemäß – so jüngst das OVG Nordrhein-Westfalen in seiner Entscheidung zum Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ – voraus, „dass nicht nur ein Reformbedarf, sondern gemessen an den konkret benannten Erprobungszielen ein Erprobungsbedarf im Sinne einer durch Erprobung zu beseitigenden Ungewissheit hinsichtlich der Bedingungen für die Realisierung der Erprobungsziele besteht.“18 Anders ausgedrückt, es muss ein ernsthaftes Bedürfnis bestehen, eine in der Theorie entwickelte Reformmaßnahme in der Praxis zu erproben, weil nicht sicher feststeht, ob diese Neuerung im Falle einer gesetzlichen Einführung tatsächlich die gewünschte Wirkung erzielen würde. Ein solcher Erprobungsbedarf fehlt demnach, wenn bereits gesicherte Erkenntnisse über die Wirksamkeit einer Maßnahme bestehen oder auch ohne praktische Erprobung zu erlangen sind.19 Gleichfalls mangelt es hieran in Fällen, wo ein vermeintlicher Erpro16 So: OVG NRW, Beschl. v. 09.06.2011 – 19 B 478/11, NWVBl. 2011, 436 (437) unter Bezugnahme auf: Bodo Pieroth, Die neue Gemeinschaftsschule am Maßstab der Schulversuchsklausel und der Hauptschulgarantie, in: Eildienst Landkreistag NRW 2011, S. 66; Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 46. – Zur Notwendigkeit eines Erprobungsbedarfs auch: Lambert, Schulversuch, SchVw BW 2010, S. 66.; Lambert/Müller/Sutor, Schulgesetz BW, § 22 Anm. 2. 17 Vgl.: Winands, ebenda. 18 Zitat: OVG NRW (Fn. 16). 19 Ähnlich bereits für den Modellversuch im Bereich der Kabelkommunikation in den 1980er Jahren: Hoffmann-Riem, Modellversuch, ZRP 1980, S 32. Der Testcharak-
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
bungsbedarf nur vorgeschoben wird, in Wirklichkeit aber die mit dem Schulversuch verbundene Dispensmöglichkeit von geltendem Schulrecht der eigentliche Beweggrund für den Schulversuch ist. Der nordrhein-westfälische Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ fiel in die letztere Kategorie. Nach überzeugender Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen war nicht erkennbar, dass dieser Schulversuch tatsächlich einer Erprobung diente. Für die Schulverwaltung sei nämlich – bei Zugrundelegung deren amtlichen Angaben – die Eignung der Gemeinschaftsschule zur Erreichung der verfolgten Reformziele nicht zweifelhaft gewesen, sondern habe bereits von Anfang an festgestanden. Das Schulministerium habe zwar in seinem „Leitfaden“ für den Schulversuch einen Bedarf für Änderungen des gegliederten Schulsystems dargelegt, nicht aber, inwiefern diese Reformen zuvor noch durch einen Schulversuch hätten erprobt werden müssen. Das Ministerium habe vielmehr die Eignung der Gemeinschaftsschule als neuer Schulform in Nordrhein-Westfalen von vornherein als gegeben angenommen.20 Das Oberverwaltungsgericht stellte zudem darauf ab, dass das Schulministerium bei seiner Versuchsgenehmigung die mit Gemeinschaftsschulen in Sachsen, Schleswig-Holstein und Berlin21 gemachten Erfahrungen nicht einbezogen hatte. Es sei nicht dargelegt worden, welcher Erprobungsbedarf in Nordrhein-Westfalen trotz der vorhandenen Erkenntnisse aus diesen Bundesländern noch bestehen würde.22 In dieser gerichtlichen Begründung kommen unausgesprochen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des seinerzeitigen Versuchsunterfangens zum Ausdruck. Der Erprobungszweck muss ernst genommen werden,23 das Instrument des Schulter einer Maßnahme erweitere den „gesetzgeberischen Spielraum aber nur insoweit, als der Test geeignet und notwendig erscheint, anderenfalls nicht verfügbares Erfahrungswissen zur Beseitigung von Zweifeln zu gewinnen“. 20 OVG NRW (Fn. 16). 21 Hinweis des Gerichts auf den auslaufenden Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ in Sachsen (ursprünglich begonnen ab Schuljahr 2006/2007), der gesetzlichen Regeleinführung der Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein (ab Schuljahr 2007/2008) und den spezialgesetzlich geregelten Schulversuch in Berlin (ab Schuljahr 2008/2009). Siehe auch oben Zweiter Teil Zweites Kapitel I. 6., Fünftes Kapitel III. 4. und Sechstes Kapitel II. 3. 22 OVG NRW (Fn. 16). – Ähnlich auch hier für Modellversuche im Bereich der Kabelkommunikation: Hoffmann-Riem, Modellversuch, ZRP 1980, S. 32. Der Bedarf an risikoreichen Experimenten sei verringert, wenn auf Erfahrungen z.B. auch solche im Ausland, zurückgegriffen werden könne. Allerdings sei dann ggfls. testbar, ob die deutschen Rahmenbedingungen Zweifel an der Übertragbarkeit ausländischer Erfahrungen bedingen würden. 23 So ausdrücklich für Experimentierklauseln: Lange, Kommunalrechtliche Experimentierklausel, DÖV 1995, S. 772; Brüning, Experimentierklauseln, DÖV 1997, S. 289.
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
431
versuchs darf kein kommodes Vehikel eines Schulministeriums sein, sich nach Gusto schulgesetzliche Freiräume zu verschaffen.24 Die damals fehlende Ernsthaftigkeit zeigte sich nicht zuletzt in Folgendem: Kaum waren Anfang 2011 zunächst 17 Versuchsschulen genehmigt worden, verlautbarte die Schulministerin, weil angeblich weitere 40 Schulträger zum Schuljahr 2012/2013 die Einrichtung einer „Gemeinschaftsschule“ erwögen, die Schulform noch 2011 als Regelschule im Schulgesetz verankern zu wollen.25 Ohne die Ergebnisse des noch nicht gestarteten Versuchs abzuwarten, geschweige denn wissenschaftlich zu evaluieren, wurde damit fast zeitgleich zur Genehmigung bereits das Ende des Schulversuchs verkündet, die „Gemeinschaftsschule“ zu einem Versuch mit einjährigem Verfallsdatum. Die sicherlich auch durch öffentlich vorgebrachte rechtliche Bedenken beeinflusste Kehrtwende offenbarte: Es ging von vornhe rein nicht um einen wirklichen Schulversuch, sondern darum, als damalige Minderheitsregierung am Parlament vorbei Fakten zu schaffen. Zu diesem Zweck wurde die schulgesetzliche Versuchsvorschrift instrumentalisiert. Der Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ entpuppte sich durch die ministerielle Pirouette vollends als ein Scheinversuch.26 Ebenfalls von Anfang an ein Scheinversuch ohne jeden nachvollziehbaren Erprobungszweck war und ist noch der Anfang 2011 parallel durch das nordrhein-westfälische Schulministerium auf den Weg gebrachte Schulversuch zur Wiedereinführung des neunjährigen Gymnasiums. Um sofort Aktivität in der öffentlichen Diskussion über die auf acht Jahre verkürzte Schulzeit am Gymnasium (G8) zu demonstrieren, eröffnete die seinerzeit gerade neu gewählte Landesregierung – wie bereits erwähnt27 – bis zu 10 % der Gymnasien (und damit rund 60 Gymnasien) einmalig die Möglichkeit, ab dem Schuljahr 2011/2012 zum Abitur nach neun Jahren zurückzukehren. Die Schulpolitik verfiel wohl nur deshalb auf das Instrument des Schulversuchs, weil ein Gesetzgebungsverfahren nicht nur mangels eigener parlamentarischer Regierungsmehrheit, sondern offenkundig auch aus Zeitgründen ausschied. Einen seit Jahrzehnten bis 2010 noch als Regelfall bestehenden und bis 2013 noch parallelgeführten neunjährigen gymnasialen Bildungsgang „erproben“ zu wollen, ist freilich nicht begründ-
24 Ähnlich:
Lambert, Schulversuch, SchVw BW 2010, S. 66. Presseinformation des Ministeriums für Schule und Weiterbildung NRW „Anmeldeverfahren weitgehend abgeschlossen. 14 Gemeinschaftsschulen gehen an den Start“ v. 10.03.2011, Online verfügbar: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Presse/ Meldungen/Archiv/LP15/PM_2011/pm_10_03_2011.html. 26 So schon: Winands, Schein-Versuch, lehrer nrw 2/2011, S. 13. 27 Siehe oben Zweiter Teil Siebtes Kapitel III. bei der Auflistung der aktuellen nordrhein-westfälischen Schulversuche. 25 Siehe:
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
bar.28 Entsprechend dürftig blieben die ministeriellen Erklärungen aus Düsseldorf, aber auch mit 13 teilnehmenden Schulen die Resonanz in den Gymnasien. Das Kultusministerium Baden-Württemberg hatte dementgegen 2009 einen beantragten Schulversuch zur Einrichtung eines neunjährigen Zugs innerhalb des G8-Gymnasiums abgelehnt. Ein dort tätiger Ministerialrat legte in einer Abhandlung später nochmals die Ablehnungsgründe dar, dabei entschieden deutlicher als dies in der offiziellen Begründung gegenüber dem Landtag29 zu lesen war: Das Kultusministerium könne von Rechts wegen die Entscheidung des Landtags, der beginnend ab 2004 den neunjährigen gymnasialen Bildungsgang abgeschafft habe, „nicht konterkarieren, indem es selbigen durch Schulversuch einfach wieder einführt. Denn einen Erprobungsbedarf für das neunjährige Gymnasium, das auf eine 150-jährige Tradition zurückblickt und in dem zurzeit immer noch drei Jahrgänge unterrichtet werden, lässt sich beim besten Willen nicht begründen.“30 Das Vorliegen eines – fortbestehenden – Erprobungsbedarfs ist hinterher auch das entscheidende Kriterium, falls statt der planmäßigen Beendigung die Ver28 Bereits
ebenso: Günter Winands, Das Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Standortbestimmung mit 20 Thesen, in: SchVw NRW 2010, S. 339. Kritisch auch in einer früheren Kommentierung: Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW (Stand Mai 2011), § 25 SchulG Rn. 9a, wonach dieser Schulversuch von vornherein „offenbar eher eine politische Ventilfunktion als eine realistische Umsetzungschance“ hatte. Wenig überzeugend erscheint dementsprechend die Konzeption der wissenschaftlichen Begleitforschung. Siehe: Isabell van Ackeren, Abitur nach 12 oder 13 Jahren? Wissenschaftliche Begleitung des Modellversuchs zur Wiedereinführung eines neunjährigen gymnasialen Bildungsganges, in: Schule NRW 2012, S. 75. 29 Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport zu dem Antrag: „G 8 plus“-Schulversuch am Auguste-Pattberg-Gymnasium Mosbach genehmigen, Landtag Baden-Württemberg, 14. WP, Drs. 14/4384 v. 23.04.2009. 30 Zitat: Lambert, Schulversuch, SchVw BW 2010, S. 66. – Demgegenüber kann ein Erprobungsbedarf bejaht werden für den zum Schuljahr 2013/14 in Hessen beginnenden Schulversuch „Parallelangebot G8/G9“. Eine begrenzte Zahl von Gymnasien und kooperative Gesamtschulen erhalten versuchsweise die Möglichkeit für ein Parallelangebot G8/G9 innerhalb einer Schule. Alle Schüler starten dabei in den Jahrgangsstufen 5 und 6 unter G8-Bedingungen. Am Ende der Jahrgangsstufe 6 trifft die Schule eine Entscheidung für G8 oder G9 auf der Grundlage der Interessensbekundung der Eltern bei der Schulanmeldung und einer eingehenden Beratung der Eltern durch die Schule in der Jahrgangsstufe 6. Da eine solche Organisationsform bisher weder in Hessen noch derzeit in einem anderen Bundesland existiert, handelt es sich um die Erprobung einer schulischen Neuerung. Siehe zu dem Schulversuch: Presseinformation der hessischen Kultusministerin Nicola Beer (FDP) v. 18.09.2012 „Freiheit und Vielfalt als Markenzeichen der Hessischen Schullandschaft – Weiterentwicklung von G8 und Wahlmöglichkeit zwischen G8 und G9“ (Online abrufbar unter: http://www. kultusministerium.hessen.de).
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
433
längerung eines Schulversuchs in Betracht gezogen wird. Hat man durch den Schulversuch hinreichend gesicherte Erkenntnisse über die (Un-)Tauglichkeit der Reformmaßnahme gewonnen, so lassen sich weitere Probeläufe nicht mehr rechtfertigen und der Schulversuch ist unabwendbar zu beenden.31 Keinesfalls kann eine Schulverwaltung eine Fortsetzung des Versuchs zulassen, weil der Gesetzgeber, der zur endgültigen Beurteilung der Änderungsbedürftigkeit der betroffenen schulgesetzlichen Bestimmungen aufgerufen ist, aus welchen Gründen auch immer untätig bleibt. Dies gilt selbst dann, wenn eine Reformmaßnahme sich im Versuch als äußerst wirksam erwiesen hat oder nur eine kurze übergangsweise Verlängerung beabsichtigt wird. Die Suspension des allgemeinen Schulgesetzes erfolgt nur zum Erprobungszweck, entfällt dieser, gilt das Gesetz und bindet die Schulverwaltung. Bestehen nach Auslaufen einer ersten experimentellen Phase noch weitere Klärungsnotwendigkeiten, so hängt die Dauer einer hierdurch zulässigen Versuchsverlängerung wiederum von dem jetzt noch bestehenden Erprobungsbedarf ab. Dieser kann kürzer, gleich lang oder sogar noch länger als beim ersten Mal sein. Selbst nochmalige Verlängerungen scheiden theoretisch nicht von vorn herein aus, doch ist, je länger der Schulversuch andauert, das Vorliegen eines weiterhin bestehenden Erprobungsbedarfs immer unwahrscheinlicher. Eine mehrfache Versuchsverlängerung deutet vor allem eher auf eine Untauglichkeit des Versuchsprogramms hin. Ist eine beabsichtigte Erprobung überhaupt nicht geeignet, gesicherte Erkenntnisse zu liefern, kann ein Schulversuch weder erstmalig genehmigt noch verlängert werden. Erweist sich ein Schulversuch erst im Laufe seiner Durchführung aufgrund von Zwischenevaluationen als ungeeignet zum Erprobungszweck, so kann dies – vorbehaltlich eines noch zu prüfenden Vertrauensschutzes für Eltern und Schüler – den vorzeitigen Abbruch des Schulversuchs bedingen oder, falls hierdurch noch das Erprobungsziel erreicht werden kann, als milderer Eingriff in das Versuchsprogramm eine zweckentsprechende inhaltliche Anpassung. 4. Freiwilligkeit der Teilnahme Der Besuch einer Versuchsschule wie auch die Teilnahme an einzelnen Schulversuchen – mit Ausnahme ggfls. von Schulversuchen zur Schulverfassung, Schulleitung und Schulfinanzierung – muss nach dem jeweiligen Versuchsprogramm freiwillig sein.32 Dies setzt das Einverständnis der Erziehungsberechtig31 Vgl.:
OVG Münster, Beschl. v. 16.04.2003 – 19 B 403/03, juris Rn. 25: Keine Fortführung von Schulversuchen, „wenn bereits ausreichende Erkenntnisse und Erfahrungen gesammelt worden sind.“ 32 Siehe oben Dritter Teil Erstes Kapitel III. 2.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
ten, bei Volljährigkeit das des Schülers voraus. Die Einverständniserklärung ist schriftlich abzugeben.33 Zuvor sind die vom Schulversuch betroffenen Schüler und deren Eltern umfassend über Ziel, Inhalt und Dauer des Schulversuchs, die Freiwilligkeit der Teilnahme und die rechtliche Absicherung der Schüler im Hinblick auf ihren Bildungsabschluss zu unterrichten.34 Haben sich die Eltern oder die volljährigen Schüler freiwillig für die Teilnahme am Schulversuch oder für den Besuch der Versuchsschule entschieden, so ist der Schulbesuch verpflichtend.35 Soweit die Schüler schulpflichtig sind, erfüllen sie ihre Schulpflicht auch an Versuchsschulen. Ein Wechsel der Schule erfolgt nach denselben Regelungen wie für normale Schulen (z.B. gemäß § 46 SchulG NRW). Während eines Schulversuchs muss der Übertritt an Schulen außerhalb des Schulversuchs nicht nur abstrakt möglich bleiben, sondern ist auch auf entsprechenden Wunsch tatsächlich, soweit dem nicht unüberwindbare Hindernisse entgegenstehen, zu ermöglichen, falls erforderlich, wie etwa in § 46 Abs. 6 SchulG NRW vorgesehen, mit Unterstützung durch die Schulaufsichtsbehörde.36 Das Einverständnis von Eltern oder volljährigen Schülern zur Teilnahme an Schulversuchen muss „frei“ sein, darf also nicht durch falsche Informationen oder unzulässige Versprechen, etwa Inaussichtstellen besserer Noten, noch durch Druck oder faktischen Zwang herbeigeführt werden. Unerlaubter Druck wird ausgeübt, wenn es an einer bestehenden Schule nicht möglich ist, sich einem Schulversuch ohne Nachteile innerhalb dieser Schule 33 Über die Form der Einverständniserklärung findet sich in keinem Schulgesetz eine Regelung. Ohnehin treffen einzig § 18 Abs. 4 Satz 2 SchulG BE und § 10 Abs. 4 Satz 2 SchulG HH über das Postulat der Freiwilligkeit hinaus eine Aussage darüber, wer konkret über die Teilnahme an einem Schulversuch entscheidet. Die Schriftform der Einverständniserklärung ist allerdings gefordert in Ziff. 4 der „Ausführungsvorschriften über Schulversuche und Abweichende Organisationsformen (AV-Schulversuche)“ des Berliner Senators für Schule, Jugend und Sport v. 17.02.1982 (DBl. III Nr. 4 S. 43), abgedruckt auch in: Eiselt/Heinrich/Meyer, Schulrecht Berlin, Kommentar, Nr. 4.9.8. 34 Entsprechende schulgesetzliche Regelungen finden sich nur in § 38 Abs. 4 SchulG MV (umfassende Information über Art, Ziele und Durchführung) und Art. 83 BayEUG (Bekanntmachung, darin Auskunft über Ziele, Inhalt und Dauer sowie mögliche Abschlüsse und Berechtigungen). Eine Informationspflicht sehen auch Ziff. 4 der Berliner AV-Schulversuche (ebenda) sowie Ziff. II.2 der thüringischen Richtlinie für Schulversuche v. 02.09.1993 (Dritter Teil Erstes Kapitel, Fn. 42) vor. 35 So auch: § 18 Abs. 4 Satz 2 SchulG BE, § 10 Abs. 4 Satz 2 SchulG HH. 36 Entsprechende ausdrückliche Regelung: § 3 Abs. 2 der brandenburgischen „Verordnung über Schulversuche, Versuchsschulen, abweichende Organisationsformen und Schulen mit besonderer Prägung (Schulversuchsverordnung) v. 23.04.1997 (GVBl. II S. 261): „Für Schülerinnen und Schüler, die nicht mehr an einem Versuch teilnehmen, ist ein möglichst einfacher Wechsel in einen Bildungsgang ohne Versuchscharakter zu ermöglichen, der den Fähigkeiten und Neigungen der Schülerinnen und Schüler entspricht.“
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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zu entziehen. Eine solche Drucksituation wäre insbesondere gegeben, wenn ein Schulversuch in allen Parallelklassen durchgeführt und die betroffenen Schüler (bzw. deren Eltern) vor die Alternative gestellt würden, entweder an dem Schulversuch teilzunehmen oder die Schule zu wechseln.37 Schüler und Eltern können nach Aufnahme in einer Schule darauf vertrauen, dass diese im Verlauf des dort eingeschlagenen Bildungswegs den Unterricht nach den für alle geltenden schulischen Bestimmungen der entsprechenden Schulform durchführt. Zumutbar wäre nur der Wechsel innerhalb einer Schule in eine andere, nicht in den Schulversuch einbezogenen Parallelklasse. Ein Schulversuch an einer bestehenden Schule, an dem alle Schüler teilnehmen sollen, kann ansonsten nur beginnend ab den Eingangsklassen der Grundschule und der Sekundarstufe I, den Eingangsjahrgangsstufen der Sekundarstufe II oder als zusätzliches, das bisherige Regelangebot nicht beeinträchtigendes Angebot eingerichtet werden.38 An der Freiwilligkeit mangelt es auch bei den bereits mehrfach erwähnten „flächendeckenden Versuchen“, wenn also durch nicht vorhandene Schulbesuchsalternativen faktisch ein Zwang zur Teilnahme am Schulversuch besteht. Ist die Einschulung in eine einen Schulversuch durchführende Schule oder eine Versuchsschule nicht gewollt, müssen die widerstrebenden Schüler in zumutbarer Entfernung eine Schule mit Regelangebot besuchen können. Dies kann auch außerhalb des Wohnorts sein.39 Fehlt eine solche Möglichkeit, können der Schulversuch oder die Versuchsschule erst gar nicht eingerichtet werden. Ebenso können kommunale Schulträger und Schulaufsichtsbehörden, worauf noch einzugehen ist, bestehende Regelschulen nicht zugunsten einer Versuchsschule auflösen, wenn andere Schulen der betreffenden Schulform nicht in zumutbarer Entfernung erreichbar und aufnahmefähig sind.40 Auch wenn Schüler nach umfassender Aufklärung über Ungewissheiten und Risiken eines Schulversuchs freiwillig an jenem teilnehmen, bedeutet dies nicht, dass ihren experimentierenden Lehrkräften und der Schulverwaltung ein Freibrief erteilt ist. Vielmehr sind signifikante Nachteile, die mit einer suboptimalen Zielerreichung oder gar einem Misslingen des Versuchs verbunden wären, zu vermeiden oder doch so gering wie möglich zu halten. Erforderlich ist deshalb eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit des Versuchs. Blindes Experimentieren einer Administration nach dem Prinzip Hoffnung oder der Maxime „trial and 37 Ähnlich:
Eiselt/Heinrich, Grundriß des Schulrechts in Berlin, S. 54. auch oben Zweiter Teil Erstes Kapitel III. 2. c). 39 So ausdrücklich geregelt: § 3 Abs. 3 Schulversuchsverordnung BB (Fn. 36). 40 Eingehend dazu: Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 50. – Zu diesem Erfordernis allgemein bei Auflösung von Schulen: RdErl. des Ministeriums für Schule und Weiterbildung NRW v. 06.05.1997 (GABl. NRW I S. 142 / BASS 10 – 02 Nr. 9) „Errichtung, Änderung und Auflösung von weiterführenden allgemeinbildenden Schulen und Berufskollegs“, Ziff. 3.2. 38 Siehe
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
error“ auf Kosten der betroffenen Schüler verbietet sich in einem Rechtsstaat.41 Schule, Schulträger und Genehmigungsbehörde müssen trotz aller Offenheit, die einem Versuch innewohnt, ernsthaft von einer überwiegenden Erfolgswahrscheinlichkeit ausgehen. Überdies müssen sich die Lehrkräfte, erkennbar in der Anlage des Versuchsprogramms, ihrer besonderen Verantwortung angesichts der Gefahr auch des Scheiterns bewusst sein und den Versuch sorgfältig planen und vorbereiten. Eltern und Schüler erklären ihre Zustimmung zum Schulversuch selbstredend in der Vorstellung, dass dieser ernsthaft und sorgfältig geplant, vorbereitet und durchgeführt wird. Entstehen hieran im Zuge des Genehmigungsverfahrens durchgreifende Zweifel, darf die Genehmigungsbehörde schon aus diesem Grund keine Bewegungsfreiheit zum Versuch gewähren. Die Zustimmung zum Versuch darf nicht mittels Vorspiegelung falscher Tatsachen erwirkt werden. Die Freiwilligkeit der Teilnahme am Schulversuch gilt allein für die Schüler, nicht jedoch für die Lehrkräfte und das sonstige pädagogische Personal an der betreffenden Schule. Als Beamte oder Angestellte im öffentlichen Dienst können sie durch ihre vorgesetzte Schulleitung auch ohne Einverständnis und sogar gegen ihren Willen angewiesen werden, Unterricht im Rahmen eines Schulversuchs oder an einer Versuchsschule zu erteilen.42 5. Zusatzanforderungen für Versuchsschulen a) §§ 25 Abs. 2, 78 Abs. 7 Satz 2 SchulG NRW Nach den Schulversuchsermächtigungen in den meisten Ländern einschließlich Nordrhein-Westfalen sind Versuchsschulen ein Unterfall des Schulversuchs. Als besondere Art des Schulversuchs können sie, wie in § 25 Abs. 2 SchulG NRW formuliert, „zur Erprobung von Abweichungen, Veränderungen und Ergänzungen grundsätzlicher Art“ errichtet werden. Während bei einfachen Schulversuchen partiell in Teilbereichen bestehender Schulen einzelne pädagogische oder organisatorische Versuche stattfinden, zeichnen sich demnach Versuchsschulen durch eine grundsätzliche und damit umfassende Veränderung der pädagogischen Inhalte und/oder der organisatorischen Struktur aus.43 Die Versuchsschule fällt aus dem Rahmen der herkömmlichen, im jeweiligen Schulgesetz festgeschriebenen Schulformen. Allerdings muss sie noch eine Schule im schulgesetz41 Vgl.
in anderem Zusammenhang: Klaus Ferdinand Gärditz, „Regulierungsermessen“ und verwaltungsgerichtliche Kontrolle, in: NVwZ 2009, S. 1009. 42 Siehe dazu ausführlich im nachstehenden Dritten Kapitel, unter II. 43 Vgl.: Weber, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 2; Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG Rn. 10.
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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lichen Sinne bleiben, also eine Bildungsstätte, die unabhängig vom Wechsel der Lehrkräfte und Schüler nach Lehrplänen Unterricht in mehreren Fächern erteilt (so § 6 Abs. 1 SchulG NRW).44 Die Errichtungsvoraussetzungen für Versuchsschulen unterscheiden sich, soweit es sich um Schulversuchsklauseln wie in Nordrhein-Westfalen handelt, grundsätzlich nicht von denjenigen des Schulversuchs. Insbesondere gilt die in § 25 Abs. 2 SchulG NRW ausdrücklich für Versuchsschulen angeordnete Freiwilligkeit des Schulbesuchs nach der hier vertretenen Rechtsauffassung auch für die Teilnahme am Schulversuch. Ein Unterschied besteht nur darin, dass bei Versuchsschulen sich die Problematik eines faktischen Teilnahmezwangs mangels Ausweichmöglichkeit auf eine herkömmliche Schule schärfer stellt als bei einfachen Schulversuchen. Versuchsschulen können abweichend von der Regel, dass die Gemeinden Träger der öffentlichen Schulen sind, in Nordrhein-Westfalen – und in anderen Flächenländern – auch vom Land „zur Ergänzung des Schulwesens“ errichtet und fortgeführt werden (§ 78 Abs. 7 Satz 2 SchulG NRW). Versuchsschulen in Landesträgerschaft bilden nach dieser Formulierung allerdings die Ausnahmen. In Nordrhein-Westfalen sind dies derzeit nur die Laborschule und das Oberstufen-Kolleg in Bielefeld. Die Errichtung von Versuchsschulen in Landesträgerschaft ist auch deshalb restriktiv zu handhaben, weil das Ministerium sich selbst einen Schulversuch „genehmigt“, also „in eigener Sache“ die Abweichung von geltendem Gesetz ermöglicht.45 b) Errichtungserfordernisse gemäß §§ 78–81 SchulG NRW Für die Einrichtung von Versuchsschulen gelten, soweit der Versuchsschul charakter aus der Natur der Sache nichts anderes zwingend erfordert, auch die weiteren Vorschriften unter der Überschrift „Schulträger“ des achten Teils des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes. Anwendung finden insbesondere die Grundsätze der Schulentwicklungsplanung einschließlich des Rücksichtnahme gebots und die Bestandsgarantie für bestehende Schulformangebote (§ 80 Abs. 2, 3 SchulG NRW)46 sowie die Verfahrensbestimmung zur Errichtung, 44 Vgl.:
Weber, ebenda. einer Vorschrift in Sachsen-Anhalt, die eine Trägerschaft des Landes für Versuchsschulen vorsieht, wird zur dortigen Rechtslage in der Kommentarliteratur die Ansicht vertreten, das Schulministerium könne, da die „Genehmigung“ eine Form der Aufsicht sei, nicht selbst Schulversuche durchführen. So: Reich, Schulgesetz Sachsen-Anhalt, § 11 SchulG Rn. 2. 46 Ebenso: Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG Rn. 12. – Allgemein zu den schulgesetzlichen Voraussetzungen der Errichtung 45 Mangels
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Änderung und Auflösung von Schulen (§ 81 SchulG NRW).47 § 25 SchulG NRW ist insoweit keine, diese allgemeinen Vorschriften verdrängende Spezialvorschrift.48 In den anderen Ländern ist die Rechtslage grosso modo vergleichbar. aa) Beachtung Rücksichtnahmegebot Das OVG Nordrhein-Westfalen hat offen gelassen, ob das Rücksichtnahme gebot bei Schulversuchen, die mit der Errichtung, Änderung und Auflösung von Schulen einhergehen, auch bei der Errichtung, Änderung und Auflösung von Versuchsschulen unmittelbar gilt,49 es gelte hier jedenfalls entsprechend. Der analogen Anwendung des § 80 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW stehe die fehlende ausdrückliche Bezugnahme des § 25 SchulG NRW hierauf nicht entgegen. Daraus lässt sich nach Ansicht des Gerichts „nicht der Schluss ziehen, dass die Durchführung und Genehmigung von Schulversuchen, Versuchsschulen und Modellvorhaben ohne Rücksicht auf die Interessen benachbarter Schulträger zulässig ist. Eine dahingehende generelle Duldungspflicht benachbarter Schul träger, die ihr Recht zur Organisation des örtlichen Schulwesens begrenzt, hätte aus Gründen der Rechtsklarheit ausdrücklich geregelt werden müssen.“50 Für eine entsprechende Anwendung des Rücksichtnahmegebots spreche die Vergleichbarkeit der Interessenlage jedenfalls in den Fällen einer Neuerrichtung einer Schule: „Der Schulträger ist bei seiner Schulentwicklungsplanung, der Errichtung, Änderung und Auflösung von Schulen rechtlich verpflichtet, darauf zu achten, dass er von seinen schulorganisatorischen Befugnissen nicht rücksichtslos zum Nachteil anderer Schulträger Gebrauch macht. Denn schulorganisatorische Entscheidungen und Maßnahmen können wechselseitige Ausund Änderung von weiterführenden Schulen in NRW: Günter Winands, Zum Erhalt eines wohnortnahen und differenzierten Schulangebotes in der Sekundarstufe I. Die Möglichkeiten des neuen Schulgesetzes, in: SchVw NRW 2009, S. 66 ff. 47 So auch zum Schulrecht Baden-Württemberg: Bosse/Reip, Schulrecht BadenWürttemberg, § 22 SchulG, Anm. 48 So aber: VG Aachen, Beschl. v. 15.02.2011 – 9 L 51/11, juris (nicht rechtskräftig). – Siehe dagegen oben Dritter Teil Erstes Kapitel III. 3., insb. auch Fn. 71. 49 Eine gesetzliche Klarstellung zur direkten Anwendbarkeit bei der Gründung von Versuchsschulen (entsprechende Ergänzung in § 81 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW) enthielt der bereits erwähnte, im Zuge des nordrhein-westfälischen Schulkonsenses zurückgezogene Gesetzentwurf der Fraktion der CDU „Sechstes Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (6. Schulrechtsänderungsgesetz)“, Landtag Nordrhein-Westfalen, 15. WP, LT-Drs. 15/1915 v. 10.05.2011. Siehe dazu auch oben Zweiter Teil Neuntes Kapitel IV. 3. Die Klarstellung wurde in der SchulkonsensNovelle nicht mehr weiterverfolgt. 50 Zitat: OVG NRW, Beschl. v. 09.06.2012 – 19 B 478/11, NWVBl. 2012, 436 (438).
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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wirkungen auf die Ordnung des örtlichen Schulwesens benachbarter Schulträger haben. Dies hat auch die Genehmigungsbehörde gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW zu beachten, weil sie kein gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßendes und mithin rechtswidriges Schulvorhaben genehmigen darf. Dies gilt für Schulversuche, Versuchsschulen und Modellvorhaben und deren Genehmigung in gleicher Weise.“51 Die generelle Pflicht zur Rücksichtnahme auf benachbarte Schulträger ist – nicht zuletzt als Konsequenz der OVG-Rechtsprechung – bei der Änderung des Schulgesetzes im Rahmen des Schulkonsenses im Jahre 2011 nicht nur durch ein gesetzlich vorgeschriebenes Anhörungsrecht verfahrensrechtlich untermauert worden. Macht ein benachbarter Schulträger eine Verletzung eigener Rechte geltend und hält der Schulträger an seiner Planung fest, kann jeder der beteiligten Schulträger nunmehr ein Moderationsverfahren bei der oberen Schulaufsichtsbehörde beantragen. Möglich ist auch, eine Moderation durch eine andere Stelle zu vereinbaren. Auf jeden Fall ist das Ergebnis der Abstimmung mit benachbarten Schulträgern und des Moderationsverfahrens festzuhalten (§ 80 Abs. 2 Satz 5–7 SchulG NRW). Diese neuen Mechanismen zum Konfliktausgleich sind damit auch auf Schulversuche und Versuchsschulen anzuwenden.
51 Zitat:
OVG NRW, ebenda, unter Bezugnahme auf OVG NRW, Beschl. v. 31.07.2009 – 19 B 484/09, juris Rn. 25. In Letzterer heißt es: „Das in § 80 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW normierte und durch das Abstimmungsgebot in § 80 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW verstärkte Rücksichtnahmegebot dient dem rechtlichen Schutz der Interessen benachbarter Schulträger an einer ordnungsgemäßen Schulentwicklungsplanung für ihren Bereich. Es verlangt vom planenden Schulträger, in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen des anderen Schul trägers Rücksicht zu nehmen. Das Gesetz geht von der Möglichkeit aus, dass entsprechend der Schulentwicklungsplanung umgesetzte schulorganisatorische Maßnahmen wechselseitige Auswirkungen auf die Ordnung des örtlichen Schulwesens benachbarter Schulträger haben können, und ferner davon, dass sich benachbarte Schulträger bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben – prinzipiell im Verhältnis der Gleichordnung – in Bezug auf Schulformen, Schulstandorte und Schülerzahlen in einer Situation befinden, die eine (Außen-)Koordination ihrer Schulträgerbelange und einen Interessenausgleich verlangt. Der planende Schulträger darf von seiner Planungsbefugnis zur Organisation des örtlichen Schulwesens in seinem Gebiet nicht rücksichtslos zum Nachteil des anderen Schulträgers Gebrauch machen, unterliegt vielmehr hinsichtlich gewichtiger Auswirkungen seiner geplanten schulorganisatorischen Maßnahme auf Belange benachbarter Schulträger rechtlichen Bindungen. Deren Missachtung greift in das Selbstverwaltungsrecht des benachbarten Schulträgers zur Planung seines örtlichen Schulwesens ein.“
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
bb) Auflösung oder Umwandlung bestehender Schulen zugunsten von Versuchsschulen Die Geltung des Rücksichtnahmegebots hat nicht nur Bedeutung für die Auswirkungen auf Schulen benachbarter Schulträger, sondern auch für die Frage, ob kommunale Schulträger im eigenen Gemeindegebiet bestehende Schulen des Regelangebots zugunsten der Errichtung einer Versuchsschule auflösen oder entsprechend umwandeln können. Über die Auflösung von Schulen bzw. deren Änderung im Falle der Umwandlung52 entscheiden gemäß § 81 Abs. 2 SchulG NRW die kommunalen Schulträger nach Maßgabe der Schulentwicklungsplanung. Die obere Schulaufsicht darf gemäß § 81 Abs. 3 Satz 2 SchulG NRW den Ratsbeschluss nicht genehmigen, wenn er den schulgesetzlichen Vorschriften über die Fortführung von Schulen und der Schulentwicklungsplanung widerspricht. Die Kommunen sind verpflichtet, Schulen und bestimmte Schulformen fortzuführen, wenn in ihrem Gebiet dafür ein Bedürfnis besteht und die Mindestgröße gewährleistet ist. Ein Bedürfnis besteht, wenn die Schule im Rahmen der Schulentwicklungsplanung erforderlich ist, damit das Bildungsangebot der Schulform in zumutbarer Entfernung wahrgenommen werden kann (§ 78 Abs. 4 Satz 2 und 3 SchulG NRW).53 Ist ein Elterninteresse an der Fortführung einer Schule feststellbar und kommen hierdurch ausreichend Schüler zum Erreichen der Schulmindestgröße zusammen, kann ein Bedürfnis für diese Schule nur entfallen, wenn andere (Regel-)Schulen der betreffenden Schulform in zumutbarer Entfernung erreichbar und aufnahmefähig sind. Dies ergibt sich auch aus den klarstellenden Bestimmungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 und 2 SchulG NRW.54 52 Als
Änderung einer Schule sind gemäß § 81 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW der Aus- und Abbau bestehender Schulen einschließlich u.a. die Änderung der Schulform zu behandeln. 53 Diese Anforderung ist Ausfluss der Eltern- und Schülergrundrechte, die nach ständiger Rechtsprechung die freie Wahl zwischen den vom Staat zur Verfügung gestellten Schulformen gewährleisten. Sie richten sich danach allerdings nur darauf, dass eine Schule der gewünschten Schulform in zumutbarer Schulwegentfernung zur Verfügung gestellt wird, also nicht darauf, dass eine bestimmte Schule der gewählten Schulform besucht werden kann. Dazu statt vieler: OVG NRW, Beschl. v. 02.04.1984 – 5 B 403/84, NVwZ 1984, 804 (805); OVG NRW, Urt. v. 01.06.1984 – 5 A 736/84, NVwZ 1984, 806 (807). 54 § 80 Abs. 3 Satz 1 und 2 SchulG NRW: „Bei der Errichtung neuer Schulen muss gewährleistet sein, dass andere Schulformen, soweit ein entsprechendes schulisches Angebot bereits besteht und weiterhin ein Bedürfnis dafür vorhanden ist, auch künftig in zumutbarer Weise erreichbar sind. Bei der Auflösung von Schulen muss gewährleistet sein, dass das Angebot in zumutbarer Weise erreichbar bleibt, soweit dafür ein Bedürfnis besteht.“ Siehe auch den bereits erwähnten: RdErl. „Errichtung, Änderung und Auflösung von weiterführenden allgemeinbildenden Schulen und Berufskollegs“ (Fn. 40), Ziff. 3.2.
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Die Errichtung einer Versuchsschule kann demgegenüber den Ausstieg aus dem Regelangebot nicht kompensieren, da der Besuch einer Versuchsschule freiwillig ist. Kein Kind einer Kommune darf rechtlich oder faktisch gezwungen werden, diese Schule an seinem Wohnort zu besuchen.55 Kleine und mittelgroße Kommunen, die nur eine oder wenige Schulen unterhalten, laufen bei Gründung einer konkurrierenden Versuchsschule oder bei Umwandlung einer dieser Schulen in eine Versuchsschule Gefahr, nicht mehr das Regelschulangebot als Pflichtaufgabe sicherzustellen. Die Schließung einer Regelschule ist nur zulässig, wenn die Kommune in zumutbarer Entfernung eine entsprechende alternative Beschulungsmöglichkeit im eigenen Gemeindegebiet oder – wie in § 78 Abs. 4 Satz 5 SchulG NRW bestimmt – in Nachbarkommunen oder durch private Schulträger nachweist. Unterhält die Gemeinde nur eine Schule, die durch das neue Versuchsschulangebot betroffen ist, so ist sie zwingend darauf angewiesen, dass in Nachbarkommunen ein solches zumutbar erreichbares schulisches Angebot mit freien Aufnahmekapazitäten besteht.56 Zudem muss im Rahmen einer gemeinsamen Schulentwicklungsplanung ein Konsens mit den betroffenen Nachbarkommunen darüber zustande kommen, dass diese insoweit die Verpflichtung zur Fortführung des Regelschulangebots übernehmen. Die Notwendigkeit hierfür resultiert daraus, dass der Besuch einer Versuchsschule freiwillig ist und deshalb eine Nachbarkommune keine Schüler mit Hinweis auf eine an deren Wohnort befindliche Versuchsschule abweisen könnte. Angesichts der auf eine Nachbarkommune zukommenden Kosten, wenn sie zusätzliche Schulkapazitäten für auswärtige Schüler bereitstellen muss (Kosten für Schulbau und -unterhaltung, Lernmittel und insbesondere Schülerbeförderung)57, liegt es allerdings nicht im Interesse jeder Kommune, eine solche Beschulung zu ermöglichen. Insbesondere für Kommunen in der Haushaltssicherung bestehen – auch rechtlich – Grenzen, derartige Zusatzbelastungen zu tragen. Kommt ein entsprechender Konsens mit der Nachbarkommune nicht zustande, kann wegen des Gebots gegenseitiger Rücksichtnahme keine Genehmigung einer Versuchsschule erfolgen. Erforderlich ist ein echter regionaler Konsens, also eine Zustimmung der betroffenen Nachbarkommunen, ein 55 So
schon: Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 50. Winands, ebenda. – Ein Angebot eines privaten Schulträgers wird dabei im Regelfall angesichts dessen spezifischen tendenzbezogenen Bildungsziele nicht als alleinige Schulalternative ausreichen. 57 Die Nachbarkommune könnte Einpendlern im Hinblick auf die Übernahme der Schülerfahrtkosten nicht auf die Gemeinschafts-Versuchsschule als nächstgelegene öffentliche Schule verweisen mit der Folge des § 9 Abs. 9 Schülerfahrkostenverordnung NRW (v. 16.04.2005 i.d.F. v. 22.04.2012, SGV. NRW 223). Darunter fallen gemäß § 97 Abs. 1 SchulG i.V.m. §§ 1, 2 Abs. 1, 9 Abs. 1 Schülerfahrkostenverordnung NRW nur die Regelschulen. 56 Vgl.:
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
bloßes Benehmen reicht aufgrund deren unvermeidbaren Inanspruchnahme nicht aus.58 Es handelt sich um einen Fall „interkommunaler Konnexität“, der, wenn der erforderliche Konsens mit den betroffenen Nachbarkommunen hergestellt werden soll, nur mit einer Vereinbarung insbesondere hinsichtlich der Kostentragung zu lösen sein wird.59 Bei Nichtbeachtung des Gebots der Rücksichtnahme widerspricht die schulorganisatorische Maßnahme § 80 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW und ist gemäß § 81 Abs. 3 Satz 3 SchulG NRW nicht genehmigungsfähig. Eine gleichwohl erteilte Genehmigung ist danach auf eine zulässige Drittanfechtungsklage hin – wie auch sonst in Fällen der Verletzung des drittschützenden Rücksichtnahmegebots – aufzuheben. Das OVG Nordrhein-Westfalen hat dies ausdrücklich auch für Schulversuche und Versuchsschulen klargestellt.60 Aber selbst wenn ein regionaler Konsens über eine zumutbare Beschulungsmöglichkeit in den Nachbarkommunen zustande kommt, ist es nicht zu rechtfertigen, eine bestehende nicht bestandsgefährdete Regelschule zwecks Errichtung einer Versuchsschule aufzulösen. Ist eine Schule einmal aufgelöst, so ist dies faktisch nicht mehr wirklich rückgängig zu machen. Möglicherweise über Jahrzehnte gewachsene schulische Strukturen gehen unwiederbringlich verloren. Solch einschneidende Eingriffe können, sofern eine große Zahl von Eltern das bestehende, bislang für eine geordnete Schulversorgung notwendige Regelangebot weiterhin in ihrer Kommune wünscht, nicht für ein zeitlich befristetes Ver58 So:
Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 50. – Nur ein Benehmen sah aber beispielsweise der Versuchsschulerlass des NRW-Schulministeriums zum Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ vor; dies vertrat die Schulministerin seinerzeit auch so im Landtag: Landtag Nordrhein-Westfalen, 15. WP, LT-Plenarprotokoll 15/6 v. 15.09.2010, S. 269. 59 So ebenfalls bereits: Winands, ebenda. 60 Siehe: OVG NRW, Beschl. v. 09.06.2011 – 19 B 478/11, NWVBl. 2011, 436: „Das Recht des Schulträgers zur Organisation des örtlichen Schulangebots kann auch durch die Entscheidung eines benachbarten Schulträgers zur Durchführung eines Schulversuchs (§ 25 Abs. 1 SchulG NRW) oder die Errichtung einer Versuchsschule (§ 25 Abs. 2 SchulG NRW) und die Genehmigung dieser Organisationsentscheidung durch das Ministerium (§ 25 Abs. 4 SchulG NRW) verletzt werden. Denn der Schul träger und das Ministerium haben bei ihren Entscheidungen auch die Interessen eines benachbarten Schulträgers zu berücksichtigen.“ Im konkret entschiedenen Fall des Schulversuchs „Gemeinschaftsschule“ ergab sich dies nach Ansicht des OVG auch schon aus der Ermessenspraxis des Ministeriums, weil in dessen Leitfaden zu diesem Versuch wie auch in den Genehmigungsbescheiden die Interessen benachbarter Schulträger jedenfalls insoweit berücksichtigt wurden, als eine mögliche Bestandsgefährdung der Schulen benachbarter Schulträger auszuschließen war. – Grundlegend vorher zur Klagebefugnis wegen Verletzung des schulgesetzlichen Rücksichtnahmegebots: OVG NRW, Beschl. v. 31.07.2009 – 19 B 484/09, juris Rn. 6.
