Das Denken zum Tanzen bringen: Philosophie des Wandels und der Bewegung 9783495860083, 9783495484319


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Table of contents :
Inhalt
Auftakt: Wandel und Bewegung
I. Ordnungen aus Bewegung
Die Mauersegler der Descalzos
Die Stare am Himmel über Berlin
Bei den Kranichen im Linumer Bruch
Die grauen Krähen übernehmen
II. Energien und Resonanzen
Energie
Individuelle Stile der Energie
Von den Energien zur Resonanz
Energie und Ekstase
Zwischenspiel: lila
III. Zwischen
Bewegung im Zwischen
Ordnungen im Zwischen
Das Zwischen und die Fremdheit
Zwischen Himmel und Erde
Zwischenspiel: Subjektivitäten
IV. Übungen
Wege des Übens
Von der Kunst des Übens zum Üben in der Kunst
Aikido
V. Sinne
Ein Sinnenbewusstsein für unsere Zeit
Pädagogik der Sinne im Zeitalter digitaler Manipulationen
Eine Kunst der Wahrnehmung
Zwischenspiel: Celeration und Erschrecken
VI. Tanz
Philosophieren als Tanz – Nietzsche
Die Posa – Eine lebendige Mitte als bestimmendes Prinzip
Zwischenspiel: Individuelles und öffentliches Leben
VII. Gesellschaften in Bewegung
Coda: Einige Gespräche und Beobachtungen
Über »Rhythm is it« und »den Ort des Göttlichen« von Koffi Koko
Felix Ruckerts »Love-Zoo« oder wie du mir, so ich Dir
Zum weiteren Lesen
Zu den Abbildungen
Danksagungen
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Das Denken zum Tanzen bringen: Philosophie des Wandels und der Bewegung
 9783495860083, 9783495484319

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https://doi.org/10.5771/9783495860083 .

Rudolf zur Lippe Das Denken zum Tanzen bringen

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Zu diesem Buch: Wandel und Bewegung sind Grundphänomene – nicht nur des menschlichen Lebens –, doch erstaunlicherweise sind sie nur selten philosophisch eingehend erörtert worden. Rudolf zur Lippes »radikale Phänomenologie« widmet sich höchst verschiedenen Bewegungsformen: Die Beobachtungen reichen von Vogelschwärmen über Wolkenbilder bis hin zu Tanz und Kampfkunst. Nicht zuletzt anhand von Figuren aus anderen Kulturen gelingt es ihm zu zeigen, wie wir einen Wandel in unserem Sehen und Erleben in Gang setzen können. Selbst strenges Denken kann sich von den Gleisen der binären Formeln, der Identitätslogik, jenseits von Schluss und Dialektik bewegen lernen. Der Autor: Rudolf zur Lippe, Jahrgang 1937, war von 1974 bis 2002 Professor für Sozialphilosophie und Ästhetik an der Universität Oldenburg. Danach lehrte er »Philosophie der Lebensformen« an der Universität Witten/ Herdecke. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter viel beachtete Werke wie »Naturbeherrschung am Menschen«, »Am eigenen Leibe«, »Entfaltung der Sinne«, »Sinnenbewußtsein« und »Vom Leib zum Körper«. Er initiierte unter anderem die »Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit« mit Gästen aus den anderen Kontinenten, in denen er seit 1990 den Stimmen der anderen Kulturen im deutschsprachigen Raum Gehör verschafft hat. Rudolf zur Lippe lebt und arbeitet als Philosoph, Ausstellungsmacher und bildender Künstler in Hude und Berlin. Seine Projekte konzipiert er im Rahmen seiner Stiftung »Forum der Kulturen«.

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Rudolf zur Lippe

Das Denken zum Tanzen bringen Philosophie des Wandels und der Bewegung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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2., korrigierte Auflage 2011 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise Föhren Umschlagfoto: Kraniche, © Dr. Hans-Peter Schaub, Hamm Fotos im Innenteil: © Maurizio Spagliardi Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48431-9

(Print)

ISBN 978-3-495-86008-3 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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INHALT

Auftakt: Wandel und Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Ordnungen aus Bewegung . . . . . . Die Mauersegler der Descalzos . . . Die Stare am Himmel über Berlin . . Bei den Kranichen im Linumer Bruch Die grauen Krähen übernehmen . . .

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II.

Energien und Resonanzen . . . Energie . . . . . . . . . . . . Individuelle Stile der Energie . Von den Energien zur Resonanz Energie und Ekstase . . . . . .

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Zwischenspiel: lila¯ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115 117 123 132 139

Zwischenspiel: Subjektivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV.

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Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wege des Übens . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Kunst des Übens zum Üben in der Kunst Aikido¯ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Zwischen . . . . . . . . . . . . Bewegung im Zwischen . . . . . Ordnungen im Zwischen . . . . Das Zwischen und die Fremdheit Zwischen Himmel und Erde . . .

15 17 33 50 68

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153 155 169 185

5 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Inhalt

Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Sinnenbewußtsein für unsere Zeit . . . . . . . . . . . Pädagogik der Sinne im Zeitalter digitaler Manipulationen . Eine Kunst der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . .

215 217 228 238

Zwischenspiel: Celebration und Erschrecken . . . . . . . . . . .

260

VI. Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophieren als Tanz – Nietzsche . . . . . . . . . . . . Die Posa – Eine lebendige Mitte als bestimmendes Prinzip .

263 265 282

V.

Zwischenspiel: Individuelles und öffentliches Leben VII. Gesellschaften in Bewegung

. . . . . . . 288

. . . . . . . . . . . . . . . . 291

Coda: Einige Versuche im Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . Über »Rhythm is it« und »den Ort des Göttlichen« . . . . Felix Ruckerts »Love-Zoo« oder wie du mir, so ich dir . . .

317 319 324

Zum weiteren Lesen

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Zu den Abbildungen

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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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AUFTAKT WANDEL UND BEWEGUNG

Bewegung in den vielen Graden und Formen von Bewegtheit hat den Beginn meines philosophischen Denkens bestimmt, lange bevor ich mit irgendwelchen philosophischen Systemen nähere Berührung gesucht habe. Bewegung in das philosophische Denken zurückzuholen, wurde mir als offen gebliebene Aufgabe bewusst, als ich Henri Bergsons Kritik daran kennenlernte, dass der Begriff im abendländischen Denken nicht nur fehlt, sondern immer wieder mit typischen Hilfskonstruktionen systematisch umgangen worden ist. Eine Bestätigung für die Notwendigkeit eines Versuchs, Bewegung in unser reflektierendes Bewusstsein zurückzuholen, gab mir in der Philosophie, neben den allgegenwärtigen Beobachtungen des modernen Alltagslebens, das Votum von Leibniz. Zu fragen sei nicht nach den Ursachen von Bewegung in der Welt, vielmehr nach all dem, was sie be- und verhindert. Diese Rückerinnerung bekommt eine aktuelle Bedeutung dadurch, dass plötzlich eine Rede von Bewegung in den unterschiedlichsten Diskursen auftritt, deren Ansatz und Richtung eher zu einem postmodernen Pluralismus passt. Sie tritt zusammen mit Befürwortungen des Wandels auf. Dieser Begriff ist mir durch die Übungswege existenzieller Schulen, vor allem die Tradition des Za-zen aus Japan, vertraut und fordert eine Rückbesinnung auf eine Anthropologie menschlicher Bildung, wie sie Goethe und die Humboldts zum Grundsatz ihres Lebens und ihrer Ideen, wenn eben auch nicht zu einem vergleichbaren Übungsweg gemacht haben. Aktuell zielt die Propagierung von Wandel und Bewegung vor allem darauf, Subjektivität der Menschen in Flexibilitäten, ja, in Multifunktionalität zu drängen. Mit diesen Strategien hofft man, Konflikte zu umgehen, die durch die Erstarrung von Strukturen der Ökonomie, der Gesellschaftsordnungen, selbst der Geschlechterzuweisungen systematisch provoziert werden. Neoliberal werden solche Strategien eingesetzt, um noch rücksichtsloser Subjektivität verfügbar zu machen. 7 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Auftakt: Wandel und Bewegung

Wandel zu denken, provoziert zunächst eine doppelte Unmöglichkeit. Diesseits und jenseits dieser Unmöglichkeit beginnen die Überlegungen und Beobachtungen dieses Buches. Die eine Unmöglichkeit ist durch die moderne Forderung nach immer Neuem gegeben. Das Gestrige ist veraltet, also wertlos. Ideen, Produkte, Kunstwerke, Strategien des Alltags und der Industrie müssen zumindest den Anschein der Neuheit aufweisen, um Anspruch auf Geltung erheben zu können. Der Erfolg scheint also mit einem unaufhörlichen Fortschritt verbunden zu sein. Solange Denken in Begriffen des Wandels mit dieser Ideologie verwechselt werden kann, hat es keine Aussicht, verstanden und aufgenommen zu werden. Wandel bedeutet nicht, Altes gegen Neues zu vertauschen. Veränderungen werden, wenn sie manifest genug sind, auch heute noch wahrgenommen; sie können gewollt und betrieben werden. Aber sie werden festgestellt nicht, indem ein Vorgang mit vollzogen würde, sondern durch einen Vergleich von Ergebnissen, vorher und nachher. Die Bewegung des Wandels wird nicht als solche bewusst. Wie Schritte vollzogen werden, wie eine Geschichte neue Richtungen aufnimmt, alte abwandelt, erhält wenig Aufmerksamkeit. Wandel setzt immer eine Geschichte fort und um, wie unerwartet, wie spannungsreich auch immer. Fortschritt dagegen wird von einem Ziel her gedacht und bemessen. Evolution bedeutet, entstandene Strukturen auf- und einzulösen auf Wegen, die einen Horizont von Möglichkeiten haben. Die evolutionistische Ideologie des Fortschritts lässt auch ihr gegenüber keine anderen Denkbewegungen zu als die, die einfach sein Gegenteil ausmachen – Rückschritt, Kreislauftheorien der ewigen Wiederkehr und, zur Verzierung der täglichen Hetze, ein wenig Nostalgie, kaum vom Kitsch zu unterscheiden. Das ist die zweite Unmöglichkeit. Wandel wird aufgerieben zwischen Fortschritt und Rückschritt. Wandel hat mehr mit Bewegung zu tun als mit der Forderung nach Neuheit. Die abendländische Zivilisationsgeschichte hat vielleicht gerade deshalb schließlich die Ideologie des Neuen hervorgebracht, weil sie sich schon sehr früh vom Erleben und Denken in Figuren des Wandels abgewendet hat. In der Moderne ist das Neuheitsdenken dann in mehreren Richtungen ausgebrochen, die so verschiedene Begründungen haben, dass sie gar nicht einfach miteinander gleichgesetzt oder eine auf die andere zurückgeführt werden dürften. Ich will drei Linien nennen. Die eine heißt, grob gesagt, Aufklärung. Damit sind eigentlich die Selbständigkeiten von Denken und Handeln, die Befrei8 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Auftakt: Wandel und Bewegung

ung von ungewählten Autoritäten und die Prüfung von Gedanken und Strukturen durch die Reflexion gemeint. Dabei kommen neue Gedanken und Strukturen zustande, deren Sinn und Wert aber im Grunde nicht durch ihre Neuheit als solche, sondern dadurch bedingt sind, dass sie alte wegen deren Undurchschaubarkeit oder deren Machtansprüchen überwinden. Einen Grenzfall stellt eine Sprechweise dar, die plötzlich als lächerlich gilt, weil sie vielleicht wirklich umständlich und zopfig ist, aber durchaus auch, weil eine andere nun Mode wird. Agrippa d’Aubigny hebt um 1600 die neue höfische Gesellschaft des Absolutismus gegen die zurückgebliebenen Provinzler hervor, indem er deren altmodische Sprache karikiert. Eine zweite Linie wird in der Ökonomie deutlich, sicher noch vor der eigentlichen Aufklärung. Eine Wirtschaftlichkeit wird berechnet. Andere Kriterien werden beherrschend, nicht mehr die Gegenseitigkeit der alten Gemeinwesen und die Fortsetzung bewährter Techniken. An ihre Stelle treten Praktiken und Berechnungen zur Steigerung der Erträge. Das ist natürlich sehr nützlich, solange alle anderen Belange weiter berücksichtigt werden. Diese anderen Kriterien sind neue; auch sie bekommen nicht Gültigkeit, weil sie neu, sondern weil sie Vorteile versprechen gegenüber den in Frage gestellten alten. Der Erfolg des Neuen hat indessen eine Ökonomie auf den Weg gebracht, in der nach und nach die Neuheit sowohl der Produktionsmethoden wie der Produkte selber als Argument gilt, je entschiedener sich die Gesellschaft zur Wegwerfwirtschaft entwickelt. Je stärker der Tauschwert der Waren gegenüber ihrem Gebrauchswert wird, desto hemmungsloser kann für einen Artikel allein mit der Behauptung geworben werden, er sei neu. Das Alter von Gegenständen oder Praktiken kann als solches genügen, um zu behaupten, dass sie ersetzt werden müssen. Die dritte Linie ist die der Kunst. Eine lange Geschichte seit der Emanzipation der Kunst und der Künstler aus traditionellen Aufgabenzuweisungen – wie dem Ausdruck und der Verbreitung der Religion, der Ausschmückung und der Verherrlichung der Macht – zeigt, im großen Ganzen, zunehmend die Forderung, Kunstwerke hätten ihren Rang und ihre Bedeutung immer auch dadurch zu erweisen, dass sie etwas Neues zu bieten haben. Die Parallele zu den Produkten und Techniken der Ökonomie ist ebenso offensichtlich wie trügerisch. Die Forderung nach dem Neuen hat in den Künsten einen eigenen Sinn. Er hängt gerade mit den unleugbaren Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Verhältnisse zur Natur zusammen, die in 9 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Auftakt: Wandel und Bewegung

den modernen Gesellschaften ständig die Menschen unter veränderte Bedingungen stellen. Künste, die auf neue Spannungen in diesen Verhältnissen unweigerlich die alten Antworten wiederholen würden, verlören den Rang von Kunst, die gerade ein Bewusstsein für neue Spannungen leisten muss. Dies hat sie nicht nur nötig, um ihren Status als geistige Wahrnehmung von Veränderungen aufrechtzuerhalten. Vielmehr könnte sie anders, diese Forderung übergehend, gar nicht die ihr eigene Intensität sinnlicher Reflexion erreichen. Sie wird matt, gefällig, fälschlicherweise beruhigend, möglicherweise sogar affirmativ zu den falschen Verhältnissen – falsch, weil sie die entstandenen Spannungen verdecken. Diese Problematik darf nicht verwechselt werden mit der ökonomisch beherrschten, die außerdem die Künste bedroht. Auf dem Kunstmarkt gilt dasselbe Gesetz, nach dem der Tauschwert sich inzwischen eben entscheidend durch den Ausweis der Neuigkeit der Produkte bestimmt. In den Künsten gilt es also, mehr noch als überall sonst, zu unterscheiden zwischen einer wahrhaftigen Neuheit und einer modisch affektierten, die Neuheit behauptet, um als neu zu gelten – die also nicht sich aus neuen Aufgabenstellungen ergibt. Die wahrhaftige Neuheit reagiert und versucht, angemessen zu reagieren auf neue Spannungen, neue Entdeckungen. Die bloße Behauptung der Neuheit forciert beobachtete Erfolgstrends. Jene erschreckt den Bürger, indem er mit seiner Wirklichkeit konfrontiert wird. Diese verblüfft und verführt ihn, indem sie seinen Hunger nach Abwechslung zu stillen vorgibt. In der ihres Namens würdigen Kunst ereignet sich insofern ein Wandel, als sie sich zum Mitspieler in einer Geschichte der Veränderungen macht. Diese Veränderungen selber mögen durchaus willkürlich, gewaltsam und einseitig sein. Sie als genau solche dem Bewusstsein zu zeigen, ist eine Praxis des Verwandelns. Insofern holt Kunst auch forcierte Entwicklungen in Prozesse von Metamorphosen zurück: Sie fragt nämlich nach den Bedingungen einer Evolution und nach den Möglichkeiten, die diese, die Bedingungen achtend, eröffnet. Nach Wandel und Bewegung zu fragen, legt eine weitere Linie, aber eigener Art an, von der her die skizzierten drei Linien in anderem Lichte zu betrachten sind. Vor allem werden wir diese Wege ganz anders gehen müssen. Bergson hat erkannt und beklagt, dass die Philosophie – und ihr folgend das Alltagsbewusstsein – seit Zenon, dem Eleaten, »die Bewegung 10 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Auftakt: Wandel und Bewegung

in dem, was sie Bewegendes hat«, stillgestellt hat. Bewegung wird definiert als der Abstand zwischen ihrem Ausgangspunkt A und ihrem Endpunkt B, also als eine Strecke. Das ist ein eindimensionales Längenmaß, nicht ein Vorgang. So wird Bewegung zur Strecke gebracht. Aber nicht nur diese Definition geht an der Wirklichkeit von Bewegung, und zugleich von Wandel, vorbei; jede Definition wird ähnlich problematisch sein. Alle Definitionen wären Veranstaltungen, um »den Pudding an die Wand zu nageln«, wie es so treffend heißt. Auch raffiniertere Versuche, sozusagen das zu untersuchende Tier lebend zu fangen, sind sinnlos. Das Leben, einmal in Begriffe gefasst, muss mehr diesen Begriffen, mehr oder weniger treffenden, folgen als seiner eigenen Wirklichkeit. »Wer das Leben untersuchen will, muss am Leben teilnehmen«, ist die Grundeinsicht von Viktor von Weizsäcker am Beginn seines »Gestaltkreises«, aus der alle seine Methoden sich ergeben. Dazu ist mehr aufnehmendes als sortierendes Bewusstsein gefordert. Dies zu üben und umzusetzen, ist möglich nur in einer so radikalen Phänomenologie, dass nicht Begriffe aufgestellt werden wie die Fallen der Wilderer und der Expeditionen. Selbstverständlich sind Begriffe notwendig, um dem beschreibenden Umgang mit den Erscheinungen Halt zu geben im Spiel von Unterscheiden und Vergleichen. Halt geben Begriffe dann, wenn sie einen Vorgang der Begegnungen auf bestimmte Positionen und Perspektiven beziehen. Der Halt muss aber wieder verwandelt und verschoben werden können, sobald weitere Beobachtungen weitere Ansichten zugänglich gemacht haben. Begriffe dienen der Rechenschaft. Alles Lebendige ist einmalig. Es ist neu in einem existenziellen Sinne. Davon können Begriffe am wenigsten Rechenschaft geben. Hier sind die Zeugnisse des Mitlebens in die Untersuchungen hineinzuziehen und in ihnen mit einer je bestimmten Bedeutung zu verankern. Im existenziellen Sinne ist alles neu in jedem Augenblick. Keine Geste des Lebens ist je dieselbe. »Die Schöpfung ist unerschöpflich«, sagte Wolfgang Jakob. Alle Bewegungen des organisch Lebendigen ereignen so sich nur einmal. Aber auch alles erstarrt Dingliche wird uns immer nur für den Augenblick der Wahrnehmung zur Erscheinung. In typischen Bildern und Begriffen halten wir das Gemeinsame der Augenblicke fest und halten es dann für dauerhaft. In der Wirklichkeit wechseln die Kontexte auch der Dinge, ihre Wirkungen und was auf sie einwirkt. Der Bildhauer Karl Prantl weiß: »die Steine leben halt schon länger«. In dem afrikanischen Erleben der Welt als einer großen 11 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Auftakt: Wandel und Bewegung

Familie sind selbst Steine Mitspieler in den allseits verbundenen und verbindenden Situationen unserer Existenz. Und als neue werden alle Wiederholungen wieder zu Ansteckungen, Anregungen, Anstößen, zumal wenn unsere Aufmerksamkeit wieder ins Bewusstsein holt, was die Gewohnheit ins Ewiggleiche bannt, wie sie Gegenwart vernichtet und durch Wiederholung ersetzt. Das Spiel von Unterscheiden und Vergleichen, Grundfigur allen Wahrnehmens wie Begreifens, kann nach beiden Seiten aufgelöst werden. Wenn wir nur noch auf die Unterschiede Wert legen und vergessen, dass sie nur an der Möglichkeit des Vergleichens wirklich Unterschiede werden, schreiten wir von Gegenwart zu Gegenwart weiter und können uns dem Ereignis des Augenblicks hingeben. Aber es fehlt die Zäsur, wie Jeanne Hersch betont. Was ist die Zäsur, der Einschnitt, die Trennung, die erst konstituiert, was unterschieden werden kann? Die Vorstellung des Nichts nennt es Paul Valéry. Mit dem Gedanken, dass es ein Zwischen geben kann zwischen den Dingen, zwischen den Vorgängen, das einfach nur nicht das eine und nicht das andere ist. »Mit Zwischenraum, hindurchzuschaun«, hat der witzelnde Philosoph Christian Morgenstern gesagt. Erst am Hindurchschaun zeichnen sich die Gegenstände unserer Wahrnehmung als einzelne ab. Wir lösen sie aus dem Kontinuum eines Allerwelts-Gegenübers heraus, wie wir uns selbst nach der Geburt nach und nach aus der Einheit mit allem zu einem Wesen gegenüber der Welt hervorgearbeitet haben. In dieser Einheit ist immer alles neu wie im ganzen Leben, aber es gibt nichts Neues, wenn es als solches nicht auch erlebt wird. Als neu tritt es eben doch erst auf dem Hintergrund der Möglichkeit hervor, verglichen zu werden. Das Spiel darf nur nicht dann wieder nach der anderen Seite aufgelöst werden, indem alles dem Vergleich unterworfen wird, so dass das Eigene des Augenblicks, des Einzeln-gewordenen gelöscht wird durch die Bewertungen des Mehr und Weniger, des Besser und Schlechter usw. usw. Die abendländische Philosophie ist indessen, sowohl erkenntnistheoretisch wie ontologisch, auf grundlegenden Bewertungen genau dieser Art aufgebaut. Das Unveränderliche hat den höheren Rang gegenüber dem Veränderlichen bekommen. In jedem Platoschen Dialog wird das Zusammengesetzte als das Unzuverlässige herabgesetzt. Um gewisser Konstruktionen für ein Gefühl der Sicherheit willen haben die Begriffe Vorrang vor dem je Augenblicklichen. Interessanterweise ist aber damit gerade auch Ewigkeit entschwunden, weil sie nur in den 12 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Auftakt: Wandel und Bewegung

Tropfen der Augenblicke ihrer Erneuerung aufleuchtet. Nur in der Gegenwart, der wir uns anvertrauen, kann eine Ahnung von Ewigkeit vorscheinen. Wo Gegenwart den Normen des Bekannten unterworfen wird, wird ihre Nabelschnur, die sie mit dem Ewigen verbindet, abgeschnitten. Die somit verlorene Berührung mit Ewigkeit löst Existenzangst aus in der Isoliertheit des schneidig mit seinen Definitionen die Welt zerteilenden und beherrschenden Bewusstseins. Es ist das »unglückliche Bewusstsein« der Hegelschen Kritik an solch einseitiger »Phänomenologie des Geistes«. Statt der augenblickshaften Begegnung mit Ewigkeit ist es nun in die »schlechte Unendlichkeit« seiner trotzigen Ansprüche auf Dauer, Kontinuität und Verlässlichkeit gebannt. Die pathologische Forderung nach garantierter Dauer resultiert, als Kehrseite, aus der wütenden Forderung nach der absoluten Neuheit. Für Wandel und Bewegung können, ja müssen wir begriffliche Annäherungen immer wieder suchen. Ihrer gewiss werden wir nicht durch Begriffe werden, sondern eben nur in dem Wechselspiel von Wahrnehmung, Erfahrung und Denkfiguren, die die Denkenden zugleich als Zeugen der Ereignisse fordern. Dies bedeutet eher die Gegenbewegung zur spekulativ-transzendentalen Philosophie als ihre Fortsetzung. Auch hier ist vor einer Verwechslung zu warnen. Durchaus bilden deren Themen die Fragen weiteren Philosophierens. Nur nicht deren Methoden und Vorannahmen. Nietzsche wurde als Nihilist diffamiert und abgetan, weil er die erstarrten Strukturen von Moral und Denkmodellen verwarf – nämlich als inhaltslos und lebensfeindlich, eben nihilistisch. Er warb nicht für Ergebnisse, sondern forderte zu einer Suche auf, für die er entscheidende Hindernisse aus dem Weg geräumt hat. Wie Tanzbewegungen soll das Denken uns erfassen und zwischen Schwere und Sprung sich vollziehen als Augenblick unserer Lebensgeschichten. Darin gilt es sich zu üben. Philosophieren und die Bewegungen des übrigen Lebens gehören nicht in ein Nacheinander oder ein Nebeneinander. Sie gelingen uns allenfalls, indem wir uns bemühen, sie einander durchdringen zu lassen – Übungen auf der Suche nach einem richtigeren Leben.

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I. ORDNUNGEN AUS BEWEGUNG

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DIE MAUERSEGLER DER DESCALZOS

Die große Entdeckung dieser zehn Tage ereignet sich zu den Morgenund Abendstunden vieler, nicht aller Tage auf der Dachterrasse, nicht weit von der Porta del Sol und dem Teatro Real, auf der anderen Seite. Ich trat beim ersten Aufwachen hinaus und fand meinen Arbeitsplatz zum Schreiben am Boden des schmalen Gevierts, an eine der Seitenwände gelehnt. Sie sind höher als eine gewöhnliche Brüstung; im Blick nach oben zeigen sie einen Ausschnitt des tiefblauen Himmels, wie eine Bühne von unendlicher Tiefe über mir. Ich war erst gegen acht im Freien, und so hatten die Vögel längst von den Lüften Besitz ergriffen. Ein auch nach Tagen aufmerksamster Beobachtung unbeschreibliches Schauspiel. Eben noch deutlich erkennbar zogen Vögel ihre Bahnen in den Himmel, irgendwie individuell und auch in ihrer Gemeinschaft zugleich. Miteinander, umeinander, gegen einander. Aber dies Mit und Um und Gegen selber lässt sich so wenig schildern, wie es eben nicht aus Intentionen entsteht und nicht von Zielen her zu erfassen ist. Eine Vorstellung bleibt ganz allgemein. Gewöhnlich fällt den Leuten der modernen Gesellschaften nur das Durcheinander ein, das, gemessen am allgegenwärtigen Modell des Mechanismus, als ein heilloses erscheinen muss. Neuerdings wird das Wort kreativ gelegentlich für Vergleichbares verwendet. Aber das besagt nur etwas darüber, wie vollständig vage die Vorstellungen vom Kreativen sind. Der Begriff Chaos taucht auf. Aber er ist genauso mit Vorurteilen beladen, negativen wie auch einmal dem positiven, dass Chaos die einzige Unordnung sei, aus der eine neue Ordnung, wie Novalis es sah, ein Stern geboren werden kann, für Nietzsche. Solche Erklärungen drängen sich erst im späteren Nachdenken auf. Der Versuch, all diesen Vögeln auf ihren Bahnen in solch unfasslicher Gleichzeitigkeit zu folgen, nimmt im Augenblick alle Einbildungskraft gefangen. Denn viele sind sie und die schnellsten, in aller Ruhe wendigsten – 17 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Ordnungen aus Bewegung

Mauersegler zu Dutzenden. Ich bemühe mich, wenigstens mehreren im gleichen Augenblick zu folgen. Dem kommt entgegen, dass immer einige einander zu begleiten scheinen, andere ihnen entgegenkommen. Richtungen fangen an, sich in dem Bewegungsbild zu zeigen. Das könnte eine Ordnung verraten, wenn auch eine um so viele weitere Bahnen und deren so fragliche Richtungen komplexere, als ich meine, denken zu können. Und da bin ich auch schon in der ersten Falle, zu glauben, wirkliche Komplexität ließe so sich denken; das heißt, indem ich Richtungen und Intentionen und damit Ziele in sie hineinprojiziere und damit zum Mechanismus zurückkehre in der Einbildung, ihn verstecken zu können in der Vielzahl der längst wieder als einzelne gefassten Bewegungen. Die Bewegungen sind, als solches Geschehen in eben diesem Augenblick, zur Strecke gebracht, auf die von mir gedachte Strecke abgebildet von hier nach dort. Noch Sheldrakes Idee von einem morphogenetischen Feld ist solch ein Gedanke. Ein Vogel, ein Fisch im Schwarm wird zum Ausgangsimpuls, den alle anderen aufnehmen. Also eine Ursache, an einem Punkt, und eine Wirkung, in vielen aufeinander zu beziehenden Varianten. Anders als in einem Gravitationsfeld nach den Regeln von Newton ist daran letztlich doch nur, dass die Übertragung in einer Stofflichkeit sich vollzieht, die sich unseren avanciertesten Feststellungsmethoden entzieht. Nein, auch das nicht mehr. Seit die Millionstelsekundenaufnahmen die Abfolge fotografisch erfassen, ist der erste Schritt zur klassischen Erklärung gemacht: Messungen auf Zeitleisten sind möglich geworden. Die Jagdsaison auf Transmitter ist eröffnet. Während ich noch über das Denken grübele, das da versagt, aber desto frohgemuter zuschlägt, sagt Adrienne, vielleicht folgen die Spiralen den thermischen Wirbeln der Luft. Ja, ich habe an dem Phänomen, das mich ganz in seinen Bann zieht, meinen eigenen Naturgesetzessatz vergessen: In der Natur gibt es keine Aktionen, nur Reaktionen. Immer ist schon eine Situation von mannigfaltigen Seiten her bestimmt, so dass alles Verhalten, aus Absichten, aus Wünschen oder gänzlich hingegeben, eben auch antwortet auf alles schon Wahrzunehmende. Die einen auf dies, die anderen auf anderes. Nicht, was wollen die Vögel, ist die Frage; das ärgerlich erbarmungslose Wozu der Verhaltensforscher. Schnappen sich so leichter die Insekten? Aufregende Parallelen zwischen dem Jagdverhalten von Vögeln und von Bison jagenden Indianerstämmen werden entdeckt. Nicht welche Wünsche wir ihnen unterstellen dürfen, die eigentlich Übertragungen der un18 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Die Mauersegler der Descalzos

seren wären, steht zu ergründen – »wenn ich ein Vöglein wär, ich flög zu dir …«. Worauf antworten alle diese Mauersegler immer neu, jeder Vogel für sich, jeder Schwarm gemeinsam, indem sie vielleicht Flugübungen machen, vielleicht nach etwas schnappen und vielleicht einfach fliegen, wie es den uns unerreichbaren Vermögen ihrer Organe und ihrer Wendigkeit entspricht? Wo tragen die Lüfte, wie notwendig und erklärbar ist die Vielzahl, wie und wohin? Um wirklich nur eine Seite zu benennen. Morphogenetisch zu fragen, hieße ohnehin, den einen Ersten nicht als Ursache zu identifizieren. Welchem Feld von Energien gibt da plötzlich ein Erster Ausdruck? Über der Aufmerksamkeit auf die Bewegungen dieses Schwarmes über mir ist mein Auge geübter geworden. Tief in der Höhe des Himmels sehe ich jetzt weitere Schwärme. Benachbarte Milchstraßen im gelassenen Wirbel. Ganz kleine dunkle Punkte ziehen da umeinander, so fern, dass sie langsam wirken auf mich hier unten zwischen meinen weißen Wänden und im Blick zu ihnen, aufgeregt und ruhend. Diese Stille dort oben in den Tiefen beginnt zu reden durch die intensiv mich bewegenden Bahnen des Schwarmes über mir hindurch. Von Zeit zu Zeit durchqueren ihn einzelne Vögel noch näher, noch unter ihm manchmal, mit ihren großen Silhouetten ihn blitzschnell überblendend, um bei der nächsten Wendung zurück durch mein Mittelfeld oder seitwärts wieder zu verschwinden.

§ Seit langem beschäftigen mich auffliegende Vogelschwärme. Ich bestaune weniger das Rätsel, wie so viele so rasche Koordinationen vollzogen werden können. Ich zerbreche mir nicht den Kopf der Stare, der so viel kleiner ist als meiner und so viel größer. Eine sozusagen unendlich in sich gegliederte Bewegung geht durch meinen Atem, meinen Puls. Die unzählbaren Resonanzen der individuellen Glieder dieses großen Schwunges zu einander sind mir für sich unmöglich wahrzunehmen; sie strömen zusammen in eine große Empfindung, mit ihnen bewegt zu sein. Sie bildet sich in meinem Inneren und strahlt in meinem Leib aus, bis vielleicht die Arme sich ausbreiten oder sich emporheben oder nur der Kopf oder die Augen. Und da sind immer diese Fragen nach der Zeit. Wann steigt der Schwarm in mir auf? Vollzieht sich dieses Sich-Heben und Schwenken 19 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Ordnungen aus Bewegung

und Niedergehen und neue Schwenken in mir nach und nach oder in einem sich schwingend dehnenden Augenblick? Es ist eine innere Geste, die alle meine Empfindungen ergreift. In der Einheit von Gleichzeitigkeit und Nacheinander. Dass dies zum unzulässigen Paradox erklärt wird, hat schon Goethe geärgert und verspottet. Da ist kein Kreuzworträtsel zu lösen und kein Geheimnis aufzudecken. Wie in allem Ereignen ereignet sich, dass die zerlegte Zeit der messbaren Einheiten und ihr Aufgehoben-Sein in einer ewigen Geschichte des Werdens zusammenfallen. Der Flug der Vögel und mein Puls vergessen für einen Augenblick, dass unsere Existenzen getrennt sind. Allerdings, diese nur zu flüchtige Vergesslichkeit lässt uns in einem glücklichen Augenblick entdecken, was die einen einen Nachgeschmack und die anderen einen Vorschein des Paradieses nennen. Das Eins-Sein im Vielen. Für die Erfahrung der Flugübungen über mir ist die Aufgabe noch einmal um Grade komplexer. Schon weiter und weiter hinzuschauen auf das Durcheinander all der einander widersprechenden Bahnen und Gesten der Flüge, ist mehr, als die Nerven vertragen. Hofmannsthal beschimpft entsprechend die Menschenmenge, die »hin- und herrennt, sinnlos wie die Ameisen«. Ich habe mich immer gefragt, was Menschen geschehen sein muss, dass sie fähig werden zu solcher Sinnlosigkeit, die den Ameisen offensichtlich ebenso fremd ist wie unpraktisch.

§ Eine Erfahrung taucht wieder auf aus Varanasi, die weiterzuhelfen verspricht. Ich saß am frühen Abend auf dem Dach des alten Hauses am Assi Ghat, in dem ich manchmal zu Gast war. Ich saß am Boden für meine stille Übung. Aufrecht und die Ruhe des tiefen Atems erwartend. Unter dem Ghat fließt die Ganga. Sie ist nicht nur der gewaltige Strom, dessen stille Bewegung und tragende Strahlkraft die Inder als große Mutter verehren. Von ihren Ufern steigen auch die kleinen Wolken von Mücken auf, die sich in den Häusern und Gassen einstellen. Vor meinem Gesicht sammelt sich ein Haufen von ihnen. Man sagt so schön, sie tanzen in der Luft. Meint man wirklich Tanz? Ein unerträgliches Gewimmel wäre ein viel besseres Wort. Allein die Geschwindigkeit so vieler irgendwie durcheinander kreisender Bewegungen muss jede Aufmerksamkeit zur Verzweiflung bringen. Schlimmer aber noch ist, dass keine von ihnen irgend einen denkbaren Sinn hat, weil keiner20 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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lei Richtungen zu erkennen sind. Das Ende jeder Möglichkeit einer Meditation, dachte ich, bis mir bewusst wurde, dass die Abwesenheit von Richtungen auch die Abwesenheit von Absichten bedeutete. Das mag der rationelle Mensch äußerst irritierend finden. Immerhin bedeutet dies auch, dass die Mücken es nicht darauf anlegen, mich zu stechen. Befremdlich, aber angenehm. Auf diese Weise darüber beruhigt, dass die Unruhe dieses unaufhörlichen Wimmels wohl irritierend, aber nicht leiblich gefährlich war, wurde langsam das Vorstellungsvermögen auch von anderen Erwartungen freier. Als eigentlich zu kühne, als unzumutbare Frage tauchte plötzlich, schüchtern die Bereitschaft auf, zu prüfen, ob die Kraft der meditativen Energien vielleicht durch das empörende Gewimmel hindurchgehen könne, um es hinter sich zu lassen. Genauer müsste man wohl sagen, um in aller Ruhe hindurchzublicken, ohne sich ablenken zu lassen. Ruhe bewahren im Angesicht zudringlichster Wirrnis; denn tatsächlich, die Mücken tanzten weiter genau vor meinem Gesicht. Erinnerungen wurden wach an gehörte und erlebte Geschichten von den Heimsuchungen derer, die sich in der stillen Übung zu bewähren suchen. Einmal hatte eine Fliege das Gleichmaß des Rhythmus von Ausatmen und Einatmen durch Attacken auf Nase und Gemüt in Gefahr gebracht. Ein andermal war jemand in die unmäßige Aufgabe geraten, es geschehen zu lassen, dass eine Spinne sich unaufhaltsam vor seinen Augen, am Mund vorbei auf seine langsam sich ein wenig hebende und senkende Brust niederließ. Schwer zu vermeiden, dass man sich wie in die Versuchungen des Antonius versetzt fühlt. Allerdings, der moralische Drang dürfte viel bescheidener und die Banalität der Anlässe viel unwürdiger sein als bei dem Heiligen. Wenn man die Gelassenheit eine Weile durchzuhalten versucht, verwandelt sich vielleicht die eigene Gestimmtheit so, dass sie die Situation umkippen lässt. Meine Aufmerksamkeit konnte sich plötzlich vom Störenden befreien und in die eigene Mitte zurückkehren, diese stärken und jenes in einen wohltuenden Abstand rücken. Damit erhielt das Gewimmel Gelegenheit, ein eigenartiges Geschehen mir gegenüber zu werden. Nicht länger auf mich bezogen, ging es auch nicht mehr um eine Rationalität nach meinem Konzept. Das Erlebnis eines fremden Musters in Bewegung betrat mein Bewusstsein. Diese Muster ein Kreisen zu nennen, wäre noch viel zu nahe an klar überschaubaren Schablonen. Ich erlebte zum ersten Mal etwas, das in einer Antwort meines Lehrers Dürckheim vorgekommen ist. 21 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Er hat uns immer aufgefordert, in die Stille eines Waldes zu horchen, bis sich uns auch »die Stille hinter der Stille« öffnen könne. Als ich einmal fragte, was denn die Menschen tun können, die allermeist im Lärm leben müssen, antwortete er: Es gibt auch einen Lärm hinter dem Lärm. Dieses Wort ist nicht leicht von Missverständnissen zu trennen. Für meine Sitzübung auf dem Dach über der Ganga ließ es gut sich abwandeln. Aus dem Gewimmel, in seiner unendlich in sich differenzierten Bewegtheit, spürte ich mich eine Stille anderer Art anmuten. Ob Gewimmel war oder Stille, war zu Fragen anderer Art geworden. Je weiter ich innerlich abrückte von den unendlich vielen, unsäglich schnellen und in undenkbar viele Richtungen sich wendenden Bahnen, desto mehr konnte sich deren Gemeinsames, das aus den vielen sich bildete und auch jedem Einzelnen etwas mitteilte, in sich erfüllen. In meiner Vorstellung wurde der Mückenschwarm immer kleiner, nein, er rückte einfach immer ferner, so fern, dass es die Atome in einem Klumpen Metall hätten sein können. Das Sitzen wurde gut. Die Übung ist immer noch schwer und manchmal unmöglich. Um uns Menschen solchem Geschehen im Gegenüber zu öffnen, müssen wir durch eine Brechung gehen. Sie bestimmt dadurch alle menschlichen Vollzüge, dass wir zur Absicht befähigt und verurteilt sind. Am anderen Gegenüber können für Augenblicke die Absichten zurücktreten, vielleicht sogar die Gedanken soweit zurückgelassen werden, dass ein freieres Denken bei dem Gegenüber verweilen kann, ohne uns sofort wieder in die ballistischen Bahnen unseres kognitiven Bewusstseins zu projizieren. Das ist eine lohnende Übung, auch wenn kaum je genug daran wird geübt werden können.

§ In Berlin zurück, sehe ich einen Versuch von Tänzerinnen und Tänzern, ohne eine Choreographie miteinander sich in einem Raum und für eine Zeit zu einem vielseitigen Bewegungsgeschehen zusammenzufinden. Mit allen Stilen, von Ballett über Modern Dance bis zu neuen Schulen, soll offenbar auch vermieden werden, dass Absichten den Geschehenslauf aufhalten oder ablenken. Sie wollen ihre Bewegungen von Vorurteilen befreien. Das Stichwort, so höre ich, ist wohl, Bedeutungen zu vermeiden. Ich verstehe das so, dass keine Inhalte zitiert werden sollen, damit nichts Wiederzuerkennendes das je auftauchende Ereignis verstellt. Ein sehr mutiger Versuch, der mich umso mehr an22 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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geht, als ich darin die Frage erkenne, ob denn Tanz sich dem annähern kann, was Bateson den »Tanz der Kormorane« nennt und was mich angesichts der Mauersegler über dem Kloster der Descalzos bewegt. Im anschließenden Gespräch wurde die wichtigste Frage dazu ausgelöst durch eine Beobachtung, die sich mir aufgedrängt hatte. Die Frauen und Männer fielen zwischen Partien individueller, aber immer wieder einander berührender, aufhaltender, anstoßender Läufe und Gesten ins Private zurück. Was ich als privat empfand und bezeichne, kam offenbar aus dem Bemühen zustande, entstehende Formen sich nicht verselbständigen zu lassen. Die üblicherweise vorgegebenen Stile zu vermeiden, war die grundlegende Aufgabe. An die Stelle solcher Prägungen sind einige Improvisationsregeln getreten. Nun sollten aber auch neu sich ergebende Ansätze zu Formen wieder fallengelassen werden, bevor sie etwas Beherrschendes bekommen. Freilich sind wir alle, auch bei solcher Aufführung, von lebensgeschichtlichen Impulsen und Neigungen soweit bestimmt, dass in der spontanen Situation die dem individuellen Leib einbeschriebenen Gesten sich wiederholen, in denen auf vielfach verschränkte Weisen etwas von alten Absichten fortgesetzt wird. Je weniger bewusst, desto prägender ihrerseits. Von solchen alteingesessenen Absichten wie von neuen der Gestaltung sich zu befreien, würde, so lautet nun das Stichwort unserer Antworten, eigene Übungen sehr eingehender Art erfordern. Während wir verschiedene Übungswege aus ostasiatischen Traditionen dazu in der Vorstellung prüfen, wird mir deren Gemeinsames klar. Das Weglassen muss aufgehoben sein in der Erfahrung eines Dritten. Dieses Dritte könnte von China her chi, von Japan her ki genannt werden. Alles durchziehende Energien, die in den individuellen Vorgängen und Wesen auf je besondere Weise wirken, aber doch niemandem gehören und so immer ein Verbindendes bleiben. Sinnvoll wäre das nur, wo solche Begriffe auf eine gewisse praktische Vertrautheit treffen. Umso wichtiger ist ein Bewusstsein für ein Drittes. Diesem zugehören zu können wird wieder möglich, wenn wir die einzelnen Absichten und Zwecke hinter uns lassen, die uns besetzen. Ich nenne dieses Dritte in anderen Zusammenhängen unser Getragensein. Dialektisch begrifflich wäre ihm wohl am ehesten beizukommen, wenn man von Walter Benjamins und Adornos Vorstellung von Konstellationen ausgeht, und zwar, wo diese als ein Geschehen – etwa im »Zusammenschießen« des Augenblicks – auch eine gewissermaßen zeitliche Dimension haben. Besser wäre darum sicher, wieder von Wir23 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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kungsgeschichten und dem zu sprechen, worin deren Herkünfte und Schritte noch einmal gemeinsam aufgehoben sein könnten. Jeanne Hersch würde wohl nicht zögern, einfach von Begegnungen mit dem Sein zu sprechen, eben dem Sein, das in uns wie in allem Anderen anwesend ist, aber so, dass es selber jeder Erfassung sich entzieht. Die Formen, die wir finden, verfehlen es ebenso wie jede Formlosigkeit erst recht. Aber sie können die Nachbarschaft zu spüren geben, die selbst nicht ausgedrückt werden kann, jedoch in unserem Zeugnis von ihrer Anwesenheit aufscheint.

§ Wieder tauchen Mauersegler über mir auf, im Himmel von Sylt. Nein, über der Nordseeinsel sind es eben Möwen, und dazu nur wenige. Aber diese Aufmerksamkeit ist erneut geweckt. Auch sie kreisen, um einander, durch einander. Doch viel langsamer, und jeder Vogel spannt viel breiter die Schwingen aus. Doch es ist wiederum ein Karussell, dessen Tänzer jedoch jeder eine eigene Bahn wählen. In aller Ruhe hier und so gleitend, dass meine Erwartungen es fast vorwegnehmen können. Und genau dieser Eindruck täuscht. Die Langsamkeit hat mich verführt, doch wieder das Ganze der Bewegungen aus der Fortschreibung einzelner Bahnen, denen ich hier gut folgen könnte, voraussagen zu wollen. Gerade diesen Fehler machen die Verhaltensforscher, indem sie durch schier unendlich viele Aufnahmen pro Sekunde die Zeit, so denken sie, anhalten, bis sie, tatsächlich, den einen Fisch ausgemacht haben, mit dem der Schwarm beginnt, seine Richtung zu ändern. Optisch lässt der eine sich isolieren. Dass er der erste in einer bald von allen verfolgten Richtung ist, besagt, glauben sie, dass er die Ursache für die anderen ist. Falsch. Ihn zu isolieren, ist falsch. Er ist nur Symptom, erster Ausdruck eines Geschehens zwischen den vielen. Wieder hat Gregory Bateson das zutreffende Bild. Wenn nach und nach das Wasser im geheizten Topf sich erhitzt, wird es irgendwo eine erste Luftblase geben, die aufsteigt, und dann viele. Sie alle folgen der Wirkung, die von der Erhitzung ausgelöst wird. Eine morphogenetische Wirkungsgeschichte. Wirkungsgeschichte. Der Begriff stammt von Gadamer und weist darauf hin, dass in Wirklichkeit jede Erscheinung sich ergibt, indem verschiedene Geschichten sich ineinander schieben. Was geschieht, lässt sich nie mehr säuberlich zurückberechnen auf die Momente, die dazu beigetragen haben, dass es und dass es so geschieht. Wo das erste 24 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Luftbläschen im kochenden Wasser aufsteigen wird, lässt sich im voraus nicht bestimmen. Erst aus seiner Beobachtung können wir auf einen Unterschied zurückschließen, an dem die Bewegung ausgelöst wurde.

§ An die Mauersegler denke ich das nächste Mal, da ich im Konzert sitze. Ligetis »San Francisco Polyphony«. Mit hundert Stimmen des Orchesters ist plötzlich die Geste wieder da, die den Himmel erfüllte von meinem Balkon bis in die Tiefen des Blaus, wo es blass wird unter der Sonne des späten Morgens. In diesem Stück, im Hineinlauschen in dieses Stück ist mir alles gegenwärtig, was Christian und ich unserer musik-ästhetischen Kladde anvertrauen. Neue Musik. Keine Entwicklung mehr, kein Kontrast mehr um des Kontrastes willen. Auftauchende Klänge, zu einander gesetzt. Eigentlich kein Nacheinander mehr, sondern eine Abfolge in der unmöglichen Gleichzeitigkeit. Ohne Zweifel, Musik ist menschliche Gestalt, und diese muss der ablaufenden Zeit anvertraut werden. Aber sie weigert sich, die Fiktion zu bestätigen, nach der das Erklingen gerade jetzt und zuvor und später die Zeitleiste verherrlichen sollte. Die Klänge leisten solcher Klassifikation Widerstand. Wir können das, freilich menschlich deutend, setzend, Entfaltung nennen – statt Entwicklung. Das Nacheinander geht auf das Konto unserer Trennung von Wahrnehmung und Erinnerung und des Kommenden, dessen wir gewärtig sind, ohne es erwarten zu können. Einfach die Spannungen zwischen dem Gehörten und dem Erklingenden. Im Hineinlauschen entfällt die Bewertung, mit der das nun Kommende am schon Gekommenen gemessen wird. Jedenfalls fordert, was ich höre, mich auf, solche Bewertungen zu vergessen. Und das gelingt. Was in den Geigen und dort herüber von den Celli erklingt, führt mich so in eine Spannung, wie sie diese Orchestrierung zu derjenigen bildet, die ihr nun mit den Bläsern entgegengesetzt wird. Zusammenklang des jetzt laut Werdenden mit dem Nachklingenden und dem Vorgeahnten, wohltuend in die Zeit gelegt hier und dann und dann – dergestalt ein zeitlos Ganzes unserer Zeitlichkeit anvertrauend im Vertrauen darauf, dass wir nicht auseinanderdividieren, was die Vögel über unseren Köpfen vollziehen im Widerspiel mit denen der fernsten Himmelstiefen.

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Zwei Monate später bebt zu Zeiten die Luft über der Mitte von Berlin in den wehenden Bändern schwirrender Starenvölker. Sie ziehen sich fast zu grauen Wolken zusammen, über dem Dom oder den Kränen bei der Charité. Dann dehnen sie sich in schwingende Schleifen durch die ganze Weite des Blicks. Immer verdichtet sich das Miteinander der unzählbaren Bewegungen, hier und wieder da. Das Band wird breit und wieder dünn zwischen den Dehnungen und Verdichtungen. In der Spannung zwischen denen vor ihnen und hinter ihnen werden die Schwingungen nach oben und zur Erde zusammengehalten. Das Band ahmt so den Horizont nach, vor dem es sich uns nahe ausspannt und hinzieht. Es verbreitert sich, ohne dass merklich der große Schwung ins Stocken geriete, und die Vögel, die eben hier umeinander drängten, schließen sich wieder den Vorausfliegenden an, ohne dass die Beschleunigung mehr wäre als eine Drehung im Walzer. Dann wieder verzögert sich der große Zug über den Stadthimmel hinweg in den Schwingungen zu seinen Seiten. Hier einen Besuch des Platzes neben der Alten Wache andeutend mit seinen jungen Bäumen. Da sieht es wieder aus, als wollten die Vögel sich niederlassen auf den Dächern der Oranienstraße. Die Bewegung fängt aber sich ganz rasch auf und geht in diesem Schwung hinauf und in die Ferne. Und immer scheren einige Vögel aus zu einer kleinen heiteren Luftnummer, die nun doch nichts mehr mit der großen Bewegung zu tun hat, als ihr gerade einmal ein wenig zu widersprechen. Ja, ich weiß, das alles wird als Übungsflug für die Winterwanderung in den Süden verbucht. Zugvögel eben. Und geschieht dies hier darum weniger jetzt? Im Leben ereignet sich Gegenwart als Entfaltung, sehr ungleich gelingend und verhindert, aber doch nicht als »Um-Zu« wie in den Spatzenhirnen der Behaviouristen. Ganz diese Gegenwart auszuloten mit ihren Gefahren und Reizen, das ist die Übung. Als Übung leitet es über in weitere Gegenwarten und wird sie der Geschichte vergangener Gegenwarten verbinden im Fortwirken des Geübten. Mehr brauchte von Kunst nicht gesagt werden zu können. Adorno hat das ausgesprochen. In den Werken sei Trost nicht durch das, was sie zu sagen haben, sondern darin, dass sie den Widrigkeiten des falschen Lebens abgerungen werden konnten. So auch die Mauersegler. Der Zug der Vögel hält sich freilich nicht bei Bewertungen in widrig und angenehm auf. Im Fluge antworten sie, allein, zu einigen, in Schwärmen und Völkern. Bald Lied, bald großes Orchester.

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Venedig. Warum ist diese Stadt, die immer wieder die Menschen in die geheimnisvollsten und die banalsten Verwirrungen nimmt, so besonders? Besonders im Grunde auf die gleiche Weise an ganz ungleichen Plätzen? Man könnte zunächst sagen, diese Plätze sind nur auf verschiedene, vielleicht sogar sehr verschiedene Weisen, aber doch aus den gleichen Elementen gebaut. Eine Weite und kleine Campi, enge Durchlässe und breitere Gassen, Brücken, Geländer, Wasser, Kirchen, Häuserfassaden, all die Fensterformen, Dachterrassen und Palastfronten. Doch wie immer sie zusammenkommen, mit vielen Ornamenten wie Brunnen, Toren, Statuen und Reliefs, Bänken, Bäumen und Vordächern, jedes Mal ist eine Situation entstanden. Ein Ort in den Beziehungen seiner Elemente. Beziehungen, die ihre Geschichten und Geschichte überhaupt gegenwärtig machen. Ich meine nicht Architekturgeschichte und Stadtanlage; schon eher die Anekdoten von Jahrhunderten ihrer Bewohner. Eigentlich ist es eine Gestimmtheit, in der der Ort je eins ist mit Zeit; einfach, wie Gewordensein ein Jetzt trägt, vielleicht mit der Frage nach einem Wohin. Wahrscheinlich wird sie meistens aufgesogen von einer unterschwelligen Aufmerksamkeit auf das Gewordensein. Das ist abendländische Theatralik. Inszenierung jedoch nicht auf Effekte hin. Nur Konzentration von Aufmerksamkeit, ohne dass wir es bemerken, wie wir in einer Situation ankommen. Die vollkommene Gewissheit des Jetzt fließt zusammen mit der Ungewissheit des Dann, die darin leicht wird und auch etwas Vollkommenes annimmt. Der Westen hat seine eigenen Wege, das Bewusstsein ins Dies, Hier, Jetzt zu führen. Ja, da wird geführt mit den Wirkungen einer Inszenierung. Der Osten lässt eben uns auftauchen aus den Bestimmungen, die Ort und Zeit trennen, die Hier und Da in Räume verteilen, die Vorher und Nachher reflektieren. Auftauchen heißt, eben nicht dieses alles zu einander bringen zu wollen, zu können oder zu müssen. Sein ereignet sich je neu in diesen Augenblicken hier wie dort. Aber abendländisch zeigen wir auf das Sein: die Menschen anderer Kulturen gehören ihm an, von fernher, aber innig, unaufdringlich und dankbar.

§ Dies zu erleben geschieht auf den Gängen durch diese Stadt und im Verweilen an Brücken und Plätzen. In einem großen Augenblick zu27 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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sammengezogen ist es zu erleben durch die beiden großen Schauspieler im Theater von Nadj. Jean Babilé und Yoshi Oida. Wenn sie, die alten Männer, einander gegenüberstehen in ihren schwarzen Röcken und mit den langen Stangen, die sie, zueinander gekehrt, an beiden Händen vor sich halten: auf wie weltenweit unterschiedene Weise! Babilé drückt größte Beherrschung aus, noch Beherrschung seines Beherrschens der eigenen Bewegungen und der Umstände. Er ist eins, in seinen besten Momenten, mit seinem Beherrschen und dessen Wirkungen. Oida ist Organ eines Wirkens, das niemandem gehört und auf nichts zeigt. Wir sehen den Japaner, von hinten, und Babilé, von ihm im meisten verdeckt. Die ausgestreckten Arme und Hände, mit denen sie jeder den langen Stock zwischen sich halten. Und wir sehen von diesen schwarz gekleideten Gestalten eigentlich nur, wie sie stehen und halten. Babilé denkt ganz an seinen Stock; in der rechten Hand und in der linken Hand. Das dünne, starre Holz, zwischen den Händen und über beide nach den Seiten hinausstehend. Es bewegt sich fast nicht sichtbar. Vielleicht ein unmerkliches Beben, das in den Leib des Stehenden übergeht. Wir ahnen, hinter dem Rücken von Oida, dass Babilé nicht rechts oder links guckt und sich ebenso in seinen Füßen spürt wie den Stab in seinen Händen. Davor der Japaner. Seine Arme sind durch die Hände in die Länge des Stabes gewachsen. Seine Beine sind eben gespreizt genug, um aufzunehmen, wie dessen steife Länge sich ausspannt und die Hände, die um ihn liegen, sein Holz fühlen. Er nimmt in sich auf, was es tut mit ihnen, was es noch tun kann mit ihnen. Die Wirkungen der Arme und Hände fortgesetzt in die Länge des Stabes. Welchen Raum sie einnehmen und bestimmen können, dieser Stab und dieser Mann. Wie er schwer steht und weich und straff, dem Schwingen im Innern des Holzes folgend. Bereit. Wir ahnen nicht zu was. Er denkt nicht daran. Er ist bereit. Und das Holz hat sein Gewicht, sein leichtes, das er nicht leicht nimmt, und seine Spannweite, die durch ihn hindurchgeht und auch ihn leicht macht. Zwei Tänze ohne einen Wechsel der Haltungen. Der eine, schöne Einheit von Dasein und Sein. Der andere mit dem Dasein ins Sein gekehrt und wie daraus auftauchend.

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Ich halte es für möglich, dass ich nur auf Grund einer bestimmten Bewegungserfahrung wage, in den Flügen der Vogelschwärme eine eigene Ordnung zu gewahren. Meine Wahrnehmung gehört nicht zu den Vermutungen, die wir uns irgendwie ausdenken. Sie steckt mir längst in den Knochen und zieht vielleicht durch die Muskelgruppen, die in unseren Bewegungen so vielfältig und unbemerkt zusammenspielen. In keinem anderen Medium habe ich das durch so lange, sorgfältige Übungen sich an meinem Leib ausbilden lassen wie in den Formen des ai ki do. Zehn Jahre habe ich diese Technik geübt. Einen Schritt verwende ich manchmal bei meinen »leibpraktischen Denkübungen« für größere Gruppen. Er wird in der japanischen Tradition tai sa ba ki genannt. Wenn ich zunächst beschreibe, wie wir diesen Schritt, eigentlich diese Schrittfolge ausführen, bleibt die Beziehung zu den Vogelschwärmen in den Details verborgen. Aber gerade dass die Aufmerksamkeit auf solche Details gelenkt wird, mag eine Tiefendimension des größeren Geschehens für uns öffnen, sobald sich erklärt, wie dieses mit jenem anderen Geschehen in den Lüften über uns zusammenhängt. Die Ausgangsstellung entspricht dem traditionellen japanischen Gang, in dem bei einem Schritt mit dem rechten Bein auch der rechte Arm vorschwingt, nicht der linke wie im Westen. Im Stand ist der linke Fuß nach außen gekehrt, so dass für die nächste Bewegung zwei Richtungen offen stehen, nach vorne mit dem, sagen wir, rechten Fuß und nach links, wohin der linke bereits zeigt. Der rechte Arm zeigt mit der rechten Hand nach vorn; die linke Hand wird in der Höhe des Beckens gehalten. Das Becken selber, die Mitte des Leibes, ist ein wenig dem Boden näher als gewöhnlich im aufrechten Stand, denn die Knie sind leicht federnd gebeugt. Aus der Hüfte wird nun die rechte Seite weiter vorgeschoben, die linke Seite folgt und zieht am rechten Fuß vorbei; dabei wird eine Drehung vollzogen. Das Becken schwingt über dem sich drehenden linken Fuß, so dass die Augen nun genau in die Richtung sehen, aus der wir aufgebrochen sind. Der linke Fuß bekommt nun den Körper zu tragen, so dass jetzt der rechte einen Halbkreis um ihn beschreiben kann. Wir kommen auf dem rechten Fuß zu stehen, der nun zur Seite weist, während der linke nach vorn gerichtet ist. Während der zwei halben Drehungen sind die Arme von der Leibmitte her so um uns herumgeschwungen, dass sie die Bewegung gleichzeitig mitgemacht und auch geführt haben, ebenso wie Füße und Beine. Die tiefe Lage des Beckens dabei hat im Wirbel ein gesichertes und beweg29 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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liches Gleichgewicht getragen. Der Blick kann in jedem Augenblick dem Horizont zugewandt sein, genau in dem Ausschnitt, dem wir uns, wie flüchtig immer, gerade gegenüber finden. tai sa ba ki. Eine sehr schnelle, eine sehr sichere Bewegung, wenn sie einmal in dem Ablauf eingeübt ist. Eine Drehung, in der sich ein Schritt vorwärts mit einem Schritt rückwärts verbindet. Ein sich drehendes Vorwärts und Rückwärts, eng um die eigene Mitte geschwungen und weit zum umgebenden Raum geöffnet. Vielleicht kann man diese Bewegungen lesend nur mitvollziehen, indem man sie selber nach und nach auszuführen versucht. Vielleicht gelingt die Vorstellung allein im eigenen Ausführen, wie andeutend es auch nur gelingen möge So lässt sich vielleicht die Verbindung erklären zu unseren Beobachtungen am Himmel. Der Schritt tai sa ba ki kann nach einiger Übung, die jede und jeder für sich vorwärts und rückwärts macht, zu vielen gleichzeitig und durch einander in einem gar nicht so großen Raum vollzogen werden. Dabei werden im Vorwärts-Rückwärts die Richtungen wenig oder stärker nach den Seiten verändert, je nachdem die Bewegungen der anderen das erlauben oder erfordern. Das Drehen und die Sicherheit des Gleichgewichts in der Bewegung und die Freiheit, aufmerksam zum je gerade gegenüber sich Bewegenden, zusammen ergeben einfach, dass an ein heilloses Durcheinander überhaupt nicht zu denken ist. Im Gedanken freilich muss man sich vorstellen, dass die ärgsten Zusammenstöße vorprogrammiert sind. Genau das ist nicht der Fall. Ohne Verkehrsordnung und ohne immer neues Kontrollbewusstsein gleiten die Bahnen der Menschen umeinander, aneinander vorbei, irgendwie auch zueinander. Dazu ist keine Absicht notwendig, nur vollkommene Anwesenheit in der eigenen Bewegung. Dieses Bewusstsein erlaubt, über die sinnliche Wahrnehmung der Anderen deren Anwesenheit in die eigene Bewegung mit aufzunehmen. Es ergibt sich ein großes Bewegungsgeschehen, dessen Ordnung nicht zu rekonstruieren ist. Beobachtende wie Beteiligte empfinden sie staunend und werden von einem ungeahnten Elan beflügelt – wie die gefiederten Wesen bei ihren luftigen Tänzen. Das offensichtliche Durcheinander im tai sa ba ki gibt eine Ahnung von verborgenem Zueinander. Es folgt nicht einer Ordnung, die aus dem Geschehen herausgelöst werden könnte. Das ist, was Systemtheoretiker jedoch suchen, wenn sie Fischschwärme untersuchen. Vielleicht weisen auch die Manöver von Starenheeren auf das Gesuchte 30 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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hin, wenn sie auffliegen, miteinander große Bahnen beschreiben und wieder einfallen, in Baumkronen oder auf einem Seeufer. Augenblicksaufnahmen könnten das Geschehen so anhalten, dass die Konstellation als eine mehr oder weniger gelingende Ordnung beschrieben werden könnte. Dabei würde aber gerade verloren, wie das Ordnungshafte zu verstehen sein kann. Es folgt, scheint mir, gerade nicht irgendwelchen Regelmustern, die aus dem Geschehen abgeschöpft werden könnten wie das Papier oder Filz aus dem breiigen Gemisch. Die Elemente der Ordnung, ob die Menschen im tai sa ba ki-Gewühl oder die Mauersegler in ihren Flügen als Schwärme oder Völker, sind nicht die Ausgangspunkte des Geschehens. Nicht aus einem Festen und Feststellbaren besteht ein Zusammenspiel, sondern es bildet sich im ungreifbaren, je sich ereignenden und wieder verfliegenden Zueinander. Was wir nachträglich als Muster beschreiben können, ist ein Entstehen und Verwandeln und Vergehen. Es lässt sich nicht auf die einander Begegnenden zurückführen. Die Frage ist nicht, wie diese die Begegnungen machen. Die Begegnungen werden möglich allein im Begegnen. Die Möglichkeiten lösen umso leichter sich ein, je mehr dieser Flüge auf einander reagieren. In ihrem Vogelbuch sagt Trencséni: »Der Schwarm als Ganzes hat kürzere Reaktionszeiten als das einzelne Tier, je mehr Tiere, desto kürzer die Reaktionszeit des Schwarms.« Dies ist so aufmerksam als möglich anzuschauen. Solche Anschauung wird fast schon unfasslich, wenn sie visuell aufgefasst werden soll. Andere Sinne sind viel wichtiger dabei. Zu ihnen gehört sicher wesentlich ein Bewegungssinn, wie ihm Rolf Elberfeld auf der Spur ist. Im Bewegen nehmen wir wahr, was die Bewegungen an uns und in unseren Beziehungen zu anderen verändern. Dir näher kommen, mich von dir entfernen. Zu dir hin, von dir weg, von mir weg, von dir weg. Wie weit spüre ich noch mit meinem Leibe deine Anwesenheit? Wie nah geht dieses Gefühl über in das andere der Berührung? Was lösen die Intensitäten, die verschiedenen, zwischen fernem Spüren und nächstem Berühren aus? Wir alle kennen den Reiz, den wir empfinden, wenn wir beim Tanzen, im Ringen, im Liebesspiel einander eben streifen – frôler – oder schon von weitem einander spüren. Das Französische hat ein eigenes Wort dafür. Katzen treiben das bis zum Exzess, wenn sie um unsere Beine streichen. Was da an Wahrnehmung, an Empfinden, an Gefühl im Spiel ist, lässt einen Raum ganz eigener Art entstehen; 31 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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einen Fühlraum, der eher ein Ort genannt werden sollte und in Wahrheit eine Geschichte ist, in der Zeit. Die Pfauenpaare in unserem Park schlafen nachts auf getrennten Bäumen. Wenn sie aufwachen, schickt der eine einen Ruf zum anderen: Hier bin ich, bist du noch da? Und es kommt zurück: Bin noch hier, ist es gut? Solchen Klangraum finden wir in den spontanen Choreographien der Mauersegler ins Fühlen von Leib zu Leib übertragen. Die bekannte Orientierung der Fledermäuse durch eine Art Echolot kann man als Übergang betrachten vom Klangraum zum Fühlraum. Und schon dämmert uns, dass wir Menschen ganz ähnlich leben, nur diese Seiten unserer Sinne so wenig beachten, dass erst die visuelle Orientierung ausfallen muss, um ihnen Bedeutung zu verschaffen. Selbstverständlich verorten wir uns, wo immer, über unser Gehör. Wie klingen hier die Schritte zurück? Erst im Dunkeln werden wir uns dieser Fähigkeit dankbar bewusst, während wir zugleich ein wenig üben, auch was uns im Wege steht oder auf uns zukommt, zu spüren, bevor es zum Zusammenstoß kommt. Welch eine andere Welt! Angesichts mythologischer Wandbilder bekam ich in Indien eine Vorstellung davon, dass wir sie so erfahren könnten. Ein verwirrendes Ineinander von Menschen und Tieren und Göttern und Wesen. Goethe wandte sich angewidert ab; das war ihm zu viel, und zu wenig aus einem Punkte zu beschauen. Ich hatte plötzlich den Eindruck, da bewegen sich all diese Lebewesen der verschiedensten Sphären und Energieformen in ständigen und ständig sich wandelnden Berührungen miteinander – oder eben Fast-Berührungen, die eben erlauben, eine eigene Bahn zu bilden, aber im leibhaftigen Bewusstsein all der anderen. Der Eindruck war so lebhaft und die Geschichten unordentlicher Ordnungen so einleuchtend, dass ich nicht umhin konnte, noch den heutigen Straßenverkehr einer Großstadt wie Mumbai oder Madras in einem solchen Sinne zu begreifen. Wie sonst wäre zu verstehen, dass dort Menschen, Autos, Fahrräder, Kühe und Dreiräder unaufhörlich einander so nahe kommen, dass man schon einen Zusammenstoß kommen sieht. Aber so weit kommt es nicht, aus dem Gespür solcher Nähe nehmen sie nur den Elan, die eigene Richtung zu verfolgen.

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DIE STARE AM HIMMEL ÜBER BERLIN

Die Erinnerung an die Stare ist beherrscht von Bildern wie jene schwarzen Wolken, die am Himmel hinziehen, als lange, schwingende Bänder, und dann wieder sich in sich selbst drehend. Die Bänder fliegen über die gezackte Linie der Dächer hin. Umkreist werden die großen Kuppeln, des Doms oder über dem Gewerkschaftshaus. Da gerade gehört noch das Einfallen auf dem Dach dazu, die plötzliche Ruhe, und dann fliegen einige hier auf, andere dort, und wieder folgt, in Sekundenschnelle, der ganze unzählbare Zug. Das war in vergangenen Jahren, wenn die Vögel nur auf sich aufmerksam machen konnten, sobald sie durch diese ungeahnten Mengen den verblüfften Eindruck unseren Augen geradezu aufdrängten, die sich bald wieder dem Nächsten und Fernsten zuwandten. Dieses Jahr ist eine ganz andere Neugier erwacht. Auf den Dächern und Straßen und Plätzen der Mitte von Berlin gehe ich wie auf Starensafari. Ohne Waffen, ohne Kamera, ohne Mikrophon. Was bin ich für ein Jäger, wenn ich also kein Schütze bin? Jäger sind zuallererst Menschen der Zeit. Sie müssen erkunden, wann es wo zu sein gilt. Wann heißt schon auch, die Uhr im Auge behalten. Aber es geht ja nicht um Uhrzeiten, sondern um Tageszeiten. Tageszeiten wechseln mit der Jahreszeit und mit dem Wetter und seinen Stimmungen. Die Aufmerksamkeit von Jägern muss sich auflösen können in all die Wahrnehmungen, die uns in eine Welt hineinziehen. Der Glanz des Horizonts gegen Abend. Die Feuchtigkeit oder Trockenheit der Luft. Die Bewegung von Wolken und wie sie drücken auf die Atmosphäre unter ihnen oder den Atem freigeben hinauf bis ins Blaue. Windhauch, von wo kommt er? Werden die Winde abflauen oder anschwellen? Zu unterscheiden, welche Geräusche ohne Bedeutung sind für das, was erwartet wird. Und was wird denn erwartet? Augen und Ohren müssen zugleich bereit sein, auftauchende Zeichen zu gewahren, sich zu konzentrieren und ihnen genau zu folgen. Kenne ich die Zeichen? 33 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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§ Der Hauptort der Stare in Berlin scheint die Gegend um den Dom zu sein. Bis in den späteren Juni lassen sie sich aber nirgendwo sehen. Ich vermute, sie sind mit Brut und Jungen beschäftigt, wie die Blesshühner und Schwäne unter meiner Terrasse, ein paar Spreebögen weiter nach Charlottenburg zu. Nun hat mich Tilmann Küntzel mit der Meldung »sie fliegen wieder« an die Friedrichsbrücke gelockt. Fliegen sie? Nicht um die starre, protzige Kuppel, der sie zeitweise eine mit ihr versöhnende Aufgabe angedeihen lassen. Auch der Himmel umher schwirrt nicht von Vögeln. Doch da! Vom Monbijou-Park steuern einige dutzend herüber. Eine richtige Sichelformation. Warum kommt mir kein weniger militärisches Wort? In mäßiger Höhe sind die einzelnen Tiere gut zu sehen. Die Formation ist eben klein und hält geraden Kurs auf mich zu, der ich in der Mitte der Brücke stehe. Doch die Beschreibung trügt; sie sind schneller über mir, als diese Worte sie beschreiben, und ich drehe mich um, ihnen mit dem Blick zu folgen. Da heben sie sich höher in die Luft, kurz vor den alten Kastanien, und lösen dabei den strengen Bogen auf in mehr kleine Figuren, als ich beobachten kann. Eigentlich schlagen sie Haken wie Hasen auf der Flucht. Also doch ein unangebrachter Begriff, die Formation, und auch vom Ansteuern kann keine Rede mehr sein. Aber doch, und wie! Nach dem blitzschnellen Intermezzo stoßen sie in heftiger gemeinsamer Wendung nach unten, wie plötzlich angezogen von einem Luftloch. In Wirklichkeit geben sie sich einen entschlossenen Schwung und – sind schon verschwunden. Eingefallen in die Kronen der Bäume des kleinen Lustgartens. Jetzt zieht ein Reiher mit großen Schwüngen eine schnurgerade Bahn in den Himmel; wie um den Contrapunkt zum Schwirren zu markieren. Hinter den Baumkronen drüben flattert es einen Augenblick auf und verschwindet wieder.

§ Nun lauere ich, ob sie nicht auftauchen wollen, jedenfalls zu bestimmten Tageszeiten, vor allem gegen Abend. Wenn ich nicht zu dem ersten Erscheinen zu spät bin, bin ich zu früh. Es gibt ja nicht einen Auftritt, dessen Zeitpunkt gestoppt werden könnte. Kein Auftritt und kein Zeitpunkt. Ein Himmel so frei wie am ganzen Tage und vom Süden über 34 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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alle Dächer und Türme und Baukräne hinweg bis zum Norden. Und dann ist er plötzlich da, der eine Schwarm. Er fällt einfach aus dem Himmel und ist da. Immer wieder versuche ich, diesen Moment zu verfolgen und zu verstehen. Der eine Schwarm verschwindet wieder, und ich kann bei weiteren genauer zu beobachten versuchen, wie das geschieht. Die Vögel müssen wohl aus irgendeiner Tiefe der Luft auf mich zufliegen, so dass ich in so weiter Entfernung die kleinen Köpfe und die Linie der Flügel noch nicht von den leichten Schleiern der Lüfte unterscheiden kann. In einem Augenblick wechseln sie die Richtung, lassen diesen Flügelschlag lang sich fallen und gleiten nun mit ausgebreiteten Federn ruhig über die Kulisse der Häuser hin, bis sie wieder wenden und in neuer Formation ihren Flug fortsetzen, eigentlich immer den Raum zwischen Dom und Museumsinsel vor sich. An einem Abend gegen Ende Juli schlägt die Turmuhr der Marienkirche schon acht, und ich warte immer noch, mit den Augen vor allem zum westlichen Horizont gerichtet. Schon sind sie im Blick, die beiden ersten Gruppen. Sie fallen in den seitlich zu mir gleitenden Flug. Nie traf das Wort auffallen besser. Dann nehmen sie Kurs auf und ziehen vorüber über der Spree entlang und sind weg. Stille. Heute lassen auch die Musiker am Fuß der Brücke sie gelten. Unverwandt schaue ich weiter über die Stadt hin nach der Seite hinter dem Dom. Zwischendurch doch ein rascher Blick nach der anderen Seite. Dort sind eben die beiden kleinen Gruppen in dem lichten Dunst verschwunden. Aber sie kehren nicht um. Sie kommen nicht wieder. Und von da, wo auf irgendeine Weise Stare sich gesammelt haben, um in kleinen Abteilungen in das Flugfeld vor mir vorzustoßen, kommt nichts mehr. Ist heute Leere über der Spree? Wo sind die Stare, wenn sie hier sich nicht sehen lassen? Über die ganze Stadt verteilt? Oder sammeln sie sich an anderem Ort? Da. Eine ganze Wolke winziger schwarzer Wesen. Fernhin strömt sie, langsam, auf immer gleicher Höhe. Nun stürzt die ganze Wolke plötzlich hinab. Da fängt sie sich wieder. Die Vögel wenden sich, wie im Schweben. Jetzt finden sie einander neu und beschleunigen ihren Flug, her zum Raum über Brücke und Spree. Fast über mir schwenken sie, die unzählbaren und doch jeder in einer eigenen Bewegung, mit der sie in dem Schwarm sind. Und schon zieht das ganze Volk vor der Domkuppel entlang. Noch zeichnen sich die kleinen gefiederten Leiber mit ihren Flügeln schwirrend vor dem Grün ihres Kupfers ab; neben35 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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einander, einander verdeckend, hinter einander, wie gezogen von den vorauseilenden, geschoben von den nachfolgenden. Dieser Augenblick ist immer wie eine Momentaufnahme, im Kontrast zur Starre von Steinsäulen und Kuppeldach. Dann sind sie wieder Wolke und sausen durch die Schneise zwischen den Gebäudefronten rechts der Spree und links. Bis auch sie entschwindet, vielleicht am Platz hinter dem Palastgerippe, dessen braune Glasflächen die Abendsonne blass glühend herüberspiegeln. Und wieder Warten. Diesmal wird die Aufmerksamkeit in die Richtung des westlichen Himmels schneller belohnt. Wieder fallen sie aus der leicht dunstigen Sonnenluft; fast gleichzeitig eine Gruppe zur Linken, eine zur Rechten. Sie kommen rasch auf mich zu, aber im Winkel der Flugbahnen zu einander. Nach so manchen Beobachtungen erwarte ich, dass sich beide zusammentun werden; aber wie wird das geschehen? Nun sind sie schon ganz nah über mir. Aber keines der beiden kleinen Völker schwenkt in den Kurs des anderen ein. Das eine verändert sogar in gar keiner Weise seinen Flug, weder in der Richtung noch in der Art der Bewegung. Als hätten sie nichts mit einander zu tun, bleiben auch die Vögel der anderen Gruppe auf ihrer Richtung. Doch nun senken sie etwas die Flughöhe und gleiten, nur eben die oberen nicht berührend, unter diesen entlang. Von mir aus ergibt sich ein Muster sich leicht kreuzender Linien. Doch nein, Linien sind es eben nicht. Das wären die Flugstrecken, die ich in Gedanken konstruiere. Die Vögel halten jeder zu den augenblicklichen Nachbarn über ihnen wie zu den neben ihnen bleibenden eine je besondere Berührung im Abstand der Luft, durch die sie gleiten, und in der Geste ihrer Flüge, die ich als im Winkel zu einander wahrnehme. Und schon in dem Augenblick darauf zeigt sich, dass ich recht daran getan habe, meine Aufmerksamkeit dem wirklichen Vorgang zu widmen, statt, was ich vielleicht sehen kann, einer gedanklichen Abbildung auf ein gedachtes Reißbrett zu opfern. Die Vögel bewegen sich nicht auf Strecken, sondern in einem dreidimensionalen Raum; eigentlich auch das nicht, sondern im Medium der Luft, die sie trägt, die ihren Flügelschlägen einen Widerstand bietet, die sich selber bewegt und die sie bewegen mit den Schlägen ihrer so kleinen Schwingen. Sie antworten mit jeder ihrer gefiederten Bewegungen auf alle diese Fast-Berührungen zu den anderen Vögeln, mit denen, unter denen sie scheinbar nur ihre Bahn ziehen. Kaum nämlich sind die einen unter dem Schwarm der anderen hindurchgegangen, verwandeln sie die eben 36 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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noch für mich unsichtbaren Beziehungen zu den anderen Vögeln in ebenso viele und zweifellos von einander verschiedene Schwenkbewegungen, die alle zusammen nun in die Bahnen der Gruppe mit hineingehen, die während dessen, die zweite Gruppe wohl fühlend, scheinbar nur ihren Kurs gehalten hat, der schon ein gemeinsamer werden sollte. Als breites Band ziehen alle miteinander in die Schneise über dem Wasser und verschwinden wie die früheren.

§ An einem Morgen fahre ich über die Insel Sylt mit ihren weiten Weiden und niederen Strohdachhäusern und Reihen von Laubbäumen. Da sehe ich, fast den letzten Nebelschwaden über dem hohen Gras gleich, ein dunkleres Band ziehen, das sich aber rasch verdichtet und zu einem schwarzen Sack wird. Ehe es aber zu dieser Form gekommen ist, setzt eine Drehbewegung ein, in der sich die kleine Wolke von ein paar hundert Staren teilt. Zwei Schwärme ziehen jetzt, zunächst langsam ansetzend, rasch aber sehr schnell werdend umeinander. Dabei geht die Drehung in die Weite. Manche Vögel scheren aus ihr aus. Während dessen sind die beiden Schwärme in entgegengesetzte Richtungen auseinandergezogen, kehren blitzschnell irgendwo um, fliegen, die einen eng über dem Boden und weiß aufblinkend, wieder auf einander zu. Diesmal kreuzen sich die Bahnen, die eine vor der anderen, und die Vereinzelten haken sich hier und dort wieder ein. Der eine Schwarm streicht haarscharf über eine Dachkante, wobei ein Teil der Vögel einfach auf dem First sitzen bleibt. Die anderen fliegen weiter, bis auch die sitzenden, einer nach dem anderen und dann der ganze Rest, nachziehen und bei dem nächsten Schwenk wieder dabei sind. Dann geht das Spiel der Begegnungen und der Drehungen weiter in einen großen Wirbel. Und wieder zieht diese schwirrende Wolke sich auseinander in das Band, das atmet zwischen Beschleunigungen und Stauungen, breiter und dichter, schmaler und dünner werdend, je nach der Phase des Rhythmus. Der macht diese Erscheinungen den Wellen des Meeres verwandt, wie sie sich aufbäumen und auslaufen, überrollen und mit dünnem Schaum hinziehen. Über diesen Gedanken ist das Volk mir aus dem Blick geraten. Da kommen sieben, acht, neun Vögel eifrig auf mich zugeflogen. Sie haben sich zu einer weiten Sichellinie auseinandergezogen, wie schon bei Sonnenaufgang am Wattenmeer. Da haben sie mit ihren win37 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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zigen Schwingen in heftigen kleinen Schlägen wie Furchen durch die Luft gezogen, in dieser großen Linie oder auch in kleinsten Gruppen, die so zielstrebig vorbeiziehen, dass es aussieht, als würden kleine Kulissen viel zu schnell vor einem Bühnenaushang entlanggezogen. Ein andermal lassen aber auch vier oder fünf sich schwingend gleiten. Sie sehen nicht aus wie zu spät zur Verabredung Kommende; sie probieren, wie ihr immer vorschwimmendes Viereck, ihr Stern oder Pfeil ihre Bahnen in wechselnden Berührungen hält, während jetzt diese, jetzt jene die Eckpunkte übernehmen. Irgendwo treffen sie nun die anderen wieder und nehmen neu das Spiel der vielen wieder auf, das sie in dichte, wilde Wirbel führt. Das Umeinander wird erneut ein Gegeneinander. Schwärme kreuzen einander, bevor alle in eine Richtung einschwenken und das lange Band über Wiesen und Gebüsche bilden, fernhin zum Horizont. Die kleine Übung über dem Dach des flachen Inselhauses führt meine Gedanken zurück zu den Flügen riesiger Scharen, die in Berlin die Häuserzeilen durcheilen oder auch sich auf deren Grate stürzen. Eben noch sah es wieder so aus, als bleibe nun der Himmel verwaist, da rauscht in erregender Geschwindigkeit eine breite Phalanx hinter den Dächern, über die eben noch der Blick zu den Wolken am Horizont schweifte, herauf, zieht hoch, rast über uns hinweg – so schnell, dass die Bewegung etwas Heftiges bekommt. Erst recht bei dem rasanten Schwenk des ganzen Volkes, das daraufhin die nächste Dächermasse ansteuert. Diesmal ziehen die Vögel knapp unter der Traufenlinie hoch und schrammen fast die Ziegel an den Firsten. Eine ähnlich martialische Wirkung hat mir ein Freund berichtet aus einer langen Straßenzeile in einem Wohnviertel von Wilmersdorf. Von seiner Terrasse im sechsten Stock konnte er mit ansehen, wie plötzlich ein solcher sehr großer Schwarm, schwarz und dicht und schnell, in die Zeile hineinstieß und in gewaltigen Wellen zwischen den Fassaden hin fast die Kronen der Bäume schnitt, bis zu den Dachlinien hinauf ging und sich gewaltig wieder hinabstürzte – aufflog und am Himmel verstreute. Ein andermal sind es mehrere kleine Völkchen, die hier zu gleicher Zeit nebeneinander auftauchen. Ohne weitere Figuren und Ornamente fliegen sie auf den Dom zu und ziehen weiter, um die Kuppel herum. Heute, von mir aus gesehen, vor ihrem grünen, runden Dach. Immer kommen sie aus derselben Richtung und gehen in dieselbe Richtung. Ein Schwarm nach dem anderen. Wo bleiben sie? Sind es denn immer neue Vögel, die abends sich hier treffen, am Tage über alle 38 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Gegenden der Stadt verteilt? Diese Stadtlandschaft ist keine Drehbühne und hinter ihren Kulissen eilen die Stare nicht auf ihre Ausgangsplätze zurück. Mehr und mehr kommen heran, von hier aus sehe ich nur die ganzen Abteilungen. In der Stadt, erinnere ich, eilen manchmal auch einzelne oder wenige hinterher. Während die Gruppen von West nach Ost steuern, lassen sich diesmal einzelne Vögel plötzlich in eine tiefere Luftschicht fallen oder sie scheren langsam aus dem aus, was wir vielleicht doch eine Formation nennen, nur, um wenig später sich wieder einer gemeinsamen Richtung einzubeziehen und der Nähe zu den anderen Tieren. Das lässt wieder die Frage aufkommen, Zeugen was für einer Art von Ordnungen wir da werden? Ganz anders wirken die Schwärme der Stare als etwa die Keilformationen von Gänsen oder Kranichen. Und doch erfahren wir immer mehr auch über diese so regelmäßigen Formen, das sie mit dem unfassbaren Geschwirr hier der Stare in Verbindung bringt. Ein Keil ist ja nicht eine geometrische Form. Etwas ihr Ähnliches ergibt sich aus den Wechselbeziehungen zwischen dem Verhalten der Tiere und den Bedingungen der Situationen, auf die sie reagieren. Ihre Ordnung ist Antwort; nicht Setzung, woher auch immer. Und diese Antworten, die wir da als großartige Züge wahrnehmen, entstehen eben in jedem Augenblick neu aus der großen Zahl winzigster Antworten aller Tiere eines Schwarmes auf die Bewegungen von Winden und Landschaft wie aller einzelnen Vögel auf ihre Nachbarn und den Schwarm als ganzen. Was als Manöver deklariert wird, ist ein grandioses Spiel des Umspielens von Nachbarn, von Richtungen, von Fluggesten, von Abständen und Nähe, gleichen Bahnen und Varianten quer und schräg zu ihnen. Die Vögel suchen nicht Formen zukünftiger Flüge, die jetzt eingeübt und auf den großen Reisen reproduziert werden sollten. Sie suchen den Umgang mit einander und mit wechselnden Konstellationen im Spiel von Situationen und ihren Antworten darauf. Darin ergeben sich Muster solcher Verbindungen. Was in diesen Spielen geübt wird, sind nicht die Muster als Formen, sondern der Wechsel der Verbindungen. Formen sehen wir, wenn die Verbindungen für das Spiel fast schon überholt sind. In unserem modernen Bedürfnis, sich Ereignendes auf starre Strukturen abzubilden und mit den Abbildern unsere Theorien zu bauen, projizieren wir in den Wandel der Welt unsere Angst vor der Bewegung und unsere Sucht nach dem verlässlich Festen, das wir in aller Ruhe zum Gegenstand machen können. Zum Gegenstand der Erkenntnis, der Machbarkeit, der Manipulation. Ein erschreckendes Bild 39 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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dafür sind die sogenannten Symbole unter den Namensschildern für Flüsse und Bäche. Eine Sinuskurve soll bedeuten, dass da Wasser fließt. Wellen und Strudelbewegungen haben aber nur von sehr fern etwas mit homogenen Kurven zu tun. »Aus Bequemlichkeit suchen wir Gesetze«, sagt Novalis. Es ist Zeit, Schluss zu machen mit dem Zeitalter der Gauß’schen Normalverteilung. In dem hemmungslosen Drang, alle Wirklichkeiten auf dieses Zielbild zu fixieren, sind unsere Vorstellungen vom Leben immer abstrakter geworden, verlangen wir immer unverschämter, Lebendiges habe sich nach den Regeln zu verhalten, die wir gerade noch auf beherrschbare Formeln bringen können. Den Kampf gegen ökologische Beobachtungen und Überlegungen haben Betreiber und Wissenschaftler mit der Unterstellung von Durchschnittswerten geführt und mit der Behauptung, kleine Wirkungen oder Wirkweisen überhaupt, die sie nicht messen können, würde es auch nicht geben. Normal sollten uns durchaus Ordnungen erscheinen, die nicht einer Norm nachgebildet sind, einer Norm, die im voraus, abstrakt und allgemein konstruiert werden kann, um in irgendeiner aktuellen Praxis angewandt oder umgesetzt zu werden. Ich denke eher an Konfigurationen, die sich jeweils aus der Vielzahl mit einander in Beziehung zu bringender Elemente bilden. Bildungen, nicht visuelle Bilder. Diese Elemente sind so verschiedener Herkunft, Konsistenz und Wirkweise, dass es keine Formen gibt, auf Visuelles reduziert, keine Normen, auf Operationalisierung reduziert, die ihre Wechselwirkungen auszudrücken vermöchten. Die Vögel sind nicht nur als Typus nach Bauart und Verhaltensregel im Spiel, sondern mit allem, was von den einen ausgeht und auf die anderen wirkt – aerodynamisch und durch Gewohnheiten ihrer Gemeinschaft, nach individueller Tagesform und durch ihre jeweiligen Wahrnehmungen von Winden und Landschaft und Sternen. Wir wissen, dass ihnen auf ihren großen Zügen der gestirnte Himmel über ihnen das Gesetz in ihnen wird, nach dem sie ihre Richtungen bestimmen. Wann immer sie in einem Schwarm oder einzeln sich tummeln, diese Bezogenheit bleibt lebendig. Und so ist es mit den Erscheinungen des Lichts und der Feuchtigkeit, den Gerüchen und dem Gehör. Wir erfahren so viel davon, wie gerade Stare auf die Laute und Klänge einer Umgebung reagieren. Ich neige dazu, nicht von Imitationen zu sprechen, wenn sie ihre eigenen Lautfolgen darauf einstellen. Ich möchte lieber von Antworten sprechen und denke an eine Art 40 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Echolot qualitativer Natur. Probieren nicht auch wir aus, was wir da hören, wie eine Stimme gestimmt, wie ein Tonfall gemeint ist, indem wir versuchen, aus uns selbst laut werden zu lassen, was wir zu hören glauben? Mimesis ist nicht nur eine – wenn auch wenig anerkannte – Kategorie menschlichen Kunstsinns. Mimetisch können wir alles nennen, was dem immer erotischen Wechselspiel zwischen Eindruck und Ausdruck dient. Das Erotische betone ich dabei, um ein Reich der Freiheit zu bezeichnen, in dem Leben sich seinen Bewegungen und Äußerungen, seinen Forderungen und Regungen hingibt, also jene Dichte von Energien und Resonanzen hervorbringt, aus der die Linien von Zwecken und Absichten sich erst herauskristallisieren. Ich meine den Gesang von Vögeln, der dann eben auch an dieser oder jener Stelle sagt, hier bin ich zu Hause, oder zu dieser oder jener Zeit, jetzt kann ich mit einem Vogel des anderen Geschlechts zusammenkommen. All dies sind nicht die Ideen, die wir, fast immer in der Form von Zwecken, der Natur unterstellen wie den Instinkt der Profitmaximierung beim Markteilnehmer. Und erst recht ist Wirklichkeit ein so wunderbar vielfältiges Zusammenwirken und nicht das Abbild eines Arsenals von solchen Ideen. Auch hier gilt es, das magische Gebräu der platonischen Ideenlehre unter Kontrolle zu bringen, das alles Flüssige zum Gerinnen bringt.