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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suchsschul-Experiment mit unklarem Ausgang erfolgen61. Die Sicherung des schulischen Regelangebots hat in derartigen Fällen zwingend Vorrang vor dem temporären Versuch.62 cc) Keine Bestandsgefährdung der Schule eines anderen Schulträgers Die Genehmigung einer Versuchsschule scheidet schließlich auch aus, wenn durch das neue Schulangebot die Schule eines anderen Schulträgers im Bestand gefährdet wird. Dies ergibt sich als generelle Anforderung für die Errichtung neuer Schulen ebenfalls aus dem Rücksichtnahmegebot des § 80 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW i.V.m. § 80 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW.63 Eine Bestandsgefährdung ist gegeben, wenn die konkurrierende Schule des Nachbarschulträgers voraussichtlich unter die für die betreffende Schulform zur Fortführung grundsätzlich erforderliche Mindestzügigkeit fällt. Aber auch unterhalb der Schwelle einer Bestandsgefährdung liegende gewichtige Beeinträchtigungen sind nach der Rechtsprechung des OVG Nordrhein-Westfalen bei der Schulentwicklungsplanung zu berücksichtigen und an dem Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme zu messen.64 „Rücksichtslos sind schulorganisatorische Maßnahmen mit nachtei61 Vgl.:
Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 50. auch deutlich: VG Darmstadt, Urt. v. 11.06.1974 – VI E 24/74, juris Leitsatz 2: „Besteht in einer Gemeinde bei einer großen Zahl von Eltern der Wunsch, ihre Kinder für ein Gymnasium anzumelden, so besteht ein öffentliches Bedürfnis für die Fortführung des Gymnasiums und es ist nicht zulässig, daß der Schulträger die Regelschulart Gymnasium gegen den Willen der Eltern ersatzlos beseitigt und durch eine Schulart ersetzt, die nur als Schulversuch zugelassen ist (Gesamtschule).“ Im Rahmen des Schulversuchs „Gemeinschaftsschule“ in Nordrhein-Westfalen wurde Anfang 2011 in den Genehmigungsbescheiden der Bezirksregierungen zur Auflösung bestehender Schulen – auf Bitte des Schulministeriums – die Maßgabe aufgenommen, dass bei Beendigung des Schulversuchs die aufgelöste Schule wieder auflebe und mit der für die Fortführung bestehender Schulen notwendigen (gemäß § 80 Abs. 2–9 SchulG NRW geringeren) Mindestgröße weitergeführt werden könne, sofern bis dahin keine anderweitige schulgesetzliche Regelung erfolgt sei. Eine solche Wiederauflebens-Option mag zwar juristisch folgerichtig sein, sie geht aber an den Realitäten vorbei. Sie kann die Bedenken, die gegen eine Auflösung bestehender Schulen zugunsten einer Versuchsschule bestehen, nicht entkräften. Die Bitte zur Aufnahme besagter Maßgabe war in den Schreiben des Schulministeriums an die kommunalen Schulträger zur Genehmigung der Versuchs-Gemeinschaftsschulen wiedergegeben. 63 Vgl.: Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 51. – Diese Anforderung war zwischen 2006 und 2011 bezüglich einer Fallgestaltung des früheren organisatorischen Zusammenschlusses von Schulen ausdrücklich in § 83 Abs. 3 Satz 2 SchulG NRW a.F. normiert. 64 Vgl. ebenfalls: Winands, ebenda. 62 So
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
ligen Auswirkungen auf benachbarte Schulträger und deren Genehmigung auch dann, wenn den Maßnahmen keine rechtlich geschützten Interessen zugrunde liegen.“ Der Errichtung und Genehmigung einer Versuchsschule lägen keine rechtlich geschützten Interessen zugrunde, wenn die Voraussetzungen für eine Versuchsschule nicht gegeben seien.65 dd) Rücksichtnahmegebot gegenüber Ersatzschulen Das Rücksichtnahmegebot gilt unter bestimmten Bedingungen auch gegenüber bestehenden privaten Ersatzschulen. Nach § 80 Abs. 7 SchulG NRW informieren sich die Träger öffentlicher Schulen und die Träger von Ersatzschulen gegenseitig über ihre Planungen. Die Träger öffentlicher Schulen können bestehende Ersatzschulen in ihren Planungen berücksichtigen, soweit deren Träger damit einverstanden sind. Ist letzteres durch eine Nachbarkommune geschehen, sichert dort also eine Ersatzschule insbesondere die bedarfsgerechte Versorgung in der betreffenden Schulform, so treffen nachteilige Auswirkungen eines Schulversuchs auf die Ersatzschule gleichzeitig die Schulentwicklungsplanung dieser Kommune. Aber auch auf Ersatzschulen im eigenen Gemeindegebiet ist, wenn diese bislang in der Schulplanung berücksichtigt worden sind, Rücksicht zu nehmen. Selbst wenn eine Kommune bislang von der „Kann“-Bestimmung keinen Gebrauch gemacht, also eine bestehende Ersatzschule bei der Schulentwicklungsplanung nicht berücksichtigt hat, folgt daraus nicht, dass die Belange des privaten Schulträgers bei der Errichtung einer Versuchsschule nicht berücksichtigt werden dürften.66 Es besteht kein Verbot, dessen Belange im konkreten Einzelfall einzubeziehen. Vielmehr erscheint sogar die Rechtsansicht vertretbar, dass die Privatschulgarantie der Art. 7 Abs. 4 GG, Art. 8 Abs. 4 Satz 2 LV NRW eine verfassungskonforme Auslegung des § 80 Abs. 7 SchulG NRW gebietet, genehmigte und betriebene Ersatzschulen, für deren Schließung durch den freien Träger keine Anhaltspunkte bestehen, bei der Schulentwicklungsplanung ebenso zu berücksichtigen wie Schulen anderer öffentlicher Schulträger.67 Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings in einer schon fast 30 Jahre zurück65 Siehe,
einschließlich Zitat: OVG NRW, Beschl. v. 09.06.2011 – 19 B 478/11, NWVBl. 2011, 436 (438). 66 So zutreffend: VG Aachen, Urt. v. 15.02.2011 – 9 L 51/11, juris Rn. 64. – Das Schulministerium NRW hatte bis dahin eine entgegengesetzte Auffassung vertreten, und zwar mit der allgemeinen Begründung, dass Ersatzschulen keinen Anspruch darauf hätten, vor der Konkurrenz durch eine öffentliche Schule geschützt zu werden. Siehe: Antwort der Landesregierung NRW auf die Kleine Anfrage der Abg. Rolf Seel und Klaus-Martin Voussem (CDU), „Warum finden private Ersatzschulen beim ,regionalen Konsens‘ keine Berücksichtigung?“, Landtag NRW, 15. WP, LT-Drs. 15/2102 v. 25.05.2011, S. 3 (zu 5.). 67 Offen gelassen: VG Aachen, ebenda.
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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liegenden Entscheidung die Auffassung vertreten, die Bestandsgarantie der Privatschule nach Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG bewirke keine Beschränkung der dem Staat zustehenden allgemeinen Organisationsgewalt auf dem Gebiet des Schulrechts. Es sei dem Staat nicht verwehrt, eine neue öffentliche Schule neben einer bereits bestehenden Privatschule zu errichten, auch wenn möglicherweise die wirtschaftliche Grundlage der Privatschule beeinträchtigt werde.68 Diese recht apodiktische und undifferenzierte Feststellung bedarf jedenfalls dann einer Einschränkung, wenn es sich bei der öffentlichen Konkurrenzschule nicht um eine Regelschule, sondern um eine Versuchsschule handelt. Der private Schulträger kann unter Vertrauensschutzgesichtspunkten erwarten, dass seine Ersatzschule nicht durch unabgestimmte „rücksichtslose“ Versuchsaktivitäten öffentlicher Schulträger, die auch nur zeitlich befristet sind, existentielle Nachteile erleidet. ee) Mindestgrößen von Versuchsschulen In den Schulversuchsvorschriften aller Länder fehlen Angaben über die Mindestgrößen von Versuchsschulen, so dass auch insoweit die allgemeinen schulgesetzlichen Vorschriften Anwendung finden, in Nordrhein-Westfalen § 82 SchulG NRW. Danach waltet auch für Versuchsschulen der Grundsatz, dass Schulen die für einen geordneten Schulbetrieb erforderliche Mindestgröße haben müssen, und zwar gesichert nach Errichtung für mindestens fünf Jahre. Gemäß § 82 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW gelten 28 Schüler als Klasse, für Grund-, Gesamt- und Sekundarschulen 25 Schüler. Als Klassengröße für eine Versuchsschule leitet sich hieraus, sofern das Versuchsprogramm keine andere Regelung trifft, eine Untergrenze von mindestens 25 Schülern ab. Hinsichtlich der Zügigkeit, also der Zahl der Parallelklassen pro Jahrgang, enthalten die einschlägigen Bestimmungen (§ 82 Abs. 2–8 SchulG NRW) keine allgemeine Aussage, sondern jeweils spezifische Festlegungen für die bestehenden Regelschulformen. Danach darf allerdings keine der in Nordrhein-Westfalen bereits existierenden Schulformen bei der Errichtung weniger als zwei Parallelklassen aufweisen. Die Zweizügigkeit stellt bei einer gesetzessystematischen Auslegung somit das Minimum für einen geordneten Schulbetrieb einer neu gegründeten Schule dar. Für Versuchsschulen kann nichts anderes gelten, wobei im Falle sprachlicher und naturwissenschaftlicher Differenzierung bei weiterführenden Schulen auch eine Dreizügigkeit wie bei Gymnasien und Sekundarschulen sachlich geboten sein kann. Eine Unterschreitung der Klassenmindestgröße kann über die Schulversuchsklausel des § 25 SchulG NRW ermöglicht werden, wenn eine geringere 68 BVerfGE 37, 314 (320) mit Hinweis auf: Hans Heckel, Deutsches Privatschulrecht, Berlin 1955, S. 229.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Klassenstärke grundlegender Bestandteil des Versuchsdesigns ist, also etwa die Auswirkungen auf den Lernerfolg der Schüler untersucht werden sollen.69 Unzulässig ist hingegen eine Reduktion als Anreiz für eine höhere Beteiligung an dem Schulversuch oder zwecks Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen für den Versuch.70 Letzteres führt zu einer Verzerrung, die einen Vergleich mit dem Regelsystem erschwert und damit die Tauglichkeit des Versuchs, das bestehende Schulsystem weiterzuentwickeln, in Frage stellt. Die Schulversuchsvorschrift des § 25 SchulG NRW entbindet zudem nicht von der Beachtung des Haushaltsrechts. Sie kann nur Abweichungen von Vorgaben des Schulgesetzes oder aufgrund schulgesetzlicher Ermächtigung erlassenen Verordnungsrechts erteilen.71 Zwar kann nach § 93 Abs. 2 SchulG NRW das Schulministerium 69 Eine mit dem Versuchszuschnitt begründete Unterschreitung der Mindestklassengröße sahen beispielsweise die Genehmigungsbescheide aus dem Jahr 2011 für den Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ in NRW mit einer Errichtungsgröße von 23 Schülern vor. Auch der Klassenfrequenzhöchstwert war niedriger angesetzt, für die integrative Form der Gemeinschaftsschule mit 25, in der kooperativen Form mit 29 Schülern (gegenüber 30 in dreizügigen und 29 in vierzügigen weiterführenden Schulen); gleiches galt für den Klassenfrequenzrichtwert mit 24 Schülern (bis dahin nur in der Hauptschule, ansonsten 28 in allen anderen weiterführenden Schulformen). Ohne eine besondere Versuchsfragestellung zu formulieren, hieß es zur Begründung allerdings nur ganz allgemein, die niedrigeren Werte trügen der Heterogenität der Schülerschaft Rechnung und berücksichtigten, dass in der „Gemeinschaftsschule“ unterschiedliche Schulformen zusammenwüchsen. Siehe: RdErl. des MSW NRW v. 21.09.2010, abgedruckt im Schulmailarchiv des Ministeriums unter: http://www.schulministerium. nrw.de/SV/Schulmail/Archiv/2010/1009211/index.html. 70 Vgl.: Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 52. – Auf der Linie der vorstehenden Rechtsauffassung hat die frühere hessische Kultusministerin Karin Wolff (CDU) 2006 in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage es grundsätzlich als einen unzulässigen Weg angesehen, Schulversuche bzw. Versuchsschulen einzurichten, wenn die für Schulen geforderten Richtwerte bzw. Mindestgrößen nicht erreicht werden können. Grundsätzlich seien in Hessen Ausnahmen von den Richtwerten bzw. Mindestgrößen von Schulen nicht nach der Schulversuchsvorschrift des § 14 SchulG HE, sondern nach der allgemeinen Vorschrift des § 144a Abs. 3 SchulG HE zu beurteilen. Ein Schulversuch, der nur eingerichtet werde, um Richtwerte oder Mindestgrößen zu umgehen, erfülle nicht den mit § 14 SchulG HE verfolgten Zweck, das Schulwesen weiterzuentwickeln. Zwar hielt die damalige Kultusministerin auf Nachfrage angesichts der rückläufigen demografischen Entwicklung im ländlichen Raum einen schulorganisatorischen Versuch mit abgesenkten Schulgrößen für denkbar, der Ausgangspunkt müsse dann aber ein entsprechendes pädagogisches Konzept sein. § 14 hingegen diene nicht dazu, allein einen Umgehungstatbestand zu schaffen. Siehe: Antwort der hessischen Kultusministerin auf die mündliche Anfrage MdL Quanz (SPD), Hessischer Landtag, 16. WP., Plenarprotokoll 16/118 v. 12.12.2006, S. 8204 f. 71 So bereits: Winands, ebenda. – Ähnlich Gärditz, Schulversuche, DVBl. 2011, S. 713: Schulversuche sind gebunden u.a. an das Schulfinanzrecht (§§ 92 ff. SchulG NRW).
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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„nach den pädagogischen und verwaltungsmäßigen Bedürfnissen“ durch Rechtsverordnung im Einvernehmen mit dem Finanzministerium unter anderem die Klassengrößen und zusätzliche Unterrichtsmehr- und Ausgleichsbedarfe bestimmen. Doch die entsprechende, diesbezüglich gemäß § 93 Abs. 3 SchulG NRW jedes Jahr zu aktualisierende schulrechtliche „Verordnung zur Ausführung des § 93 Abs. 2 Schulgesetz (AVO)“72 folgt akzessorisch dem jeweiligen Haushaltsgesetz. Nach § 9 Abs. 2 Ziff. 2 AVO können zusätzliche Mehrbedarfsstellen durch das Schulministerium an die Schulaufsichtsbehörden für „Schulversuche, Modellversuche und Entwicklungsvorhaben“ zugewiesen werden, außerdem nach § 10 Abs. 2 AVO auch Ausgleichsstellen für Schulversuche, aber beides ausdrücklich nach diesen Vorschriften nur „nach näherer Bestimmung des Haushalts“. Eine Unterschreitung der gesetzlichen Mindestgröße des § 82 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW wie auch der in § 6 AVO festgelegten Klassenbildungswerte erfordert folglich eine Vorsorge im Landeshaushalt; eine versuchsweise, auch nach § 25 SchulG NRW zu rechtfertigende Abweichung verstößt ohne haushaltsrechtliche Deckung gegen das Haushaltsgesetz und ist daher unzulässig. Bei der Errichtung einer Versuchsschule muss die notwendige, sich aus der Klassenmindestgröße und der Zügigkeit zu errechnende Schülerzahl zum Zeitpunkt der Errichtung der Schule vorliegen und sodann für die nächsten fünf Jahre gesichert sein. Sofern diesbezüglich keine hinreichend belastbare Prognose allein aufgrund langfristiger Schülerzahlentwicklungen und gefestigter Übergangsquoten zu den bisher bestehenden Schulformen möglich ist, was wegen des Versuchscharakters im Regelfall nicht gegeben sein dürfte, muss das Anmeldeinteresse mindestens der Eltern jener Kinder, die für den Eingangsjahrgang der künftigen Versuchsschule in Betracht kommen, vorab durch schriftliche Befragung in einem förmlichen Verfahren ermittelt werden.73 Dementsprechend war im seinerzeitigen Leitfaden des nordrhein-westfälischen Schulministeriums für Schulen und Gemeinden, die sich am Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ beteiligen wollten, festgehalten: „Der Antrag muss Aussagen zu einer anlassbezogenen umfassenden Schulentwicklungsplanung, zu der geplanten organisatorischen Ausrichtung der Gemeinschaftsschule (Zügigkeit), integrative oder kooperative Form, Fortführung in der Sekundarstufe II sowie ein pädagogisches Konzept enthalten. Dabei hat der Schulträger eine förmliche Elternbeteiligung durchzuführen.“74
72 Vom 18.03.2005 (GV. NRW S. 218), zuletzt geändert durch Verordnung v. 10.12.2012 (GV. NRW S. 2 / BASS 11 – 11 Nr. 1). 73 Siehe: RdErl. des MSW NRW „Errichtung, Änderung und Auflösung von weiterführenden allgemeinbildenden Schulen und Berufskollegs“ (Fn. 40), hier Ziff. 2.1. 74 Zitat: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Gemeinschaftsschule/Leitfaden. pdf.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Im Genehmigungsbescheid für eine Versuchsschule ist die Mindesterrichtungsgröße festzulegen. Die Genehmigung ist unter der auflösenden Bedingung zu erteilen, dass bei der Errichtung der Versuchsschule die zum Erreichen der Mindestgröße erforderlichen Schüleranmeldungen vorliegen. Nach der Rechtsprechung des OVG Nordrhein-Westfalen ist dabei dem Schulträger im Rahmen seines Planungsermessens grundsätzlich das Recht zuzubilligen, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen, zu dem er das Ergebnis des Anmeldeverfahrens und damit das Erreichen der erforderlichen Mindestgröße für die Eingangsklasse in verbindlicher Form abschließend feststellt.75 Sofern zugunsten einer Versuchsschule eine bestehende Schule aufgelöst werden soll, ist im Übrigen auch die Genehmigung des Auflösungsbeschlusses unter einer Bedingung zu erteilen, nämlich dass die Errichtung der Versuchsschule zustande kommt. Scheitert die Versuchsschulgründung an den notwendigen Anmeldungen, bleibt die bestehende Schule im bisherigen Umfang erhalten. Ansonsten ist die Genehmigung der Auflösung der bestehenden Schule im Regelfall mit der Maßgabe zu versehen, dass diese jahrgangsweise ausläuft. Entbehrlich ist eine solche Regelung nur dann, falls deren Schüler von einer oder mehreren in zumutbarer Nähe gelegenen anderen Schulen der gleichen Schulform übernommen werden können. Wegen der Auswirkungen einer Versuchsschulgründung auf bestehende Schulen und vor allem auch im Interesse der Eltern, die ihr Kind im Falle eines Nichtzustandekommens der Versuchsschule an einer anderen Schule anmelden müssen, ist den Schulträgern in NordrheinWestfalen für den Bereich der weiterführenden Schulen freigestellt, ein – gegenüber anderen Schulen – vorgezogenes Anmeldeverfahren zu der Versuchsschule durchzuführen.76 75 So allgemein für die Errichtung einer neuen Schule: OVG NRW, Beschl. v. 15.05.1990 – 19 B 1214/90, juris Rn. 9. Vgl. auch: VG Köln, Beschl. v. 25.02.2010 – 10 L 221/10, juris Rn. 10 ff. – Nach dieser Rechtsprechung ist unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit dem Schulträger die Befugnis zuzubilligen, sich zu einem bestimmten, möglichst frühen Zeitpunkt Klarheit darüber zu verschaffen, ob er zur Errichtung der betreffenden Schule verpflichtet bzw. berechtigt ist, um gegebenenfalls die erforderlichen Vorbereitungshandlungen rechtzeitig in Angriff nehmen und bis zum Schuljahresbeginn abschließen zu können. Dies gilt nach Ansicht des VG Köln umso mehr, wenn eine neue Schule nicht als zusätzliches Angebot zu den bestehenden Schulen errichtet wird, sondern der – bedingte – Errichtungsbeschluss verbunden ist mit dem Beschluss, bestehende Schulen aufzulösen, falls es zur Errichtung der neuen Schule kommt. 76 Nr. 1.1.3 der Verwaltungsvorschriften zur Verordnung über die Ausbildung und die Abschlussprüfungen in der Sekundarstufe I (VVzAPO S I) v. 31.01.2007 (ABl. NRW S. 83) i.d.F. v. 05.01.2012 (ABl. NRW S. 91; BASS 13 – 21 Nr. 1.2) lautet: „Ist zu erwarten, dass die Zahl der Anmeldungen die Aufnahmekapazität einer oder mehrerer Schulen einer Schulform übersteigen wird (Anmeldeüberhang), kann die obere Schulaufsichtsbehörde auf Antrag des Schulträgers ein vorgezogenes Anmelde-
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ff) Ausreichende Verwaltungs- und Finanzkraft des Schulträgers Die Genehmigung zur Errichtung einer Schule und damit auch einer Versuchsschule ist nach § 81 Abs. 3 Satz 3 SchulG NRW zu versagen, wenn dem Schulträger die erforderliche Verwaltungs- oder Finanzkraft fehlt. Dies bezieht sich insbesondere auf die gesetzliche Verpflichtung des Schulträgers, die für einen ordnungsgemäßen Unterricht erforderlichen Schulanlagen, Gebäude, Einrichtungen und Lehrmittel bereitzustellen und zu unterhalten sowie das für die Schulverwaltung notwendige Personal und eine am allgemeinen Stand der Technik und Informationstechnologie orientierte Sachausstattung zur Verfügung zu stellen (§ 79 SchulG NRW). In Niedersachsen können Land und kommunale Schulträger bei Schulversuchen eine abweichende Vereinbarung zur Schulunterhaltung treffen, d.h. das Land kann bestimmte Sachkosten übernehmen (§ 113 Abs. 2 Ziff. 1 SchulG NI). Begründet wird dies damit, dass bei Schulversuchen im Sachkostenbereich häufig Mehrkosten anfallen, die den kommunalen Schulträgern nicht immer zugemutet werden können.77 In die gleiche Richtung gehen schulgesetzliche Regelungen in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, wonach das Land bei Versuchsschulen Zuschüsse zu einem versuchsbedingten Mehrbedarf leisten kann, in RheinlandPfalz ganz allgemein für höhere Aufwendungen bei Personal- und Sachkosten gegenüber einer Schule vergleichbarer Schulform (§ 95 Abs. 4 SchulG RP), in Schleswig-Holstein konkret für die Ausstattung der Schulgebäude und -anlagen mit Einrichtungsgegenständen (§ 48 Abs. 4 SchulG SH).
verfahren für die Schulen dieser Schulformen zulassen. Das gilt auch für neu genehmigte Schulen im Errichtungsjahr. Das vorgezogene Anmeldeverfahren ist in der ersten Woche des Anmeldezeitraumes durchzuführen; die Schulleiterin oder Schulleiter entscheidet unter Beachtung von Nummer 1.2 bis zum Ende der zweiten Woche des Anmeldezeitraumes über die Aufnahme und informiert die Eltern, so dass die Eltern der abgewiesenen Schülerinnen und Schüler ihr Kind bei einer anderen weiterführenden Schule anmelden können. Ist ein vorgezogenes Anmeldeverfahren zugelassen, beginnt das Anmeldeverfahren für die übrigen Schulformen frühestens in der dritten Woche des Anmeldezeitraumes.“ Dieses vorgezogene Anmeldeverfahren ist nicht unumstritten, weil die Gefahr besteht, dass andere konkurrierende Schulformen benachteiligt werden. Deshalb hatte im Jahr 2007 die damalige CDU-geführte Landesregierung das vorgezogene auf ein verkürztes Anmeldeverfahren bei gleichzeitigem Anmeldebeginn aller Schulen zurückgefahren. Dies erfüllte den gleichen notwendigen Sicherungszweck. Im Jahr 2011 ist aber von der rot-grünen Nachfolgeregierung der frühere Rechtszustand wiederhergestellt worden. Siehe RdErl. d. MSW NRW v. 13.10.2011 (ABl. NRW S. 620). 77 Vgl.: Bräth/Eickmann/Galas, Niedersächsisches Schulgesetz, § 113 Rn. 2.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Nicht zuletzt wegen der Kosten kann – wie bereits erwähnt – in NordrheinWestfalen (§ 78 Abs. 7 Satz 2 SchulG NRW) sowie in Baden-Württemberg (§ 29 Abs. 2 SchulG BW) und Hessen (§ 138 Abs. 6 SchulG HE) auch das Land Träger von Versuchsschulen sein. Dies ist allerdings in erster Linie zugeschnitten auf Versuchsschulen, die ein besonders exponiertes Versuchsprogramm erproben wollen mit entsprechend deutlich höherem Sachaufwand. Rheinland-Pfalz geht hier noch einen anderen Weg. Entlastet die Versuchsschule die kreisfreie Stadt, den Landkreis oder dem Landkreis angehörende Gemeinden und Verbandsgemeinden nicht wesentlich, so kann sie als Schule errichtet werden, deren Personal- und Sachbedarf das Land bereitstellt (§ 95 Abs. 1 Satz 2 SchulG RP). 6. Antragsbefugnis und Beteiligungserfordernisse a) Divergierende schulgesetzliche Regelungen zur Antragstellung Über die Befugnis zur Beantragung eines Schulversuchs gibt es in den Schulgesetzen der Länder keine einheitliche Regelung. In Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und den Stadtstaaten findet sich hierüber gar keine explizite Aussage. In Nordrhein-Westfalen ist einzig für die spezielle Variante der Experimentierklausel des § 25 Abs. 3 SchulG NRW eine Antragsbefugnis der Schulen in Kooperation mit dem Schulträger vorgesehen. In den Ländern, die eine Regelung kennen, sind überwiegend die Schulen antragsbefugt, wobei die Schulträger in unterschiedlichem Maße zu beteiligen sind. Differenziert wird dabei zumeist zwischen einfachen Schulversuchen an bestehenden Schulen und der Einrichtung von Versuchsschulen. ● Baden-Württemberg: Antragstellung ist nicht geregelt, aber Festlegung, dass Schulversuche an bestehenden Schulen mit der Übertragung von Eigenschaften und Aufgaben einer Versuchsschule verbunden sind und es der Zustimmung des Schulträgers bedarf, falls damit für diesen Mehrbelastungen verbunden sind (§ 22 Abs. 2 Ziff. 2 SchulG BW); für Einrichtung von Versuchsschulen gelten die allgemeinen Vorschriften über Errichtung und Änderung von Schulen, also Errichtungsbeschluss des Schulträgers und Zustimmungserfordernis des Kultusministeriums (§ 22 Abs. 1 Ziff. 1 SchulG BW i.V.m. § 30 Abs. 4 SchulG BW);78
78 Hierzu: Bosse/Reip, Schulrecht Baden-Württemberg, § 22 SchulG Anm. – Bei der nach dem Schulgesetz in Baden-Württemberg obligatorisch mit Schulversuchen an einer bestehenden Schule verbundenen Übertragung von Eigenschaften und Aufgaben einer Versuchsschule ist nur eine entsprechende Übertragung in begrenztem Umfang
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● Bayern: Antragstellung für einfache Schulversuche oder Status einer MODUS-Schule (Versuchsschule) erfolgt durch die Schule im Benehmen mit dem Aufwandsträger, allerdings für MODUS-Status an kommunalen Schulen Einvernehmen mit dem Schulträger erforderlich (Art. 83 Abs. 1 BayEUG); ● Brandenburg: Antragsbefugnis für Schulversuche liegt bei den Schulen und, soweit äußere Schulangelegenheiten betroffen sind, auch bei den Schulträgern. Sofern eine Schule den Antrag stellt und äußere Schulangelegenheit betroffen sind, ist das Einvernehmen mit dem Schulträger erforderlich. Ebenfalls ist dies erforderlich, wenn eine Schule beantragt, sich als Schule mit besonderer Prägung zu organisieren (§§ 8 Abs. 1 Satz 3, 8a Satz 4 SchulG BB); ● Hessen: Antragstellung für einfache Schulversuche oder Umwandlung in eine Versuchsschule durch die Schulkonferenz, Beschlussfassung über Umwandlung oder Neuerrichtung einer Versuchsschule obliegt aber dem Schulträger. Zudem Befugnis des Kultusministeriums, Schulversuche auch ohne Antrag der Schulkonferenz einzurichten. Entsprechendes gilt für die Errichtung von Versuchsschulen durch Schulträger (§ 14 Abs. 3 SchulG HE); ● Mecklenburg-Vorpommern: Antragstellung für einfache Schulversuche und für die Errichtung von Versuchsschulen erfolgt durch die Schulkonferenz; beides bedarf des Einvernehmens mit dem Schulträger (§ 38 Abs. 3 SchulG MV); ● Niedersachsen: Antragstellung für Schulversuche einschließlich Errichtung von Versuchsschulen erfolgt durch Schule oder Schulträger. Antrag einer Schule bedarf des Einvernehmens mit dem Schulträger, bei Schulverfassungsversuchen allerdings nur Benehmen erforderlich (§ 22 Abs. 3 Satz 2–4 SchulG NI); ● Saarland: Kein Genehmigungsverfahren, vielmehr Einrichtung von einfachen Schulversuchen durch die Schulaufsichtsbehörde (Bildungsministerium) nach Anhörung der Schulkonferenz, bei Versuchsschulen nach Anhörung der Landesschulkonferenz; Umwandlung einer bestehenden Schule in eine Versuchsschule erfordert eine Anhörung der Schulkonferenz und, falls die Umwandlung für Schulträger mit wesentlicher Mehrbelastung verbunden ist, dessen Zustimmung (§ 5 Abs. 1 und 2 SchOG SL); ● Schleswig-Holstein: Antragstellung für einfache Schulversuche erfolgt durch Schule oder Schulträger; für Errichtung von Versuchsschulen erfolgt kein Antragsverfahren, sondern es ist eine Rechtsverordnung des Ministeriums erforderlich. Das Ministerium kann zudem auch einfache Schulversuche ohne gemeint; es erfolgt keine organisatorische Verselbstständigung zu einer eigenen Versuchsschule. Siehe: BVerwG, Beschl. v. 17.12.1975 – VII B 51/75, NJW 1976, 864.
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vorherigen Antrag durchführen, wobei in beiden Fällen der Schulträger nur anzuhören ist (§ 138 Abs. 2 Satz 1–3 SchulG SH); ● Thüringen: Antragstellung für Schulversuche (damit auch für Status einer Versuchsschule)79 erfolgt durch Schulleiter auf Beschluss der Schulkonferenz und mit Zustimmung des Schulträgers (§ 12 Abs. 3 Satz 2, 3 SchulG TH). Festzuhalten ist, dass die Errichtung von Versuchsschulen mit Ausnahme Schleswig-Holsteins und partiell des Saarlands nur im Einvernehmen mit dem Schulträger oder durch diesen selbst (Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen) beantragt werden kann. Bei einfachen Schulversuchen reicht die Bandbreite von einer Antragsbefugnis der Schule ohne jede Beteiligung des Schulträgers (Brandenburg, Hessen, Saarland), über dessen notwendige Anhörung (Bayern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen für Schulverfassungsversuche) bis hin zum Erfordernis eines Einvernehmens (Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Brandenburg, sofern äußere Schulangelegenheiten betroffen, sowie Baden-Württemberg, falls mit Mehrbelastungen verbunden) bzw. einer parallel bestehenden Antragsbefugnis der Schulträger (Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern). Soweit in einigen Ländern bei Schulversuchen an bestehenden Schulen die Schulträger nicht oder nur im Wege des Benehmens beteiligt werden, steht dahinter die Rechtsansicht, dass es sich hierbei ausschließlich um „innere Schulangelegenheiten“ handelt. Zwar sind die öffentlichen Schulen der Rechtsform nach in allen Ländern nichtrechtsfähige Anstalten des jeweiligen kommunalen oder staatlichen Schulträgers.80 Im Bereich der inneren Schulangelegenheiten, also aller den Unterricht und die Erziehungsarbeit unmittelbar betreffenden Angelegenheiten, insbesondere der Inhalte und Formen des Schulunterrichts, handeln die Schulen indes nicht als Anstalt des Schulträgers, sondern als Einrichtung des Landes.81 Die Durchführung eines Schulversuchs beantragen die Schulleitungen demzufolge dann nicht in Vollmacht ihres Schulträgers, sondern auf dem fachaufsichtlichen Dienstweg. Die „Genehmigung“ oder Verweigerung eines Schulversuchs im Bereich der inneren Schulangelegenheiten ist nach dieser, auch vom Bundesverwaltungsgericht vertretenen Rechtsauffassung daher grund79 In Thüringen werden gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 SchulG TH Schulversuche ausschließlich an besonderen Versuchsschulen durchgeführt. 80 Dazu: Avenarius, in: Avenarius/Füssel, Schulrecht, S. 140 mit Angabe aller einschlägigen schulgesetzlichen Bestimmungen. 81 Ebenfalls dazu: Avenarius, ebenda, S. 141. So ist in § 23 Abs. 3 SchulG BW ausdrücklich normiert, dass die Schule als untere Sonderbehörde im Sinne des badenwürttembergischen Landesverwaltungsgesetzes gilt, soweit sie auf dem Gebiet der inneren Schulangelegenheiten einen Verwaltungsakt erlässt. Auch nach den Schulgesetzen anderer Bundesländer (z.B. § 52 Abs. 2 Satz 1 SchulG MV, § 2 Abs. 2 Satz 4 SchulG SH) gelten sie insoweit als untere bzw. unterste Landesbehörden.
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sätzlich eine rein verwaltungsinterne Anordnung des Ministeriums im Rahmen der schulischen Fachaufsicht, also mangels unmittelbarer Rechtswirkung nach außen damit kein Verwaltungsakt.82 Nach dieser Sichtweise kann schulgesetzlich – wie in Hessen und dem Saarland – auch auf eine Antragstellung verzichtet werden; in beiden Ländern können Schulversuche an bestehenden Schulen auch ohne Antrag der Schule durchgeführt, also fachaufsichtlich angeordnet werden. Der Genehmigung von Schulversuchen im Bereich der inneren Schulangelegenheiten wird allerdings auch nach dieser Rechtsauffassung eine Verwaltungsaktqualität beigemessen, sofern auf das Rechtsverhältnis der Eltern und Schüler zur Schule unmittelbar rechtsfolgebegründend eingewirkt wird,83 etwa bei Änderungen von Versetzungsbestimmungen oder Zulassung neuer Bildungswege. b) Antragsrecht des Schulträgers in Nordrhein-Westfalen Die Schulversuchsvorschrift des § 25 SchulG NRW enthält – abgesehen von der Experimentierklausel des dritten Absatzes – keine Regelung zur Antragsbefugnis. Es gelten aber, wie bereits aufgezeigt, unmittelbar oder jedenfalls analog die allgemeinen Vorschriften über die Errichtung und Änderung von Schulen (§ 81 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW). Hieraus folgt jedenfalls für die Errichtung von Versuchsschulen – vergleichbar der Rechtslage in Baden-Württemberg – zwingend eine alleinige Antragskompetenz des Schulträgers. Aber auch für einfache Schulversuche an bestehenden Schulen gibt es eine Antragsbefugnis des Schulträgers. Denn zur Änderung von Schulen gehört nach der schulgesetzlichen Legaldefinition in Nordrhein-Westfalen auch deren Aus- und Abbau (§ 81 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW). Darunter fallen alle organisatorischen, die Struktur der Schule verändernden Schulversuche, allerdings nicht Schulverfassungsversuche oder sonstige, den innerdienstlichen Schulbetrieb betreffenden, mit keinen Mehrkosten für den Schulträger verbundenen oder dessen Interessen irgendwie tangierenden Versuche. Fraglich könnte sein, ob auch jegliche Schulversuche im pädagogischen, insbesondere curricularen Bereich zum Aus- und Abbau von Schulen zählen. Es wird die Auffassung ver82 BVerwG, Beschl. v. 17.12.1975 – VII B 51/75, NJW 1976, 864. Ähnlich die Vorinstanz: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 19.11.1974 – IX 146/74, DVBl. 1975, 438 (439); sowie im Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 10.04.1974 – IX 162/74, DÖV 1974, 858 (859). Unter Berufung hie rauf auch die Schulgesetzkommentare: Weber, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 1.2; Bosse/Reip, Schulrecht Baden-Württemberg, § 22 SchulG Anm., Woltering/Bräth, Niedersächsisches Schulgesetz, § 22 SchulG Rn. 4; Holfelder/Bosse/ Benda/Runck, Sächsisches Schulgesetz, § 15 SchulG Anm.; Niebes/Becher/Pollmann, Schulgesetz im Freistaat Sachsen, § 15 SchulG Rn. 2. 83 Siehe ebenda.
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treten, dass solche Versuche im Regelfall darunter zu subsumieren sind, außer wenn die an der Schule zu erwerbenden Abschlüsse nicht tangiert werden und auch keine Auswirkungen auf äußere Schulangelegenheiten zu besorgen sind.84 Solche Auswirkungen sind freilich immer dann zu bejahen, wenn aufgrund des Schulversuchs das reguläre Bildungsgangangebot an einer Schule nicht mehr in vollem Umfang besteht. Aufgrund des für die Teilnahme an Schulversuchen geltenden Prinzips der Freiwilligkeit hat dann die Kommune eine anderweitige Regel-Beschulung in zumutbarer Entfernung sicherzustellen. Nur wenn der Schulversuch ein additives Angebot darstellt, also das reguläre Schulformangebot an einer Schule ergänzt, ohne dieses zu beeinträchtigen, und keine Mehrbelastungen für den Schulträger anfallen, kann man vertreten, dass keine Auswirkungen auf die äußeren Schulangelegenheiten gegeben sind. Doch auch wenn ein Schulversuch an bestehenden Schulen nur additiv durchgeführt wird, wie etwa in Nordrhein-Westfalen der Schulversuch Islamkunde oder der früheren Schulversuche zum Bilingualen Unterricht in der Gesamtschule oder der Realschule, hat – obwohl in diesen Beispielsfällen nicht erfolgt – eine Antragstellung durch den Schulträger zu erfolgen oder bedarf jedenfalls ein Antrag der Schule des Einvernehmens mit dem Schulträger. Die Entscheidungskompetenz der Schulträger selbst für die Beantragung lediglich ergänzender, das Regelangebot nicht tangierender pädagogischer Versuche folgt in Nordrhein-Westfalen aus dem hier detailliert normierten Erfordernis der Schulentwicklungsplanung. Diese zielt auf die Sicherung eines gleichmäßigen und umfassenden Bildungsangebots (§ 80 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW); die Schulträger sind gehalten, auf ein regional ausgewogenes, differenziertes Angebot zu achten (§ 80 Abs. 2 SchulG NRW). Durch pädagogische Versuche jeglicher Form entstehen Veränderungen des Bildungsangebots, die wiederum das Schulwahlverhalten beeinflussen. Die Schulträger können, da ein umfassendes und attraktives schulisches Angebot einen bedeutsamen Standortfaktor darstellt, ein berechtigtes Interesse daran geltend machen, dass Abweichungen von der Regelschulform bzw. zusätzliche pädagogische Versuchsangebote nicht an ihnen vorbei auf der internen fachaufsichtlichen Schiene zwischen Schule und Schulaufsicht abgestimmt werden. Auch wenn dies in der Vergangenheit vielfach Praxis in Nordrhein-Westfalen war und in anderen Ländern die Schulgesetze solches sogar explizit vorsehen, kann hier spätestens nach der nochmaligen Schärfung der Bestimmungen über die Schulentwicklungsplanung durch die Schulgesetznovelle von 2011 der Schulträger nicht mehr außen vor bleiben. Die frühere klare 84 So in der Kommentierung des früheren § 15 Satz 2 Ziff. 9 SchMG NRW, dem Vorläufer des heutigen § 76 Satz 3 Ziff. 9 SchulG NRW: Gampe/Knapp/Margies/Rieger, Schulmitwirkung und Schulorganisation NRW, I/15 Nr. 9, S. 301. – Ohne Begründung nimmt hingegen für NRW eine Antragsberechtigung nicht nur des Schulträgers, sondern auch uneingeschränkt der Schule selbst an: Weber, in: Jehkul u.a, Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 4.
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Trennung zwischen inneren und äußeren Schulangelegenheiten besteht in Nordrhein-Westfalen nicht mehr. Wenn Schulversuche Auswirkungen auf das Schulwesen in einer Kommune oder benachbarter Schulträger haben, so ist dies bei der Schulentwicklungsplanung zu berücksichtigen. Dies kann ein kommunaler Schulträger aber nur dann verantwortungsvoll, wenn die Einleitung des Schulversuchs mit seinem Einverständnis erfolgt. Schließlich kann im Umkehrschluss die in der Experimentierklausel des § 25 Abs. 3 SchulG NRW ausdrücklich geregelte Antragsbefugnis der Schulen als Beleg dafür angesehen werden, dass eine derartige Befugnis einer besonderen rechtlichen Begründung bedarf. Das außerdem vorgesehene Erfordernis einer Kooperationsvereinbarung mit dem Schulträger belegt zudem, dass Schulversuche nicht ohne Zustimmung des Schulträgers initiiert werden sollen. Da nach alledem in Nordrhein-Westfalen Schulversuche im Regelfall vom Schulträger – und nicht von der Schule – zu beantragen sind, handelt es sich bei der Genehmigung jedenfalls in diesem Bundesland in der Regel um einen Verwaltungsakt. Eine Ausnahme kann für Schulverfassungsversuche und solche rein schulorganisatorische Versuche gelten, in denen keinerlei Interessen eines Schulträgers tangiert sind. Sofern der betreffenden Schule die Genehmigung eines solchen Schulversuchs erteilt wird, ist dies auch in Nordrhein-Westfalen ein innerdienstlicher Akt der schulischen Fachaufsicht. Die Antragsbefugnis für die Teilnahme von Ersatzschulen an Schulversuchen kann schon deshalb nur bei deren privaten Schulträgern liegen, da diese Schulen Ausdruck des spezifischen Gestaltungswillens ihrer Träger85 sind und daher ihr pädagogisches Profil nicht eigenständig verändern können. Der private Schulträger hat eine Entscheidungskompetenz nicht nur – wie ein öffentlicher Schulträger – in den äußeren, sondern überdies auch in allen inneren Schulangelegenheiten. c) Beteiligung der Schule, der Nachbarkommunen und sonstiger Einzubeziehender Ein öffentlicher Schulträger hat, bevor er einen Versuchsantrag stellt, die Schule, an der die Durchführung des Schulversuchs beabsichtigt ist, rechtzeitig zu beteiligen. Die „Teilnahme an Schulversuchen“ gehört nach § 76 Satz 3 Ziff. 9 SchulG NRW zu den dort aufgezählten bedeutsamen schulischen Angelegenheiten, die in Nordrhein-Westfalen generell einer Beteiligungspflicht der betroffenen Schule unterliegen. Darunter fallen einfache Schulversuche sowie die Umwandlung von bestehenden Schulen zu Versuchsschulen. Bei der Neuerrichtung von Versuchsschulen ist logischerweise mangels Existenz der Schule 85 So
treffend: Avenarius, in: Avenarius/Füssel, Schulrecht, S. 288.