§ Wir sind einer Naturwahrheit auf der Spur, wie Alexander von Humboldt sagt. Der kommt man nicht allein mit Maß, Zahl und Gewicht und den Denkformen bei, die aus den Regeln einer aristotelischen Logik abzuleiten sind. Die schönsten Aussichten, unser Vorstellungsvermögen ihr anzunähern, versprechen vielleicht die Erkundungen von Tänzerinnen und Tänzern. Im Tanz ist auch den Menschen Bewegung und Berührung, Abstand und Annäherung, Leichtigkeit und Schwere, Geschwindigkeit und Verzögerung das Medium, in dem wir erleben und gestalten. Und tatsächlich konnte ich in den Aufführungen von Jean Pierre Perraults »Joe« zu künstlerischen Erkundungen ausgearbeitet wieder erleben, was ich an dem selben Morgen über den Flug der Stare zu beschreiben begonnen hatte. Dies ist das Reich des Bewegungssinns, dem Rolf Elberfeld gerade uns eigene Wahrnehmungen und deren Verbindungen zu unseren Gefühlen im menschlichen Bewusstsein wiederzugewinnen unternimmt und der darin eigene Ge41 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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staltungsweisen hervorhebt, die er im Zusammenwirken von Bewegungswahrnehmung in uns und am Anderen zur Möglichkeit von künstlerischem Ausdruck entdeckt. In der Aufführung der Kanadier ist ein Gegensatz durch das ganze große Stück besonders auffallend. Im Marschtritt formierte Kolonnen sind immer neu mit Einzelnen konfrontiert, die aus der Reihe tanzen. Diese Eskapaden können fluchtartigen Charakter haben oder geradezu verspielten. Dieses Spielerische wirkt manchmal verlegen in sich verhakt, manchmal verzweifelt albern, so dass Bilder aus dem Film »Das Leben ist schön« wieder auftauchen. Gelegentlich gelingen eigene Figurationen derer, die aus den Reihen und dem Tritt ausbrechen, zu schönen oder heiteren Entwürfen. Mutig durchqueren auch der eine oder andere Tänzer die Marschordnung, Begegnung gegen Formation, Erfindung gegen Ausführung. Irgendwie brechen die Versuche ab, oft als Scheitern im Sturz. Während all dessen formiert sich die Kolonne stetig um, zum Quadrat, zum Rund, zum Haufen; sie teilt sich, gliedert sich zu Reihen auf und schließt erneut die Formation. Alle diese Vorgänge geben unter den sozialen und psychologischen Assoziationen, mit denen die Schilderung sie verbinden muss, noch kaum frei, wie bewegend die Gemeinsamkeiten mit den Flügen der Vögel sind. Diese Assoziationen halten bestimmte geschichtliche Situationen mit den Bewertungen, die ihnen zukommen, fest. So würde es bei den Klischees von Marschkolonne und Untergang des Individuums, von Exerzierplatz und hilflosem Widerstand bleiben. Bewegend sind die Evolutionen der uniformiert anonymisierten Tänzerinnen und Tänzer aber gerade dadurch, dass die so interessanten Ausbrüche nicht Anekdote bleiben. Sie sagen mehr, als dass individuelle Versuche beiherspielen und zum Erliegen kommen. Was da Einzelne außer der Reihe tanzen, spricht davon, wie die Menschen, auch in Reih und Glied verwiesen, dennoch jeder ein eigener bleiben. Die bedrohten Eskapaden sind der Ausdruck für die Möglichkeiten auch derer, die dem Schema unterworfen sind. Man beginnt, die Kolonne anders zu sehen. Abweichungen, noch die geringsten, werden nicht am vorgegebenen Muster als Defizienz verbucht; vielmehr erregen sie die Einbildungskraft dafür, zu welchen Einmaligkeiten das potentielle Individuale sich womöglich zu entfalten vermöchte. Dabei wird auch die Aufmerksamkeit in immer neue Verwandlungen gehen, und eben auch dafür, wie diese Verwandlungen wohl auf die individuellen Episoden reagiert haben mögen. 42 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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§ Genau solche subtile Wechselwirkungen wahrnehmend zu ertasten, kommt Gregroy Batesons grundlegender Parameter vom »Muster, das verbindet« am nächsten. Da gilt es keine Abbilder zu identifizieren. Die Verbindungen lösen die Identifikationen eben auf und bilden sie um. Das »Muster« im Leben ist immer ein Geschehen. Und es ist Wechselwirkung. Die individuellen Bewegungen antworten ja auf das Schema, ob sie ihm nun widersprechen oder es abwandeln. Ihre Freiheit bildet sich als Antwort auf Zwang – oder doch auf Notwendigkeit in der Natur. Die tiefste, einfachste Naturwahrheit, die dabei für alles sich-Gestalten zutage tritt, ist das Grundprinzip der Evolution: Gestalt braucht Kontinuität und Veränderung. Die Arten sind der geschichtliche ZeitOrt der Kontinuität; aus den individuellen Neuerungen entstehen die Veränderungen, die auf der Ebene der Art verworfen oder übernommen werden können. Fortsetzung im Wandel als Antworten auf das Neue. So formuliert klingt das Prinzip zu allgemein, um von den Untersuchungen der Natur auf die Gestaltungen der Kunst ausgedehnt zu werden. Ich halte jedoch entsprechende Übertragungen für außerordentlich vielversprechend. Und die Künste kommen in ihrem Selbstverständnis derartigen Auffassungen durchaus entgegen. Die völlig neuen Prinzipien von »Choreographie«, wenn wir Bewegungskunst so noch nennen wollen, die hinter den Evolutionen der Tänzer von Perrault stehen, sind mit denen der zeitgenössischen Kompositionen verwandt. Schon seit das System der Tonalität des 17. und 18. Jahrhunderts aufgelöst und das Eigenleben der Töne für freiere Beziehungen geöffnet worden ist, gewinnen sich die Komponistinnen und Komponisten, mir scheint, eben dieses Feld. Auf der Befreiung durch die neue Musik gründend, führen sie mit John Cage und Morton Feldman und György Ligeti und Christian Ofenbauer und Isabell Mundry und vielen anderen das musikalische Geschehen aus bestimmten Formvorgaben unserer europäischen Klassik heraus. Dieter Schnebel sagt: »Komponieren verfährt weniger einlinig; es heißt verschiedene Vorgänge gestalten und in Beziehung setzen … Entscheidend aber ist das zeitliche Element: Dass Prozesse entstehen und auf Zukünftiges verwiesen und an Zurückliegendes erinnert wird.« Das Prinzip der traditionellen Kontrastbildung löst sich auf. Statt der Bewertungen von Haupt- und Ne43 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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benstimmen können die Klänge in je neu sich ereignende Beziehungen treten. Die Töne werden wieder der Fülle aller Geräusche einbezogen und korrespondieren freier mit der Stille, als die Pause oder Fermate das zuließen. Das Prinzip der Entwicklung, vielleicht am deutlichsten im Sonatensatz von Haupt- und Nebenthema, Durchführung und Reprise, tritt zurück oder wird aufgegeben, um jeweiligen Impulsen sich widmen und ihnen folgen, sie abbrechen und auslaufen oder aufnehmen und ihnen entgegnen zu können. Die Muster lassen nicht nur bei Feldman, der bewusst den Farbschattierungen seiner Teppiche eine Kompositionstheorie ablauscht, an Gewebe denken. Darin kann die eigene Gestaltungszeit, Lebenszeit der Musik, sich anders entfalten, mit der gemessen ablaufenden Zeit und gegen sie – über sie hinaus. Ganz Gegenwart kann das augenblickliche Klangereignis, auf dem Hintergrund einer Komposition, seine heimliche Beziehung zur Ewigkeit in die Figuren hineinstrahlen lassen. Mit einem anderen Verständnis der Natur, also fern von Zweckkausalität und Fortschrittsprogramm, ist dies andere Verständnis von Kunst in einem Aufbruch. Nicht nur die Physik, in ihrer Disziplin der Mikro- oder Quantenphysik, ist im zwanzigsten Jahrhundert zu der Einsicht gelangt, dass die einst moderne makrophysikalische Annahme kontinuierlich identifizierbarer Objekte und ihrer Formen ein Kompromiss unserer Erkenntnistheorie ist. Es sieht zwar unter bestimmten Annahmen so aus, als hätten wir es mit dauerhaften Dingen und statischen Formen zu tun, und in einer bestimmten technischen Dimension lässt sich mit dieser Annahme sehr erfolgreich arbeiten. Dieser Erfolg hat uns nur die Fragen danach verstellt, womit wir es in einer grundlegenderen Wirklichkeit zu tun haben. Diese Fragen drängen sich freilich schon da sehr handfest auf, wo Technik auf der Basis unserer Konventionen nicht mehr funktioniert oder, entscheidender noch, wo sie so in die komplexeren und anders gearteten Bewegungsmuster der Natur störend oder zerstörend eingreift. Der Vermittlungsbereich der sogenannten Bionik wird immer stärker gefordert, Technik nach Bio-Logik zu entwickeln. Wenn wir die Forschung beobachten, ob es um Experimente der Aerodynamik, der Leichtbaukonstruktionen oder auch Organisationsstrategien sogenannter »lebender Systeme« geht, die Methode der Erforschung ist nicht, von abstrakt formulierten Gesetzen spekulativ Konstrukte abzuleiten. Vielmehr beobachten die Wissenschaftler mit bestimmten Messinstrumenten, zweifellos auch das, und mit ihren Sinnen Naturvorgänge, um sie auf technische Aufgabenstellungen zu 44 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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übertragen. Das bedeutet, dass hier mimetisch gearbeitet wird. Damit ist, einmal mehr, nicht bloß gemeint, dass die Lösungen Vorbilder in der Natur nachahmen, wie das etwa bei der Statik von Frei Otto der Fall ist. Vielmehr ist es die Kunst der Wahrnehmung, die hier mit Einbildungsvermögen ins Spiel gebracht wird, um die Probleme anders als im Raster der Erkenntniskonventionen zu begreifen. Genau darin gehen, in vielen glücklicheren Fällen, die Künste voraus, indem sie andere Ordnungstypen zu denken wagen und Muster von Beziehungen entwerfen, deren Leistung radikal andere Parameter ins Spiel bringt. In dem allgemeinen Spannungsfeld zwischen den Zielen der Erkenntnis von Präzision einerseits und Relevanz andererseits, das die Wissenschaften allzu oft und immer öfter durch Fixierung auf Präzision aufzulösen drohen, ist es Aufgabe der Künste, für die Wahrnehmung der Relevanz zu sorgen. Genau dies meint Alexander von Humboldt, indem er von der Naturwissenschaft Genussfähigkeit fordert, um ihre systematisch-exakte Arbeit fruchtbar zu machen, indem sie ihrem Gegenüber mitlebend Angemessenheit entgegenbringt. Ich schlage vor, in den Flügen der Stare die Aufgabe wahrzunehmen, unser auf Systeme verengtes Bewusstsein zu weiten für Ordnungen, die nicht operationell geplant und nicht auf Faktenbasis rekonstruiert werden können, weil das ordnungshafte Moment sich nur im jeweiligen Vorgang der Ereignisse manifestiert. Es kann nicht auf Visuelles reduziert werden. Es lässt sich deshalb nicht in Abbilder fixieren, so, wie Ligetis »San Francisco Polyphony« nur völlig unangemessen auf die Regeln einer Harmonielehre abgebildet werden kann. Das Ordnungshafte haftet der Bewegung an, die Berührung wird und Beziehung ausdrückt, nicht ihrem Ergebnis. Wie reizvoll wäre es, meine Erlebnisse und Erfahrungen mit dem Gehör fortzusetzen an dem, was ich erlebe, wenn ich dem Strom der Stare am Berliner Dom vorbei bis zu den Bäumen des Platzes folge. Für mich hört sich bis jetzt immer noch ihr Gezwitscher an wie das Einfallen und Aufflattern und Stillsitzen und Baumwechseln und Weiterschnattern der tausende von Vögeln im Laub der Kastanien und Linden. Es ist mir ein lebhaftes, sagen wir ruhig, überwältigend lebhaftes Geschwätz, aus dem die Vögel klüger werden als ich. Vom Gesang der Stare und ihren Sprachen zu reden, ist Berufeneren anvertraut. Darum will ich einigen Grundfragen nachgehen, die mir das Ordnungshafte, das Ordnungsträchtige in der Natur und vielleicht ähnlich in den Künsten genauer in den Blick rücken. 45 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Seit meinen Studien in der Embryologie frage ich mich, wie die Grundform aller Bewegungen des Lebenden so vielfältig betrachtet werden kann, dass die elementaren Vorgänge des Ästhetischen ihre besonderen Verwandtschaften mit der Peristaltik zu erkennen geben: Einatmen und Ausatmen, sich Zusammenziehen und Ausgreifen, Weitung und Verengung, Zartheit und Wildheit, Lautwerden und Stille, Lauschen und Schreien, Beschleunigung und Verlangsamung, Versenkung und Ekstase, Hingabe und Einwirkung, Abwarten und Loslegen, Zugreifen und Tasten. Wir erkennen an unseren Assoziationen bei all diesen Regungen der Seele, der Sinne, der Energien, wie verbunden Kampf und Liebesspiel, Wahrnehmung und Schaffenskraft im Grunde sind, und fragen ebenso, wie die Wirkungen und Gestimmtheiten zu allen ihren Unterschieden finden. Seit ich in Goethes Naturwissenschaft eine Einführung in das Betrachten des Lebens auf elementare Züge gefunden habe, begreife ich die Begriffspaare der Peristaltik als Bezeichnungen polarer Spannungsfelder und finde ebenso viele Abwandlungen eines Prinzips der Steigerung, zu dem ich aber auch ein Prinzip der Dämpfung als Gegenwirkung am Werk sehe. Ich frage mich darüber hinaus, wie diese zweiseitigen Deutungen sich verhalten im Hinblick auf die altindische Energienlehre, die vom Zusammenspiel dreier Grundrichtungen ausgeht: von Energien, die bewahren und zum Aufblühen drängen, solchen, die vorantreiben und zerstören, und solchen, die dämpfen und ersticken. Dabei sind immer diese drei Pole, drei Grundrichtungen miteinander im Spiel. Wirklichkeit kommt zustande durch die jeweiligen Wirkungen der einen dieser Energien auf die anderen. Die Gesetze der Physik oder Verhaltensforschung bilden solche Wirklichkeiten relativ grob ab unter den Vorgaben bestimmter Erkenntnisziele und Erfassungsmethoden. Ottmar Ette gibt uns nun die Methoden der Naturwissenschaften von Alexander von Humboldt so zu verstehen, dass sie gleichermaßen das Wissen durch Messung und verallgemeinernden Vergleich hervorbringen, wie sie eben auch selber die Sinnen- und Sinnwelt der Künste in ihre Beschäftigung mit dem Gegenüber hereinziehen. Besonders eindrucksvoll wird dies, wo die »Ansichten der Natur« nicht, wie in den westlich modernen Zivilisationen vorherrschend, sich im Visuellen abspielen, sondern ein Hörbild entsteht in der Aufmerksamkeit etwa auf »das nächtliche Thierleben im Urwald«. Humboldts »Wissenschaft als Genuss« bildet eine Dramaturgie 46 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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des Erwachens des Gehörs aus bis hin dazu, dass er von einem Geräusch vollkommen beherrscht wird. Einzelne Stimmen wechseln mit der Fülle der vielen. Die Klänge haben wechselnde Gestimmtheiten der Klage, der Abwehr, des Wohlseins, der Bedrohung, des Schmerzes und der Angst, der Ausgelassenheit. Sie bewirken in uns entsprechende Stimmungen. Aber sie lösen in uns Grundhaltungen aus, schon wenn wir »in die scheinbare Stille lauschen« und die schwächsten Töne »unsere ganze Aufmerksamkeit« wecken. Das Moment der Zeit erfährt entscheidende Verwandlungen in der Konzentration auf die Tageszeiten. Aber auch, wie wir uns in den Wechsel von Dauern gezogen sehen, die Musiker gebrauchen ja das Wort im Plural. Dies zu vergegenwärtigen, hebt eine andere Schicht unserer eigenen Existenz und ihrer Beziehungen zur Welt mit uns hervor. Aus dem Wechsel der Klangorte und im Hin und Wider bildet sich, sagt Ette in »Weltbewußtsein«, ein »Klangtext«. Während das Ästhetische hier zum Medium der Wissenschaft wird, öffnen sich zugleich die Vorstellungen einer Ästhetik der Künste zu elementareren Beziehungen. Exemplarisch, wie Klänge und Geräusche, Töne und Laute bei Humboldt, insgesamt und einander antwortend wie anregend, zum Ausdruck werden für das »Zusammenwirken der Kräfte«, das ihm doch die erste »Naturwahrheit« ist. Das entdeckt inzwischen auch die Musik. Dabei ist gerade nicht an Programmmusik der Natur zu denken. Was wir vernehmen wird nicht abgebildet auf etwas, das wir kennen oder das wir im Kopf haben. Umgekehrt sind Natur und Musik verwandt, wenn Handlungen hörbar, Klang werden und andererseits Klänge als Handlungen verstanden werden, als Impulse, als Manifestationen unterschiedlicher Energierichtungen und -formen. Zugleich betont Ette auch die Abgrenzung der Natureindrücke gegenüber der Kunst durch das Moment der menschlich bewussten Setzung als »Rahmenbedingung der Verwandlung von Natur in Kunst«, die Humboldt vornimmt. Wenn er die Schilderung einer Höhle mit dem Blick in ihre dunklen Tiefen beginnen, ein andermal mit dem Blick in die Klarheit des Tages draußen enden lässt, wird das Höhlengeschehen einmal zum Einblick in Unergründliches, dann aber zum Ausblick ins Fassbare. Solche Setzung ist zugleich wieder Auseinandersetzung mit der ablaufenden Zeit, aus der wir in eine Eigenzeit der Kunst übertreten, in die wir dann wieder eintreten. Entscheidend ist 47 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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dabei, dass mit diesen Setzungen, diesen Übertritten über die Schwelle der Seinsweisen, nicht jeweils alles ganz anders ist, sondern wir allem anders begegnen. In der Musik darf dann das Geräusch sein eigenes Ereignis sein, statt Signal oder Begleiterscheinung zweckgebundener Vorgänge, wie die Stare am Himmel uns Anderes mitteilen können als den Nutzen von Exerzierübungen für den Zug in ferne Länder. Diese Zusammenhänge und ihre besonderen Scheidelinien werden noch einmal weiter Beleuchtung erfahren, wenn wir sie von der unendlichen Geschichte der Deutungen des Vogelflugs als Orakel und Ausdruck kosmischer Vorgänge untersuchen können.

§ Während ich auf der Friedrichsbrücke den großen Starenzügen am Himmel folgte, kamen diese winzigen Mücken, deren Gewimmel vor meinen Augen ich so gut seit meiner Sitzübung auf dem Dach am Assi Ghat über der Ganga kenne, und hüllten mich ein in ihren Kokon von endlosen Bewegungen. Nun saß ich auf dem Rasen der Museumsinsel und hörte den Musikern zu, die den Lauten der Stare drüben in den Kastanien Antwort und Hintergrund gaben. Dabei schweifte immer wieder der Blick nach allen Richtungen des Himmels, aus denen wir den Flug der Vögel erwarteten. Statt ihrer waren plötzlich wieder diese Mücken da. Ein Schwarm, der sich in sich selbst bewegt. Unmittelbar vor mir. Und er blieb vor mir. Ein Windstoß weht ihn weg – und kurz darauf ist er wieder da. Vor mir. Ich habe gelegentlich auch hier oder da neben mir einen solchen Schwarm gesehen; aber ganz wenige und immer an wechselnden Stellen. Mein Schwarm bleibt bei mir. Im ersten Augenblick hatte ich noch den alten Reflex, das Gewimmel lästig zu finden und mit einer Handbewegung wegzuschicken. Aber ganz schnell kam die Erinnerung wieder. Die Ruhe in solcher Bewegung. Jetzt tut sie wohl. Beim nächsten Windstoß schon fehlt sie mir. Doch nicht länger als diesen Atemzug. Dann sind sie zurück. Und ich bin nun sicher, sie sind zurück bei mir. Die Vorstellung liegt nahe, dass sie meine Antwort der Ruhe auf ihre Bewegung spüren. Das schwingende Muster, das uns verbindet. Ich schaue immer wieder in diesen Kosmos, der öfter ein neuer ist, als meine Augen wahrnehmen können, und der gleiche bleibt, sich und dem Muster in Verwandlung treu. Da ereilt mich ein lustiger Gedanke. Der Schwarm der Mücken ist mein Tod, der sich mir zeigt von Zeit zu 48 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Die Stare am Himmel über Berlin

Zeit und mich begleitet. Er gefällt mir ungemein. Die Inder sagen, wir kehren am Ende des Lebens zurück wie ein Wassertropfen ins Meer, dort bei der Mündung der Ganga. Bewegung in dem großen sich bewegenden Miteinander, Umeinander zu sein, gefällt mir noch besser. Die Evolutionen der großen Starenschwärme wirken in mir auf eine Weise, die ebenso unweigerlich wie beunruhigend rätselhaft, ebenso erregend ist, wie sie eine noch unerklärliche, undeutliche, unterschwellig erregende Begeisterung weckt. Während ich wieder einmal schauend in dem grandiosen Spiel der Wendungen und Flüge all der tausende von kleinen Vögeln verschwinde, habe ich plötzlich, was mich da hat. Die unzählbar vielen Bewegungen einzelner Tiere, dazu in der wundersam tragenden Luft, bilden eben so viele Gegensätze zu der großen gemeinsamen Bewegung, die aus ihnen sich bildet. Dieses Geschehen begeistert mich; die Wunder der Bezogenheit. So erregend ist die gleichzeitige Spannung. Ich nehme alle diese Gegenbewegungen der Einzelnen zu ihrem Ganzen wahr, ohne sie eigentlich sehen zu können. Zu viele in viel zu schnellem Wechsel. In der Schicht des die Bewegungen aufnehmend begleitenden Bewegungssinnes bin ich aufgefordert, sie alle in mir mitzuvollziehen, und scheitere daran, dem irgendwie bewusst zu folgen, sie deutlicher auf einander zu beziehen und der Entstehung der jeweiligen Ordnung, die alle verbindet, zu folgen. Nur die alte Figur des ciar oscuro oder der Leibniz’schen petites perceptions … Warum hat sich mir das gerade aus einer Videoaufnahme vom Starenflug aufgetan?

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BEI DEN KRANICHEN IM LINUMER BRUCH

Mit Hans-Peter Dürr »Am Grunde der Materie ist nicht Materie, sondern Form.« Dieser Satz fasst in einfache Worte des gemeinen Denkens zusammen, was aus den Erkenntnissen der Quantenphysik folgt. Als ich ihn vor wahrscheinlich zwei Jahrzehnten zum ersten Mal hörte, war ich doppelt in Bewegung gesetzt. Er schien mir auf westlich wissenschaftliche Weise die Grundauffassung der Hindu-Tradition von der Welt auszusprechen, jedenfalls wenn man seiner Bedeutung klar genug nachgeht. Wenn man deren Formel in europäische Sprachen übersetzt, wird sie aber bei uns leicht als metaphysische Spekulation missverstanden: Die Welt ist eine manifeste und sie ist eine nicht manifeste zugleich. Die kernphysikalische, die mikrophysikalische Aussage stellt sich nicht als weltanschauliche Überzeugung dar, sondern als Kommentar zu einer tatsächlichen Feststellung, die mit Materie einfach das Greifbar-Messbare meint. Die Einsicht in den Doppelcharakter der Welt könnte und sollte unsere Beziehungen zur Welt verändern. Sie könnte wenigstens die Fixiertheit europäischen Denkens und Handelns auf das Feste öffnen für ein Bewusstsein grundlegenderer Seinsweisen. Diese Hoffnung wird immer wieder enttäuscht – zuletzt durch die widersinnig konkretistische Interpretation der Genforschung, als ob die Funktion »Gen« mit einem DNA-Partikel identifiziert werden dürfte. Die Hoffnung, dass wir die Primitivität der Vorstellung von kleinsten Bausteinen alles Existierenden überwinden würden, erhielt dagegen in dem Satz von Hans-Peter Dürr und seiner Vorgeschichte in der Heisenbergschen Forschung einen entscheidenden Ausgangspunkt. Gleichzeitig beunruhigte mich die Formulierung empfindlich. Zunächst sah ich in jenem Gespräch die öffnende Erkenntnis, die wichtige, genauer zu verfolgende Linie. Doch schon bald meldete ich meine Bedenken gegen den Begriff an, den Dürr dem der Materie entgegensetz50 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Bei den Kranichen im Linumer Bruch

te. Form war mir, im Verständnis unserer Traditionen seit der griechisch antiken Aufklärung, zu statisch, um das Andere zu Materie ausdrücken zu können. Dieses Gespräch wurde zum Beginn einer langen Freundschaft. Die Frage, wie diese andere Seite genannt werden sollte, ist immer wieder aufgetaucht. Sie hat immer neue Versuche hervorgebracht und ist keineswegs abgeschlossen. Immer deutlicher ist geworden, wie schwer uns die vorherrschenden modernen Denkformen – und eben schon ihre einflussreichsten Vorläufer – es uns machen, in diese andere Seite anders hineinzudenken als mit Vorstellungen und Begriffen, die alles Fließende zum Gerinnen bringen. Selbst die Worte unserer Umgangssprachen, im Englischen noch kategorischer als z. B. im Deutschen, sind auf Feststellung getrimmt. Unsere Grammatik stellt ein Arsenal von Strategien zur Verfügung, Wirkungen, Tätigkeiten, Weisen des Sich-Ereignens zur Kristallisierung zu bringen. Und der neuere Sprachgebrauch fordert gerade diese; am deutlichsten zu erkennen darin, wie alle möglichen Vorgänge in Substantive gebracht werden und als »Hauptworte« dann unverrückbare Tatsachen behaupten. Was könnte am Grunde der Materie sein? Nein, so kommt man bestimmt nicht weiter. »Was« richtet die Suche sofort auf etwas, auf etwas Gegenständliches. »Sein« weckt im westlichen Gemüt die Begierde, etwas Verlässliches zu packen zu kriegen, und Verlässlichkeit wird immer im Festen gesucht. Es geht jedoch um den Fluss der Dinge in ihrem unaufhörlichen Wandel. Als erstes habe ich gefragt, ob nicht Bewegung gemeint sei. Ich dachte dabei an Kräfte, aber in ihrem Wirken; an Dynamik, aber nicht in den Termini der klassischen Physik und ihren Mechanismen und Messungen. Dann war natürlich klar, dass jedenfalls aber diese Bewegung irgendwie Ordnung haben muss. »Geordnete Bewegung« wäre auf nicht so viel Anderes hinausgelaufen als »Form« – zumindest so lange, wie wir bei dem Wort Ordnung an ein Muster denken, das definitiv dargestellt werden kann, also wiederum etwas Geordnetes vorstellt. Zwischenphasen meiner Überlegungen und Vorschläge sind durch die Worte »ordnungshaft«, später, schon besser, »ordnungsträchtig« gekennzeichnet. Nun haben wir uns wieder zu dieser Frage getroffen, nachdem der Begriff »Form« bei vielen Wissenschaftlern die Aufforderung provoziert hat, Dürr solle doch dann die Form oder die Formen benennen, die er da vermute. Genau davor hatte ich ihn bewahren wollen, und nun war er empört. 51 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Als wir erneut einander gegenübersaßen, hatte ich noch immer keine Formel, die ich hätte vorschlagen können. Ich musste einfach von den Kranichschwärmen und unseren Beobachtungen im Linumer Bruch erzählen, jenen Wiesen und Auen im Norden von Berlin. Das ist kein Ersatz für einen neuen sprachlichen Vorschlag. Ich ziehe mit dem, was da zwischen den Vögeln sich bildet, nur eine weitere, allerdings wunderbar anschauliche Ahnung in die fortgesetzten Überlegungen. Wer eine Landkarte braucht, wird von Ahnungen eher verwirrt. Wenn wir allerdings wissen, dass wir ohnehin nicht absehbar ein Ziel erreichen werden, kann, was wir ahnen und wie es uns einstimmt, den Gestus unserer Bemühungen geeigneter machen.

Im Linumer Bruch In einem Film über Schwärme greift Ottmar Gendera meine Beobachtungen der Mauersegler und der Stare auf. Zu Aufnahmen sind wir zu den Kranichen im Linumer Bruch bei Fehrberlin gewesen. Diese großartigen, vornehm eindrucksvollen Vögel hatte ich im Leben nur bei seltenen Gelegenheiten erlebt, wenn sie hoch am Himmel über uns und eine Landschaft ziehen. Ja, eben Zugvögel. Meine Assoziationen waren helle heisere Schreie und Dreiecksformationen. Was mich an Staren und Mauerseglern so ungemein angezogen und dann so nachhaltig beschäftigt hat, waren aber – und bleiben – die unvorstellbar mannigfaltigen Bewegungen der Schwärme. Ich setzte sie fast in Gegensatz zu den Gänsen und Kranichen, deren Flug für mich mit dem Bild ihrer fernhin strebenden Züge verbunden war. Gerade daran gab es Entscheidendes zu lernen. Die Wahrnehmung hat die Vorstellungen umgekehrt. Auf ihren Wegen von den Schlafplätzen zu den Wiesen, auf denen sie äsend den Tag verbringen, und wenn sie am Abend wieder zurückkehren, tummeln sich die großen Vögel, ich meine, ganz ähnlich wie die Schwärme und kleinen Abteilungen der vergleichsweise winzigen Stare. Während des Tages fliegen sie immer wieder einmal zu hunderten oder tausenden aus den Wiesen auf. Dann gehen sie nicht vom streichend rauschenden Abheben über ins Aufwärts, mit dem sie große Höhen erreichen. Sie fliegen nicht ab in eine nähere oder entferntere Richtung. Sie tummeln sich in den Lüften, wie wir es bei den Staren erleben. In all den Erprobungen zwischen Gleiten und Fallen, Wenden 52 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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und Kreisen sind die Vögel im Spiel mit sich selbst, mit den Beziehungen und Abständen zueinander und mit der sie tragenden wie hemmenden und in ihre Wirbel ziehenden Luft. Mit den Aufwinden und gegen sie lassen sie sich sinken oder heben. Seitliche Luftströmungen nehmen sie auf, indem sie sich ihnen anvertrauen oder sie sich zum reizvollen Widerstand wählen. De revolutionibus avium. Es ist ein Studium der Himmelsbewegungen der Vögel und ihrer Schwärme oder Völker, wie das der Sterne. Nur geht es gerade nicht um die Hoffnung der Astronomen, immer gleiche, also berechenbare Bahnen aus exakten Messungen zu ermitteln und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, auf Grund derer zukünftige Stände vorausgesagt werden könnten. Einer ganz anderen Art von Ordnungen sind wir, beobachtend, auf der Spur. Wir suchen kein, wie immer nur scheinbar, festes Schema, auf das wir die Folge unserer Wahrnehmungen reduzieren könnten. Im Gegenteil. Das Luftspiel der Kraniche, bald ruhig, bald heiter, bald fast wild zu nennen, löst die drollig einfältige Assoziation von der Keilformation auf. Die großen Zugvögel, Gänse hier und Kraniche, sind nicht eindeutiger auf das Dreieck, das wir so oft am Himmel mit den Blicken verfolgen, programmiert als die kleinen gefiederten Tiere. Ein Dreieck ist eine Abstraktion, die wir, als eben ideologische Beobachter, in unserem Kopf vorrätig haben. Das heißt, wir projizieren bestimmte menschliche Ideen in das Geschehen. Es gibt keine Dreiecke. Dreieck oder Kreis oder Gerade ist der gedanklich kleinste gemeinsame Nenner, auf den wir die Mannigfaltigkeit unserer Eindrücke vereinfachen, um sie mit einander vergleichen zu können. Die Kraniche haben kein Gen, das sie in den Dreiecksflug steuert, keinen Dreiecksinstinkt oder Ähnliches. Unter den Bedingungen eines Zuges, bei dem es gilt, Entfernungen zu überwinden, ergibt sich, dass jeder einzelne Vogel in dieser Art von Miteinander am glücklichsten seinen Flug entfalten kann. »Der Hintermann fliegt jeweils im Aufwind des Randwirbelfeldes des Vordermannes«, sagt Alexandra Trencséni in ihrem »Vogelzug«. Der Keil ist eine Grenzsituation ihres erprobenden Spiels. Seine Ähnlichkeit mit einer offensichtlichen Form berechtigt uns zu keinerlei ontologischer Annahme. Die ginge, erstens, nicht von den Vorgängen aus, die in dieser Form resultieren, sondern vom Resultat, und, zweitens, identifiziert sie differenzierte wirkliche Konfigurationen mit einer Idee, einer bloßen Projektion unserer Spekulationen. Der Vergleich mit einem Dreieck kann, anders, aber durchaus interessant sein. Bedingung ist, dass wir unsere Idee dabei nicht zur 53 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Norm machen. Das wäre dann der Fall, wenn wir sagen, die Vögel würden freilich ein sehr unvollkommenes Dreieck bilden. Sie würden auch gar nicht fähig sein, eine ordentliche Form tatsächlich einzuhalten. Wenn wir ihre Bewegungen gelegentlichen Ausscherens und sich wieder Eingliederns, wenn wir die Abweichungen, mit denen sie einander abwechseln an bestimmten Stellen des Zuges, ein Oszillieren nennen, stellt sich ebenso die Frage der Bewertung. Von der reinen Idee ausgehend werden Oszillationen als Verletzung, als Störung beurteilt. Das wäre sehr unproduktiv. Begreifen wir andererseits das Oszillieren als den produktiven Vorgang, wird ein interessanter Vergleich zwischen der lebendigen Wirklichkeit, die unendlich vielfältig auf unendlich sich verändernde Bedingungen zu antworten vermag, mit dem starren Hilfsmittel einer Abstraktion vorgenommen. So tritt eben diese Leistung wunderbar hervor. Das Unregelmäßige ist nicht die Verfehlung der Regel. Regeln haben wir allenfalls daraus zu erraten, wie die mannigfaltigen Erscheinungen aus verwandten Wirkungen und Bedingungen sich bilden mögen. Das ist, was ich zu der Forschungsfrage der Physik und ihrer immer noch offenen Formulierung beizutragen habe. Hans-Peter Dürr fasst diesen Gedanken in einen grundlegenden, neue Richtungen weisenden Satz zusammen: Die Formen, die wir in dem Keil der Kraniche fließend ungefähr, in mancher Sandwelle oder den Kristallen genau verkörpert registrieren, sind gerade nicht, was wir Ordnung nennen sollten; sie können als Regelmäßigkeit begriffen werden. Damit ist der Begriff Ordnung freigegeben und darf nicht länger verwechselt werden mit Rastern, extrapolierten Schemata usw. Ich möchte sie als Wirkkraft verstehen, also als genau jenes Zusammenspiel, das den Seiten dieses Spiels immer neu erlaubt, in Resonanz mit einander spontan Muster zu bilden. Was die identische Wiederholung des Regelrechten stört, regt gerade die Umbildungen der Ordnungen an. Dass diese Gedanken nun deutlicher werden, indem wir gerade die Kraniche zu beschreiben versuchen, hängt nicht allein mit deren scheinbar offensichtlicher Flugordnung zusammen. Diese großen Vögel wecken unsere Wahrnehmung auf eigene Weise. Wenn sie weit dahinziehen, jeder für sich fast zur Silhouette werdend, wirken sie wie gelassen fliegende Pfeile. Nur sind am Ende des Leibes die langen Beine leicht nach unten gesenkt, ebenso nach vorn die schmalen, schön gebogenen Hälse. Wenn aber die unteren Lüfte über den Wiesen zum Tum54 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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melplatz werden, spielen die ausladenden Schwingen, das Gewicht des gefiederten Rumpfes und irgendwie auch die langen staksigen Beine auf hundert verschiedene Weisen zusammen. Man bekommt beim Hinschauen eine Vorstellung von einem doch beachtlichen Gewicht der Vögel. Daran entwickelt die sinnliche Einbildungskraft hunderte von Empfindungen, wie da im Gleiten eine Wendung, ein Flügelschlag nach dieser oder einer anderen Seite, wie da ein Senken oder ein Recken des Kopfes immer neue Balancen zu finden verlangt und erlaubt. Bei den Kranichen spüren wir nicht nur die große Bewegung des Schwarms durch unsere eigenen Glieder ziehen, während unsere Augen seinen Evolutionen folgen, unsere Köpfe sich hinwenden und wieder her. Schon das einzelne Tier gewinnt solche Aufmerksamkeit unserer Sinne, bis hin zur Bereitschaft, zur Sehnsucht, in solches Spiel einzutauchen. Diese Empathie hebt uns mit ihnen empor, lässt uns eilend auf den Lüften ruhen, taumelnd wieder zum Boden kommen. So geschieht, was in der Beobachtung der kleinen Vögel kaum sich uns zeigt. Die Luft, die wir nicht sehen können, wird spürbar. Als tragende, als Widerstand in immer neuen Wendungen begegnet sie den Schwingen und dann wieder mehr dem Rumpf. Fischschwärme sind so anders zu beobachten als die Stare oder die Mauersegler, weil wir das Wasser sehen und seinen Widerstand wie seine Strömungen und Strudel, die wir selber schwimmend erleben können. An der uns verwandteren Schwere der Kraniche kann eine Wahrnehmung der Luft, als das Element ihrer Bewegungen, wenigstens Ahnungen in uns wecken. Paul Valéry hat erlebt und schildert, in »Eupalinos«, wie »die Qualle zum Ausdruck des Wassers wird, in dem sich bewegend sie entstanden ist und lebt«. An den Bewegungen der Kraniche ist die Schwere der Leiber zu spüren. Sie bestimmt nicht das Spiel der Glieder und Federn. Aber Schwere ist so im Spiel, dass wir eher als bei Staren oder Mauerseglern, mit deren Gewicht von ein paar zig Gramm, erleben, wie wir mitvollziehen, was wir sehend beobachten. So wird der Widerstand zum Thema. Wie die großen Vögel gegen die Widerstände von Schwere und Luft tausend wechselnde Balancen hinwerfen wie einen Ball, um ihn ebenso schön wieder zu fangen, das ist königlich an diesen Tieren. So bringen sie den Widerstand der Luft gegen die Anziehungskraft der Erde ins Spiel. Widerstand und Spiel. Zwei verwandte Worte drängen sich auf. Widerstand, der nicht zu beseitigen ist, sondern aufzugreifen, fordert 55 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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angemessene Antwort. Wir haben ihn anzunehmen als Notwendigkeit. Spiel, das den Zufall aufnehmen muss und ins nie Dagewesene verwandeln darf, bedeutet, was in menschlicher Begrifflichkeit Freiheit genannt wird. Notwendigkeit mit Freiheit. Im evolutionären Einverständnis mit Schwere und Gegendruck und allem, was widersteht. Leben in dieses unaufhörliche Spiel zu wenden, das verdient, Freiheit zu heißen. Und eben genau so sagt Goethe, Schönheit in der Natur sei Notwendigkeit mit Freiheit. Frei so von Willkür wie auch von Determinismus. Deren Gegensatz ist ein analytischer, ein systematischer. Im Leben vermag das Neue den ältesten Gesetzmäßigkeiten zu gehorchen, und deren Geltung wendet sich ins Überraschende, nie zu Planende. In diesen Übergängen lebt Ordnung. Sie blüht auf am Regelmäßigen, das sie auflöst und in neue, ebenso flüchtig fließende Muster hinüberführt. Vielleicht sprechen wir darum eher bei großen Vögeln von einem Tanz. Bei Staren etwa habe ich solch einen Gedanken nie gehört. Ich meine auch nicht die schreitenden Balztänze, wie man sagt, der Kraniche am Boden. Gregory Batesons Wort vom Tanz der Kormorane geht mir nicht aus dem Sinn. Den hat er, in den Aufwinden über der Pazifikküste hinter dem Haus seiner letzten Jahre in Kalifornien, so begeistert erlebt, dass er seine Besucher einlud, sich diesem Schauspiel stundenlang hinzugeben, während fern auf dem Meer von Zeit zu Zeit die Fontäne eines Wals aus dem ruhigen Rhythmus der anrollenden Wellen aufstieg. Das Wort Tanz, das Bild, die Empfindung vom Tanz hat dann in dem Buch, das er dort schrieb, seinem letzten, seinen Entwurf für die Erfahrung des Kosmos im Kleinsten und im Größten angeregt. »Der Tanz der Chromosome«. »Der Tanz des Shiva«. Tanz wird zur Metapher für die absichtslosen Ordnungen, für Ordnungen, die nicht Muster sind, sondern Muster hervorbringen, nicht Gestalt sind, sondern zu gestalten erlauben. »Mind and Nature. A Necessary Unity«. Von den Chromosomen wie vom Gott Shiva und seiner Shakti haben wir keine Wahrnehmung. Wir haben Wissen vom Kleinsten und vom Größten, in den unterschiedlichsten Zugängen. Mikroskopische Beobachtung belehrt uns, wie wir das uns eigentlich Unsichtbare zu denken haben. Dankbarkeit für das große Wechselspiel der Zusammenhänge im Weltengang und bange Zuversicht, dass er weiter uns tragen und beleben möge, drücken sich in der Vision vom Nataraja aus, von Shivas Tanz im Kreise der Flammen, in dem er den Widersacher unterwirft, bis dessen Lächeln sich mit dem Tanz vereinigt.

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Ein Himmel voll Schneeflocken In einen Himmel voll Schneeflocken schaue ich. Das Grau der Wolken ist licht genug, dass sich das gräuliche Weiß der kleinen und größeren Flocken davor behaupten kann, für die Augenblicke, in denen sie hier auftauchen, taumeln sagen wir oder wirbeln. Eigentlich ist es nur ein Drehen im engsten oder erweiterten Luftraum, das unendlich vielfach und unentwegt sich abspielt. Keine regelrechte Ordnung. Aber Wirrnis ebenso wenig. Woran werde ich das zu untersuchen unternehmen? Irgendwie objektive, also anderweitig fixierte Parameter kann ich, jedenfalls zunächst, nicht erkennen. So halte ich mich an ein Organ des Menschen, das mir dafür zuständig zu sein scheint: das menschliche Gemüt. Meine, vielleicht nur erste, jedenfalls spontane Annäherung vertraue ich meiner Wahrnehmung an und dem Wissen, das mit ihr zusammen sich meldet. Mich berührt das Bewegungsgeschehen des Schneetreibens so, dass in meiner Gestimmtheit das Gefühl einer Ordnung anklingt. Wie kann ich dem nachgehen? Sofort drängt sich eine Vielfalt von Beachtungsmöglichkeiten auf. Ganz in der Nähe. In der eben noch erkennbaren Umgebung. In den unauslotbaren Tiefen, wo sich Schwärme wie Wolken in sich bewegen, wie Ströme im Ozean oder Tröpfchen im Nebel. Dabei wird mir als erstes bewusst, dass sicher entscheidend für meinen Eindruck die Beziehungen sind; Beziehungen zwischen dem Nahen, Einzelnen und dem Fernen, großen Ganzen. Wie diese dicke Flocke, in ihrem Sinken und Sich-Drehen zu den kleinen, ähnlich bewegten weißen Punkten um sie, zu anderen immer noch dick wirkenden und all den kleinen und immer kleiner erscheinenden und bis zu den Myriaden mikrobischen Gewimmels in ebenso vielen, augenblicklich sich verändernden Beziehungen ist – diese Flocke ist! Die nie aufzufassenden Myriaden, von denen nur einige tausende vielleicht als solche noch, sinkend, mir sichtbar werden, habe ich mir wie diese mir eben noch vor Augen schwebende Flocke zu denken. Und wie denke ich sie mir? Ich stelle mir Abbilder vor von der, die ich gerade ansehen kann – ohne freilich die Struktur ihrer Kristalle genauer zu erkennen. Ich denke mir dieses Wissen und die Erinnerung an solche Darstellungen oder Aufnahmen von Schneekristallen hinzu. Andererseits empfinde ich mich wie in Bewegung geratend gegenüber 57 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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diesem Getümmel. Ungewiss bleibt bei diesem Gefühl: Weiß ich mich in meinem Innern in einem verwandten Umeinander? Oder erfahre ich mich durch das Treiben gegenüber aufgefordert, mich als selber Teil dieses weiten Geschehens zu wissen? Diese Wahrnehmungen werden zu Bildern. Was ich sehe, bleibt in der Spannung zu dem Bild, das ich nicht sehe, sondern fühle. Und das mir eben auch eine große Ruhe mitteilt. Meine kaligraphischen Pinselarbeiten sind das Bedürfnis, solch ein gefühltes Bild einen sichtbaren Niederschlag finden zu lassen, durch mein Auge, meine Hand, den Pinsel, die Tinten, meine leiblichen Bewegungen. Gegen das Papier. Widerschein eines Inbildes. Versprechen von Möglichkeiten, die doch zur »Wahrheit der Natur« gehören, wie Alexander von Humboldt sagen würde. Die Wahrheit ist, dass solche Ordnungen nicht auf die Frage antworten, was da im Treiben und Drehen und Umeinander das Dauerhafte bleibt. Die Wahrheit ist in der Vergänglichkeit so gut wie im Auftauchen zu suchen. Sie gehört dem Wandel an, den wir mit unserem Wort Zeit anzuhalten oder wenigstens auf eine Wegstrecke zu bannen versuchen. Dabei ist genau dies Zeit. Eine Zeit, der wir beiwohnen, der wir innewohnen, die wir vielleicht erfahren, wenn wir denken »alle Lust will Ewigkeit«. Nur da wir Lust empfinden, Lust uns durchzieht, denken wir noch nicht an die Ewigkeit. Das kommt erst, wenn die Lust vorbeigeht. In der Lust sind wir mit der Ewigkeit und können sie nicht wollen und brauchen sie nicht zu wollen. Solchen Willen fahren zu lassen, dahin geleitet uns Lust. Lust sagt: Solange du dich fürchtest, die Zeit fahren zu lassen, verweigerst du dich der Ewigkeit. Wenn du Ewigkeit willst, willst du sie in der Zeit, über die du gebieten kannst. Lass es. Lasse dich. Dein Misstrauen ist es, das den Wandel zu deinem Feind macht. Schade vielleicht, dass Flocken so etwas nicht wissen. Aber sagen können sie es uns, wenn wir gerade einmal nicht auf unseren Ohren sitzen, sondern in die Bewegung horchen. Dafür ist das Vergehen der rechte Augenblick. Nie leuchtet Ewigkeit so stark auf zwischen der Welt und uns.

Wolken Wolkenbilder. Eine große Ausstellung. Bilder vom 17. bis zum gegenwärtigen Jahrhundert. Eine Geschichte zugleich der Wahrnehmung dieser Erscheinungen. Eine europäische Geschichte. Europäische Wahr58 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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nehmung. Bis in die Zeit der Ikonen und der Heiligenviten reicht sie nicht zurück. Wolken gehören hier zur Landschaftsmalerei, und seien diese Landschaften nur der Tatort von Seeschlachten und Reisen. Wenn, was wir sehen können, als Teile einer Realität betrachtet wird, dann sind, für diesen Blick, Wolken Gegenstände. Und genau so sind sie oft gemalt – Gegenstände mit eindeutigen Formen. Das Naive dieses Realismus ist da plötzlich verwandt dem naiven Realismus von Grany Smith oder den Straßenmalern am Montmartre. Ob die Wolken über den barocken Barkassen aussehen wie Federbetten oder doch eigene Himmelslandschaften bilden, ist da eine Frage der kunstvollen Hand, die den Pinsel führt. Kaum eines Auges, das die Sinne bewegt und seinem Gegenüber in den Biographien seiner Entstehung und seiner Verwandlungen nachgeht. Doch in Wirklichkeit steht es um die Formationen der Wolken wie um die der Zugvögel. Was wir mit Formen und Rissen festhalten, ist nur ein Zustand in der Folge unausgesetzter Veränderungen. Und auch dieser Zustand ist ein Resultat unserer, die Vorgänge anhaltenden Vorstellung. Es fehlt, was wir im Grenzfall jeden Augenblick sehen könnten, jedenfalls aber aus so vielen Anschauungen wissen und suchen müssten – eine Wolke ist die Familie von Myriaden Bewegungen. Wo wäre der Gegenstand, den wir uns vornehmen darzustellen? In den Kommentaren von Besuchern der Ausstellung taucht die Ahnung dieser Wirklichkeit auf: »Wolken sind Ikonen des Augenblicks.« Ikonen mit der Aura eines Ereignisses, das nicht nur heilig genannt werden sollte, wenn konsekrierte Heilige auftreten. Auch im Mittelalter ging es ja darum, dass sie Heilige sind, weil von ihnen eine Wirkung ausgeht, besser gesagt, durch sie sich vollzieht. Ikonen des Augenblicks. Das Wirken dauert in uns, wenn ein Bild es zur Erscheinung bringen kann. Der Zustand, in dem es dargestellt ist, war schon vergangen, hatte sich schon in die Auflösung seiner Gestalt zurückgezogen, ehe die Darstellung stattgefunden hat. Sind die Impressionisten dem glücklicher gerecht geworden? Ihre Darstellung ist selber aufgelöst in die verstreuten, ungleichen, überraschenden Momente, die erst unser Blick wieder zu einem Seerosenteich oder einer Sommerwiese werden lässt. Aber es sind doch einzeln gesetzte Farbstriche, Punkte desperater Farben im Pointillismus, also kleinste Gegenstände, die nur selber nicht Gegenstände unserer gewohnten Vorstellungen sind. Eher treten sie unserem Blick entgegen wie in einer Öffnung unter die Haut der bekannten, der scheinbar so 59 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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bekannten Erscheinungen. Da hast du die Atome, siehe sie selber zum Bilde zusammen. Die Auffassung ist eine der Wirkungen, die Darstellung eine der Dinge, wenn auch atomistisch zerlegt. Wo van Gogh Sonnen und Lüfte und Bäume uns im Kreisen der Farbpartikel suggeriert, sprechen wir schon von Expressionismus. Das heißt genau genommen, wie die Erscheinungen sich bewirken, kann nur im Ausdruck der Eindrücke Bild werden, mit denen sie in uns weiterwirken. Das ist unerhört, erregend. Aus hundert Ölbildern der »Brücke« schreit uns die Sehnsucht nach solchem Wahrnehmen an. Aber es ist diese Sehnsucht, die uns vor ihnen bewegt. Die Erscheinungen haben sich so weitgehend selber verflüchtigt, als aufgerissen wurde, worunter die Konventionen des Betrachtens, des Einordnens, des Bewertens sie vergraben hatten. Brancusi wusste das damals schon: »Es ist nicht schwierig, die Dinge zu machen, sondern sich in die Verfassung zu bringen, sie machen zu können.« Und Raimer Jochims fügt hinzu: »In der richtigen Verfassung wissen wir: Auch die Wasser sehen Gott (Altes Testament).« In diesem Alten Testament bedeutet, was wir mit sehen übersetzen, in die Wirkungen zu schauen und zu fragen, ob sie zusammenstimmen, ob Ordnung im Spiel ist. Sich in die Verfassung bringen, Heidegger sagte »Gestimmtheit«. Was bedeutet das? Nicht im Training von Muskeln und Gelenkigkeit erreichen wir das. Nicht im Erlernen eines Formenkanons. Auch nicht Versenkung in das Gegenüber, meine ich. Eher geht es darum, das alles wegzulassen – eine Übung, die allerdings selber meditativen Charakter annehmen dürfte. Das Gegenüber muss sich in uns einsenken können. Dann werden die Wolken, die wir malen, nicht mehr in den Formen auftreten, mit denen wir sie zu erfassen suchten. Das wolkige Geschehen wird seinen Widerhall in unserer Wahrnehmung und in unserem Empfinden wecken. Es wird nicht um graue Klumpen und zarte Schleier gehen; nicht um Kulissen, die etwas hinter ihnen verdecken. Wir werden dann bei dem unaufhörlich sich verschiebenden Mit- und Umeinander winzigster Wasserperlen sein. Was wir sehen, wird uns ahnen lassen, was wir nur fühlen können. Flüssiges im Übergang ins Reich der Gase. Wasser, vielleicht; aber Wasser, das sich verhält wie Luft. Ein Besucherkommentar, eigentlich ein Ausruf, der davon spricht, dass jemand diesen Übergang vor einigen Bildern erlebt hat: »fliegendes Wasser«. Die Formel wirkt wie ein Paradox. So gelingt uns oft noch am besten, die Transzendenz von einem Topos zu einem anderen, einem Begriff zu einem anderen auszudrücken oder eben davon 60 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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zu sprechen, dass etwas Festes, Feststellbares sich auflöst, ohne zu verschwinden. Am stärksten teilt ein solcher Eindruck sich mit vor den großen Arbeiten von Gerhard Richter. Ein Geschehen, das selber gar nicht sichtbar, fassbar sein kann, wird offenbar durch Verschiebungen, über deren Schleifspuren sich der Glast einer Mittagslandschaft unter der Sonnenglut bildet, oder eben die Nebel, die aus noch warmen Wiesen in die kalte Luft aufsteigen, als verdampften die Umrisse selber dieser Landschaft. Sicher wirken Richters Bilder am Ende des Rundgangs umso eher derart, als wir vorbereitet sind durch die Wolkenkunde der Bildungen und Umbildungen, wie sie Goethes meteorologische Metamorphosen lehren und die ihr verwandten Forschungen und Bilder wahrzunehmen, ja, auch zu denken geben. Untere, mittlere und höchste Wolkenbildungen. Die untersten lösen sich wieder auf zur Erde, in Nebeln, in Tau, oder sie steigen auf. Selber in mittlerer Höhe quellen sie empor. Manchmal schwimmen sie dann am Himmel als die Federbetten, an die wir dabei denken, türmen sich aber auf zu dem, was wir drolligerweise Wolkengebirge nennen. In den obersten Schichten sind die Wassertröpfchen, der Konsistenz von Gasen so nah, längst übergegangen in deren gefrorene Formen. Und doch ist ihnen allen, Stratus, Cummulus und Cirrus, gemeinsam, dass viel charakteristischer ist, was dort unaufhörlich geschieht, als die scheinbar festzuhaltenden Gestalten, die unsere Vorstellungswut gelegentlich zu Abbildern von Tieren, Köpfen und Schiffen machen will. Im Ganzen verschieben sich die Ballungen mit der Richtung eines Windes. Jede einzelne Partie verändert sich, manchmal heftig, meist kaum spürbar, ins Klumpigere oder, umgekehrt, verdünnt sich, franst aus, wird durchscheinend, überdeckt nun von anderen Partien und vielleicht in sie aufgenommen. Werner Hofmann hat eine fesselnde Geschichte des europäischen Blicks auf die Wolken in der Malerei der letzten Jahrhunderte, gerade aber auch auf ihren Zusammenhang skizziert mit dem philosophischen Verhältnis zur Form. Was in den Erwartungen und Betrachtungen selbst des immer bewegten Tanzes noch heute kaum angekommen ist, hat an den Wolken schon bei Autoren wie Edmund Burke prägende Wirkung gezeigt: Es geht um Form immer erst in zweiter Linie; sie ist, sozusagen, das Abgeleitete. Wenn die Eindrücke vom großen Geschehen feste Gestalt bekommen, die den Gesetzen einer kunstvollen Darstellung genügen, sind sie gemindert zur »kleinen Idee«. »A clear idea 61 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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is … another name for a little idea«, sagt Edmund Burke 1757. Was aber ist dann die große Idee? Wenn es denn überhaupt auf Idee ankommt. »Das Dunkle, Verworrene und Ungewisse ist mehrdeutig«, erläutert Hofmann. Genau an dieser Stelle zeigt sich, und keineswegs nur bei Burke, das Grundproblem abendländischer Weltansicht. Wo wir endlich einsehen, dass wir aufhören müssen, nach Abbildern zu suchen und unserem unbändigen Drang, Projektionen zu bestätigen, Einhalt zu gebieten, nehmen wir Zuflucht zur Metaphysik. Über den Maler Cozens, Zeitgenossen etwa von Burke, wird gesagt, er »beharrt als Wolkenprotokollant in der Formzone von Prozessen, die sich im Vorläufigen aufhalten, also aus der Sicht der Endformen verworren und ungewiss anmuten«. Von Diderot wird der Ausdruck »Bild des Chaos« zitiert. Zur nächsten Epoche heißt es dann: »Was Ruskin nüchtern, ›confusion between earth and air‹ nannte, vollzog Turners Pinsel mit einem großen, bald ausschweifenden, bald komprimierenden Gestus, der alle empirischen Dimensionen der Landschaft, ihre Diesseitigkeit, farbig verflüssigt.« Darin wird bereits mittelbar eine Jenseitigkeit beschworen, und die Zusammenfassung lautet bei Hofmann: »Das Privileg der Wolken, ihre Immaterialität.« Als habe die materiell sich darbietende Welt sie enttäuscht und beleidigt, suchen unsere Philosophen die Rettung im »Immateriellen«. Doch wieso immateriell? »Was sich nicht halten, nicht erreichen lässt«, wie Goethe sagt, enthält sich doch nicht des Materiellen überhaupt, es enthält sich nur seiner festen, greifbaren Erscheinungen, von denen wir gern glauben, dass sie so gut zu unseren Vorstellungen von Formen passen. Aus dem vermeintlichen Widerspruch zwischen dem offenbaren Ereignis und dem Unpassenden unserer klaren Formen ist bei Burke der Begriff und die Verehrung des Erhabenen entstanden. Dafür bedarf es aber keiner metaphysischen Hintergründe. Paul Valéry gibt in »Die Seele und der Tanz« eine sehr irdisch vernünftige Empfehlung: »… wollten wir nur aufhören, klar zu sein, um leicht zu werden«. Ein solcher »klarsichtiger Zuschauer« müsste aber geneigt werden, »die Freiheit seines Urteils in die Freiheit seiner Bewegung zu verwandeln«. In diesem Verständnis vom »Immateriellen« wird die Geschichte der Trennung, der Entgegensetzung von Materie und Geist neu aktualisiert, aus der folgt, dass alle Phänomene, die nicht materiell sind, quasi geistig sein müssen – und was »geistig« ist, kann nicht materiell sein. Ein Verkehr über diese Grenze ist nur durch Akte von höherer Instanz denkbar; sie heißen theologisch Transsubstantation, eben »die 62 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Wandlung« durch den katholischen Priester. Die frühe Abendmahlslehre der Consubstantation besagte noch, dass Brot und Wein zugleich und mit einander die bekannten Materien und die wunderbare Anwesenheit Christi bedeuten. Luther, in seinem Kampf gegen Wunderwirkmacht des Priesters, wollte zur alten Lehre zurück. Aber längst hatte Theologie verschmäht, Weltdeutung bis in Naturwissenschaft hinein zu sein, und ihrerseits Glaubensdogmen gegen empirische Erkenntnis gesetzt. Galilei war der Musterprozess. Auf den ist jetzt der Papst mit einer Entschuldigung der Kirche zurückgekommen. Aber ein Bemühen, die Wirkeinheit von fester Materie und letztlich nicht greifbarem Wirken der Natur wieder denken zu können, ist nicht bekannt geworden – außer von einigen kühnen Physikern, aber so viele andere wollen immer noch nicht den Anspruch auf die Einheitsformel aufgeben. Uns fällt ebenso schwer zu begreifen, dass das Wolkengeschehen, nicht in feste Formen zu fassen, dennoch ein materielles ist. Das liegt daran, dass wir erst recht nicht begreifen, was nun doch längst eine konsequente Quantenphysik analysiert: Auch das Feste, Geformte ist, bei aller Materialität, zugleich nichts als Geschehen, als Wirkung. Was die metaphysische Vorstellung immateriell nennt und in das Reich des »Erhabenen« überstellt, sind nur materiell nicht letztlich fassbare Wirkweisen, die aber sehr wohl am Materiellen und durch das Materielle und eben auch als Materielles wirken. Sie sind anderer Natur als das Feste, das Verortete, das Identifizierbare, aber eben durchaus Natur. Nichts ist natürlicher als sie, und nichts ist, das nicht, in der einen oder anderen Form oder in gar keiner, solches Wirken ist. Und wieder bleibt die Frage übrig, wie die Formen und das formlose Wirken miteinander vermittelt sind. Zweifellos ist da Ordnung im Spiel. Doch sie lässt sich benennen, beschreiben, analysieren, festhalten, abbilden nur an dem, was sie bewirkt, und vielleicht daran, wie sie dies oder jenes bewirkt. Nur im Nachhinein können wir von ihr wissen. Aus der Geschichte solcher Erfahrungen können wir sie im Voraus vermuten. Darin und daraus, dass wir selbst als ihr Wirken leben, können wir sie ahnen. Alles andere sind eben, wie Hans-Peter Dürr sagt, Regelmäßigkeiten, die uns auf Ordnung hinweisen. Dieses Wechselverhältnis können wir an den Wolken in Größenordnungen erfahren, die im Bereich der klassischen Physik und des uns Sichtbaren liegen. Wolken sehen oft wie kompakte Gebilde aus und segeln wie Schiffe am Himmel. Bei anderen Gelegenheiten oder, wenn wir lange genug auf zerstäubende Winde warten, können wir beobachten, wie sie in schüttere 63 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Schleier sich auflösen. Dann sehen wir, dass auch sie nur Nebel sind, dahingeweht oder verdichtet zum himmlischen Federbett. Und wir wissen, dass Nebel aus unzählbar vielen, winzigsten Tröpfchen von Wasser besteht. Wir haben, wenn sie besonders dicht sind und das Licht sie vor einem dunkleren Wald streift, diese Tröpfchen schon mit Augen wahrnehmen können. Das alles gehört selbstverständlich noch in die mikroskopische Sphäre. Aber es bildet eine Anschauung, die metaphorisch Vorstellungen von dem Wechselverhältnis gibt, in dem auch das nicht mehr Materielle in bestimmten Zuständen als Materie bestimmt wird. Wenigstens üben wir daran uns in dem, was unserem Gewahrwerden der Welt so grundsätzlich mangelt: Die Erscheinungen zugleich als Form und als ein Wirken wissen zu können. Die Farben des Regenbogens sind nicht Farbe, sondern im Ringen von »Licht und Finsternis«, wie Goethe sagt. Schnee ist Flockenkristalle, aber nur, weil die Nebel gefroren sind. Die Kraniche fliegen nicht im Dreieck; aber wer die Form des Dreiecks im Kopf hat, darf ihren Flug damit vergleichen. Aber er darf auch an die aerodynamischen Wirbel ihrer Flügelschläge denken, die die hinter einem Vogel Fliegenden in ihren Bewegungen befördern. Wir dürfen den Erscheinungsbildern und den materiellen Eigenschaften der physischen Welt im physischen Umgang mit ihr vertrauen wie uns selbst. Aber wir dürfen der Welt nicht solche Vorstellungen von ihr vorschreiben. Die Übung heißt, die Welt in Übergängen zu erfahren und entsprechend transparent zu wissen. Nicht zuletzt uns selbst als ebensolche Erscheinungen dieser Welt, die wir schon da sind, aber doch in Wirklichkeit als ein inneres Zusammenspiel von Wirkungen, in einem Zusammenspiel der Wechselwirkungen mit allem, was um uns, gegen uns, durch uns wirksam ist. Noch einmal Valéry: »Die Vernunft, manchmal scheint sie mir die Fähigkeit unserer Seele, nichts von unserem Körper zu begreifen.«