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noch keine vorherige Beteiligung möglich. Werden bestehende Schulen zugunsten der Errichtung einer Versuchsschule aufgelöst, so ergibt sich deren Beteiligungsnotwendigkeit aus § 76 Satz 3 Ziff. 1 SchulG NRW („Auflösung von Schulen“) . Erforderlich sind nach der Mitwirkungsregelung des § 76 SchulG NRW nur eine Anhörung der Schule und deren Einbeziehung in die Willensbildung des Schulträgers. Es bedarf keines Einvernehmens zwischen Schulträger und Schule.86 In der Praxis ist allerdings im Interesse einer gelingenden, ertragreichen Durchführung des Versuchs ein Konsens anzustreben. Die Schule wird im Regelfall zu einer schriftlichen Stellungnahme aufgefordert, möglich ist aber auch eine Anhörung in den Gremien des Schulträgers (insbesondere Schulausschuss oder Rat einer Kommune). Ein ohne Beteiligung der betroffenen Schule gestellter Versuchsantrag ist nicht genehmigungsfähig. Die inhaltliche Positionierung der Schule erfolgt gemäß § 65 Abs. 2 Ziff. 22 SchulG NRW durch die Schulkonferenz. Die Schulleitung hat deren entsprechenden Beschluss gegenüber dem Schulträger zu vertreten (§ 59 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 1, Abs. 2 und 10 SchulG NRW). Innerhalb der Schule sind vor der Beschlussfassung der Schulkonferenz auch die anderen schulischen Mitwirkungsgremien einzubeziehen, also Lehrerkonferenz (§ 68 Abs. 2 SchulG NRW), Schulpflegschaft (§ 72 Abs. 2 Satz 1–3 SchulG NRW) und Schülervertretung (§ 74 Abs. 1 und 3 Satz 1 SchulG NRW). Die Teilnahme an Schulversuchen gehört zu den ebenfalls einer innerschulischen Mitwirkung bedürftigen „wichtigen Angelegenheiten“ einer Schule, zu denen diese Gremien nach den angeführten Bestimmungen nicht nur Stellungnahmen, sondern auch Anträge an die Schulkonferenz stellen können. Die Beschlüsse in den Mitwirkungsgremien werden mit einfacher Stimmenmehrheit gefasst (§ 63 Abs. 4 Satz 1 SchulG NRW).87 Geht die Initiative zur Durchführung eines Schulversuchs von der Schule aus, hat diese nach der hier vertretenen Auffassung das Anliegen an den Schulträger heranzutragen und ihn um eine Antragstellung zu ersuchen. Nur wenn ein Ein86 Unterbleibt
eine rechtzeitige Anhörung kann eine Schule wegen der Verletzung ihres Beteiligungsrechts nicht mit Erfolg den Rechtsweg beschreiten, weil die Schule aufgrund ihrer Rechtsform als nicht rechtsfähige Anstalt des Schulträgers im Verhältnis zu diesem keine eigenen Rechte geltend machen kann. So zutreffend: Ulrich Pfaff, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch, Art. 76 Rn. 6, unter Hinweis auf: OVG NRW, Beschl. v. 15.08.1988 – 19 B 2168/88. 87 In Hamburg ist generell ein Versuchsantrag der Schule durch die Schulkonferenz mit Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden Mitglieder zu beschließen (§ 53 Abs. 2 Nr. 1 SchulG HH). Einer qualifizierten Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder der Schulkonferenz bedarf es mitunter für Schulversuche, in denen abweichende Formen der schulischen Mitwirkung erprobt werden sollen. So: § 97 SchulG BB; § 138 Abs. 5 SchulG SH.
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vernehmen mit dem Schulträger besteht, kann die Schulleitung – auch in Vollmacht als Anstalt des Schulträgers handelnd – allenfalls selbst einen Versuchsantrag stellen. Bei der Konzipierung von Schulversuchen und insbesondere von Versuchsschulen sind aufgrund der generellen Pflicht zur Rücksichtnahme auf benachbarte Schulträger mögliche nachteilige Auswirkungen auf deren Schulen zu ermitteln. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW i.V.m. § 81 Abs. 3 Satz 2 SchulG NRW sind benachbarte Schulträger, die durch die Planungen in ihren Rechten betroffen sein können, rechtzeitig vor Beantragung einer Versuchsteilnahme anzuhören. Zum Ausgleich dabei aufgetretener Konflikte ist – wie bereits dargetan – ein Moderationsverfahren durchzuführen, dessen Ergebnis festzuhalten ist (§ 80 Abs. 2 Satz 5–7 SchulG NRW). Auch die Träger von Ersatzschulen sind gemäß § 80 Abs. 7 SchulG NRW über eine Versuchsschulplanung zu informieren, wenn hierdurch eine von diesen getragene benachbarte Ersatzschule betroffen ist. Dabei gilt das Rücksichtnahmegebot unter den bereits aufgezeigten Bedingungen ebenso gegenüber den Ersatzschulträgern. Umgekehrt haben auch Ersatzschulträger, wenn sie einen Schulversuch beabsichtigen, einen hiervon betroffenen Träger öffentlicher Schulen zu informieren. Eine Beteiligungsnotwendigkeit bei Schulversuchen besteht schließlich auch auf der Ebene des Ministeriums. Nach § 77 SchulG NRW beteiligt das Schul ministerium in schulischen Angelegenheiten von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung die auf Landesebene organisierten, am Schulleben interessierten Verbände und Organisationen. Anzuhören sind die Lehrer- und Elternverbände, die Landesschülervertretung, die Schulleitervereinigungen, die Landesvereinigungen von Handel, Industrie und Handwerk sowie der Arbeitgeberverbände, die Kirchen, die Zusammenschlüsse der Ersatzschulträger, die kommunalen Spitzenverbände und die Zusammenschlüsse der Träger der freien Jugendpflege. Die Beteiligung erstreckt sich auf Versuchsprogramme, die durch das Schulministerium zentral geplant werden, aber auch auf Schulversuche an einzelnen Schulen, wenn diese von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung sind. Allerdings erstreckt sich die Beteiligung nicht auf die konkrete Genehmigung durch das Schulministerium.88 In den anderen Ländern sind im Vorfeld von Schulversuchen auf Landesebene zumeist institutionalisierte Beratungsgremien zu beteiligen, zum einen sogenannte Landesschulbeiräte, in denen die am Schulleben interessierten Verbände und Organisationen vertreten sind (siehe etwa §§ 99, 99a SchulG HE), und
88 Ähnlich:
Weber, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 2.4.
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zum anderen Landesschülerräte und Landeselternräte (siehe etwa §§ 91 Abs. 5 Satz 3 Ziff. 6, 92 Abs. 6 SchulG MV).89 Einzubeziehen in die Durchführung von Schulversuchen sind zudem die Personalvertretungen. Soweit mit einem Schulversuch insbesondere neue Formen oder Änderungen der Arbeitsorganisation der Lehrkräfte und des sonstigen pädagogischen Schulpersonals sowie Änderungen deren Arbeitszeiten verbunden sind, handelt es sich um Entscheidungen, die der Zustimmung der Lehrerpersonalräte bedürfen (vgl. § 72 Abs. 3 Ziff. 4, Abs. 4 Ziff. 1 und 21 LPVG NRW).90 Außerdem sind die Errichtung von Versuchsschulen sowie damit verbundene Auflösungen und Zusammenlegungen von bestehenden Schulen in NordrheinWestfalen, aber auch in anderen Ländern Tatbestände, an denen die Personalräte mitwirken, d.h. die beabsichtigte Maßnahme ist durch die Schulaufsichtsbehörden vor der Durchführung mit dem Ziel einer Verständigung rechtzeitig und eingehend mit diesen zu erörtern (§§ 69, 73 Ziff. 3 LPVG NRW).91 Mitbestimmungspflichtig ist insoweit nicht der Schulträgerbeschluss mit der Konsequenz, dass die – das pädagogische Personal nicht repräsentierende – Personalvertretung der Kommunalverwaltung zu beteiligen wäre, sondern wegen der Besonderheit des Schulbereichs die Genehmigung der Schulaufsichtsbehörde zu dem Schulträgerbeschluss.92 Hinsichtlich der Organisation der Personalvertretungen, die in NordrheinWestfalen nach Schulformen getrennt als örtliche, Bezirks- und Hauptpersonalräte gebildet werden, sieht das dortige Landespersonalvertretungsgesetz noch eine Besonderheit für Versuchsschulen vor. Schulformübergreifende Versuchsschulen können gemäß § 92 Satz 3 LPVG NRW als besondere Schulform behandelt werden, wenn sie voraussichtlich länger als die Wahlperiode der Personalvertretungen bestehen werden. 89 Allerdings explizit in Mecklenburg-Vorpommern nur vor dem Erlass allgemeiner Bestimmungen über die Durchführung von Schulversuchen, also nicht zu einzelnen Versuchen selbst. 90 Personalvertretungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (Landespersonal vertretungsgesetz – LPVG) v. 03.12.1974 (GV. NRW S. 1514) i.d.F. v. 31.01.2012 (GV. NRW S. 90). 91 Bei Schulen handelt es sich um „wesentliche Teile“ von Dienststellen i.S.d. § 73 Ziff. 3 LPVG NRW. 92 Dazu grundlegend: BVerwG, Beschl. v. 24.02.2006 – BVerwG 6 P 4.05, PersV 2006, 217-220. Zur Rechtslage in Sachsen heißt es im Leitsatz der Entscheidung, dass die Zustimmung des Kultusministeriums zur Aufhebung einer Schule personalvertretungsrechtlich der Aufhebung einer Dienststelle gleichsteht und der Mitwirkung des beim Kultusministerium gebildeten Lehrerhauptpersonalrats bedarf. In Sachsen sind – im Gegensatz zu Nordrhein-Westfalen – die Schulen selbst Dienststellen i.S.d. Personalvertretungsgesetzes, was aber in der vorliegenden Frage keinen entscheidenden Unterschied macht.
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Generell empfiehlt sich unabhängig von konkreten Mitbestimmungstatbeständen eine Information und Einbindung der Vertretung des von Versuchsmaßnahmen betroffenen Schulpersonals im Wege der vertrauensvollen Zusammenarbeit gemäß § 2 Abs. 1 LPVG NRW. In Nordrhein-Westfalen besteht zudem noch die Besonderheit, dass gemäß § 69 SchulG NRW i.V.m. § 85 Abs. 2 Satz 2 LPVG NRW ein von der Lehrerkonferenz der jeweiligen Schule gewählter Lehrerrat in bestimmten Angelegenheiten an die Stelle der bei den Schulaufsichtsbehörden als Dienststellen zu bildenden Personalvertretungen tritt. Dieser Lehrerrat berät die Schulleitung in Vollmacht als Anstalt des Schulträgers in dienstlichen Angelegenheiten der Lehrkräfte und sollte deshalb ebenfalls frühzeitig und umfassend vor Ort bei der Planung und Durchführung von Schulversuchen eingebunden werden. Schließlich bedarf es vor der Genehmigung eines Schulversuchs unter Umständen einer Beteiligung der Kultusministerkonferenz entsprechend den zwischen den Ländern für Schulversuche vereinbarten Regularien,93 worauf nachfolgend noch einmal im Hinblick auf die Notwendigkeit einer bundesweiten Anerkennung der in Schulversuchen erreichten Abschlüsse einzugehen ist. 7. Möglichkeit von Schulversuchen in Ersatzschulen Schulversuche können nicht nur in allen öffentlichen Schulen gleich welcher Schulform durchgeführt werden, sondern auch, wie in Nordrhein-Westfalen durch § 25 Abs. 5 SchulG NRW klargestellt ist, in privaten Ersatzschulen.94 Allerdings verfügen Ersatzschulen, wie bereits bezüglich der Waldorfschulen und Landerziehungsheime erwähnt, über einen gegenüber öffentlichen Schulen erheblich weiter reichenden Freiraum zur eigenen Gestaltung, weshalb sie bei der Erprobung schulischer Neuerungen nicht in demselben Maß auf die Schulversuchsklausel angewiesen sind. Für Ersatzschulen gelten in Nordrhein-West falen die schulgesetzlichen Vorschriften nur, wenn dies ausdrücklich bestimmt ist oder die Gleichwertigkeit mit den öffentlichen Schulen es erfordert (§§ 6 Abs. 2, 100 Abs. 3 SchulG NRW). Eine noch geringere Bindung besteht in Nordrhein-Westfalen für Ersatzschulen eigener Art wie den Waldorfschulen (§ 100 93 Dazu
oben Zweiter Teil Fünftes Kapitel III. ausdrückliche schulgesetzliche Bestimmung über die Möglichkeit von Schulversuchen an Schulen in freier Trägerschaft gibt es ansonsten nur noch in Brandenburg (§ 117 Abs. 3 SchulG BB) und Thüringen (§ 12 Abs. 5 SchulG TH). Doch können Schulversuche ebenfalls in den anderen Ländern auch ohne ausdrücklichen Anwendungsbefehl in deren Schulversuchsklauseln durchgeführt werden, soweit private Schulen als Ersatzschulen an bestimmte Regelungen für öffentliche Schulen schulgesetzlich gebunden sind. Einer Gleichbehandlung bei den Verpflichtungen muss eine solche bei der versuchsweisen Abweichung hiervon entsprechen. 94 Eine
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Abs. 6 SchulG NRW). Soweit der schulgesetzlich eröffnete eigene Gestaltungsspielraum der Ersatzschulen reicht, bedarf es zur Erprobung von Neuerungen keines Schulversuchs oder eines Versuchsschulstatus.95 Reicht umgekehrt der schon vorhandene Freiraum nicht aus, muss auch der Ersatzschulträger hierfür eine ministerielle Versuchsgenehmigung nach den Absätzen 1, 2 und 4 des § 25 SchulG NRW beantragen. Die Experimentierklausel des dritten Absatzes findet indes keine Anwendung, weil Ersatzschulen von ihrem allgemeinen Rechtsstatus her bereits typischerweise die durch diese Klausel ermöglichte größere Selbstständigkeit und Eigenverantwortung besitzen. Gerade die Freiräume, die Schulen in freier Trägerschaft insoweit besitzen, finden in jüngster Zeit – in Nordrhein-Westfalen eben auch über die Experimentierklausel – verstärkt Eingang in das öffentliche Schulwesen. Es sind heute im Gegensatz zur Weimarer Zeit und den Anfängen der Bundesrepublik nicht mehr in erster Linie die pädagogischen, sondern genauso die organisatorischen Konzepte von privaten Schulen, die als Modell für Innovationen im öffentlichen Schulwesen dienen. Die hiervon ausgehende Angleichung erleichtert im Übrigen auch die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Schulen und Schulen in freier Trägerschaft, die nach dem nordrhein-westfälischen Schulgesetz (§ 4 Abs. 1) ausdrücklich als gewünscht angesehen wird.96 Kontrovers diskutiert man allerdings im Schrifttum, ob bei der Genehmigung einer neuen privaten Ersatzschule die Auswirkungen auf das öffentliche Schulwesen zu berücksichtigen sind, sofern eine Bestandsgefährdung benachbarter öffentlicher Schulen droht, womit sich diese Frage auch bei Versuchsschulen stellt. Nach einer Ansicht ist eine Versagung der Genehmigung von privaten Ersatzschulen begründet mit der Bestandsgefährdung öffentlicher Schulen verfassungswidrig. Der Verfassungsgeber habe die Genehmigungsvoraussetzungen in Art. 7 Abs. 4 Satz 3, 4 GG – mit zusätzlichen einengenden Voraussetzungen für private Volksschulen in Art. 7 Abs. 5 GG – abschließend normiert. Als grundgesetzliche lex specialis würden diese Art. 7 Abs. 1 GG, wonach das gesamte Schulwesen und damit auch private Schulen der Aufsicht des Staates unter stehen, verdrängen. Die abschließend formulierten grundgesetzlichen Genehmigungsvoraussetzungen könnten somit weder durch den Landesgesetzgeber noch durch die Schulverwaltung erweitert werden. Solle die Gefährdung der Existenz öffentlicher Schulen in Zukunft im Genehmigungsverfahren eine Rolle spie95 Dazu
bereits Dritter Teil Erstes Kapitel IV. Außerdem: Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG Rn. 15 f. Nach seiner Einschätzung schöpfen die Ersatzschulen ihre Freiräume („gleichwertig“) oft nicht aus, weil sie den öffentlichen Schulen möglichst gleich sein wollen. 96 Dazu: Thomas Langer, In Richtung mehr Freiheit? Das neue Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen, in: Recht und Bildung. Gebietsheft Nordrhein-Westfalen, 1/2008, S. 4 f.
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len, ginge dies nur durch eine Änderung des Grundgesetzes.97 Eine gegenteilige Ansicht lautet, die Genehmigung einer Ersatzschule sei „dann zu versagen, wenn aufgrund der Errichtung dieser Schule öffentlichen Schulen wegen Unterschreitens der gesetzlich bestimmten Mindestgröße geschlossen werden müssten, wenn für die dadurch betroffenen Schüler unzumutbar lange Schulwege zu anderen öffentlichen Schulen entstünden und wenn deshalb der Anspruch der Schüler und Eltern auf ein Angebot an öffentlichen Schulen in erreichbarer Nähe sich nicht mehr verwirklichen ließe“.98 Zur weiteren Begründung verweist diese Gegenposition darauf, dass der Staat dafür Sorge zu tragen habe, dass aus Sicht jedes Schülers eine öffentliche Schule in erreichbarer Nähe vorhanden sei. Der Staat könne sie nicht auf eine private Schule verweisen.99 Der Meinungsstreit bedarf vorliegend keiner vertieften Erörterung, weil dieser die Genehmigung von „Regel“-Ersatzschulen betrifft, also solchen, die im Wesentlichen den Bildungsgängen und Abschlüssen öffentlicher Schulen entsprechen. Ein grundgesetzlicher Genehmigungsanspruch aus Art. 7 Abs. 4 und 5 GG kann nach dessen eindeutigem Wortlaut nur für jene bestehen. Bei Versuchsschulen ist eine Gleichwertigkeit aber per definitionem nicht gegeben; auf die Genehmigung von Versuchsschulen gibt es also auch im Privatschulbereich keinen Anspruch. Wenn die Errichtung einer Versuchsschule in freier Trägerschaft benachbarte öffentliche Schulen gefährden würde, kann und muss sogar das Ministerium als Genehmigungsbehörde dies im Rahmen seines bei Schulversuchen weiten Genehmigungsermessens berücksichtigen. Bei privaten Versuchsschulen gilt erst recht dasselbe wie für Versuchsschulen in öffentlicher 97 So: Bodo Pieroth/Tristan Barczak, Die Freien Schulen in der Standortkonkurrenz. Die Verfassungswidrigkeit der Versagung der Genehmigung von privaten Ersatzschulen bei Bestandsgefährdung von öffentlichen Schulen. Rechtsgutachten für DAMUSDONATA e.V., Münster 2011 (Online verfügbar: http://institut-ifbb.de/resources/ Gutachten_Pieroth_Privatschule_Endfassung+netzversion.pdf), S. 54 ff., 78, 91 f. – Diese Ansicht stützt sich auf die ganz herrschende Auffassung, wonach ein grundgesetzlich gebundener Anspruch auf die Erteilung der Genehmigung einer Ersatzschule bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 Satz 3 und 4, Abs. 5 GG besteht. Siehe: BVerfGE 27, 195 (200); BVerwGE 17, 236 (237); Badura, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 7 Rn. 111; Rolf Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., München 2004, Art. 7 Rn. 102; J estaedt, Schule und außerschulische Erziehung, § 156 Rn. 54 f.; Niehues/Rux, Schul- und Prüfungsrecht, Rn. 952. 98 Zitat: Hermann Avenarius, Die Herausforderung des öffentlichen Schulwesens durch private Schulen. Aktuelle Rechtsfragen in einer angespannten Beziehung. Rechtsgutachten im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung, hrsg. von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2011, S. 30. Ebenso: Klaus-Detlef Hanßen, Rechtliche Fragen der Genehmigung von Privatschulen in den neuen Ländern, in: RdJB 2009, S. 346. 99 Siehe: Avenarius, ebenda, S. 27 ff.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Trägerschaft: Ein bestehendes Regelschulangebot kann, sofern es bisher für eine geordnete Schulversorgung notwendig war und eine große Zahl von Eltern dieses auch weiterhin für ihre Kinder nachfragt, nicht für ein zeitlich befristetes Versuchsschul-Experiment mit unklarem Ausgang zur Disposition gestellt werden.100
II. Rechtsfolgenseite der Schulversuchsgenehmigung 1. Genehmigungsermessen für schulrechtliche Abweichungen Die Genehmigung schulgesetzlicher Abweichungen steht in allen Ländern als „Kann“-Bestimmung im Ermessen der Schul- oder Kultusministerien. Die Richtung der Ermessensausübung ist nur dahingehend gesetzlich vorgezeichnet, dass maßgebliche gesetzgeberische Intention der Versuchsermächtigung die Weiterentwicklung des Schulwesens ist. Die Schulbehörden haben nach § 40 VwVfG NRW ihr Ermessen entsprechend diesem allgemein umschriebenen Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Mangels weiterer Vorgaben lässt sich daraus allerdings als Richtschnur weder eine versuchsfreudige noch zurückhaltende Ermessenspraxis ableiten. Da die gesetzliche Zielvorstellung allein auf die schulpolitische Innovation gerichtet ist und damit ausschließlich dieses öffentliche Interesse verfolgt wird, steht die Versuchsgenehmigung im weiten planerischen Ermessen der Schulverwaltung.101 Eine Versuchsgenehmigung scheidet allerdings bereits auf der Tatbestands ebene aus, wenn generell schon kein Reformbedarf vorliegt bzw. die konkrete Reformeignung eines beantragten Versuchsvorhabens ausscheidet oder kein Erprobungsbedarf festzustellen ist. Für eine Ermessensausübung verbleibt damit nur die Situation, dass zwar ein Reform- und Erprobungsbedarf besteht, das Ministerium aber trotzdem aufgrund bestimmter Erwägungen zum Ergebnis kommen kann, von einer Versuchsgenehmigung Abstand zu nehmen. Unter Beachtung der gesetzgeberischen Intention, mögliche Reformschritte im Regelsystem vorher in überschaubaren Zusammenhängen zu erproben, können nachfolgende Gesichtspunkte einer Genehmigung entgegenstehen: ● Fehlende personelle und sächliche Voraussetzungen an der Schule: Kann die Schulaufsicht nicht sicherstellen, dass genügend fachlich geeignete Lehr100 Dazu
schon eingehend Dritter Teil Zweites Kapitel I. 5. b) bb). Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25 SchulG Rn. 13; Weber, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 4; Margies/Roeser, Schulverwaltungsgesetz, § 4b SchVG Rn. 8. 101 Vgl.:
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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kräfte zur Durchführung des Versuchs an der konkreten Schule zur Verfügung stehen oder der Schulträger nicht für die notwendigen räumlichen oder schulorganisatorischen Verhältnisse sorgt, tangiert dies die Erfolgswahrscheinlichkeit des Versuchs und die Bildungsinteressen der betroffenen Schüler. Eine Versuchsgenehmigung wäre insoweit sogar ermessensfehlerhaft. ● Allgemein fehlende Haushaltsmittel zur Durchführung des Versuchs: Für Versuchsschulen ergibt sich – wie bereits dargestellt – aus § 81 Abs. 3 Satz 3 SchulG NRW ein Genehmigungshindernis, wenn dem Schulträger die erforderliche Verwaltungs- oder Finanzkraft fehlt. Aber auch bei Schulversuchen an bestehenden Schulen handelt es sich bei der Frage, welche finanziellen Auswirkungen die Durchführung eines Schulversuchs hat und ob dafür ausreichend Haushaltsmittel zur Verfügung stehen, um sachgerechte Kriterien, die die Behörde in ihre Ermessenserwägungen einstellen darf.102 Obiges gilt – nicht zuletzt im Hinblick auf die staatliche Refinanzierung – auch bei Schulen in privater Trägerschaft.103 ● Fehlende wissenschaftliche oder schulaufsichtliche Begleitung: Auch in Ländern, in denen wie in Nordrhein-Westfalen eine wissenschaftliche Begleitung nicht vorgeschrieben ist, kann das Ministerium es als abträglich berücksichtigen, wenn keine geeignete oder interessierte Wissenschaftler gewonnen oder mangels haushaltsrechtlicher Spielräume Evaluationsmaßnahmen nicht finanziert werden können. Es ist ein sachgerechter Gesichtspunkt, dass ohne eine wissenschaftliche Auswertung eine fundierte Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg eines Versuchs nicht möglich ist. Ebenso ist es ein zulässiger Ablehnungsgrund, wenn die zuständige Schulaufsicht insbesondere mangels personeller Ressourcen nicht in der Lage ist, den Schulversuch optimal schulaufsichtlich zu begleiten und zu unterstützen. Denn dies beeinträchtigt – vergleichbar einer fehlenden Versuchsausstattung an der betroffenen Schule – die Erfolgswahrscheinlichkeit des Versuchs. Allerdings eröffnet § 89 Abs. 2 SchulG NRW dem Ministerium die Möglichkeit, die schulaufsichtlichen Zuständigkeiten für Schulversuche und Versuchsschulen durch Rechtsverordnung abweichend zu regeln, insbesondere auch auf das Ministerium zu verlagern. Von dieser Ermächtigung, die vergleichbar auch in anderen Landesschulgesetzen existiert, wird aktuell in Nordrhein-Westfalen kein Gebrauch gemacht.
102 So explizit: VG Berlin, Urt. v. 01.04.2009 – 3 A 263.07, juris Rn. 39. Siehe auch: Niebes/Becher/Pollmann, Schulgesetz im Freistaat Sachsen, § 15 SchulG Rn. 4, wonach die Finanzierbarkeit des Schulversuchs für die beantragte Dauer gesichert sein muss. 103 Dazu ebenfalls: VG Berlin, ebenda.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
● Ablehnung oder erhebliche Vorbehalte gegen den Versuch bei Eltern, Schülern oder Lehrkräften der Schule: Die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Schulversuchs ist ebenfalls von vornherein ganz oder partiell in Frage gestellt, wenn kein versuchsförderliches Klima an der Schule besteht. Lehnen gewichtige Teile der Schulgemeinde bei den schulinternen Beratungen oder sogar die gesamte Schulgemeinschaft im Rahmen der notwendigen Beteiligung der Schule durch den Schulträger (z.B. gemäß § 76 Satz 3 Nr. 9 SchulG NRW) die Versuchsteilnahme ab, kann und sollte dies im letzteren Fall, wenn nicht völlig sachwidrige Argumente vorgebracht werden, regelmäßig ein Grund sein, die Genehmigung zu verweigern. ● Keine Verunsicherung oder Atomisierung des Schulsystems durch eine Vielzahl von Versuchen: Eine Schulverwaltung kann auch berücksichtigen, dass eine generelle öffentliche Stimmung gegen Experimente und Ausnahmen im Schulsystem besteht, weil diese eine hier oftmals beklagte Unübersichtlichkeit weiter erhöhen. Gleichfalls kann ein Schulministerium oder die Schulpolitik eines Landes der grundsätzlichen Auffassung sein, es müsse „mehr Ruhe ins System“ gebracht werden. Grund können etwa vorangegangene umfassende schulgesetzliche Novellierungen sein, die erst einmal umgesetzt werden müssen, oder zurückliegende umfängliche Versuchsprogramme, die erhebliche Ressourcen und Lehrerengagement gebunden haben. Aus der neueren Bildungsgeschichte sind diesbezüglich die Versuchseindämmungen der Landesregierung Hessens Ende der 1980er Jahre zu nennen oder aus früherer Zeit die auch schon in Preußen immer wieder wellenartig aufkommende Kritik an zu vielen Schulexperimenten, die 1914 den damaligen Kultusminister Trott zu Solz zu der Anweisung veranlasste, keine Experimente mehr zuzulassen. ● Verweis auf vergleichbare Schulversuche in anderen Ländern: Schulversuche können sich aus Sicht der Schulverwaltung erübrigen, weil bereits ausreichend experimentelle Erfahrungen in anderen Ländern gesammelt worden sind, wobei es dann nach Ansicht des OVG Nordrhein-Westfalen schon am Erprobungsbedarf als Tatbestandsvoraussetzung fehlt. Aber auch wenn gleichgelagerte Schulversuche in anderen Ländern noch laufen oder angekündigt sind, ist es angesichts des mit Schulversuchen verbundenen Aufwands und auch deren Ausnahmecharakter eine legitime Erwägung, erst die Ergebnisse jener Schulversuche abzuwarten. ● Umsetzung eines Reformbedarfs ohne vorgeschaltete Erprobung: Die meisten schulgesetzlichen Änderungen erfolgen, ohne dass dem eine Erprobung vorausgegangen ist. Selbst wenn die Schulverwaltung eine solche für richtig ansieht und einen Erprobungsbedarf bejaht, ist sie nicht der Gesetzgeber. Dieser kann aus den unterschiedlichsten Gründen (Umsetzung einer Koalitionsvereinbarung, bevorstehendes Ende einer Legislaturperiode, sonstige
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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politische Gründe, andere Einschätzung zur Notwendigkeit einer vorherigen Erprobung) der Auffassung sein, dass eine sofortige gesetzliche Änderung erforderlich ist. In Kenntnis dieser Haltung wäre es wenig sachgerecht, wenn ein Schulministerium trotz einer bevorstehenden oder bereits laufenden Gesetzesinitiative einschlägige Schulversuche genehmigen würde. ● Kein Konterkarieren gesetzgeberischer Neuerungen oder Leitentscheidungen: Ein Ministerium kann auch auf eine soeben erst beschlossene schulgesetzliche Neuerung verweisen, die aus grundsätzlichen Erwägungen und aus Respekt vor dem Parlament nicht sofort wieder erneut problematisiert werden soll (unbeschadet dessen, ob das Ministerium in der Sache durchaus einen weiteren Reform- wie Erprobungsbedarf sieht). Schließlich ist es eine genauso sachgerechte Erwägung, als Exekutive nicht ohne parlamentarische Rückkopplung erkennbare Leitentscheidungen des Parlaments durch die Genehmigung von Schulversuchen in Frage zu stellen oder sogar zu unterlaufen.104 Nach alledem besteht grundsätzlich kein Rechtsanspruch auf eine beantragte Versuchsgenehmigung, sondern diese kann aus den genannten Gründen ermessensfehlerfrei abgelehnt werden. Allerdings kann auch eine Selbstbindung des Schulministeriums bezüglich der Genehmigung eintreten, wenn die Initiative zum Schulversuch nicht von unten, also den Schulträgern und Schulen ausgeht, sondern das Ministerium selbst ein Versuchsprogramm auf den Weg bringt. Wenn das Ministerium zur Beteiligung an einem von ihm konzipierten Schulversuch aufruft, muss es in der Auslobung sachgerechte Kriterien angeben, die sein Auswahlermessen über die Teilnahme am Schulversuch bei Vorliegen der Versuchsvoraussetzungen leiten werden. Da das Ministerium hier selbst vom Reformund Erprobungsbedarf ausgeht, kann es zwar nach erfolgter Ausschreibung einen Schulversuch noch gänzlich absagen, nicht aber völlig frei ohne erkennbare Entscheidungsmaßstäbe die Auswahl der teilnehmenden Schulen vornehmen. Eine Auswahl nach Gutdünken, Wohlverhalten oder parteipolitischer Opportunität entspricht nicht dem Zweck der Versuchsermächtigung. Zulässige Kriterien können hingegen z.B. sein: Zeitpunkt des Antragseingangs, Erfüllung bestimmter zusätzlicher Anforderungen etwa personeller oder ressourcenmäßiger Art, Bewertung ergänzender pädagogischer Konzepte, sozialräumliche Verteilung 104 In
diesem Sinne auch: Lambert, Schulversuch, SchVw BW 2010, S. 66, der sogar, insoweit zu weit gehend, anderenfalls von einem Verstoß gegen die Willensbildungsregeln der Verfassung spricht. – Im bereits erwähnten und später noch eingehender zu behandelnden Runderlass des Schulministeriums NRW „Mehr Freiräume für innovative schulische Vorhaben“ (Fn. 114) ist unter Ziff. 2.1 ausdrücklich eine solche Versuchssperre geregelt: „Bei der Durchführung des Entwicklungsvorhabens muss gewährleistet sein, dass grundlegende Leitentscheidungen des Schulgesetzes und der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen eingehalten werden …“.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
der Schulen, Empfehlungen eines unabhängigen Sachverständigengremiums (insbesondere zur pädagogischen Qualität eines Antrags). Die Antragsteller haben, wenn das Ministerium einen Versuch auslobt, einen Anspruch darauf, dass unter Beachtung der vorab festzulegenden Ermessenskriterien entschieden wird. Dies vermag sich sogar in Ausnahmefällen zu einem Anspruch auf positive Bescheidung verdichten. Das Ministerium kann im Übrigen – ohne einen entsprechenden Vorbehalt in der Auslobung – nicht nachträglich zusätzliche Kriterien für seine Ermessensausübung wie etwa den Zeitpunkt des Antragseingangs zur Entscheidungsgrundlage für sein Auswahlermessen erheben. Hier bleibt nach Ende des Antragsverfahrens nur eine vollständige Neueröffnung des Verfahrens.105 Soweit Verwaltungsvorschriften behördliches Handeln bei der Ausübung des ihnen gesetzlich eingeräumten Ermessens steuern, tritt aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes eine Selbstbindung der Verwaltung ein, und zwar gegenüber Schulträgern in freier Trägerschaft unmittelbar aufgrund Art. 3 Abs. 1 GG und gegenüber kommunalen Schulträgern als rechtsstaatlicher Grundsatz i.V.m. Art. 28 Abs. 2 GG.106 2. Begrenzung von Dauer und Umfang der Abweichungen Wie weit die zeitliche und umfangmäßige Abweichungsbefugnis im Einzelnen gehen kann, wurde bereits ausgiebig im Rahmen des Gesetzesvorbehalts behandelt und bedarf deshalb an dieser Stelle zwecks Vermeidung von Wiederholungen keiner weiteren Erörterung. Es ist Aufgabe der Genehmigungsbehörde, auf der Grundlage des Versuchsantrags im Rahmen ihres Ermessens das Ausmaß des Versuchs festzulegen. Das Ermessen ist insoweit aber gesetzlich durch die Versuchsklauseln und den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts seinerseits begrenzt. 3. Festlegung von Inhalt, Ziel, Durchführung und Dauer im Genehmigungsbescheid Nach § 25 Abs. 4 Satz 2 SchulG NRW sind Inhalt, Ziel, Durchführung und Dauer des Schulversuchs im Genehmigungsbescheid, und zwar in einem speziellen Versuchsprogramm festzulegen. Das Schulministerium muss das Ziel und 105 Zur Selbstbindung bei der Schulversuchsgenehmigung: Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 47. 106 Siehe: Winands, ebenda, unter Bezugnahme auf: Fritz Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl., Heidelberg u.a. 2007, § 104 Rn. 53 ff. m.w.N.
2. Kap.: Die Genehmigung am Beispiel § 25 SchulG NRW
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die Rahmenbedingungen des Versuchs klar fixieren. Dies dient der rechtlichen Absicherung aller Beteiligten sowie einer gerichtlichen Nachprüfbarkeit, ist Grundlage der Information an die betroffenen Eltern und Schüler und Voraussetzung einer späteren Erfolgskontrolle. Nicht zuletzt wird dadurch die parlamentarische Kontrolle der Versuchsaktivitäten des Ministeriums ermöglicht. Eine Begründungspflicht ergibt sich für die ministerielle Entscheidung über den Versuchsantrag obendrein aus § 39 VwVfG, sofern einem Versuchsantrag nicht stattgegeben wird oder der Genehmigungsakt in Rechte eines Dritten, insbesondere eines benachbarten Schulträgers eingreift. Soweit in Nordrhein-Westfalen ein kommunaler oder Ersatzschulträger einen Schulversuch beantragt, ist die Genehmigung ein Verwaltungsakt, so dass die obige Norm Anwendung findet. Nur ausnahmsweise kann nach der hier jedenfalls für das Land NordrheinWestfalen vertretenen Rechtsansicht die Genehmigung eine bloße innerdienst liche schulaufsichtliche Verfügung oder ein Erlass sein, wenn es sich um Schulverfassungsversuche oder sonstige rein schulorganisatorische Versuche handelt, in denen keinerlei Interessen eines Schulträgers berührt sind.107 Handelt es sich wie im Regelfall bei dem Genehmigungsbescheid um einen Verwaltungsakt, so sind in der schriftlich abzufassenden Begründung die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, die das Ministerium zu seiner Entscheidung bewogen haben. Die Begründung von Ermessensentscheidungen soll nach § 39 Abs. 1 VwVfG auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Die Begründungspflicht dient nicht nur der angesichts des Ausnahmecharakters eines Schulversuchs und einer Versuchsschule bedeutsamen Selbstkontrolle, sondern auch dem Rechtsschutz benachbarter Schulträger oder sonstiger Dritter, die nur bei einer hinreichenden Begründung effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) erreichen können, und der wirksamen Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Genehmigung durch die Verwaltungsgerichte.108 4. Erreichen regulärer und bundesweit anerkannter Bildungsabschlüsse Schulversuche dürfen, auch wenn die Teilnahme hieran freiwillig erfolgt, nicht zu einem absehbaren Nachteil für die Schüler führen. Zum Schutz der Schüler schreibt deshalb § 25 Abs. 1 Satz 3 SchulG NRW vor, dass in Schulversuchen die schulgesetzlich vorgesehenen Schulabschlüsse erreicht werden müssen. 107 Siehe
oben Dritter Teil Zweites Kapitel I. 6. b). OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 09.06.2011 – 19 B 478/11, NVWBl. 2011, 436 (438) unter Bezugnahme auf: BVerwGE 75, 214 (239); 91, 262 (267 f.). 108 So:
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Selbst wenn eine solche ausdrückliche Regelung fehlen würde, ergäbe sich diese Sicherung daraus, dass Schulversuche nicht gänzlich außerhalb des Schulwesens eines Landes stehen, sondern sich darin einzufügen haben.109 Dies gilt gerade für das Berechtigungswesen, das wegen der entscheidenden Bedeutung für den weiteren Lebensweg in Schule, Ausbildung, Studium und Beruf überdies durch Vereinbarungen zwischen den Ländern vereinheitlicht ist. Die Präzisierung in § 25 Abs. 3 Satz 2 SchulG NRW, wonach die Standards der zu erreichenden Abschlüsse den an anderen Schulen erworbenen Abschlüssen entsprechen und die Anerkennung der Abschlüsse in den anderen Bundesländern gesichert sein müssen, gilt deshalb nicht nur für die dort geregelte spezielle Experimentierklausel (Schulversuche zur Erprobung neuer Modelle erweiterter Selbstverwaltung und Eigenverantwortung). Vielmehr ist dies eine selbstverständliche Bedingung für alle Schulversuche.110 Das Schulministerium muss im Rahmen des Genehmigungsverfahrens sicherstellen, dass dieses gewährleistet ist. Es hat dabei auch für die bundesweite Anerkennung der im Schulversuch erlangten Abschlüsse zu sorgen. Die bundesweite Anerkennung der Abschlüsse hängt davon ab, dass der jeweilige Schulversuch die Vorgaben des „Hamburger Abkommens“ zu den Grundstrukturen des Schulwesens und einschlägige Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz einhält. Weichen Schulversuche hiervon ab, ist zur Anerkennung der Abschlüsse – für das „Hamburger Abkommen“ im dortigen § 16 geregelt – eine Befassung der Kultusministerkonferenz erforderlich. Die diesbezügliche Verfahrensweise und Entscheidungspraxis seit Verabschiedung des „Hamburger Abkommens“ 1964 wurden im historischen Teil eingehend dargestellt. Nach dem 2012 neu gefassten Beschluss der Kultusministerkonferenz zur „Durchführung von Schulversuchen und gegenseitige Anerkennung der entsprechenden Abschlüsse“ bedürfen generell Schulversuche, die von Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz abweichen, einer ausdrücklichen „Zulassung“ durch die Kultusministerkonferenz, sofern Abschlüsse und Rahmenbedingungen für das Erreichen der Abschlüsse betroffen sind, ansonsten genügt grundsätzlich eine Anzeige des Versuchs.111 Zeugnisse, Abschlüsse und Berechtigungen, die unter Einhaltung der Schulversuchsvereinbarung erworben werden, erkennen die Länder gegenseitig an (Ziff. 6 Satz 2 der Vereinbarung).
109 Dazu
bereits Dritter Teil Erstes Kapitel III. 3., insb. Fn. 71-73. Jülich, in: Jülich/van den Hövel, Schulrechtshandbuch NRW, § 25
110 Ebenso:
Rn. 13. 111 Zu den Einzelheiten siehe oben Zweiter Teil Fünftes Kapitel III. 3. und die Textfassung der KMK-Vereinbarung v. 21.06.2012 im Anhang.
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5. Experimentierklausel: Erprobung neuer Modelle erweiterter Selbstverwaltung und schulischer Eigenverantwortung a) Regelungsinhalt der Experimentierklausel (§ 25 Abs. 3 SchulG NRW) Seit 2006 enthält die Schulversuchsnorm des § 25 SchulG NRW im dritten Absatz eine sogenannte Experimentierklausel. Sie ist mit geringen Modifikationen nach dem Vorbild einer solchen Klausel für den früheren Schulversuch „Selbstständige Schule“ (Art. 1 Abs. 1 Schulentwicklungsgesetz NRW von 2001) ausgestaltet. Daraus erklärt sich die Zweckbestimmung. Die Experimentierklausel dient der „Erprobung neuer Modelle erweiterter Selbstverwaltung und Eigenverantwortung“ von Schulen, legt damit den Fokus auf die Weiterentwicklung des Schulwesens im Bereich der Schul- und Unterrichtsorganisation. Die in der Vorschrift abschließend aufgeführten Experimentierfelder leiten sich hieraus ab. Sie entstammen mit einer Ausnahme dem Baukasten neuer Steuerungsmodelle der öffentlichen Verwaltung,112 angepasst an den Schulbereich: Erprobung selbstständiger Entscheidungen bei der Stellenbewirtschaftung, der Personalverwaltung und der Sachmittelbewirtschaftung, also dezentraler Ressourcenverantwortung und Budgetierung, sowie neuer Modelle der Schulleitung und Schulmitwirkung. Über solchermaßen klar umrissene Bereiche des Schulmanagements hinaus ermöglicht die Experimentierklausel zudem noch Abweichungen im weiten Feld der Unterrichtsorganisation. Trotz der Terminologie „Modellvorhaben“ in § 25 Abs. 4 SchulG NRW, die insoweit den im dritten Absatz verwendeten Begriff „Modelle“ aufgreift, handelt es sich bei den Erprobungsmaßnahmen materiell um Schulversuche. In der Experimentierklausel ist explizit geregelt, dass die neuen Modelle und deren innovativen Elemente „abweichend von den bestehenden Rechtsvorschriften“ erprobt werden. Diese Abweichungen können auf Antrag „gestattet“ werden, und zwar gemäß § 25 Abs. 4 SchulG NRW im Wege einer ministeriellen Genehmigung. Antragsbefugt sind nach der Experimentierklausel die Schulen, doch bedarf es als Genehmigungsvoraussetzung einer Kooperationsvereinbarung mit dem Schulträger und der örtlichen Schulaufsichtsbehörde hinsichtlich des beabsichtigten Erprobungsvorhabens. Allein in diesen Verfahrensmodalitäten besteht der Unterschied zur allgemeinen Schulversuchsklausel des ersten Absatzes. Inhaltlich könnten die in der Experimentierklausel genannten Bereiche auch darunter subsumiert werden, wobei sogar die Unterrichtsorganisation und die Schulleitung in beiden Ermächtigungen wörtlich übereinstimmend aufgeführt sind. Der 112 Dazu statt vieler: Klaus König/Joachim Beck, Modernisierung von Staat und Verwaltung. Zum Neuen Öffentlichen Management, Baden-Baden 1997.
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Weg über eine Kooperationsvereinbarung war auch in Art. 1 Abs. 1 und 3 Schulentwicklungsgesetz gegangen worden. In der Kooperationsvereinbarung zwischen Schule, Schulträger und Schulaufsichtsbehörde soll die konkrete inhaltliche und ressourcenmäßige Ausgestaltung der durch die Experimentierklausel ermöglichten Vorhaben erfolgen. Derartige Vereinbarungen sind etwa notwendig für die Einführung eines aus Zuweisungen des Landes und kommunalen Mitteln gespeisten einheitlichen Schulbudgets und die hierzu festzulegenden Bewirtschaftungsvorgaben. Gleiches gilt für die Übertragung von Kompetenzen auf die Schule im Aufgabenbereich der Personalverwaltung und der Stellenbewirtschaftung einschließlich des Aufbaus von Personalmittelbudgets.113 Nicht zwingend zur Umsetzung erforderlich sind hingegen Kooperationsvereinbarungen, soweit es darum geht, neue Freiräume der Schulen im Bereich der Unterrichtsorganisation zu erproben. Diesbezüglich würde auch ein Antrag nach § 25 Abs. 1 SchulG NRW reichen, dann allerdings nach der hier vertretenen Rechtsansicht durch den Schulträger. Da nach der Experimentierklausel die Schule selbst den Antrag stellen kann, ist es andererseits gesetzgeberisch konsequent, über das Erfordernis einer Kooperationsvereinbarung die Zustimmung des Schulträgers sicher zu stellen. Erklärbar ist der Einbezug von Vorhaben der Unterrichtsorganisation in die Experimentierklausel damit, dass im Modellversuch „Selbstständige Schule“ nicht ein einzelnes, sondern ein Bündel von Versuchsvorhaben an den teilnehmenden Schulen getestet wurde. Ihnen konnte größere Selbstständigkeit und Eigenverantwortung in personellen, finanziellen, organisatorischen und eben auch curricularen Fragen eingeräumt werden. Ein solches Paket über eine Kooperationsvereinbarung schnüren zu können, dem soll in erster Linie auch die Experimentierklausel als Nachfolgeregelung des Art. 1 des Schulentwicklungsgesetzes dienen. Allerdings ist eine Bündelung nicht zwingend. Zulässig nach dem Wortlaut der Vorschrift sind auch Experimentiervorhaben in einzelnen Feldern. b) Runderlass „Mehr Freiräume für innovative schulische Vorhaben“ Seit Schaffung der Experimentierklausel im Jahr 2006 konzentrieren sich in der Praxis alle Aktivitäten nur auf ein bestimmtes Experimentierfeld, den Bereich der Unterrichtsorganisation. Verantwortlich hierfür ist nicht zuletzt der Rund
113 Siehe dazu auch die frühere Begründung des Schulentwicklungsgesetzes: Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Gesetz zur Weiterentwicklung von Schulen (Schulentwicklungsgesetz), Landtag NRW, 13. WP, LT-Drs. 13/1173 v. 11.05.2001, S. 13 f.
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erlass „Mehr Freiräume für innovative schulische Vorhaben“.114 Das nordrheinwestfälische Schulministerium hat hiermit im Jahr 2008 als direkte Fortsetzung des seinerzeit ausgelaufenen Modellversuchs „Selbstständige Schule“ spezielle Verfahrensregelungen geschaffen. Erklärtes Ziel ist es, Schulen durch den Runderlass zu animieren, innovative schulische Modelle im Bereich der Unterrichtsorganisation zu entwickeln und zu erproben, das Schulsystem demgemäß stärker nicht von oben, sondern von der Schulbasis her fortzuentwickeln.115 Der Erlass knüpft aber nicht nur an besagten großen Modellversuch an, sondern auch an heute gängige Annahmen der Schul- und Unterrichtsforschung, wonach mit zunehmender Eigenverantwortlichkeit insbesondere im Bereich des Unterrichtens die Qualität schulischer Arbeit steigen soll – Schlagwort: „Autonomie statt Normierung pädagogischen Handelns“.116 In Umsetzung des Erlasses können auf der Grundlage des § 25 Abs. 3 SchulG NRW für zunächst längstens sechs (früher fünf) Schuljahre Versuchsvorhaben im Bereich der Unterrichtsorganisation, die über bestehende Ausbildungsund Prüfungsordnungen hinausgehen, zugelassen werden. Eine sogenannte Schulentwicklungskonferenz, in der Schulleiter, Schulträger und Schulaufsicht vertreten sind, berät das Ministerium als Genehmigungsbehörde bei der fach lichen Bewertung beantragter Versuchsvorhaben. Bis zur Neufassung des Erlasses im Jahr 2012 gab es drei schulformbezogene Schulentwicklungskonferenzen (Grundschulen / Förderschulen, Hauptschulen / Realschulen / Gesamtschulen / Gymnasien, Berufskollegs / Weiterbildungskollegs). Nunmehr ist dies auf eine schulformübergreifende Schulentwicklungskonferenz reduziert, die zweimal im Jahr zusammentritt.117 Am Ende der Erprobungszeiträume wertet die Schulent114 Siehe: Erstfassung v. 18.06.2008 (ABl. NRW, S. 349); Neufassung: RdErl. des MSW NRW v. 02.07.2012 (ABl. NRW S. 431) i.d.F. v. 18.08.2012 (ABl. NRW S. 484 / BASS 14 – 23 Nr. 4). Hierzu: Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW (Hrsg.), Schule in Nordrhein-Westfalen. Bildungsbericht 2009, Düsseldorf 2009, S. 51; Joachim Blombach/Andrea Haschke-Hirt, Schulentwicklungskonferenzen. Mehr Freiräume für Schulen, in: Schule NRW 2009, S. 112-114; Andrea Haschke-Hirt, Mehr Freiräume für innovative schulische Vorhaben – Vom Erlass zur konkreten Umsetzung, in: Schule heute. Zeitschrift des Verbandes Bildung und Erziehung NRW, Heft 3/2009, S. 8-11. Zu den Veränderungen durch die Neufassung des Erlasses: o. V., Schulentwicklungskonferenz schafft Freiräume für innovative Vorhaben, in: ABl. NRW 2012, S. 485. 115 Seit 2012 hat das Schulministerium sogar ein internetbasiertes Antragsverfahren eingeführt. Siehe: http://www.lfb-brd.nrw.de/sekon/formulare/Antrag-SEKON-20/ index.htm. 116 Zitat: Klieme, Bildungsstandards, Schule NRW 2011, S. 56. 117 Die Schulentwicklungskonferenz wurde in einer früheren, zwischenzeitlich nicht mehr aufrecht erhaltenen Kommentierung als verfassungsrechtlich problematisch, weil „offenbar mit eigenen Entscheidungskompetenzen“ versehen und dabei dem Parlament gegenüber nicht verantwortlich, angesehen: Volkmar Kumpfert, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW (Stand 2009), § 25 SchulG Anm. 3. Dabei wurde übersehen, dass sowohl
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wicklungskonferenz auch die von den Schulen vorzulegenden Abschlussberichte aus und spricht Empfehlungen über zu ziehende Konsequenzen aus, d.h. ob und wieweit eine Übertragbarkeit und damit Übernahme in das Regelsystem angezeigt ist. Durch das Einschalten der Schulentwicklungskonferenz mit entsprechenden Antragsfristen besteht ein für die Schulen transparentes Begutachtungsverfahren. Zudem gibt es eine deutliche Verfahrensvereinfachung für Schulen, die einen Versuch beabsichtigen, der in dieser Form bereits schon einmal genehmigt wurde. Beantragt eine andere Schule die Übernahme eines genehmigten Vorhabens, bedarf es keiner nochmaligen inhaltlichen Prüfung seitens des Ministeriums und auch keiner vorherigen Befassung der Schulentwicklungskonferenz. Erforderlich ist aber eine Feststellung der zuständigen Schulaufsichtsbehörde, dass ein bereits genehmigtes Versuchsvorhaben („Entwicklungsvorhaben“) unter den gleichen Bedingungen für die jeweilige Schulform übernommen werden kann. Die Schulaufsichtsbehörde hat dies dem Ministerium anzuzeigen.118 Rechtlich spricht nach diesem Verfahren das Ministerium mit seiner Genehmidie Genehmigung wie auch die während der Durchführung und nach Auslaufen des Versuchs zu treffenden Entscheidungen beim Schulministerium verbleiben. Die Schulentwicklungskonferenz ist ein beratendes Gremium, wenn auch dessen Empfehlungen von erheblichem Gewicht sind. Um dem Schulministerium eine Befassung mit zwingend abzulehnenden Versuchsvorhaben zu ersparen, sieht der Erlass in Ziff. 2 zudem vor, dass bestimmte Versuche („Entwicklungsvorhaben“) von vornherein ausscheiden: „2. Qualitätsentwicklung und Standardsicherung 2.1 Bei der Durchführung des Entwicklungsvorhabens muss gewährleistet sein, dass grundlegende Leitentscheidungen des neuen Schulgesetzes und der Ausbildungsund Prüfungsordnungen eingehalten werden und dass die von den Schülerinnen und Schülern erworbenen Abschlüsse aufgrund vergleichbarer Anforderungen wie an den anderen Schulen erworben werden. Die Einhaltung der Bildungsstandards und die Anerkennung der Abschlüsse in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland müssen gesichert sein. 2.2 Abweichungen von den Regelungen zur Leistungsbewertung gem. § 48 SchulG und zur Dokumentation von Fehlzeiten gem. § 49 Absatz 2 SchulG einschließlich der zu diesen Bestimmungen erlassenen Ausführungsvorschriften sind im Inte resse der Gleichbehandlung aller Schülerinnen und Schüler nicht möglich. Dies gilt auch für den Inhalt und die Ausgestaltung von Abschluss-, Überweisungs- und Abgangszeugnissen. 2.3 Regelungen für das Abschlussverfahren zum Erwerb des Hauptschulabschlusses nach Klasse 10 und des mittleren Schulabschlusses (Fachoberschulreife) gem. § 12 Absatz 3 SchulG und für die Abiturprüfung gem. § 18 Absatz 4 SchulG bleiben durch Entwicklungsvorhaben ebenfalls unberührt.“ 118 Siehe: Ziff. 4.3 des Runderlasses. Die Anzeigepflicht gegenüber dem Ministerium wurde erst durch die Neufassung des Erlasses eingeführt.
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gung eines Schulversuchs eine vorweggenommene Genehmigung für identische Folgeversuche aus. Gegen eine solche „Versuchstypen“-Genehmigung bestehen keine durchgreifenden Bedenken, da die zuständige Schulaufsichtsbehörde prüft, ob tatsächlich eine Gleichartigkeit gegeben ist und damit die Genehmigung auch den Nachfolgeversuch erfasst. Durch die Anzeige an das Ministerium wird zudem sichergestellt, dass dieses als oberste Schulaufsichtsbehörde bei Bedenken im Hinblick auf die Gleichartigkeit jederzeit einschreiten kann. Rechtlich bedenklich ist aber, dass seit der Neufassung des Runderlasses im Juli 2012 (Ziff. 4.2 Satz 4) die bis dahin in Übereinstimmung mit § 25 Abs. 3 SchulG NRW geforderte Einbindung in eine Kooperationsvereinbarung mit der Schulaufsichtsbehörde und vor allem dem Schulträger entfallen ist. Stattdessen sind dem Antrag der Schule nunmehr nur noch eine schulaufsichtliche Stellungnahme und ein Votum des Schulträgers beizufügen. Beides muss aber nicht zwingend befürwortend sein. Damit fehlt nicht nur die nach der schulgesetzlichen Experimentierklausel notwendige Kooperationsvereinbarung, sondern ebenfalls die nach hiesiger Rechtsansicht stets notwendige Zustimmung des Schulträgers zu einem Schulversuch. Deshalb scheidet – unbeschadet dessen, dass der Runderlass sich ausdrücklich auf § 25 Abs. 3 SchulG NRW stützt – auch ein hilfsweises Heranziehen der allgemeinen Schulversuchsklausel des § 25 Abs. 1 SchulG NRW aus. In der jetzigen Neufassung ist damit das im Runderlass vorgesehene Verfahren insoweit unvereinbar mit dem Schulgesetz. Zur Transparenz der Entwicklungsvorhaben ist im Runderlass (unter Ziff. 5) eine entsprechende Veröffentlichung und Elterninformation auf der Ebene der jeweiligen Schule sowie das Einstellen einer Liste der genehmigten Entwicklungsvorhaben einschließlich deren Laufzeiten in das Internet-Bildungsportal des Schulministeriums vorgeschrieben. Bis Anfang 2014 wurden ausweislich dieser Liste119 insgesamt 84 Entwicklungsvorhaben als Schulversuch genehmigt. Die Verteilung auf die einzelnen Schulformen ergibt folgendes disparates Bild: Grundschulen 8, Hauptschulen 37 (insbesondere zusammenhängend mit der früheren „Qualitätsoffensive Hauptschule“), Realschulen 6, Verbundschulen (organisatorischer Zusammenschluss von Haupt- und Realschulen) 4, Sekundarschulen 1, Gesamtschulen 3, Gymnasien 15 und Berufskollegs 10 (davon 6 Kooperationsvorhaben gemeinsam mit Hauptschulen). Schwerpunkte sind u.a.: ● Rasterzeugnisse statt Berichtszeugnissen mit Fließtext in der Grundschule; ● Jahrgangsübergreifender Unterricht, insbesondere in den Klassen 5 und 6; ● Verzicht auf Klassenwiederholungen in der Sekundarstufe I; 119 Siehe: http://www.schulministerium.nrw.de/docs/Schulentwicklung/Eigenverant
wortliche-Schule/Schulentwicklungskonferenz-und-Entwicklungsvorhaben/Vorhaben/ index.html.
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● Erhöhung des Stundenvolumens für Wahlpflichtunterricht, Arbeitslehre und Berufsorientierungsmaßnahmen in der Sekundarstufe I; ● Einführung des Fachs Integrierte Naturwissenschaften in den Klassen 5 und 6 am Gymnasium bzw. an der Hauptschule; ● Einrichtung von Kooperationsklassen zwischen Hauptschulen und Berufskollegs. Nach diesem neuen Verfahren wurden zu Beginn vor allem eine Reihe von „Altvorhaben“ aus dem Modellprojekt „Selbstständige Schule“ fortgeführt. Bis April 2010 wurden nach Auswertung des Schulministeriums 88 Entwicklungsvorhaben beantragt, wovon das Ministerium 46, also etwas mehr als die Hälfte, genehmigte. Ablehnungen beruhten häufig darauf, dass die seitens der Schulen beantragten Innovationen bereits nach den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen zulässig waren, also gar keine Abweichungen hiervon vorlagen. Insbesondere mit der Schulgesetzänderung von 2006 (z.B. §§ 3, 59 SchulG NRW) und den anschließend hieran angepassten Ausbildungs- und Prüfungsordnungen sind neue weitgehendende Entscheidungsspielräume eröffnet worden mit dem Ziel, dass alle öffentlichen Schulen schrittweise zu „Eigenverantwortlichen Schulen“ werden.120 Nach einem Anfang 2010 veröffentlichten Gutachten des „Aktionsrats Bildung“, einem Expertengremium renommierter Bildungswissenschaftler, das sich 2005 auf Initiative der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. konstituiert hat, sind in keinem Bundesland die Schulen so unabhängig wie in Nordrhein-Westfalen. Nur in Nordrhein-Westfalen sei ein weitreichendes Maß an Schulautonomie erreicht worden.121
120 Dazu:
Günter Winands, Vom „Primus inter pares“ zum Schulmanager. Die Schule der Zukunft: Erhöhte Selbstständigkeit, mehr Eigenverantwortung, in: Schule heute. Zeitschrift des Verbandes Bildung und Erziehung NRW, Heft 3/2008, S. 6-9, insb. S. 7 f.; Heinfried Habeck/Andrea Haschke-Hirt, Eigenverantwortung als Chance. Mehr Freiräume für innovative Schulen, in: Schule NRW 2008, S. 435-438. 121 Siehe: Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.), Bildungsautonomie: Zwischen Regulierung und Eigenverantwortung – die Bundesländer im Vergleich. Expertenrating der Schul- und Hochschulgesetze der Länder zum Jahresgutachten 2010, München 2010, S. 24 f.
Drittes Kapitel
Rechtsfragen der Durchführung von Schulversuchen I. Teilnahmemöglichkeit von Schülern Für den Besuch von Versuchsschulen, aber auch für die Teilnahme an Schulversuchen an bestehenden Schulen gilt das bereits eingehend dargelegte Prinzip der Freiwilligkeit. Ist ein Schüler indes an einer Versuchsschule oder für die Teilnahme an einem begrenzten Schulversuch angemeldet und zugelassen, so besteht eine Verpflichtung zum Schul- und Unterrichtsbesuch. Einige Schulversuchsklauseln enthalten eine entsprechende ausdrückliche Klarstellung,1 in den meisten Ländern ergibt sich dies aber aus den allgemeinen schulrechtlichen Bestimmungen zur Schulpflicht. Nach § 43 Abs. 1 SchulG NRW sind Schüler verpflichtet, regelmäßig am Unterricht teilzunehmen, wobei die Meldung zur Teilnahme an einer freiwilligen Unterrichtsveranstaltung zur regelmäßigen Teilnahme mindestens für ein Schulhalbjahr verpflichtet. Rechtstreitigkeiten entzünden sich allerdings immer wieder umgekehrt daran, ob ein Schüler von einem Schulversuch oder dem Besuch einer Versuchsschule ausgeschlossen werden kann. Diese Problematik entsteht vor allem bei begrenzten Aufnahmekapazitäten sowie in Fällen, in denen besondere persönliche Aufnahmevoraussetzungen statuiert sind. Die Schulgesetze der Länder enthalten mit Ausnahme von Berlin, Brandenburg und Schleswig-Holstein diesbezüglich keine spezifischen Regelungen. Nach den Schulversuchsklauseln jener drei Länder können im Rahmen von Schulversuchen an bestehenden Schulen ausdrücklich auch Abweichungen von den „Aufnahmebedingungen / Aufnahmevoraussetzungen“ (§ 18 Abs. 1 SchulG BE, § 138 Abs. 1 Satz 2 SchulG SH) bzw. „Veränderungen oder Ergänzungen der Aufnahmeverfahren“ (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SchulG BB) erprobt werden. Alle drei Länder sehen auch die Möglichkeit vor, die Aufnahmevoraussetzungen für Versuchsschulen abzuändern. In Berlin können bei der durch Rechtsverordnung zu erfolgenden Einrichtung von Schulen besonderer Prägung „insbesondere“ auch Abweichungen von schulrechtlichen Vorschriften über die Aufnahme 1 § 18 Abs. 4 Satz 2 SchulG BE, § 10 Abs. 4 Satz 2 SchulG HH, § 12 Abs. 4 SchulG TH.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
in die Schule normiert werden, „soweit es das besondere pädagogische oder organisatorische Konzept erfordert“ (§ 18 Abs. 3 SchulG BE). Hierauf beruhend sieht die Berliner „Verordnung über die Aufnahme in Schulen besonderer Prägung“ als Grundsatz vor, dass die Aufnahme auch bei freien Kapazitäten die Eignung der Schüler für das spezifische Angebot der jeweiligen Schule erfordert.2 In Brandenburg können die Schulen besonderer Prägung in ihrem Versuchsprogramm – wie bei Schulversuchen – Veränderungen oder Ergänzungen des Aufnahmeverfahrens ausweisen (§ 8a Satz 2 SchulG BB i.V.m. § 8 Abs. 1 Satz 2 SchulG BB). Und in Schleswig-Holstein können in der dort ebenfalls zur Einrichtung von Versuchsschulen erforderlichen Rechtsverordnung Schul einzugsbereiche bestimmt und „Merkmale“ für die Aufnahme von Schülern bei begrenzter Aufnahmemöglichkeit festgelegt werden (§ 138 Abs. 3 SchulG SH).3 In ständiger Rechtsprechung betonen die Berliner Verwaltungsgerichte, dass nach § 18 Abs. 1 SchulG BE von den für die einzelnen Schulformen in den §§ 54 bis 57 SchulG BE geregelten Zugangskriterien nur insoweit abgewichen werden kann, als es zur Erreichung der Ziele des Schulversuchs erforderlich ist. Diese für alle versuchsbedingten Abweichungen geltende Grundanforderung wird hier folgerichtig auch auf modifizierte Aufnahmekriterien angewendet, d.h. auch solche müssen zur Durchführung des jeweiligen Schulversuchs geboten sein.4 Dies bedeutet nach der Rechtsprechung des OVG Berlin indes auch: Wo ein Schulversuch eine bestimmte Zusammensetzung der Schülerschaft erfordert oder das Gelingen des Schulversuchs besondere pädagogische Bedingungen voraussetzt, kann sich das Auswahlermessen – nötigenfalls ausschließlich oder vorrangig – an besonderen, den Bedürfnissen des Schulversuchs angepassten Auswahlkriterien
2 § 2 Abs. 3 AufnahmeVO-SbP v. 23.03.2006 (GVBl. S. 306) i.d.F. v. 14.02.2012 (GVBl. S. 50). Die Eignungsvoraussetzungen werden in der Verordnung für jede Schule im Einzelnen festgelegt, etwa bei Schulen mit fremdsprachlicher Prägung der Nachweis bestimmter Sprachkenntnisse oder bei Schulen mit mathematisch-naturwissenschaft licher Prägung mindestens gute Leistungen in Mathematik. Dabei sind zunächst Schüler zu berücksichtigen, deren Erziehungsberechtigte die jeweilige Schule als Erstwunsch bestimmt haben; nachrangig erfolgt die Auswahl zunächst nach Zweit-, zuletzt nach Drittwünschen. Unter gleichrangig geeigneten Bewerbern entscheidet das Los. 3 Beispiel: „Landesverordnung über einen acht- und neunjährigen Bildungsgang am Gymnasium als Schulversuch“ v. 11.06.2010 (Nachrichtenblatt des Ministeriums für Bildung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein S. 189). Nach deren § 4 richtet sich die Aufnahme grundsätzlich nach einer dortigen „Landesverordnung über die Orientierungsstufe“, wobei im Falle eines Anmeldeüberhangs die Plätze an Mädchen und Jungen entsprechend deren Anteil an den Anmeldungen zu vergeben sind und im Übrigen das Los entscheidet. 4 Siehe: VG Berlin, Beschl. v. 03.08.2007 – 9 A 136.07, juris Rn. 4; Beschl. v. 28.08.2009 – 3 L 290.09, juris Rn. 5; Beschl. v. 02.08.2011 – 9 L 164.11, juris Rn. 7 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 05.09.2006 – 8 S 69.06, juris.
3. Kap.: Rechtsfragen der Durchführung von Schulversuchen
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orientieren.5 Fehlt es an einer aus der Konzeption des Versuchs sich herleitenden Notwendigkeit, darf auch bei Schulversuchen eine Auswahl der Schüler nur nach Maßgabe der allgemeinen schulrechtlichen Kriterien erfolgen.6 Die Teilnahme an freiwilligen Schulversuchen müsse, so das VG Berlin, „grundsätzlich allen daran interessierten Kindern möglich sein“.7 Obwohl in der Schulversuchsklausel des Schulgesetzes von Hamburg ein Abweichen von den Aufnahmebedingungen nicht explizit erwähnt wird, ist dies nach der hierzu ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ebenfalls möglich. Die dortigen allgemeinen gesetzlichen Vorgaben zur Schulaufnahme (§ 42 SchulG HH) stehen danach zurück, soweit in einem Versuchsprogramm besondere Regelungen getroffen worden sind. Ein Versuchsprogramm nach § 10 Abs. 3 Satz 3 SchulG HH könne eine spezielle Regelung auch hinsichtlich des Aufnahmeverfahrens für Schulversuche und Versuchsschulen festlegen,8 einschließlich eigener, dem Schulversuch angepasster geringerer Aufnahmekapazitäten.9 Das Wahlrecht der Eltern werde entsprechend begrenzt, das behördliche Auswahlermessen umgekehrt erweitert. Allerdings dürften auch bei einer Sonderregelung im Versuchsprogramm Plätze nicht willkürlich, vor allem nicht nach versuchsfremden Kriterien vergeben werden. Die Aufnahmekriterien seien vielmehr auf das Versuchsziel zuzuschneiden.10 Letzteres heißt ebenfalls, nur mit anderen Worten, dass besondere Aufnahmevoraussetzungen zum Erreichen des Versuchsziels erforderlich sein müssen. Eine solche Auslegung ist auch in allen anderen Ländern, die über die allgemeinen schulrechtlichen Bestimmungen hinaus keine besondere Regelung zur Aufnahme in einen Schulversuch kennen, sachgerecht. Dies gilt auch für Nordrhein-Westfalen. Dort ist die Schulaufnahme allgemein in § 42 SchulG NRW normiert. Nach dessen zweitem Absatz können besondere Aufnahmevoraussetzungen und Aufnahmeverfahren für einzelne Schulstufen oder Schulformen 5 So: OVG Berlin, Beschl. v. 20.09.2002 – 8 S 224/02, NVwZ-RR 2003, 118. Auf dieser Linie auch: OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 07.09.2012 – 3 S 80.12, juris Rn. 3 f. 6 Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein Auswahlverfahren zum Besuch einer öffentlichen Schule: VGH BW, Beschl. v. 31.08.1988 – 9 S 2624/88, NVwZ 1990, 87 (89). Danach muss das Auswahlverfahren sachbezogen und willkürfrei sein. Die Zulassung, die Festlegung der Aufnahmekapazitäten und das Auswahlverfahren in den Grundzügen sind durch förmliches Gesetz und im Übrigen durch Rechtsverordnung zu regeln. 7 Zitat: VG Berlin, Beschl. v. 31.07.2009 – 9 L 212.09, juris. 8 Siehe: OVG Hamburg, Beschl. v. 27.07.2005 – 1 Bs 205/05, juris Rn. 17 ff.; Beschl. v. 26.08.2009 – 1 Bs 159/09, juris Rn. 5. 9 Vgl.: VG Hamburg, Beschl. v. 04.08.2011 – 15 E 1532/11, juris Rn. 26. 10 Vgl.: VG Hamburg, Beschl. v. 24.07.2008 – 15 E 1874/08, juris Rn. 35.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
sowie Aufnahmekriterien bei einem Anmeldeüberhang in der jeweiligen Aus bildungs- und Prüfungsordnung geregelt werden.11 Für Schulversuche enthalten diese aber keine Sonderbestimmungen. Eine durch das Ziel des Schulversuchs bedingte Begrenzung der Versuchsteilnahme und ein daraus resultierender Ausschluss eines Schülers sind auch mit höherrangigem Verfassungsrecht vereinbar. Aus dem Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG, Art. 8 Abs. 2 Satz 2 LVerf NRW und dem Entfaltungsrecht und Bildungsanspruch der Schüler gemäß Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 LVerf NRW folgt in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG ein Recht auf gleichen Zugang zu den vorhandenen schulischen Bildungseinrichtungen bzw. ein Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung. Der Staat muss hierbei die Verantwortung der Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder achten und für die Vielfalt der Anschauungen in Erziehungsfragen so weit offen sein, wie es sich mit einem geordneten staatlichen Schulsystem verträgt.12 Das Wahlrecht zwischen den vom Staat zur Verfügung gestellten Schulformen darf nach der Verfassungsrechtsprechung nicht mehr als notwendig begrenzt werden. Daraus kann jedoch – und diese Klarstellung ist hierbei einzubeziehen – kein Recht der Eltern oder Schüler abgeleitet werden, dass der Staat eine bestimmte, an ihren Wünschen orientierte Schulform zur Verfügung stellt.13 Erst Recht muss er eine solche nicht im Wege eines Schulversuchs ermöglichen.14 Vielmehr gehören gemäß Art. 7 Abs. 1 GG die organisatorische Gliederung der Schule, insbesondere die Frage, welche Schulformen eingeführt werden sollen, sowie die inhaltliche Festlegung der Ausbildungsgänge und der Unterrichtsziele zu dem – der elterlichen Bestimmung grundsätzlich entzogenen – staatlichen Gestaltungsbereich.15 Aus dem Recht der Eltern und Schüler lässt sich weder ein Anspruch herleiten, einen Schulversuch einzurichten, noch grundsätzlich16 ein solcher auf Fortführung, Abänderung und Beendigung eines Schulver-
11 Siehe
dementsprechend: § 1 Abs. 2 und 3 AO-GS; § 1 APO S I. 165 (183). 13 So grundlegend: BVerfGE 34, 165 (185); 45, 400 (415); 53, 185 (196). Das Bundesverfassungsgericht betont hierbei, dass dies angesichts der Vielfalt elterlicher Bildungsvorstellungen auch nicht durchführbar wäre. 14 Vgl.: BVerwG, Beschl. v. 17.12.1975 – VII B 51/75, DVBl. 1976, 635; VG Augsburg, Beschl. v. 26.08.2004 – Au 3 E 04.1275, juris Rn. 25; Weber, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 1.2; Niebes/Becher/Pollmann, Schulgesetz im Freistaat Sachsen, § 15 SchulG Rn. 2; Bosse/Reip, Schulrecht Baden-Württemberg, § 22 SchulG Anm. 15 Vgl.: BVerfGE 34, 165 (182); 45, 400 (415). 16 Zu Ausnahmen unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes, siehe unten Dritter Teil Viertes Kapitel II. 12 BVerfGE 34,
3. Kap.: Rechtsfragen der Durchführung von Schulversuchen
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suchs.17 Werden Erprobungen im Rahmen von Schulversuchen durchgeführt, besteht auch kein Recht auf deren flächendeckende Einführung oder auf eine Aufnahme ohne Rücksicht auf die Kapazität der betreffenden Schule.18 Es verbleibt also bei dem bereits dargelegten Anspruch auf ein den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG entsprechendes Auswahlverfahren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Staat mit dem Schulversuch ein vorübergehendes Zusatzangebot schafft bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des schulischen Pflichtangebots. Da für jeden Schüler vor Ort das Regelschulangebot gewährleistet und die Teilnahme am Versuch freiwillig ist, steht dem Staat bei der Festlegung der Ziele und Maßnahmen des Schulversuchs ein noch erheblich weiterer Gestaltungsraum als sonst schon im Schulwesen zu. Dieser Gestaltungsraum muss auch die Bestimmung des Kreises der Schüler, die für die Teilnahme an einem Schulversuch in Betracht kommen, umfassen.19 Die damit zwangsläufig verbundene Bevorzugung bestimmter Schüler und die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung sind in höherem Maße hinnehmbar als bei der Teilnahme am grundsätzlich für alle Kinder und Jugendlichen vorgesehenen gesetzlichen Regelschulangebot. Als Umkehrung der Schulpflicht besteht nur ein Anspruch auf das gesetzliche Schulformangebot, nicht aber auf das Schulexperiment, zu dem der Staat nicht verpflichtet ist.20 Beim Regelangebot wirkt sich also eine Ungleichbehandlung weitaus stärker auf die Verwirklichung des grundrecht lichen Elternrechts und des Bildungsanspruchs der Schüler aus, weshalb dort die Grenzen deutlich enger gesetzt sind.21 Außerdem sind hier nach dem Vorbe17 Vgl.:
BVerwG, Beschl. v. 17.12.1975 –VII B 51/75, DVBl. 1976, 635; Weber, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 1.2. – Ebenso für die Einführung von Schulversuchen: VerfGH Berlin, Beschl. v. 19.02.2007 – 180/06, 180 A/06, juris Rn. 30. 18 Besonders deutlich: VG Augsburg (Fn. 14). 19 Ähnlich: VerfGH Berlin (Fn. 17). 20 In dieser Richtung ebenfalls argumentierend: Woltering/Bräth, Niedersächsisches Schulgesetz, § 22 SchulG Rn. 1; Stober, Zulassung, RdJB 1974, S. 55. Letzterer weist zudem nachdrücklich auf die fiskalische Seite hin. Der Staat könne nicht verpflichtet sein, die Kapazität eines unerprobten Schultyps dermaßen auszuweiten, dass im äußersten Fall jeder Schüler diese Versuchsschuleinrichtung besuchen könnte. Die dazu erforderlichen Ausgaben wären im Hinblick auf die Vorläufigkeit von Schulversuchen wirtschaftlich unvertretbar und mit einer ordnungsgemäßen Haushaltswirtschaft nicht vereinbar. 21 Siehe dazu auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG: „Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sind umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen auf die Ausübung grundrechtlich
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
halt des Gesetzes wegen der grundrechtlichen Auswirkungen die entsprechenden Kriterien schulgesetzlich oder jedenfalls verordnungsrechtlich festzulegen.22 Demgegenüber können hiervon abweichende Aufnahmekriterien für Schulversuche angesichts der Freiwilligkeit der Teilnahme und des Zusatzcharakters des Schulangebots auch auf die nur allgemeine schulgesetzliche Versuchsermächtigung gestützt werden.23 Nach alledem müssen sich die Kriterien für eine ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung sachgerecht aus den Versuchszielen ableiten lassen und zu deren Erreichen erforderlich sein. Es bedarf zudem keiner spezialgesetzlichen Grundlage, um vom Schulversuch ausgeschlossen zu werden. Es reicht, wenn die Aufnahmekriterien im Versuchsprogramm hinreichend bestimmt festgelegt werden. Die Nichtaufnahme in eine Versuchsschule, aber auch die Nichtzulassung zu einer beantragten Teilnahme an einem begrenzten einfachen Schulversuch sind Verwaltungsakte. Wie bereits dargelegt, handelt es sich bei Schulversuchen an bestehenden Schulen, soweit die Unterrichtsorganisation betroffen ist, keinesfalls lediglich um reine schulinterne Maßnahmen, die keine rechtlichen Auswirkungen auf die Rechte von Schülern und Eltern im Rahmen eines bestehenden Schulverhältnisses entfalten.24 Im Gegenteil: Das Grundverhältnis eines Schülers wird nicht nur bei der Aufnahme und beim Abgang von der Schule, sondern stets dann berührt, wenn es sich inhaltlich erheblich ändert.25 „Dies ist auch bei der Zulassung freiwilliger Teilnahme an einem Schulversuch der Fall, weil die Andersartigkeit der Bildungsziele das ursprüngliche Schulverhältnis und das Bildungsrecht des Schülers beeinflusst.“26 Da die Ablehnung einer Versuchsteilgeschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann.“ [BVerfGE 95, 267 (316 f.); 103, 173, (193)]. „Der unterschiedlichen Weite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums entspricht eine abgestufte Kontrolldichte bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung. Kommt als Maßstab lediglich das Willkürverbot in Betracht, so kann ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nur festgestellt werden, wenn die Unsachlichkeit der Differenzierung evident ist. Dagegen prüft das Bundesverfassungsgericht bei Regelungen, die Personengruppen verschieden behandeln oder sich auf die Wahrnehmung von Grundrechten nachteilig auswirken, im Einzelnen nach, ob für die vorgesehene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können.“ [BVerfGE 88, 87 (96); 95, 267 (316 f.)]. 22 Dazu eingehend: Hans-Peter Füssel, in: Avenarius/Füssel, Schulrecht, S. 387 ff. 23 A.A.: OVG Bremen, DVBl. 1989, 1271 (1272), wonach ein Ausschluss von einem Schulversuch nur aufgrund besonderer gesetzlicher Grundlage und nicht einer allgemeinen Schulversuchsermächtigung erfolgen kann. 24 Siehe oben Dritter Teil Erstes Kapitel III.2. 25 So zutreffend: Stober, Zulassung, RdJB 1974, S. 56. 26 Zitat: Stober, ebenda.
3. Kap.: Rechtsfragen der Durchführung von Schulversuchen
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nahme ein Verwaltungsakt ist, kann dagegen mit den förmlichen Rechtsbehelfen des Widerspruchs und der Verpflichtungsklage vorgegangen werden.
II. Beteiligung der Lehrkräfte Der Unterricht im Rahmen eines Schulversuchs oder an einer Versuchsschule gehört für Lehrkräfte zu deren dienstlichen Aufgaben. Hierzu ist rechtlich keine Zustimmung erforderlich. Sofern Lehrer verbeamtet sind, was in den meisten Ländern in der Regel der Fall ist,27 gelten für sie dieselben hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) wie für andere Beamte. Die entsprechend in § 35 Abs. 2 Beamtenstatusgesetz28 und ergänzend in den Schulgesetzen (z.B. §§ 57 Abs. 1, 59 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW) geregelte Weisungsgebundenheit und Gehorsamspflicht ziehen einer Versuchsverweigerung Grenzen. Der Schulleiter als unmittelbarer Dienstvorgesetzter der Lehrkräfte seiner Schule ist befugt, deren Unterrichtseinsatz verbindlich festzulegen und auch sonstige Anordnungen für die dienstliche Tätigkeit an der Schule zu erteilen. Dieses Weisungsrecht gilt – wie in § 59 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW ausdrücklich geregelt – unterschiedslos hinsichtlich aller an der Schule tätigen Personen, also auch für Lehrer im Angestelltenverhältnis und sonstige pädagogische oder sozialpädagogische Mitarbeiter. Darüber hinaus ist ein arbeitsrechtliches Direktionsrecht, also Weisungsrecht, regelmäßig auch in den Anstellungsverträgen aufgenommen. Gegen einen Unterrichtseinsatz in einem Schulversuch kann ein Lehrer sich keineswegs auf seine „pädagogische Freiheit“ berufen. Diese ist darauf gerichtet, Lehrkräften im Unterricht den Spielraum zu sichern, den sie benötigen, um in einem von Eigengesetzlichkeiten geprägten Erziehungsprozess ihrer pädagogischen Verantwortung gerecht werden zu können. „Pädagogische Freiheit“ ist eine dienende, auf gelingenden Unterricht in der konkreten Lernsituation und 27 Einstellung derzeit nur im Angestelltenverhältnis: Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen. Die seit Jahren in den östlichen Bundesländern praktizierte Einstellung im Angestelltenverhältnis ist nach (umstrittener) Ansicht des Bundesverfassungsgerichts mit Art. 33 Abs. 4 GG vereinbar. Lehrer würden in der Regel nicht schwerpunktmäßig hoheitlich geprägte Aufgaben wahrnehmen, die der besonderen Absicherung durch den Beamtenstatus bedürften. So: BVerfGE 119, 247 (267). A.A. statt vieler: Walter Leisner, Müssen Lehrer Beamte sein?, in: ZBR 1980, S. 361-372. Im Übrigen enthält nur eine einzige Landesverfassung, die Verfassung des Freistaates Bayern (Art. 133 Abs. 2), eine ausdrückliche Verpflichtung zur Verbeamtung von Lehrern an öffentlichen Schulen. 28 Gesetz zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz) v. 17.06.2008 (BGBl. I S. 1010) i.d.F. v. 05.02.2009 (BGBl. I S. 160).
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
damit eine auf das „pädagogische Wohl“ der anvertrauten Schüler bezogene Freiheit.29 Treffender ist daher der in § 29 Abs. 3 SchulG NRW verwendete Begriff des „pädagogischen Gestaltungsspielraums“. Diese, auch in § 59 Abs. 1 SchulG NRW hervorgehobene Gewährleistung (Unterricht „in eigener Verantwortung“) vermittelt indes Lehrern kein Sonderrecht zur Verfolgung eigener persönlicher Interessen, insbesondere von subjektiven Vorlieben oder Abneigungen hinsichtlich bestimmter Unterrichtsfächer und -vorgaben, und demzufolge auch nicht im Hinblick auf eine Mitwirkung an Versuchsvorhaben. Die „pädagogische Freiheit“ der Lehrer hat auch nichts gemein mit der grundgesetzlich verankerten Lehrfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, da diese allein auf die Lehre an den Universitäten bezogen ist.30 Will sich ein Lehrer dauerhaft einem Unterrichtseinsatz in einem Schulversuch entziehen, bleibt nur ein Antrag auf Versetzung nach den allgemeinen beamtenrechtlichen Bestimmungen.31 Ein Lehrer kann an eine andere Schule versetzt werden, wenn er dies beantragt oder ein dienstliches Bedürfnis besteht (so § 25 Abs. 1 Satz 1 LBG NRW). Allerdings hat er keinen Anspruch auf Versetzung an eine „versuchsfreie“ Regelschule. Wünsche können im Versetzungsantrag unterbreitet werden32 und sind bei der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens der Schulverwaltung einzubeziehen, bestimmend für die weitere Verwendung sind indes die Erfordernisse einer bedarfsgerechten fächer- und ortsbezogenen Besetzung der Lehrerstellen zur Sicherung eines der Allgemeinheit dienenden funktionsfähigen Schulwesens. Zwar muss die Schulverwaltung ganz 29 Dazu: BVerfGE 47, 46 (83); Rupert Scholz/Hans Bismark, Schulrecht zwischen Parlament und Verwaltung. Möglichkeiten und Grenzen schulrechtlicher Gestaltung durch parlamentarisches Gesetz, durch Rechtsverordnung und durch Formen „gemischter“ Rechtssetzung, in: Schule im Rechtsstaat, Bd. II, Gutachten für die Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages, München 1980, S. 78 f.; Fritz Ossenbühl, Die pädagogische Freiheit und die Schulaufsicht, in: ders., Freiheit. Verantwortung. Kompetenz, Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. v. Meinhard Schröder/Wolfgang Löwer/Udo Di Fabio/Thomas von Danwitz, Köln u.a. 1994, S. 921 ff., insb. S. 925 ff. m.w.N. 30 Ganz h.M., statt vieler: Ossenbühl, ebenda, S. 928 f. 31 Die dauerhafte Zuweisung eines Lehrers an eine andere Schule, gleich ob innerhalb oder außerhalb einer Kommune, ist in fast allen Ländern keine Umsetzung, sondern eine Versetzung. Eine Ausnahme gilt nur für die Stadtstaaten Berlin und Hamburg, weil dort nicht die einzelne Schule, sondern die jeweiligen Schulverwaltungen Dienststelle für die Lehrkräfte sind. Dazu: OVG NRW, Beschl. v. 03.02.1983 – 6 B 2269/82, RiA 1983, 198; HessVGH, Beschl. v. 09.10.1981 – 1 TG 29/81, HessVGRspr. 1983, 87; VGH BW, Beschl. v. 15.07.1986 – 4 S 1692/86, ZBR 1987, 63; Avenarius, in: Avenarius/Füssel, Schulrecht, S. 627 Fn. 92 m.w.N. 32 Ein Beamter ist zwingend vor einer Versetzung zu hören. Siehe etwa: § 25 Abs. 1 Satz 3 LBG NRW als spezialgesetzliche Normierung des allgemeinen Grundsatzes des § 28 Abs. 1 VwVfG NRW. Zudem sind bei einer Versetzung die Mitwirkungsrechte der Personalvertretung zu beachten.