Bewegung der Steine Der Tanz führt uns bis in die Welt der Gegenstände, die wir so oft der klassischen Physik überantworten, weil wir nicht in ihre Situationen zu horchen versuchen. Adalbert Stifter hat eine Reihe von Studien hinterlassen, die sich mit Steinen am Boden befassen. Es sind Zeich64 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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nungen und Ölbilder, die in seinem Wiener Museum zu sehen sind. Er hat Steine gezeichnet, oder eben gemalt, die am Boden verstreut sind. Diese Studien können nicht mit Landschaften verwechselt werden, selbst wenn man bereit wäre, einen so kleinen Ausschnitt auf seine Weise eine Landschaft zu nennen. Es sind auch nicht Ausschnitte wie das »Rasenstück« von Albrecht Dürer. Kein Anflug von vivisektionistischer Untersuchung. Keine »nature morte«, kein »Stillleben«. Malerisch, zeichnerisch hat Stifter fast flüchtige Porträts von Situationen geschaffen. Und nicht liegende Steine porträtiert er, sondern das Liegen dieser Steine. Und schon ist dieses Liegen keine Starre mehr, sondern eine Bewegung, nur keine physikalisch erfasste. Er nennt zwei dieser Studien »Bewegung I« und »Bewegung II«. Ihn bewegt eine nicht greifbare Ordnung, die sich ihm mitteilt durch die Muster, die sie mit diesen Steinen und ihrem Liegen bildet. »Gott träumt im Stein, erwacht im Tier und wird bewusst im Menschen«, sagt eine Formel, die sich an Auffassungen der Hindu anlehnt. Traum ist vielleicht nicht ein gutes Bild; vor allem nicht, wenn wir es, wie in dieser Formel nahegelegt, als Vorstufe zum wachen Bewusstsein verstehen. Wir brauchen die Vorstellung einer Anderwelt zum Mittagslicht rationaler Erkenntnis. Ein geeigneteres Bild wären die Übergänge unserer inneren Bewegungen – des Blutes und des Atems und all unserer Kreisläufe – in äußerlich manifeste Bewegungen. Ganz in unserem Atmen gehen wir ins Einsinken zurück und mit in die Weitung. Weitung zunächst im Leibraum, dann mit den Häuten hinaus, bis wir die Bewegung auch von außen sich abzeichnen sehen. Wenn wir dabei mit gelassen frei hängenden Armen stehen, können wir langsam die Weitung des Atems in die Arme übergehen lassen, bis sie zu den Seiten sich heben: ein bewegtes Bild des eben noch nur innerlich zu Spürenden. Stifter lässt uns diese Folge der Wahrnehmungen umkehren. Das Miteinander der Steine auf seinen Leinwänden und Papieren gibt er uns so spürbar zu sehen, dass in uns die im Strich ruhende Bewegung erwacht. Hat sich der Gegenstand unserer Beobachtungen vom Fleck gerührt? Diese Frage kann ablenken von der Aufmerksamkeit, der sich mitteilt, wie der sichtbar ruhende in Beziehungen ist. Wie dieser Stein recht liegt, dieser andere auf einer seiner Seiten, die nicht zum Aufliegen taugt. So hat sich Raimer Jochims den Steinen zugewandt, den in einem Bachbett gerollten und mit einer mineralischen Kruste überzogenen wie den von Menschen gesetzten und aufgerichteten der Menirfelder in der Bretagne und anderswo. 65 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Ich selber verbinde mit diesen Beobachtungen eine Erfahrung in den Wäldern hinter dem Schloss Crottorf, die man wohl am besten wieder mit dem Wort meditativ charakterisiert. Nur an Meditation hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich freute mich an der Sonne eines strahlenden Oktobertages, der so strahlend nur sein konnte, weil auf den Bäumen über der Talwiese das gelbbraune Laub das Licht mächtig und milde erwiderte. Ich habe immer an solchen Herbsttagen die Empfindung, dass die Bäume einen ganzen Sommer lang Sonne in vollen Zügen in sich aufgesogen haben und nun sie ihrerseits verströmen können. Das geschieht sogar an verhangenen Tagen gegen das Grau der Wolken und durch Schwaden von Nebel. Umso mehr an diesem offenen und noch einmal fast warmen Vormittag. Ich machte mich auf in die Wälder von Buchen und immer wieder auch Eichen. Eigentlich wollte ich gern weit gehen; so viel von diesem Spiel der Farben und des Lichtes wie möglich in all den wechselnden Momenten zwischen eng sich drängenden Stämmen und lichteren Räumen unter durchlässig gewordenen Kronen. Meine Füße setzte ich ins trockene Laub am Boden oder schob sie durch Haufen locker gekrümmter Blätter. Immer Felder von Gelb und Goldbraun. Doch dann kam ich zum Stehen. Nicht, weil ich auf etwas besonders hätte achten wollen oder weil ich außer Atem geraten wäre. Es breitete einfach sich ein Verweilen aus, vielleicht getragen von dem leicht modrigen Duft faulenden Laubes, den ich liebe, vor allem wenn er vom feuchten Boden aufsteigt durch die lockeren Schichten der Blätter, dass sie luftig übereinander liegen, bereit, dem nächsten Windstoß zu folgen. Ich begann hineinzuschauen in die Schattierungen von Braun, bis in die Schatten, die zwischen den unteren Blättern heraufscheinen. Ich stand dort und stand immer länger. Die da liegenden Blätter nahmen vollkommen meine Aufmerksamkeit ein. Es war langsam gar kein Hinschauen mehr; die Aufmerksamkeit des Blickes ging über in eine Empfindung für dieses Liegen, nein, eher für die Räume zwischen den obersten Blättern und die gerade neben ihnen noch sichtbaren bis hinein in die schattigen Sphären darunter. Plötzlich ergriff mich leicht und unweigerlich ein Bewusstsein, nicht mehr Blätter zu sehen, offene, halb und ganz überdeckte, sondern ihr Liegen. Eine solche Wahrnehmung ereignet sich so, dass dies Geschehen vor uns zugleich ein Geschehen in uns ist. Es wird vom Sehen des Sichtbaren angeregt, und wir wissen davon aus einer Verwandlung in66 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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nerer Empfindungen in uns. Spannungen im Leibe und Weitungen, Gefühle zugleich und Gestimmtheiten. Unsere Befindlichkeit hat sich verändert, ohne dass wir es bemerkt haben. Die Wahrnehmung spricht auf einmal ebenso aus uns selbst. Manche sagen, wir sind in solchen Augenblicken geworden, was wir sehen. Ich meine, das Sehen bildet nur die ersten Verbindungen, und wir sind geworden, jetzt wie diese Blätter liegen. Ihre leichten Gewichte, ihre zarten Berührungen, ihr Zu- und Übereinander in sich dehnenden Lösungen voneinander und sich weitendem Anhaften aneinander erinnern unser Inneres an das gleiche Spiel, dem alles folgt, wenn es nicht in eine Enge gedrängt oder in eine Richtung gerissen wird. Da erwacht ein Gefühl für das, was Dürr, der Quantenphysiker, die uns einschließende Allverbundenheit nennt. Vielleicht könnte man sogar denken, dass da eine Empfindung wiedergibt, wie die Erklärungen der Materie dem mikroskopischen Geschehen zu folgen versuchen, in dem sie unausgesetzt sich lösen, verwandeln und neu bilden, was uns in festen Strukturen von, wie immer begrenzter, Dauer erscheint. Meine Erfahrung so nachzuzeichnen, heißt keineswegs, derart und in solchen Schritten könnte, gar sollte man ähnliche Erfahrungen herzustellen versuchen. Nur das Ereignis jenes Augenblicks hat mir die Aufmerksamkeit noch einmal umgewandelt in Momente der Erinnerung. Diese Aufmerksamkeit kann nicht systematisch erzeugen, was mich ergriffen hat. Ich laufe eher Gefahr, es zu zerstören. Darum leben die Wesen, die nicht ihre Wahrnehmungen in denkbare Vorstellungen übersetzen können, Tiere und Kinder, in dem, was sie wahrnehmen, und daraus, wie es sie mitnimmt. Auch im Gefühl der Vögel für die Annäherung und die Entfernung zu den anderen um sie, in dem ihre Tänze mit einander sich ausbilden.

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An den Schwärmen der Krähen fällt deutlicher auf, was oft an den so viel kleineren Staren im Gesamt der Eindrücke vom Schwarm untergeht. Die Spannung zwischen den einzelnen Vögeln und dem Volk, das aus ihnen sich bildet, bemerken wir stärker. Auch die Krähenschwärme in ihren Wendungen und Formationen nehmen wir als ein Ganzes wahr. Doch lösen sie umso überraschender wieder sich auf in die sich vereinzelnden Tiere, besonders wenn sie nicht rasch dahin eilen und gewissermaßen verschwinden in der Richtung ihres Eilens. Sondern sich fallen lassen in den Taumel der Lüfte, dem sie mit schwererem Körper und umfänglicheren Flügeln sich anvertrauen. Im Grunde freilich geht es mit den kleineren Staren ganz ebenso. Eine Schule für unsere Aufmerksamkeit. Wie nehmen wir, was als ein Ganzes uns beschäftigt, wahr in der Vielzahl der Einzelnen? Die gewöhnliche Frage zielt auf die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Ganzen von seinen Teilen und der Teile von ihrem Ganzen. Die einfachste Antwort ist dann, dass die Teile desto weniger selber wahrgenommen werden, je kleiner und zahlreicher sie im Verhältnis zum Ganzen sind. Was kümmern uns die Schafe, wenn wir eine Herde sehen, die Blätter, wenn wir vor einem Baum, die Bäume, wenn wir vor einem Wald stehen? Sie kümmern uns so viel, wie wir uns dem Einzelnen zuwenden. Physiologisch gehen unsere Sinnesorgane immer zwischen, der Filmer sagt, Fokus und Totale hin und her. Sie sind, anders als der analytische Verstand, Organe der Wahrnehmung von Beziehungen. Denen gehen wir hörend, sehend nach zwischen hier und da und der Gegend in ihrer Weite. Teil und Ganzes sind Fragen zunächst und dann Kategorien unseres Verstandes. Die sprechen von unserem bewertenden Interesse mehr als von den Gegebenheiten, die uns begegnen. Wir sehen das Laub am Boden des herbstlichen Waldes, und gut. Das Sammelwort Laub beruhigt uns, dass alles registriert ist. Ich habe von dem eigenartigen Erlebnis berichtet, dass ich einmal plötzlich 68 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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noch etwas Anderes gewahr wurde. Ich sah, habe ich gesagt, nicht nur die übereinander liegenden Blätter, sondern das Liegen selber der Blätter. Ich habe das eine meditative Erfahrung genannt. Was da mit meditativ gemeint ist, wird nun offensichtlich. Etwas hat erreicht, dass ich die Kategorie Laub vergaß und auch die Kategorie Blatt, Blätter. So konnte mich erreichen, was zwischen den Blättern und dem Boden darunter und der Luft geschah. Das Liegen ist die Beziehung zwischen ihnen. Was mich plötzlich erreichte, war eben gerade nicht ein Etwas, nichts Festes, kein Gegenstand. Dennoch nahm ich Wirklichkeit wahr, nur eben ein Wirken, nicht ein Bewirktes. Wir sind auf das Bewirkte, auf die Materie so viel mächtiger eingestellt, dass wir selbst angesichts der fallenden Blätter noch ihr Fallen ganz den jeweiligen Blättern zurechnen. Rilke muss sagen, »sie fallen wie von weit«, um dem Fallen seine eigene Wirklichkeit, eine der Beziehung, wiederzugeben. Dabei geschieht es hier, vor unseren Augen. Eigentlich empfinden wir angesichts der fallenden Blätter immer auch mit, was es bedeutet zu fallen. Wir spüren uns selbst mit und freuen uns an dem leichten, segelnden Fall. Aber unser Verstand bewertet diese Empfindungen als weniger real. Real ist Materie. So gerät die Beziehung, die wir auch wahrnehmen, unter den Verdacht, immateriell zu sein. Aber die materielle Welt und die des Wirkens sind ein und dieselbe. Seit Lyotard unter der Devise »les immatériaux« gerade jene Signale, oder Informationen, zum Thema gemacht hat, die sehr wohl der Phänomene der Materie, z. B. ihrer Wellenbewegungen, bedürfen, nur eben weder sichtbar noch greifbar sind, ist in den erkenntnistheoretischen und ästhetischen Diskurs gelangt, was die technische Alltagssprache »Auflösung« nennt. Für die Abnehmer der an Bild oder Ton gebundenen Verfahren geht es in der Auflösung eigentlich um die Einlösung digitaler Zerlegung von akustischen oder visuellen Dingen. Sie dient der Speicherung und dem Transport potentieller akustischer oder visueller Abbilder, die uns versprochen werden. Dieses Versprechen lösen hörbare oder sichtbare Realisierungen solch potenzieller Abbilder für uns ein. Man muss sich so umständlich dabei ausdrücken, weil umstandslose, anschauliche Metaphern die Natur dieser Vorgänge verdecken und ins Sinnliche entstellen. Genau solch geliehene, in Wirklichkeit aber vermiedene Sinnlichkeit ist es ja, die nur sprachlich suggeriert wird, die aber nicht vorfällt und an der gemessen allein das Aussenden und Empfangen etwa von Wellen »immateriell« wirkt. 69 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Bei dem Begriff von »Auflösung« denken wir nun immer sofort an die jeweilige Qualität der Einlösung, also des Tons vom DVD-Spieler oder des Abbilds auf einem Bildschirm. Dieses Vorauseilen unserer Erwartung überbrückt, eigentlich nur psychologisch, was eine interessante Erkenntnis nahe legen würde. Ein zu grober Raster, also eine schlechte Auflösung, zeigt deutlich, dass »ein gutes Bild« nur der Grenzfall von Haufen vereinzelter, punktartiger visueller Elemente ist; im ungünstigsten bzw. für diese Wahrnehmung günstigsten Fall sind diese Haufen derart vage, dass noch Abbilder ganz verschiedener Dinge sich daraus abzeichnen könnten. Womit wir neuerlich eine anschauliche Metapher für das Verhältnis vom Grund der Materie und materiellen Gegenständen vor uns haben würden. Kunst steuert dazu inzwischen Experimente bei. Sie ist aber meist mehr an dem faszinierenden Effekt interessiert, der den prozessualen Zusammenhang von Elementenhaufen und »Bildern« überspringt, als an diesem Prozess selber. Modell scheint, so weitgehend immer noch, der Film zu sein: Nur durch die Beschleunigung, mit der eine Aufnahme durch die nächste – zur Zeit noch meist 16 pro Sekunde – abgelöst wird, entsteht jenes Rätsel für unser Sehen, das wir, nur scheinbar richtig, auflösen, indem wir schlussfolgern, was sonst bei solchem Wechsel der Erscheinungen tatsächlich in der Regel geschieht: Aha, Bewegung. Das eigentlich Interessante, die scheinbare Transition von einer Reihenfolge stehender Abbilder in eine bewegende Wahrnehmung, lassen wir uns entgehen. Der Unterschied zwischen dem Film und dem Bildschirmgeschehen ist freilich das Entscheidende. Im Film entsteht der Zusammenhang der, scheinbaren, Bewegung durch das rasche Nacheinander der »Bilder«. Auf dem Schirm wird durch die Vielzahl der Informationen die Vollständigkeit des »Bildes« suggeriert. Auf unseren Fernsehern und Monitoren laufen die Punkte zeilenweise und von oben nach unten. Beim Ausdruck eines digitalen Fotos erscheinen sie gleichzeitig nebeneinander. Immer aber ist das Ganze unseres »Bildes« eine Vielzahl von Elementen, die erst ab einer bestimmten Dichte »Bild« werden. Würde nicht etwas uns Bekanntes abgebildet, würde die Illusion viel schwieriger herzustellen sein. Vor allem jedoch ist es die Ähnlichkeit mit unserem menschlichen Sehvorgang selbst. Unmerklich kurz verweilen die Pupillen in rasendem Zickzack auf den Elementen einer Umgebung, um uns ein zusammenhängendes Bild zu liefern, dessen Teile wie dessen Ganzes wir für konsistent und dauerhaft halten. Wir lassen uns im einen Fall, Film, durch die Geschwindigkeit des 70 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Wechsels, im anderen, digitales Abbild, durch die Vielzahl der Informationen überrumpeln. Die Erkenntniskritik wirft unseren Sinnen so gern vor, dass sie uns täuschen. Nur in diesen Fällen kommt diese Kritik zu selten. Die Erklärung ist einfach. Unsere Erkenntnistheorie glaubt gern an Realität und hält, was sie wiedererkennen kann, die Abbilder, für realer als die schütteren Pixelhaufen einer schlechten Auflösung. Die sind aber gerade ganz real, nur nichts, was man gleich wiedererkennt; und sie sind auch materiell, nur nichts, was man anfassen kann – obwohl die bits messbar sind und auch gemessen werden. Wir sprechen hier von jeweils einem Ganzen, zum Beispiel von einem »Bild«. Die Quantenphysik nennt die Materie, die Dinge dieser Welt, Verklumpungen nicht materieller Phänomene am Grunde der Materie. Wir haben jetzt entsprechende Beobachtungen im Zustandekommen menschlich sinnlicher Wahrnehmung betrachtet, und zwar unter Aspekten des Optischen. Die Wahrnehmung, derer wir dabei uns bewusst werden, überspringt die Phase, in der sie erst zusammentritt aus Elementen, die wir im Optischen auch einzeln sichtbar machen können. Den vergleichbaren Vorgang uns bewusst zu machen, wo es um Beziehungen geht, erscheint uns viel schwieriger. Das liegt aber nur daran, dass wir eben den Bewegungssinn, mit dem wir leibliche Bezogenheiten wahrnehmen, so viel weniger ausgebildet haben als den visuellen. Wie aber ein Vogelschwarm sich im Miteinander so vieler Bewegungen bewegt, können wir nur wahrzunehmen hoffen, wenn wir mitspüren, was das Medium ihres Zueinanders ist: ein Empfinden für Nähe und Abstand – ein Hingezogensein und ein Mitsehen und ein Zurückweichen.

§ Über der Spree taumelten schon vor einigen Wochen ein paar dieser Vögel, die größer sind als die Stare, aber so überraschend ähnlich sich in der Luft bewegen können. Vielleicht acht, neun, zehn, die sich fallen lassen im Fluge, erst nebeneinander, dann miteinander; einer fängt als erster den Fall auf und die anderen gehen mit, um die gemeinsame Bewegung kreisen zu lassen, hierhin und dahin. Doch bald waren sie wieder schnell geworden und verschwunden. Allzu frühe Vorboten, während wir immer noch den Himmel absuchen nach einem gelegentlichen Starenvolk, wie sie diesen Sommer so selten ihr Spiel über Berlin getrieben haben. 71 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Nun sind die Krähen, zum ersten Mal, wieder viele. Ich nehme sie wahr, wie hundert vielleicht oder schon hunderte, gleich einem ungewebten Schleier, ein großes Mobile, umeinander ziehen, die Abstände jeden Augenblick verändernd, wie einem Sog folgend zu unteren Luftschichten, und nun sich wieder aufwärts tragen lassend. Mit Wendungen zum östlichen Horizont, von denen sie sich, jeder eine Winzigkeit später, als gingen Rufe zueinander, wieder abstoßen zum Westen hin, wo heller Schimmer durch die Wolken dringt. Auf einmal habe ich das Gefühl, wie noch nie beim Beobachten der Schwärme, Tinte, wenn sie ganz dünn schon ihre Schlieren im klaren Wasser ausbreitet, dort vor mir zu haben. Die Vögel folgen, einander verzögernd und wieder beschwingend, einer Bewegung, die wir im Wasser einen Strudel nennen würden. Nur ist sie viel gelassener, so dass jederzeit einzelne Tiere ausschweifen und sich wieder anschließen, der ganze Schwarm weiter ausschwirren und sich dichter zusammenscharen kann. Das geschieht in der Ferne über den Häusern hinter dem gegenüberliegenden Ufer der Spree. Stare könnte ich so weit von mir fort kaum noch erkennen. Die Krähen aber kann ich deutlich und eindrucksvoll verfolgen in der Weite zwischen dem Hier, wo sich unten auf einem Anlegerpfahl der Reiher seit Stunden nicht rührt, und dem Licht am Rande des Himmels. So weiß ich, dass es nicht Stare sind, deren Bewegungen dort wieder aufzutauchen scheinen. Nun ziehen die Krähen, die eben zum Winter zu in solch großen Scharen die Lüfte besetzen, näher heran, und der Schwarm zerfällt im Augenblick in viele, viele einzelne Vögel, die aber, auf den nächsten Blick, alle in langer Reihe auf dem obersten Seil einer Fernleitung sitzen. Eben noch Verkörperung unendlicher, gelassener, schwingender, sich unerschöpflich in sich wandelnder Bewegung, bilden sie jetzt ungezählte winzige Zacken auf einer kühnen, aber vollkommen starren technischen Struktur. Aufgereiht, nur durch das Drahtseil, so scheint es, verbunden. Einige auf der Spitze des Gittermastes. Und wie Stare lassen sich immer einige fallen, um sich rasch wieder einzugliedern. Nein, Stare fliegen auf. Bei den Krähen bemerke ich eher dies Fallenlassen. Und da sind sie plötzlich ganz diese groben Vögel. Wie taumelnde Waschlappen packt die Schwere ihre größeren Körper und plumperen Flügel, mit denen sie schlagen müssen, um sich in der Luft zu halten. Stare bewegen so geschwind ihre kleinen Schwingen, dass für mein Auge fast kein Unterschied entsteht zwischen dem, was die Vögel tun, und der Bewegung, die dabei entsteht. 72 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Es macht einen Unterschied, dass die Stare uns verlassen und ihre Spiele nun von ganz anderen Tieren übernommen werden. Staunenswert, wie elegant den Vögeln, die plump und krächzend auf der Dachkante oder am Boden einfallen, die Himmelsevolutionen der Stare gelingen. Dessen ungewohnt sind wir aber eher beleidigt, als wären sie Usurpatoren, und eine merkwürdige Stimmung breitet sich aus: Die grauen Krähen übernehmen. Sie zeigen es uns, dass auch sie heranrauschen können, um über uns in eine Schleife zu gehen, wieder zu beschleunigen und ebenso unerwartet eine neue Wendung zu vollziehen. Bei solchen Erprobungen der Krähen beobachte ich nur noch eindrucksvoller, dass die Figuren der Richtungen in eigenen Rhythmen entstehen. Die kommende Kehre kündigt sich vielleicht schon durch ein gewisses Abbremsen der Fluggeschwindigkeit an. Den Übergang aus der Kurve heraus nimmt eine ebenso elegante Beschleunigung vorweg. Es sind diese dynamischen Wendungen, die uns auch mitreißen, wenn wir Skiläufer im Abfahrtslauf verfolgen. Was uns derart in die Bewegung, die wir mit den Augen verfolgen, gänzlich hineinzieht, ist ein Gefühl, wie auf einer Schaukel schwingend. Abbremsen und Beschleunigen, das könnten wir vielleicht einfach registrieren. Aber während der Flug an Geschwindigkeit verliert, spüren wir, zunehmend, auch, wie die Bereitschaft sich vorbereitet, bald neu zu beschleunigen. In der Beschleunigung drückt sich aus, wie sie verhindert werden wird. Beschleunigung und Abbremsen sind vor uns so, wie in uns auf der Schaukel die Schwere des Fallens ihre Umwandlung in das Aufwärts ankündigt, im Aufsteigen zugleich die Schwere wieder an uns ziehen muss. Die Krähen steigen dafür umso eindrucksvoller in einer weitgezogenen Spirale auf, zu der die Bewegungen weniger Vögel zusammenwirken können, immer neu, am gleichen Ort der Luft; kaum merklich absinkend zwischendurch, um wieder das Mobile hinaufzudrehen. Die Krähen übernehmen. Aber nur nach und nach. Am Anfang flegeln sie sich noch weitab über der Spree zwischen dem Marstallgebäude und den Parkbäumen, während um den Dom die gewohnten Starenschwärme in großen Abteilungen eilig ihre Runden ziehen, auch rasch verschwindend und neuen Schwärmen den Luftraum überlassend, die vom Horizont her heraneilen. So nebeneinander sehe ich sie sehr selten. Dann aber trifft man immer öfter in den Stadtvierteln der Stare zu Zeiten die Neuen. Die Krähen sitzen dann auf genau denselben Leitungsdrähten und Hochspannungsmasten, umfliegen dieselben 73 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Kuppeln und Dächer, die im Sommer den Staren einfach zu gehören scheinen. Jetzt sind sie zu hunderten über einer offenen Gegend der Spree. So bilden sich zwei, drei, auch einmal mehr Gruppen, die in sich kreisen und diese Kreisbewegungen ineinander gleiten lassen, bis eine merkwürdige Wirkung entsteht. Im Hinschauen nimmt man leicht nur ein vielfaches Durcheinander war. Es sind viel mehr Bewegungen im Spiel, als man Richtungen identifizieren und verfolgen kann. Eine vollkommen undeutliche Empfindung sagt gleichzeitig, da ist ein großzügiges Geschehen im Gang, eines. Wieder dürfte es die Größe der Krähen sein, die jeder einzelnen Bewegung so viel Gewicht gibt, dass sie auch über die viel lichteren Zwischenräume hinweg auf einander bezogen erscheinen, wo die kleinen Stare meist doch in der Dichte ihrer Flüge ein Gemeinsames uns mitteilen. Ob die Vögel ähnlich empfinden? Ob die größeren leichter sich einander mitteilen durch größere Abstände hindurch? Für uns wirken Stare und Krähen auf verschiedene Weise so eindrucksvoll, wenn ihre Schwärme auch ganz ähnliche Wendungen vollziehen. Die größeren Vögel beeindrucken, auch im langsameren Vollzug, durch dieses geballte Gewicht, das man ebenso sieht wie auch spürt. Die kleineren überraschen, statt dessen gewissermaßen, durch die Geschwindigkeit, die bei der Dichte des Volkes in der Luft geradezu heftig wirken kann. Sie stürzen sich in ihren Flug miteinander. Dabei ist wahrscheinlich ebenfalls zu beobachten, was so mir erst bei den entsprechenden Manövern von Krähen bewusst wird, eben dieses Bremsen und wieder Beschleunigen vor einer Kehre und um die gebeugte Bahn wieder zu verlassen. So übernehmen die Krähen schon manche unserer Aufmerksamkeiten, während Stare zu anderen Zeiten oder an anderen Orten immer noch zu sehen sind. Während wir die Beziehungen der Vögel zu einander bei den Staren wohl mehr an den Bewegungen ihrer Flugmuster nur sehen, spüren wir sie bei den gewichtigeren Krähen auch, wie sie in weiten Abständen von einander, erst recht in enger werdenden zu einander gezogen sind. Was selbst Newton theoretisch allen Himmelskörpern zugesprochen hat, sie sind, wie unsichtbar und unmessbar auch immer, doch alle in einer gewissen Gravitation zu einander zu denken. Hier können wir es erleben. Während wir dem Vorbeiziehen und den Wendungen dieser Schwärme folgen, bleibt uns doch weiter bewusst, wie 74 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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wir sie eben noch, langsamer und taumelnd, in ihrem individuellen Schwingen zugleich auf die anderen bezogen wahrgenommen haben. Doch das ist eigentlich schon wieder ein Gedanke; Bezogenheiten dagegen halten mitvollziehend fest, was eben geschehen ist und nun zur Erinnerung wird – wenn es nicht aufs Neue geschieht. Aus Bezogenheiten könnten wir uns noch eine Ordnung konstruieren, jedenfalls die Vorstellung von ihr, obwohl es viel zu viele dieser Bezüge zwischen je zweien, je fünfen, je dutzenden sind, um wirklich dem Beziehungsgefüge nachdenken zu können. In Wirklichkeit sind die Beziehungen so unendlich sich verwandelnde von einer Bewegung zur in ihr sich vorbereitenden und aus ihr sich vollziehenden nächsten, dass wir auch den Gedanken an ein Zerlegen und Zusammensetzen fahren lassen müssen. Und warum wollten wir denn auch? Wir würden wie so oft – und in der modernen Welt immer öfter – uns des Geschehens bemächtigen und damit es erledigen zugleich. Wenn wir schon nicht eingreifen und mitsteuern können, so wollen wir wenigstens die Vorgänge durch unsere Erkenntnis beherrschen. Allzu lange schon wird nicht weiter begriffen und geübt, wie Adorno Erkenntniskritik zu einer Pointierung gesellschaftlicher Herrschaftskritik entwickelt hat. Hier zeigt sich zudem, wie heftig solcher Herrschaftsanspruch zur Naturbeherrschung am Menschen wird, und zwar genau in unseren vernünftigen Gemütsvermögen. In unserem unstillbaren Drang, »den Dingen vorauswirken« zu können, so drückt es Elberfeld mit Bezug auf den alten daoistischen Text Huainanzi aus, zerstören wir unsere Fähigkeit, einer Wirkung gewahr zu werden, eines Wirkens im Gegensatz zum Bewirkten, einer Wirklichkeit im Gegensatz zu Realität. Diese Fähigkeit werden wir auch nicht wiedergewinnen, bevor wir bereit sind, das Gewahren als einen der Wege des Denkens anzuerkennen und, vielleicht brauchen wir diese Hilfskonstruktion, es auf die anderen Wege des Denkens, insbesondere die analytischen beziehen zu lernen. Gegenwärtig wird das Verhalten von Schwärmen nun studiert, um daraus Modelle abzuleiten, wie mit deren Hilfe gesellschaftliche Verhaltensprobleme, etwa in Abläufen der Ökonomie, effektiver angegangen werden können. Interessant an solchen Versuchen ist nur, dass die Aufmerksamkeit geschult wird für die Komplexität vielseitigen Miteinanders. Solange es um die Modelle von Koordination gehen soll, bleibt das Wichtigste verborgen, nein, die Strategie, es zu rekonstruieren, selber verbirgt es erst unter ihren darauf projizierten Ansprü75 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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chen. Sie will das Geschehen im Schwarm nachahmen, um es unter anderen Bedingungen herstellen zu können. Kybernetik hat ihren Anspruch, Ordnung zu konstruieren, wie das Militär die Bewegungen seiner präzise gedrillten Truppen, aufgeben müssen. Auch Kybernetik hat einsehen müssen, was die altchinesische, die altjapanische Philosophie wusste: »Kein einzelnes Moment verursacht die Ordnung.« Wir haben den schönen Begriff der Wechselbeziehungen. Aber er verliert alle Schönheit, das heißt alle Erinnerung an ein Wirken von Ordnung, wenn wir die Beziehungen auf den Wechsel und Wechsel auf die einzelnen Momente zurückführen. Das heißt, wenn wir die Beziehungen zum Bewirkten machen, nach dessen Ursache fragen und dann auf die Pole des Wechsels zeigen. Erst umgekehrt wird die Wechselbeziehung zu einem Vorbild oder Inbild. Das Wirken reflektiert sich an seinen Polen, die freilich ihm erst einen Wirkraum öffnen, die ihn dann selbstverständlich durch ihre Reflexionen mit bestimmen. Nur weder als viele einzelne Momente noch als deren Summe. Das Mehr des Ganzen ist eigener Art. In dieses Mehr hinein zu denken, verlangt vom Denkenden, was aus dem grundlegenden Satz aller Konstitutionslogik unmittelbar folgt. Die Reflektion kann nicht differenzierter und komplexer werden, als die Bauart, als das Organgefüge des Reflektierenden es selber ist. Praktisch bedeutet das, wenn wir uns in die Komplexität einer Ordnung begeben wollen, die nicht auf Verursachung durch einzelne Momente zurückgeführt werden kann, dann ist dies die letzte, die erzwungene Einladung, eine Rekonstruktion unseres Selbst aufzugeben, die auf dem selben Prinzip der Verursachung durch je einzelne Momente beruht. Wir kommen vielleicht so dazu, die Fiktion einer Instanz, und zwar der des kontrollierenden und kontrollierbaren Bewusstseins, zu lassen, der wir alle unsere Wahrnehmungen, Handlungen und Gedanken unterwerfen wollen, um »zu wissen, woran wir sind und wer wir sind und womit wir es zu tun haben«. Vielleicht wird an dieser Stelle eine Passage des Zen-Philosophen Dogen aus dem 13. Jahrhundert in ihren wohl bedacht gesetzten Schritten verständlich: »Den Buddha-Weg erlernen heißt, sich selbst erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, durch die zehntausend Gegebenheiten von selber erwiesen zu werden.« In der Beziehung zu jeder von den Gegebenheiten unseres Lebens, also in jeder Begegnung erfahren wir uns als ein etwas anderes Selbst, bilden ein etwas anderes Selbst erst aus. »Durch die 76 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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zehntausend Gegebenheiten von selbst erwiesen zu werden heißt, Leib und Herz meiner selbst sowie Leib und Herz des Anderen abfallen zu lassen.« Nicht mehr die Momente, an denen wir die Beziehungen festzumachen gewohnt sind, haben die bestimmende Bedeutung. Wir werden immer mehr die ineinander wirkenden Beziehungen, die wir leben. Die wir, übrigens, durchaus auch weiterhin mit Herz und Leib und Hirn leben. Die Momente sind jedoch nicht mehr die Fluchtpunkte unserer zentralperspektivischen Anstrengungen. Unser Selbst wird von der Anstrengung entlassen und entlastet, die Fiktion eines statischen Augenpunktes aufrechtzuerhalten, indem wir die Bewegungen, in die unser Erleben uns zieht, in einen Punkt zu fixieren versuchen. Diese alte Lehre setzt eigentlich da an, wo Heidegger, der die abendländische Metaphysik in ihren Zentralperspektiven zu verwerfen begann, zu der Einsicht kam, dass unser Denken von unserer »Befindlichkeit« bestimmt wird. Er hat nur verweigert, was Nietzsches Leibphilosophie vorbereitet hatte. Und er hat nicht das Denken selber hineinziehen mögen in die Übergänge zwischen Erkenntnis und Erwiesenwerden. Dabei hatte ihn eigentlich am Erfinder des metaphysischsten aller Begriffe, an Paramenides, dem ersten Denken eines unveränderlichen Seins, mehr als alles andere dessen »Weg« zur Göttin der Wahrheit bewegt. Ein wesentliches Stück weiter ist Gadamer gegangen mit seinem Entwurf von »Wirkungsgeschichte«, in der die vielen auf einander treffenden Wirkungen, etwa einer Lebensgeschichte, sich zu einem irgendwie eigenwilligen Gefüge umbilden – wie Hegel die Erinnerungen »in der Nacht der Phantasie« in uns ihre eigenen Bilder hervorbringen sieht. Gut. Die Krähen sind über Berlin ebenso auch schwarz. Die Ornithologie tut dabei nichts zur Sache. Sie ziehen in Schwärmen über Dächer und Plätze, Aas oder Saat fressend; selbst die kleineren Dohlen mischen sich unter sie, wenn wieder von den Rändern des Tiergartens Scharen über Scharen ein weiter und weiter sich erneuerndes Band unter den lichten Wolken bilden. Hier teilen sie sich in drei große Gruppen auf, die freilich, durch Nachzügler und Vorauseilende, in dünnen Spuren zusammenhängend bleiben. In dem Gewimmel der Mitte und dem der beiden Seiten setzt sich auf immer neu verblüffende Weise der Elan der Teilung fort. Während die vielen, vielen Vögel um einander zu kreisen beginnen, ziehen sich ihre Wolken, von einer Grup77 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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pe zu den anderen antwortend, mehr in sich zusammen und weiten dann wieder ihre schwankenden Bahnen. Durch die Größe der Tiere und die deutlicheren Abstände zwischen ihnen ergeben sich, selbst bei ganz ähnlich schwärmenden Bewegungen, doch sehr andere Eindrücke als von den raschen, geschlosseneren, durch ihre Präzision überraschenden Staren. Der Elan wird nicht in die kühnen Ausfälle, Kehren und Sturzflüge der Stare verwandelt. Die Krähen lassen bei allem eine gewisse Trägheit der Materie spüren. Wenn nun die drei Gruppen, die sich in sich kreisend langsam weiter über den Himmel verteilt haben, nun wieder zu einander drängen, ist es immer noch der so lange zu spürende und so vielfältig verwandelte Elan der früheren Teilung, in dem alle die Vögel sich einander nähern. Jeder einzelne wendet das Spiel seiner Erkundungen dieser Bewegung zu, die eigentlich eine Bewegung des Ganzen ist, das jetzt sich zusammenzieht. Das bannt die Blicke in das Treiben der Krähen auf so besondere Weise, dass die alte Redeweise von den Teilen und dem Ganzen völlig hilflos wird. Alle zusammen bilden dieses Pulsieren von Dichte und Ausdehnung, von ruhigen und beschleunigten Flügen, von aufsteigenden und sinkenden Kreisen. Aber es kommt nicht von einem Ganzen und geht nicht zu einem Ganzen, weil es gar kein Ganzes gibt: nur das Miteinander der vielen. Und diese vielen bilden in jedem Augenblick das Miteinander neu in ihre nächste Wendung, die ganz ihre eigene ist, ohne das Miteinander zu brechen. Das heißt, dieses Miteinander, dessen Bild ich in diesem Augenblick sehe, das eine Kamera als Konstellation festhalten kann, wird natürlich wieder aufgegeben. Ein neues entsteht, ein anderes. Aber kein greifbares Ganzes gewährleistet den Zusammenhang; es sind allein die Übergänge selbst, die, streng genommen, ja nicht einmal Übergänge sind, weil sich damit die Vorstellung verbinden würde, dass ein Etwas in ein anderes Etwas übergehen würde. Keine identitätslogische Figur ist geeignet, hier Kontinuität zu konstruieren. Am nächsten kommen wir dem Geschehen, indem wir es als Fortsetzungsgeschichte erzählen. Zunächst erzählen wir sie uns selbst, indem wir die Bilder, die sich nacheinander uns bieten, als Antwort der folgenden auf die früheren wahrnehmen. Das aber ist schon sehr schwierig, weil wir dabei den Fluss des Geschehens doch wieder geneigt sind, in Schnappschüssen unseres Sehens zum Anhalten zu bringen. Wir werden an unseren Wahrnehmungsvermögen irre, solange wir hinschauen mit der Frage, was da gerade für Bilder von Verteilungen zu sehen seien. Aber dann 78 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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taucht in mir das erste Erlebnis mit den Staren auf den Feldern längst vergangener Jahre wieder auf. Das Auffliegen eines Schwarms. Als ich wieder und wieder diesen unvergleichlichen Augenblick hatte auf mich wirken lassen, hatte ich plötzlich gespürt, dass dieses Auffliegen mich in meinem innersten Empfinden mitnahm. Der Satz kam zustande, dass diese Vögel in mir auffliegen. Die Bilder vom Auffliegen können nicht aus den Abbildern irgendeiner visuellen Technik entstehen. Ich begriff, dass ich mich von dem Bewegungsgeschehen der Stare in kalligraphische Übungen führen lassen sollte. So kam es zu meinen Pinselarbeiten, lange bevor ich den Satz bei John Cage wieder zu lesen bekam: »Die Vögel steigen in mir auf.« Nur wenn wir, wie der japanische Dichter, mit den Vögeln am Himmel »auf dem Wind ruhen« können, wird die gewohnte Dynamik der Denkfiguren zur Ruhe kommen, die alle Bewegung zur Strecke zu bringen drängt. Vielleicht können wir das sogar begreifen. Wir suchen danach, wie wir solches Begreifen auch noch fassen können. Bedingung ist jedoch vor allem weiteren, dass wir weniger an die Begriffe denken und uns von den Bewegungen ergreifen lassen können. Und das gilt es eben, in ungezählten Beschreibungen zu üben. In Beschreibungen, die mit dem Erleben unser Bewusstsein von dem Erlebten und dem Geschehen, dem wir begegnen, an einander stärken. Oft ist das die Suche nach Metaphern, die auch Heisenberg seinen Physikern zur Aufgabe gemacht hat. Die vielen Krähen haben sich inzwischen in andere Stadtteile verzogen. Hier ist eine kleinere Gruppe geblieben und zieht in diesen Kreisen umeinander, die ich schon Spiralen genannt habe. Während ich mich, zugleich ratlos und fast ärgerlich auf Beschreibungen sinnend, da hineinziehen lasse, wird mir wenigstens klar, dass es keine Spiralen sind. Spiralen drehen sich um einen Kern oder Kegel. Ich habe das auch schon ein Mobile genannt. Auch das ist im Entscheidenden falsch. Es gibt nichts Festes wie bei Calders Metallscheiben und den sie verbindenden Stangen. Keine starre Figur wie ein Zylinder, um den die Vögel kreisen würden, taucht auch nur im Gedanken auf. Dieses Mittlere, um das sie gleichwohl sich bewegen, entsteht allein durch sie und zerfällt mit ihren Bewegungen ebenso in jedem Moment, wie die Anziehungskraft, die von ihnen miteinander ausgeht, es entstehen lässt. Ein Es natürlich, das wieder nur ein Bild der Sprache ist. Wir müssen uns hüten, daraus kein Etwas zu machen. Meine Begeisterung wäre der Albtraum der aristotelischen Metaphysik: ein Zusammenspiel von Ak79 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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zidenzien ohne hypokaimenon, ohne Unterliegendes. Und die Akzidenzien sind nicht einmal Eigenschaften, also wenigstens bedingt Bleibendes, sondern Beziehungen, an denen die Wesen hängen, zwischen denen diese Beziehungen sich bilden und umbilden. Ich denke jetzt, ich schaue in diese Flugübungen der Krähen dort oben hinein, wie in kochendes Wasser, in dem die Sternchennudeln auf und niederwirbeln und umeinander ziehen. Keine sehr würdige Metapher. Als ich aus der Gemäldegalerie auf das Forum hinaustrete, belehren mich hunderte, vielleicht tausende von Raben eines besseren. In der Abenddämmerung stehe ich auf den Stufen über dem Forum, das hier am stärksten links vom bizarren Dach der kleinen Philharmonie und rechts von der kleinen Mattheikirche zusammengehalten wird. Auf dem Kirchturm und dem Zeltdach von Scharoun sitzen unzählbare Vögel. Solange sie wirklich sitzen, sind sie einzelne, die nur in der großen Zahl untergehen, aber nicht Schwarm sind. Und doch sind sie potentieller Schwarm. Schon wenn einzelne aufflattern und dicht neben dem Platz, von dem sie sich gerade getrennt haben, zwischen die anderen drängen, ahnt man, wie sich mehr und mehr von diesen schwarzen Klumpen in Vögel verwandeln können, um in kleinere oder auch weitere Flüge mit einander zu geraten. Wie und wann sich dann, als wäre es plötzlich, die ganze Masse vom Turm abstößt, bleibt unsichtbar. Jedenfalls kommt ihr alles, was auf den Graten und Flügeln des Daches gegenüber gesessen hat, ebenso plötzlich entgegen. Wie auf Verabredung, pflegen die Menschen zu sagen und suchen dann auch verbissen nach der Verabredung, weil sie ihr »wie« vergessen. Zu suchen haben wir Erklärungen am ehesten in diesem unendlich vielfältigen Feld von mit einander verbundenen Intelligenzen, die jede, wie die Biofeedbackforschung sagt, im Schwarm intelligenter ist als für sich allein. Im Schwarm reagieren die Vögel schneller als allein, sagt die Forscherin Trencséni. Schon überspannt das schwarze Geflatter den ganzen Raum des Forums wie ein bebendes Zeltdach ohne Aufhängungen und Stützen, zwischen Kirchturm und Philharmonie. Ein Zelt voller atemberaubender und zugleich beruhigend überwölbender Bewegtheit. Hin und her; aufeinander zu und von einander weg und doch sich als Vereinigung von Augenblick zu Augenblick aufschwingende Fülle. Schwarz lappig unter verblassendem Himmel und aufziehendem Scheinwerferlicht.