3. Kap.: Rechtsfragen der Durchführung von Schulversuchen
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schwerwiegenden persönlichen Umständen oder außergewöhnlichen Härten, die unter Umständen für eine bestimmte Schule sprechen (z.B. Fahrtwege angesichts Betreuungsbedürftigkeit naher Angehöriger), Rücksicht tragen,33 indes gehört eine Versuche ablehnende Befindlichkeit zweifelsohne nicht dazu. Auch wenn eine Lehrkraft keinen Versetzungsantrag gestellt hat, kann sie an eine Versuchsschule versetzt werden, wenn dafür ein dienstliches Bedürfnis besteht und keine schwerwiegenden persönlichen Umstände entgegenstehen. Die Versetzung einer Lehrkraft innerhalb eines Landes ohne statusmäßige Veränderung bedarf nicht deren Zustimmung, ebenso nicht eine Abordnung bis zu zwei Jahren (§ 24 Abs. 1, 2 LBG NRW). Allerdings unterliegt beides der Mitbestimmung des zuständigen Personalrats (§ 72 Abs. 1 Ziff. 5 bzw. 6 LPVG NRW). Aus der Weisungsgebundenheit des Beamten folgt, dass einer rechtmäßigen Versetzungs- oder Abordnungsverfügung Folge zu leisten ist. Gleiches gilt für Lehrer im Angestelltenverhältnis. Nach § 4 Abs. 1 TV-L können diese ebenfalls aus dienstlichen Gründen versetzt oder abgeordnet werden.34 Umgekehrt besteht rechtlich auch kein Anspruch eines versuchsfreudigen Lehrers, an einer Schule im Schulversuch verwendet zu werden. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Einstellung wie auch einer Versetzung oder Abordnung.35 Andererseits sehen die Schulgesetze aller Länder zunehmend eine stärkere Mitwirkung der Schulen bei der Zusammensetzung des jeweiligen Lehrkörpers vor. Dadurch kann eine weitgehend auf der Basis der Freiwilligkeit beruhende Zusammensetzung des Lehrkörpers einer Versuchsschule verwirklicht werden. Dies war im Interesse des Gelingens von Schulversuchen bereits ein Grundanliegen von Schulreformern der Weimarer Zeit und damals auch umgesetzt in den Berliner Richtlinien für Lebensgemeinschaftsschulen von 1923 sowie dem hamburgischen Selbstverwaltungsgesetz von 1920.36 Durchaus ähnlich jenem Vorläufer in Hamburg ermöglicht insbesondere das heutige nordrhein-westfälische Schulrecht, dass Lehrerkollegien – nicht nur an Versuchsschulen – in einem hohen Maß faktisch zu Wahlkollegien werden. Ausschreibungen im Lehrereinstel33 Vgl.
dazu: Bernt Lemhöfer, in: Ernst Plog/Alexander Wiedow (Hrsg.), Bundesbeamtengesetz, (Loseblatt-)Kommentar, Köln (Stand 2013), § 28 BBG Rn. 77 m.w.N. 34 Der „Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L)“ v. 12.10.2006 i.d.F. des Änderungstarifvertrages Nr. 4 v. 02.01.2012 (Online-Fundstelle: http://www. tdl-online.de/tv-l/tarifvertrag.html) gilt in allen Ländern mit Ausnahme von Hessen, wo ein eigener, weitgehend identischer Tarifvertrag (TV-H) Anwendung findet. 35 Ein Beamter hat keinen Anspruch auf eine von ihm beantragte Versetzung, sondern, sofern es nicht um eine Beförderung geht, lediglich auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag. Vgl.: BVerwG, Urt. v. 26.05.1975 – 2 A 4.72, Buchholz 232 § 26 Nr. 16; BVerwGE 75, 133 (135); Lemhöfer, in: Plog/Wiedow, Bundesbeamtengesetz, § 28 BBG Rn. 73. 36 Siehe oben Erster Teil Drittes Kapitel III. 2.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
lungsverfahren für eine Schule37 sowie die Auswahl nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung erfolgen gemäß § 57 Abs. 7 Satz 1 SchulG NRW durch die jeweilige Schule selbst, wobei Vorgaben der Schulaufsichtsbehörden einzuhalten sind.38 In der Regel werden hierdurch mittlerweile 95 % aller neu eingestellten Lehrkräfte durch die Schulen „schulscharf“ ausgewählt.39 Die Schulen sind überdies nach § 57 Abs. 7 Satz 2 SchulG NRW vor Versetzungen von Lehrern aus dienstlichen Gründen zu hören. Schließlich hat in Nordrhein-Westfalen, aber auch in den meisten anderen Ländern, die jeweilige Schulkonferenz ein erhebliches Mitspracherecht bei der Besetzung der Schulleitung in Vollmacht als Anstalt des Schulträgers (§ 61 SchulG NRW).40 Erfahrungsgemäß unterstützt auch die Schulaufsicht im Rahmen ihrer Personalverantwortung die Durchführung von Schulversuchen dadurch, dass an den beteiligten Schulen möglichst solche Lehrkräfte unterrichten, die ein gewisses Engagement hierfür aufbringen. Schon der Leiter einer Berliner Versuchsschule der Weimarer Zeit, Alfred Domdey, bezeichnete 1929 als „die wichtigste Voraussetzung für eine leistungsfähige Versuchsschule: die Versorgung mit geeigne-
37 Daneben gibt es in Nordrhein-Westfalen noch in geringem Umfang Einstellungsverfahren, die nicht in der Verantwortung der einzelnen Schule liegen. Dazu zählen zum Beispiel die durch die oberen Schulaufsichtsbehörden zu organisierenden Listenverfahren oder Einstellungen für besondere Bedarfe wie die bei den unteren Schulaufsichtsbehörden angesiedelte Vertretungsreserve für die Grundschule. 38 Dazu: RdErl. d. MSW NRW „Einstellung von Lehrerinnen und Lehrer in den öffentlichen Schuldienst des Landes Nordrhein-Westfalen“ v. 09.08.2007 (ABl. NRW S. 518) i.d.F. v. 12.01.2012 (ABl. NRW S. 210 / BASS 21 – 01 Nr. 16). Siehe außerdem: RdErl. d. Kultusministeriums NRW „Richtlinien zur Stellenausschreibung v. 02.07.1993 (GABl. NRW I S. 138) i.d.F. v. 26.05.2010 (ABl. NRW S. 350 / BASS 11 – 12 Nr. 1). – Im Einstellungs-Grunderlass wird in Ziff. 2.9 die Auswahl nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung gemäß Art. 33 Abs. 2 GG ausdrücklich hervorgehoben. Nach Ziff. 2.1 sollen in dem Anforderungsprofil der Stellenausschreibung weitere über die Lehramtsbefähigung hinausgehende schulbezogene Anforderungen an die Bewerber aufgenommen werden. Dazu kann durchaus auch deren Bereitschaft zur engagierten Mitarbeit in einem Schulversuch gehören. Zur rechtlichen Einordnung des Einstellungserlasses als beamtenrechtliche Auswahlrichtlinie: OVG NRW, Beschl. v. 06.10.2010 – 16 A 1539/09.PVL, nrwe Rn. 40 ff. 39 Zu dem seit 1996 in Nordrhein-Westfalen schrittweise eingeführten Verfahren der „schulscharfen Einstellungen“: Klaus Klemm/Frank Meetz, Schulen werden selbstständiger. Eigenständigeres Ressourcen- und Personalmanagement, in: Essener Unikate, Heft 24/2008, S. 8-19, insb. S. 12. Zum zahlenmäßigen Umfang auch: Markus Müller, Schulleiter und Personalauswahl, München 2007, S. 25. 40 Detaillierter Überblick über die Regelung der Schulleiterbestellung in den Landesschulgesetzen: Antwort der Landesregierung NRW auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion „Lage der Schulen in Nordrhein-Westfalen“, Landtag NRW, 14. WP, LT-Drs. 14/10639 v. 03.02.2010, S. 182-187.
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ten Lehrerpersönlichkeiten“.41 Daran hat sich offenbar bis heute nichts Grund legendes verändert.42 Die Übertragbarkeit eines Versuchs auf das Regelsystem ist allerdings grundsätzlich nicht dadurch in Frage gestellt, dass ein Versuchserfolg durch ein besonders versuchsfreudiges und engagiertes Kollegium erzielt worden ist, insoweit also besondere „Laborbedingungen“ geherrscht haben. Erweist sich eine pädagogische Neuerung als gelungen, ist es im Falle einer Übernahme ins normale Schulsystem Aufgabe der staatlichen Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung, alle Lehrkräfte damit vertraut zu machen und mögliche Einwendungen, Reserven und Besorgnisse auszuräumen.
III. Gewährung besonderer Versuchsressourcen Seitdem Schulversuche durchgeführt werden, ist immer wieder die Frage virulent, ob der jeweiligen Schule wegen der besonderen Bedingungen des 41 Zitat: Domdey, Grundsätze und Forderungen, Berliner Lehrerzeitung 1929, S. 291. Nach Domdey sollte jeder Lehrer an einer Versuchsschule eine „genügende theoretische Vorbildung für diese pädagogische Sonderaufgabe“ besitzen. Weiterhin müssten sie aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeit den Nachweis praktischer Eignung erbracht haben, weshalb niemals Anfänger im Lehrerberuf sofort an einer Versuchsschule beschäftigt werden dürften. 42 Zur Notwendigkeit einer zur Innovation befähigten Lehrerschaft (und auch Schüler- und Elternschaft): Kurt Aurin, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Schulversuche in Planung und Erprobung. Innovationsstudien zur Schulreform an niedersächsischen Modellschulen und Schulversuchen, Hannover u.a. 1972, S. 14, 33 f.; Hermann Röhrs, Modellversuche als wissenschaftstheoretisches und didaktisch-organisatorisches Problem, in: ders. (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 14: Studien zur Pädagogik der Gegenwart, Weinheim 2000, S. 102; Fend, Gesamtschule im Vergleich, S. 430 f. In die gleiche Richtung das Resümee von: Gotthilf Gerhard Hiller, Zeitprobleme in schulischen Reformprojekten, in: Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hrsg.), Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt a.M. 1990, S. 197: „Wenn es gelingt, die berufliche Kompetenz von Mitgliedern des Kollegiums oder aber deren besonderen auch außerschulischen Fähigkeiten und Interessen an das Reformkonzept zu binden, steigen die Realisierungschancen erheblich. Je komplexer und langfristiger Weiterentwicklungsvorhaben allerdings angelegt werden, desto mehr Zeit und Kraft sind für vertrauensbildende und loyalitätserhaltende Maßnahmen innerhalb des Kollegiums zu veranschlagen. Etablierte Reformstrukturen lassen sich auf Dauer nur sichern, wenn an solch besonderen Staatsschulen den Lehrkräften der reformtragenden Gruppen ein Mitwirkungsrecht bei der Neubesetzung vakanter Stellen im Kollegium zugebilligt wird.“ Zur entscheidenden Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit für guten Unterricht statt vieler eindrucksvoll: Michael Barber/Mona Mourshed, How the world’s best-perform ing schools come out on top, hrsg. v. McKinsey&Company, September 2007, OnlinePublikation: http://mckinseyonsociety.com/how-the-worlds-best-performing-schoolscome-out-on-top.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
Versuchs auch besondere, also gegenüber anderen Schulen zusätzliche personelle und sächliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden sollen. Erinnert sei an die später im Sande verlaufene Forderung eines Vielmillionenfonds für Versuchsschulen auf der Reichsschulkonferenz im Jahr 1920, aber andererseits auch an die durchaus beträchtliche finanzielle Förderung von Schulversuchen durch die frühere Bund-Länder-Kommission. Bei einer Prüfung des BLKModellversuchsprogramms brachte der Bundesrechnungshof bereits 1974 die – erst viele Jahre danach, bei der Beendigung des BLK-Programms wieder aufgegriffenen – Bedenken gegen Sonderbedingungen auf den Punkt. Die für eine spätere Auswertung der Versuche notwendige Vergleichbarkeit der Ergebnisse mit denjenigen des herkömmlichen Schulsystems werde gefährdet, „wenn durch eine hohe Bundesförderung vor allem für zusätzliches Personal und zusätzliche Ausstattung die Bedingungen der Versuchseinrichtung gegenüber der Regeleinrichtung erheblich besser sind“.43 Von der Vergleichbarkeit hängt entscheidend die Bewertung ab, ob ein Schulversuch tatsächlich zu dem intendierten Erfolg und damit schulpolitischen Fortschritt geführt hat, oder ob dieser nicht in erster Linie verbesserten Rahmenbedingungen zuzuschreiben ist. Außerdem stellt sich stets die Frage der Übertragbarkeit des Versuchs. Ein Schulversuch ist im Regelfall nur dann geeignet, das Schulsystem weiterzuentwickeln, wenn die Neuerung über die begrenzte Zahl der am Schulversuch beteiligten Schulen auf alle oder doch möglichst viele der potentiell in Betracht kommenden Schulen ausgeweitet werden kann. Scheitert dies aber daran, dass die höheren Versuchsressourcen angesichts begrenzter Haushaltsmittel nicht oder nicht in ähnlichem Umfang gewährt werden können, bleibt der Schulversuch ein folgenloser Solitär. Genau deshalb ermöglichen die Schulversuchsklauseln – wie bereits im Zusammenhang mit der Mindestgröße von Versuchsschulen erörtert – grundsätzlich keinen Dispens von den allgemeinen schulrechtlichen Vorschriften der Schulfinanzierung und des Haushaltsrechts. Soweit eine Ausnahme für den Fall denkbar ist, dass gerade die Ressourcenverbesserung zentraler Gegenstand des Versuchs ist, also etwa die Unterschreitung von Klassenmindestgrößen, mag zwar der Schulversuch nach § 25 SchulG NRW zuzulassen sein, sofern außerdem eine haushaltsrechtliche Ermächtigung für diese versuchsweise Privilegierung vorliegt.44 Wenn aber die Übertragung der günstigen Versuchsbedingungen auf das Regelsystem nicht finanzierbar ist, sind dies Schulversuche, die letztlich nur 43 Zitat: Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof, Bemerkungen des Bundes rechnungshofes zur Bundeshaushaltsrechnung (einschließlich der Bundesvermögens rechnung) für das Haushaltsjahr 1974, hier: Bildungsplanung. Förderung von Versuchs- und Modelleinrichtungen und -programmen, Deutscher Bundestag, 7. WP, BTDrs. 7/5849 v. 26.10.1976, Ziff. 210. 44 Siehe oben Dritter Teil Zweites Kapitel I. 5. b) ee).
3. Kap.: Rechtsfragen der Durchführung von Schulversuchen
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einer theoretischen Erkenntnisbasis dienen. Derartige Schulversuche sind dann nur gerechtfertigt als Option für haushaltspolitisch bessere Zeiten. Allerdings tangieren nur solche zusätzlichen Ressourcen die Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit eines Versuchs, die eine Erhöhung der Standards bezogen auf den Unterricht und die schulischen Rahmenbedingungen gegenüber dem Regelsystem darstellen. Unproblematisch und sachgerecht sind begrenzte zusätzliche Mittel- und Stellenzuweisungen an die betroffene Schule für die Vorbereitung des Versuchs (Konzepterstellung, Abstimmung mit allen Beteiligten, Vertretung des Projekts nach außen), versuchsbegleitende Dokumentation und Mithilfe an der wissenschaftlichen Begleitung sowie abschließenden Auswertung. Im Gegenteil, ohne solche den Versuch erst ermöglichende Ressourcen hat ein Schulversuch unter schlechteren Bedingungen als das Regelsystem zu arbeiten, weil ansonsten insbesondere der entsprechende versuchsbedingte personelle Mehrbedarf aus dem für den Unterricht zur Verfügung stehenden Personalbestand bestritten werden muss. Insoweit ist dann umgekehrt die Vergleichbarkeit zu Lasten des Versuchs infrage gestellt. Die nach dem Schul- und Haushaltsrecht der Länder für Schulversuche möglichen zusätzlichen Mittel und Stellen sind also grundsätzlich nur für durch die Planung, Begleitung und Auswertung von Versuchen erforderlichen Mehr- und Ausgleichsbedarfe zu verwenden. Dies betrifft Regelungen wie die bereits im Zusammenhang mit den Mindestgrößen von Versuchsschulen erwähnten §§ 9 Abs. 2 Ziff. 2, 10 Abs. 2 AVO NRW,45 aber auch Bestimmungen in Arbeitszeitverordnungen für Lehrkräfte, wonach für Schulversuche Anrechnungsstunden gewährt werden können.46 Dass es sich hierbei nicht um Anrechnungen für die gewöhnliche Erteilung des Unterrichts handelt, kommt dabei deutlich in der einschlägigen niedersächsischen Regelung zum Ausdruck, in der die Mitwirkung an einem Schulversuch als Wahrnehmung einer Sonderaufgabe bezeichnet wird. Auch bei Schulversuchen im Ersatzschulwesen können nach der jeweiligen Ersatzschulfinanzierung der Länder zusätzliche Bedarfe refinanziert werden. Die Berliner Ersatzschulzuschussverordnung enthält sogar eine eigene Bestimmung zu Schulversuchen (§ 6 ESZV). Wird einem Schulträger die Durchführung eines Schulversuchs genehmigt, ist hiernach mit der Genehmigung zugleich über die zugrunde zu legende Personalausstattung und die Berechnung der vergleich45 Siehe
oben ebenda. § 16 der „Verordnung über die Arbeitszeit der Beamtinnen und Beamten an öffentlichen Schulen“ des Landes Niedersachsen v. 14.05.2012 (GVBl. S. 106); § 14 der „Verordnung über die Arbeitszeit der Lehrkräfte an öffentlichen Schulen“ des Landes Sachsen-Anhalt v. 06.09.2001 (GVBl. S. 376) i.d.F. der ÄndVO v. 30.10.2007 (GVBl. S. 354); § 8 der Lehrkräfte-Arbeitszeitverordnung Rheinland-Pfalz v. 30.06.1999 (GVBl. S. 148). 46 Siehe:
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
baren Personalkosten zu entscheiden. Soweit entsprechende Schulversuche an öffentlichen Schulen durchgeführt werden, soll sich die Berechnung der vergleichbaren Personalkosten an der Personalausstattung der öffentlichen Schulen orientieren.47 In Nordrhein-Westfalen können nach § 106 Abs. 10 SchulG NRW zusätzliche Personal- und Sachausgaben für Bedarfe, die nicht bereits durch die normalen Kostenpauschalen abgedeckt sind, bis zur Höhe der tatsächlichen Ausgaben durch die obere Schulaufsichtsbehörde anerkannt werden, wenn hierfür ein besonderes pädagogisches oder ein besonderes öffentliches Interesse vorliegt. Solche Zusatzbeihilfen sind gemäß § 2 Abs. 5 FESchVO NRW48 grundsätzlich nur befristet bis zu fünf Jahren zu bewilligen, wobei erneute Bewilligungen zulässig sind. Wie in Berlin hat die Bewilligung sich an den Sonderbedarfen vergleichbarer öffentlicher Schulen auszurichten. Die aufgezeigten Grenzen für die Gewährung zusätzlicher Versuchsressourcen werden vielfach nicht beachtet. Dies betraf in der Vergangenheit nicht nur einen Großteil der BLK-Modellversuche. Vor allem die versuchsweise Einführung neuer Schulformen wurde allzu häufig in bedenklicher Weise mit ressourcenmäßigen Privilegierungen vorangetrieben, wobei die Gefahr sachfremder Erwägungen hinsichtlich der Teilnahme am Versuchsprogramm oftmals nicht zu verkennen war. So gewährte man in Nordrhein-Westfalen während des Schulversuchs Gesamtschule in den 1970er Jahren diesen einen 10 %igen Stellenzuschlag49 sowie eine bessere Besoldungsstruktur und eine höhere Schulleitungsentlastung als den anderen weiterführenden Schulformen. Auch der derzeit in Nordrhein-Westfalen stattfindende Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ erfolgt unter ähnlich privilegierten, nicht unbedenklichen Konditionen. Durch die im Rahmen des dortigen Schulkonsenses im Jahr 2011 vorgenommene schulgesetzliche Bestandsschutzregelung für diesen Schulversuch sind auch die in den vorherigen ministeriellen Versuchseckpunkten festgesetzten und in den Genehmigungsbescheiden übernommenen Rahmenbedingungen konserviert worden.50 47 § 6 Satz 1 und 2 der Berliner „Verordnung über Zuschüsse für Ersatzschulen (Ersatzschulzuschussverordnung – ESZV)“ v. 29.11.2004 (GVBl. S. 479) i.d.F. der ÄndVO v. 16.12.2010 (GVBl. S. 664). 48 „Verordnung über die Finanzierung von Ersatzschulen (Ersatzschulfinanzierungs verordnung – FESchVO)“ v. 18.03.2005 (SGV. NRW S. 223) i.d.F. der ÄndVO v. 14.11.2011 (GV. NRW S. 558 / BASS 11 – 03 Nr. 7.1). 49 Dazu: Regenbrecht, Schulversuch Gesamtschule, S. 32. Siehe auch die Feststellung bei Fend (Gesamtschule im Vergleich, S. 455), wonach die in den 1970er Jahren untersuchten Gesamtschulen der Schulversuche in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen im Bereich der Ausstattung der Schulen immer günstiger als die Regelschulen abgeschnitten haben. 50 Siehe dazu oben Zweiter Teil Neuntes Kapitel IV. 3. – Nach den Eckpunkten für den Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ werden Ressourcen zur Verfügung gestellt, die erheblich über den Regelstandards liegen. Siehe dazu die Auflistung: ebenda,
3. Kap.: Rechtsfragen der Durchführung von Schulversuchen
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Sie gelten jetzt für die 12 verbliebenen Versuchsschulen fort, wobei im Übrigen eine – wie zunächst geplant – flächendeckende Übertragung des Schulversuchs zu derart günstigen Versuchskonditionen auf längere Zeit unmöglich gewesen wäre. Für die seitens der rot-grünen Landesregierung in ihrer Koalitionsvereinbarung aus dem Jahr 2010 ursprünglich verfolgte Zielmarke von landesweiten 30 % „Gemeinschaftsschulen“ hätten nicht nur alle aufgrund des Schülerrückgangs bis 2020 freiwerdenden Lehrerstellen im nordrhein-westfälischen Schulsystem in Anspruch genommen, sondern sogar noch trotz aller aktuellen haushaltspolitischen Einsparnotwendigkeiten zusätzliche Stellen im Landeshaushalt geschaffen werden müssen. Dies wäre dann sicherlich zu Lasten aller anderen Schulformen gegangen.51
IV. Einflussnahme Dritter auf Schulversuche Schulversuche werden nicht selten von außen, also von Institutionen und Personen, die weder auf Landes- und Schulträgerseite noch auf Schulebene Teil des Schulwesens sind, angestoßen und auch unterstützt. Nicht nur Wissenschaftler sowie pädagogische Forschungs- und Lehreinrichtungen entwickeln aus eigenem Antrieb Ideen für Schulversuche und werben bei Schulen, Schulaufsichtsbehörden sowie Schulministerien für deren Umsetzung. Deutlich zugenommen hat in den letzten Jahren vor allem das Engagement privater Stiftungen. Der Bildungsbereich ist zu einem der Hauptbetätigungsfelder gemeinnütziger Stiftungen geworden. Bei den großen deutschen Stiftungen sind ganze Abteilungen, Stäbe und „Kompetenzzentren“ entstanden, die durch zukunftsorientierte Projekte Anstöße zu Reformprozessen im Bildungswesen geben wollen. Verbunden damit ist ein gewandeltes Selbstverständnis. Stiftungshandeln soll mehr sein als „nur“ Geld ausgeben. Über die traditionelle Förderung hinaus besteht der Anspruch, selbst operativ als Akteur in Erscheinung zu treten, selbst Veränderungsprozesse zu initiieren und mit zu steuern.52 So war nicht nur der bislang größte Schulversuch in Nordrhein-Westfalen, das Modellvorhaben „Selbstständige Schule“, ein gemeinsames Projekt des Schulministeriums und der in Nordrhein-Westfalen ansässigen Bertelsmann-Stiftung. In vielen Ländern lassen sich aktuell Beispiele finden, bei denen Stiftungen und von ihnen beauftragte Institute maßgeblich als „Kooperationspartner“ an SchulFn. 58. Einzig der dort aufgeführte „Versuchszuschlag“ in Höhe von 0,5 Stellen pro Schule und Jahr wegen eines angenommenen erhöhten Schulentwicklungsaufwands erscheint tatsächlich gerechtfertigt. 51 Davor seinerzeit warnend: Winands, Gemeinschaftsschule, DÖV 2011, S. 52 f. 52 Vgl. exemplarisch: Stiftung Mercator (Hrsg.), Mercator 2013: Ideen beflügeln, Ziele erreichen, Essen 2011, insb. S. 12 f.
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
versuchen mitwirken. Ohne deren finanzielle Unterstützung könnte oftmals die wissenschaftliche Begleitforschung nicht sichergestellt werden53 und auch nicht notwendige Unterrichtsmaterialien, Lehrerfortbildungen und Vernetzungen von am Versuchsprogramm teilnehmenden Schulen. Dies führt andererseits mitunter zu einem derart großzügigen finanziellen Rahmen, insbesondere wenn nicht nur rein versuchsbegleitende Aufwendungen getragen werden, dass auch hier Bedenken hinsichtlich der späteren Übertragbarkeit des Versuchs auf das Regelsystem offensichtlich sind. Des Weiteren darf sich der Staat nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen. Die auch von der Schulpolitik gewünschte stärkere Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schulen bedeutet nicht, dass diese „autonomen“ Schulen losgelöst von der staatlichen Schulaufsicht agieren und mit Stiftungen Reformprojekte in Angriff nehmen könnten, bei denen der Staat nur noch die Genehmigung aussprechen und ansonsten einzig als Zuschauer auftreten darf. Die Zusammenarbeit mit Dritten bei Schulversuchen ist in den Landesschulgesetzen nicht explizit geregelt. Meist finden sich nur allgemeine Bestimmungen wie in § 5 SchulG NRW zur „Öffnung von Schule und Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern“. Danach sollen Schulen in gemeinsamer Verantwortung mit den Trägern der öffentlichen und der freien Jugendhilfe, mit Religionsgemeinschaften und „mit anderen Partnern zusammenarbeiten, die Verantwortung für die Belange von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen tragen und Hilfen zur beruflichen Orientierung geben.“ Zudem ist in den Schulgesetzen allgemein die Entgegennahme von Zuwendungen Dritter geregelt. Nach § 98 SchulG NRW können Schulen für den Schulträger bei der Erfüllung ihrer Auf gaben durch Sach- und Geldzuwendungen Dritter unterstützt werden. Der Schulträger soll dabei sicherstellen, dass einzelne Schulen nicht unangemessen bevorzugt oder benachteiligt werden. Die Schulen dürfen gemäß § 99 SchulG NRW zur Erfüllung ihrer Aufgaben auch selbst für den Schulträger Zuwendungen von Dritten entgegennehmen und auf deren Leistungen in geeigneter Weise hinweisen (Sponsoring), wenn diese Hinweise mit dem Bildungs- und Erziehungsauf53 Exemplarisch: Förderung der wissenschaftlichen Begleitung des Schulversuchs „Bilingualer Unterricht an Realschulen in Nordrhein-Westfalen“ (1992–2001) aus Mitteln der Cornelsen-Stiftung „Lehren und Lernen“ im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft. Hinweis auf die Förderung bei: Glaap, Schulversuch Bilingualer Unterricht an Realschulen, S. 2. – Zurzeit der BLK-Modellversuche hat der Bund h äufig die wissenschaftliche Begleitung, zumeist hälftig, finanziert, so etwa beim NRWSchulversuch Kollegschule. Siehe Vorwort in: Kultusministerium NRW, Schulversuch Kollegschule. – Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat sogar bis in die jüngste Zeit trotz der Föderalismusreform vereinzelt weiter die wissenschaftliche Begleitung von Schulversuchen in den Ländern gefördert, z.B., wie bereits im Zweiten Teil Sechstes Kapitel III. 5. erwähnt, den 2009 eingerichteten Schulversuch „Reformklassen“ im Saarland.
3. Kap.: Rechtsfragen der Durchführung von Schulversuchen
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trag der Schule vereinbar sind und die Werbewirkung deutlich hinter den schulischen Nutzen zurücktritt. Eine Begrenzung inhaltlicher Einflussnahme ist schulrechtlich nicht geregelt, im Gegensatz zu einer im Bildungsgesetz des Schweizer Kantons Zürich anzutreffenden Vorschrift, dem dortigen § 12: „Die Unterstützung von Versuchen durch Dritte ist zulässig, soweit diese keinen Einfluss auf Ziele, Gegenstand und Durchführung nehmen können und ihr Ansehen und ihre Geschäftstätigkeit mit dem Bildungszweck vereinbar sind.“54 Dieses strikte Einflussverbot dürfte zwar zu weit gehen, enthält aber im Kern die richtige Botschaft: Das öffentliche Schulwesen steht in der Verantwortung des ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten Staates und nicht von gesellschaftlichen Gruppen, die zwar ebenfalls aus höchst achtenswerten altruistischen Beweggründen Verantwortung für das Ganze übernehmen wollen, jedoch weder demokratisch legitimiert noch wirklich frei davon sind, auch partikuläre Interessen – und sei es nur die eigene positive Außendarstellung – zu verfolgen. Unproblematisch und häufige Praxis sind in diesem Zusammenhang Versuchsbeiräte, die durch das Ministerium zur Vorbereitung, Begleitung und Auswertung eines Schulversuchs berufen werden. Die Beiräte beraten die Schulen, die Schulaufsicht und das Ministerium zu diesbezüglich wichtigen Fragen. Mitglieder sind in der Regel Wissenschaftler und Experten aus der Praxis, meist auf ehrenamtlicher Basis. Solche Beiräte können zur öffentlichen Akzeptanz der Versuche beitragen.55
54 § 12
Bildungsgesetz des Kantons Zürich (zu diesem bereits oben Dritter Teil Erstes Kapitel, Fn. 73). 55 Siehe auch: § 8 der brandenburgischen Schulversuchsverordnung v. 23.04.1997 (GVBl. II S. 261).
Viertes Kapitel
Beendigung von Schulversuchen I. Nach Auslaufen des Versuchs: Handlungsoptionen und Übertragbarkeit Der Versuch soll erproben, aber keinen Dauerzustand darstellen. Schulver suche sind daher auf Befristung angelegt; die Befristung ist in den Genehmigungsbescheid aufzunehmen (§ 25 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Satz 2 SchulG NRW). Die normale Beendigung eines Schulversuchs besteht demnach in dessen Auslaufen am Ende des im Genehmigungsbescheid festgesetzten Versuchszeitraums. Schon vor Versuchsablauf bedarf es der Prüfung, ob die erprobte Maßnahme die Versuchsziele erreicht hat. Denn ist dies nicht der Fall, muss darüber entschieden werden, ob unter Umständen eine Versuchsverlängerung erfolgen soll. Eine solche kann angeraten sein, wenn die Versuchsdauer von vornherein zu kurz gewählt worden war, es unerwartete Anfangsschwierigkeiten gab oder der Versuchsverlauf gezeigt hat, dass der Versuch modifiziert werden muss, um hinreichende Erkenntnisse zu gewinnen.1 Eine Versuchsverlängerung bedarf der erneuten Genehmigung unter Beachtung der schulgesetzlichen Ermächtigungsvorschrift. Auch eine mehrmalige Verlängerung ist möglich, solange dadurch kein Dauerzustand perpetuiert wird. Mit jeder Verlängerung steigt insoweit die Begründungshürde. Wie Schulträger und Schulen keinen Anspruch auf Einrichten eines Schulversuchs haben, besteht grundsätzlich genauso wenig ein Anspruch auf dessen Fortführung, da die administrative Letztentscheidung, welche Maßnahmen zur Weiterentwicklung des Schulwesens erforderlich sind, bei den staatlichen Schulaufsichtsbehörden liegt. Auch geben die Grundrechte von Eltern und Schüler diesen, wie eingehend dargelegt, keinen Anspruch auf Einrichtung eines Schulversuchs und damit in der Konsequenz gleichfalls grundsätzlich keinen Anspruch auf Fortführung eines Versuchs.2 1 Siehe
auch § 6 Abs. 3 Satz 2 der brandenburgischen Schulversuchsverordnung v. 23.04.1997 (GVBl. II S. 261): „Eine Verlängerung der Genehmigung über die geplante Dauer hinaus kann gewährt werden, wenn dies dem Erreichen des Versuchsziels dient oder davon zusätzliche Erkenntnisse von besonderer Bedeutung zu erwarten sind.“ 2 Vgl.: BVerwG, Beschl. v. 17.12.1975 – VII B 51/75, NJW 1976, 864; Weber, in: Jehkul u.a., Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 1.2; Woltering/Bräth, Niedersächsisches Schulgesetz, § 22 SchulG Rn. 4.
4. Kap.: Beendigung von Schulversuchen
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Mit der Auswertung der Erprobung kann aus einem weiteren Grund meist nicht bis zum Versuchsablauf zugewartet werden. Soll der Schulversuch ins Regelsystem übertragen werden, muss für diejenigen Schulen, die den Schulversuch durchgeführt haben oder gar als Versuchsschule errichtet worden sind, eine nahtlose Anschlusslösung gefunden werden. Den betroffenen Schulen und Schulträgern ist es grundsätzlich nicht zumutbar, die für den Versuch erfolgten organisatorischen und pädagogischen Veränderungen zurückzunehmen, um sie dann nach einem oder zwei Schuljahren wieder aufleben zu lassen. Dies kann auch nicht im allgemeinen öffentlichen Interesse sein. Deshalb erfolgen bei Schulversuchen häufig Zwischenevaluationen,3 die im Übrigen auch Anlass geben können, Schulversuche vorzeitig zu beenden, und oft ein Auswertungsund Übertragungsprozess bereits geraume Zeit vor dem Abschluss des Versuchs. Nach dem Runderlass des Schulministeriums NRW „Mehr Freiräume für innovative schulische Vorhaben“ soll spätestens sechs Monate vor Ablauf des Erprobungszeitraums ein Evaluationsbericht vorgelegt werden.4 Da zur Übertragung der Ergebnisse eines Schulversuchs auf das Regelsystem schulgesetzliche oder -verordnungsrechtliche Vorschriften zu ändern sind und die flächendeckende Ausweitung der Maßnahme mitunter einen zusätzlichen, im Landeshaushalt noch nicht abgebildeten Personalbedarf erfordert, gelingt es jedoch nicht immer, den Versuch ohne Zeitverzug zu überführen. Insbesondere kann es der Gesetzgeber sein, der eine umfassende Auswertung eines tatsächlich abgeschlossenen Versuchs erwartet, bevor er die entsprechenden schul- und haushaltsgesetzlichen Änderungen beschließt.5 Mangels Erprobungsbedarfs kann der bisherige Schulversuch in diesem Fall nicht mehr für die an ihm beteiligten Schulen verlängert werden. Eine Lösung des Konflikts kann nur dadurch erfolgen, dass entweder der Versuch modifiziert oder ein ergänzendes Versuchsprogramm konzipiert wird, in dem speziell für die Übertragung der bisherigen Versuchsergebnisse weitere Erkenntnisse gesammelt werden sollen.6 Besser 3 Siehe dazu etwa: Ziff. II.2. der thüringischen Schulversuchsrichtlinie v. 02.09.1993 (S. 386 Fn. 42), wonach die Ergebnisse und Evaluationsprozesse in einen jährlichen Zwischenbericht zu fassen sind. Eine jährliche Berichtspflicht über die Erfahrungen mit einem Schulversuch gab es auch z.B. in Nordrhein-Westfalen bei dem Schulversuch „Bilinguale Realschulen“: Einrichtung eines deutsch-englischen bilingualen Zweiges, Erlaß des Kultusministeriums NRW v. 30.11.1992, Az. II B 4. 36-25/0, abgedruckt in: Glaap, Schulversuch Bilingualer Unterricht an Realschulen, S. 5 f. 4 Ziff. 4.3 des Runderlasses (siehe oben Dritter Teil Zweites Kapitel, Fn. 114). 5 Das Schulgesetz Schleswig-Holsteins geht in seinem § 138 Abs. 2 Satz 4 anscheinend davon aus, dass eine Auswertung erst nach Abschluss eines Versuchs erfolgt. Danach sind Schulversuche „zeitlich zu begrenzen und in angemessener Zeit daraufhin auszuwerten, wieweit ihre Ergebnisse auf das Schulwesen übertragbar sind.“ 6 Zu einfach machte es sich das nordrhein-westfälische Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung bei einem 1994 begonnenen und nach einer einmaligen
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
wäre es freilich de lege ferenda, wenn die Schulversuchsklauseln eine Übergangsbestimmung aufwiesen, was derzeit in keinem Land gegeben ist. Soweit der Schulversuch das angestrebte Versuchsziel nicht erreicht hat, scheidet eine Übertragung ins Regelsystem aus. Mit Ende des Schulversuchs sind die betroffenen Schulen diesbezüglich wieder uneingeschränkt an geltendes Schulrecht gebunden. Eine Versuchsschule ist in diesem Fall aufzuheben oder zumeist in eine der in den Schulgesetzen aufgeführten Regelschulformen zu überführen.7 Einzelne Versuchsschulen, deren pädagogisches oder organisatorisches Konzept zwar erfolgreich ist, aber für eine flächendeckende Einführung nicht in Betracht kommt, können – wie bereits aufgezeigt8 – in einigen Bundesländern aufgrund schulgesetzlicher Ausnahmebestimmungen durchaus dauerhaft fortbestehen.
II. Vorzeitiger Abbruch des Versuchs Erweist sich im Laufe eines Schulversuchs, dass die angestrebten Versuchsziele nicht oder nicht in vollem Umfang erreicht werden können oder der Versuch keine weiteren nutzbringenden Ergebnisse mehr erbringt, muss dieser grundsätzlich nicht bis zu Ende geführt werden. Das Ministerium ist in diesem Fall sogar gehalten zu prüfen, ob der Versuch vorzeitig abzubrechen und damit die Abweichung vom Regelsystem zu beenden ist. Wenn eine Ausnahme nicht weiter zu rechtfertigen ist, gebietet es der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, den schulgesetzlichen Normalzustand wiederherzustellen. Die Schulgesetze in Berlin und Niedersachsen sehen ausdrücklich vor, dass die Genehmigung von Schulversuchen widerruflich ist.9 Nach dem Schulgesetz Mecklenburg-Vorpommerns kann die Genehmigung unter einem Vorbehalt
Verlängerung zum 01.08.2000 ausgelaufenen „Schulversuch Förderschule“. In dem Abschlussbericht hierzu heißt es, ohne eine gesetzliche Grundlage zu nennen, unter Hinweis auf einen Erlass des Ministeriums v. 04.04.2000: „Obwohl die Versuchsphase beendet ist, können die Förderschulen bis zur politischen Entscheidung, welche Konsequenzen aus dem Versuch zu ziehen sind, wie bisher weitergeführt werden.“ Siehe: Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Schulversuch Förderschule. Abschlussbericht, Düsseldorf 2001 (Online verfügbar: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Schulsystem/Schulformen/Foerderschulen/ AbschlussberichtFoerderschule.pdf), S. 6. 7 Siehe auch die entsprechende ausdrückliche Regelung in § 14 Abs. 5 SchulG HE. Ähnlich: § 138 Abs. 4 SchulG SH. 8 Siehe oben Dritter Teil Erstes Kapitel III. 5. 9 § 18 Abs. 2 Satz 2 SchulG BE, § 22 Abs. 3 Satz 2 SchulG NI.