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Krähen, Raben und Orakel Diese Krähen sind nun manchmal einfach schwarz. Wenn von ihnen gesprochen wird im späteren Herbst, sagen die Leute, es seien die grauen, die aus Russland nach Westen drängen, um Himmel wie den über Berlin zu besetzen. Im Stadtbild wechseln Grau und Schwarz oder gehen auch durcheinander. Seit jeher haben Sage und Volksmund Raben und Krähen, grau und schwarz gegen einander vertauscht. Dieser austauschbaren Identität entspricht der Wechsel, in dem diesen Vögeln einander entgegengesetzte Bedeutungen nachgesagt werden. Das heftige, raue Krächzen gilt als Botschaft nahenden Unheils. Die Raben auf Odins Schulter halten Ausschau für den einäugigen Gott und sind Berater seiner Weisheit. Viele Kulturen haben in den Krähen besondere Bedeutungen gesehen, wenn auch die gegensätzlichsten. »In der Mythologie wie im Kult mancher nordamerikanischer Indianerstämme spielt die Krähe als guter, in Westafrika als böser Geist eine Rolle. In Japan sind Krähen die Boten und heiligen Vögel der drei Göttinnen auf der Insel Miyajima. In Indien umgeben sie den Streitwagen der Maya, hausen als böse Wesen bei Kali. Yama, der Gott der Toten, nimmt Krähengestalt an. Ein Lichtvogel ist sie dagegen in estnischen Märchen. Auch kannten die Römer Krähen als dämonische Wesen.« So weiß das »Handwörterbuch des Aberglaubens«. Dämon ist das Wort der Antike für Zwischenwesen durchaus auch im Range von Göttinnen und Göttern, aber auch als die Stimme, die den Sokrates an das rechte Tun erinnert. Die römischen Auguren deuteten Flug und Laute der Krähen, wie sie den Germanen ein Orakeltier waren. Geister nahmen, nach den Vorstellungen vieler Völker, die Gestalt dieser Vögel an; bei einigen auch die Seelen der Toten. Sie gelten als vorbedeutend, und zwar für Schlimmes wie für Gutes. Um beide Seiten zu trennen, sind die verschiedensten Umstände beobachtet worden. Ihr Auftauchen von rechts oder links. Ihr Schrei über uns. Jahreszeiten wie die keltisch-germanische Wintersonnenwende. In einer tibetischen Tradition ist der Rabe der Vogel, der in die Nacht taucht, um die Sonne wieder emporzuholen am Morgen. Er wird mit der goldenen Scheibe im Schnabel dargestellt. »Krähenkriege und Züge in der Luft zeigen Krieg an.« Wenn ihre Scharen oft als Vorboten von Hungersnot gelten, lässt sich diese Zuschreibung auf verschiedene Weisen durch tatsächlich zusammentreffende Umstände erklären, so, wenn sie die Schiffe plündernder Normannen begleiteten. Ihre Züge in 81 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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der Luft allgemein müssen einfach als Ausdruck von Spannungsfeldern, von nicht greifbaren Energien verstanden worden sein. Anschauungen für Ordnungen, die sich den pragmatischen Kalkülen entziehen und in den Vorgängen und Erscheinungen der Welt wirksam sind. Dabei weisen die Gegensätze wie Weisheit und Bosheit, wie schlimm und gut weniger auf logische Widersprüche hin als auf Wandel. Solcher Wandel kann ganz greifbar sein. »Die Krähe ist, was Ornithologen bestätigen, ein wetterkundiges Tier, … schon bei den Indern eine Inkarnation … des Regengottes.« Dazu gehören bestimmte Beobachtungen: »Einen großen Sturm und Regen gibt es, wenn die Krähen aus der Tiefe auf und mit einem Umweg wieder auf den ersten Platz fliegen, Wind, wenn sie aufs Wasser fliegen …« Undenklich viele Bewegungen der Vögel, allein, zu einigen und in Schwärmen, sind aber nicht offensichtlichen Veränderungen zuzuordnen. Sie regen dann offenbar dazu an, Beziehungen herzustellen zu ganz anderen Veränderungen, die gefürchtet werden oder auch gewünscht – »Krähenherzen, von unfriedlichen Eheleuten gegessen, macht sie wieder einig.« Wandel ist das Leitmotiv, das den Vögeln beigelegt wird. So heißt es in verschiedenen »Natursagen«, z. B. nordamerikanischer Indianer, aber auch in Asien, dass der Rabe wie die Krähe »anfänglich weiß und schön« war. Schwarz, Symbol für die Sturmwolke, wurde er durch Bemalung oder durch Verbrennung, als er das Feuer raubt, usw. Eine jüdische Überlieferung meint, der Rabe habe Adam das Begraben der Toten gelehrt. Als Aasvogel ist er aber auch das Tier der Schlachtfelder, der Kirchhöfe und der Galgenberge und sitzt vorm Räuberhause. Andere haben gemeint, junge Raben lobten Gott. Besonders deutlich weist ein Bild auf den Wechselcharakter hin; eine weiße Feder des Raben macht den, »der sie erlangt, weise, glücklich usw.« Diese Vögel werden in besonderer Beziehung zu geheimen Kräften gesehen. Deshalb gelten sie mal als klug, als Warner, mal als tückisch. Sie begleiten Götter und Zauberer, später die Hexenmeister und Satan. Waren sie früh noch Gottesboten und kannten »den Weg zum Lebenswasser«, so blieb unter der Herrschaft der geoffenbarten Religionen für sie eher das Reich des bloß Unheimlichen. Wir Menschen der Moderne lassen von unseren Schiffen nicht mehr Vögel auffliegen, um unseren Kurs nach ihrem Flug zu richten. Wir vertrauen uns eher der Eheberatung als dem Verzehr von Krähenherzen an. Wir legen Städte nach geopolitischen und geologischen Analysen an, statt auf den Adler des Zeus zu warten. Wir haben uns 82 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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von dem Aberglauben befreit, in den die offiziellen Religionen die Zwischenwesen und die energetischen Beziehungen verdrängt haben, sofern sie sie nicht in ihren Lehrgebäuden irgendwie unterbringen konnten – wie die Taube als Erscheinung des Heiligen Geistes. So bleiben uns unsere Beobachtungen der Vögel und ihrer Schwärme als Aufforderung, andere Ordnungen zu erfahren als die der Aufmärsche auf Schlachtfeldern, auf Bühnen oder auf Märkten. Ordnungen, deren Medium die Bewegung, der Wandel, der Wechsel, das Zwischen ist. Einige Soziologen greifen jetzt auch tatsächlich die Erkenntnis von Verhaltensforschern auf. Im Schwarm ist der Vogel intelligenter als allein; warum könnte das nicht ebenso für Menschen gelten? In Wahrheit ist es genau so. Das moderne Augenmerk ist nur systematisch entweder auf die individuelle Entwicklung von uns als Einzelnen gerichtet oder auf ihre Behinderung durch Konventionen, Neid und Stumpfsinn. Dahinter bleibt unserem Bewusstsein ein Zusammenspiel verborgen, nach dem wir nur nicht fragen. Deshalb beachten wir, ob wir die Meinung anderer teilen oder ob wir uns ihr entgegensetzen. Übernehmen oder Ablehnen ist die falsche Alternative. Wenn wir einander fragen, wogegen ein Urteil gefällt, eine Überzeugung geäußert wird, werden wir in den meisten Fällen erkennen, dass sie bereits als Korrektur, Ausgleich, Gegengewicht zu anderen Positionen entstehen und auftreten. Das vergessen wir aber bereits schon während der Äußerung, im Eifer des Gefechts oder aus Stolz auf unser Resultat. Wir vergessen es vor allem, weil wir in diesen anschließend individuellen Zurechnungen zu denken gewohnt sind. Wenn wir entschiedener begreifen und annehmen würden, dass alle unsere Einsichten eben konstitutiv Beiträge sind in einem unendlichen Wechselspiel einander ergänzender, fordernder, mäßigender, immer neu auf die Sache führender Ansichten, kämen wir auch der conditio humana sehr viel näher. Unsere Individualität ist so wichtig und auch nur möglich, weil sie ebenso neue Frage wie immer schon Antwort ist. Das aber müssen so hoch differenzierte Wesen wie wir Menschen erst, vielleicht auf neue Weise wieder, zu einer Übung machen – zum Modus unserer Kultur.

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II. ENERGIEN UND RESONANZEN

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Leibniz sagt uns in seinem »specimen dynamicum«, dass in allem Existierenden Bewegung immer schon ist. Er fragt deshalb, wo Starre sich zeigt, danach, was die Bewegtheit aufhält oder erstickt. Bewegung in diesem Sinne ist nicht diese oder jene erkennbare Bewegung, sondern was diese Bewegungen bewegt und das, was wir anders wahrnehmen als durch diese oder jene Feststellung von Sinnesreizen, vielleicht sogar Messinstrumente. Wir müssen uns bereit machen, eine Wirkung sich vollziehen zu erleben, die in uns das Gefühl einer, wie immer vielleicht verborgenen, Mit-Wirkung anregt und uns, einmal mehr, von der Allbewegtheit in den Erscheinungen überzeugt. Wir haben sie in den Augenblicken der Ansteckung erfahren, die nur möglich sind, weil ihr in uns etwas in einem unnennbaren Grunde Verwandtes entgegenkommt. Manchmal spüren wir geradezu, wie diese innere Bewegtheit sich aus einer Starre löst, in die unsere Gewohnheiten sie gebannt haben, von Ängsten frei wird, unter denen sie sich nicht wiederzuerkennen drohte. Solche Gewohnheiten impfen sie mit der dumpfen Vorstellung, alle Bewegung müsse unsere selbst inszenierte Tätigkeit sein und müsse deshalb von unserem Alltagsverstand unter Kontrolle gehalten werden. Aus solcher Isolation müssen wir oft erst wieder in den großen Fluss zurückfinden, dem anzugehören wir verachtet haben, aus Stolz oder missverstandenem Pflichtgefühl, oder versäumt, aus ungläubiger Entwöhnung oder trotziger Verzweiflung. In den nicht monotheistischen Religionen erinnert wohl die Übung der Gebete daran, das Geschenk der Bewegtheit immer neu anzunehmen und alles das, worin wir festhalten gegen den Fluss, sich auflösen zu lassen. In Kulturen, in denen Weltenschöpfer als Weltenherrscher verehrt werden, ist der einzelne Mensch aus der wissenden und handelnden Teilhabe am Weltengang offiziell entlassen, ja ausgeschlossen. Er hat nur noch für sein individuelles Seelenheil zu sorgen, indem er seinem Herrn Gehorsam 87 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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beweist. Dann werden Gebet und Beichte – vor dem Priester oder im stillen Kämmerlein – zu einer »Versöhnung mit Gott und sich selbst«. Nicht schlecht, aber zu psychologisch-theologisch. Die Einheit mit dem großen Fluss der Bewegung zu erneuern, von Verhärtungen zu reinigen, Dankbarkeit in Freude und Zuversicht zu verwandeln, ist die grundlegendere, die schönere Übung, weil sie sich den Ordnungen des Flusses verbindet. So wird uns bewusst, dass keine kategorischen Trennungen sinnvoll sind zwischen innerer und äußerer, muskulärer und Gemütsbewegung. Diese Unterscheidungen bezeichnen vielmehr verschiedene Modalitäten, in die sich der große Fluss, soweit wir ihn in uns wirken lassen, übersetzt. Die große Übung ist, ihn zu gewahren nicht nur in seinen vielen Wirkungsweisen, sondern die Wirkkraft selber zu spüren und ihr uns anzuvertrauen aus der Kühle unseres Bewusstseins und in der Wärme unserer Dankbarkeit. Im Wissen darum, wie sehr in der Sphäre der Erscheinungen gelingen und misslingen kann, das Hemmende aufzulösen und, was uns selber auflöst, dem großen Strom anzuvertrauen. Von uns aus aufzugreifen, wie er uns zu tragen vermag, und seiner Wirksamkeit tätig zu dienen. Zu dem Begriff der Bewegung gehört ein weiterer. Bewegung ist doch mehr die jeweilige, manifeste Bewegung, die wir beobachten oder erleben, obwohl wir auch vom Prinzip der Bewegung, von Bewegung überhaupt im Gegensatz etwa zu Stillstand sprechen. Unter den sich anbietenden Worten scheint mir Energie am geeignetsten zu sein, um von den Kräften zu sprechen, die, selber nicht manifest, in den Bewegungen manifest werden. Bei Kräften denken wir zu leicht daran, zu fragen, wessen Kraft da wirksam sei. Es geht jedoch um das Wirken selber, nicht um seine Ursache oder seine Akteure. Auch Quelle würde mehr an Ursprung und Richtung denken lassen. Energie ist allbewegend, wie alle Bewegungen sich andererseits nach Raum und Zeit bestimmen lassen. Aber auch Energie muss für einen ganz und gar elementaren Sinn erst von einer Begriffsgeschichte befreit werden, nämlich der physiktheoretischen, insbesondere seit dem früheren 19. Jahrhundert, das Energie als messbare definiert und damit an ihre Manifestationen gebunden hat. Vom griechischen Wortgebrauch her ist vom Ins-Werk-Setzen die Rede; was bewirkt wird, ist die Ausbildung eines Organs. Enérgeia und órganon gehören zueinander als Wirkkraft und je bestimmtes Wirkvermögen in seiner stofflichen Gestalt, wie das Pulsieren des Blutes 88 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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und das Herz als Organ des Pulsierens. Damit ist eine Wechselbeziehung zwischen dem nicht Manifesten und dem Manifesten mit dem Begriff verbunden, eine Charakterisierung, die ihn für unsere Untersuchung empfiehlt. Dieser Zusammenhang hat dazu geführt, dass der chinesische Begriff qi oder chi bzw. der japanische ki so oft mit Energie übersetzt wird, wenn nicht der Ausdruck ki-Kraft bevorzugt wird, um die ganz anders existenzielle Bedeutung gegen westlich naturwissenschaftliche Vorstellungen abzugrenzen. Und tatsächlich sollten wir uns in das Denken und Welterleben Asiens begeben, wenn wir für das, was hier Energie genannt werden soll, uns auf eine entschiedene und zusammenhängende Tradition beziehen wollen. Allerdings ist wesentlich vor allem, dass die Begriffe in einer kosmischen Erfahrung aufgehoben sind, die in der Antike etwa des Aristoteles doch schon zu deutlich in eine endliche und eine unendliche Welt aufgeteilt war. Insofern würde die afrikanische Metapher einer Großfamilie für alle Wesen und Dinge und Wirkmächte ebenso geeignet sein wie asiatische Philosophien. Nur wäre meine Frage, ob dort alle Wirkmächte auf ähnliche Weise als Erscheinungen im Grunde einer einzigen, alles durchwirkenden Energie verstanden werden. Und dies ist, was qi und ki so eindrucksvoll macht. Dazu habe ich gelernt, dass die buddhistischen Traditionen Asiens uns diese Welterfahrung schon vermittelter zugänglich machen als die Wege des dao, dessen große Lehre in einem »Buch der Wandlungen« überkommen ist, und die Gesten der shinto-Tradition Japans, deren Offenheit so eindrucksvoll unser Bewusstsein für die Verbundenheit mit der Welt, ihren Wesen und Wirkmächten ganz der immer neuen Ergebenheit und den Antworten überlässt, die in uns aufsteigen und Form werden. Auch dort sind hundert Bilder, hundert Götter und Dämonen entstanden und erinnern die Kundigen daran, dass höchste Aufmerksamkeit geboten ist darauf, in welchen Kontexten und folglich sehr verschiedenen Richtungen die Wirkkräfte auftreten. Sie bedrohen und beschwingen, sie erhalten und ersticken und lassen aufblühen und Frucht tragen. Die Hindu-Philosophie stellt sich das Wirken in drei Grundrichtungen vor. Sie Urenergien zu nennen, wie das manchmal geschieht, ruft unnötig die Idee letzter Ursachen auf den Plan. Die drei Grundrichtungen haben wir charakterisiert, noch zu knapp, als die zum Bewahren und Erblühen – satva –, zum Ersticken oder Dämpfen – tamas –, und der Aggression, Aktivität, des Vorantreibens – rajas. Keine kann letzte Ursache werden, weil sie nur im Wechselspiel mit 89 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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einander überhaupt wirksam werden können. Das ist in jedem Augenblick auf eine andere Weise unausgeglichen, so dass aufgerufen wird, woran es mangelt. Ungedämpft treibt Aktivität in Aggression und Zerstörung. Unendliches Bewahren nimmt allem neuen Erblühen den Raum. Ungehemmt wird die notwendige Dämpfung zum Ersticken. Im Zusammenwirken bilden die drei eine Einheit, aber eine Einheit, die nie besteht, sondern sich im Ringen ihrer Erscheinungsweisen und in deren Antworten auf einander bildet und umbildet. Die Einheit als solche gibt es so wenig wie die Vielheit. Die unendliche Vielgestaltigkeit greifen und feststellen zu wollen, wäre sinnlos. So würden wir uns auf die Erscheinung in dieser oder jener Situation fixieren, deren Bestimmung es gerade ist, Impulse wachzurufen, in denen sie sich wandeln wird. Wenn wir uns in der behutsamsten und unnachgiebigsten Achtsamkeit üben, so nicht, um eine möglichst vollständige Liste von Erscheinungsformen aufzustellen und sie gegen einander abzugrenzen, wie es der Ehrgeiz noch der engagiertesten Phänomenologie sein könnte. Zu üben gilt es, wie wir wahrnehmen können, wohin jetzt eben die Energien ziehen oder drängen oder woran sie zu erliegen drohen. Das bringt uns anders ins Spiel denn nur als Beobachter. Es sei denn, wir verstünden das Beobachten so, dass wir auch darauf achten, wie es an uns selbst zieht, in uns selbst ein Drängen anregt, wir uns nach einem Ausgleich sehnen oder einer zündenden Anregung, vielleicht auch einer erlösenden Entladung. So wird deutlich, dass wir ein solches energetisches Verständnis brauchen, um die wirkliche Konsequenz zu ziehen aus der Mahnung des Konstruktivismus, nicht zu vergessen, dass »der Beobachter Teil des Systems« ist, aus der umfassenderen Bescheidung menschlicher Erkenntnis, die Kant mit seiner »kopernikanischen Wende« zur Bedingung unseres Denkens und Urteilens macht. Wir haben es gar nicht mit einem »System« zu tun, weder als beteiligte noch als unbeteiligte Beobachter. Was da vorgeht, können wir sicherlich zu rekonstruieren versuchen. Dabei werden wir dann nur Faktoren darstellen und uns fragen, welche ursächlichen Kräfte sie mit einander interagieren lassen. Eigens eines Zwischen gewahr zu werden, in dem alles Wechselspiel seine eigentliche Existenz hat, wird aber nicht gelingen. Beziehungen werden auf ihre Pole, Pole auf ihre Substanz reduziert. Dabei weisen die Wirkungsfelder auf ihre Pole hin, die ohne sie bloße Masse wären,

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zwar potentiell ausgestattet mit einem Wirkvermögen, das aber frei wird zu wirken erst durch den Antagonisten. Die europäische, inzwischen die westlich moderne Interpretation eines anderen Bewusstseins hat den Begriff eines Animismus erfunden, um die Verehrung eines Wirkens in der Natur auf eine absurde Formel zu bringen. Sonne, Wind und Wasser gelten ihr als tote Natur. Wenn andere Kulturen ihnen eine dankbare und auch besorgte oder fürchtende Achtung widmen, greift die wissenschaftliche Vorstellung in die nächste Kategorie und behauptet, diese Achtung müsse einer »Seele« gelten und die Kulturen, die sich dazu gedrängt fühlen, würden also eine Seele, wie sie doch nur Menschen zugeschrieben werden dürfe, in Naturerscheinungen hineinprojizieren, sie würden also dort etwas sehen, was lediglich sie selbst phantasierten. Zusätzlich wird mehr oder weniger explizit behauptet, diese Projektion von menschenartiger Seele müsse den Verstandesarmen eben die rationale, wissenschaftliche Erklärung ersetzen, zu der sie nicht fähig sind. Schließlich wird diese angebliche Projektion mit allen Gesten ihrer täglichen Erinnerung in Ritualen und Bildern als »Naturreligion« den monotheistischen Systemen gegenübergestellt und als Götzendienst verachtet. Nur, sagten die Hindu, weil die Engländer nicht die wunderbare Bedeutung der Sonne zu ehren vermögen. Selbstverständlich sind die Ansichten sehr verschiedene mit ihren je eigenen Mitteln und Methoden, wie eine Weltansicht, so sagen die Brüder Humboldt, beobachtend, feststellend und erklärend zur Wissenschaft oder dankend und verehrend, fürsorgend und befürchtend zur Religion oder handelnd in mehr oder weniger ich- oder weltbezogener Nützlichkeit zur Ökonomie entwickelt wird. Die Frage ist nur, ob in der Welt hier und da jeweils völlig andere Kräfte oder Energien am Werk festgestellt werden oder ob ein Grundbewusstsein von dem großen, im Grunde ungeteilten Strom alle diese Beobachtungen durchzieht, diesen Strom, den Hegel die Aufteilungen der abendländischen Welt poetisch überschreitend »Weltseele« nennt – »Pulsieren ohne Unruhe …« Der indische Philosoph Chaturvedi Badrinath betont, dass die Energie als weiblich betrachtet wird – die shakti des Gottes. Die kosmische Energie ist, sozusagen, eine Frau. Eine Frau ist die Lehrerin der Menschheit. Als die Mutter ist sie in allen Wesen. Sie wird verehrt in allen Weisen des Menschseins, devi – Freundschaft, Bekenntnis, Freundlichkeit, Verständnis, auch Schlaf, Hunger, Begehren, selbst Ver91 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Energien und Resonanzen

wirrung. Vor allen diesen Erscheinungsformen beugen wir den Kopf. Alle menschlichen Haltungen sind verschiedene Formen von Energie, eben nicht Charaktereigenschaften, nicht Gene. Wenn gelehrt wird, den Schlaf zu verehren und sogar die Verwirrung, dann wird deutlich, dass sie als Übergänge verstanden werden, in denen bestimmte Haltungen, Auffassungen, Bewertungen sich auflösen, um neue Antworten auf das Leben entstehen zu lassen. Das bedeutet auch, dem einen zweiten Blick zu widmen, was man ablehnt. Es mag richtig sein abzulehnen, dennoch ist zu prüfen, ob das Abzulehnende nicht gleichzeitig auch eine notwendige Ergänzung zur eigenen Haltung, Vorstellung enthält, besonders, wenn es um einen Gegensatz der Bewertungen geht. Badrinath hebt noch einmal für die Gegenwart die alte Lehre besonders des »Mahabaratha« hervor, die auch den Tod als eine Verwandlung der Energien zu leben gibt. Wir müssen nur begreifen und annehmen, dass wir im ganzen Leben immer wieder sterben. Medizinisch-biologisch, indem Zellen absterben und ersetzt werden. Physiologisch, wenn etwa Zellen unseres Gehirns alte Bahnungen auflösen und in Re-organisation, wie Gerald Hüther sagt, zu neuen Funktionsweisen zusammentreten. Psychisch, wenn wir falsche oder auch nur überzogene Bewertungen aufgeben müssen. Solche Wendungen sind die Bedingung für Erneuerungen unseres Lebens. Wir haben uns in falsche Beziehung zu uns selbst gesetzt, zu unserer Welt ebenso. Das fahren zu lassen, nennt die indische Tradition, und die buddhistische Philosophie besonders, Illusionen aufzugeben. Wir lernen hier, dass wir ebenso gut sagen können, uns zukommende Energie frei werden zu lassen. Solches Freigeben ist zugleich eng verbunden mit neuer Wirksamkeit. Immer wieder ist für den Übergang die vielleicht wichtigste Erinnerung die an das, was wir lieblos Pubertät zu nennen pflegen. Statt von biologischer Geschlechtsreife oder für die Konfirmanden von theologischer Zurechnungsfähigkeit zu sprechen, wäre eine neue Weise herauszuarbeiten, wie wir am Leben teilnehmen. Kinder dürfen ihr Leben als Geschenk nehmen. Sie arbeiten daran, ihre Anlagen kennenzulernen, auch schon auszubilden und dabei behutsam und fordernd mit den Kräften umzugehen, die sich uns mitteilen. Dann kommt der Übergang dazu, am Leben der eigenen Welt verantwortlich teilzunehmen. Vielleicht machen uns die afrikanischen Traditionen besonders anschaulich, was Initiation in solchem Zusammenhang bedeu92 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Energie

tet. Tirmiziou Diallo schildert die Vorgänge so schön für ein europäisches Verständnis, wenn er die Phase der Trennung der Kinder von der gewohnten Gemeinschaft in der kleinen und der größeren Familie darstellt, um die Phase der Verwandlung des Bewusstseins, an einem eigenen Ort im Wald, auch einmal allein, übergehen zu lassen in den neuen Eintritt als Jugendliche im Dorf. Diallo zitiert die Tradition der Peul dazu mit dem Wort: Wer nicht stirbt, solange er lebt, ist tot, bevor er stirbt. Unabhängig vom indischen Rad der ewigen Wiederkehr kann die Wiedergeburt mitten im Leben noch freier ihre Bedeutung entfalten. Eine grundlegende Bedingung dafür ist, mit dem Fortschreiten zu bewussterer Wirksamkeit, uns erneuert rückzubinden in den vorbewussten Grund der Existenz, der schon in den Schritten der Kindheit an manchen Stellen verlassen wird. Sinnlich geschieht das, wo schon in den Anstrengungen zum aufrechten Gang doch auch die selbstverständliche Freude an der Schwere soweit verloren geht, dass unsere Freundschaft mit der uns tragenden Erde erst neu erworben werden muss. Etwa, indem nun unsere Füße mehr das Organ dieser Freundschaft werden als alle anderen Glieder. Diese Rückbindung nennt Sartre in seiner Anthropologie das immer wieder notwendige Eintauchen in das »domaine biologique«. Wir sprechen hier davon, wie wir uns der Allverbundenheit unserer individualisierten Energien mit der Energie versichern können, die wir auch als das Leben überhaupt begreifen.

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INDIVIDUELLE STILE DER ENERGIE

Nehmen wir noch einmal die indische Lehre von den drei tamas als Ausgangsfigur. Die indische Philosophie sieht in ihnen drei Grundcharaktere, eben eigentlich Richtungen unterschiedlicher Energien und beobachtet sie in ihren Wirkungen sowohl im Kosmos überhaupt wie in den einzelnen Wesen, den Menschen. So erfasst sie die unterschiedlichsten Wirkweisen und Reaktionen. Solche Vorstellungsweise ist der abendländischen von Temperamenten nicht so unähnlich. Das Entscheidende ist jedoch, dass sie nicht auf das jeweilige Ergebnisbild abhebt, sondern im Bewusstsein von Wirkkräften eher nach dessen Antrieb fragt. Klar ist, dass hier das Wort Energie nicht in dem mechanistischen Sinne gebraucht wird, den ihm das physikalische Weltbild des neunzehnten Jahrhunderts im Westen aufgezwungen hat und der dann in so viele andere Bereiche wie insbesondere die des psychologischen Menschenbildes übernommen wurde. Dieselbe Entwicklung hat auch das Wort Trieb oder Antrieb bis in die Tiefenpsychologie hinein mit der Vorstellung von einem Motor verbunden. Davon lösen wir sie hier. Es geht mehr um Wirkweisen als um Wirkungen; mehr um Gesten als um ballistische Dynamik. Beide Beobachtungsebenen zu verbinden, scheint mir sehr interessant. Temperamente von cholerisch bis apathisch, heiter bis melancholisch wären dann auf die in ihnen zum Ausdruck kommende Art von Energie zu befragen. Sie würden in den Fluss von Ereignissen und Wirkungen gezogen und als bestimmte Typen des Antwortens charakterisiert, statt als Eigenschaften zu gelten. So wären sie weniger statischer Natur. Die tamas insgesamt werden gedacht als Gegenstand unserer Anstrengungen, Freiheit zu erlangen, moksha. Freiheit wird damit zu einem Begriff für einigermaßen gelingende Bewegungen des Ausgleichens der unterschiedlichen Energierichtungen. Ein Charakterbild wird so aus der Feststellung von Invarianten gelöst. Die augenblickliche Feststellung dient dann dem Versuch, genau genug die fest94 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Individuelle Stile der Energie

gestellte Figur in die Geschichte des Wandels zu ziehen. Die abendländische Entstehungsgeschichte der Temperamente und Typen ist ebenfalls in einer Kosmologie verankert. Diese war jedoch, bei den Griechen, geronnen zu einer Lehre von vier Elementen und konnte sich entsprechend nie mehr von endgültigen Zuschreibungen lösen. Viel mehr wurden diese noch in die Geschichte der Völker übertragen. Als die theologische Bestimmung menschlicher Schicksale und Geschichten unter ausschließlich heilsgeschichtlichen Kriterien in der frühen Neuzeit zu zerfallen begann, kehrte die antike Lehre von den Temperamenten in ihrer Abhängigkeit von den Elementen als Erklärungsprinzip der politischen Theorie wieder. Norden und Osten, Süden und Westen wurden den Prinzipien von kalt und warm, nass und trocken zugeordnet und danach der Charakter der dorthin gehörenden Völker festgestellt. Dann ist Wandel eine Eigenschaft im Gegensatz zu erdgebundener Schwere und charakterisiert das Temperament der luftverhafteten Menschen oder die Ungreifbarkeit der wasserbestimmten. Das, worum es jedoch immer geht, Verwandlung zur Freiheit von unbewusst uns beherrschenden Gestimmtheiten, ist bereits auf der unteren logischen Ebene der Beschreibungen vertan und heißt einfach Unbeständigkeit oder dergleichen. Die indische Auffassung kann hier gestaltende Geschichte wieder ins Spiel bringen. Die neuzeitlich westliche Auffassung gibt ihrerseits zwei analytische Beobachtungen zu berücksichtigen, die mir der indischen, wie eben jeder so alten Tradition zu fehlen scheinen. Im Lichte der Lehre von tamas und moksha könnte man sagen, dass bei uns die Energiearten nicht nur als solche gesehen werden würden, sondern auch kritisch gefragt wird nach den besonderen geschichtlichen Prägungen, in denen sie von außen, aus der gesellschaftlichen Situation und ihrer Strukturiertheit auf uns wirken. Wir wären dann zugleich auch von den tamas gewissermaßen in ihren kosmischen oder ursprünglichen Erscheinungsformen getrieben, dies aber von innen, sofern unsere innere Natur noch etwas Naturhaftes zu erfahren erlaubt. Wir hätten die Frage nach den historisch bedingten Blockaden von Energie und nicht nur die nach den verschiedenen Arten von Energien zu stellen. Von Sigmund Freud her oder gerade von Wilhelm Reich her, der bereits in Energieformen und ihren kosmischen Korrespondenzen gedacht hat, wären die lebensgeschichtlich individuellen Barrieren, »Panzerungen«, verdinglichten Hemmungen bewusst zu machen. Von Marx her oder, wiederum, von Reich her wären die gesellschaftlichen Strukturen zu berücksichtigen, die, in die Individuen 95 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Energien und Resonanzen

eingesenkt und eingewürgt, ihre Rolle spielen. Sie lassen sich ihrerseits als Erscheinungsformen der tamas beschreiben und begreifen. Aber es ist von Bedeutung, wie diese oder jene Energien bestimmte, historisch auftretende Agenten gefunden haben und wie sie durch diese auf uns, in uns, gegen uns wirken. Ich nehme jedenfalls an, dass die Art unserer Befreiungsbewegungen, nach außen und nach innen, darauf Bezug nehmen muss. Nach dieser Seite führt mich die Westen und Osten verbindende Überlegung dahin, unsere Wege der befreienden Verwandlung jeweils so zu sehen, wie wir sie je in Schritten mit einem unterschiedlichen konkreten Gegenüber machen. Verwandlung von Energien in uns kann nur in und aus uns selbst vollzogen werden. Gleichzeitig ist es alles andere als gleichgültig, an welchen konkreten Aufgaben wir diese, unbeschadet eigensten, Schritte zu leisten unternehmen. Die Widersacherenergien sind immer die zu verwandelnden. Aber wir können sie nur in uns verwandeln, wenn wir Stand halten den widrigen uns gegenüber und uns zu öffnen vermögen für die Begegnung mit den lebensfreundlichen. Mir scheint, Gandhi ist genau diesen Weg der immer heiklen, der kühnsten und demütigsten Balance gegangen zwischen den Taten der inneren und denen der äußeren Befreiung. Ein Weg, auf dem manches Mal die Tat eben darin zu finden ist, dass bestimmte Taten zu unterlassen sind. Moksha nimmt so den Charakter auch der ständig kritischen Selbstbefragung an, der bei ihm mit dem Begriff satyagraha ausgedrückt wird, dem inneren Ringen um Wahrhaftigkeit auch nach außen, aber auch den Anstrengungen für die äußeren Bedingungen innerer Freiheit. Verwandlung galt ihm als eine, modern würden wir etwas zu strategisch noch sagen, dialektische Bewegung zwischen innen und außen, und das heißt auch nach innen und außen. Moksha wird verstanden als die Freiheit, die widerstreitenden Energiearten zu wissen, praktisch zu unterscheiden und uns selbst zwischen ihnen zu bewegen. Eine fluchtartige »Entscheidung« ist keine. Wir sollten die unterschiedlichen Arten von Energie von einander scheiden, um die Bewegung im Zwischen zu ermöglichen. Stattdessen neigen wir dazu, sie zu Gegensätzen zu verdinglichen und eine undifferenzierte Wahl, entweder-oder, zu provozieren. Innerer Friede ist ein anderes Wort für solche Freiheit, sowohl zwischen den Energien und Zielen uns zu bewegen, wie eben auch von ihnen unabhängig zu werden. Wir werden dann im Geschehen der Auseinandersetzungen mit 96 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Individuelle Stile der Energie

tun mit allen Lebenskräften und dabei »den Kopf frei behalten« für das Ganze des Geschehens. Was wir wollen, ist dann nicht an etwas gebunden, das wir aus dieser Auseinandersetzung für uns an Land zu ziehen suchten. Eher bemühen wir uns darum, wie sich in uns die Energien umgestalten, während und indem wir in das Geschehen uns gegenüber eingreifen oder auch nicht eingreifen, jedenfalls aber so oder so handeln. Dies führt mich zurück zu der Beobachtung unterschiedlicher »Temperamente«, die nun nach unterschiedlichen Energiestilen einzelner Menschen, vielleicht auch ganzer Kulturen fragen lässt. Auch nach dieser Seite sehe ich eine wichtige Folge der Aufnahme der indischen Lehre in modernes Bewusstsein. Dabei werden die allzu groben Zuschreibungen sowohl unserer positivistischen Charaktervorstellungen wie der asiatischen Verwandlungsspiritualität nicht unwesentlich differenziert. Wenn wir einen Menschen als entschieden oder zögerlich, als aufbrausend oder verbindlich, als gierig oder gelassen beschreiben, so kann dies nur den Ausgangspunkt festlegen. Mindestens ebenso wirksam ist in unserem Verhalten die Geschichte solcher Einstellungen. In welchen Verwandlungsanstrengungen einerseits und unter welchen einladenden, sogartigen oder blockierenden oder stärkenden Einflüssen ist diese gegenwärtige Art entstanden, auf eine Situation zu antworten? Wir kommen dann dazu, ein Gefühl dafür auszubilden, welche Energien in einer Haltung, einem Verhalten wirksam sind. Damit wird nicht eigentlich oder nicht vorwiegend gefragt, wie sich jemand verhält; zum Beispiel ein Angebot ablehnt oder annimmt. Wesentlicher wird, über solche Feststellung hinaus, welche Art von Energien dabei im Spiel sind, wo es, also, weiter hingehen könnte. Freilich wird genauso deutlich, dass zu fragen ist, wie bestimmte Aussichten solche Tendenz – jetzt, im nächsten Schritt oder auf lange Sicht hin – eröffnet: urteilen und sich einfühlen, abschätzen und einschätzen, zutrauen und misstrauen. Zunächst wird durch solche Überlegungen nur menschliche Lebensklugheit rehabilitiert gegenüber der noch herrschenden, vielleicht auch immer systematischer das öffentliche Bewusstsein beherrschenden Reduktionstheorie der sogenannten Verhaltensforschung. Dann wird aber auch deutlich, dass der traditionellen Lehre, wie hier die so besonders klare indische, aufgegeben ist, solche Alltagsklugheiten grundlegender gegen widrige gesellschaftliche Verhältnisse zu verteidigen und zu ermutigen. Diese Aufgabe ist angesichts der er97 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Energien und Resonanzen

starrten Strukturen unserer Öffentlichkeit, die eben auch auf Starre hinwirken und öffnend-verbindende Energien blockieren oder in deren Gegensatz verkehren, notweniger denn je. Die lebensfeindlichen Strategien und Strukturen herrschen im Politischen, in den Institutionen, im Erziehungssektor, überhaupt in allem, was verwaltet wird. Darüber hinaus gibt erst eine eigene geschichtliche und lebensgeschichtliche Aufmerksamkeit für die Dimension solcher Klugheiten der Weisheit einen Ort im gesellschaftlichen Leben, die es zur Kultur macht. Diese Weisheit verbindet eben das geschichtliche und lebensgeschichtliche Bewusstsein den übergreifenden und unterfangenden Zusammenhängen, die jene Traditionen kosmologisch deuteten und figurierten. Uns ist aufgegeben, sie neu zu deuten und andere Figuren für sie zu finden. Dazu sind sie aber zuallererst und immer neu zu leben, zu erleben und lebend zu gestalten. Mit Sicherheit gehört die Aufgabe, unsere Gefühle für Energiestile auszubilden, in das Reich des Erotischen. Dürckheim hat uns Menschen nach »Mächtigkeit, Rang und Stufe« zu begreifen gelehrt. Dem möchte ich die erotische Dimension des Gespürs für energetische Stile hinzufügen.

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VON DEN ENERGIEN ZUR RESONANZ

Der Ausdruck Resonanz findet ähnlich wie die enérgeia neue Anwendungen und wird in alte Bedeutungen wieder eingesetzt. Dabei müssen einige Verwechslungen und Besetzungen aufgelöst werden, damit er für die neue Aufgabe geeignet wird, von dem Gemeinsamen doch sehr unterschiedlicher Felder zu sprechen. In der Physik bezeichnet Resonanz ausschließlich die Übernahme einer Schwingung durch einen zunächst unbeteiligten Körper, und zwar in exakt derselben Frequenz. In der Musik ist bereits eine Erweiterung des Vorgangs im Spiel; ein Ton bewirkt in einem Instrument nicht nur, dass dieselbe Frequenz in ihm schwingt wie die, die wir bei dem ursprünglichen Ton messen können. Es sind auch die Ober- und Untertöne mit aufgerufen, wenn die Schwingungen das Metall des Gongs, die Luftsäule einer Orgelpfeife, das Holz eines Geigenkörpers in Bewegung setzen. Hier deutet sich bereits an, dass es um mehr geht als eine präzise und bloße Wiederholung, die sich allein durch die Stärke der Intensität vom ersten Ereignis unterscheiden würde. Das Schema von Ursache-Wirkung, von Reiz-Reaktion im positivistischen Sinne erfasst nur eine schmale Bandbreite des Geschehens. Die aufnehmenden Körper repetieren nicht, was sie da trifft. Sie geraten in ein Mitschwingen. Mit Maturana könnten wir sagen, ihre Autopoiese wird in einer bestimmten Weise auf den Plan gerufen. Eine ganz eigene Weise zu reagieren wird von außen angestoßen. Wenn wir hier das Wort Resonanz in diesen und noch weiter gebundenen Zusammenhängen für sinnvoll erachten, so deshalb, weil uns gerade daran gelegen ist, nicht die Einwirkungen von den eigentümlich verwandelnden Rückwirkungen, das Messbare nicht von anderen Seiten der Phänomene zu trennen. Letztlich suchen wir eine Ausdrucksweise, die nicht Qualität gegen Quantität abschottet und die Seele der Vorgänge in eine Metaphysik abschiebt, aus der sie nur theologisch oder esoterisch wieder zurückgeholt werden könnte. Wenn die 99 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Energien und Resonanzen

Schwingungen eines Klanges unser Ohr berühren, werden, wie im Instrument, die Ober- und Untertöne mit gegenwärtig, aber, mehr noch, Geschichten der Klänge und des Hörens, bei deren Erinnerung selber unsere Sinne wie die Seele in ganz spezifische Bewegungen einschwingen. Sie lassen gar nicht anders sich ausloten als in solcher Resonanz. Erst recht können wir niemals, was die Frequenzen mit unserem Leib tun, wenn sie auf die Haut treffen, und welche vielleicht nie bis zum Bewusstsein kommenden Empfindungen sie da aufleben lassen, irgendwie kognitiv abhandeln. Das Echolot der Resonanz weckt verschiedene Tiefen. Das Wort Resonanz meint Schwingungen, zunächst einfach eines Materials in seinen Teilchen oder in greifbaren Gegenständen. Selbstverständlich ist auch die Luft ein solches Material, ohne im alltäglichen Sinne greifbar zu sein. So sind die Übertragungen der Bedeutung unmittelbar angelegt. Luft vermittelt Schwingungen durch einen Abstand zwischen den sichtbaren Polen. Musikalische Schwingungen sind immer mit Empfindungen, Gefühlen und Gedanken verbunden über die Bewegungen unserer aufnehmenden Haut hinaus. Resonanz macht aufmerksam auf das Ereignis einer entstehenden und sich fortsetzenden Beziehung. Eine Beziehung baut sich in der physikalischen Beschreibung erst auf in einer weiteren Dimension, der der Phasen. Wie die Phasen einander überlagern, verstärkend oder schwächend, gibt den Ausschlag dafür, wie Schwingungen zu etwas Manifestem gerinnen – oder auch einander auslöschen. Wir müssten genauer wohl sagen, einander auszulöschen scheinen, so dass jedenfalls kein Gerinnen oder Verklumpen stattfindet. In der Welt der Erscheinungen und besonders der Lebewesen löst der Begriff des Rhythmus den der Phasen ab. Im Rhythmus bilden Resonanzen eigene Formen der Dauer aus. Rhythmen bestimmen entsprechend die Existenzweise aller Lebewesen, aber ebenso das Zusammenspiel von Elementen, Energien, Vorgängen in den nicht organischen Beziehungsformen. Sie können nicht willkürlich abgerufen werden; auch in gewohnte Rhythmen muss ein Vorgang, ein Lebewesen, ein Mensch nach einer Pause sich erst wieder einschwingen. Als verdichtete Formen von Resonanz wirken Rhythmen nicht nur ansteckend, sie geben auch ihre bestimmte energetische Gestalt zusammen mit ihren zeitlichen Metren mit vor. Rolf Elberfeld sagt in seinen Übersetzungen altchinesischer Philosophie eben auch Resonanz für Zeichen wie ying. Da wäre es sicher 100 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Von den Energien zur Resonanz

auch möglich, von Mitschwingen zu sprechen. Aber es muss schon noch hervorgehoben werden, dass da nicht aktive Bewegung auf passive Starre trifft und sekundäre Bewegungen erzeugt. Vielmehr sind alle Wesen und Dinge und Vorgänge der manifesten Welt in mehr oder weniger manifester oder gar nicht manifester Bewegtheit, die auf Begegnungen mit veränderten Bewegungsweisen antworten. Die physikalischen Darstellungen solcher Zusammenhänge, Zusammenklänge sind deshalb so beliebt, weil sie einmal mehr uns mit ihrer objektiven Ausdrucksweise ersparen, das Gemeinte auch existenziell, also sowohl begreifend wie eben auch unaussprechlich mitvollziehend zu sehen. Merkwürdigerweise gilt das sogar noch für die quantenphysikalisch begründete Einsicht, dass im Grunde die gesamte Welt der Erscheinungen, dass alles Manifeste nur eine nicht greifbare Urbewegung ist, die sich auf so wunderbar unendlich vielfältige Arten zu greifbaren Erscheinungen »verklumpt« oder gerinnt. Dass wir uns auch in diesem Wissen einer Bewegtheit in uns wie in allem Anderen bewusst sein dürfen und müssten, die weder innere noch äußere ist, die ungreifbar und folglich ununterschieden, also gemeinsam ist, dies auch als Grund unseres Lebens anzuerkennen und zum Grund unseres Erlebens zu machen, bleibt die menschliche Aufgabe. Sie löst aber alle identifikatorische Ontologie auf, an die wir seit Parmenides unsere abendländische Seelenruhe gebunden haben. Wir begeben uns auf den Weg einer Ontologie aus dem Bewusstsein einer Bewegtheit, die auf die verschiedensten Weisen in allem wirksam ist. In der klassischen Physik sprechen Begriffe wie Wellen und Felder von ihr, in der Goetheschen Naturwissenschaft werden die Spannungsbeziehungen zwischen Polen und die Steigerung betont. Der argentinische Molekularbiologe Cetkovich beschäftigt sich, auch als Pharmakologe, mit »dem Dialog der Moleküle« und macht damit bewusst, dass den »Botenstoffen«, von denen allgemein die Rede ist, eben wirklich Botschaften zugrunde liegen zwischen den kleinsten biologischen Einheiten. Goethe spielt mit Analogien von »Wahlverwandtschaften« in der Chemie und in Beziehungen zwischen Menschen. Leibniz charakterisiert die Aufnahmefähigkeit der Monaden für Gestaltinformationen, die ihnen durch andere Monaden begegnen, mit dem Begriff »appetit«. Er greift damit eine Grundvorstellung aus der Engellehre des heiligen Thomas von Aquin auf. Engel gewinnen ihr Wissen von Gott nicht durch umständliche Akte des Lernens, sondern

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werden, je nach dem Grade ihrer Nähe zu Gott, des Göttlichen inne, indem sie, man kann eben sagen, mit ihm in Resonanz sind. Ein Wissen vom Verbundensein liegt dem selbstverständlich zugrunde, weil hier ein elementares Getrenntsein gar nicht gedacht wird. Alles hat einen gemeinsamen Grund, wie die Heiligengestalten und die Menschen und die Tiere und die Berge und die Blumen einer mittelalterlichen Malerei auf dem Gold oder Blau, das sie alle trägt. Sie brauchen keine perspektivischen Verhältnisse zu einander und kein stoffliches Medium, um in Übereinstimmung zu sein. Die Menschen wissen, dass sie mit allem eine Welt bilden. Alles antwortet auf einander. Noch bei Paul Gerhardt, dem Protestanten des 17. Jahrhunderts, heißt es: »Ich singe mit, wenn alles singt / und lasse, was dem Höchsten klingt, / aus meinem Herzen rinnen.« Das Wort Resonanz gehört zur Wahrnehmung des Hörens. Vom Mitschwingen zu sprechen, geht zu einer allgemeineren Feststellung über. Die zeitgenössische Physik übersetzt, umgekehrt, gerade alle Schwingungen in Klang und macht sie auch für das menschliche Ohr hörbar. Die innere Bewegung etwa der Sonne wird so oft potenziert, dass wir sie als Klang hören können. Physiker untersuchen den »Klang des Genfer Sees« oder des Bodensees. Wie immer metaphorisch der Ausdruck sein mag, er verbindet die Vorstellung von allem Schwingen mit dem Begriff Resonanz und gibt noch dem unterschwelligen Mitschwingen einen Anklang an Wahrnehmung. Die Verwandtschaft und Familienzugehörigkeit aller Dinge, Wesen und Vorgänge wird ebenso erkennbar wie spürbar. Zwischen der theoretischen Konzeption eines quantenphysikalischen »alles ist zunächst eins« und einem vielleicht nur ganz gelegentlichen und ungreifbaren Gefühl von Einklang oder Dissonanz, Stärkung und Schwächung eigener Beschwingtheit, zeigt sich eine vermittelnde Vorstellung. Baudelaire nennt es »Korrespondenzen«: »Die Natur ist ein Tempel, in dem lebende Säulen manchmal verschwommene Worte von sich geben …« Wir setzen noch einmal neu an bei dem bio-logischen Grundsatz von Gregory Bateson: »Ein Unterschied ist nur ein Unterschied, wenn er einen Unterschied macht.« Die knappe Formel bedeutet nichts Geringeres als die Ablösung erkenntnistheoretischen Denkens durch eine existenzielle Beobachtung. Wir sind gewohnt, gegebene Unterschiede zu registrieren und zu vergleichen. Aber bei welcher Instanz soll ein Unterschied Geltung haben, der nicht eine Wirkung auslöst? Die Frage 102 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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bringt zu Bewusstsein, dass wir unser Wahrnehmen und das Wirken der Erscheinungen so verbuchen, als ob sie nicht zwei Seiten eines Vorgangs wären. Wenn wir wahrnehmen, verändert sich etwas in uns, etwas macht uns einen Unterschied, den wir auf verschiedenste Weisen erleben und vielleicht auch einen Unterschied nennen, der aber vor allem uns in unseren Lebensbewegungen beeinflusst. Wahrnehmung ist Bewegtwerden, und Unterschied bedeutet Wandel. Es geht um Beziehungen, die entstehen, erneuert werden, sich verändern, aufhören. Freilich ereignet sich das immer auf dem Hintergrund ungezählter anderer Beziehungen. Beziehungen sind Austausch. Wandel vollzieht sich im Austausch. Unterschied ist eine Kategorie des Wandels, der Bewegung. Es geht nicht um Feststellungen, eher um den Akt des Feststellens, der aber ausgelöst wird durch ein In-Bewegung-Geraten. Der uns treffende Unterschied macht einen Unterschied in uns, der uns auf dessen Ausgangsbewegung hinweist. Wir geraten in Bewegung auf vielen Ebenen, die alle unsere Reaktionsvermögen durchlaufen können: vom Wiedererkennen von Bekanntem oder gar Erwartetem bis zum Zögern vor Neuem oder dem Stress des Erschreckens – aber auch in den Dimensionen neuronaler Impulse bis zu denen gefühlsmäßiger Zuordnung und kognitiver Reflexion. Nichts ist mechanische UrsacheWirkungs-Kette; jede Situation bildet sich als spontanes Zusammenspiel aus, wie bestimmend dabei auch immer ein Raster von eingespielten Kooperationen in Anspruch genommen werden kann. Im Übergang von gehirnphysiologischer Forschung zu biologischen Verhaltensfragen hat besonders Gerald Hüther unsere Vorstellungen für die Tiere und Menschen in diese Richtung gedrängt. Während ich dies schreibe, melden die Tageszeitungen weitergehende Beobachtungen dazu. Sie setzen an den viel zitierten Transmittern oder Botenstoffen an, fragen aber nun danach, woher die Botschaften kommen. Die Antwort wird in Vermittlungen gesucht, durch die das Gehirn aus Psychologie Biologie macht. »Die Signale, die zur Abschaltung oder Aktivierung eines Gens führen, können entweder aus dem eigenen Körper oder aus der Umwelt kommen. Da der Mensch aus neurobiologischer Sicht ein auf Zuwendung und Beziehung ausgerichtetes Wesen ist, bedeutet dies für die Schulmedizin … den Lebenskontext eines Patienten … einzubeziehen.« Die Seele, sagt der Psychologe Rolf Verres von der Universität Heidelberg, sei nicht das Ergebnis der Gehirnaktivität, sondern sie bediene sich des Gehirns und verändere das Nervensystem. Der Arzt präzisierte dies am Begriff Resonanz: Sie 103 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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sei jene Kraft, die die Welt im Innersten zusammenhalte. Resonanz gebe es zwischen Leib und Seele, zwischen Menschen und Menschen und zwischen Menschen und Umwelt. Resonanz als das Prinzip von Atomen, Molekülen, Organen, Organismen und des Einzelnen zu seiner Mitwelt bedeute das Aufeinanderbezogensein durch Mittönen, betont Verres. Es sei ein »Auf-der-gleichen-Wellenlänge-sein«. Nicht betont wird die Frage, wie weit Organismen sich dem Mitschwingen versperren können, was auf der physikalischen Ebene nicht denkbar ist. Je höher organisiert die Autopoiese der Wesen ist, desto einschneidender dürfte auch diese Möglichkeit gegeben sein, auch wenn dabei entscheidende Schäden die Folge sein werden. Die berichteten Forschungen wurden bei den namhaften »Goldegger Dialogen« vorgetragen. Abschließend heißt es: »Die Resonanz auf der Ebene des Menschlichen bedeute aber auch die Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen; und das sei wichtig bei heilenden Kräften.« Diese heilenden Kräfte sind natürlich keine anderen als die Grundenergien, von denen wir mit den Begriffen Energien oder Resonanz sprechen, sobald wir nicht mehr die kosmische Einheit betonen, sondern ihre von einander zu unterscheidenden Wirkungsorte in der Welt der Erscheinungen.