4. Kap.: Beendigung von Schulversuchen
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des Widerrufs erteilt werden.10 In den anderen Ländern fehlt zwar eine entsprechende schulgesetzliche Regelung, doch ergibt sich hier die Zulässigkeit eines Widerrufsvorbehalts aus § 36 Abs. 2 Nr. 3 und Abs. 3 des jeweiligen LandesVerwaltungsverfahrensgesetzes, sofern die Genehmigung des Schulversuchs ein Verwaltungsakt ist. In Nordrhein-Westfalen ist dies nach der vorliegend vertretenen Rechtsansicht bei allen Schulversuchen mit Ausnahme von Schulverfassungsversuchen und sonstigen organisatorischen Versuchen ohne Bezug zu Schulträgerinteressen der Fall.11 Die an den Schulträger – oder gegebenenfalls an die Schule als nicht rechtsfähige Anstalt des Schulträgers – gerichtete Versuchsgenehmigung kann daher nach pflichtgemäßem Ermessen mit einem Widerrufsvorbehalt versehen werden. Gestützt auf einen solchen Vorbehalt ist ein späterer vorzeitiger Abbruch eines Schulversuchs möglich. Die Genehmigung kann in diesem Fall gemäß § 49 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW als begünstigender Verwaltungsakt ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden. Ein pauschaler Widerrufsvorbehalt ohne jede Bindung an bestimmte inhalt liche Voraussetzungen würde allerdings berechtigten Interessen des Schulträgers und der am Schulversuch teilnehmenden Schüler sowie deren Eltern zuwiderlaufen. Zwar haben Schulträger, Schüler und Eltern grundsätzlich keinen Anspruch auf Durchführung eines Versuchs. Genehmigt der Staat allerdings einen Versuch, müssen sich die am Versuch Beteiligten im Hinblick auf die Berechenbarkeit staatlichen Handelns und der von ihnen im Vertrauen hierauf getroffenen Entscheidungen darauf verlassen können, dass der in der Genehmigung vorgesehene Versuchszeitraum grundsätzlich eingehalten und ein Versuch nicht ohne sachgerechten Grund vorzeitig abgebrochen wird. Ein Widerruf nach Gutdünken scheidet deshalb aus. Vielmehr kann ein Widerruf sachgerecht nur für die Fälle vorbehalten werden, dass im Laufe der Versuchsdurchführung ein Nichterreichen der Versuchsziele ganz oder teilweise offenbar wird oder der Versuch keine weiteren, für seine Auswertung relevanten Ergebnisse mehr verspricht. Dadurch entfällt in beiden Konstellationen der für eine Fortsetzung erforderliche Erprobungsbedarf.12 Sofern man entgegen der hier vertretenen Auffassung auch einen allgemeinen Widerrufsvorbehalt in Versuchsgenehmigungen für rechtmäßig erachtet, vergleichbar mit der Widerrufsmöglichkeit aufgrund schulgesetzlicher Bestimmungen in Berlin und Niedersachen, ergeben sich die soeben aufgezeigten Begrenzungen im Zuge der Ausübung des Widerrufsermessens. Bedenken bestehen, einen Widerrufsvorbehalt auch für den Fall zuzulassen, dass die sächlichen und personellen Voraussetzungen für die weitere Versuchs10 § 38 Abs. 3
Satz 2 SchulG MV. bereits näher oben Dritter Teil Zweites Kapitel I. 6. b) und II. 3. 12 Siehe auch § 35 des DJT-Entwurfs für ein Landesschulgesetz (abgedruckt im Anhang): „Sind die Voraussetzungen des Versuchsprogramms nicht mehr erfüllt, kann der Kultusminister Versuchsschulen aufheben.“ 11 Dazu
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3. Teil: Die Ausgestaltung im geltenden Recht
durchführung nicht mehr gewährleistet werden können. Ein solcher Störfall sollte nur unter den engeren Voraussetzungen des § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG NRW zum Widerruf berechtigen, also nur aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen und ansonsten bei Gefährdung des öffentlichen Interesses, was vorliegend bedeutet, dass eine spätere, die Versuchsdurchführung erschwerende Ressourcenknappheit bei Versuchsbeginn nicht vorhersehbar sein darf.13 Diese Begrenzung der Widerrufsmöglichkeit ist eine Bremse dagegen, dass der experimentierende Staat vor Versuchsbeginn die notwendigen Rahmenbedingungen nicht sorgfältig ermittelt und sicherstellt. Tritt dann ein solcher Störfall ein, haben er und gegebenenfalls der betroffene Schulträger durch Umschichtungen im Haushalt und personelle Umsetzungs-, Abordnungs- und Versetzungsmaßnahmen die aufgetretenen Probleme zu lösen; ein vorzeitiger Abbruch scheidet demzufolge aus. Ein Widerruf ist allerdings ferner gemäß § 49 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG NRW bei Verstoß gegen eine mit einem Genehmigungsbescheid verbundene Auflage möglich. Auflagen, mit denen dem Begünstigten ein Tun, Dulden oder Unterlassen vorgeschrieben wird, sind nach § 36 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 VwVfG NRW ebenfalls nach pflichtgemäßem Ermessen zulässig, wobei sie – wie auch ein Widerrufsvorbehalt – dem Zweck des Verwaltungsaktes nicht zuwiderlaufen dürfen. Die Versuchsgenehmigung kann daher gebunden werden an Auflagen „insbesondere bezüglich der Zielsetzung, der schulorganisatorischen Bedingungen unter Berücksichtigung des Schulentwicklungsplanes, der haushaltsmäßigen Auswirkungen, zur Art der fachlichen Begleitung sowie zu Festlegungen zum Zeitplan“.14 So werden in Nordrhein-Westfalen alle Versuchsgenehmigungen nach der Experimentierklausel des § 25 Abs. 3 SchulG NRW mit der Auflage versehen, dass die Entwicklungsvorhaben keinen zusätzlichen Bedarf an Lehrerstellen begründen. Darüber hinaus werden beispielsweise die Vorlage
13 Tatsachen, die einer Behörde bei Erlass eines Verwaltungsaktes bekannt waren, aber nicht berücksichtigt wurden, berechtigen diese nicht zu einem Widerruf. Im Übrigen werden im Schrifttum Zweifel angemeldet, ob eine veränderte Haushaltslage überhaupt als Tatsache i.S. der Norm angesehen werden kann, da anderenfalls ein Dauerverwaltungsakt stets unter dem Vorbehalt der Haushaltsentwicklung stünde. Jedenfalls sei vorher sorgfältig abzugrenzen, ob nicht lediglich eine neue Bewertung substantiell unverändert gebliebener Verhältnisse vorgenommen werde. Vgl.: Hubert Meyer, in: Hans Joachim Knack/Hans-Günter Henneke (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 9. Aufl., Köln 2010, § 49 VwVfG Rn. 47 f. 14 Zitat: § 6 Abs. 1 Satz 2 Schulversuchsverordnung BB (Fn. 1). – Siehe auch: § 10 Satz 1 der Berliner Ausführungsvorschriften über Schulversuche (Dritter Teil Zweites Kapitel, Fn. 33), wonach die Versuchsgenehmigung „mit Auflagen, insbesondere zur pädagogischen Konzeption und zu den haushaltsmäßigen Auswirkungen“ verbunden werden kann.
4. Kap.: Beendigung von Schulversuchen
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eines tragfähigen Förderkonzepts oder die Anpassung an bestimmte Richtlinien und Lehrpläne zur Auflage gemacht.15 In den Genehmigungsbescheiden für Schulversuche findet sich häufig eine Bestimmung, wonach wesentliche Änderungen des vorgelegten pädagogischen Konzepts innerhalb des Versuchszeitraums, insbesondere solche, die Auswirkungen auf die Genehmigungsvoraussetzungen haben, einer weiteren ministeriellen Genehmigung bedürfen.16 Dies ist rechtlich gleichfalls als Auflage einzuordnen. Das Ministerium hat, wenn es die Konzeptänderung nicht befürwortet, zunächst als weniger einschneidendes Mittel Schule und Schulträger dazu anzuhalten, bei der genehmigten Konzeption zu bleiben, kann aber, wenn das nicht gelingt oder erfolgversprechend erscheint, die Genehmigung wegen Verstoß gegen jene Auflage widerrufen. Die sonstigen möglichen Widerrufsgründe, Änderung der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Sach- oder Rechtslage (§ 49 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwVfG NRW) oder – als ultima ratio – Verhütung und Beseitigung schwerer Nachteile für das Gemeinwohl (§ 49 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW), greifen aufgrund der hier geltenden besonderen Anforderungen kaum bei Versuchsgenehmigungen. Allerdings sind nachträglich eingetretene Tatsachen auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die zu einer anderen Bewertung von bei Erlass des Verwaltungsaktes schon bekannten und berücksichtigten Tatsachen führen.17 Da zudem das Interesse an der sparsamen Verwendung von öffentlichen Mitteln und damit an der Vermeidung überflüssiger Aufwendungen als öffentliches Interesse i.S.d. § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG NRW zu werten ist,18 kann dies Grundlage für einen entsprechenden Widerruf einer Versuchsgenehmigung sein. Liegt ein Widerrufstatbestand vor, so begründet das keinen beliebigen Widerruf, auch nicht nach einem schulgesetzlichen Widerrufsvorbehalt wie in Berlin und Niedersachsen. Ein Widerruf muss stets aus sachlichen Gründen geboten sein. Bei einem Widerrufsvorbehalt im Genehmigungsbescheid selbst oder bei einer Auflage sind die möglichen sachlichen Gründe regelmäßig schon in diesen Nebenbestimmungen vorgezeichnet.19 Das Ministerium hat bei der Ausübung seines Widerrufsermessens vor allem die Interessen der am Schulversuch teil15 Siehe: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/EigenverantwortlicheSchule/Sch EK/Vorhaben/index.html. 16 Eine solche Bestimmung enthalten beispielsweise die Genehmigungsbescheide des laufenden nordrhein-westfälischen Schulversuchs „Gemeinschaftsschule“. 17 So: Meyer, in: Knack/Henneke, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 49 VwVfG Rn. 47. 18 Vgl.: BVerwG, Beschl. v. 17.10.1985 – 7 B 161.85, DÖV 1986, 202 (zum wortgleichen § 117 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG SH); Meyer, ebenda, § 49 VwVfG Rn. 51. 19 Vgl.: Meyer, ebenda, § 49 VwVfG Rn. 42 f. m.w.N.
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nehmenden Schüler, auch wenn diese sich freiwillig auf den Versuch eingelassen haben, zu berücksichtigen. Ist ein Widerruf vorbehalten oder eine Auflage tangiert, so hat das Ministerium zunächst alle schonendere Mittel auszuschöpfen, also vor einem Widerruf zunächst zu versuchen, die Versuchsziele doch noch durch inhaltliche Anpassungen des Versuchsprogramms zu erreichen oder das Beachten der Auflage selbstständig schulaufsichtsrechtlich zu erzwingen. Auch ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne zu wahren, d.h. ein Widerruf ist nicht angemessen und der Versuch deshalb bis zum planmäßigen Ende weiterzuführen, wenn ein Versuchsziel nur geringfügig nicht erreicht oder eine relativ unwichtige Auflage nicht erfüllt ist.20 Dies gilt vor allem dann, wenn der Schulversuch ansonsten erkennbar erfolgreich verläuft. Rechtsprechung und schulrechtliches Schrifttum legen bislang eher großzügige Maßstäbe bei der vorzeitigen Beendigung eines Schulversuchs durch die Schulbehörden an. Das Bundesverwaltungsgericht hat offen gelassen, ob die Beendigung oder Änderung von Schulversuchen „unter besonderen Umständen“ möglicherweise die Grundrechte von Eltern und Schülern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG) verletzen kann, „etwa dann, wenn kurzfristig ein erkennbar günstig verlaufender Schulversuch ohne Notwendigkeit abgebrochen wird oder die Schüler wiederholt wechselnden Erziehungsmethoden unterworfen und dadurch einer pädagogisch schädlichen Unruhe – einem Wechselbad immerhin vergleichbar – in unzumutbarer Weise ausgesetzt werden“.21 Im Ergebnis zutreffend hält das Gericht einen Abbruch für gerechtfertigt, wenn angesichts von bei der Durchführung eines Schulversuchs entstandenen Spannungen und Konflikten eher der Fortgang des Versuchs als seine Beendigung zu Nachteilen für die Schüler führen würde, eine Fortführung des Versuchs bis zum ursprünglich vorgesehenen Zeitpunkt aufgrund solcher Spannungen und Konflikte also nicht mehr erfolgversprechend ist. Im Übrigen betont das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang eine weitgehende Gestaltungsfreiheit der Schuladministration bei der Ausgestaltung des Schulsystems und des Schulunterrichts.22 20 Vgl.
allgemein: Meyer, ebenda, § 49 VwVfG Rn. 42, 44; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 320. 21 Zitat: BVerwG, Beschl. v. 17.12.1975 – VII B 51/75, DVBl. 1976, 635 (636). – Ohne das Bundesverwaltungsgericht zu nennen, übernimmt diese rechtliche Bewertung die Ziff. 5.1 der „Richtlinien für Schulversuche“ der hamburgischen Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung v. 03.12.1997, in: Mitteilungsblatt der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung 1998, S. 1: „Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern können jedoch im Einzelfall beanspruchen, daß ein erkennbar erfolgreich verlaufender Schulversuch nicht ohne triftige Gründe abgebrochen wird und die Schülerinnen und Schüler nicht wiederholt wechselnden Unterrichtsmethoden unterworfen werden.“ 22 BVerwG, ebenda. Ähnlich die Vorinstanz: VGH BW, Urt. v. 19.11.1974 – IX 146/74, DVBl. 1975, 438 (440 f.); Beschl. v. 10.04.1974 – IX 162/74, DÖV 1974, 858 (859). – Im Schrifttum hierauf zustimmend Bezug nehmend: Weber, in: Jehkul u.a.,
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Nur unzureichend wird jedoch diesbezüglich berücksichtigt, dass die Teilnahme an einem schulischen Experiment mit Ungewissheiten und Risiken behaftet ist. Ohne Zustimmung der Eltern bzw. volljährigen Schüler könnte der Staat den Versuch nicht durchführen. Deren Einverständnis ist nur wirksam, wenn sie umfassend über Inhalt, Zweck und Versuchsdauer informiert worden sind. Dabei sind aber auch bereits erkennbare Ungewissheiten und Risiken offen zu legen. Ist dies nicht oder nicht in vollem Umfang geschehen, hat ein späterer Abbruch aus solchen Gründen im Regelfall zu unterbleiben. Von Bedeutung ist zudem, dass Eltern und Schüler normalerweise bei ihrer Zustimmung erwarten, dass der Schulversuch tatsächlich so lange wie angegeben dauert.23 Sie müssen also hinreichend darüber aufgeklärt werden, wenn die Möglichkeit eines vorzeitigen Abbruchs nicht unwahrscheinlich ist. Hat die Schulaufsicht den Eindruck erweckt, dass der Schulversuch gar nicht oder nur im absoluten Ausnahmefall abgebrochen wird, müssen Eltern und Schüler sich hierauf verlassen können. Steht schon bei Versuchseinleitung eine eventuelle vorzeitige Beendigung im Raum, wird ein Großteil durchaus interessierter Eltern und Schüler von einer Versuchsteilnahme Abstand nehmen. Insgesamt haben die Schulaufsichtsbehörden gegenüber Eltern und Schülern, die sich trotz aller Unwägbarkeiten freiwillig auf den Versuch einlassen und damit einen unentbehrlichen, im besonderen öffentlichen Interesse liegenden Beitrag zur Weiterentwicklung des Schulwesens leisten, im Gegenzug eine besondere Verantwortung und Schutzpflicht. Dies gilt im Übrigen auch während der Versuchsdurchführung im Hinblick auf umfassende Information und eine Minimierung von Risiken. Die Schutzbedürftigkeit von Eltern und Schülern ist erheblich höher als bei einer nicht vorhersehbaren Auflösung einer Regelschule. Die Rechtsprechung des OVG Nordrhein-Westfalen, wonach die Grundrechte von Eltern und Schülern aus Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 8 Abs. 1 LVerf NRW diesen nicht das Recht gewährt, dass die besuchte Schule für die Dauer der Schulzeit der jeweiligen Schüler erhalten bleibt,24 kann nicht uneingeschränkt auf Versuchsschulen und Schulversuche übertragen werden. Denn der Wechsel auf eine andere Schule und die dortige Fortsetzung des Bildungsgangs kann hier Schulgesetz NRW, § 25 SchulG Anm. 1.2; Holfelder/Bosse/Benda/Runck, Sächsisches Schulgesetz, § 15 SchulG Anm.; Niebes/Becher/Pollmann, Schulgesetz im Freistaat Sachsen, § 15 SchulG Rn. 2; Bosse/Reip, Schulrecht Baden-Württemberg, § 22 SchulG Anm.; Roland Voigt, Anmerkung zu BVerwG, Beschl. v. 17.12.1975 – VII B 51/75, in: DVBl. 1976, S. 636 f. – Ablehnend: Arndt, Anmerkung, DÖV 1974, S. 860; Wolfgang Karcher, Anmerkung zu VGH BW, Urt. v. 19.11.1974 – 146/74, in: RdJB 1976, S. 396 ff. 23 Ähnlich, das Einverständnis beziehe sich nur auf die geplante Versuchsdauer: Arndt, ebenda. 24 So: OVG NRW, Beschl. v. 02.04.1984 – 5 B 403/84, NVwZ 1984, 804 (805); Urt. v. 01.06.1984 – 5 A 736/84, NVwZ 1984, 806 (807).
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aufgrund einer vom Regelsystem abweichenden Unterrichtsorganisation und Unterrichtsgestaltung erheblich erschwert und mit dem Risiko, den Anschluss in einer normalen Schule nicht ohne Zeitverlust zu finden, behaftet sein. Das schulgesetzliche Genehmigungserfordernis für Schulversuche hat vor diesem Hintergrund auch eine Schutzfunktion, vergleichbar dem Genehmigungsvorbehalt für Privatschulen in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG.25 Es schützt Schüler und Eltern vor unausgegorenen und untauglichen Schulversuchen. Die Gefahr, dass Schuljahre durch qualitativ unzureichenden Unterricht „verloren“ gehen, also kaum oder gar nicht nachgeholt werden können, ist versuchsimmanent höher als im Regelsystem. Dass bei Schulversuchen eine spezifische Gefährdungslage und damit eine gegenüber dem Regelunterricht gesteigerte Schutzbedürftigkeit besteht, kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die Genehmigungszuständigkeit stets beim Ministerium liegt und nicht wie bei sonstigen schulorganisatorischen und pädagogischen Einzelfallentscheidungen bei den nachgeordneten unteren und oberen Schulaufsichtsbehörden. Besteht aber eine solche erhöhte Schutzbedürftigkeit, so hat das Ministerium schon bei der Genehmigung darauf zu achten, dass die Risiken des Scheiterns und damit insbesondere auch des vorzeitigen Versuchsabbruchs so weit wie möglich minimiert werden. Die vorzeitige Beendigung mangels Erfolgsaussicht kann nur die Ausnahme sein, für die das Ministerium keinen vergleichbar weiten Gestaltungsspielraum hat wie bei der Versuchsgenehmigung. Im Gegenteil trifft das Ministerium hier eine besondere Darlegungslast und Pflicht zur Abwägung mit den Interessen der betroffenen Schüler und Eltern. Da für die an einem Schulversuch teilnehmenden Schüler das Erreichen der gesetzlichen Regelabschlüsse gewährleistet sein muss, ergibt sich hieraus häufig die Notwendigkeit, eine Versuchsgenehmigung nur – wie in § 49 Abs. 2 VwVfG NRW zugelassen – teilweise zu widerrufen. Wie zumeist bei der Auflösung von Schulen ist nur die Neuaufnahme von Schülern zu beenden, während der Schulversuch für die bereits teilnehmenden Schüler jahrgangsweise sukzessiv ausläuft. Zwar könnte man unter Umständen solche Schüler auf in zumutbarer Entfernung liegende Regelschulen verweisen, doch können Eltern und Schüler, die bereits die Ungewissheiten und Risiken eines Schulversuchs eingegangen sind, erwarten, dass besondere Gründe gegen ein schrittweises Auslaufen sprechen müssen, ihnen also nicht unnötig ein Wechsel mit neuen Unwägbarkeiten zugemutet wird.26 Ist allerdings der Bildungserfolg der Versuchsschü25 Zu Letzterem: Josef Isensee, Private islamische Bekenntnisschulen. Zur Ausnahme vom Verfassungsprinzip der für alle gemeinsamen Grundschule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. Festschrift für Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag, Berlin 2003, S. 364 m.w.N. 26 Siehe auch die Konfliktlösung in § 36 Abs. 3 des DJT-Entwurfs für ein Landesschulgesetz: „Die Schulbehörde ist verpflichtet, bei vorzeitiger Beendigung eines
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ler gefährdet, also der Versuch derart fehlgelaufen, dass Schüler womöglich aus von ihnen nicht zu verantwortenden Gründen keinen Abschluss erreichen, ist ein vollständiger Widerruf zwingend. Der Wechsel auf andere bestehende Schulen ist dann der geringere Nachteil. Einzig die Versuchsklausel im Schulgesetz Mecklenburg-Vorpommerns trifft zu dieser Problematik eine, wenn auch nicht vergleichbar differenzierte Regelung. Nach dessen § 38 Abs. 5 ist die Schule verpflichtet, „bei vorzeitiger Beendigung eines Versuchs für geeignete Übergänge zu sorgen oder die Fortführung des Bildungsganges zu ermöglichen.“ Der Widerruf einer Versuchsgenehmigung kann nach § 49 Abs. 2 VwVfG NRW nur für die Zukunft erfolgen. Er ist nur innerhalb eines Jahres seit der Kenntnis des Ministeriums über die Tatsachen, die einen Widerruf rechtfertigen, zulässig (§ 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG NRW i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG NRW). Auslöser eines vorzeitigen Abbruchs kann schließlich auch die Erkenntnis des Ministeriums sein, dass eine von ihm erteilte Versuchsgenehmigung von Anfang an rechtswidrig war. Das Ministerium kann in diesem, in der Praxis kaum auftretenden Fall die rechtswidrige Genehmigung gemäß § 48 VwVfG NRW zurücknehmen, wobei eine ansonsten mögliche rückwirkende Aufhebung bei Schulversuchen aus tatsächlichen Gründen ausscheidet. Bei der pflichtgemäßen Ausübung des Rücknahmeermessens ist wie beim Widerruf darauf zu achten, dass diese Aufhebung durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist und auf die für die betroffenen Schüler schonendste Weise erfolgt.27 Sie ist gleichfalls nur ein Jahr nach Kenntnis der Rücknahmegründe zulässig. Soweit die Genehmigung eines Schulversuchs kein Verwaltungsakt ist, es sich also bei der Genehmigung um einen innerdienstlichen Akt der schulischen Fachaufsicht handelt, gilt dies auch für den actus contrarius, also die Aufhebung der Versuchsgenehmigung. In Nordrhein-Westfalen kann sich das – wie Versuchs für geeignete Übergänge zu sorgen oder die Fortführung des Bildungsganges zu ermöglichen.“ 27 Bemerkenswert die Haltung des nordrhein-westfälischen Schulministeriums im Jahr 2011 nach der Entscheidung des OVG NRW zur Gemeinschaftsschule. Es lehnte eine Rücknahme der nicht angegriffenen anderen rechtswidrigen Versuchsschulgenehmigungen ab, obwohl der Schulbetrieb dort noch nicht begonnen hatte. Das Ministerium begründete dies damit, dass im Vertrauen auf die Rechtsgültigkeit bereits Dispositionen getroffen worden seien und deshalb seitens der Schulträger, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler der Versuchsschulen Vertrauensschutz bestehe. Siehe: Antwort der Landesregierung NRW auf die Kleine Anfrage des Abg. Prof. Dr. Thomas Sternberg (CDU), „Rechtliche Konsequenzen der ‚offensichtlich rechtswidrigen‘ Genehmigung der Gemeinschaftsschulen – Können den verbliebenen Gemeinschaftsschulen noch die privilegierten Rahmenbedingungen gewährt werden?“, Landtag NRW, 15. WP, LT-Drs. 15/2530 v. 05.08.2011, S. 2 (zu 2.).
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bereits mehrfach dargelegt – nur auf Schulverfassungsversuche und sonstige rein innerorganisationsrechtliche, weder Eltern und Schüler noch den Schulträger tangierende Versuche beziehen. Die Schulaufsicht kann in diesen Fällen dementsprechend einen Schulversuch unter rein fachaufsichtlichen Gesichtspunkten vorzeitig abbrechen.
Schlussbemerkungen Was eine gute Schule auszeichnet und welche Bildungsinhalte wie vermittelt werden sollen, darüber wird in Deutschland seit der Übernahme staatlicher Verantwortung für das Schulwesen Anfang des 19. Jahrhunderts geforscht, geschrieben und auch leidenschaftlich gestritten. Jede Zeit sucht, eingebettet in die jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, nach ihren Antworten auf diese Grundfragen, strebt nach neuen Erkenntnissen und möglichst „besseren“ Wegen in der Bildung. Der Schulversuch gehört dabei zum Handwerkskasten deutscher Bildungsreformer. Er gilt als ein Instrument der Objektivierbarkeit bildungswissenschaftlicher und -politischer Hypothesen, eingesetzt sowohl im Kaiserreich, der Weimarer Republik wie auch in den heutigen Bundesländern, ganz gleich, ob der Reformprozess „von oben“ oder umgekehrt von einzelnen Schulen, Initiativen und Einzelpersönlichkeiten ausgeht. Doch stoßen Schulversuche andererseits, wie in der Arbeit aufgezeigt, immer wieder auf Kritik, insbesondere bei der betroffenen Eltern- und Lehrerschaft, ob ihrer Anzahl, angeblich schlechten Vorbereitung und Durchführungsbedingungen, aber auch wegen inhaltlicher Bedenken. Für die Rechtswissenschaft war der Schulversuch, wie das Schulwesen insgesamt, lange kein bedeutsames Thema. Wenn überhaupt, wurde der Schulversuch in der Schulrechtsliteratur beiläufig erwähnt als rechtlich nicht eingegrenzte Handlungsoption der Schulaufsichtsbehörden. Erste Rechtsstreitigkeiten entzündeten sich Ende des 19. Jahrhunderts an der Frage, ob Versuchsschulen wie die Landerziehungsheime trotz abweichender Lehrpläne staatlich anerkannte Prüfungen abnehmen konnten, oder in der Weimarer Republik an dem essentiellen Punkt, ob Schüler gezwungen werden können, eine Versuchsschule zu besuchen. Bis zur Abkehr von der Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnisses und der Durchsetzung des Vorbehalts des Gesetzes auch im Schulbereich handelte die staatliche Schulaufsicht bei der Einrichtung und Genehmigung von Schulversuchen weitgehend nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit und auf der Basis von selbst erlassenen Verwaltungsvorschriften. Das Ministerium dispensierte von den eigenen allgemeinen ministeriellen Vorgaben für das Schulwesen. Angesichts nur rudimentärer gesetzlicher Regelungen des Schulverhältnisses bestand kein Bedarf für eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Erst seit dem Paradigmenwechsel Mitte der 1970er Jahre schufen alle Länder umfassende Schulgesetze und dadurch erforderte nunmehr auch ein Abweichen von den
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Schlussbemerkungen
Regelvorgaben eine gesetzliche Grundlage. Aufgrund der anschließenden fortschreitenden Verrechtlichung des Schulwesens erhielten korrespondierend dazu die Versuchsermächtigungen eine immer größer werdende Bedeutung. Im Zuge der Neuorientierung der Bildungspolitik nach dem PISA-Einschnitt vor zehn Jahren kehrt sich dies allmählich wieder etwas um, weil nunmehr eine positive Korrelation zwischen der Leistungsfähigkeit einer Schule und deren Befugnis, selbstständig und eigenverantwortlich handeln zu können, gezogen wird; in der Konsequenz ist damit eine entsprechende Zurückführung der schulgesetzlichen Regelungsdichte verbunden. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts konnten sich Schulreformer ein modernes Bildungswesen nur in staatlicher Verantwortung, frei von kirchlichen und lokalen Abhängigkeiten vorstellen. Einzelne pädagogische Versuche dienten dazu, den Prozess der Verstaatlichung und Verweltlichung des Schulwesens voranzutreiben. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte der Staat, ganz voran der preußische, die Herrschaft über die Schule derart ausgebaut und durch Lehrpläne sowie Organisationserlasse straff durchreguliert, dass nunmehr die meisten Schulreformer pädagogischen Fortschritt nur außerhalb des staatlichen Korsetts oder jedenfalls innerhalb eines weitgehend aufgeschnürten als möglich ansahen. Dabei hatte die Schuladministration im Zuge der Humboldt’schen Bildungsreform und auch später in der Kaiserzeit immer wieder Reformen und Versuche im Schulsystem durchgeführt, aber letztere stets als staatlich verordnete Strukturversuche. Das Interesse des bürgerlich-monarchistisch geprägten Staates galt dabei zudem fast ausschließlich dem höheren Schulwesen, polemisch von Paul Oestreich, dem Schulreformer der Weimarer Zeit, dahingehend charakterisiert: „Schulreform hieß der Streit um mehr oder weniger Latein oder Griechisch.“1 Die unter dem Sammelbegriff „Reformpädagogik“ zu fassenden pädagogischen Bewegungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg widmeten sich indes vorrangig der Schulform, die vom weitaus größten Teil aller Kinder besucht wurde, der Volksschule; nur in der Landerziehungsheimbewegung blieb der Fokus noch auf die höhere Schule gerichtet. Die im Regelfall von einzelnen Schulkollegien oder Lehrkräften ausgehenden Reformbestrebungen im Volksschulbereich waren eng verknüpft mit dem Anliegen einer Verbesserung der sozialen Lage und häufig auch mit sozialistischen Bestrebungen zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Gemeinsamer Nenner der höchst heterogenen Reformansätze war dabei – insoweit eine deutliche Parallele zur heutigen Zeit – die Stärkung der Einzelschule und damit verbunden das Zurückdrängen des Einflusses der staat
1 Zitat: Paul Oestreich, Kaiserliche und volksstaatliche Schulreform (Erstveröffentlichung Stettiner Volksbote Nr. 216 / 1920), abgedruckt in: ders., Entschiedene Schulreform. Schriften eines politischen Pädagogen, eingeleitet, ausgewählt und erläutert von Helmut König und Manfred Radtke, (Ost-)Berlin 1978, S. 107.
Schlussbemerkungen
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lichen Schulaufsicht, vor allem durch das Nichtanwenden der Lehrpläne und den Aufbau einer schulischen Selbstverwaltung. Ähnlich einer Wellenbewegung kam es nach der Zäsur der NS-Zeit zunächst im westdeutschen Schulwesen nicht zu einem Wiederaufleben der Weimarer Reform- und Versuchsaktivitäten im Volksschulbereich, diese gerieten sogar weitgehend in Vergessenheit, sondern wie im Kaiserreich zu einer erneuten Fixierung auf die Gegenstände und Methodik der gymnasialen Bildung. Sozia ler Aufstieg durch Bildung war auf das Gymnasium verengt. Erst ab Mitte der 1960er Jahre erweiterte sich der Blickwinkel auf alle weiterführenden Schulen, und zwar durch die erfolgte Umgestaltung der Volksschuloberstufe zur Hauptschule und die Einführung der Gesamtschule – beides zunächst versuchsweise. Auch wenn in der öffentlichen Wahrnehmung von Versuchsschulen vor allem einzelne wiedergegründete private Landerziehungsheime präsent waren, gingen in den 1950er/1960er Jahren die meisten Schulversuche von den Schulministerien aus. Dies verstärkte sich noch durch das „Hamburger Abkommen“ von 1964 mit der darin enthaltenen Öffnung für mehr Schulversuche und vor allem mit den Ende der 1960er Jahre zwischen Bund und Ländern vereinbarten Experimentalprogrammen zu Ganztagsschulen und Gesamtschulen sowie den zwischen 1971 und 2009 durchgeführten Modellversuchen auf Initiative der Bund- Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Bis heute sind Schulversuche im Rahmen ministeriell konzipierter und wissenschaftlich begleiteter Versuchsprogramme deutlich in der Überzahl. Nur wenige Schulversuche entspringen gegenwärtig Initiativen aus den Schulen. In Nordrhein-Westfalen soll dies durch die im Jahr 2006 ins Schulgesetz eingefügte Experimentier klausel und den ministeriellen Ausführungserlass „Mehr Freiräume für innovative schulische Vorhaben“ wieder befördert werden. In der Arbeit wird aufgezeigt, dass Schulversuche in der Vergangenheit und auch heute ein wichtiges Instrumentarium zur Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Konzeptionen darstellen. Dass es eine Möglichkeit der Schulbehörden geben muss, Neuerungen zunächst zeitlich befristet sowie in überschaubarem Umfang und damit begrenzten Auswirkungen zu erproben, wird weder in der Bildungswissenschaft noch im politischen und öffentlichen Raum ernsthaft bestritten. Zwischenzeitlich sind dementsprechend in allen Schulgesetzen allgemeine Ermächtigungen zur Genehmigung von Schulversuchen ent halten. Daraus, dass Schulversuche per definitionem Abweichungen vom Regelschulsystem ermöglichen, folgt allerdings auch die Notwendigkeit, Grenzen zu ziehen. Die Ausnahme von der Regel bedarf – wie generell im Rechtssystem – der sachgerechten Legitimation und Eingrenzung. Der Schulversuch darf nicht als Vehikel zur Außerkraftsetzung der Regel missbraucht werden und das Regelschulsystem weder aushöhlen noch sonst wie beschädigen; exceptio firmat regulam – jede Ausnahme festigt vielmehr die Regel.
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Schlussbemerkungen
Die Kultus- und Schulministerien haben in der Vergangenheit die Zulassung von Versuchen höchst unterschiedlich gehandhabt. Bis zur gesetzlichen Verankerung des Schulversuchs konnten sie mangels verbindlicher Vorgaben fast völlig frei walten und eigene Entscheidungsmaßstäbe entwickeln. So war es möglich, dass mit dem Ziel, Ruhe ins Schulsystem zu bringen, ein preußischer Kultus minister Anfang des 20. Jahrhunderts und ein hessisches Schulministerium noch Ende der 1980er Jahre die Losung „keine Experimente mehr“ ausgeben und verfolgen konnten. Dass im totalitären Staat der NS-Zeit wie auch in demjenigen der DDR Schulversuche aus einem völlig anderen Grund, nämlich zur Verhinderung von Vielfalt und Freiräumen im Einheitsstaat, unterbunden wurden, sei dabei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Andererseits herrschte in der Bundesrepublik in einer Phase der Euphorie staatlicher Bildungsplanung, beginnend Ende der 1960er Jahre, eine überaus großzügige Genehmigungspraxis. Letzteres bekräftigen die Kultusminister der Länder sogar noch im Jahr 1990 in ihrer Vereinbarung zur Durchführung von Schulversuchen, in der es im Prolog bis heute – trotz einer Verschärfung der Anforderungen im Jahr 2012 – heißt, dass die Kultusminister darin übereinstimmen, Schulversuche, die von einschlägigen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz abweichen, großzügig zuzulassen. Immerhin hat die Kultusministerkonferenz ihre bisherige jahrelange Praxis aufgegeben, Schulversuche lediglich zur Kenntnis zu nehmen, selbst wenn sie von länderübergreifend vereinbarten Standards für schulische Abschlüsse abweichen. Nunmehr bedarf es wieder, wie im „Hamburger Abkommen“ zwingend vorgegeben, einer ausdrücklichen Zustimmung in solchen Fällen, damit die Einheitlichkeit des Schulwesens in Deutschland gewahrt werden kann. Die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse ist in einem Bundesstaat mit einem föderal organisierten Bildungswesen von elementarer Bedeutung, weshalb nach Vorläufern im Kaiserreich, welche zunächst allein die gestuften Berechtigungen zum Militärdienst harmonisiert hatten, schon in der Weimarer Zeit vergleichbare Ländervereinbarungen getroffen wurden. Und diese wiederum enthielten auch bereits Versuchsklauseln, die den heutigen Ländervereinbarungen gleichen. Die Absicherung, dass gerade auch in einem Schulversuch erworbene Abschlüsse bundesweit anerkannt werden, dient dem Schutz der sich auf das Schulexperiment einlassenden Schüler davor, als „Versuchsopfer“ am Ende ohne Schulabschluss dazustehen. Einige schulgesetzliche Versuchsermächtigungen enthalten eine ausdrückliche, ansonsten aus grundrechtlicher wie rechtsstaatlicher Sicht erforderliche Genehmigungsanforderung, wonach die im Rahmen eines Schulversuchs erreichbaren Abschlüsse und Berechtigungen denjenigen der Regelschulen gleichwertig und deren Anerkennung in den anderen Ländern gesichert sein müssen. Die Genehmigung von Schulversuchen, aber auch deren vorzeitige Beendigung hat zu beachten, was die Reformpädagogik seit über hundert Jahren zu ihrer
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Maxime erhoben hat, nämlich „vom Kinde aus“ zu denken. Juristisch übersetzt bedeutet das, die Grundrechte der Schüler und die auf deren Wohl und Schutz ausgerichteten, treuhänderischen Elterngrundrechte hinreichend zu beachten. Damit ist jeder Zwang zur Mitwirkung an einem Schulexperiment unvereinbar. Dies gilt sowohl für den Besuch einer Versuchsschule als auch, entgegen manch anderslautender Länderbestimmung und Schulgesetzkommentierung, für die Teilnahme an einfachen Schulversuchen an bestehenden Regelschulen. Die Freiwilligkeit ist eine Kernanforderung, ohne die ansonsten die weit gefassten schulgesetzlichen Ermächtigungen zum Abweichen vom Regelsystem nicht mit dem Vorbehalt des Gesetzes vereinbar wären. Schüler und Eltern haben einen aus dem Gebot der Wahrung gleicher Bildungschancen (Art. 3 Abs. 1 GG) folgenden, der staatlichen Schulpflicht korrespondierenden Anspruch auf Zugang zum schulgesetzlich normierten Normalprogramm, also auf den Besuch der Regelschulen und der allgemein vorgehaltenen Bildungsgänge. Es besteht keine Pflicht, im öffentlichen Interesse „Sonderopfer“ für die Weiterentwicklung des Schulwesens zu erbringen. Angesichts der elementaren Bedeutung der schulischen Ausbildung für den späteren beruflichen, aber auch privaten Lebensweg ist es in einem Rechtsstaat unzumutbar, ohne Einverständnis des Schülers bzw. seiner Eltern eine bislang nicht erprobte und in seinen Wirkungen noch ungewisse Ausbildungssituation hinzunehmen, während das damit verbundene Risiko des Scheiterns anderen Schülern nicht aufgebürdet wird. Dargelegt wurde, dass es an einer Freiwilligkeit fehlt, wenn eine Zustimmung aufgrund unzureichender Information erteilt oder unzulässiger Druck ausgeübt wurde, wie auch dann, wenn mangels zumutbarer Alternativen faktisch ein Zwang zur Versuchsteilnahme besteht. Die Schulbehörden haben gegenüber Schülern und Eltern, die sich trotz aller Unwägbarkeiten freiwillig auf einen Schulversuch einlassen und damit einen nicht geschuldeten Beitrag zur Weiterentwicklung des Schulwesens leisten, im Gegenzug eine besondere Verantwortung und Schutzpflicht. Dies gilt nicht nur während der Versuchsdurchführung im Hinblick auf umfassende Information und Minimierung von Risiken, sondern auch bezüglich einer vorzeitigen Beendigung des Versuchs. Der in Rechtsprechung und Schrifttum zu lesende lapidare Satz, es bestehe weder ein Anspruch auf Einrichtung noch Fortführung eines Versuchs, greift erkennbar zu kurz. Eltern und Schüler erwarten bei ihrer Zustimmung, dass ein Schulversuch tatsächlich so lange wie angegeben dauert. Bestehen daran im Vorfeld Zweifel, werden ansonsten interessierte Eltern und Schüler einer Versuchsteilnahme nicht näher treten und damit wird der Versuch erst gar nicht starten können. Im Hinblick auf die Berechenbarkeit staatlichen Handelns kann ein vorzeitiger Abbruch daher nur in Ausnahmefällen erfolgen, insbesondere wenn wegen erkennbarer Erfolglosigkeit die weitere Durchführung den Schülern zum Nachteil gereichen würde.
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Die Freiwilligkeit der Versuchsteilnahme hat Konsequenzen für die Beteiligung der kommunalen Schulträger an der Genehmigung von Schulversuchen. Bislang wird in einigen Ländern nur unzureichend berücksichtigt, dass mit einem auf freiwilliger Teilnahme beruhenden Schulangebot eine Kommune das schulische Pflichtangebot nicht sicherstellen kann, es deshalb im Zuge der Schulentwicklungsplanung oftmals einer Kooperation mit anderen Schulträgern bedarf. Durch den deutlichen demographisch bedingten Schülerrückgang in den nächsten Jahren wird es zudem ohnehin immer schwieriger, das örtliche Regelschulangebot aufrechtzuerhalten. Veränderungen des Schulangebots, auch soweit es sich um Versuchsvorhaben handelt, sind deshalb grundsätzlich nur im Einvernehmen mit dem Schulträger möglich. Die Auffassung, pädagogische Schulversuche könnten allein gegenüber der Schule auf dem Wege der Fachaufsicht zugelassen werden, ist damit unvereinbar. Vielmehr sind auch solche Versuchsgenehmigungen Verwaltungsakte gegenüber dem jeweiligen Schul träger. Auch sind etwaige von dem Schulversuch tangierte Nachbarkommunen am Genehmigungsverfahren zu beteiligen. Dies ist nicht nur dann erforderlich, wenn der weitere Bestand von Schulen in der Nachbarkommune gefährdet ist, sondern ebenfalls – wie aufgezeigt – bei sonstigen nachteiligen Auswirkungen. Bei Nichtbeachtung des in Nordrhein-Westfalen auch schulgesetzlich festgeschriebenen Gebots der gegenseitigen kommunalen Rücksichtnahme ist ein Schulversuch nicht genehmigungsfähig. Eine gleichwohl erteilte Genehmigung ist, wie das OVG Nordrhein-Westfalen ausdrücklich für Schulversuche und Versuchsschulen klargestellt hat, auf eine zulässige Drittanfechtungsklage hin wie auch sonst in Fällen der Verletzung des drittschützenden Rücksichtnahmegebots aufzuheben. Die Genehmigungsvoraussetzungen für Schulversuche sind in der vorliegenden Arbeit ausführlich dargelegt. Dabei steht am Anfang jeder Prüfung, ob die zur Erprobung beabsichtigte Maßnahme überhaupt mit geltendem Schulrecht kollidiert, also eine Ausnahmegenehmigung notwendig ist. Dem für die Genehmigung zuständigen Ministerium ist mangels rechtlicher Maßstäbe zur Be urteilung pä dagogischer Reformerfordernisse ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum hinsichtlich des Vorliegens eines Reformbedarfs sowie der Eignung des Versuchsvorhabens zur Weiterentwicklung des Schulwesens zuzubilligen. Darüber hinaus muss ein Erprobungsbedarf, der Wesensmerkmal eines Schulversuchs ist, bestehen und im Genehmigungsbescheid nachprüfbar dargelegt werden. Ein Erprobungsbedarf fehlt, wenn bereits gesicherte Erkenntnisse über die Wirksamkeit einer Maßnahme bestehen oder auch ohne praktische Erprobung zu erlangen sind. Wie bei anderen verwaltungsrechtlichen Experimentierklauseln hat ernsthaft ein Bedürfnis zu bestehen, eine in der Theorie entwickelte Reformidee in der Praxis zu erproben, weil nicht sicher feststeht, ob die Neuerung im Falle einer gesetzlichen Einführung tatsächlich die gewünschte Wirkung erzielen würde. Hieran fehlt es, wenn wie bei der
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ursprünglichen Einführung der „Gemeinschaftsschule“ in Nordrhein-Westfalen oder dem dortigen aktuellen Schulversuch zur Wiedereinführung des neunjährigen Gymnasiums ein Erprobungsbedarf nur vorgeschoben wird, es sich in Wirklichkeit jedoch um einen Scheinversuch aufgrund politischer Implikationen handelt. Das Fortbestehen eines Erprobungsbedarfs ist im Übrigen notwendig, wenn ein genehmigter Schulversuch nach seinem planmäßigen Auslaufen verlängert werden soll. Die Arbeit zeigt sowohl im historischen wie im rechtsdogmatischen Teil auf, dass vielfach das einem Versuch immanente Erfordernis der zeitlichen und umfangmäßigen Begrenzung nicht eingehalten wird. Versuchsschulen, die mehrere Jahrzehnte Bestand hatten oder wie die Laborschule und das OberstufenKolleg in Bielefeld seit fast 40 Jahren entsprechend firmieren, werden benannt. Auch die Anzahl der am Versuch teilnehmenden Schulen wird nicht immer an dem allein sachgerechten Kriterium ausgerichtet, wie viele Versuche zur Erlangung hinreichender Erkenntnisse über die Wirksamkeit einer Maßnahme notwendig sind. Die Gefahr der sukzessiven Ausdehnung von Schulversuchen aus anderen Gründen ist ein virulentes, in der Arbeit thematisiertes Problem. Die vorliegende Untersuchung geht nicht nur auf die Voraussetzungen und Rechtsfolgen, sondern darüber hinaus auf vielfältige sonstige rechtliche Fragen in Bezug auf Schulversuche ein: die Rechte von Schülern und Eltern, die Rolle der Lehrkräfte, die Gewährung besonderer Versuchsressourcen oder etwa die Möglichkeit von Schulversuchen privater Ersatzschulen. Die Untersuchung erhebt aber nicht den uneinlösbaren Anspruch, alle denkbaren Facetten zu behandeln. Das gilt auch für die umfangreichen bildungs- und rechtshistorischen Teile. Diese verorten den Schulversuch in die Entwicklung des deutschen Schulwesens. Dabei ist unschwer erkennbar, dass viele heute diskutierte Fragen sich im Laufe der Schulgeschichte immer wieder gestellt haben und dass zu deren Lösung auch ständig Schulversuche eingeleitet wurden. Bei aller Berechtigung, über Experimente zu Fortschritten in unseren Schulen zu gelangen, zeigt nicht zuletzt der historische Rückblick, dass im Interesse und zum Wohl der den Schulen anvertrauten Schüler ein verantwortungsvoller Umgang mit dem nicht risikofreien Instrument des Schulversuchs erfolgen muss.