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ENERGIE UND EKSTASE

Wir haben die Energien gerade als die Welt insgesamt durchwirkende eingeführt. In den einzelnen Wesen, Vorgängen, Dingen treten sie in individuellen Prägungen hervor. Alles liegt daran, ihrem Wirkungsvermögen uns zu öffnen; durchlässig zu werden, statt zu blockieren. Insofern könnte Hingabe das richtige Wort sein. Dann gehen wir allerdings einmal ab von den unterschiedlichen, ja, gegensätzlichen Richtungen, die wir mit der alten indischen Philosophie charakterisiert haben und die sicher nicht einfach Hingabe, sondern ausgleichende Bewegung erfordern. Oder bedeutet dies eben, zu lernen, uns der versäumten Richtung hinzugeben? Das große Wissen von Schamanen ist notwendig, um diese Unterscheidungen genau treffen zu können. Sie machen gemeinsame Sache mit bereits geprägten Energien, die nur nicht an einzelne Erscheinungen ausschließlich gebunden sind. Ich spreche dagegen hier von den Grundenergien, die uns tragen, wenn wir uns auf dem Grund aufruhen lassen, und die uns aufrichten, wenn der Atem in uns einströmt. Und auch das sind schon Erlebensweisen der einen oder anderen Art. Wir können die Energien noch ungeteilter wissen in aller Bewegtheit, die sich in der Festigkeit des Steins verbirgt und im Wachstum der Lebewesen offensichtlich wird. Wir müssen natürlich mit dem Wirken dieser Bewegtheit meist in ihren alltäglichen Erscheinungsweisen leben. Wir bilden unsere eigenen Kräfte für die verschiedensten Zwecke aus, machen Gebrauch vom Wachstum der Pflanzen und Tiere, schützen uns vor Naturgewalten und suchen sie für unsere Zwecke zu nutzen. Aber wir erfahren auch absichtslos das Wirken dieses Bewegtseins. Was wir Ansteckungen nennen können, was mimetisch uns innerlich in Bewegung versetzt, was erotisch uns berührt, bringt Andeutungen davon ins Spiel. Dem uns entschiedener in bestimmten Momenten hinzugeben, sollte mit dem Begriff der Ekstase verbunden werden. Sie liegt allem Mystischen sehr nahe; bei Abhinavagupta anders als bei Meister Eckhart und doch 105 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ähnlich. In der Ästhetik von Abhinavagupta kommt sie in den unterschiedlich charakterisierten Stimmungen, den ra¯sa, zum Ausdruck. In der frühen griechischen Philosophie erfahren wir sie als hymnische Bewegung des Denkens, das sich als Seelenfahrt lesen lässt, wie der Weg des Parmenides zur Göttin der Wahrheit, und im Rhythmus der Versdichtungen widerspiegelt. Mit Bedacht wird Ekstase von ganz anderen Seiten her eingeführt als jenen spektakulären Ausbrüchen, die verständnislose Faszination beim modernen Beobachter auslösen. Moderne Zivilisationen haben die Wahrnehmung all der feiner und tiefer vermittelten Wirkungen vernachlässigt. Das Rauschhafte wird weder aus seinen Quellen im großen Feld der Bewegtheit begriffen, noch werden Zugänge gesucht, indem man sich dem zu öffnen lernt. Stattdessen wird einfach das Gegenteil zu den gewöhnlich organisierten Lebensformen gesucht, als ob ein Schalter umgelegt werden würde. Eine Droge wird eingeworfen, nicht um sich von ihr auf einem Weg unterstützen zu lassen, sondern um ihr das Steuer zu übergeben. Besessenheit wird angenommen wie eine feindliche Übernahme. Begeisterung gilt dann als die erträglichste Stufe von verlorenem Verstand. Die ganze Skala der Irrationalität scheint auf den Plan gerufen zu sein. Gemeint ist jene Irrationalität, die erst mit der Vorherrschaft modern verkürzter, nämlich identitätslogisch rekonstruierbarer Rationalität geschaffen worden ist. Was deren Kriterien nicht gerecht werden kann, gilt seitdem – wesentlich markiert die Scholastik diesen Einschnitt – als irrational. Die gleiche Scholastik hat inquisitorisch die Individuen dafür verantwortlich gemacht, falls sie solcher Irrationalität Raum in ihrem Erleben gewährt haben. Paul Valéry hat die Problematik der Verstandesbegrifflichkeit genau am Beispiel des Begriffs Zeit, jener Zeitleiste, die Gegenwart unmöglich macht, aufgedeckt. »Die Idee oder das Wort Zeit kommt zustande durch ein Bedürfnis … Es sind die Bedürfnisse nach Konservierung.« Der Verstand braucht einen Fixpunkt, um Veränderungen zu konzipieren. Einige unserer Sinnesorgane nehmen dagegen Wandel selbst wahr. Die Ordnung dieser Wahrnehmungen erläutert Valéry am Modell Rhythmus, einer Folge, die eine Organisation bildet. Momente dieser Organisation sind aber nicht feststellbare, messbare, begrifflich identifizierbare Elemente, sondern im Leben sich ereignende, spürbare Bewegungen: »Dabei sind, was sein wird und was eben gewesen ist, positive Dinge. Es sind wie Formen von Energie – empfun106 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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dene« Formen von Energie. Sein Beispiel sind Bewegungen eines Armes. »Der Arm, der handeln wird – der Arm, der eben gehandelt hat, sind positive Wahrnehmungen.« Es ist alles daran gelegen, jenseits und diesseits eines Verstandes für die alltäglichen Bedürfnisse die Vermögen unseres Wahrnehmens offen zu halten. Valéry sagt: »Eines der Verbrechen unserer Physiologie, ein bislang nicht zu korrigierendes Verbrechen, ist die Notwendigkeit, die Zeit (der Reaktion und des übrigen) durch die gemeine Uhr zu messen.« Wohlgemerkt, die Notwendigkeit, das heißt das Bedürfnis des Verstandes: »Und der Begriff selbst von Zeit … führt auf falsche Wege.« Als ich 1980 Gregory Bateson besuchte, war gerade ein Bericht von einem seiner und Margaret Meads Schülern aus Neu Guinea gekommen. Er forderte mich auf zu raten, welche Worte dort in den letzten zwanzig Jahren in der Sprache der Papua eine Rolle zu spielen begonnen hatten. Es waren die Worte für time und purpose – Zeit und Absicht. In dieser Linie ist der Gegenbegriff zur Irrationalität und insbesondere zur Ekstase strategisch gefasst: Verstandeskontrolle. Wer sich dem logisch nicht Kontrollierbaren hingibt, versündigt sich am Verstand, dem obersten Charakteristikum des Menschen, und gerät damit mehr oder weniger ins Tierreich. Kindern werden derartige Verfehlungen nachgesehen, weil sie noch nicht zur vollgültigen Menschlichkeit berufen sind. Der französische Wortgebrauch spricht von einem »âge de la raison« und meint, Kinder würden im Laufe der ersten Schuljahre fähig zur Vernunft. Dann ist endgültig unentschuldbar, wenn den Mädchen und Jungen auf dem Schulweg oder bei einem ganz sie beschäftigenden Spiel der »Zeitsinn« abhanden kommt, d. h. wenn sie die Zeitleiste der im voraus gezählten Minuten und Stunden verlassen. So ging es mir, als ich sieben war und der Sohn vom Schmied mir meine erste Kastanienflöte schnitzte aus einem kleinen Stück Ast, von dem sich am Anblasloch die vorgeritzte Rinde lösen ließ. Die Abendsonne gab ihm und seiner Handarbeit und der Schmiede hinter uns ihr milde glühendes Licht. Aber sie erinnerte mich nicht an die Zeit des Abendessens, zu dem ich von den Erwachsenen erwartet wurde. In dieser Hinsicht ist Zeitverhaftetheit der Gegenbegriff zur Ekstase. Sofort stellt sich die Frage, was in uns während unseres Schlafes, im Kindesalter, während schwerer Krankheiten, im späten Alter geschieht. Durch all diese Phasen, des Lebens- oder des Tageslaufs, sind wir nicht von dem Zwang oder Drang beherrscht, unser Fühlen, Den107 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Energien und Resonanzen

ken, Handeln nach vorgegebenen Zeiteinheiten zu organisieren, Einheiten, die nur Maße sind, ohne etwas mit den Gegenständen dieses Fühlens, Denkens, Handelns gemein zu haben. Oft wird Ekstase als Außersich-Sein übersetzt. Alle Phasen, an die wir hier gerade denken, sind aber so bestimmt, dass wir besonders bei uns sind, nicht abgezogen durch eine vorherrschende Aufmerksamkeit auf ein neutrales Schema wie den Blick auf die Uhr. Wir haben also Ekstase gegen noch andere Formen des Außersich-Seins abzugrenzen, gegen Formen der Fremdbestimmtheit. Andererseits ist offenbar die Freiheit davon, einer äußerlichen, neutralen Ordnung wie der gemessenen Zeit verhaftet zu sein, eine Bestimmung, die der Ekstase und anderen Situationen des Menschen gemeinsam ist. Diese anderen Situationen sehen wir genauso fern von jeder willkürlichen, absichtsvollen Kontrolle durch unseren Verstand und wissen auch zugleich, dass das Schweigen dieser Kontrolle nichts mit Schwachsinn, Demenz oder Irrsinn zu tun hat. Eine besondere Weise, sowohl bei sich wie auch außer sich zu sein, macht die ekstatische Situation aus. Ich meine, sinnvollerweise sollte der Begriff des ekstatischen Bewusstseins in genau diesem Zwischen verortet werden. Sowohl bei sich, im Gegensatz zu Fremdbestimmung und Bewusstseinsverlust, wie auch außer sich zu sein, erscheint als Paradox – es sei denn, das, womit wir in uns verbunden bleiben, und das, womit wir uns außer uns verbinden, wären nicht getrennte, einander ausgrenzende Felder! Eben dies ist der Fall, wenn sich die Energien treffen, ja wieder vereinigen, die nur unter bestimmten Bedingungen und für bestimmte Sichtweisen in uns ihre individualisierten Formen und in den Wesen, Vorgängen, Dingen der Welt andere Ausprägungen erfahren haben. Nietzsche nennt solch individualisierte Ausprägungen in der klassisch griechischen Persönlichkeit das Apollinische am Menschen, das uns unsere Eigenart, unser Auftreten in der Welt und auch eine aktive Strahlkraft nach außen ermöglicht. Er sieht zugleich die Gefahren der Isolation des Einzelnen von der Welt, die uns tragen muss und die uns in unseren Begegnungen wie in ihren Forderungen belebt. Sein Lob des Dionysischen gilt dem ausgleichenden Geschehen, in dem das prägend Trennende gelöst, aufgelöst, durchlässig gemacht wird für ein Erleben einer innersten Bewegtheit in ihrer Verwandtschaft mit einer viel weiter wirksamen. Wir sprechen von dem Gewinn und den Verlusten, die das principium individuationis mit sich bringt. Im Erotischen wird jene Vereinigung von innen und außen auch 108 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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bei Nietzsche Lust genannt. Aber es kann nicht die willkürlich gesuchte Lust sein, sondern sie muss als Geschenk kommen. Im Mystischen wird das ein Inne-Sein genannt eines von irgendwoher Erfahrbaren. Man kann nicht auf sogenannte Erleuchtungen ansitzen wie der Jäger aufs Wild. Das Wort Erwachen dafür ist auch deshalb wohltuend, weil es eine Situation bezeichnet, in der wir uns bewusst werden, wie uns etwas geschieht, das auch geschieht, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, das dann aber sich nicht für unser Bewusstsein ereignet, es nicht erreicht und prägen kann. Wir sind zwischen Aktivität und Passivität. Wir machen nicht, was sich ereignet; aber es würde sich nichts ereignen, wenn wir nicht stark mit unserem Bewusstsein dabei wären. Im schönsten Sinne ist das Spiel. Wir könnten es auch Tanz nennen, wenn Tanz nicht Bewegung einsetzt, um bestimmte Formen zu realisieren, die aus einer bestimmten Formengeschichte ausgewählt werden. Zur Abwehr solch vorgefasster Formengeschichten greift Nietzsche zu dem Wort Chaos: »Nur aus Chaos kann noch ein Stern geboren werden.« Sokrates ist mit dem Eros und seiner vierten Erscheinungsweise, nämlich der des Wahnsinns, der Ekstase am nächsten. In ihr sind die Menschen ihrer regulären Welt entrückt, indem sie zugleich vom Göttlichen ergriffen werden. Für ihn ist das Göttliche schon nicht mehr magisch oder mythisch in eine bestimmte Richtung geprägt, sondern es ergreift als umfassende Weltkraft überhaupt den Menschen in der Tiefe seiner Existenz und auf der Höhe seines Bewusstseins. Der göttlich initiierte Wahnsinn erfüllt die Menschen, für eine bestimmte Weile, so sehr, sie schwingen so stark in dieses große Feld der Energien ein, dass für die Dinge der kleinen Ordnungen nicht mehr viel Raum bleibt. »Nun aber werden uns die größten der Güter durch Wahnsinn zuteil, freilich nur einen Wahnsinn, der durch göttliche Gabe gegeben ist.« So grenzt Plato im »Phaidros« die Bewegungen der Seele, die wir auch Begeisterung nennen, ab gegen Verwirrung und Umnachtung des Geistes, die wohl körperlich zu erklären sind. In einem weiteren Sinne haben sie alle etwas Erotisches. Eine Richtung auf das Entzücken an einem geliebten Menschen wird in der Rede des Sokrates ausdrücklich dem Eros zugeschrieben und damit gegen vernunftlose Begierde abgegrenzt. Der göttliche Wahnsinn hebt eben nur heraus aus den Rastern einer, sonst durchaus nützlichen, Verstandeskontrolle – in der Liebe, aber auch, auf andere Weise, im Wahrsagen der Orakelpriesterinnen, das ein »Wahnsagen« genannt wird. 109 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Solcher Wahnsinn ist »Veränderung der gewöhnlichen regelmäßigen Zustände«. Dabei »befiedert« sich die Seele. Plato nennt das Prinzip dessen, woran die Seele sich entzündet und Flügel bekommt, die Schönheit. Wie Schönheit begriffen wird, soll hier nur angedeutet werden. Der Begriff ist jedenfalls dem der gelingenden Ordnung und des umfassenden Bewegtseins nahe, nicht dem Gefälligen. Dass nun »zum Heil dem Liebenden und dem Geliebten die Liebe von Göttern gesendet wird«, um dies zu beweisen, entwirft Plato ein bedeutendes Bild von innerer Lebendigkeit. Die Seele gleicht »der zusammengewachsenen Kraft eines gefiederten Gespanns und seines Wagenlenkers«. Ein doppelt komplexes Bild. In der Fahrt vereinigen sich das Zusammenspiel des Gespanns und des Lenkers sowohl als auch das der beiden Pferde miteinander. Um ganz deutlich zu machen, dass dieses Zusammenspiel nur eine Fahrt – wir müssten sagen, eine Übung – sein kann, die wesentlich gerade von den Spannungen bestimmt wird, betont Plato, dass es ein »Doppelgespann« zu lenken gilt, dessen eines Pferd »von gegenteiliger Abkunft« ist als das andere. »Der Beweis aber wird allerdings den starken Geistern unglaubhaft, den Weisen aber glaubhaft sein.« Ekstase sollte befreit werden von dem Missverständnis einer Zivilisation, die keine grundlegenden Beziehungen zwischen ihren kleinen Ordnungen und einer großen Ordnung kennt und sich so etwas auch nicht vorstellen kann; einer Zivilisation, die ihre Strukturen nicht für den begrenzten und wandlungsbedürftigen Niederschlag von Ordnung in einem ganz anderen, einem eigentlich immer potentiellen Sinne hält, sondern sie festhält wie den letztgültigen Fahrplan zu einer höchst banalen Unendlichkeit. Gegenüber solchen Strukturen inszeniert sich Sehnsucht nach Anderem als Hysterie. Nur mit einigen hysterischen Symptomen können Trancezustände Ähnlichkeit suggerieren. Hypnotische Eingriffe in die Bewusstseinsschichten eines Probanden sind in Wirklichkeit nicht zu vergleichen mit den Übungen des Sich-Einschwingens, wie sie im Drehen von Sufi-Tänzern oder den Tänzen einer Geisterbeschwörung oder einer Götterverkörperung in Afrika erprobt werden. Vielleicht ist der beste Zugang zu der unendlich vielstufigen Skala ekstatischer Momente zu gewinnen, wenn wir den alten Ausdruck »Fahrten der Seele« aus dem engeren Zusammenhang schamanischer Rituale lösen. Es muss eben gar nicht immer so dramatisch zugehen, und die Abwesenheit der alltäglich notwendigen Kontrollen der Men110 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Energie und Ekstase

schen über Leib, Geist und Seele muss nicht erklärt werden mit den Bildern einer magischen Sicht der Weltverbundenheit, z. B. der Vorstellung, dass der Schamane in einer, imaginären, Nabelschnur zum Himmel auf oder in einer anderen in die Unterwelt niederfährt. Die Seele kann eben auch ein wenig schweifen: »Ich ging im Walde so für mich hin und nichts zu denken, das war mein Sinn …« Gewiss gibt es auch die schwarze Magie. Sowohl als solche magische Okkupation eines Bewusstseins als auch in den modernen Formen suggestiver Kurzschlüsse zwischen unkontrolliertem Potential an Begehrlichkeiten und den Interessen der Werbungsstrategie. In diesen Feldern werden die Menschen wirklich von sich selbst getrennt. Ekstase sollten eben andere Zustände heißen, in denen wir ebenso außer uns wie zugleich, auf neue Weise, bei uns sind. Der Begriff kann nur historisch anthropologisch gefasst werden. Eine fortgeschrittene und fortschreitende Entfremdung der Menschen durch die modernen Zivilisationen trennt zunehmend die einzelnen Lebensgeschichten von den Grundenergien des Lebens, allen Seins überhaupt. Diese Trennung schwächt und erzeugt eine, mehr oder minder bewusste, Sehnsucht nach der verwirkten Einheit. Sie tritt nun als dumpfe Depression oder als übertriebene Sucht auf. Auf der anderen Seite sind die Individuen auch durch eine aufklärerische Emanzipation gestärkt. Die lebensgeschichtliche Selbständigkeit hat also ihre Situation nach zwei Seiten verändert. Das tätige Vertrauen darauf, von einer großen bewegten Ordnung getragen zu sein, wurde entscheidend entkräftet. Ein sichereres Gefühl dafür wiederzugewinnen, kann sich nur unter der Bedingung ereignen, dass die Kontrollen, mit denen die Emanzipation ebenso verbunden ist wie die Trennung, durchlässig werden dürfen. Gerade dies fürchtet aber das emanzipierte Ich, das sich durch die Kontrollen seines Verstandes Freiräume gegenüber gesellschaftlicher wie naturbedingter Übermacht gewonnen hat. In Freuds Begrifflichkeit gesprochen, müssen wir sicher die Emanzipation des Ich vom Es noch einmal nach der anderen Seite vollziehen. Unser Ich muss sich von seinem Modell Über-Ich nicht nur so befreien, dass es eine selbständige Instanz wird, sondern auch andere Strukturen ausbildet; wir müssten besser von anderen Beziehungsmustern sprechen, die erneut, d. h. reflektiert auf Es durchlässig werden. In dieser historischen Lage ist es ungewiss, wie sich unser Selbst verstehen kann. Abhinavaguptas Gewissheit, das Selbst aller Selbste ist dasselbe, interpretieren wir so lange, bis sie unverständlich werden muss. Uns 111 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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hilft da kein Gott, auch nicht jener mystische Shiva. Kants Mündigkeit der Individuen lässt in den modernen Gesellschaften weitgehend auf sich warten, zumal die Dialektik der Aufklärung neuen Machtsystemen erlaubt, gewonnene Freiräume zu okkupieren. Wie können wir uns neue Weisen des Selbst erfinden? Offensichtlich können wir nur darauf hinarbeiten, ihm gute Bedingungen für eine Bewegungsfreiheit zu schaffen zwischen der Freiheit wovon, der Freiheit wofür und der Freiheit woher: Spielräume multipolarer Felder, in denen etwa Aufklärung und Weltvertrauen zwei besonders wichtige Pole bilden. Wie unberührt von diesen Fragen kann Proust plötzlich von einer ganz tiefen und ganz stillen Ekstase sprechen: »… die Kürze unseres Lebens ist eine Täuschung der Sinne.«

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ZWISCHENSPIEL LILA¯

Der Begriff ist zu übersetzen mit Spiel. Gemeint ist das Spiel des Lebens, von der einzelmenschlichen bis zu den gesamtkosmischen Stufen. Dass die Hindu-Welt diesen Begriff für alle lebendigen Geschichten zum Leitbild wählt, geht eigentlich schon aus ihrer Energienlehre hervor. Ist doch deren wesentliches Moment das Zusammenspiel schon der drei ursprünglichen Energierichtungen. Mehr noch als für dieses abstrakte Denkmodell trifft lila¯ die existenzielle Notwendigkeit, sich und die Welt im Zusammenspiel zu bewegen. Ein Mobile ohne Aufhängung oder Verankerung. Also den Vogelschwärmen sehr ähnlich. Ein Miteinander zwischen Nähe und Abstand, Anziehung und Abstoßung. In der dinglichen und der biologischen Welt ereignet sich dieses Anziehen und Abstoßen einfach, indem ein Unterschied als Unterschied wirkt und eine Reaktion ihn fortsetzt. Ohne eine solche Wirkung, die ihrerseits ein reagierendes Gegenüber zur Bedingung hat, gibt es keine Unterschiede. Gedachte Unterschiede sind ein Denkspiel des Menschen. Wir mischen hypothetische Vergleiche in die immer tatsächlichen Beziehungen der Welt. Damit fügen wir intellektuelle Störungen in die selbstverständlichen Wirkzusammenhänge der übrigen Welt ein. Diese Eingriffe werden bestimmte Formen von Energien so oder so ins Spiel bringen. Wenn dies dann noch ein Spiel, also ein wirkliches Hin und Wider, weiterhin sein soll, werden wir als Menschen noch eine besondere Energieform zum Ausgleich für das Eingreifen einbringen müssen: jenes Öffnen unserer Aufmerksamkeit im Hemmen unseres Dranges zu projizieren, das Gabriel Marcel so eindrucksvoll ein Sichbereit-machen nennt, nahe beim Staunen. lila¯ steht für diese Grundauffassung von der Welt in ihren Bewegungen des Wandels. Ebenso bezeichnet der Ausdruck eine bestimmte Aufführung und ihre Tradition, etwa das jährliche Krishna lila¯ als Vergegenwärtigung des Wirkens dieses Gottes durch die Menschen eines bestimmten Gemeinwesens. 113 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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III. ZWISCHEN

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BEWEGUNG IM ZWISCHEN

Die Bewegungen des Lebens ereignen sich immer in einem Spannungsfeld, also in einem Zwischen. Wir bewegen uns zwischen den Anlagen in uns, den Möglichkeiten um uns, die auf uns warten, und der jeweiligen Wirklichkeit, die all das begrenzt. Das Spannungsfeld bedeutet zugleich, dass wir in einer letzten Wahrheit, in unserer Sehnsucht und in manchen Augenblicken vielleicht wirklich eins sind mit dem Ganzen der Welt, das sich dabei selber immer verwandelt. Bewegung wie Wandel gehört diesem Zwischen an. So denken und erleben und handeln wir jedoch nur in den seltensten Fällen, weil unsere Aufmerksamkeit so stark auf das gerichtet ist, was wir gerade in der Hand haben oder in die Hand bekommen wollen. Dies oder jenes, also Getrenntes. Haben, also festhalten. Da wir uns nicht nur praktisch vorwiegend so verhalten, sondern uns – in der abendländischen Tradition besonders stark – auch in diesen Kategorien zu denken gewöhnt haben, muss auch die einfache Beobachtung sich mit so komplizierten theoretischen Gewohnheiten auseinandersetzen. Wenn wir über Bewegung nachdenken, müssen wir sie deshalb zwischen zwei Fragen sehen, denen das abendländische Denken und Erleben fast immer ausgewichen ist. Die eine Frage ist die, was wir eigentlich mit dem Wort Zeit meinen. Die andere kreist um den Komplex der Einheit und des Getrennten im Sein von Menschen und Dingen. Die Grundannahme ist die, dass wir es mit getrennten Einheiten zu tun haben. Diese Hypothese verschärfen wir, indem wir nach den einzelnen Identitäten dieser Einheiten fragen und mit Definitionen antworten, die sie gegeneinander abgrenzen. Dass dieses Verfahren die Grundannahme der Trennungen fortsetzt, ist offensichtlich. Dennoch dürften wir uns kaum der Tatsche bewusst sein, dass wir so die anfängliche Strategie zu einem theoretischen Gebäude machen, das diese Annahme zusätzlich mit der Würde einer Erkenntnis ausstattet. 117 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Zwischen

Wir bemerken das umso weniger, als die Strategie ein praktisch in unzählbaren Fällen sehr vorteilhaftes Verfahren begründet. Genau zu wissen und zu sagen, womit man es zu tun und womit man es nicht zu tun hat, ist für die allermeisten Entscheidungen des täglichen Lebens von großem Nutzen oder sogar notwendig. Für das Verfahren können wir uns auf das Prinzip aller Vorgänge und Verhältnisse überhaupt berufen: Nicht nur Urteile unseres Verstandes, Leben insgesamt bis in die biologischen Elementarvorgänge vollzieht sich in einem Wechselspiel von Unterscheiden und Vergleichen. Dabei muss offenbar das Unterscheiden zuerst kommen. Sonst gibt es nichts zu vergleichen. Schon sind die getrennten Einheiten in den Status von Bausteinen der Welt erhoben. Wir lassen dann beiseite, dass selbstverständlich Unterschiede nur aus einer Haltung des Vergleichens gemacht werden können. Scheinbar beginnen wir mit dem Unterscheiden, und bedenkenlos versäumen wir, das Getrennte wieder in Beziehungen zu setzen, aus denen wir es gerade herausgeholt haben. Was im Unterscheiden nur gedanklich getrennt worden ist, gilt nun als ein Getrenntes in der Realität. Seit dem vorsokratischen Atomismus hat Europa die Vorstellung, dass die Welt aus Bausteinen zusammengesetzt ist, und fragt nach dem Bauplan und dem Material. Bis hierher ging es darum, welche Erkenntnisse von den Dingen und Verhältnissen der Welt wie gewonnen werden und in Entscheidungen unseres Handelns umgesetzt werden können. Nun gibt sich der menschliche Verstand nicht zufrieden, wenn er nicht auch wissen kann, wie die Welt »ist«. Vielleicht aus intellektueller Neugier, vielleicht um die Welt mit tieferem Verständnis bewundern zu können, sicher aber, weil wir sehen, dass wir bestimmte Vorgänge anders nicht zu unseren Zwecken anordnen können. Wie sind Verbindungen und Vereinigungen möglich, wenn die Einheiten doch getrennt sind? Die Elemente wie die Kräfte wie die Menschen? Der indische Buddhismus hat auf diese und ähnliche Fragen geantwortet, indem er die Trennungen ein für alle Mal verneint. Die Dinge als getrennt wahrzunehmen, gehe aus einer Selbsttäuschung des menschlichen Verstandes hervor. Diese emphatische Behauptung halte ich ihrerseits für abhängig vom Stand der Entwicklung der Hindu-Welt bereits zu dem Zeitpunkt der Lehre von Nagarjuna. Sie war ebenfalls stark von einem Geist des Trennens bestimmt. Hinweise sind etwa die Sprache mit ihrer weit fortgeschrittenen Substantivierung oder die hoch entwickelte Mathematik. Beide stellen Systeme dar, in 118 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Bewegung im Zwischen

denen feste Einheiten die Grundannahme bilden und grammatische bzw. logische Regeln deren Kombinationen konstruieren. Alain Danielou hat das in seiner »Semantique Musicale« und Rolf Elberfeld in seiner Untersuchung der »Phänomenologie der Zeit im Buddhismus« dargestellt. Einmal mehr ist eine Position darin berechtigt, dass sie eine andere, entgegengesetzte korrigiert. Aber auch die buddhistische Korrektur zu den Strategien der Trennung geht mit ihrer Vehemenz über die Schwelle hinaus, jenseits derer sie selber zu einer absoluten Geltung tendiert. Dies hat einen Grund, der von Nagarjuna wie von vielen anderen sehr deutlich genannt wird. Allerdings kommt er in den Formulierungen nicht als Grund vor, sondern an der Stelle der Argumentationen, an der er als Folgerung präsentiert wird. Es geht den Buddhisten darum, den Menschen Einsichten zu vermitteln, die ihnen helfen, unser Leiden in dieser Welt hinter uns zu lassen. Sie haben sicher zu Recht, zumindest bei weitgehend verdinglichten Auffassungen in ihrer Kultur, beobachtet, dass die Menschen unter den Trennungen leiden und sich nach Vereinigung sehnen. Ihnen sagen sie, getrennt erscheint die Welt nur den Menschen, die Trennungen machen; in Wahrheit ist sie eine. In ihrem Ganzen dürfen wir uns aufgehoben wissen. Wir müssen nur die Selbsttäuschungen weglassen, mit denen wir Getrenntes festhalten. Die Kritik richtet sich selbstverständlich gerade auf dieses Festhalten und unsere Motive dafür, nämlich unseren Genuss am Besitz von diesem und jenem, also Getrenntem. Unser Leiden leidet unter mangelndem Besitz von diesem und jenem, also hört es auf, wenn wir uns klarmachen, dass es das alles in Wahrheit gar nicht gibt. Forget it, sagen heute die Amerikaner. In dieser Welt erscheinen aber die Dinge nicht nur der menschlichen Wahrnehmung als getrennte, sondern in allen praktischen Fällen benehmen sie sich auch so, und sei es, um die verschiedensten Verbindungen mit einander einzugehen. Solange wir an diesem Leben teilnehmen, tun wir also gut daran, das, was »in Wahrheit« Täuschungen sind, für wenigstens eine Schicht von Wirklichkeit zu nehmen und so gut auszubilden wie möglich. Das kann nur nicht alles sein. Gerade die Hindu-Welt hält uns eine weitere Lehre bereit, die auf diesen Widerspruch, sagen wir, zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, antwortet. Sie gibt den Gegensatz von einer manifesten und einer nicht manifesten Ansicht der Welt als zwei einander ergänzende Sichtweisen zu verstehen, deren Trennung wiederum nur den menschlichen Denk119 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Zwischen

weisen entspringt, die also nicht in Wahrheit einen Widerspruch bilden. Diesen Widerspruch gilt es also auch gar nicht aufzulösen, zu überwinden usw. Aufzulösen, zu überwinden versuchen sollten wir unsere Strategien des Trennens, und zwar eben da, wo uns die Widersprüche stören und die Trennungen leiden lassen. Im alltäglichen Rest dürfen wir dagegen solange und soweit an ihnen festhalten, als wir sie brauchen oder zu brauchen meinen und uns dieser Zweideutigkeit bewusst bleiben. Genau dies auszuprobieren ist die Übung, die wir mit dem griechischen Wort aiskesis bezeichnen – eben nicht die wütende Askese, die, beleidigt über die möglichen Täuschungen, gleich alles wegzulassen gebietet. Mehr noch. Eine beglückende Übung wird uns nahegelegt, etwa von dem Ästhetiker und Mystiker Abhinavagupta, der dem Shivaismus Kashmirs zugeordnet wird. In den Begegnungen mit dem in der Welt, das die europäische Philosophie im Anklang an die Einheit von Schönheit und Wahrheit das Schöne zu nennen gewohnt war, können wir durch die Trennungen hindurch unser letztliches Einssein mit dem Anderen erfahren. Es ist im Grunde das ernstliche Einssein mit Allem, das nur in begnadeten Augenblicken aufleuchtet zwischen einem Gegenüber und uns. Diese Augenblicke haben freilich immer noch unterschiedlichen Charakter. Manche sind mystische Erlebnisse; sie fügen uns unmittelbar mit dem Ewigen zusammen. Abhinavagupta gibt ihm den Namen seines Gottes Shiva. Die Theologien der Monotheisten sprechen von Offenbarungen. Interessant daran ist indessen, dass der indische Mystiker ganz bewusst, auf der Seite der Menschen, den Weg auch durch die Trennungen hindurch nimmt. Nur wo wir uns ganz als unser eigenstes Selbst zu leben vermögen, kann sich dieses Selbst in der Vereinigung seiner sonst unterscheidbaren Momente von Seele und Körper, Geist und Sinnen der Vereinigung mit dem »Selbst aller Selbste« öffnen. Weil dies eine Einheit wird, gegen den alltäglichen Gebrauch, den wir von unseren Gefühlen, Gliedern, Sinnen, Verstandesvermögen machen, sind wir von allen diesen Momenten her in der Lage, sozusagen den ersten Schritt der Öffnung zu machen. Durch die Sinne gewinnen wir ästhetische Zugänge, die darauf verwiesen sind, durch die Widersprüche und Trennungen der Erscheinungen der Welt hindurchzugehen. Darunter mögen wir leiden, dabei mögen wir Lust erfahren. Ohne die Sinne sind die Öffnungen rein 120 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Bewegung im Zwischen

mystischer, eben nicht derart vermittelter Art. Die Vermittlungen nennt die Theologie das Epiphane, das Durchscheinende. Goethe sagt: »Nur am Gleichnis haben wir das Leben.« Zur Befreiung gibt es also verschiedene Wege. Die reine Negation verneint einfach die Erscheinungen. Dieser Weg zur Vermeidung des Leidens ist allerdings ein langes Leiden am Überwinden des Widerspruchs. Der Weg andererseits der Vervollkommnung der Begegnungen mit den Erscheinungen und durch sie hindurch kann kein direktes Ziel vorweisen. Ihn zu gehen, ist eine Vielfalt der Freuden. Wer zu große Angst hat, an den erfreulichen Erscheinungen hängen zu bleiben – seine Seele unterwegs zu verlieren –, wird ins absolute Ziel flüchten, kann dabei freilich seine Seele auch noch an die Vorstellung von einem absoluten Negativen verlieren oder bleibt im schmählichen Vorgenuss der Negation an den leidvollen Stationen wütender Askese hängen. Die abendländische Version ist ziemlich dramatisch inszeniert. Octavio Paz fasst die Geschichte der Vorstellung von Liebe in der Wendung zusammen, dass diese Vereinigung zweier Menschen die Überwindung ihrer elementaren Trennung verspricht. Nicht eine wie immer unvordenkliche Einheit wiederzugewinnen. Entsprechend manifest sind auch die Trennungen und das Getrennte. Nur der Tod, den wir um unserer Endlichkeit willen fürchten, kann uns von diesen Trennungen erlösen. Dieses Modell ist ebenso dramatisch, wie die Voraussetzungen katastrophisch sind. Elegische Lösungen für martialische Versuchsanordnungen. Katastrophisch ist im Grunde vor allem die Auffassung von Zeit, die damit unweigerlich unser Leben beherrscht. Zeit ist dann Tod oder – was wir ihm gerade noch abhandeln können. Alles Messen der Zeit in quantitativen Einheiten spricht vom Tod, und zwar auf eine absolute Weise, nicht im Widerspiel mit dem Leben. Darum finden wir als abendländische, europäische, westliche Kulturen keine Beziehung zu Bewegung. Bewegung enthält Zeit als lebendige und gelebte und zu lebende. Wenn man ihr dies nimmt, trocknet sie ein wie die Pigmente einer Farbe ohne Öl. Wir behalten von der Bewegung nur die messbare Strecke zurück und die Frage, wie sie zu bewältigen sei. Zeit ist offenbar unser Wort eigentlich für das Fließende. Nun starren wir auf das Starre und halten es für so starr, wie wir es denken – in den Erscheinungsformen des Getrennten. In seinen starren Formen ist das Getrennte tatsächlich getrennt. Eines auch zu sein, vermag es nur im Fließen. Was feste Formen hat, ist im Fluss entweder einmal gewesen, 121 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Zwischen

bevor es erstarrte, oder wird wieder im Fluss sein, wenn es zerfällt. Dazwischen gibt es den Wandel, in dem wir, wie die Dinge, ein wenig zerfallen, anders werden und ein wenig neu erstarren. Leben ist dies Dazwischen. Existenz. In der Existenz treten wir aus unserem möglichen Sein in ein wirkliches, aus dem viel weiteren unseres Horizonts – zum Beispiel von Anlagen und Begabungen – in die deutlichen Grenzen einer bestimmten gegenwärtigen Lebensform. Das Aufregende der Existenz ist dabei die andere Seite. Zugleich verlieren wir sie an die äußeren Formen eines bestimmten Lebens, wenn wir diese nicht zugleich wieder dem Fließen anvertrauen. Das ist die Dimension dessen, was wir Zeit nennen. Einen Begriff von Zeit mit einer eigenen Aussage und Vorstellung können wir nur im Zuge einer existenzialen Philosophie finden. Aber auch solche existenziale Philosophie muss sich dafür noch einem Weiteren öffnen, das wir vor unserem Denken und Erleben in die Sicherheit falscher Feststellungen gebracht haben: eben das Einssein von Einheit und Getrenntheit. Auch das Paradox dieser Formulierung ist dadurch zustande gekommen, dass wir die Zeit aus dem Fluss gerissen und zu Zeitpfeilen, Zeitleisten usw. geschmiedet haben. Das haben wir getan und tun es immer wieder, sogar mit guten praktischen Gründen, weil wir nur jetzt die Welt als getrennte Erscheinungen und erst dann wieder einmal, wenn es uns überhaupt gelingt, als die eine denken oder erleben können und weil wir daraus schließen, dass die Welt so getrennt eine oder in Trennungen sein müsse, wie wir es zu denken, wahrzunehmen vermögen. Aber einige von uns, am ehesten in anderen Kulturen, vermögen ja die Gleichzeitigkeit von getrennt Seiendem und Einssein anzunehmen. Genau in diesem Augenblick schließen wir dann aber, dass Zeit überhaupt eine Täuschung sei, und folgern zum Beispiel wie die asiatischen Negationen des Lebens, dass wir uns des Wandels im Rade des Lebens möglichst schnell entledigen sollten. Dann haben wir jedoch das Geheimnis des Fließenden, das wir Zeit nennen, erneut verbannt, nur diesmal in der entgegengesetzten Richtung, an deren Ziel freilich ebenfalls der Tod warten wird. Diesmal nicht als die Erlösung vom Getrenntsein, sondern als die Erkenntnis des Nicht-Getrenntseins.

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ORDNUNGEN IM ZWISCHEN

Während ich am Winterhimmel über Berlin die großen Aufzüge der Krähenschwärme erwarte und die letzten Abteilungen der Stare Erinnerungen an die Sommerspiele in die Wolken schreiben, finde ich die Philosophen wieder, die von der Art von Ordnung sprechen, der ich auf der Spur bin. Bei Novalis habe ich immer schon den ersten Hinweis erhalten. Chaos ist die einzige Unordnung, aus der eine neue Ordnung geboren werden kann. So habe ich mir seinen Ausruf zurechtgelegt. Beglückend schon lange, dass die Richtung meiner Suche zu stimmen scheint. Aber noch keine Spur. Dann kam die einfach erregende Entdeckung bei Nietzsche. Ausgerechnet im »Zarathustra«, den ich als Abiturient empört in eine Ecke gewettert hatte. In der viel späteren Lektüre konnte ich die Schicht der pseudoprophetischen Sprache, biblisch-antibiblisch, wie sie mich abgeschreckt hatte, durchdringen. Da war es wieder, das Chaos. Mit all seinen Versprechungen und Sperren, die mir immer noch niemand aufzulösen half. »Nur aus dem Chaos kann noch ein Stern geboren werden.« Nun endlich Laozi und Zhuangzi. Der Kommentator übersetzt dao mit Ordnung und fragt nach der Art dieser Ordnung. Sie wird weniger charakterisiert als den europäischen Vorstellungen entgegengesetzt. Nicht linear, nicht Regeln gehorchend, die man von ihr abtrennen kann, eigentlich überhaupt nicht zu beschreiben. Alan Watts fügt im »Lauf des Wassers« tröstend hinzu »aber auch kein Chaos«, damit die schöne Ambivalenz wieder zurücknehmend, die Novalis und Nietzsche schon für das Chaos gewonnen hatten. Dafür taucht nun der Begriff Harmonie auf, den wir zu meiden gelernt haben, seit mehr Harmonie beschworen als nach ihren wirklichen Bedingungen geforscht wird. Bei Plato wird für die Harmonie der Klänge zweier Musikinstrumente eine grundlegende und strenge Bedingung aufgestellt. Sie können nur mit einander zusammenstimmen, wenn jedes für sich auf die 123 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Zwischen

an sich unhörbare Harmonie der Sphärenklänge gestimmt ist. So behält der Begriff durch die kosmologische Bedeutung eine Würde über alle vordergründigen Behauptungen von Wohlklang. Es geht schon um die Welt durchwirkende Entsprechungen; wir können auch Resonanzen sagen. Vielleicht ist das Platosche Weltbild den Grundvorstellungen der Welt des dao sehr nahe mit der Grundidee, dass die hörbaren Harmonien der materialen Welt verweisen auf die unhörbaren der Sphären. Aber alles ist anders. Die alten chinesischen Philosophen haben kein metaphysisches Weltbild. Die abendländische Metaphysik trennt eine materiale Welt der Erscheinungen von einer ideellen. Immerhin bildet die Vorstellung von einem Ideellen ein Zwischen, in dem die Erscheinungen als einander verwandt gelten können. Es ist nur leider eine meta-physische, eine ihnen fremde Verwandtschaft. Diese Trennung lehnt der Osten ab. Bei Novalis klingt Ähnliches an, wenn er sagt, dass das Unhörbare am Hörbaren, das Unsichtbare am Sichtbaren hängt. Insgesamt hat der Westen sich jedoch noch nicht entschlossen, jene Trennung, theologisch als Diesseits gegenüber einem Jenseits auf die Spitze getrieben, aufzugeben. Der Materialismus, der nur Materie als Diesseits ohne Jenseits anerkennt, setzt ja die Metaphysik negativ fort. Er kümmert sich nur dann nicht mehr um den Rest, den er einfach nach guter Tradition irrational nennt. Ich nehme zwei Aussagen zusammen, um entschiedener zu sehen, was Ordnung im dao meint. »Das Dao … hat keine bestimmte Form. Es folgt keinen bestimmten Regeln. Es ist so groß, dass man nie an sein Ende kommt. Es ist so tief, dass man es nie ausloten kann.« So wird Huainanzi bei Needham zitiert. Und Watts sagt vom »Prinzip des gegenseitigen Erzeugens« im Daodejing, »dass die Harmonie des Universums sich einstellt, wenn alle Dinge ihren eigenen Weg gehen dürfen, da jeder Vorgang in der Welt sein ›Eigenes‹ nur in Bezug zu allen anderen verwirklichen kann«. Die Ordnung wird damit als ein Wirken begriffen, das bei allen Formen, die das Wirken annehmen und ausbilden kann, selber keine Formen hat, und als ein unendlicher Vorgang. Ein Vorgang des Zusammenwirkens. Rolf Elberfeld sagt, »kein einzelnes Moment verursacht die Ordnung«, und beschreibt, was entsteht, sich zeigt und vergeht, als Phänomene von Resonanz. Wir werden dabei mit einer Schwierigkeit konfrontiert, die sich erst aufheben lässt, wenn ein weiterer Gedanke uns vertraut wird. Wenn das dao eine Ordnung dieser Art genannt wird, ist sie es, die in allem wirksam wird. Entschiedener noch, nur aus ihrem Wirken in 124 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Ordnungen im Zwischen