Anhang I. Synopse der aktuellen Schulversuchsvorschriften in den deutschen Ländern Baden-Württemberg Schulgesetz für Baden-Württemberg i.d.F. v. 01.08.1983 (GBl. S. 397), zul. geänd. durch Gesetz v. 24.04.2012 (GBl. S. 209) § 22 (Weiterentwicklung des Schulwesens) (1) Wenn die Entwicklung des Bildungswesens, veränderte Lebens- und Berufsaufgaben oder die Wahrung der Einheit des deutschen Schulwesens es notwendig machen, können Schulversuche eingerichtet werden. Das gilt insbesondere zur Entwicklung und Erprobung neuer pädagogischer und schulorganisatorischer Erkenntnisse, insbesondere 1. neuer Organisationsformen für Unterricht und Erziehung sowie für die Verwaltung der Schulen, 2. wesentlicher inhaltlicher Änderungen, 3. neuer Lehrverfahren und Lehrmittel. (2) Schulversuche können durchgeführt werden 1. durch Einrichtung von Versuchsschulen, 2. dadurch, dass die oberste Schulaufsichtsbehörde einer bestehenden Schule Eigenschaften und Aufgaben einer Versuchsschule überträgt; falls damit für den Schulträger Mehrbelastungen verbunden sind, bedarf es dessen Zustimmung. Bayern Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen i.d.F. v. 31.05.2000 (GVBl. S. 414, berichtigt S. 632), zul. geänd. durch Gesetz v. 24.07.2013 (GVBl. S. 465) Schulversuche, MODUS-Schulen Art. 81 (Zweck) Schulversuche und MODUS-Schulen dienen der Weiterentwicklung des Schul wesens. Sie haben den Zweck, neue Organisationsformen für Unterricht und Erziehung einschließlich neuer Schularten und wesentliche inhaltliche Änderungen zu erproben.
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Art. 82 (Zulässigkeit) (1) Schulversuche sind zulässig, wenn sichergestellt ist, dass die Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Schulversuchs die gleichen oder gleichwertigen Abschlüsse oder Berechtigungen erwerben können wie an Schulen außerhalb des Schulversuchs. Ferner müssen Schulversuche so gestaltet sein, dass während des Schulversuchs der Übertritt an Schulen außerhalb des Schulversuchs möglich bleibt. (2) Die von der Durchführung eines Schulversuchs betroffenen Schülerinnen u nd Schüler haben keinen Anspruch darauf, dass die vor dem Schulversuch in der Schule bestehenden Organisationsformen für Unterricht und Erziehung fortgeführt werden. (3) In Abweichung von Abs. 1 ist ein Schulversuch zulässig, soweit hierzu das Einverständnis der Erziehungsberechtigten oder der volljährigen Schülerinnen und Schüler vorliegt und den Schülerinnen und Schülern, die am Schulversuch nicht teilnehmen, am Wohnort oder in zumutbarer Entfernung hiervon der Besuch einer Schule der Art möglich ist, wie sie vor Einführung des Schulversuchs bestanden hat. (4) Schulversuche bedürfen der vorherigen Zustimmung des zuständigen Staatsministeriums. (5) Zur Verbesserung der Qualität von Unterricht und Erziehung kann das zuständige Staatsministerium im Rahmen der verfügbaren Stellen und Mittel einer bestehenden Schule auf schriftlichen Antrag für einen Zeitraum von fünf Jahren den Status einer MODUS-Schule zuerkennen; auf Antrag kann die Verlängerung des Status um jeweils weitere fünf Jahre gewährt werden. Der Status berechtigt die Schule, Weiterentwicklungsmaßnahmen, insbesondere in den Arbeitsfeldern Unterrichtsentwicklung, Personalentwicklung und Personalführung sowie inner- und außerschulische Partnerschaften, zu erproben. Den MODUS-Schulen ist es gestattet, von den Schulordnungen abzuweichen, soweit sichergestellt ist, dass die Lehrplanziele erreicht und die Maßgaben des Abs. 1 eingehalten werden. Voraussetzung für die erstmalige Zuerkennung und Verlängerung des Status ist, dass im Rahmen einer externen Evaluation die Eignung der Schule hierfür festgestellt wird. Art. 113c gilt entsprechend mit der Maßgabe, dass personenbezogene Daten, die im Rahmen der Eignungsprüfung erhoben werden, nur mit Zustimmung der betroffenen Personen an die Schulaufsichtsbehörden übermittelt werden. Dem zuständigen Staatsministerium ist jede Weiterentwicklungsmaßnahme spätestens am 1. Juni vor Beginn des Schuljahres, in dem die Maßnahme begonnen werden soll, anzuzeigen. Abs. 2 findet entsprechende Anwendung. Die Ausübung der Schulaufsicht bleibt unberührt. Art. 83 (Organisation) (1) Die Einführung eines Schulversuchs an staatlichen Schulen sowie die Antragstellung auf Zuerkennung des Status einer MODUS-Schule erfolgen im Benehmen mit dem Aufwandsträger, soweit dieses nicht bereits nach Art. 26 Abs. 2 herzustellen ist. Die Antragstellung auf Zuerkennung des Status einer MODUS-Schule an kommunale Schulen erfolgt im Einvernehmen mit dem Schulträger. (2) Schulversuche sind vor ihrer Einführung, der Status einer MODUS-Schule unverzüglich nach der Zuerkennung, den Erziehungsberechtigten der vom Schulver-
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such betroffenen Schüler oder bei Volljährigkeit den Schülerinnen und Schülern selbst und außerdem im Amtsblatt des zuständigen Staatsministeriums bekannt zu machen. Die Bekanntmachung muss bei einem Schulversuch Auskunft über Ziel, Inhalt und Dauer sowie über die im Rahmen des Schulversuchs möglichen Abschlüsse und Berechtigungen, bei der Zuerkennung des Status einer MODUS-Schule über den Akt der Zuerkennung und dessen Dauer geben. Im Übrigen gelten für die zur Durchführung eines Schulversuchs notwendige Errichtung oder Auflösung von Schulen die für die betreffenden Schulen erlassenen Vorschriften. (3) Das zuständige Staatsministerium kann durch Rechtsverordnung die Schulund Dienstaufsicht und die Zuständigkeiten hierfür abweichend von den geltenden Vorschriften regeln, soweit dies zur Durchführung des Schulversuchs und zur Aufsicht über die MODUS-Schulen notwendig ist. Berlin Schulgesetz für das Land Berlin i.d.F. v. 26.01.2004 (GVBl. S. 26), zul. geänd. durch Gesetz v. 29.11.2013 (GVBl. S. 633) § 18 (Schulversuche, Schulen besonderer pädagogischer Prägung) (1) Schulversuche sind innovative Maßnahmen, die das Schulwesen pädagogisch und organisatorisch weiterentwickeln. Im Rahmen von Schulversuchen können Abweichungen von den Bestimmungen dieses Gesetzes und auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen erprobt werden, insbesondere von Aufbau und Gliederung des Schulwesens, den Unterrichtsinhalten, der Unterrichtsorganisation, den Unterrichtsmethoden, den Aufnahmebedingungen, der Form der Lernerfolgsbeurteilung einschließlich des Erwerbs der Abschlüsse sowie den Formen der Mitwirkung, soweit die Abweichungen zur Erreichung der Ziele des Schulversuchs erforderlich sind. In Schulversuchen muss die Anerkennung der Abschlüsse in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland gesichert sein. (2) Schulversuche bedürfen der Genehmigung durch die Schulaufsichtsbehörde. Die Genehmigung darf nur befristet erteilt werden; sie ist widerruflich. Schulversuche sind wissenschaftlich oder in sonstiger geeigneter Weise zu begleiten und auszuwerten. Wenn der Schulversuch erfolgreich abgeschlossen wurde und eine flächendeckende Einführung des pädagogischen und organisatorischen Konzepts nicht in Betracht kommt, kann er Grundlage für die Einrichtung einer Schule besonderer pädagogischer Prägung nach Maßgabe einer auf Grund des Absatzes 3 erlassenen Rechtsverordnung sein; die Einrichtung kann sich auf einzelne Züge einer Schule beschränken. (3) Die für das Schulwesen zuständige Senatsverwaltung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung Schulen besonderer pädagogischer Prägung einzurichten, die von einzelnen Vorschriften dieses Gesetzes oder von auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen abweichen können, soweit es das besondere pädagogische oder organisatorische Konzept erfordert. Dies betrifft insbesondere die Vorschriften über die Aufnahme in die Schule, die Versetzung und das Verlassen der Schule. In der Rechtsverordnung kann auch eine Probezeit von höchstens einem Schuljahr vorgesehen werden. Das Schulprogramm der Schule mit besonderer pädagogischer Prägung ist in geeigneter Weise öffentlich bekannt zu machen.
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(4) Die Teilnahme an einem Schulversuch und der Besuch einer Schule besonderer pädagogischer Prägung sind für die Schülerinnen und Schüler freiwillig. Über die Teilnahme entscheiden die Erziehungsberechtigten oder die volljährigen Schülerinnen und Schüler; haben sie sich für die Teilnahme am Schulversuch oder für den Besuch einer Schule besonderer pädagogischer Prägung entschieden, so ist der Schulbesuch verpflichtend. Brandenburg Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg i.d.F. v. 02.08.2002 (GVBl. I S. 78), zul. geänd. durch Gesetz v. 19.12.2011 (GVBl. I Nr. 35 S. 1) § 8 (Schulversuche) (1) Schulversuche dienen dazu, das Schulwesen pädagogisch und organisatorisch weiterzuentwickeln. Dazu können insbesondere Abweichungen von Aufbau und Gliederung des Schulwesens sowie Veränderungen oder Ergänzungen der Aufnahmeverfahren, der Unterrichtsinhalte, der Unterrichtsorganisation, der Unterrichtsmethoden, der Form der Leistungsbeurteilung einschließlich des Erwerbs der Abschlüsse sowie der Formen der Mitwirkung gemäß § 97 erprobt werden. Antragsberechtigt sind Schulen und, soweit äußere Schulangelegenheiten betroffen sind, Schulträger. Der Antrag einer Schule kann, soweit äußere Schulangelegenheiten betroffen sind, nur im Einvernehmen mit dem Schulträger gestellt werden. Schulversuche bedürfen der Genehmigung durch das für Schule zuständige Ministerium im Benehmen mit dem Schulträger. (2) In Schulversuchen außerhalb der Primarstufe muss die Anerkennung der Abschlüsse in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland gesichert sein. Die Teilnahme an Schulversuchen ist für Schülerinnen und Schüler freiwillig. § 8a (Schulen mit besonderer Prägung) Das für Schule zuständige Ministerium kann Schulen genehmigen, sich als Schule mit besonderer Prägung (Spezialschule) zu organisieren, soweit diese Schule einen Schulversuch gemäß § 8 erfolgreich abgeschlossen hat. Die Genehmigung kann auf einen oder mehrere Klassenzüge beschränkt werden (Spezialklassen). Die Schule legt hierzu ein Schulprogramm vor, das insbesondere die Veränderungen gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 ausweist. Die Genehmigung wird im Einvernehmen mit dem Schulträger erteilt. Das Schulprogramm der Spezialschule ist in geeigneter Weise öffentlich bekannt zu machen. Der Besuch einer Spezialschule oder Spezialklasse ist für Schülerinnen und Schüler freiwillig. Das für Schule zuständige Mitglied der Landesregierung wird ermächtigt, die Anforderungen an die Errichtung als Spezialschule oder Spezialklasse durch Rechtsverordnung zu regeln. Dazu ist rechtzeitig und nach umfassender Information das Benehmen mit dem für Schule zuständigen Ausschuss des Landtages herzustellen.
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Bremisches Schulgesetz v. 28.06.2005 (GBl. S. 260, berichtigt S. 388 und S. 398), zul. geänd. durch Änderungsbekanntmachung v. 24.01.2012 (GBl. S. 24) § 13 (Schulversuche und Reformschulen) (1) Schulversuche erproben neue Konzeptionen zur Weiterentwicklung der Schulen im Sinne der §§ 4 bis 6 sowie 8 und 9 oder neue Formen der Schulorganisation. Schulversuche weichen von den geltenden Vorschriften ab und werden befristet eingerichtet. (2) Reformschulen sind Schulen, die einem geschlossenen reformpädagogischen Gesamtkonzept folgen. Sie können von den Regelungen für die eingerichteten Schul arten insbesondere in ihrer Organisation und in der Gestaltung des Unterrichts abweichen und dauerhaft eingerichtet werden. (3) Schulversuche und Reformschulen werden von der Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit eingerichtet und aufgelöst oder auf Antrag genehmigt. Die jeweiligen Abweichungen von den eingerichteten Schularten werden durch Ziel- und Leistungsvereinbarungen zwischen der Fachaufsicht und der Schule konkretisiert. Eingerichtete und genehmigte Reformschulen werden öffentlich bekannt gemacht. Der Besuch von Schulversuchen und Reformschulen ist freiwillig. (5) Das Nähere über Inhalt und Form der Ziel- und Leistungsvereinbarungen, die Mindestanforderungen an Schulversuche und Reformschulen sowie die Veröffent lichung der eingerichteten oder genehmigten Reformschulen regelt eine Rechtsverordnung. Hamburg Hamburgisches Schulgesetz v. 16.04.1997 (GVBl. S. 97), zul. geänd. durch Gesetz v. 19.02.2013 (GVBl. S. 51) § 10 (Schulversuche und Versuchsschulen) (1) Schulversuche und Versuchsschulen dienen dazu, das Schulwesen pädagogisch und organisatorisch weiterzuentwickeln. Mit ihnen können Abweichungen von Aufbau und Gliederung des Schulwesens, Veränderungen oder Ergänzungen der Unterrichts inhalte, der Unterrichtsorganisation und der Unterrichtsmethoden sowie neue Formen der Schulverfassung und der Schulleitung erprobt werden. Schulversuche sind außerdem zulässig, um innovative Formen der Kompetenzmessung und -beschreibung (Kompetenzraster) zu erproben. Diese müssen mindestens den gleichen Informationswert wie Noten zur weiteren Schullaufbahn für Schülerinnen und Schüler und ihre Sorgeberechtigten haben. (2) Die im Rahmen eines Schulversuchs erreichbaren Abschlüsse und Berechtigungen müssen den Abschlüssen und Berechtigungen der Regelschulen gleichwertig sein. (3) Über die Durchführung eines Schulversuchs und über die Errichtung einer Versuchsschule entscheidet die zuständige Behörde. Entsprechende Anträge können von der Schulkonferenz gestellt werden. Inhalte, Ziele und Durchführung sind in einem Versuchsprogramm festzulegen. Die Versuche sind nach wissenschaftlichen Methoden zu begleiten und auszuwerten. Die Ergebnisse sind zu veröffentlichen.
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(4) Die Teilnahme an einem Schulversuch oder der Besuch einer Versuchsschule sind für die Schülerinnen und Schüler freiwillig. Über die Teilnahme entscheiden die Sorgeberechtigten oder die volljährigen Schülerinnen und Schüler; haben sie sich für die Teilnahme am Schulversuch oder für den Besuch der Versuchsschule entschieden, so ist der Schulbesuch verpflichtend. (5) Absatz 3 Sätze 4 und 5 und Absatz 4 gelten nicht für Schulversuche, in denen ausschließlich neue Formen der Schulverfassung und der Schulleitung erprobt werden. Hessen Hessisches Schulgesetz i.d.F. v. 14.06.2005 (GVBl. I S. 441), zul. geänd. durch Gesetz v. 18.12.2012 (GVBl. S. 645) § 14 (Schulversuche und Versuchsschulen) (1) Durch Schulversuche in bestehenden Schulen soll die Weiterentwicklung des Schulwesens gefördert werden. Im Rahmen eines Schulversuchs werden Abweichungen von den geltenden Regelungen zu Unterrichtsorganisation, Didaktik oder Methodik innerhalb des Schulaufbaus erprobt. Schulversuche sind zu befristen. (2) Versuchsschulen dienen der Weiterentwicklung des Schulwesens durch Erprobung von Veränderungen und Ergänzungen in Didaktik, Methodik und Aufbau einer Schule. In Versuchsschulen können auch verschiedene Schulen zusammengefasst werden. Die Umwandlung verschiedener Schulen in Versuchsschulen oder die Neueinrichtung solcher Schulen ist nur zulässig, wenn 1. die Versuchsschule nach Anlage, Inhalt und organisatorischer Gestaltung wesent liche Einsichten für die Weiterentwicklung erwarten lässt, 2. nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis davon ausgegangen werden kann, dass die Versuchsschule geeignet erscheint, allen Schülerinnen und Schülern ihrer Eignung angemessene Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, und eine ausreichende Differenzierung des Unterrichts gewährleistet, 3. den die Versuchsschulen besuchenden Schülerinnen und Schülern keine erkennbaren Nachteile erwachsen, sie insbesondere gleiche oder gleichwertige Abschlüsse und Berechtigungen erwerben können wie an anderen vergleichbaren Schulen und der Übergang in andere Schulen gewährleistet ist, 4. die Entscheidungsbefugnis der Eltern über die Wahl des Bildungsgangs nach dem Besuch der Grundschule außerhalb der Versuchsschule im Rahmen des geltenden Rechts gewährleistet ist. (3) Die Schulkonferenz stellt den Antrag auf Durchführung eines Schulversuchs und die Umwandlung einer Schule in eine Versuchsschule. Über die Umwandlung einer Schule in eine Versuchsschule oder über deren Neuerrichtung beschließt der Schulträger. Der Antrag auf Durchführung eines Schulversuchs und die Beschlüsse des Schulträgers nach Satz 2 bedürfen der Zustimmung des Kultusministeriums. Die Befugnis des Kultusministeriums, zur Weiterentwicklung des Schulwesens Schulversuche ohne Antrag der Schulkonferenz einzurichten, bleibt unberührt; Entsprechendes gilt auch für die Einrichtung von Versuchsschulen durch den Schulträger.
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(4) Die von der Durchführung eines Schulversuchs oder der Errichtung einer Versuchsschule betroffenen Eltern und Schülerinnen und Schüler haben keinen Anspruch darauf, dass 1. an der Schule die vor dem Schulversuch bestehenden Organisationsformen fortgeführt werden, 2. den Schülerinnen und Schülern der Besuch einer wegen der Errichtung einer Versuchsschule aufzuhebenden Schule weiterhin ermöglicht wird. (5) Eine Versuchsschule ist aufzuheben oder in eine der in § 11 Abs. 3 aufgeführten Regelformen zu überführen, wenn 1. die in Abs. 2 genannten Voraussetzungen nicht mehr vorliegen oder 2. der Versuch als abgeschlossen angesehen werden kann, (6) Schulversuche und Versuchsschulen sind wissenschaftlich zu begleiten und zu evaluieren. Die Form der wissenschaftlichen Begleitung regelt das Kultusministerium. Mecklenburg-Vorpommern Schulgesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommern i.d.F. v. 10.09.2010 (GVBl. S. 462, berichtigt in GVBl. 2011, S. 859 und GVBl. 2012, S. 524), geänd. durch Gesetz v. 13.12.2012 (GVBl. S. 555) § 38 (Schulversuche, Versuchsschulen) (1) Schulversuche dienen dazu, durch Veränderung der Rahmenpläne, der Unterrichtsorganisation, der Unterrichtsmethoden und der Formen der Schulmitwirkung zur Weiterentwicklung der Schule neue pädagogische Konzeptionen und organisatorische Formen zu erproben. Versuchsschulen dienen der Erprobung von Veränderungen des Aufbaus und der Gliederung des Schulsystems. (2) Die Durchführung von Schulversuchen und die Einrichtung von Versuchsschulen sind nur dann zulässig, wenn sie geeignet erscheinen, allen Schülerinnen und Schülern ihrer Eignung angemessene Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, wenn gleichwertige Abschlüsse und Berechtigungen erworben werden können wie in anderen vergleichbaren Bildungsgängen und wenn die Entscheidungsbefugnis der Erziehungsberechtigten über die Wahl des Bildungsgangs nach dem Besuch der schulartunabhängigen Orientierungsstufe im Rahmen des geltenden Rechts gewährleistet ist. (3) Über die Durchführung eines Schulversuchs und über die Errichtung einer Versuchsschule entscheidet die oberste Schulbehörde auf Antrag der Schulkonferenz, der im Einvernehmen mit dem Schulträger zu stellen ist. Die Genehmigung ist zu befristen und kann unter dem Vorbehalt des Widerrufs erteilt werden. Inhalte, Ziele, Durchführung und die Projektleitung sind in einem Versuchsprogramm festzulegen. Das Institut für Qualitätsentwicklung Mecklenburg-Vorpommern sorgt für die wissenschaftliche Begleitung und Auswertung der Versuche und die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse. (4) Die Schülerinnen und Schüler, ihre Erziehungsberechtigten und sonstige Betroffene sind umfassend zu informieren über Art, Ziele und Durchführung von Versuchen, an denen die Schülerinnen und Schüler teilnehmen. (5) Die Schule ist verpflichtet, bei vorzeitiger Beendigung eines Versuchs für geeignete Übergänge zu sorgen oder die Fortführung des Bildungsgangs zu ermöglichen.
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Niedersachsen Niedersächsisches Schulgesetz i.d.F. v. 03.03.1998 (GVBl. S. 137), zul. geänd. durch Gesetz v. 19.06.2013 (GVBl. S. 165) § 22 (Schulversuche) (1) Zur Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Konzeptionen sowie zur Überprüfung und Fortentwicklung vorhandener Modelle können Schulversuche durchgeführt werden; hierzu können auch Versuchsschulen eingerichtet werden. Bei Schulversuchen kann von den Schulformen der §§ 6, 9 bis 12 und 14 bis 20 abge wichen werden. Zur Erprobung neuer Mitwirkungs- und Mitbestimmungsformen können Schulversuche auch als Schulverfassungsversuche durchgeführt werden. (2) Schulversuche werden nach Möglichkeit wissenschaftlich begleitet. Jede Phase eines Schulversuchs ist hinreichend zu dokumentieren. (3) Schulversuche bedürfen der Genehmigung der Schulbehörde. Die Genehmigung ist zu befristen; sie ist widerruflich. Sie wird auf Antrag des Schulträgers oder der Schule erteilt. Ein Antrag der Schule kann nur im Einvernehmen mit dem Schulträger gestellt werden. Schulverfassungsversuche können nur von der Schule im Benehmen mit dem Schulträger beantragt werden. (4) Im Rahmen von Schulversuchen müssen die Schülerinnen und Schüler Ab schlüsse erwerben können, die den vergleichbaren Abschlüssen anderer Schulen entsprechen. Nordrhein-Westfalen Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen v. 15.02.2005 (GVBl. S. 102), zul. geänd. durch Gesetz v. 15.11.2013 (GVBl. S. 613) § 25 SchulG (Schulversuche, Versuchsschulen, Experimentierklausel) (1) Schulversuche dienen dazu, das Schulwesen weiterzuentwickeln. Dazu können insbesondere Abweichungen von Aufbau und Gliederung des Schulwesens sowie Veränderungen oder Ergänzungen der Unterrichtsinhalte, der Unterrichtsorganisation sowie der Formen der Schulverfassung und der Schulleitung zeitlich und im Umfang begrenzt erprobt werden. In Schulversuchen müssen die nach diesem Gesetz vorge sehenen Abschlüsse erreicht werden können. (2) Zur Erprobung von Abweichungen, Veränderungen oder Ergänzungen grundsätzlicher Art können Versuchsschulen errichtet werden. Der Besuch von Versuchsschulen ist freiwillig. (3) Zur Erprobung neuer Modelle erweiterter Selbstverwaltung und Eigenverantwortung kann Schulen auf deren Antrag im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung mit dem Schulträger und der Schulaufsichtsbehörde gestattet werden, abweichend von den bestehenden Rechtsvorschriften bei der Stellenbewirtschaftung, der Personalverwaltung, der Sachmittelbewirtschaftung und der Unterrichtsorganisation selbstständige Entscheidungen zu treffen und neue Modelle der Schulleitung und der Schulmitwirkung zu erproben. Es muss gewährleistet sein, dass die Standards der Abschlüsse den
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an anderen Schulen erworbenen Abschlüssen entsprechen und die Anerkennung der Abschlüsse in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland gesichert ist. (4) Schulversuche, Versuchsschulen und Modellvorhaben bedürfen der Genehmigung des Ministeriums. Dabei werden Inhalt, Ziel, Durchführung und Dauer in einem Programm festgelegt. (5) Die Absätze 1, 2 und 4 gelten auch für Ersatzschulen. Rheinland-Pfalz Schulgesetz Rheinland-Pfalz v. 30.03.2004 (GVBl. S. 239), zul. geänd. durch Gesetz v. 08.10.2013 (GVBl. S. 349) § 20 (Schulversuche) (1) Zur Gewinnung und praktischen Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Erkenntnisse für die Qualitätsentwicklung des Schulwesens und eine bessere Förderung der Schülerinnen und Schüler können Schulversuche durchgeführt werden. (2) Die Schulversuche werden im Rahmen bestehender Schularten oder als besondere Versuchsschulen geführt. (3) Schulversuche dienen insbesondere 1. der Entwicklung neuer schulischer Strukturen, 2. der Neubestimmung von Bildungszielen und Lerninhalten, 3. der Entwicklung neuer Lehr- und Lernverfahren, 4. der Entwicklung, Erprobung und Einführung innovativer und effektiver Methoden der schulinternen Evaluation. (4) Schulversuche sollen wissenschaftlich begleitet und auf die Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse hin ausgewertet werden. § 95 (Errichtung von Versuchsschulen) (1) Schulträger von besonderen Versuchsschulen sind die kreisfreien Städte und die Landkreise, in deren Gebiet die Schulen ihren Sitz haben. Entlastet die Versuchsschule die kreisfreie Stadt, den Landkreis oder dem Landkreis angehörende Gemeinden und Verbandsgemeinden nicht wesentlich, so kann sie als Schule errichtet werden, deren Personal- und Sachbedarf das Land bereitstellt. (2) Mit Zustimmung des fachlich zuständigen Ministeriums kann die Verbandsgemeinde, verbandsfreie Gemeinde oder große kreisangehörige Stadt Schulträger einer Versuchsschule sein, wenn die Versuchsschule Schularten umfasst, für die die genannten Gebietskörperschaften nach § 76 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 als Schulträger vorgesehen sind, oder wenn die Schülerinnen und Schüler der Versuchsschule überwiegend im Gebiet dieser Körperschaften wohnen. Für die Beförderung der Schülerinnen und Schüler zu dieser Versuchsschule gelten die für die Schülerinnen und Schüler der Realschulen plus in § 69 getroffenen Regelungen entsprechend. Soweit ein Schulbezirk oder Einzugsbereich gebildet ist, besteht eine Beförderungspflicht nur für die Schüle-
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rinnen und Schüler, die im Schulbezirk oder Einzugsbereich wohnen. Schülerinnen und Schülern, die nicht im Schulbezirk oder Einzugsbereich wohnen, werden die Kosten für den Besuch der Versuchsschule höchstens in dem Umfang erstattet, wie sie beim Besuch der nächstgelegenen Realschule plus zu übernehmen wären. Satz 3 gilt nicht, soweit die Versuchsschule bereits vor Bildung des Einzugsbereichs besucht wurde. (3) Die Versuchsschulen errichtet das fachlich zuständige Ministerium im Einvernehmen mit der als Schulträger vorgesehenen Gebietskörperschaft. Ist Träger der Versuchsschule eine Verbandsgemeinde, eine verbandsfreie Gemeinde oder eine große kreisangehörige Stadt, muss an der Planung der Versuchsschule die Gebietskörperschaft, deren Interessen dadurch berührt werden, beteiligt werden. Sind an dem Schulversuch Einrichtungen der außerschulischen Berufsbildung beteiligt, ist auch das Benehmen mit den zuständigen Stellen nach dem Berufsbildungsgesetz herzustellen. (4) Das Land gewährt dem Schulträger nach Maßgabe des Landeshaushaltsplans angemessene Zuschüsse zu den Kosten des Verwaltungs- und Hilfspersonals und den laufenden Sachkosten, soweit nach Feststellung des fachlich zuständigen Ministeriums für die Versuchsschule höhere notwendige Aufwendungen entstehen als für eine Schule einer vergleichbaren Schulart. (5) Für Versuchsschulen können entsprechend § 62 Schulbezirke oder entsprechend § 93 Einzugsbereiche gebildet werden. (6) Im Übrigen gelten für die Versuchsschulen die Vorschriften des Abschnitts 2 entsprechend. (7) Schulversuche im Rahmen bestehender Schularten werden vom fachlich zuständigen Ministerium im Benehmen mit dem Schulträger eingerichtet; Absatz 3 Satz 3 und Absatz 4 gelten entsprechend. Saarland Gesetz zur Ordnung des Schulwesens im Saarland (Schulordnungsgesetz) i.d.F. v. 21.08.1996 (ABl. S. 846, berichtigt in ABl. 1997, S. 147), zul. geänd. durch Gesetz v. 20.06.2012 (ABl. I S. 210) § 5 (Weiterentwicklung des Schulwesens) (1) Zur Gewinnung und Erprobung neuer pädagogischer und schulorganisatorischer Erkenntnisse sollen nach Anhörung der Landesschulkonferenz Versuchsschulen, nach Anhörung der Schulkonferenz Schulversuche eingerichtet werden. (2) Die Schulaufsichtsbehörde kann nach Anhörung der Schulkonferenz und, falls damit für den Schulträger eine wesentliche Mehrbelastung verbunden ist, mit dessen Zustimmung einer bestehenden Schule Eigenschaft und Aufgaben einer Versuchsschule übertragen. (3) Zur Erprobung von Modellen der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung kann die Schulaufsichtsbehörde einer begrenzten Anzahl von Schulen für die Dauer von bis zu sechs Jahren in Abweichung von den bestehenden Rechtsvorschriften ermöglichen, zur Weiterentwicklung des Schulwesens bei der Personalentwicklung, Personalverwaltung, Stellenbewirtschaftung und Sachmittelbewirtschaftung sowie in
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der Unterrichtsorganisation und Unterrichtsgestaltung selbstständige Entscheidungen zu treffen. Das Land und der Schulträger können den am Modellvorhaben teilnehmenden Schulen auf der Grundlage einer Kooperationsvereinbarung Stellen, Personal und Sachmittel im Rahmen eines einheitlichen Budgets zur selbstständigen Bewirtschaftung zur Verfügung stellen. Soweit einer Schule Mittel zur Verfügung gestellt werden, kann sie für das Land oder den Schulträger entsprechend der Zweckbindung finanzielle Verpflichtungen eingehen. Die Schulaufsichtsbehörde kann durch Rechtsverordnung für die Dauer des Modellvorhabens nähere Regelungen über die Abweichungen gemäß Satz 1 sowie die Durchführung der Selbstbewirtschaftung gemäß den Sätzen 2 und 3 erlassen. Sachsen Schulgesetz für den Freistaat Sachsen i.d.F. v. 16.07.2004 (GVBl. S. 298), zul. geänd. durch Gesetz v. 12.12.2008 (GVBl. S. 866) § 15 (Schulversuche) (1) Zur Weiterentwicklung des Schulwesens und zur Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Konzeptionen können Schulversuche durchgeführt werden. (2) Schulversuche bedürfen der Genehmigung der obersten Schulaufsichtsbehörde und sind in der Regel wissenschaftlich zu begleiten. Sachsen-Anhalt Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt i.d.F. v. 11.08.2005 (GVBl. S. 520), zul. geänd. durch Gesetz v. 22.02.2013 (GVBl. S. 68) § 11 (Schulversuche) (1) Zur Weiterentwicklung der Schulformen und zur Erprobung neuer pädago gischer und organisatorischer Konzeptionen können Schulversuche durchgeführt werden. (2) Schulversuche bedürfen der Genehmigung der obersten Schulbehörde. Die wissenschaftliche Begleitung und die Dokumentation von Schulversuchen regelt die oberste Schulbehörde. Schleswig-Holstein Schleswig-Holsteinisches Schulgesetz v. 24.01.2007 (GVBl. S. 39; berichtigt S. 276), zul. geänd. durch Gesetz v. 25.06.2013 (GVBl. S. 275) § 138 (Schulversuche, Erprobung anderer Mitwirkungsformen) (1) Im Rahmen von Schulversuchen können Abweichungen von den Bestimmungen dieses Gesetzes und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen erprobt werden. Schulversuche können sich insbesondere beziehen auf 1. schulische Organisationsformen, Lehr- und Lernverfahren, Lernziele und -inhalte, Formen der Mitwirkung und der Leistungsbewertung sowie
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2. den Bildungsauftrag, die Bildungsgänge und die Abschlüsse, die Aufnahmevoraussetzungen und die Zahl der Jahrgangsstufen. (2) Schulversuche können durch das für den jeweiligen Bildungsbereich zuständige Ministerium in bestehenden Schulen und in einzelnen besonderen Versuchsschulen durchgeführt werden. Der Schulträger ist anzuhören. Die Durchführung eines Schulversuchs kann auch vom Schulträger oder der Schule beim zuständigen Ministerium beantragt werden. Schulversuche sind zeitlich zu begrenzen und in angemessener Zeit daraufhin auszuwerten, wieweit ihre Ergebnisse auf das Schulwesen übertragbar sind. Die Ergebnisse sind zu veröffentlichen. (3) Für Abweichungen von grundsätzlicher Art bedarf es der Einrichtung besonderer Versuchsschulen durch Verordnung des für den jeweiligen Bildungsbereich zuständigen Ministeriums. Der Besuch besonderer Versuchsschulen ist freiwillig. In der Verordnung kann das zuständige Ministerium den Schulträger und Schuleinzugsbereiche bestimmen, die Merkmale für die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern bei begrenzter Aufnahmemöglichkeit festlegen und die Anwendung der §§ 111 bis 113 ausschließen. Entspricht die Schule nicht einer der in diesem Gesetz vorgesehenen Schularten, beschließen der Schulelternbeirat und die Klassensprecherversammlung jeweils für eine Amtszeit, in welcher Schulart sie sich an der Bildung des Kreiselternbeirats oder der Kreis- oder Landesschülervertretung beteiligen. (4) Führen Schulversuche mit besonderen Versuchsschulen nach Abschluss des Versuchs nicht zu einer Änderung der Schularten nach diesem Gesetz, hat das zuständige Ministerium diese in Schulen der Schularten des § 9 umzuwandeln. (5) Das für Bildung zuständige Ministerium kann auf Antrag für eine Schule befristet und versuchsweise zulassen, dass abweichend von den §§ 62 bis 66, 70 bis 72, 77, 78, 81, 84, 86, 87 und 97 bis 99 andere Formen der Mitwirkung erprobt werden. Der Antrag bedarf der Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder der Schulkonferenz. Thüringen Thüringer Schulgesetz v. 30.04.2003 (GVBl. S. 238), zul. geänd. durch Gesetz v. 31.01.2013 (GVBl. S. 22) § 12 (Schulversuche) (1) Durch Schulversuche soll die Weiterentwicklung des Schulwesens gefördert werden. Schulversuche werden an besonderen Versuchsschulen durchgeführt. Bei der Entwicklung und Durchführung von Modellen zur gemeinsamen Unterrichtung von behinderten und nicht behinderten Schülern sollen die Versuchsschulen mit Förderschulen zusammenarbeiten. Schulversuche müssen nach Anlage, Inhalt und Durchführung geeignet sein, neue Erkenntnisse über Organisationsformen des Unterrichts und über die Erziehung in den Schulen einschließlich neuer Schularten zu vermitteln oder zu sichern oder wesentliche inhaltliche Änderungen zu erproben. (2) Schulversuche sind nur zulässig, wenn die Schüler im Rahmen des wissenschaftlich begleiteten Schulversuchs gleiche oder gleichwertige Berechtigungen oder Abschlüsse erwerben können wie Schüler an Schulen außerhalb des Versuchs und wenn der Übergang in Schulen außerhalb des Schulversuchs gewährleistet ist.
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(3) Schulversuche bedürfen der Genehmigung; über deren Erteilung entscheidet das für das Schulwesen zuständige Ministerium. Der Schulleiter stellt den Antrag auf Durchführung eines Schulversuchs nach Beschluss der Schulkonferenz. Die Einführung des Schulversuchs bedarf der Zustimmung des Schulträgers. (4) Die in die Durchführung eines Schulversuchs einbezogenen Schüler sind zur Teilnahme verpflichtet und haben wie ihre Eltern keinen Anspruch darauf, dass an der Schule die vor dem Schulversuch bestehenden Organisationsformen statt oder neben den Versuchsformen fortgeführt werden. (5) Schulversuche können auch an Schulen in freier Trägerschaft genehmigt werden. (6) Die Schulträger können abweichend von § 10 Abs. 1 zur Weiterentwicklung der Grundschulen im Bereich der außerunterrichtlichen Betreuung der Schüler sowie bei Fördermaßnahmen im Unterricht neue Modelle erproben. Die Erprobungsmodelle erfolgen auf der Grundlage einer Vereinbarung mit dem für das Schulwesen zuständigen Ministerium, in der insbesondere Inhalt, Ziel, Durchführung, Finanzierung und Dauer des Erprobungsmodells sowie Regelungen zur Personalaufsicht sowie zum Personaleinsatz festgelegt werden.
II. „Entwurf für ein Landesschulgesetz“ der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages (1981) § 34 (Versuchsschule und Schulversuche) (1) Versuche dienen der pädagogischen und organisatorischen Weiterentwicklung des Schulwesens. (2) Versuchsschulen dienen der Erprobung von Veränderungen oder Ergänzungen des Schulaufbaus. (3) Schulversuche dienen der Erprobung erheblicher Veränderungen oder Ergänzungen der Lehrpläne, der Unterrichtsorganisation oder des Lehrverfahrens sowie der Formen der Mitwirkung in der Schule. (4) Die Einführung flächendeckender Versuche bedarf des Gesetzes. (5) Der Kultusminister stellt Versuchsprogramme auf, welche die Arten, die Ziele und die Durchführung von Versuchen allgemein festlegen. Die Versuchsprogramme sind alle zwei Jahre fortzuschreiben und dem Landtag zur Kenntnisnahme zuzuleiten. (6) Der Kultusminister hat über Verlauf und Ergebnisse der Versuche dem Landtag regelmäßig zu berichten. § 35 (Durchführung von Versuchen) (1) Die kommunalen Schulträger können mit Zustimmung des Kultusministers Versuchsschulen errichten und aufheben sowie bestehende Schulen, für die sie Schulträger sind, in Versuchsschulen umwandeln. Die Zustimmung ist zu erteilen, wenn die Errichtung oder die Umwandlung den Anforderungen des Versuchsprogramms entspricht. Die Zustimmung zur Aufhebung ist zu erteilen, wenn die Voraussetzungen des
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Versuchsprogramms nicht mehr erfüllt sind. Sind die Voraussetzungen des Versuchsprogramms nicht mehr erfüllt, kann der Kultusminister Versuchsschulen aufheben. (2) Der Kultusminister kann im Rahmen des Versuchsprogramms bestehende Schulen, für die das Land Schulträger ist, in Versuchsschulen umwandeln. Das Land kann Versuchsschulen in eigener Trägerschaft errichten, wenn die Verwirklichung des Versuchsprogramms durch kommunale Schulträger nicht gewährleistet ist. (3) Das Land kann im Rahmen des Versuchsprogramms Schulversuche durchführen. Der Schulträger ist vor der Einrichtung anzuhören. § 36 (Schulverhältnis bei Versuchen) (1) Der Besuch von Versuchsschulen ist freiwillig. Die Schüler sind verpflichtet, an Schulversuchen teilzunehmen. (2) Die Abschlüsse der Versuchsschulen und der Schulen mit Schulversuchen verleihen die gleichen Berechtigungen wie die Abschlüsse der entsprechenden Schularten. (3) Die Schulbehörde ist verpflichtet, bei vorzeitiger Beendigung eines Versuchs für geeignete Übergänge zu sorgen oder die Fortführung des Bildungsgangs zu ermöglichen. (4) Die Schüler und ihre Eltern sind umfassend zu informieren über Art, Ziele und Durchführung von Versuchen, an denen die Schüler teilnehmen.
III. Verfahrensregelung der Kultusministerkonferenz zu Schulversuchen Durchführung von Schulversuchen und gegenseitige Anerkennung der entsprechenden Abschlüsse (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.02.1990 i.d.F. vom 21.06.2012) 1. Die Kultusministerinnen und Kultusminister der Länder stimmen darin überein, Schulversuche, die von einschlägigen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz abweichen, großzügig zuzulassen. Sie sind dabei von dem Ziel geleitet, einerseits die Einheitlichkeit und Durchlässigkeit des Schulwesens zu wahren, andererseits eine Weiterentwicklung des Schulwesens und eine Verbesserung pädagogischer Förderung durch Schulversuche zu ermöglichen. Schulversuche beziehen sich auf eine begrenzte Anzahl von Schulen und einen begrenzten Zeitraum von bis zu zehn Jahren. Daneben ermöglicht die Kultusministerkonferenz in Einzelvereinbarungen Abweichungen auf Dauer für sehr wenige, namentlich benannte Schulen. Es wird unterschieden zwischen a) zulassungspflichtigen und b) anzeigepflichtigen Schulversuchen. Zulassungspflichtig sind Schulversuche, die Abschlüsse und Rahmenbedingungen des Erreichens der Abschlüsse betreffen, für die übrigen gilt lediglich eine Anzeigepflicht.
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2. Es gilt das folgende Verfahren: 2.1 Ein Land meldet den beabsichtigten Schulversuch spätestens sechs Monate vor dem geplanten Beginn und spätestens acht Wochen vor einer Schulausschusssitzung den Mitgliedern des Schulausschusses über das Sekretariat der Kultusministerkon ferenz an. Bei der Anmeldung ist das vorgesehene Formular zu verwenden, das die folgenden Angaben enthält: a) Kurzbezeichnung des Schulversuchs b) Beginn und Dauer c) Anzahl der beteiligten Schulen, Schulart, ggf. Namen der Schulen d) Ziele und Fragestellungen e) Angaben zur wissenschaftlichen oder schulaufsichtlichen Begleitung sowie der Evaluation f) Darstellung der Abweichungen von einschlägigen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz g) Erklärung des antragstellenden Landes, ob es sich um einen zulassungspflichtigen oder um einen anzeigepflichtigen Schulversuch handelt. 2.2 Über zulassungspflichtige Schulversuche entscheidet für den angemeldeten Zeitraum der Schulausschuss mit einer Mehrheit von mindestens 13 Stimmen. Kommt ein Beschluss des Schulausschusses nicht zustande, entscheidet die Amtschefskonferenz. 2.3 Die übrigen Schulversuche sind für den angemeldeten Zeitraum zugelassen, sofern nicht ein Land innerhalb von vier Wochen eine Beratung im Schulausschuss beantragt, weil es den angemeldeten Schulversuch für zulassungspflichtig hält. 3. Ein Land, das einen Schulversuch nach dieser Vereinbarung durchführt, verpflichtet sich, der Kultusministerkonferenz spätestens ein Jahr nach Ablauf des Versuchzeitraums einen Schlussbericht vorzulegen. In den beteiligten Schulen kann auf der Grundlage der Ergebnisse des abgeschlossenen Schulversuchs zunächst weitergearbeitet werden. 4. Der Schulausschuss entscheidet auf der Grundlage des Schlussberichts einstimmig, ob der Schulversuch in eine Einzelvereinbarung für eine Schule mit besonderer Konzeption überführt wird oder ob der Kultusministerkonferenz vorgeschlagen werden soll, bestehende Vereinbarungen zu ändern. Andernfalls kann der Schulversuch nicht fortgesetzt werden. 5. Das Sekretariat der Kultusministerkonferenz führt eine Liste der angezeigten Schulversuche sowie der Schulen, die auf der Grundlage von Einzelvereinbarungen dauerhaft von den einschlägigen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz abweichen. Die Liste der Schulversuche wird jährlich durch eine standardisierte Länderabfrage aktualisiert. 6. Die Vereinbarung tritt zum 01.08.2012 in Kraft. Zeugnisse, Abschlüsse und Berechtigungen, die im Rahmen von Schulversuchen nach dieser Vereinbarung erworben werden, werden gegenseitig anerkannt. (Abdruck im Internet unter: www.kmk.org/bildung-schule/allgemeine-bildung/schulversuche.html.)