allem kommt überhaupt eine Vorstellung solch eines Einen, dao, zustande. Gleichzeitig soll die Ordnung aber im Zusammenwirken der vielen Phänomene, der »zehntausend Dinge«, wirksam und wirklich sein. Wir sind gewohnt, darauf mit der Frage zu antworten, ob denn nun das Eine die Ursache des Vielen oder das Viele die Ursache des Einen sei. Gedacht ist die Figur aber jenseits, nein, besser, diesseits von Ursachen und Wirkung. Offenbar wird mit dao gerade gesagt, dass das eine Ungreifbare eben in den vielen greifbaren Momenten der Welt sich ereignet. Es existiert nur in ihnen. Sie existieren, gleichzeitig, nur als dessen Wirkungen. Dao ist eines und vieles und kann das sein, weil dieser Begriff von Sein kein unveränderlich statischer sein soll, sondern einer des Werdens. Das eine große Wirken wirkt in den vielen mit sich, in sich selbst zusammen. Deshalb darf jede Erscheinung sich als Moment des Einen erleben und das Eine als das alles Verschiedene Durchwirkende gewusst werden. Die frühgriechische Formel von n kaffl p€n (hen kai pan) gibt das Gleiche zu denken; dieses Denken fällt aber ganz anders aus, weil das Sein als unveränderlich gedacht wird, während der Modus der Existenz des dao, sofern ein solcher Begriff hilfsweise erlaubt wäre, der des Wandels, der Bewegung ist. Von ihr sagen die alten chinesischen Philosophen auch, wie Parmenides vom Sein, dass sie nie begonnen hat und kein Ende kennt. Aber auch dies bedeutet etwas Anderes, weil die alten Griechen, und wir mit ihnen, und die alten Chinesen etwas Grundverschiedenes suchen. Der Begriff des Seins bestimmt das enai (einai) als unveränderlich, um daran einen festen Halt zu finden im unverlässlichen Wandel der Welt. Im dao wird dies eben als jener ewige Wandel erfahren, dem die philosophischen Meister sich anvertrauen. Ihre Gewissheit suchen sie nicht, indem sie den zehntausend Dingen misstrauen – wie der Metaphysiker dem, was bloß seiend ist, den Erscheinungen. Sie nehmen nicht den höheren Standpunkt ein, wie Nietzsche die transzendentale Logik kritisiert, sondern sie lassen sich in den Fluss ziehen, der trägt, was sich dem Wandel zuwendet oder nicht versperrt. Dass das Sein nie geboren sein und nie enden soll, wirft für die Ursachenlogik die katastrophale Frage auf, was denn davor und danach sei. Das dao als ewig zu wissen, bedeutet nur, keinen Zustand festzuhalten. Ihm Unveränderlichkeit nachzusagen, bedeutet nur, zu sehen, dass alles Greifbare und die es durchwirkenden Bewegungen immer im Fluss bleiben. Geheimnis statt Rätsel. Goethe brauchte sich nicht erst mit den chinesischen Philosophien 125 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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zu beschäftigen, um eine Vorstellung von Ordnung zu gewinnen, die denen des dao sehr nahe verwandt ist. Die alten Chinesen haben wie er mehr ihre Denkformen von der genau verfolgenden Betrachtung der Natur ausbilden lassen – statt die Erscheinungen der Natur darauf zu untersuchen, wie und ob sie unter die Denkformen der Erkenntnistheorie zu bringen seien. Dabei ergeben sich offensichtlich Vorstellungen von Polaritäten. Zwischen Polen eines Spannungsfeldes gibt es dann nur Bewegungen gradueller Verbindungen in zeitlichen Folgen mehr oder weniger gelingender Antworten des Ausgleichs der einen auf die anderen. Und zwar wird mancher Ausgleich im sich fortpflanzenden Rhythmus vor dem Auszugleichenden vorweggenommen, so dass die Linearität von Ursache und Wirkung aufgehoben wird – Prinzipien, wie sie in der quantentheoretischen Auffassung wiederkehren. »Dieser schöne Begriff von Macht und Schrecken, von Willkür und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, Vorzug und Mangel, erfreue dich doch …«, sagt Goethe in seiner »Metamorphose der Tiere«. Da ist er, dieser schöne Begriff von beweglicher Ordnung. Bewegliche Ordnung, das holt die neuen Kybernetiker hinter den Öfen des Systemdenkens hervor. Schwarmtheorien entstehen, weil das Zusammenspiel auch in gesellschaftlichen Formen anders muss verstanden werden können, als es konventionelle Organisationstheorie vorgeschrieben hat. Und die technologische Realität liefert sofort passende Demonstrationen. Massenhafte Aktionen rollen ab ohne sichtbaren Aufruf, ohne vorauseilende Planung, ohne Befehlsinstanz und zentrale Koordination. Die Manifestationen von Globalisierungskritikern anlässlich von Weltbanktreffen oder WTO-Gipfeln werden als friedliches Beispiel untersucht. Gezeigt wird, dass die vielen Menschen einander über ebenso viele Handys in laufend sich verändernden Mustern verabreden. Sie reagieren auf diese Weise alle zusammen auf alles, was alle einzeln wahrnehmen und weitergeben können. Jeder Mensch ist Empfänger und Sender. Jeder gibt weiter, was er sieht, ebenso wie das, wovon er hört. Alle reagieren auf die vielen Aspekte der Gesamtsituation, indem sie zunächst auf ihre Teilsituation reagieren und dies den Anderen mitteilen. Dabei haben diese Demonstrationen ein lokales Ziel, die Tagungsstätte des Gipfels, auf die ihre Aktionen sich richten, so dass von außen ein starker Parameter ihre spontan sich bildenden Ordnungen bestimmt. Bei den Aktionen der aufständischen Jugendlichen in den Pa126 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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riser Vorstädten war das anders. Ihre Bewegungen waren vollkommen unvorhersehbar. Sie zündeten Autos mal hier, mal da an, je nachdem wo gerade die Parole die Ketten der Handys durchlief. Mehr noch; sobald dort die Polizei und die Feuerwehr auftraten, verschoben sie Richtung und Gangart ihrer Ansammlungen ebenso plötzlich, um an ganz anderer Stelle aufzutauchen. Sie bildeten, von vielen einzelnen Häusern und Straßen kommend, diese Ansammlungen, die nie zustande kamen und deshalb nicht zu fassen waren. In fortlaufender Umbildung begriffen, durchzogen sie gemeinsam ganze Vororte. Gemeinsam hieß aber nur, dass sie sich in Abstimmung mit einander bewegten, ohne notwendig gleichzeitig am selben Fleck in Erscheinung zu treten. Räumlich versprengte Einzelne und kleine Trupps bildeten mit einander und mit größeren Haufen irgendwo zwischen Häusern, Straßen, Plätzen doch eine Einheit des Handelns. Diese Beschreibungen treffen tatsächlich gut Züge dessen, was uns bei der Beobachtung von Vogelschwärmen auffällt. Der Gegensatz zu den starren Formationen der sogenannten Ordnungskräfte betont diese Züge erst recht. Bewegungskommunikation, das heißt Kommunikation für Bewegung und durch Bewegung, ist eben etwas vollkommen Anderes als Aufstellung nach einem Plan, der im Voraus festgelegt und dann durchgeführt wird. Das eine hat eben mit Ordnung, das andere mit Regelmäßigkeit zu tun – Wirkkraft und Bewirktes. Offensichtlich ist aber auch, dass die Kommunikation im Schwarm von Vögeln einerseits und andererseits in der Jugendbande oder den Demonstrantenmassen sich in einem sehr unterschiedlichen Medium vollzieht. Die Vögel eines Schwarms bilden eine Gemeinschaft für Bewegung und durch Bewegung zugleich in ihren Bewegungen. Sie nehmen einander leiblich wahr und teilen sich leiblich mit. Physisch werden Nähe und Abstand zu einander, offenbar auch der Elan in diese oder jene Richtung sowie dessen Intensität oder Moderation sinnlich empfunden. Die Verständigung zu dem, was der voreingenommene Betrachter ihr Manöver nennt, wird nicht von einer semantischen Vorgabe abgeleitet. Dass dennoch Orientierungen eine entschiedene Rolle spielen, indem etwa eine Kuppel umkreist, in einen Straßenzug eingetaucht, über ein Dach der Flug hochgezogen wird, muss darin sich ergeben, wie alle diese Tiere die gleiche leibliche Wahrnehmung auch für die anderen Momente der Gesamtsituation ausbilden und eben auch spüren, wie die anderen Vögel mit ihnen diese wahrnehmen und darauf reagieren. Die je eigenen Reaktionen bilden die gemeinsame des 127 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Schwarms erst aus, wie sie zugleich als Teile dieses Ganzen entstehen. Das Zwischen nimmt ebenso viele Gestalten an, wie diese in ihm zu einer gemeinsamen Existenz verschmelzen. Die Beziehungen der Vögel zur Situation, zu einander und ihre Reaktionen schlagen sich gar nicht erst in Strukturen nieder. Dass sie sich ereignen und wie sie aufeinander wirken, das ist Ordnung genug. Die Ebenen der Kommunikation und ihre Gegenstände sind für die Handy-Haufen von Menschen sicher die gleichen. Sie setzen aber Wahrnehmungen in Informationen, diese in sprachliche Mitteilungen und Rückmeldungen um. Dabei hilft ihnen, dass alle diese semantischen Elemente vorab auf einen verabredeten, vielleicht auch spontan wechselnden, jedenfalls aber semantisch definierten Zweck bezogen sind. An sich wird ein freieres Zusammenspiel schon seit Jahrzehnten gerade da gesucht, wo starre Planung unübersehbare Reibungsverluste provoziert. Besonders offensichtlich und eben ökonomisch empfindlich wurden die Verluste bei der Arbeit am Band, die bei den Arbeitern hohe Ausfallquoten zur Folge hatte. Damals, nach 1972, entstand ein Modell, das als Befreiung von planmäßiger Aufteilung der Verrichtungen und vorgegebenem Leistungstakt vorgestellt wurde. Inzwischen haben die folgenden Rationalisierungswellen diesen Ausblick wieder verschlossen. Er hatte indessen ohnehin einen Mangel, der für weitere Versuche bestimmend bleibt. Zwar sollten die Arbeiter das Auto in freier Absprache und Kooperation ihrer Gruppen montieren; der Ablauf war jedoch indirekt weitestgehend festgelegt durch den Konstruktionsplan des Produkts. Die semantische Ebene beherrschte, unsichtbar im Gegensatz zum gewaltig installierten Montageband, die Arbeitsweise der Menschen. Das Beispiel ist für unsere Fragen nach einem anderen Typus von Ordnung deshalb interessant. Diese Ordnung ist im Grunde nicht beweglicher, als die Industrie sie seit der großen Maschinerie vorgab. Ihr Regelwerk ist nur von der materiellen Struktur in nicht materielle Strukturen übertragen; die Arbeiter müssen den Plan verinnerlichen – Informationsgesellschaft. Die Kommunikation der Handy-Banden ist auf ähnliche Weise vom greifbaren Aufmarsch nach Plan abgelöst. Ihren Zweck haben sie gleichfalls abstrakt festgelegt. Und dennoch, die Umsetzung erfolgt im vielseitigen Zusammenspiel der Informationen und Reaktionen mit einem wesentlichen Grad an Spontaneität. Es ist sogar durchaus wahrscheinlich, dass, übersetzt freilich in die Informationen ihrer Nachrichten, die jungen Leute – oder die Beteiligten der 128 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Demonstration – einander mitteilen, wie ihre Situation auf sie wirkt. Enge Passagen reizen als Deckung oder machen Angst als Falle. Freie Flächen müssen sehr schnell überquert, Zäune übersprungen, große Ansammlungen bewerkstelligt oder aufgelöst werden. Die vielschichtigen Durchdringungen von sinnlichen Wahrnehmungen, verstandesmäßiger Einschätzung und gefühlsmäßiger Befindlichkeit sind elementar im Spiel. Beschleunigung und Verhalten der Bewegungen gehen, auch über das semantische Medium der Sendungen, bestimmend in die Abläufe ein, während sie noch beim aufgelockertesten Montagemodell nur als Randbedingungen Einfluss nehmen können, wo das Zwischen weitgehend vom Produktdesign besetzt ist. Manchem wird es abwegig vorkommen, dass Überlegungen zwischen der Weltdeutung des dao und industrieller Arbeitsorganisation hin- und hergehen. Und selbstverständlich kann man sich nicht einfach für technische Probleme der modernen Gesellschaften Modelle bei einer altchinesischen Auffassung vom Zusammenwirken der Kräfte in der Welt abholen. Diese ist aber von abendländischen Philosophien gerade dadurch so grundlegend unterschieden, dass sie eben eine Auffassung vom Leben ist. Dann ist die Frage, wie weit gerade auch die gesellschaftlich bestimmte, geformte und notwendige Arbeit eine Dimension des Lebens der Menschen sein kann oder nur instrumenteller Einsatz zum Zweck des Überlebens. Jede Instrumentalisierung stellt eine Art Kurzschluss zwischen einem Zweck und dem Einsatz zu seiner Realisierung her. Damit wird das Zwischen als eigener Ort der Vermittlung aufgesogen oder zusammengepresst. Für das Wirken von Ordnung gibt es da keinen Spielraum mehr. Beziehungen können nicht wirken und noch weniger entstehen. Die Abläufe sollen ja gerade rationeller Planung und genormter Kontrolle unterworfen werden. Dann wird jedoch Bewegung auf ihre physikalischen Aspekte reduziert; denn wahrhafte, lebendige Bewegung folgt dem ordnungshaften Zusammenspiel, wie es eine unendliche Evolutionsgeschichte eingespielt hat – einer Ordnung im Zwischen. Doch wenn wir von Bewegung sprechen, müssen wir auch an das Einhalten denken. Sie gehören zusammen, ähnlich wie immer neue Gegenwart und Zäsur. Das Zwischen, dessen Beginn und Ende nicht spürbar gesetzt werden, würde Gefahr laufen, zu verfließen, sich spurlos zu verlieren ins Leere. Die Geschichten der Menschheit sind unvorstellbar reich an Erfindungen, die diesen Momenten Ausdruck verleihen, sie sinnlich zu erfahren geben, das Bewusstsein des Wandels 129 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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anschaulich vollziehen lassen. Wir unterscheiden gern religiöse Bedeutungen, die in Ritualen begangen werden, von den Sitten und Bräuchen anderer Schichten der Kultur und spontanen Gesten. Aber sie alle schieben sich in Wirklichkeit in einander. Einige Erinnerungen rufen das sofort in uns wach. Glocken oder Trommeln oder Litaneien, die rufen, den Alltag hinter uns zu lassen. Bei uns der Adventskranz, der davon spricht, dass in diesen Wochen das Jahr sich schließt. In Nepal kann das Jahr sich nur erneuern, wenn bestimmte Menschen den Tanz der Götter aufführen und alle sich auf Schaukeln schwingen und die Drachen steigen lassen. Noch wenn moderne Menschen, statt die Vesper zu singen oder den Angelus zu beten, zu einem sundowner greifen, markieren sie eine Pause, in der etwas geschieht, das nicht zu den Betätigungen und Geschäften des Tages gehört. Sigmund Freud hebt die Wichtigkeit der Rituale des Einschlafens hervor, die jedes Kind selber erfindet, weil sie so notwendig sind. Aber sie sollten nicht nur die Angst vor dem Wandel, den ja auch der Wechsel vom Wachen zum Schlafen bedeutet, verscheuchen. Sie sollten einem Bewusstsein für den Wandel seine Zeit und seinen Ort bereiten in uns. Vielleicht hat niemand so prägnant formuliert, worum es da geht, wie John Cage. Auf die Frage, ob eine gewöhnliche Handlung wie Öffnen und Schließen einer Tür denn Kunst sei, sagt er: »If you celebrate it, it is art. If not, it is not.« Cage hat Kunst und Ritual im Geiste des Zen dem besinnungslosen Ablauf der Verrichtungen mit der gleichen Geste entgegengesetzt. Eine Geste des Transzendierens, des Hinübergehens. Kunst und Lebenskunst fließen dabei ineinander. Sie bedürfen des Zelebrierens. Damit werden auf ebenso strenge wie undogmatische Weise die Kulturgeschichten des Einhaltens für den Wandel eingeschmolzen und für die modernen Lebenswelten neu geprägt. Mit solchen Gesten, Ritualen entlassen wir den inneren Souverän unseres kontrollierenden Bewusstseins, das Ego, aus seiner unverhältnismäßigen Pflicht, und unser tieferes Selbst kann sich der Bewegung einer Ordnung anvertrauen, die es ebenso erfährt, wie es sie mit zum Ausdruck bringt. Was genau fügt menschliche Bewegtheit der Ordnung, die wir erfahren, nicht planen, hinzu? Bernhard Waldenfels spricht von einem Überschuss. Durch unser Erkennen und Annehmen verwandeln wir, was uns geschieht und durch uns weiterwirkt. Im Annehmen gewinnen wir die Macht, Gestalt zu geben und Gestalten aufzulösen, Kräfte, Energien zu bestärken oder umzuwandeln. Der Dich-

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ter Friedrich Wilhelm Georg Hegel hat es unnachahmlich in der Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes« gesagt: »Das Leben des Geistes […] gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu etwas anderem übergehen: sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.«

Eine wesentliche Geste der Menschen, auf das Negative wie auf das Positive hinzuschauen, sind die Feste, die Kulturen dazu ausbilden. Ihr ruhiges Hinschauen. Ein Modell des bewegten Zwischen. Ein Urbild dieses Hinschauens ist die rabbinische Auslegung des zweiten Schöpfungstages, der Teilung der Wasser, in der die Erde auftaucht und dem Himmel gegenübertritt. »Damit nicht nur die Erde vom Himmel, sondern auch der Himmel von der Erde her gesehen werden kann«, heißt es in der Auslegung von Eveline Goodman-Thau. Die Teilung heißt rakia, Riss, und ist ihrerseits das Urbild der Zäsur. Diese Zäsur wird aber verwandelt in die Vorbedingung für die Resonanz, für den Dialog.

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DAS ZWISCHEN UND DIE FREMDHEIT

Eine Antwort der zeitgenössischen Philosophie auf die Unterwerfungen der Menschen und Kulturen unter gewaltsame Identitätsstrategien kommt vielleicht am entschiedensten in der Philosophie der Fremdheit von Levinas zum Ausdruck. Ich meine, dass wir sie nicht gut verstehen, wenn wir sie als bloße Gegenüberstellung nehmen. Schon dadurch wird zweifellos bereits geleistet, Fragen an uns selbst und an den Anderen möglich, ja, notwendig zu machen. Ich begreife sie aber darüber hinaus als eine Öffnung auf ein Zwischen. Würde es, wie in manch harten Interpretationen, bei dem einen und dem anderen bleiben, würde zwar die trotzige Behauptung monolithischer Identität durchbrochen. Aber der Satz »moi est un autre«, ich ist ein Anderer, ist nicht nur logisch als Paradox in die Welt gesetzt. Er bildet poetisch die Einladung ins Zwischen. Diese Einladung begründet ein, identitätslogisch gesehen, unmögliches Vertrauen. Wir sind damit auch aufgefordert, die unterschiedlichen, immer auch widersprüchlichen Seiten unserer selbst nicht zwanghaft an ein einziges Zentrum zu binden, sondern das Wechselspiel zwischen ihnen freizugeben. In diesem inneren Prozess wird dann die Fähigkeit erwachsen, ein Gegenüber – den Anderen, die Andere, das Andere – als einen Gegenpol zu uns wahrzunehmen und damit selber Pol eines Spannungsfeldes mit dem Gegenüber zu werden. Vielfältig eben auch in uns selbst. Es geht nicht darum, dass wir mit unserer Identität uns einer bedingungslosen Kapitulation überantworten. Vielmehr wird uns die Möglichkeit wieder eröffnet, die Wilhelm von Humboldt als das Prinzip des Dualis darstellt. Zwar tritt der Dualis auf als eine sprachphilosophische Figur. Gemeint ist dabei aber das existenzielle Wechselspiel. Es kann biologisch Co-Evolution, lebensgeschichtlich Co-Existenz genannt werden und darum in den Geschichten der Bildung von Menschen und Kulturen sich im Bewusstsein auch und wesentlich sprachlich vermitteln. 132 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Das Zwischen und die Fremdheit

Wir treffen hier auf den grundlegenden Unterschied von Individualismus und Individualität. Der Individualismus ist in seiner europäischen Geschichte im Wesentlichen durch die Strategie der Ausgrenzung geprägt. Die Sozialgeschichte erweist ihn als den Kampf der Einzelnen gegen die dogmatische Verfügungsgewalt der Kirchen und die autokratische der Feudalherren bzw. des Absolutismus. Gleichzeitig bestimmte sich das autonome Individuum aber auch so, wie das bürgerliche Recht Privateigentum definiert: das Recht und die Macht, andere davon auszuschließen. In diesen Verhältnissen wurde die Gefahr sehr stark, dass auf Fremdheit mit Ausschluss reagiert wird. Traditionelle Gesellschaften kennen solche Reaktionen ihrerseits durchaus. Sie bilden aber doch das eine Extrem in einer Vielfalt von Definitionen und Reaktionen, deren anderes Extrem die Figur des Gastes oder gar des Abgesandten höherer Mächte darstellt. Für die so heikel gewordene Möglichkeit eines Zwischen in den modernen Gesellschaften ist besonders interessant zu beobachten, wie eine Entfremdung der Individuen sich selbst und ihrer Mitwelt gegenüber Hand in Hand geht mit ideologischen Formen der Ausgrenzung des Fremden, die sich von denen etwa antiker Barbaren unterscheiden. Sie behaupten nicht einfach, mit dem Anderen nichts gemein zu haben, sondern errichten Identitätssysteme, in die das Andere mit bestimmten Rollenzuweisungen gerade einbezogen wird: heilsgeschichtlich als Wesen ohne Seele und menschlichen Status, als Heiden, die verdammt sind oder in Vorhöllen verwiesen. Gattungsgeschichtlich als Primitive, als überholte Vorstufe. Der Ideologien sind viele. Die wohl noch aktuellste ist die der Erklärung zu Entwicklungsbedürftigen. Humboldts Dualis sieht andere Kulturen, ebenso wie den anderen Menschen innerhalb der eigenen Sprachnation, als das menschliche Bewusstsein mit seinen eigenen Prägungen und Gestalten, an dem mein Bewusstsein erwacht, und zwar gleichzeitig zu sich, zum Anderen und vor allem damit zu einer gemeinsamen Sphäre des Menschseins. Ähnlich scheint mir die so wichtige Einführung, oder Betonung, des Begriffs der Differenz, insbesondere durch Derrida und Lyotard, ihren vollen Sinn erst einzunehmen, sobald an den Differenzen das Gewebe der Vergleiche ein Feld schafft, in dem Wahrnehmung und Denken in Bewegung geraten. Das ist logisch einfach so; Differenz lässt fragen danach, wozu etwas in Differenz sei. Aber ein derartiges Feststellungsverfahren genügt nicht. Es geht nicht darum, schon gar nicht im Philosophieren, eine Feststellung im Verhältnis zu einem bekann133 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ten Schema einzuordnen und abzugrenzen. Differenz meint die Aufforderung, in einem Wechsel der Bewegungen hin und wider etwas neu oder erneut kennenzulernen. Das ist ein Prozess der Verständigung. Wir verständigen uns über etwas, das plötzlich anders ist, und geraten dabei auch in eine Verständigung mit dem Anderen. Das muss keineswegs zu einem Einverständnis führen; aber wir werden, selbst wenn wir zu einer Ablehnung gelangen, dennoch an Verständnis für das Abgelehnte mehr gewonnen haben, als es die sofortige Zuweisung einer vorgefertigten Definition ermöglicht hätte. So verwandelt sich die Konfrontation in eine Art von Begegnung, besonders wenn das Gegenüber andere Menschen sind, andere Gruppen, andere Kulturen. Das Hin und Wider dauert, und die Dauer hat einen gewissen Rhythmus erfahren. Statt der zeitlosen Gültigkeit eines logischen Begriffs entsteht ein eigenes Zwischen, in dem wir auf einander bezogen sind. Man kann nicht an den berühmten Extremfall des Stockholm-Syndroms denken, wo sich im Verlauf der Wochen seltsame Verständigungen zwischen den Geiseln und ihren terroristischen Geiselnehmern vollzogen haben. Wir erinnern aber sicher auch selber Beispiele für manch unerwartete, unter Umständen sogar unerwünschte Annäherung. Dabei werden wir, wenn wir genau hinsehen, auch manches an uns selbst beobachten, das unser Wissen von uns selbst erweitert, verändert. Beschäftigt mit einer wirklichen Differenz, also einem uns bis dahin Fremden, werden wir immer in uns selber neue Differenzierungen entdecken oder ausbilden. Sofern dieser Vorgang uns unbequem ist, kann er zu umso heftigerer Abwehr führen. Sobald wir allerdings uns für diese Unbequemlichkeit, genauer, für ihren Anlass interessieren, wird sich, so oder so, unsere Mitwelt erweitert, unsere Vorstellung von ihr vertieft haben. Das sagt das Wort Interesse: dazwischen sein. Interessant ist mir, was mich in ein neues Zwischen hineinzieht. Wir sprechen im Grunde von Vertrauen. Dabei wird deutlich, dass Vertrauen, dessen Zeit-Ort in einem Zwischen entsteht, nichts gemein hat mit Vertrauensseligkeit. Umstands- und bedingungslos beim Andern zu sein, macht ein Zwischen ebenso unmöglich wie die totale Zurückweisung. Vertrauen ist offenbar eher ein Spannungsfeld, das vielfältige Bewegungen ermöglicht und erfordert. Vertrauen ist, mit anderen Worten, kein Zustand. Wenn wir tatsächlich einmal in einen anderen Menschen ein vollkommenes Vertrauen setzen, dann heißt auch dies nicht, dass wir jede mögliche Fremdheit ausschließen. Wir 134 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Das Zwischen und die Fremdheit

wissen dann nur, dass wir uns mit jeder möglichen auftauchenden Fremdheit eingehend beschäftigen werden, bis wir sie in das Spannungsfeld zwischen uns werden hineingezogen haben. Solange wir uns nicht selber in zu starke Gefahr geraten sehen, werden wir sogar ein jeweiliges, begrenztes und sinnvolles Misstrauen in das Zwischen hineinziehen. Wir werden eben lernen, uns in diesem Feld der Polarität von Fremdheit und Vertrauen zu bewegen und je vergleichend nach beiden Seiten zu blicken. Genauso, wie wir mit uns selbst zu leben gelernt haben werden. Die Gegenfrage wird laut, woher wir dieses Vertrauen nehmen sollen oder die Kraft dazu. Diese Frage kann nicht nur aus dem jeweiligen Kontext geschichtlicher Gemeinschaften beantwortet werden. Offensichtlich sind moderne Gesellschaften von einem besonderen Mangel an Vertrauen beherrscht. In traditionellen Gesellschaften spielt Vertrauen wohl eine viel grundlegender prägende Rolle; dafür werden dort auch besondere Misstrauenskulturen ausgebildet. Moderne Menschen setzen solche Unterschiede gern mit aufgeklärt und unaufgeklärt gleich. Das wäre aber fatal, weil dann Aufklärung verlangen würde, Vertrauen zu beseitigen. Wenn wir uns darauf einlassen, rational die Bedingungen der Möglichkeit von Vertrauen definiert bekommen zu wollen, haben wir bereits den möglichen Spielraum jenes Zwischen gestrichen. Vertrauen ist keine erkenntnistheoretische Disziplin. Vielmehr ist die Möglichkeit, vertrauen zu können, angelegt in der anthropologischen Notwendigkeit, Mensch überhaupt nur mit Menschen, als Mensch unter Menschen sein zu können. Das europäische Privatrecht wie die Verfassungslehre gehen freilich seit dem Zerfall des mittelalterlichen ordo von »dem Menschen« aus und denken Gesellschaft als Addition solcher Einzelwesen. Begriffe von Menschheit müssen von daher äußerst abstrakt ausfallen. Als die absolutistische Vereinnahmung der Subjekte, rationalisiertes Erbe aus feudaler Ordnung, aufgegeben werden musste, öffnete die Aufklärung zwei entgegengesetzte Perspektiven. Die bald vorherrschende Auffassung entschied sich für die Prinzipien, die das Individuum in die Isolation getrieben haben und Gemeinschaften eher als Addition, als Masse vorzustellen gaben. Diesem rationalistisch gedachten System mechanistischer Bauart wurde eine humanistische Auffassung entgegengesetzt, die nun Momente freier Begegnung zwischen Menschen und auch zwischen Menschen und der Welt zu entfalten suchten. Die Menschheit im Denken und Leben Wilhelm von Humboldts, der 135 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Kosmos als Durchdringung von menschlicher und Naturgeschichte bei seinem Bruder Alexander, die Weltliteratur bei Goethe und manche weitere Entwürfe um 1800, sicher auch die Vereinigungsphilosophie des jungen Hölderlin weisen in die zweite Richtung. Interessanterweise treten beim jungen Hegel bemerkenswert prägnante Denkfiguren für beide Perspektiven auf. Er sieht das entscheidend Menschliche, »das seiner selbst bewusste Bewusstsein«, entstehen zwischen dem einen Menschen in der Begegnung mit dem anderen. Um die Differenz zu betonen, sind es ein männlicher und ein weiblicher Mensch, zwischen denen sich das gemeinsame menschliche Bewusstsein ausbildet, indem sie und er sich des eigenen Bewusstseins dadurch bewusst werden, dass sie ihn und er sie als mit sich gleich erfahren, was das Vermögen des Bewusstseins betrifft, und zugleich als fremd. Die Andere, der Andere hat ein anderes Bewusstsein von diesem Vermögen. In dem frühesten Text der »Jenaer Realphilosophien des Geistes« wird diese Begegnung, in der Menschsein begründet wird, eigentlich Menschheit, als Liebe verstanden. Diese Figur gerät aber bei Hegel in Vergessenheit, sobald es sich darum handelt, die bürgerliche Gesellschaft und ihre Institutionen zu begründen. Das Modell heißt nun »Kampf um Anerkennung«. Die »Selbsterkenntnis im Anderen« ist zum Kampf gegen ihn geworden. Der Kampf wird um Eigentum, offensichtlich privates, geführt; die Anerkennung wird errichtet über der Achtung dieses Eigentums des einen und des anderen. Welch anderes Bewusstsein geht daraus hervor! Die negative Anthropologie von dem Menschen ist besiegelt. Gesellschaft muss durch Vertrag beschlossen werden. Sie stellt also ein System gegenseitig gegeneinander geltender Rechte und Pflichten dar. Kant nennt diese »eine ungesellige Gesellschaft«. Fremdheit wird zum Feindbild: »homo homini lupus« ist nur die bestialischte Formulierung dafür. Mit welch eigenartiger Konzeption haben wir Europäer überlebt. Im Innenverhältnis herrscht, jedenfalls institutionell, das Prinzip des Ausschlusses des Anderen vom Eigenen vor. Im Außenverhältnis werden die Anderen eingemeindet als mindere Stufe des eigenen Bewertungssystems. Beide Strategien müssen aufgelöst werden in einem neuen Geiste des Zwischen, an dem und in dem wir einander als Andere kennenlernen können. Die abendländische Philosophie der Gesellschaft hat tatsächlich Versuche in diese Richtung unternommen. Bei Rousseau, bei Kant, bei Hegel wird er Sittlichkeit genannt. Mit der Anerkennung des An136 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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deren gibt der gänzlich freie Einzelne, als der der Mensch ursprünglich gedacht wird, wesentliche Freiheiten auf, vor allem die, sich des Anderen und seiner Habe hemmungslos zu bemächtigen – Gesellschaftsvertrag heißt das Ergebnis. Erreicht wird jedoch nicht, dass ein Vertrauensraum entsteht für eine neue Freiheit, die der Begegnung. Das ist auf der Voraussetzung eines antagonistischen Naturzustandes nicht möglich. Die Menschen gewinnen Sicherheit gegeneinander. Weil sie sich zu dieser gegenseitigen Garantie von Leib und Leben verpflichten, weil sie die existenzielle brachiale Freiheit aufgeben, gewinnen sie alle einen höheren anthropologischen Status, den der Sittlichkeit. Das ist aber ein freiwillig eingegangenes Zwangsverhältnis. Zu seiner Aufrechterhaltung wird eine Institution eingesetzt und mit einer eigenen Gewalt ausgestattet – der Staat. Einer Sphäre gemeinsamen Vertrauens, in der die Einzelnen ebenso wie die Gemeinschaft sich in Begegnungen und Wandel begeben können, entsteht aber nicht. Das wäre eine Sphäre des Zwischen. Das kann sich wesentlich nicht ausbilden, weil die Sphäre besetzt ist: Ideell durch die Pflicht zur Sittlichkeit, materiell durch die Institution zu ihrer Durchsetzung. Uns ist die Freiheit zum Zwischen darin blockiert. Da auf diese Freiheit auch im Sozialismus nicht reflektiert worden ist, hat er die bürgerliche Sittlichkeit nur zu einem revolutionären Zwangsvertrauen weiterentwickeln können. Wo das Zwischen sich zur eigentlichen Existenzform der Gemeinschaft entfalten müsste, haben sich, mit den staatlichen, weitere, gesellschaftliche Institutionen des Zwangs etabliert. Dann werden wir aber auch nicht annehmen können, uns selbst fremd zu sein, als einzelne und als Gemeinschaften. Doch sofern wir leben und indem wir leben, leben wir im Vertrauen in die Fortsetzungen des Weltenganges, dem sich die Formen und Möglichkeiten unseres Lebens zusammen mit allem Anderen verdanken. Wir nennen diese Naturgeschichte der Welt Evolution und wissen damit, dass Fortsetzung Wandel bedeutet. Dieses Wissen ist ein gewissermaßen vegetatives. Gesund sind wir nicht, wenn »uns nichts fehlt«, sondern solange unser Leib mit seinen Organen und Gliedern Ungleichgewichte in Gegenbewegungen aufzunehmen und auf einen gelingenden Rhythmus hinzuwirken vermag. Religionen und Mythen und Magie suchen ein Wissen zu schaffen, das ein Vertrauen im Bewusstsein begründet. Wissen kann aber da grundsätzlich nur bedeuten, sich anzuvertrauen. Alle Tendenzen und Systeme, dieses Wissen aus dem Wandel des Existen137 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ziellen herauszumanövrieren und feste Strukturen zu konstruieren, verschieben die Strebungen des Bewusstseins in eine Suche nach positiven Sicherheiten. Das können rationale Begründungssysteme für Fragen des Glaubens sein wie die Kirchenstrategie der Scholastik; das können verregelte magische Zeremonien sein, wie sie sich dann als Aberglauben etablieren. In allen diesen Situationen wird das Fremde einem Exorzismus unterworfen, der als erstes die Möglichkeit eines Zwischen vernichtet. Dieser Gefahr überantworten wir uns allerdings täglich, weil es uns am schwersten fällt, eine vermittelnde Ebene des Wissens auszubilden, die uns erlaubt, den Ungleichgewichten so entgegenzuwirken, dass wir sie verwandeln, statt uns gegen sie taub und starr zu machen bzw. sie strikt zu bekämpfen. Wissen sollte nicht entwickelt werden, um uns vor dem alten Ausruf zu schützen: Wo kommen wir denn da hin? Die neuzeitlichen Ideologien bekämpfen das Zwischen wie die Fremdheit mit der Forderung nach Homogenität. Rassismus in allen Varianten. Reduktion auf mechanische Identität. Vergeblich forderte Wilhelm von Humboldt eine Emanzipation der Juden in Preußen ohne die Anpassung, vor der er den eigenen Reichtum ihrer Weltsicht bewahrt wissen wollte. Damit ist er ein Vordenker des gegenwärtigen Bedürfnissen nach einer Vielfalt der Kulturen. Von den türkischen Einwanderern verlangen viele Deutsche kulturelle Angleichung. Die Aufgaben einer »Integration« sind es, ein angemessenes Zusammenspiel zu entwickeln. Zu allen Unsicherheiten gehört dieser Widerspruch: Wir werden im Tiefsten offen gehalten werden dadurch, dass wir uns selber unendlich fremd sind, dass wir uns in Wesentlichem nicht verstehen; andererseits aber fürchten wir die Veränderungen des Lebens, in denen wir das Andere in uns selbst kennenlernen könnten. Dieser fatale Widerspruch ist nur zu ertragen, weil ein anderer Widerspruch ihn so weit aufheben kann, dass wir unsere Bewegungsfreiheit im Leben gewinnen: der Widerspruch zwischen dem kaum reflektierbaren Vertrauen, mit unserem Leben uns im Leben zu bewegen, und dem Wissen, dass Wandel bis an die Grenzen des Zerreißens führen kann – und darüber hinaus. Und wenn gerade unser Beitrag zu einem irgendwie zu vermutenden Weltengang sein könnte, solches Scheitern, solche Zerreißung gewagt zu haben?

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ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE

Offensichtlich ist Zwischen das Reich der Bewegung. Bewegung verbindet, was einander gegenüber ist hier und da. Bewegung ist sie, sobald sie sich gelöst hat von einem Hier und solange sie noch nicht erloschen ist in einem Dort. Bewegung hat ihren eigenen Zeitmodus, und mit ihr entsteht eine eigene Art von Ort – beides im Übergang, das heißt: im Wandel. Das gilt für die Bewegung des Leibes und ebenso für die der Seele. Dabei verwandeln sich unaufhörlich Widerstände in Elan und umgekehrt. Am greifbarsten erfahren wir das im Feld zwischen Schwere und Aufrichtung.

Schwerkraft Wenn ich immer wieder erkläre, dass der Mensch einen Gravitationspunkt erst seit dem Jahre 1687 hat, sind die Antworten von Verwirrung, Unverständnis oder Empörung bestimmt. Schließlich hat Newton doch Naturgesetze entdeckt, also immer und überall Gültiges formuliert. Vorher und im ignoranten Rest der Welt haben die Menschen eben nur nichts Gescheites von der Gravitation gewusst, obwohl auch ihnen ihre Lasten mühselig oder zu schwer waren und ihnen zu Boden gefallen ist, was sie nicht festhielten. An solchen Entgegnungen ist selbstverständlich richtig, dass mit den Gravitationsgesetzen, wie mit anderen Gesetzen auch, Allgemeingültiges auf eindeutige Formeln gebracht worden ist. Worüber jedoch etwas in dem spezifischen Stil der klassischen modern-europäischen Physik ausgesagt wird, das ist schon ein ganz besonderer Aspekt der Dinge und ihres Verhaltens, der durch eine ganz spezielle Sicht auf sie zustande kommt. Wir selbst sind schwer. Und alles, womit wir es zu tun haben, ist, mehr oder weniger, schwer. Die Gravitationsgesetze sprechen aber 139 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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nicht von solchem Schwersein. Wenn wir über eine Wiese gehen oder eine Treppe hinaufsteigen, haben wir natürlich mit dem Gewicht unseres Leibes zu schaffen. Aber es gehört in ein Zusammenwirken von verschiedensten Momenten. Beim Vorwärts oder Aufwärts ist immer das eine auch im anderen. Selbst im Stehen sind wir, sichtbar und spürbar oder nicht, damit beschäftigt, zu balancieren, also unser Gewicht ein wenig umzuverteilen von einem Bein auf das andere und dabei alle möglichen, oft kaum wahrnehmbaren Bewegungen aller übrigen Glieder und der sie miteinander verbindenden Muskelgruppen zu erleben. Wir müssen erleben sagen, weil wesentliche dieser Bewegungen, dieser Anspannungen und Entspannungen gerade ohne unser willkürliches Zutun geschehen. Zudem sind die Wahrnehmungen aller unserer Sinne, nicht nur diese des kinästhetischen, im Spiel, weil wir nicht als Sandsäcke da stehen oder uns mit Hilfe unserer Motorik da von A nach B transportieren. Unsere Empfindungen und Gefühle bestimmen immer auch, was jeweils ein Stehen, Gehen, Steigen bedeutet. Zumal im Miteinander aller Wesen, Dinge und Vorgänge, die zusammen die Situation bilden. Woran wir denken, wie wir die Wahrnehmungen einordnen, was wir vorhaben, ist ebenso mit der Situation verbunden. Wir sind so sehr daran gewöhnt, analytisch diese Momente getrennt zu denken von dem Gewicht, das die Waage anzeigt, wenn wir uns auf ihre Plattform stellen, dass wir bereits als gesunden Menschenverstand unterstellen, das analytische Gedankenexperiment Gravitation sei eine Naturgegebenheit. In Wahrheit »gibt es« die physikalische Schwerkraft nicht, nicht in ihrer theoretischen Reinheit. Die Schwere wirkt immer zusammen mit anderen Momenten, von denen erst die Newtonsche Theorie sie als Gravitation isoliert hat; selbst Galilei hat seine Fallgesetze noch nicht auf diese ausdrückliche Isolierung begründet. Sie wird dann auch folgerichtig und korrekt mit dem mathematischen Terminus Vektor bezeichnet. Das heißt, eine wirkliche Raumbewegung eines, schweren, Körpers wird gedanklich in Faktoren zerlegt, genannt Vektoren; die Bahn einer abgeschossenen Kanonenkugel etwa wird in jedem Punkt durch ein bestimmtes Verhältnis des Vektors Flugimpuls zum Vektor Erdanziehung bestimmt. Entsprechend kann der Gravitationspunkt eines Körpers oder eines Leibes nur theoretisch konstruiert werden. Es »gibt« ihn nicht, z. B. im Bauch eines Menschen. Solche Konstruktionen haben sich unter technischen Gesichtspunkten als außerordentlich nützlich erwiesen. Doch sie sagen nur 140 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Zwischen Himmel und Erde

etwas aus über physikalisch berechenbare Verhältnisse, die im Bereich des gegenwärtig Messbaren festgestellt werden können. Zwischen der Erde und den anderen Himmelskörpern muss danach zwar eine wechselseitige Anziehungskraft aller Massen grundsätzlich angenommen werden. Sie ist aber zu gering für die Makrophysik und wird vernachlässigt. Für die Beziehung des Menschen zur Erde ergibt sich das Umgekehrte. Feststellbar ist die »Gravitation«; alle anderen Beziehungen sind nicht feststellbar und erst recht nicht messbar. Die Schwere ist historisch zu besonderer Beachtung gelangt und prägt die Vorstellungen des neuzeitlichen Europa von der conditio humana in privilegierter Weise, wenn auch mit negativem Vorzeichen. Dem Jahrhundert Newtons gehen zumindest zwei in dieser Hinsicht interessante Veränderungen voraus. Im sechzehnten Jahrhundert wurde das Ideal des öffentlichen Erscheinungsbildes entscheidend verändert. Wer etwas auf sich hielt – »un homme de qualité« –, übte eine leibliche Grundhaltung, durch die das Gewicht des Körpers mehr von oben, von den Schultern her getragen, als von den Beinen, den Füßen an den Boden abgegeben wurde. Ich habe diesen Vorgang technisch und mentalitätsgeschichtlich als den »Gang des Hochwohlgeborenen« beschrieben, im zweiten Band meiner »Naturbeherrschung am Menschen«. Die Haltung charakterisiert gut ein Ausdruck der Zeit, nach dem der vornehme Mensch sich »brüsten« solle. »In die Brust geworfen« steht da, wer durch auswärts gekehrte Fußstellung und zusammengezogene Muskulatur um die Leibmitte sich einschnürt. Das ist eine »Taille«, nämlich eine Trennung zwischen oben und unten. Durch sie wird das bewegliche Gewicht der Innereien nach oben gestaut. Historisch wurde diese Haltung im militärischen Drill und im Ballettunterricht eingeübt, der für alle Männer und Frauen der öffentlich auftretenden Stände verpflichtend war. Prachtvoll kann das Resultat an den Porträts der absolutistischen Könige Frankreichs studiert werden. Wer dies aufmerksam und unvoreingenommen tut, wird rasch beobachten, dass viele Posituren seither diesem Schema folgen, nicht nur Feldherren auf den Sockeln ihrer steinernen Denkmäler, sondern auch die Bodybuildingsieger des zwanzigsten Jahrhunderts auf ihrem Treppchen. Mächtige Präsenz wird dargestellt, indem diese Menschen demonstrativ eine möglichst geringe Berührung mit dem Boden zeigen – der mehr tragende Fuß des Standbeines wird für den frontalen Beobachter durch den spitz aufsetzenden des Spielbeines verdeckt – und ihre

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ganze Autonomie gegenüber der Mitwelt, der sozialen wie der geologischen, im emporgestreckten ausgebreiteten Oberkörper darstellen. Dieses Schema ist freilich im Laufe des letzten halben Jahrhunderts endgültig zerfallen, nachdem um 1900 die Auflösung verkündet worden war von den Tänzerinnen der Avantgarde, von der Jugendbewegung und von den Begründerinnen leibtherapeutischer Schulen, die inzwischen ungeahnte Verbreitungen finden. Im Militär ist der Drill ohnehin praktisch auf andere Leistungen als das »Strammstehen« und »Präsentieren« übergegangen; eine Rolle spielt das nur noch, wenn »Haltung anzunehmen« ist. Dennoch kennt die allgemeine Anatomie der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts sehr wohl »die militärische Haltung« mit Hohlkreuz und Paradebrust.

Das Zwischen Dabei kommt absurderweise auch die Aufrichtung zu kurz. Sie wird derart forciert, um nur ja die Schwere des Körpers nicht wahrnehmen zu lassen, dass ihr ganzer Elan dafür verbraucht wird. Dahinter steht der Aspekt dieses »Prozesses der Zivilisation«, wie Norbert Elias sagt, der mit der Prunkbrust einhergeht. Sich am Boden aufhalten oder gar hinfallen, zerstört die soziale Würde. Es bringt Schande über die Person, die sich nicht auf der Höhe der zivilisatorischen Standards zu halten weiß. Kleinkinder sind noch nicht fähig dazu. Ihr wunderbares Vermögen, in immer neuen Spielen der Schwere nachzugeben, sie aufzufangen, sie in die Aufrichtung umzuwandeln, wird vielleicht freundlich belächelt; verbucht wird es als Inkompetenz. Das Spannungsfeld zwischen schwer sein und leicht werden ist gestört. Zwar ist inzwischen die militärische Haltung eigentlich vergessen. Junge Leute sind gewöhnt, am Boden sich aufzuhalten. Aber nun fehlt eine Aufmerksamkeit für die Energien, die uns emportragen. Der alte Traum vom Fliegen ist vielleicht abgegeben an die Technik unserer Flugkörper und die der Surfer und Gleiter. Zugleich ist aber doch die Schwere nicht angenommen. In seinem Marionettentheater-Aufsatz entwickelt Kleist seine Kritik noch am Balletttänzer. Dessen Ehrgeiz, sich mit dem ganzen Leibe von der Erde zu lösen, wird zunichte, da er von Schritt zu Schritt, von Sprung zu Sprung sich sinken lassen und neu abstoßen muss. Durch diesen Ehrgeiz verfehlt er die wahre Einladung der conditio 142 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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humana, dem Spiel mit der Schwere den Elan ins Leichte abzugewinnen, die Aufrichtung empor tragen zu lassen im dankbaren Aufruhen am Boden. Im heutigen Alltag ist von jenem Ehrgeiz nicht mehr viel zu sehen. Von dankbarem Getragensein aber auch nicht. Unsere Füße sollten das Organ des Menschen sein für unsere Freundschaft mit der Erde. Aber wir lassen ihnen in der Regel nicht mehr Achtung und Liebe zukommen als der Alkoholiker seiner Leber. Das kommt zum Ausdruck z. B. in Schuhkonstruktionen, die vielleicht allen möglichen visuellen Effekten gerecht werden, doch kaum der Beweglichkeit der Füße und ihrem Gefühl dafür, welchem Boden sie gerade begegnen. Auch hier ist das Spannungsfeld aufgeteilt; Stilettoabsätze einerseits, Prophetenlatschen andererseits. Wir sind offensichtlich eben nicht fähig, konzentriert zu leben auf das Oben und Unten, Vorn und Hinten des individuellen Körpers. In der ganzen Gattung wie in der einzelnen Lebensgeschichte sind wir diese menschlichen Wesen geworden unter den Anforderungen und Bedingungen dieser Welt und in der Resonanz mit allem, was sich neben uns, um uns, mit uns entwickelt hat. Exemplarisch dafür nennt Moshe Feldenkrais die Erdanziehung, auf deren Wirkungen hin sich unser Leib so ausgebildet hat, wie unsere Glieder und Organe eben funktionieren. Daraus folgert er, dass wir »richtig« gehen, stehen, liegen, sobald unsere Haltungen und Bewegungen der Art entsprechen können, in der Knochenbau und Muskulatur usw. in Antwort auf die Erdanziehung angelegt sind und wirken können. Wir sind zwischen. Die Schwere gemahnt an das Zwischen zwischen der Erde und dem über uns, zu dem sich die Aufrichtung wendet. Warum ist uns das so fern? Warum kann ich nicht einfach sagen, zwischen Himmel und Erde? Seit die Ballistik erfunden wurde, ist der Himmel immer hemmungsloser zum Exerzierfeld von Geschossen geworden. Die Kirchenlehre hat die Unterwelt abgeschafft, in die die Toten zurückkehren und aus der die Wachstumskräfte aufsteigen. So ist nur eine Hölle übriggeblieben, die bald keinen wirklichen Ort mehr hatte. Das Bewusstsein für die Erde, auf der wir leben, ist geschrumpft zur Wahrnehmung ihrer Oberfläche. Die wird folgerichtig so weit wie möglich in Anspruch genommen, immer weitergehend, indem sie zubetoniert wird. Was an Brauchbarem sich darunter befindet, muss heraufgeholt werden, um, Bodenschätze genannt, benutzt zu werden. Wie können wir da so vom Zwischen sprechen, dass es neu verstanden 143 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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wird? Man kann nur hoffen, dass der einen oder dem anderen sich ein Empfinden dafür einstellt, wenn etwa in den Übungen der Zen-Tradition von hara, der »Erdmitte des Menschen«, wie Graf Dürckheim sagt, eine Ahnung wieder auftaucht. Dann findet sich auch ein Gefühl für eine »Himmelsmitte des Menschen«. Die Erdmitte wissen und erfahren wir im Beckenraum, da, wo auch die Diagonalanalyse den Gravitationspunkt in unseren Bauch projiziert. Die Himmelsmitte wurde vielleicht ziemlich genau mit dem Sich-Brüsten in Anspruch genommen für die Autonomie gegen die Schwere. So aufgeteilt haben sie ihr gemeinsames Spannungsfeld und damit ihre im Grunde kosmische Qualität verloren.