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Anzahl teilnehmender Schulen 393 f., 399, 401, 403, 503, 509 Anzeigepflicht für Schulversuche (KMK) 289, 290 ff., 296 f., 310, 468 Arbeiterbewegung 86 Arbeitsschulbewegung 93, 105 f., 108, 151 Arbeitsschule 83, 93, 104 f., 123, 149 f., 154, 245 Arbeitsunterricht 122, 132, 142, 151 Aufbauschule 123, 140, 164, 169, 172 Aufklärung 31 Auflösung von Regelschulen 405, 435, 440, 443 f., 448, 456, 458, 461, 499 Auflösung von Versuchsschulen 126, 438, 500 Aufnahmebegrenzungen bei Schulversuchen 475, 477 f. Aufnahmekriterien bei Schulversuchen 91, 475 ff., 480 Ausbildungs- und Prüfungsordnungen 349, 359, 373, 379, 385, 471, 474 Auslaufen eines Schulversuchs 25, 191, 241, 343, 355, 366, 415, 433, 492 f., 500, 509 Ausmaß der Versuchsermächtigung 390, 392, 394, 398, 409, 415, 466 Ausnahmecharakter 26, 75, 285, 361, 374 f., 393 ff., 401, 414, 424, 464, 467, 494, 505 Ausnahmegenehmigung 75, 349, 508 Ausschuss für das Unterrichtswesen 119, 165 Ausschuss für Versuchsschulen 121, 138, 145, 230 Äußere Schulangelegenheiten 43, 73, 75, 449, 454 f. Außerschulischer Lernort 96 Ausweichmöglichkeit 346, 437
Personen- und Sachregister Auswertung von Schulversuchen 154, 282, 304 f., 308, 313, 324, 328, 368, 393 f., 397, 399, 405, 407, 463 f., 472, 474, 486 f., 491, 493, 495 Auswirkungen eines Schulversuchs 377, 385 B Basedow, Johann Bernhard 36 Bäumer, Gertrud 101, 123 Bäumler, Alfred 174, 207 Becker, Carl Heinrich 141, 142 Becker, Hellmut 276, 281 Beendigung eines Schulversuchs 295, 314, 340, 357, 395, 405, 412, 415, 431, 433, 492 ff., 498 f., 506 Begabtenschulen 169 Begabungsförderung 76, 107, 169 Begründungspflicht 466 f., 492 Behler, Gabriele 339 Bekenntnisschule 188 f. Berechenbarkeit von Versuchsmaßnahmen 378, 495, 507 Berechtigungswesen 51, 73, 225, 406, 420, 468 Berichtspflicht gegenüber Parlament 367 f., 414 Berliner Erklärung der KMK 1964 278, 282 f. Bernfried, Siegfried 130, 194 Berthold-Otto-Schule 88, 127, 241 Besonderes Gewaltverhältnis 64, 70, 72, 75, 118, 224, 372, 378, 503 Bestandsaufnahme über Schulversuche 124, 231, 233, 255 f., 264, 267, 298 ff., 332, 334, 336 Bestandsgarantie 203, 365, 402, 416, 437, 440, 443, 445, 488 Bestandsgefährdung anderer Schulen 443, 460 f., 508 Bestimmtheitsgebot 377, 389, 395, 398, 413, 480 Beteiligung Schule am Genehmigungsverfahren 357, 362, 455 f., 464 Beteiligung schulinterner Gremien 395, 425 Beurteilungsspielraum 391, 426, 429, 508 Bewegungsfreiheit 166 f., 170 Bildungsberichterstattung 326
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Bildungschancengleichheit 379 f., 385, 399, 479, 507 Bildungsexpansion 279, 285, 318 Bildungsforschung 253, 281, 317, 319, 320, 323, 373, 379, 471, 489, 503, 505 Bildungsgesamtplan 1973 der BLK 312, 318, 322 Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates 301 f., 304, 308, 312 Bildungsplanung 219, 280, 282, 302, 316 ff., 326 f., 347, 370, 506 Bildungsstandards 285, 373 Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates 222, 379, 382, 395 f. Bildungsziele 73, 137 ff., 258, 308, 349, 396, 406, 480 Bismarck, Otto von 66 BLK-Modellversuche 219, 305, 313, 319 ff., 327 ff., 334 ff. BLK-Modellversuchsprogramme 323 ff., 327, 337, 486 Blume, Wilhelm 23, 144, 234 Boelitz, Otto 135, 171 Bosse, Robert 62, 77 Brandt, Willy 33, 318 Bremer Plan zur Neugestaltung des deutschen Schulwesens 275 Bund Entschiedener Schulreformer 26, 121, 124, 160, 184, 195 Bund für Schulreform 100, 158 Bund-Länder-Kommission (BLK) für Bildungsplanung 305, 313, 316, 319, 327, 347, 357, 505 Bürgerschule 48 f., 51 C Cassierer, Max 199 Charlottenburger Waldschule 109 Chiout, Herbert 231, 234, 255 Clement, Wolfgang 339 Cohn, Jonas 129 Comenius, Johann Amos 85 Conradinum Jenkau 36 Cordsen, Hans 101 f. Cousin, Victor 67 D Dahrendorf, Ralf 281 Dalton-Plan 423
572
Personen- und Sachregister
Dauerversuch 335, 407, 409, 411, 414 f. DDR-Schulwesen 29, 159, 240, 242, 247, 250 DDR-Verfassung 215, 243, 249 Demokratieprinzip 222, 371, 376, 410 Demokratisierung des Bildungswesens 213 Deutsch (Fach) 69 f., 170 Deutsche Oberschule 123, 140, 164, 170 ff., 206, 261 Deutscher Ausschuss für das Erziehungsund Bildungswesen 259 ff., 301 Deutscher Bildungsrat 281, 301, 318, 347 Deutscher Bund für Erziehung und Unterricht 100 Deutscher Lehrerverein 97 Diesterweg, Adolph 57 Dietrich, Irene 235 Dispens 26 DJT-Entwurf für ein Landesschulgesetz 225, 345, 371, 383 f., 396, 410 Dokumentation 298, 310 f., 328, 487 Domdey, Alfred 121, 138 f. Dom-Schule Lübeck 127 Durchlässigkeit zwischen Schulformen 278, 289, 291, 303 Dürer-Schule Dresden 127, 192 Düsseldorfer Abkommen 217, 261, 263, 266, 279, 283, 285, 350 E Eigenverantwortung 226, 284, 359, 372, 393, 425, 460, 469, 471, 474, 490, 504 Einflussnahme Dritter 489, 491 Einfügung in das Schulsystem 406 f., 428, 468 Einheitlichkeit des Schulwesens 46, 100, 115, 118, 167, 252, 284, 289, 506 Einheitsschulbewegung 96, 98, 106, 113, 150, 161 Einheitsschule 96, 149 f., 173, 182, 214, 216 ff., 219, 228, 232, 240, 243, 254, 269, 309 Einheitsschule Berlin-Britz 236 Einjähriges 49 ff., 52, 162, 506 Einwilligung zum Schulversuch 164, 230 f., 271, 285 ff., 379, 383, 385,
433 ff., 436, 455, 458, 470, 473, 481, 499, 507 f. Elementarschule 44, 53 ff., 58, 99 Elternvertretung 136, 138, 420, 425, 456 Empfehlung Deutscher Ausschuss zur Errichtung von Versuchsschulen 259 Empirische Grundlagen 130, 232, 280, 394 Entschließung der Ministerpräsidentenkonferenz 1954 259 Erdmann, Karl Dietrich 301 Erfahrungsaustausch über Schulversuche 255, 278, 299, 305, 324, 430, 464 Erfolgsantizipation 405 Erfolgskontrolle 130, 253, 308 f., 395 ff., 467 Erfolgswahrscheinlichkeit 435 f., 463 f. Erforderlichkeit 354, 361, 440, 476 f., 480, 492, 495 ff. Ergebnisoffenheit von Versuchen 24, 304, 395, 399, 405 Erhard, Ludwig 279 Ermessensentscheidung 47, 75, 131, 230, 274, 427, 461 ff., 465 ff., 477 f., 480, 482, 495 ff., 501 Ernsthaftigkeit 430, 436, 508 Erprobung 24, 26, 29, 119, 229 f., 239, 260, 271 f., 278, 312, 361, 371 f., 381 f., 390, 393, 399, 424, 505 Erprobungsbedarf 363, 379, 394, 405, 407, 415, 429, 431 f., 462 ff., 493, 495, 508 f. Erprobungszweck 431, 433 Erreichung regulärer Bildungsabschlüsse 361, 385, 459, 467, 506 Errichtung mehr gewagter Schulen 258 Ersatzschulfinanzierung 487 Erziehungsrecht der Eltern 219 ff., 222, 251, 315, 345, 378, 384, 395, 399, 478, 492, 498, 507 Erziehungsschule 89 Erziehung zur beruflichen Tüchtigkeit 93 Essinger, Anna 200 Ettlinger Kreis 276 Evers, Carl-Heinz 309 Exemplarisches Lernen 256
Personen- und Sachregister Experimentalprogramme mit Ganztagsschulen und Gesamtschulen 302 ff., 305, 324, 347, 505 Experimentalschulen 23 Experimente 36, 46, 50, 54, 59, 78, 82, 104, 111, 120, 125, 242, 246, 248, 257, 272, 276, 302, 345, 376, 379, 389, 404, 406, 509 Experimentelle Pädagogik 102 Experimentierklausel 343, 362, 468 ff., 473, 505 Experimentierklauseln 27, 359, 389, 394, 455, 460, 469, 508 Externenprüfung 91, 157, 419 Exzessive Versuchspraxis 335, 375, 391, 394 f., 399, 401, 464, 505, 509 Eylert, Rulemann Friedrich 54 F Fachaufsicht 44, 413, 452 ff., 501 f., 508 Falk, Adalbert 62, 78, 163 Fichte, Johann Gottlieb 41 Finanzkraft des Schulträgers 449, 463, 495 Flächendeckende Versuche 103, 312, 343, 346, 383, 398 f., 435 Flitner, Wilhelm 131, 183, 257 f., 260, 265, 274, 282 Föderalismusreform 2006 219, 325 ff., 370 Förderklassen 107 Förderschule 339 Forschungsschulen der DDR 249 Frankfurter Versuch 76 Französisches Schulmodell 40 f. Frauen-Bewegung 85, 101 Freiarbeit 160 Freie Schule Frankfurt 333 Freie Schulgemeinde Wickersdorf 89, 92, 157, 165, 205 Freiheit 36, 103, 167, 210, 224, 232, 255, 257, 343, 418, 422, 431, 460, 470 f., 493, 506 Freinet-Pädagogik 423 Freiwilligkeit der Teilnahme 109, 136, 147 f., 231, 274, 312, 346, 362, 371, 378, 381 f., 384 ff., 392, 413, 415, 429, 433, 434 ff., 441, 454, 467, 475, 479 f., 483, 498 f., 507 f.
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Freudenberg, Hans 276 Frick, Wilhelm 174, 178 Fritz-Karsen-Schule Berlin 236, 265, 300, 309 Führ, Christoph 301 Funcke, Liselotte 350 Funktionsfähigkeit des Schulsystems 395, 427 Fürsorgeeinrichtungen (Mannheimer Modell) 107 G Ganztagsschule 252, 271, 284, 300, 303, 306 Ganztagsschulversuche 301, 304 f. Gartenarbeitsschulen Berlin-Neukölln 109 Gaudig, Hugo 93 Gefahr sachfremder Erwägungen 385, 488 Gegenseitige Anerkennung 163 f., 166 f., 170, 172, 236, 284 ff., 297, 310, 314, 459, 468, 506 Gegliedertes Schulsystem 75, 127, 161, 217, 219, 229, 279, 313, 315, 318, 349 ff., 430 Geheeb, Paul 199 Gemeinschaftsaufgaben Grundgesetz 316, 326 f., 370 Gemeinschaftsgedanke NS-Zeit 174 Gemeinschaftsschule 103 f., 112, 114, 138, 154, 174, 176, 180, 182, 189, 236, 296, 315, 343, 352, 366 Genehmigungsanspruch 231, 461, 465 f., 478, 492, 495, 507 Genehmigungsauflagen 144, 496 ff. Genehmigungsbedingungen 105, 398, 448, 468 Genehmigungsbedürftigkeit 424 f. Genehmigungsbescheid 361, 410, 429, 448, 466 f., 488, 492, 495 ff., 508 Genehmigungsvorbehalt des Ministeriums 46, 59, 108, 297, 361, 371, 391, 396, 399, 426, 428, 471, 497, 503, 506 Generalklausel 378, 382, 389 Generallandschulregiment 33 Gerichtliche Kontrolldichte 426 ff., 429, 467
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Personen- und Sachregister
Gesamtschule 25, 140, 233, 236 f., 269, 300, 303, 308, 314, 318, 366, 505 Gesamtschulversuche 25, 276, 301, 305, 308, 310, 315, 334, 354, 380, 400 ff., 415 Gesamtunterricht 88, 105, 137, 232, 241 Geschichte (Fach) 69 f., 79, 171 Gesetzgebungsauftrag 61, 63, 114 Gesetzliche Regelung des Schulversuchs 75, 115, 119, 131, 221, 224, 249, 269, 345, 348, 353, 372, 375, 503 Gesetzliche Versuchsgarantie 149 Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 371, 395, 494 Gesicherte Versuchserkenntnisse 392, 429 f., 433, 492 f., 508 f. Gestaltungsfreiheit der Länder 219 Gleichheitsgrundsatz 379 f., 385, 399, 466, 479 Gleichschaltung des Schulwesens 29, 178, 182, 195 Globalermächtigung 346 f., 378, 395 Glocksee-Schule in Hannover 333, 416 Gneist, Rudolf von 73 Goßler, Gustav von 62, 79 Götze, Carl 96, 101, 103 Grenzen der Erziehung 128, 130, 194 Griechisch 40, 69, 275, 504 Grimme, Adolf 141, 187 Grundgesetz 218 f., 222 Grundsatzgesetzgebung 112, 118 f., 178, 218 Grundschule 99, 112, 117, 151, 160, 215, 235, 283, 341, 343, 352, 392 Grundschulgesetz 1920 113 f. Grundschulprojekt Gievenbeck 334 Grundstruktur des Schulwesens 284, 286, 290, 293 f. Gruppenunterricht 158, 186, 245 Gürich, Arthur 117 Gymnasiale Oberstufe 256, 265, 303, 322 Gymnasium 39, 44 ff., 47, 68, 77, 163, 168, 171, 177, 217, 261, 265, 275, 286, 300, 350, 505 H Hahn, Kurt 199, 200 Hamburger Abkommen 164, 283 ff., 290, 294, 299, 352, 468, 505
Handwerkliche Arbeit 83, 153, 156, 265 Harkort, Friedrich 62 Harnisch, Wilhelm 57 Hauptschule 177, 179, 275 f., 283, 286, 300, 344, 352, 405, 505 Haushaltsrecht 27, 446 f., 463, 486 f., 493, 496 Hauslehrerunterricht 88 Heckel, Hans 271, 273 Hecker, Johann Julius 35 Heine, Heinrich 46 Heißmeyer, August 205 Helling, Fritz 184 Hentig, Hartmut von 333 Herbart, Johann Friedrich 84 f. Herbartianismus 84, 158 Hermann-Lietz-Schulen 202 Herrlitz, Hans-Georg 314 Hess, Rudolf 207, 208 Hilker, Franz 132, 168, 173 Hilker, Fritz 121 Hitler, Adolf 197, 199 Hoernle, Edwin 125 Hoffmann, Fritz 236 Hofmann, Josef 350 Höhere Schulen 34, 36, 44, 53, 76, 154, 166, 170, 176, 257, 261, 264, 266, 285, 504 Holthoff, Fritz 351 Humanistische Bildung 39 f., 48, 60, 212 Humboldt, Wilhelm von 38 ff., 43, 48, 97 Humboldtsche Bildungsreform 29, 39, 53, 59 f., 504 I Information über Schulversuch 383, 434, 456 ff., 459, 467, 473, 499, 507 Inhalt der Versuchsermächtigung 391 Inklusion behinderter Schüler 284, 341 Innere Schulangelegenheiten 44, 72 f., 116, 118, 221, 452 f., 455 Internationale Leistungsvergleiche 226, 306, 316, 326, 373, 504 Internatsschulen 89, 92, 157, 203, 205 f., 235, 420, 421 Irreversible Reformen 395, 404 f. Isensee, Josef 33
Personen- und Sachregister Jachmann, Reinhold Bernhard 36 Jahrgangsübergreifender Unterricht 158, 186, 210, 422, 473 Jaspers, Karl 182 Jena-Plan-Schule 158 f., 185 f., 193, 232, 241, 267, 416, 421 f. Jüdisches Landschulheim Herrlingen 200 f. Jugend-Bewegung 86, 130 K Kaiser Wilhelm II. 50, 63, 69 f., 76, 81 Kant, Immanuel 23, 36 Karl-Marx-Schule Berlin 127, 140, 193 Karsen, Fritz 88, 92, 124, 128, 140 f., 156, 193, 236 Karstädt, Otto 123, 154 Kerschensteiner, Georg 93 f., 98, 101, 108, 125 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von 86 Key, Ellen 87 Kinderzeichnungen 95 Kirchen 188, 190, 251, 457 Kirchliche Schulinspektion 44, 65, 83 Kirchlicher Einfluss 32, 37 f., 54, 62, 83 Kirchner, Wilhelm 134 Klafki, Wolfgang 269 Klassencharakter der Schule 125 Klassengröße 82, 107, 192, 445, 447, 486 Klassenlehrerprinzip 156 KMK-Experimentalprogramm 25, 305, 310, 314, 354 KMK-Liste angezeigter Schulversuche 295 KMK-Oberstufenreform 1972 166, 235, 276, 289 KMK-Schulversuchsvereinbarung 289 ff., 292, 294, 329, 411, 459, 468, 506 KMK-Vereinbarung zur gegenseitigen Anerkennung Abitur 287 ff. KMK-Vereinbarung zur gymasialen Oberstufe 288 KMK-Vereinbarung zur Sekundarstufe I 286, 314 KMK-Vereinbarungen 290, 294 f., 297 Köhne, Fritz 145
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Kollegschule 303, 337, 354 Kolping, Adolph 86 Kommission für Schulversuche in Hamburg 282 Kommunalrechtliche Öffnungsklauseln 28 Kommunistische Partei (KPD) 125 f., 192, 246 Kompetenzorientierte Kernlehrpläne 373 Konfessionsschule 32, 73, 83, 112 König Friedrich Wilhelm III. 39 Kontrollratsdirektive 1947 213 f. Kooperation Bund und Länder 219, 319, 326, 370 Kooperationsverbot Grundgesetz 331 Kooperationsvereinbarung 359, 455, 469 f., 473 Kooperative Gesamtschule 310, 312, 314, 316, 355, 415 Kraus, Josef 24 Krieck, Ernst 174 Kritik an Schulversuchen 24, 26, 78, 81, 94, 104, 109 ff., 124, 126 ff., 145, 174, 246, 330, 335, 402, 464, 483, 485, 503, 506 Kulturkampf 65 Kulturkritik 86 Kulturstaat 60 Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) 30, 259, 263, 265, 270, 277, 278 f., 284, 286, 291, 296, 305, 311, 506 Kunsterziehungsbewegung 94, 102, 184 Kursunterricht 143 Kurzlebigkeit von Versuchen 94 L Laborschule in Bielefeld 333, 337, 407, 410 f., 437, 509 Lagarde, Paul de 86 Lamszus, Wilhelm 145 Landahl, Heinrich 227 Länderübergreifende Versuchsauswertung 305, 312 f., 324, 430, 464 Ländervereinbarungen 152, 162, 164 ff., 170 f., 182, 285, 287, 468, 506 Landerziehungsheime 88, 91 f., 123, 128, 150, 157, 196, 198, 202, 241, 266, 416 f., 420, 459, 503 ff.
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Personen- und Sachregister
Landesschulbeiräte 457 Landesverfassung Hessen 237 Landesverfassung NRW 352 Ländliche Gebiete 32, 34, 44, 56, 65, 82, 83, 208 Ländliche Versuchsschulen 128, 132, 134, 196, 208 f. Landschulheim am Solling 89 Landschulheim Birklehof 89, 256, 266 Landschulheim Haubinda 89, 202 Landschulreform 133 f., 186 Langbehn, Julius 86, 94 Langeveld, Martinus 267 Latein 40, 46, 48, 69, 170, 275, 504 Lateinschule 32, 48 Lebensgemeinschaft 89 Lebensgemeinschaftsschulen 85, 128, 135, 137 ff., 140, 144, 158, 184, 190 f., 235 Lehberger, Reiner 104 Lehrbuchzwang 168 Lehrerabordnung 483, 496 Lehrerausbildung 38, 55 f., 68, 112, 182, 260, 266, 301, 318, 485 Lehrerfortbildung 301, 322, 485, 490 Lehrerkonferenz 138, 425, 456, 459 Lehrerseminare 55, 56, 58 Lehrerstellen 56, 136, 149, 192, 269, 311, 328, 359, 366, 447, 469 f., 482, 487 ff., 495 f. Lehrerversetzung 136, 193, 482 ff., 496 Lehrplan 28, 41, 45 ff., 51 ff., 58, 68, 75, 78 f., 90, 116, 132, 151, 153, 167, 171, 176 f., 182, 205, 232, 253, 345, 373, 420, 504 f. Lehrplanlosigkeit 128, 134, 505 Leipziger Lehrerverein 105, 149, 381 Leipziger Versuchsklassen 105 Leipziger Versuchsschulen 94, 146, 149 Leistungsanforderungen, Einhaltung 144 Leitentscheidungen des Parlaments 224, 345, 465, 472 Lektionsplan 47 Lernmittelfreiheit 221 Lernschule 89 Ley, Robert 205 Lichtwark, Alfred 96, 101
Lichtwarkschule Hamburg 104, 127, 158, 192, 227 Lietz, Hermann 88, 91, 157, 159, 165, 202 Litt, Theodor 26, 129 f., 147 Löffler, Eugen 123 Lövinson, Martin 67 Luther, Martin 32 M Mädchengymnasien 110 Mann, Wilhelm 194 Mannheimer Schulsystem 106, 192 Mayer, Otto 70, 116 Meumann, Ernst 102 Mindestgröße von Schulen 440, 443, 445 ff., 448, 461, 486 f. Mitfinanzierung des Bundes 320 f., 326 f. Mittelalter 31 f., 69, 175 Mittelschule 52 f., 99, 177, 179, 217 Mittlere Schulwesen 266 Mittlerer Schulabschluss 49, 166, 177, 292 Mitwirkungskompetenz des Bundes 316, 318, 320, 326, 370 Modellschulen 28, 36, 256 f., 273 f., 403 Modellversuche 24, 276, 282, 309, 331, 334, 362, 438, 469 MODUS-Schulen Bayern 392 Monitoring 226, 326 Montessori, Maria 125, 160, 195, 235 Montessori-Pädagogik 160, 195, 235, 241, 422 Montessori-Schule 160, 195, 416, 422 Müller, Helmut 267 Münchener Versuchsschulen 108 Mustergesetzentwurf 221, 271 Mut zur Lücke 256 N Nachteilsausgleich 380 Nachteilsvermeidung 380, 385, 435, 467, 498, 501, 506 f. Nationalerziehung 41 Nationalpolitische Erziehungsanstalten 205 Nationalsozialismus 29, 159 f., 174, 178 f., 184, 186, 197, 200, 206, 208 Natorp, Paul 99
Personen- und Sachregister Naturwissenschaften 49, 51, 79 Negt, Oskar 333 Neuere Sprachen 49 Neuner, Gerhard 247 f. Neuzeit 31, 35 Niedere Schulen 34, 44, 81 Nietzsche, Friedrich 86 Nipperdey, Thomas 80 Nohl, Herman 183 Normalplan 51 Normalzustand 394, 494 Nydahl, Jens 139 O Oberrealschule 49 f., 170 f. Oberschule 99, 170, 173, 176, 229, 232 Oberstufen-Kolleg in Bielefeld 333, 337, 407, 410 f., 437, 509 Odenwaldschule 89, 92, 157, 199, 265 f., 309, 420 Oelkers, Jürgen 83, 111, 155 Oestreich, Paul 26, 120, 124, 184, 228 Orientierungsstufe 270, 275 f., 284 f., 318, 356 Otto, Berthold 87, 179, 241 P Pädagogik vom Kinde aus 87, 97, 133, 141, 151, 210, 242, 245 f., 507 Pädagogische Freiheit 74, 79, 138, 157, 330, 373, 436, 471 Pädagogisches Konzept 28, 60, 84, 93, 130, 145, 150, 158, 175, 295, 390 f., 412, 418, 421, 427, 446 f., 460, 465, 476 f., 487, 494, 497, 505 Pallat, Ludwig 95 Parlamentarische Kontrolle 332, 334, 467 Parlamentsvorbehalt 222, 225, 345, 376, 389, 400, 404, 406, 465 Passow, Franz Ludwig Carl Friedrich 36 Paulsen, Friedrich 111 Paulsen, Wilhelm 135 ff. Paulskirchen-Verfassung 61, 219 Personalbogen 107 Personalvertretungen 359, 458 f., 483 Persönlichkeitsrecht der Schüler 222, 345, 378, 382, 384, 395, 399, 478, 480, 492, 498, 507 Pestalozzi, Johann Heinrich 56, 84 f.
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Peter-Petersen-Schule 159, 233, 265, 300, 422 Peters, Hans 266 Petersen, Peter 101, 158 f., 173, 183, 185 ff., 240, 242, 422 Pewesin, Wolfgang 234 Pflichtaufgabe 441 Philanthropinum Dessau 36 Picht, Georg 256, 260, 280 Pilotschulen 403 Polytechnische Oberschule (POS) 215, 250 Preußen, Land der Schulen und Kasernen 29, 67 Preußische Verfassung 57, 60 f., 116, 219 Preußisches Allgemeines Landrecht (ALR) 33, 37, 63, 75, 90, 116 Preußisches Innenministerium 39 Preußisches Kultusministerium 42 f., 46, 51, 54, 57, 62, 71, 76 f., 88, 96, 109 f., 117, 123, 136, 154, 171, 188 f. Private Ersatzschulen 157, 238 f., 349, 361, 417 ff., 420, 444, 455, 457 ff., 467, 487, 509 Private Ersatzschulen eigener Art 418 Privatschulen 90 f., 112, 119, 123, 157, 165, 176, 197, 201 ff., 221, 238, 243, 298, 349 f., 417, 455, 460 ff., 466, 500 Privatschulfreiheit 60, 63, 220, 417 f. Projektarbeit 142, 210 Protestantismus 33, 54 Provinzialkonsistorien 43, 45 Provinzialschulkollegien 43 ff., 51, 135, 143, 167 Prüfungsanforderungen 285 Prüfungsberechtigung 91, 143, 157, 165, 418 ff., 503 Q Qualitätsentwicklung 284, 359, 471 Qualitätssicherung 60, 284, 286, 324, 359 R Radbruch, Gustav 194 Rahmenplan des Deutschen Ausschusses 1959 273 f., 276 Raschert, Jürgen 314 Raumer, Karl Otto von 62
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Personen- und Sachregister
Realgymnasium 49, 50, 76 f., 163, 168, 171 f. Realitätssinn 129 Realschule 35, 48 ff., 69, 76, 172, 218, 286, 300, 405 Recht auf Bildung 222 Rechtsstaatlichkeit 222, 224, 231, 242, 347, 371, 376, 378, 382, 387, 414, 436, 466, 506 f. Reformation 31 f. Reformbedarf 425 ff., 462 ff., 508 Reformeifer 23, 111, 119 f., 312, 334, 375, 506 Reformeignung des Versuchsvorhabens 426 ff., 446, 462, 508 Reformgymnasium 140, 172 Reformpädagogik 23, 30, 85 f., 156, 174, 179, 183, 196, 245, 413, 504, 506 Reformpädagogische Bewegungen 30, 76, 84, 88, 129, 131, 149, 180, 196, 416 Reformschule 76 f., 85, 413 Regelschulangebot 441, 462, 479, 505, 508 Regelschulzeit 45 Regelungsdichte 370, 372, 376 f., 388, 504 Regionaler Konsens 441 f. Reichserziehungsministerium 178, 187, 201, 206 ff. Reichsinnenministerium 119, 122, 162, 164, 171 Reichsschulausschuss 113, 119, 122, 153, 164 Reichsschulkommission 162 ff. Reichsschulkonferenz 1920 113, 116, 119, 124, 150, 170, 486 Reichsschulkonferenzen (1882, 1892, 1901) 69, 172 Reichsschulpflichtgesetz 177, 221 Reichsverfassung 1871 64, 163 Reichwein, Adolf 209 ff. Reinhardt, Karl 77, 116 Religionsunterricht 79, 83, 112, 114, 146, 148, 188, 220, 243, 338 Retter, Hein 181 Risiken bei Schulversuchen 302, 381, 435 f., 499 f., 507, 509
Rochow, Friedrich Eberhard von 36 Rücknahme einer Versuchsgenehmigung 501 Rücksichtnahmegebot 437 ff., 441 ff., 457, 508 Rudolf-Steiner-Schule 241 Rust, Bernhard 178, 193 Rütlischule Berlin 191 f., 236 S Sammelschule 188 ff., 193 SBZ-Schulwesen 29, 214, 240 Schaffung vollendeter Tatsachen 405 Scharrelmann, Heinrich 184 Scheinversuch 431, 509 Schirach, Baldur v. 205 Schleiermacher, Friedrich 53 Schließung kirchlicher Privatschulen 203 Schließung von Versuchsschulen 159 f., 179, 185, 187, 191 ff., 195, 198, 202, 241 f. Schloss Salem 89, 92, 199 f., 266 Schmidt, Ferdinand Jakob 161 Schulaufsichtliche Begleitung 45, 90, 91, 134, 138, 141, 145, 157, 294, 356, 363, 375, 428, 458, 463, 469, 484, 490, 499, 502 Schulaufsichtliche Zuständigkeit 356, 363, 463 Schulaufsichtsgesetz 1872 (Preußen) 65, 83 Schulautonomie 373 Schulbesuch 35, 38, 57, 219 Schulbesuchsalternative 346, 378, 383, 386, 399, 435, 437, 441 f., 507 Schulbezirke 136, 147, 383, 387 Schulbücher 47, 80, 168 Schulbudget 284, 469 f. Schule als Nicht-Schule 145 Schule der Beliebigkeit 196 Schulen besonderer pädagogischer Prägung 229, 233, 235 ff., 295, 333, 403, 407, 412 ff., 475, 494 Schulentwicklungsgesetz NRW 359, 362, 470 Schulentwicklungskonferenz 471 f. Schulentwicklungsplanung 437 f., 440 ff., 447, 454 f., 496, 508
Personen- und Sachregister Schülervertretung 110, 138, 267, 425, 456 f. Schulfarm Insel Scharfenberg 23, 127, 140, 142, 193, 234, 262, 407 Schulfinanzierung 34, 38, 221, 280, 284, 359, 396, 419, 486 Schulfonds Reichsinnenministerium 122 Schulgeldfreiheit 34, 57 Schulgesetz NRW, Entstehung 360, 362, 365 Schulgliederung 37, 75, 112 Schulkonferenzbeteiligung 363, 374, 422, 425, 451, 456, 484 Schulkonsens NRW 343, 352, 363 ff., 401 f., 439, 488 Schulleitung 72, 138, 322, 354, 360, 383, 391, 433, 436, 452, 456 f., 469, 481, 484, 488 Schulmitwirkung 221, 231, 284, 354, 359, 363, 425, 456, 469 Schulmodell Tiefensee 210 Schulorganisatorische Versuche 101, 271, 273, 284, 453, 455, 467, 469, 495, 502 Schulpflicht 33, 37, 56, 60, 71, 73, 79, 80, 82, 91, 100, 112, 177, 219, 221, 225, 378, 379, 434, 475, 479 Schulpolitik 24, 26, 30, 43, 69, 94, 118, 119, 125, 174, 182, 224, 240, 246, 282, 324, 398, 425, 431, 504 f. Schulpolitische Weichenstellungen 395, 401, 404 Schulprogramm 47 Schulrecht 29, 64, 220 f., 224, 503 Schulstruktur 35, 97, 117, 119, 176, 182, 213, 217 f., 225, 240, 283, 286, 345, 371, 400 Schulträgerbeteiligung 346, 371, 394, 452, 454, 508 Schulträgerschaft 43, 118, 284, 351, 362, 395, 408, 422, 437, 450, 455 Schulverfassung 383, 395 Schulverfassungsversuche 451 ff., 467, 495, 502 Schulverhältnis 72, 395, 480 Schulversuch (Begriff) 26 ff., 37, 320, 373, 424 Schulversuch, Abitur an Gymnasien nach 12 oder 13 Jahren 342, 431, 509
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Schulversuch, Alevitischer Religionsunterricht 341 Schulversuch, Bilingualer Unterricht an Realschulen NRW 338, 385, 454 Schulversuch, Differenzierter Mittelbau 267, 269 Schulversuch, Fach Wirtschaft an Realschulen NRW 342 Schulversuch, Förderschule NRW 338 Schulversuch, Gemeinschaftsschule NRW 24, 296, 343, 363, 400 ff., 429 ff., 447, 488, 509 Schulversuch, Gesamtschule NRW 354, 357 Schulversuch, Gymnasialkurse für Mädchen 110 Schulversuch, Hauptschule NRW 352 Schulversuch, Islamkunde in deutscher Sprache 338, 385, 400, 454 Schulversuch, Kollegschule NRW 337, 356, 358, 402 Schulversuch, Kompetenzzentren für die sonderpädagogische Förderung NRW 339 Schulversuch, Leistungsbewertung ohne Ziffernzeugnisse NRW 341, 385 Schulversuch, Linkskultur 108 Schulversuch, Personalkostenpauschale 339 Schulversuch, PRIMUS, Schulversuch zum längeren gemeinsamen Lernen NRW 343, 368, 401 Schulversuch, Schülerselbstverwaltung Gnesen 110 Schulversuch, Selbstständige Schule NRW 339, 359, 362, 469 ff., 474, 489 Schulversuch, Tagesheimschule (DDR) 251 Schulversuchsantrag 167 Schulversuchserlass 1923 (Preußen) 131 Schulverwaltung 221 Schulverwaltungsgesetz NRW 348 ff., 401 Schulwahlverhalten 454 Schulwechselmöglichkeit 346, 386, 406, 434 f., 441 Schulwesen NRW 30, 337, 348
580
Personen- und Sachregister
Schulz, Heinrich 120, 153 Schulzeitverkürzung 343 Schutzpflicht 499, 507 Sekundarschule 343, 364, 366 Selbstbindung der Genehmigungs behörde 465 f. Selbstständigkeit 226, 284, 330, 372, 393, 425, 460, 490, 504 Selbsttätigkeit der Schüler 54, 83, 93, 152 f. Selbstverwaltung 136, 145, 161, 420, 468 f., 505 Sexuelle Missbrauchsfälle 92 Sickinger, Anton 106 f. Siemsen, Anna 194 Simultanschule 73, 112 Sonderbedingungen 149, 311, 328, 486 ff., 509 Sonderklassen (Mannheimer Modell) 108 Sonderopfer 379, 381, 507 Sowjetpädagogik 244 Sozialdemokratische Partei (SPD) 86, 100, 112, 127, 181, 192, 227, 272 Soziale Bewegungen 86 Sozialer Aufstieg durch Bildung 42, 76, 169, 266, 279, 505 Sozialistisches Bildungssystem 215, 240 Specht, Minna 198 Spezialermächtigung 339, 354 f., 358 f., 377, 384, 398 ff., 403, 411, 415, 438, 480 Spezialgesetzgebung 38 Spezialschulen 252 Sponsoring 490 Spranger, Eduard 183 Staatliche Schulhoheit 23, 31, 33, 36 f., 60 ff., 68, 71, 80, 90, 100, 112, 157, 179, 219 f., 478, 490, 503 f. Stadt-Land-Gefälle 83 Stadtschule 45 Stein, Erwin 239 Steiner, Rudolf 155 ff., 194, 206, 241 Stiehl, Anton Wilhelm Ferdinand 63 Stiehl’sche Regulativen 58 ff., 78 Stofffülle, Reduzierung 256 f., 265 Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrates 1970 303
Strukturversuche 299 f., 404, 406 Studienschule 275 Studt, Konrad von 77, 82, 110 Suspension 63 Süvern, Johann Wilhelm 38, 45, 53 Süvern’scher Schulgesetzentwurf 38, 45, 53 f., 97 T Tagesschule 157, 251 Teilnahmezwang 346, 378 ff., 382 f., 387, 399, 434, 437, 441, 503, 507 Tenorth, Heinz-Elmar 48, 92, 246 Tews, Johannes 74, 99 Textzeugnisse 156 Theresien-Oberschule Berlin-Weissensee 243 Thoma, Richard 117 Trial and error 436 Troeltsch, Ernst 120 Trott zu Solz, August von 111 Tübinger Resolution zu Modellschulen 1951 256 ff., 262 Tübinger Resolution zu Schulversuchen 1951 274 Tutzinger Maturitätskatalog 1960 265 U Überbildung 55, 57 Überbürdung 69 Übergang auf weiterführende Schule 300 Übergang Versuchs- auf Regelschule 271, 434 Übernahme eines genehmigten Versuchsvorhabens 472 Übertragbarkeit ins Regelsystem 277, 301 ff., 328, 355, 396, 426, 472, 485 f., 489, 490, 493 f. Uffrecht, Bernhard 199 Umfangmäßige Versuchsbegrenzung 282, 294, 355, 361, 371, 393, 398, 403, 466, 505, 509 Umlauf, Karl 101 Ungewissheit 378, 429, 435, 499, 500, 507 Universitäts-Übungsschule Jena 158, 185, 187, 195, 240, 242 Unterhalt Schulgebäude 37 Unterricht im Freien (Berliner Wald schule) 109
Personen- und Sachregister Unterrichtseinsatz im Schulversuch 481 f. Unterrichtsformen 28, 420 Unterrichtsmethoden 35, 351 Unterrichtsorganisation 79, 284, 343, 371, 391, 422, 469 ff., 480, 500 Unterrichtsversuche 299 f. Unwägbarkeiten 378 ff., 387, 499 f., 507 V Verantwortungsbewußtsein 255, 375, 436, 499, 509 Verbändebeteiligung 357, 363 Vereinfachung 176, 182, 259, 279 Vereinheitlichung 60, 68, 78 f., 117, 119, 157, 163, 168, 178, 180 ff., 216 ff., 259, 274, 279, 283, 468 Vergleichbarkeit mit Regelschulangebot 290, 406 f., 486 f. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 497 f., 501 Verlängerung eines Schulversuchs 392, 407, 411, 433, 492, 498, 507, 509 Verrechtlichung des Schulwesens 225, 372, 504 Versetzungsbestimmungen 49, 68, 156, 158, 237, 385, 453, 473 Verstaatlichung des Schulwesens 24, 31, 33 ff., 64, 80, 90, 157, 215, 504 Versuchsbeiräte 491 Versuchsdauer 27, 146, 233, 295, 361, 392, 394, 407 ff., 492, 495 ff., 507 Versuchsdesign 446 Versuchserfolg 27, 52, 485, 507 Versuchsklassen 85, 105, 134 Versuchsprogramm 305, 337, 347, 392, 393, 400 ff., 410, 433, 436, 445, 450, 457, 464 ff., 476 f., 480, 488, 490, 493, 498, 505 Versuchsressourcen 132, 139, 149, 159, 167, 191, 269, 311, 328, 343, 366, 395, 446 f., 462 ff., 470, 486 ff., 493 ff., 509 Versuchsschulbeirat 230 Versuchsschule (Begriff) 85 Versuchsschule Am Tieloh, Hamburg 145 Versuchsschule Leipzig-Connewitz 147 f.
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Versuchsschulfonds Stadt Berlin 121, 139 Versuchsschul-Richtlinien 1923 (Berlin) 136 ff., 483 Versuchsverweigerung 481 Versuchsziele 354, 361, 371, 466, 476, 480, 492 ff., 498 Vertiefung durch Schwerpunktsetzung 257, 265, 300 Vertrauensschutz 343, 366, 387, 402, 433, 435, 445, 478, 488, 495, 499 Verwaltungsakt 453, 455, 467, 480 f., 495 ff., 501, 508 Verwaltungskraft des Schulträgers 449, 463, 495 Verwaltungsvorschriften 46, 48, 73, 131, 503 Verweltlichung des Schulwesens 33, 188, 504 Vielmillionenfonds für Versuchsschulen 120, 124, 486 Volksoberschule Preetz, Schleswig-Holstein 265, 277 Volksschule 34, 52 ff., 57, 61, 67, 78, 80, 85, 97, 103, 107, 150, 175, 177, 188, 217, 255, 266 f., 349, 504 Volksschulgesetz 62 Voraussehbarkeit von Versuchsmaßnahmen 347, 378 Vorbehalt des Gesetzes 64, 71 f., 118, 222, 224 ff., 269, 345, 353, 355, 370 ff., 375, 395, 399, 401, 410 f., 466, 480, 503, 507 Vorbereitung von Versuchen 85, 134, 267, 319, 375, 436, 487, 491, 496, 503 Vorgezogenes Anmeldeverfahren zu Versuchsschulen 448 Vorläufige Lehrplan-Inkraftsetzung 153 Vorrang des Gesetzes 371, 375, 411, 424 Vorschulen 99, 113, 117, 220 Vorwegnahme Regeleinführung 399, 401, 406 W Wahlkollegien 136, 149, 190, 257 f., 284, 483 Wahlschulen 136, 147, 383 Waldorfpädagogik 155 f., 194, 207, 233
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Personen- und Sachregister
Waldorfschule 155 ff., 196 ff., 206 ff., 241 f., 265, 309, 363, 416 ff., 459, 548 f. Wehrpflicht 33 Weimarer Reichsverfassung 112 f., 115, 118, 150 f., 177, 182, 188 f., 218 f. Weimarer Republik 29 f., 164, 182 f., 218 Weimarer Schulkompromiss 112 f. Weinheimer Entschließungen 1952 258, 262 Weisungsgebundenheit der Lehrkräfte 481, 483 Weiterentwicklung 26 Weiterentwicklung des Schulwesens 28, 274, 285, 289, 328, 350, 352, 361, 371, 379, 382, 390, 425, 462, 507 Weltanschauliche Gliederung Volks schule 112, 114 Weniger, Erich 183 Werkunterricht 153 Wesentlichkeitstheorie 222, 225, 353, 376 f., 388, 398, 414 Wichern, Johann Hinrich 86 Widerruf einer Versuchsgenehmigung 494 ff., 500 f. Widerrufsvorbehalt 495 ff. Wiedervereinigung 219, 226, 286, 321, 323, 336, 422
Wirtschaftsgymnasium 263, 285 Wissenschaftliche Begleitung 25, 130, 267, 269, 282, 294, 301 ff., 308 ff., 313, 324, 327, 335, 357, 368, 371, 375, 397 f., 463, 487, 490, 505 Wochenarbeitsplan 158 Wynecken, Gustav 92, 165 Z Zedlitz-Trützschler, Robert Graf von 62 Zehetmair, Hans 328 Zeidler, Kurt 128, 145, 227 Zeitliche Versuchsbegrenzung 282, 295, 335, 361, 371, 392 f., 398, 407, 409, 466, 492, 505, 509 Zentralisierung des Bildungswesens 178 Zentrumspartei 112, 181 Zügigkeit von Schulen 353, 366, 443, 445, 447 Zulassung von Schulversuchen (KMK) 289, 290 ff., 468, 506 Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern 284, 489 f. Zuständigkeit der Länder 218 f. Zweckbestimmung Schulversuche 354, 361, 371, 390, 425 Zweckmäßigkeit 76, 503, 506 Zwischenevaluation 433, 493