Himmel auf Erden Die Phantasmen gehen nun über solchen Mangel hinweg. Statt hier praktisch und im Bewusstsein der kosmischen Energien und Qualitäten zu leben, wird eine virtuelle Welt technologisch aufgeschlagen, die erlaubt – und dazu führt –, in einem gedachten Überall sich zu bewegen. Dieses Überall ist eine alte Verführung. Sie wurde entwickelt als scholastische Lehre davon, was die Engel alles können und wir Menschen nicht. Substanz haben ohne Körper, wie der Punkt in der Mathematik definiert wird. Sich im Raum transferieren ohne Zwischenstationen, beamen heißt das im science fiction. Wirken unmittelbar aus der Absicht dazu, ohne Kraftaufwand, virtute hieß das bei Aquinas, heute virtuelle Realität. Also, frei sein von Reibungswiderstand, Schwerkräften, Anstrengung, ja vom Körper überhaupt. Dieses Überall ist ein Überall und Nirgends. Außerirdisch sagen die Freaks, die Erkenntnistheoretiker sagen extramundan. Ich habe das als »Neue Betrachtung der Wirklichkeit – Wahnsystem Realität« ausgeführt. Was lässt sich tun angesichts derart überwältigend technisierter Metaphysik? »Auf die Welt kommen«, war mein Vorschlag für die Ausstellung »Glaube, Liebe, Hoffnung, Tod«. Es geht um Kontemplation im ältesten Sinne. An den Ritualen der römisch-mittelmeerischen Stadtgründungen hat es Joseph Rykwert gezeigt. Das Vierfache des Himmelsgeschehens wurde zusammengefasst in die Spannungsfelder zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, zwischen Mittag und Sonnenöde. Dieses Geviert wurde vom Priester auf die Erde projiziert. Als Kreuz zweier Linien bildete diese Figur den Grundriss der Stadt, 144 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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die so dem Himmel verbunden zur »ewigen« wurde. Das Kreuz wird vom Kreis der Umfriedung eingegrenzt zum historischen Ort einer Geschichtsgemeinschaft. Der Kreuzpunkt kommt auf den umbelicus zu liegen, den Nabel in Form eines Steinbuckels. Wie so etwas aussieht, wissen wir vom o7mphalos von Delphi. Und wir wissen von dort, dass der Nabel als Symbol der Beziehung zum Himmel gilt und von der Tradition der Schamanen spricht, deren spirituelle Reise nach oben und in die Unterwelt führte. An diese zweite erinnert in Rom der mundus, die Öffnung neben dem umbelicus, durch die zu bestimmten Zeiten die Toten die Lebenden besuchen können und durch die die Lebenden mit Spenden die fruchtbringenden Kräfte der Erde erneuern helfen. Die schamanischen Vorfahren des olympischen Griechenlands sind, übrigens, in Asien ausgemacht worden. Aber wir kennen entsprechende Darstellungen z. B. auch von afrikanischen Felsbildern. Schwere und Aufrichtung bedeuten nicht nur physikalisch Abhängigkeit auch der Menschen von der wirklichen Welt. Solche Abhängigkeit als Teilhabe zu begreifen, mit allen Begrenztheiten, die sie bedingt, und neben den Anstrengungen im Umgang mit ihnen auch mit Dankbarkeit für das Aufruhen-Können und für den emportragenden Odem zu antworten, das ist schon die Wendung in Spirituelle. In der Neuzeit sind Auferstehungsbilder Interpretationen dieses Zusammenhanges. Die Folge der drei Zeichnungen des Christus zwischen Grabesrand und Schweben von Michelangelo zeigt exemplarisch, was in der Beschäftigung mit der Transzendenz geschieht, seit bildnerische Darstellung nicht mehr von der Physik der schweren Körper absehen kann. Die Schwere muss überwunden und zurückgelassen werden durch einen Elan, den man physisch zu sehen bekommt – im Grunde wie bei einem Tänzer, der sich aufmacht zum changementSpringen. Unseren Zeitgenossen sind Bilder vom Aufsteigen einer Weltraumrakete gewohnter. Ein anderer Renaissance-Künstler hat genau diese Problematik reflektiert und symbolisch zu einem Prinzip seiner Bilder gemacht. Der mit den aufständischen deutschen Bauern verbundene Jörg Ratgeb zeigt die Personen und Plätze der profanen Macht oder des alltäglichen Lebens »realistisch«, sollten wir vielleicht sagen, in der Technik der Zentralperspektive. Sein auferstehender Christus schwebt, wie mittelalterliche Engel, einfach über der Landschaft. Es geht nicht um Gravitation. Seine Maria begegnet der Maria Magdalena mit aller göttlichen Würde gotischer Madonnen, die indessen gegenüber der modern gegenständlich gezeigten Magdalena aus 145 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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der traditionellen Geste eine neue Erfindung macht. Der Palast des Pontius Pilatus ist wieder der neuen Technik unterworfen, ebenso stolz aufgerichtet wie eben doch der Erdanziehung verhaftet. Bei Giotto kann man eine Epoche des Übergangs, nein, eigentlich einen eigenen Gestus wahrnehmen, der sich zum Zukunftsentwurf eignen könnte. Seine Heiligengestalten mit ihren langen Gewändern sind vom Boden, auf dem sie stehen, ebenso abgehoben wie mit ihm vermittelt durch einen Schattenrand. Das ist gravitas; und gravitas ist noch Würde. Nicht die Schwere, die erniedrigend an uns zieht, sondern jene, die uns, gravitätisch, Gewicht verleiht. Und Giotto wusste sehr wohl, wie er es mit den neuen, »realistischen« Prinzipien halten wollte. Vor Galilei und Newton kommt das bei ihm an der perspektivischen Darstellung zum Ausdruck. Längst hat die Kunstgeschichte deutlich gemacht, dass er nach einer Phase, in der er selbst die Heiligenscheine in korrekter Verkürzung gemalt hatte, die Aura nicht wieder einzureihen bereit war unter die Gegenstände der materiellen Welt und ihnen den Charakter des Übergangs ins Nicht-Materielle bewahren wollte. Die sur-realistische Einbildungskraft hat dann das Schweben in zentralperspektivische Räume versetzt. Eigentlich fängt das bei den attraktiven Engeln von Füssli schon an. Uns ist aufgegeben, uns neu zu erfinden. Dazu erfahren wir am besten neu, wie wir und unsere Welt seit jeher sind. Neu wird die Existenz ohnehin, anders zwischen Erde und Himmel. Ergreifen und ergriffen sein aus der Himmelsmitte wie aus der Erdmitte. Das soll nicht die Plumpheit Breughelscher Bauerntänze nachahmen oder den St.-Anna-Blick barocker heiliger Familien, der, aus dem Abstand im Hintergrund, den unsichtbaren Himmel fixiert, die ganze Szene am Heil von oben aufhängt. Dazwischen durchdringen die Dimensionen einander im Leben und Erleben. Das Getragen-sein wird lebendig übersetzt ins Emporwachsen. Das sich Lassen in den Grund geht über darein, sich einzulassen auf die Welt – im Bewusstsein der Sinne wie des nicht Materiellen, des nicht Manifesten. So sind wir getragen im manifesten Erleben des nicht Manifesten. Durch das Manifeste hindurch. Transparenz der wirklichen Welt auf das, was da wirkt. Von solcher Erfahrung des nicht Manifesten können wir erst recht das Manifeste ergreifen und von ihm ergriffen werden, ins Manifeste hinein. So wird Schwere ertragen und überwunden, erlitten und geliebt. Sartre hat in der Erzählung seines Lebens sich als einen geschil146 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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dert, der immer nur in den oberen Stockwerken von Stadthäusern gewohnt hat und den Wunsch empfand, »man müsste bleierne Sohlen« an den Schuhen haben, die einen auf die Erde zurückbringen würden. In den »Fliegen« lässt er Zeus dem Orest die Gutheit des Steins preisen, die seine Schwere ist. Aristophanes hat den Sokrates zum Spott in eine Wolke gesetzt. Abgehoben. Der hat allerdings in der Treue zu den Gesetzen der Polis standhafter als viele auf seinem Posten gegenüber dem Feind standgehalten. Darin war er freilich nicht der »sokratische Mensch«, der »theoretische«, den Nietzsche als den ersten großen Feind wirklichen, irdischen Menschseins beschimpft hat. Wo Sokrates im Leben standhielt, im Felde und gegenüber dem Todesurteil im Prozess, da vertraute er noch auf mythisches Wissen, das am Sphärenklang der Gestirne aufgehängt war. Aber, gewiss, »seinen Gott« nannte er Apollon, nicht Demeter und Kore, das abstrakte Licht, nicht die Kräfte der Erde.

§ Was ist noch Himmel, seit die Atmosphäre voll ist von Müll, dem greifbaren abgestürzter Satelliten und dem ungreifbaren überall irrender elektronischer Signale? Was ist noch Erde? Gibt es denn wirklich, wie der Pariser Mai noch behauptete, unter dem Asphalt die Pflastersteine, unter den Pflastersteinen den Strand? Erde und Himmel entstehen da, wo wir wagen, zwischen Himmel und Erde zu sein. Vielleicht geht keine Bewegung so tief in das Elementarste der conditio humana unter dem Griff moderner Gewalt wie der buto¯-Tanz einiger Japaner in den letzten Jahrzehnten. Min Tanaka sagt: »Ich tanze nicht an einem Ort, ich bin der Ort, wenn ich tanze.« Nachdem er durch »Tod und Geburt« gegangen ist, ereignet sich Kuazo Onos »Every day life« als »marriage of Earth and Sky«, wie Tatsumi Hijikata sein Leben wieder erfindet aus dem Schlamm. Die benediktinische Dichterin Muska von Nagel, Mother Jerome, sagte einmal: »Noch eine Zelle kann leben, wenn sie sich findet zwischen Himmel und Erde.«

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ZWISCHENSPIEL SUBJEKTIVITÄTEN

Alle diese Überlegungen begleitet, wie Kant sagt, die Frage, wer tut und lässt, erlebt und erlernt etwas? Wer bewegt sich? Wer erfährt den Wandel? Offensichtlich sprechen wir von Menschen mit einem Bewusstsein von diesen Vorgängen und suchen nach Wegen, dieses Bewusstsein immer stärker, differenzierter und lebhafter werden zu lassen. In der Entfaltung der Energien, in den sich aufladenden Resonanzfeldern, auf den Wegen der Übungen sind wir als leibhaftige, bewusste Individuen dabei. Wir sind gewohnt, das Subjektivität zu nennen. In den indo-europäischen Sprachen sagen wir bei allen diesen Vorgängen und Situationen »ich«. Von Asien her wird uns der Begriff einer »Selbstkultivierung« angeboten, von Nordamerika der eines »self management«. Zweifellos geht es auf den beiden Seiten um ein ganz verschiedenes Selbst; eine ganz andere Subjektivität. Ebenso ist aber schon das Bewusstsein von uns und davon, dass wir in allen Momenten unseres Lebens und Erlebens im Spiel sind, ein je anderes, ob wir uns in einer Anstrengung des Leistungssports planvoll einsetzen oder ob wir in einer Übung mit meditativem Charakter uns darauf konzentrieren, Durchgangsorgan zu werden und Wirkungen nicht zu erzeugen oder zu kontrollieren, sondern aufzunehmen, auszudrücken und sie dabei doch zu einer Antwort von uns her zu machen. Die Vorstellungen von Subjektivität sind unter Umständen geradezu gegensätzliche. Wenn es in einer Übungstradition darum geht, fähig zu werden, der elementaren Verbundenheit mit einem Gegenüber gewahr zu werden, wird die westliche Tradition dies als Auflösung des Subjekts betrachten, und zwar desto heftiger, je weiter das neoliberale Subjekt vorangetrieben wird – ob im Wirtschaftsbetrieb oder in der analytischen Philosophie. Deren Strategie, das Subjekt stark zu machen, zielt darauf, dessen Kontrollkompetenzen zu perfektionieren. Damit wirkt sie aber der Stärke entgegen, die das praktische wie das 148 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Zwischenspiel: Subjektivitäten

theoretische Bewusstsein in der Resonanz mit seiner Welt gewinnt, weil sie vor allem zu Isolation und Starre führt. Selbst da, wo eine westliche Ich-Philosophie die Begegnung mit dem Anderen als konstitutiv ansieht für das Ich, widersprechen zwei Auffassungen einander. Wo wir von der Konzeption der Individuen als grundsätzlich getrennten Entitäten ausgehen, wird die Verbundenheit mit Anderem als das Ergebnis einer Kommunikation gewertet. Umgekehrt erklärt Gregory Bateson die Möglichkeit von Kommunikation, und zwar in der Evolution insgesamt, aus der Co-Evolution der Arten. Eine Anthropologie des »Nicht-Gegenübers« versteht Beziehungen als Ausdruck der, oft verborgenen, Verbundenheit. In der Ich-Psychologie würde dies eine Schwächung oder gar Aufgabe von Subjektivität bedeuten, »Ich« würde sozusagen wieder »Es« werden. In den anderen Auffassungen kommt sie erst wieder darin in den Blick, auf welche besondere Weise dieses bestimmte Individuum sich seiner Bezogenheit durch seine Beziehungen versichert und sie eigens ausbildet. In der buddhistischen Welt etwa gibt es einen bedeutenden Individualismus, aber einen gewissermaßen negativen. Es geht nicht darum, ein Individuum durch Abgrenzung von allem Anderen eindrucksvoll herauszuarbeiten. Vielmehr ist eindrucksvoll der je eigene Weg der Individuen, sich von den Illusionen der Getrenntheit zu lösen. Die individuelle Existenz bestätigt und bekräftigt sich dann durch ihre Befähigung, eine mit-seiende zu werden, die sie im Grunde sowieso ist, aber gerade nicht in ihrem Bewusstsein von der Welt und sich. Die Überlegung drängt sich auf, ob da, entsprechend dem Freudschen Begriff vom »Übergangsobjekt«, von einem Übergangssubjekt zu sprechen wäre, dessen Subjektivität in der Überwindung der Getrenntheit, ebenso aber erst einmal in deren Wahrnehmung sich bildet und wirkt. Auf die Frage, was denn da der Fall sei, ist auf die Prozesse des Überwindens mit allen ihren leidenden und lustvollen Seiten hinzuweisen. Wir sprechen hier von einer Subjektivität, die nicht wie die Substanz gegenüber ihren Akzidenzien, von diesen, ohne diese, gar gegen diese gedacht werden darf. Sie darf erst recht nicht nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten verrechnet werden. Im Gegenteil fast. Genau in der Bildung eines Gemeinsamen mit einem Gegenüber gewinnt auch sie an Substanz. Wir sind der peinlichen Frage der Utilitaristen, aller Zeiten und Lager, enthoben, ob eine altruistische Haltung möglich sei oder doch immer nur unseren Egoismus bediene, wenn auch über 149 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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den Umweg eines Nutzens für den Anderen. Ich halte es mit dem Refrain von François Villon: »Ihm tats gut und ihr auch.« Offensichtlich ist zugleich, dass Menschen, die sich so verbunden mit einem Anderem fühlen, dass sie zugunsten des Gegenübers handeln – sei es in Liebe, in Freundschaft oder in allgemeineren Formen des menschlichen Mit-Seins – mit dem gemeinsamen Gewinn auch ihre eigene Subjektivität stärken. Das geschieht sowohl in einem reifenden Bewusstsein als auch in den sich differenzierenden und intensivierenden Beziehungen. Wilhelm von Humboldt sagt: »Das ich will so viel Welt als möglich mit sich verbinden.« Wenn ein legendärer chinesischer Pinselmaler seine Meisterschaft ausbildet, indem er sich in der Durchlässigkeit für die Energien seiner Eindrücke übt, bis sie in seinen Bildern evident zum Ausdruck kommen, büßt seine Subjektivität entscheidend an Formwillen und unmittelbarer Bestätigung ihres Selbst durch aktives Handeln ein. Sie wächst in dem Vermögen, die Resonanz mit einem Gegenüber immer feiner, kraftvoller aufzunehmen. In diesem Vermögen gewinnt sie die Kraft, das, was sie inzwischen schon »kann«, immer neu sich zum Gegenüber zu machen. Das ist eine andere Weise, »an sich zu arbeiten«, als der Fleiß, den wir um eines Zieles willen aufbringen, das wir uns gesetzt haben. In allen Fällen darf freilich nicht das Sich-Zurücknehmen einer Flucht vor sich selbst und in ein Gegenüber dienen. In allen Vorgängen muss das in uns, was ich sagt, mit einer Reflexion beteiligt sein. Aber im ästhetischen wie im ethischen Üben soll eben gerade auch die Praxis zur Reflexionsebene werden. Sinnliche Subjektivität im Wandel und durch Bewegung.

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IV. ÜBUNGEN

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WEGE DES ÜBENS

Wir widmen uns einem Denken, dem sich unser Gegenüber nicht ableitend theoretisch, sondern existenziell-erfahrend erschließt. Dann geht es selbstverständlich nicht darum, einfach nur die rein begrifflichen, feststellenden, definitorischen Instrumente beiseite zu legen. Vielmehr ist Arbeit in anderen Methoden umso intensiver und ausdauernder gefordert. Worin anders? Das lässt sich ganz lapidar mit zwei, ihrerseits abstrakten, Begriffen sagen. Prinzip dieser Methoden ist nicht Teleologie, die von einem gesetzten Ziel aus rückwärts auf das je Gegenwärtige schließt, sondern Epigenesis. Jede Gegenwart ist der vorläufige Haltepunkt einer Geschichte, von dem aus die Blicke wohl zu einem Horizont von anstehenden Möglichkeiten und Bedingungen gehen, der aber den Ausgangspunkt für den einen wirklichen nächsten Schritt bildet. Übung heißen die Bewegungen in diesem ganz greifbaren Augenblick. All die Linien der bisherigen und der denkbaren weiteren Geschichten treffen sich da wie in einem vielfachen Fadenkreuz. Sie alle zu analysieren und zu reflektieren, würde uns erstarren lassen wie den Läufer des Zenon. Der früheste Erkenntnistheoretiker fragte ihn so lange, ob er sich denn auch wohl überlegt habe, dass er, bevor er das Stadion durcheilen könne, zunächst die Hälfte des Stadions und dann die Hälfte der Hälfte usw. usw. werde zurücklegen müssen. Der Athlet wagte nicht mehr sich zu rühren. Doch auch ohne theoretische Fragen und Kalküle sind die Linien als Momente der Situation gegenwärtig. Aber sie dürfen nicht kognitiv konstruiert werden. Wir müssen über die Linien und Horizontmomente verfügen können, ohne sie einzeln aufrufen und auf einander reflektieren zu müssen. Auch nicht in dem Sinne, dass die einen oder anderen uns als mächtige Wünsche und Befürchtungen oder gar als Erwartungen und Phobien bedrängten. Der Augenblick muss so frei von dem allen sein – die fernöstlichen Traditionen würden von Leere sprechen –, dass der Spielraum für den jetzigen Schritt entsteht. Dieser Spielraum ist noch ohne Mus155 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Übungen

ter, Vorgaben, Zielrichtungen. Er ist aber ein wirklicher Raum, also nicht endlos, grenzenlos. Er ist von Energieflüssen und Bildern aus dem bisherigen Leben vorgeprägt, nur nicht von Schienen, Rangordnungen oder Zeitleisten auf das Zukunftsziel hin beherrscht. Dem Augenblick geht eine Zäsur gegenüber dem allen voraus. Er ist eine Zeit eigener Gesetze. Allerdings antworten diese Gesetze auf die Notwendigkeiten, Möglichkeiten, Bedingungen der Geschichte, in der dieser Augenblick wohnt – als ein freier. Willkür wäre dem ebenso feindlich wie Zwang. Wir müssen dazu das Wort Übung von jeder Gedankenverbindung mit dem Truppenübungsplatz lösen. Militärisches Exerzieren hat ganz auf diesen Zwang gesetzt. Zu Beginn der Neuzeit wurden Handlungsabläufe, wie etwa der Gebrauch einer Waffe, in kleinste Fragmente zerlegt, um einzeln repetiert und auf Befehl aneinandergefügt werden zu können. Dieser Zwang ist dreifach. Sowohl die Gesamtgestalt der Bewegungen wie ihre Zerlegung sind vorgegeben, teils durch die Technik der Waffe, teils durch das Reglement. Zweitens werden Teilhandlungen und Abfolge vorgeschrieben sowie der Zeittakt der Ausführung. Drittens sind die Bewegungen von außen und mit äußerlichen Zwecken konzipiert, statt sich aus innerer Bewegtheit zu entfalten oder diese überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Die europäische Kultur- und Mentalitätsgeschichte hat solchem Exerzieren deshalb ein anderes Regelsystem gegeben, das an die Stelle der Ordnungen von Bewegung gesetzt wurde: geometrische Raster. Die Exerziervorschriften haben sich ausdrücklich auf einfachste geometrische Formen berufen. Das gleiche Prinzip von Fragmentierung und extern gesteuerter Zusammensetzung, Abfolge, wurde Jahrhunderte später auf die Produktion von Waren übertragen, zunächst auf die Anordnung der Produktionsphasen in der Manufaktur, dann auf das Design der Arbeitsverrichtungen am Band. Zu diesem Zeitpunkt war Geometrie keine offensichtliche Begründung und keine sichtbare Folie mehr, sondern ihre Prinzipien waren als Strategien in die Prozesse hineinverlegt – eben Fragmentierung, Synthese, Zeittakt, Platzzuweisung. Solche Gewohnheiten unserer Geschichte sind in die meisten Felder unseres Lebens implantiert worden. Haushaltsergonomie und Straßenverkehr, Sitzschalenordnungen und Montageraster. Von ihnen uns zu lösen, ist zunächst die vordringliche Aufgabe der Übung. Die Verregelungen so wegzuräumen aus unseren Gliedern und Vorstellungen, ist die Bedingung, unter der Bewegung in ihr Spiel finden kann. 156 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Wege des Übens

Willkür oder Beliebigkeit sind aber keine Gegenrezepte. Willkür wäre dem Zwang gleichzusetzen, nur wäre dessen Ziel selbst gewählt. Beliebigkeit hieße, irgend etwas zu tun, ohne einen Ort und einen Horizont zu achten. Frei sind wir in der Wahl dessen, woran die Übung sich entwickeln soll. An der Stimme oder am Gang, mit dem Bogen oder mit dem Pinsel. Dann aber ist genau der Ausgangspunkt zu finden. Das ist eine entscheidende Seite des Übens. Beim Exerzieren sagt ein Reglement, welcher Teilabschnitt des Programms an der Reihe ist. Im Üben müssen wir versuchen, dem noch nicht genug eingespielten oder auch blockierten Gefüge der inneren Bewegungen soweit auf die Spur zu kommen, dass ein besonders wichtiges Hindernis offenbar wird, um an dessen Auflösung arbeiten zu können. Diese Arbeit wird dann in das gesamte Gefüge hineinführen, um dessen Organe und Beziehungen nach und nach zu weiteren Ausgangspunkten zu machen. Aber diese Folge muss dabei immer so auf das ganze Zusammenspiel bezogen bleiben, dass nicht doch auch hier Teilabschnitte entstehen, die neue Trennungen herstellen und alte Blockaden vertiefen. Nehmen wir ein Beispiel. Üben wollen wir daran, dass der Klang der Stimme sich frei öffnen kann. Stimme ist nicht ein Ausgangspunkt als solcher. Klang ist laut werdender Atem. Sagen wir, der Atem flösse nun frei genug, dass mit dem Ausatmen die Stimmbänder sich einschwingen können. Wir probieren das aus. Behutsam zunächst. Spätestens wenn wir lauter werden, mehr Kraft in den Atem und den Klang legen, macht sich eine Hemmung bemerkbar. Sehr oft werden es hochgezogene oder vorgekrümmte, jedenfalls festgehaltene Schultern sein, die den Weg nicht freigeben. Also lassen wir das Stimmliche wieder auf sich beruhen und üben im Stehen, die Schultern hängen zu lassen. Das hat nicht viel Sinn, wenn nicht die Muskulatur des Halses nachgeben, wenn nicht der Kopf auf den Schultern, auf dem Rumpf, also wesentlich auf der Wirbelsäule aufruhen kann. Sonst muss er mit Muskelgruppen ständig gehalten werden, die eigentlich nur für die Veränderung von Richtungen ins Spiel kommen sollten. Die Dauerbeanspruchung können sie nur in einer gewissen Verkrampfung leisten, und sie sind dann für sich ergebende Wendungen nicht mehr verfügbar oder eben zu wenig. Solche Verkrampfungen sind aber schon die Antwort auf etwas, das an anderer Stelle nicht im Lot ist. Da wird oben ein Halt gesucht, der in den tragenden Partien des Leibes nicht ausreichend gefunden wird. Wir müssen uns unserem Stand widmen und uns versichern, dass 157 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Übungen

Becken, Beine, Knie, Füße das Gewicht aufnehmen können, das fälschlich die Schultern zu halten bekommen haben. Also gehen wir mit unserem Bewusstsein dem ganzen Aufbau unseres aufgerichteten Körpers nach. Unsere Füße müssen vielleicht üben, sich am Boden wohl zu fühlen. Dazu müssen sie ihn lebendig, selber tätig spüren. Das kann man betonen, indem man sie tasten und greifen lässt, worauf sie stehen, statt sie lediglich als passive Standfläche zu benutzen. Diese Bewegungen von Fußsohle und Zehen werden bereits die Knie anregen, ihnen leicht zu folgen. Dessen kann man sich versichern, indem man auch die Knie ein wenig schwingen lässt. Und das wird im Becken zu spüren sein, das nun einmal mit unserer ganzen Aufmerksamkeit die Leistungen der beiden Beine im gemeinsamen Rhythmus vereinigt, um darauf die Wirbelsäule mit allem, was sie trägt, ruhig sich aufrichten zu lassen. Damit sind gute Bedingungen geschaffen dafür, dass auch die Schultern, vielleicht sogar verspannte Muskulatur an Brust und Rücken, von falschen Ansprüchen frei werden. Wir sagen meist einfach von Verspannungen. Geübt wird dabei Durchlässigkeit. Und es wird geübt, dass Durchlässigkeit nicht nur Entspannung voraussetzt, sondern die rechte Spannung da, wo sie im Zusammenspiel unseres Leibes mit der Schwerkraft entsprechend der Geschichte unserer Species zu leisten ist. Dieses freie Zusammenspiel von Spannung und Durchlässigkeit ist ebenso eine seelische wie eine geistige wie eine körperliche Übung. Also eine leibliche. Was uns in Verspannungen führt und festhält, sind ebenso unsere falschen Antworten auf die Situationen unseres Lebens, wie sie auch die einzig noch möglichen Antworten auf falsche Situationen sein können. Eine freie Stimme kann nur aus einem Leib kommen, der wenigstens soweit zur Durchlässigkeit kommt, wie wir es als sehr kleine Kinder meist weitgehend waren, ohne aus Befürchtungen und Erwartungen Dauerhaltungen zu machen. Das bedeutet sicher letztlich auch, Bewertungen wegzulassen oder sie zumindest nicht vor die erst einmal anstehenden Wahrnehmungen zu schieben. Befürchtungen, Erwartungen, Bewertungen ziehen da Knoten zusammen, wo Beziehungen das innere Zusammenspiel je neu bilden sollten, auch, um es in einem äußeren Zusammenspiel antworten zu lassen. Übung heißt dies und zugleich eben noch mehr: das Zusammenspiel der Zusammenspiele zu ermöglichen. Die Tiere, erst recht die übrige organische Natur, leisten dies unwillkürlich. Freilich ist ihr 158 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Wege des Übens

oberstes Lebensprinzip nicht weniger, als wir es für die Menschen fordern, sondern noch mehr das der Übung. Entsprechend den evolutionistischen und behavioristischen Vorstellungen der Verhaltensforschung ist diese wesentliche Seinsweise nicht selber beachtet, sondern aufgeteilt auf spezifische Leistungen verbucht worden. Doch vom ersten Tapsen, Nachlaufen und Fangen, zu dem Katzen ihre Jungen anregen, bis zu den unendlichen Evolutionen der Vogelschwärme an den Himmeln über Wiesen und Städten ist das Leben von Tieren wesentlich von Spiel, von Übung bestimmt. Diese Spiele haben genau die Züge, die wir für das Üben herausgearbeitet haben, nur setzt sich deren Logik wie von selbst durch, während erwachsene Menschen ihren wach kontrollierenden Verstand mit ins Spiel zu ziehen lernen müssen. Diese Aufgabe ist zweifellos problematisch. Programm und Kontrolle werden, als solche, Übung immer stören. Unsere kognitiven Reflexionen treten ja zwischen unser Wahrnehmen und unser Handeln, so dass wir nur aus der ab- und einschätzenden Distanz auf die Situationen des Lebens antworten. Als kleine Kinder lernen wir ohne diese Distanzierung wahrscheinlich mehr als im ganzen späteren Leben. Wir sagen: spielerisch. Was wir zu lernen haben, ist aber gerade, so weitgehend in Erinnerung, Wiedererkennen und Umsetzen verstandesmäßig zu leisten, was Tiere eben aus einem ihnen gegebenem Zusammenspiel von eigenen Fähigkeiten und einer ihnen gemäßen Umgebung nur auszubilden brauchen. Menschen müssen sich ihr Vernehmen und Antworten dagegen viel mehr gewissermaßen erfinden, zumal in Umgebungen, die Menschen zuvor mit den Leistungen ihres Verstandes erfunden haben. Wir lernen entscheidend, von der menschlichen Distanz zur Welt, zum Gegenüber einen jeweils angemessenen Gebrauch zu machen. Das ist notwendig und sinnvoll. Es ist Moment von allem, was wir Kultur nennen. Doch diese Art der Beziehungen zur Welt und ebenso auch zu uns selbst bedeutet gleichzeitig, dass wir verlernen, eben auch ohne die erfundenen Mittel und Mitten, Instrumente und Begriffe zu vernehmen und zu antworten. Üben heißt deshalb immer auch, die materiellen Mittel, die kontrollierten Bewegungen und die erarbeiteten Gedanken gewissermaßen einzuschmelzen in der Intensität des übenden Erlebens, bis sie sich verwandelt haben – vielleicht in Fleisch und Blut übergehen. Sie müssen aus ihrer leitend-führenden Rolle in eine dienende überführt werden. Was wir in scharfer Einschätzung gelernt haben, muss unsere gefühlsmäßigen Fähigkeiten stärken und erweitern. Sicherheitsabstän159 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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de zu berechnen etwa, Geschwindigkeiten oder Härtegrade zu kalkulieren, wird in einer intensivierten Aufmerksamkeit aufgehen, die nicht willentlich erst eingeschaltet werden muss. Dabei werden auch die Vermögen der Wahrnehmung und der Reaktion neu ermutigt, die dem Menschen unwillkürlich geblieben sind. Manche Gesellschaften legen von vornherein Wert darauf, diese intuitive Seite mit der kognitiven zugleich bewusst zu machen und auszubilden. In den modernen Gesellschaften ist das kaum der Fall. Jene haben höchst differenzierte Übungswege und -formen dafür entwickelt. Wir müssen überhaupt erst wieder Zugang zum Üben finden, also zu üben üben. Mir scheint offensichtlich zu sein, dass unsere Schwierigkeiten, Bewegung und Wandel zu denken, ja, eigentlich zuzulassen, ganz gut erklärt sind durch Prozesse des Verlernens. Was wir statt des Verlernten gelernt haben, sind wir versucht, an dessen Stelle zu setzen. Wir projizieren die Vorgänge der Bewegungen in die Welt der Mittel und Mitten und Begriffe. Dabei bemerken wir nicht, dass wir schließlich die Prinzipien der Konstruktion solcher Mittel, Mitten, Begriffe auf unser Verhältnis zu Bewegung projizieren. Wir denken an der Stelle der Bewegung im Raum an die Strecke von A nach B. Wir lassen diese Bewegung aufgehen in dem Zweck eines Transportes, bis wir zu unserem eigenen Gehen ein Transportverhältnis einnehmen. Auch unsere Beziehungen zum Wandel sind davon betroffen. Er wird so wenig mit Bewegung verbunden gedacht, wie ihn diese Projektionen ausschließen. Dann muss er als ein Gesondertes neu erfunden werden, das zudem die eben rational geschaffenen Verhältnisse ins Wanken bringt. Wir neigen dazu, diese Bedrohung möglichst zu vermeiden. In der Wiederbegegnung mit Wandel neige ich dazu, ihn eher als die Bedingung und die Folge von Bewegung zu denken. Ihn als das Medium von Bewegung anzunehmen, würde ihn schon zu entschieden der Bewegung gegenüberstellen. Der Gedanke kann aber vielleicht hinüberführen zu einer besseren Annäherung. Dabei hilft uns, wie wir Zeit betrachtet haben. Nie wird, wie ähnlich es dem Früheren oder einem möglichen Späteren auch sein mag, irgend ein Gegenstand oder ein Vorgang oder ein Wesen jetzt genau dasselbe sein wie zu einer anderen Zeit, die eben von einem anderen Kontext bestimmt sein wird oder gewesen ist. Das Selbe ist im sich verändernden Kontext nur noch das Gleiche. Schon weil Bewegung in Zeit sich ereignet – wie sie umgekehrt selber Zeit sowohl als Dauer wie als Vergänglichkeit konstituiert –, gehört Wandel zu ihrem Wesen. Zeit ist an sich kein Container, 160 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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wie unsere Messungen und deren gedankliche Voraussetzungen uns annehmen lassen. Deshalb brauchen wir uns auch nicht zu fragen, ob in den Container Zeit außer der Bewegung auch noch Wandel passt und was er sich da zu schaffen macht. Weil der Wandel wie ein Hauch oder ein Sog ist, deren Wirken wir weniger bemerken als ihre Auswirkungen, können wir oft so schwer Veränderungen unseres Befindens und unserer Fähigkeiten dem Üben endgültig zuschreiben. Es kommt vielfach auf unsere Bereitschaft an, ob wir die Zusammenhänge wahrnehmen. Umso freudiger erleben wir untrügliche Anzeichen; selbst die uns durchziehenden Empfindungen von Muskelkater nach bestimmten Übungen begrüßen wir als belebende Bestätigung dafür, »dass etwas passiert ist«. Und sogar den Schmerz verstehen wir uns zum Führer zu machen, wo er uns zeigt, welche Knoten und Verkrampfungen Durchlässigkeit verhindern. Damit ist auch angedeutet, dass es oft eben gar nicht selbstverständlich ist, wo eine Übung ansetzen soll. Der nächste Schritt, die folgenden Schritte, der Weg sind im wörtlichen Sinne dann an sich selbstverständlich, das heißt, auch sich selbst verständlich. Aber gerade dieses Selbst wahrzunehmen und seine Hinweise zu verstehen, muss geübt werden. Natürlich hilft dabei auch fremdes Wissen, sowohl das theoretische über den Aufbau des Körpers, die Funktionsweise der Organe, die Physik und Chemie der Welt, in und mit der wir uns da bewegen, als auch die in endlosen Erfahrungen überprüften Gewissheiten einer Übungstradition. Doch nichts wird uns so gut auf den Weg bringen und dann auf ihm halten wie die Ansteckung durch ein Gelingen. Die Meister und Lehrerinnen sind sicher wichtig als Vorbilder, an denen wir sehen können, wie es gemacht wird. Aber wichtiger ist, zu erleben, dass es gemacht werden, dass es geschehen kann, und die innere Einstellung in den äußeren Haltungen und Vollzügen aufnehmen zu können. Allerdings ist wohl immer auch schon in den Anfängen so etwas bei uns selbst im Spiel. Selbst im Misslingen spüren wir, wo es hingehen soll. Ein Gespür leuchtet auf und wirkt ansteckend auch in uns, weil das, dem wir auf die Spur kommen möchten, von jeher in uns angelegt ist. Das ist durchaus erklärlich. Etwa dreitausend Kreisläufe sind gegenwärtig in unserem Körper gezählt, vom Blutkreislauf bis zum Hormongeschehen, im Schritt von Sekundenbruchteilen oder im Zyklus der Jahre. Wenn wir uns in dieses Geschehen gedanklich hineinversetzen, nimmt die Behauptung, dass wir ohnehin in Bewegung sind, auch 161 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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einen ganz greifbar physiologischen Sinn ein. Darüber hinaus hat der Satz von Leibniz, »in allem ist Bewegung« einen ganz allgemeinen Sinn. Die Quantenphysik buchstabiert ihn physikalisch. Kosmologien, die universelle Energien in allen Erscheinungen der Welt wirken sehen, deuten ihn geradezu ontologisch: zu sein heißt, in Bewegung zu sein. Auf den Wegen und in den Phasen unseres Daseins geben wir dem körperlich, geistig, seelisch verschieden Ausdruck, lassen die Energien, wie die Hindu sagen, oder die Weltenkraft, wie chinesische Denker vom dao her sagen, durch uns wirksam werden. Zu üben bedeutet insofern, der Fragerichtung zu folgen, die Leibniz an seine Einsicht anschließt: Was verstellt diese Wirkungen, was behindert oder verhindert sie? Zu üben heißt immer auch, zurückzufinden in diesen Strom, dem wir mit unserem Leibe angehören. Zurückzufinden »am Leitfaden des Leibes«, wie Nietzsche sagt, zu dem großen »unhörbaren unerhörten Strom« der Geschichte des Lebens. Aber dieses Zurück ist möglich nur nach vorn. Deshalb gibt es im »Sinnenbewusstsein« ein Kapitel über die »progressive Regression«, wie sehr verschiedene Autoren die Figur genannt haben. Hier genügt es vielleicht, die Version Sartres zu erinnern. Er spricht davon, dass wir immer wieder eintauchen in ein »domaine biologique«, freilich um immer neu daraus aufzutauchen in die bestimmte jeweilige Situation mit ihren historischen und menschlichen Strukturen, die wir von daher aber eher und mit anderem Elan in Beziehungen verwandeln können. Manchmal verwandeln sie sich derart aber auch gerade an der energievollen Durchlässigkeit, die wir da wieder für einen Augenblick und an einer Stelle gewonnen haben. Jedenfalls wird jede Berührung mit dem Strom der Energien, die uns, wie flüchtig vielleicht nur, gelingt, eine Ahnung zurücklassen von allem, das uns zugänglich sein könnte. Im Augenblick, da uns eine Unzulänglichkeit und Armut gerade erst bewusst ist, wird diese schmerzliche Entdeckung von einem Hauch der verborgenen Fülle durchzogen. Dies ist nicht die einzige Paradoxie des Übens. Eine zweite Paradoxie bestimmt ebenso die Biographie einer bestimmten Übung. Sie ist bedingt dadurch, dass wir uns den verschiedenen Momenten des Zusammenhangs für sich zuwenden müssen, weil die neu zu erlernende Aufmerksamkeit unser Bewusstsein zunächst einmal mehr oder weniger ganz oder wenigstens sehr stark beansprucht. So müssen wir uns mit den verschiedenen Momenten nacheinander je besonders beschäf162 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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tigen. Dadurch wird aber das Zusammenspiel, auf das alles ankommt, wenn auch nicht völlig aufgeteilt, so doch erheblich gestört. Aber nur im Zusammenspiel kann sich die Übung überhaupt bewegen. Wir haben ja gerade betont, dass die mechanische Fragmentierung und Rekonstruktion von Bewegungsabläufen alles zunichte macht, worum es im Üben geht. Ich meine allerdings, dieser Widerspruch gehört zu den wesentlichen Zügen des Übens. Die Arbeit mit ihm macht eine Übung eben zu einem verdichteten Moment unseres Lebens, das sie ebenso erschließt wie, dass sie an dieser oder jener Schlüsselerfahrung zu leben lehrt. Wir sind in jedem Augenblick unseres Lebens sowohl an dieser besonderen Stelle, aber genauso im Ganzen einer Biographie. Wir können nicht wissen, worauf wir zukünftig noch werden zu antworten haben. Zugleich werden doch Elemente unserer bisherigen Geschichte erst jetzt und noch weiterhin überhaupt erkennbar, wachsen sie doch mit jeder neuen Gegenwart anders erst in ihre volle Bedeutung hinein. Paradoxien sind beide Figuren in Wahrheit nur dadurch, dass wir die Widersprüche in die Zeitlosigkeit begrifflicher Logik übersetzen, in der sie eine unlösbare Denkaufgabe darstellen. In der Wirklichkeit des Lebens machen sie nur die Pole eines Spannungsfeldes bewusst, in dem sich alle unsere Schritte abspielen und dabei immer auf beide Pole wie auf einander bezogen bleiben. In der Praxis des Lebens artikuliert sich zwischen den Seiten, die unser logisches Denken Widerspruch nennen muss, die Aufgabe, zu der viele Schritte gehören, die folglich nur in der Zeit vollzogen werden können. In dieser vielseitigen Bezogenheit bilden die vielen Schritte eben eine einzige Zeit. In jedem Schritt sind die anderen Seiten anwesend genug, um die eine Aufmerksamkeit dieser Übung nicht abreißen zu lassen. Zumal wir Zeit ihrerseits, so weit, mit einem Paradox bestimmt haben: Indem wir sie gleichzeitig Dauer und Vergehen nennen, löst sich der Widerspruch der Übung praktisch auf. Die Trennungen, die wir, sozusagen auf der taktischen Ebene, durchführen müssen, vergehen im Laufe der weiteren Schritte, je nachdem mit ihnen die Ahnung vom Zusammenspiel wächst. Die Dauer dieses Ahnens ist nicht an die einzelnen Trennungen gebunden, sondern kann eine sozusagen strategische Ebene weiter ausbilden. Taktik und Strategie sind selbstverständlich keine guten Begriffe. Besser wäre, von den partiellen Kontexten einzelner Übungsschritte und dem Gesamtkontext zu sprechen. Dieser übergreift die Schritte freilich auf der Ebene gedanklicher Ein163 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ordnung. In der Wirklichkeit des Übens, und eben des Lebens überhaupt, unterfängt er sie viel mehr; er trägt sie in einer gefühlten Einordnung. Das zu bemerken ist unsere Aufmerksamkeit vielleicht nicht in den jeweiligen Situationen frei genug. Dennoch geschieht es. Jedoch kann die Dauer dabei auch gehemmt, sogar zerstört werden, so dass unser Gespür für den Gesamtkontext vergeht und nicht die Trennungen. Die Geschichte des Getragen-Seins kann partiell unterbrochen oder tragisch versäumt werden. Vielleicht muss sie sogar an Einschnitten abreißen, um dem Bewusstsein im Abstand des gefühlten Mangels neu zu begegnen. Wenn wir diese Begegnungen auf uns nehmen, verwandeln wir damit faktische Zäsuren in Schwellen des Gewahrwerdens. Jedes solches Aufreißen ist eine kleinere oder größere krisis mit allen Bedrohungen und Verheißungen. »Ins Weite, ins Offene …«, sagt Paul Celan. Zäsur ist für die Wege des Übens ein wesentliches Stichwort. Wie in allen Unterschieden und Vergleichen kommt es dabei selbstverständlich ebenso auf den trennenden Schritt an wie auf die je besondere Anlage des Verbindens. Das bringt der Begriff der Schwelle zum Ausdruck. Sie trennt zwei Räume von einander, denen damit unterschiedliche Qualitäten zukommen. Sie verbreitert den Augenblick des Schritts zu einer eigenen Dauer, die auffordert, in dem Bewusstsein zu verweilen, von einer Zeit in eine andere, von einem Raum in einen anderen sich zu bewegen. Die Schwelle ist gleichsam die ästhetische Gestalt des Wandels. Die Schlange der Verehrenden, die sich dem Bild der Gottheit in einem Hindu-Tempel nähert, wird über Schwellen verschiedener materieller Gestalt geführt. Es sind Vorhöfe und Höfe, Stufen und Treppen, Umgänge und Hallen. Manchmal stehen wir auch vor einem steinernen Balken am Boden der Öffnung zum geheiligten Innenraum. Der Schritt wird aufgehalten. Der Fuß muss plötzlich gehoben werden. Wir fragen uns, ob wir auf der Schwelle für diesen Augenblick stehen oder sie nur mit einem Schritt anderer Art überschreiten sollen. Zäsur. Der Schritt fordert uns auf zu verbinden, durch unsere Handlung, was das Ritual in seiner gebauten Form getrennt hat. Unser Ritual in seiner Bewegungsform ist die Antwort. In diesem Zusammenhang an einen Tempel zu denken, ist durchaus sinnvoll, obwohl das Üben zweifellos auf ganz verschiedenen Stufen der Intensität durch solche Schwellen geprägt wird, die entsprechend unterschiedlich sich mit unserem Bewusstsein verbinden. Die 164 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Sitz- und Atemübungen der Za-Zen-Tradition kennen nicht nur die Verbeugungen am Anfang und am Ende der Übung, von dreimaligem bzw. einmaligem Erklingen der Glocke akzentuiert. Was mich am meisten bewegte, als ich in ihre Ausführung und Bedeutung eingeführt wurde, war ein Schritt, der von einer Phase des Übens zur nächsten, von einem Atemzug nämlich zum nächsten führt. Mit dem Ausatmen beginnt es, weil es uns erlaubt und gebietet, die bis dahin eingenommene Form von Leib und Bewusstsein in den ausgleitenden Atem fallen zu lassen. Auf den Augenblick danach, also vor dem nächsten Einströmen der Luft, die uns zu unserer neuen Form emportragen wird, legen die Meister den größten Wert. Den Schritt zuzulassen, uns ihm anzuvertrauen, bedarf einer großen Sorgfalt. Zwischen Ausatmen und Einatmen bedarf es eines Einhaltens. Den Moment des Wandels gilt es so auszuloten, dass die neue Form nicht einfach wieder die alte ist. In der Geschichte unseres Übens daran wird dann dieses Vertrauen wachsen, weil die Freude am Neuwerden uns in die nächste Aufgabe der Form hineintragen wird. Die innere Ansteckung. Gewiss ist die Zäsur im Atem exemplarisch immateriell. Sie entsteht dadurch, dass wir nach dem Ausströmen der Luft das Warten dehnen auf das neue Einströmen. Gewiss haben wir es selten mit so vielen Schwellen in so überschaubarem Zeitraum zu tun. Es liegt nahe, das traditionelle Japan die Kultur der Schwelle zu nennen. Wo sonst wird sie so entschieden gesetzt wie in einem Zen-Garten, wenn allein die Steinplatte zwei Sphären der Anlage von einander abgrenzt und zum Verweilen des Bewusstseinsganges auffordert? Wo sonst werden so nachdrücklich Tore, im Rot ihrer Holzbalken gegen das Grün von Bäumen und das Spiegeln von Wasser, gesetzt, die keine Bauten brauchen zum Vorwand oder zur Anlehnung? In manchen Schreinen des Shinto geht man durch fast ebenso viele Tore, eines hinter dem anderen die Bohlen oder Stufen der Wege durch Wälder zur Bergkuppe hinauf begleitend, wie wir Atemzüge erleben auf dieser pilgerhaften Wanderung. Wir sind mit diesen Bildern nahe an dem Erleben und der Vorstellung, die sich in leichtesten oder verborgenen Spuren durch alles Üben ziehen. Auch wenn wir keineswegs daran denken, die Übungen leben doch im Geiste von Wiedergeburt. In ganz verschiedenen Kulturen finden sich Stätten mit engeren oder weiteren Öffnungen in Steinwänden, aus Holzbalken oder Ähnlichem, durch die Menschen sich gezwängt haben oder geglitten sind. Sie stellen Stationen dar, an denen 165 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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wir etwas zurücklassen, das uns bestimmt hat, und etwas in uns aufkommen lassen, dem Gewohnheiten, Ängste, Furcht keine Luft gelassen haben. Verkrampfungen lösen sich, mit denen wir zu kleine Sicherheiten festgehalten, zu groß erscheinende Entdeckungen abgewehrt haben. Wege des Erwachens. Als Rituale tradierter Kulturen heißen sie auch Initiation. Die zeitlichen Rhythmen könnten verwirren. Das meist allzu unbewusste Neuwerden im Atem wird uns in jeder Minute zuteil, große Initiationen, wie die afrikanischen auf der Schwelle zur erwachsenen Teilhabe an der Großfamilie, vielleicht nur ein Mal im Leben. Die Totenbücher Ägyptens oder Tibets wissen von einer langen Folge von Stationen, durch die hindurch die Seele sich von Verengungen und Verhärtungen befreit – in einer Periode zwischen dem Leben als Menschen auf der Erde und der Fortsetzung in der Ewigkeit. Das überschreitet denn doch die Bedeutung des Begriffs Übung, aber es ist ihrem Sinn und Gestus verwandt. So, wie auf der anderen Seite das Spiel der lernenden Tiere. Wir üben und suchen, das der Evolution zu dankende Zusammenspiel unseres Körpers mit unserem kontrollierenden Verstand und mit den uns tragenden Gefühlen in Einklang zu bringen. Wir öffnen uns zugleich freier den Energien, der Kraft, die durch alles ziehen, dem Geist, der durch alles weht. Natürlich müssen diese großartigen Entdeckungen auch durch Mühen und Miseren gewonnen werden. Muskelkater der Glieder und Empfindungen. Bewusstsein meint alle Schichten, in denen sich diese Seiten verbinden. Dieses Bewusstsein kann die Verbindungen wieder erstehen lassen. Das bedingt aber zugleich, dass die Schichten so getrennt gewusst und durch dies Wissen getrennt werden, wie sie im Zusammenspiel verbunden erlebt werden. Immer wieder hört man die Lehrer der Übungswege sagen, wir müssten unseren Kopf vergessen. Aber das wäre, ganz ernst genommen, nur ein gewaltsames Aufbrechen des Paradoxon von Wissen und Erleben, Kontrolle und Spiel. Wir werden uns besser mit einem Weg des Abwägens zwischen den Seiten begnügen, bis aus den Bewegungen des Pendelns zwischen ihnen ein Gang wird, der Fallen und Aufrichten zu einem vorwärtsgerichteten Rhythmus ineinander fügt. Vielleicht ist im Fallen mehr gespürt, wie wir da den Bedingungen dieser Welt im Schwersein uns anvertrauen, im Aufrichten ein Wille zum Gestalten im Spiel, der Willkür hinter sich lässt, weil er ins Fallen eingetaucht ist und seine Leichtigkeit gewinnt, indem er

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daraus wieder auftaucht. »All that fall.« Samuel Becketts Wort vom »delicate equilibrium«. Ein Ausgleich zugleich zwischen den klugen Verführungen durch das Greifbarste und das Ungreifbare, die uns beide ergreifen können. Üben hat sehr viel mit Disziplin zu tun und braucht vermutlich, bis wir ganz in eine angemessene Selbstdisziplin hineingewachsen sind, auch eine Strenge von außen. Aber es gehört eigentlich, auf diese doppelte Weise, in das Reich des Eros. In den vielen Feldern, die auf so unterschiedliche Weise doch alle der Grundvorstellung dieses Übens bedürfen, hat es in jeder Hinsicht ganz verschiedene Bedeutung. An zwei Feldern soll die Spannweite deutlich werden. Kunst als Übung und Übung als Pädagogik. In beiden kommt die Lebensgeste des Übens nicht als ein Werkzeug, eine Methode in Frage. Es betrifft das Wesen allen Lehrens und Lernens wie das Wesen der Entstehung und des Fortlassens künstlerischer Gestalten selber. Sich auf einen Weg des Übens zu begeben, bedeutet immer, sich auszusetzen. Aber was ist es, dem wir uns da aussetzen? Das Wort hat einen Klang, der an Erschreckendes denken lässt. Tatsächlich ist natürlich auch erschreckend, an wie vielen Stellen sich in uns Blockaden und Verkrampfungen festgesetzt haben. An anderen ist es eine Taubheit, die uns eine Gegend unseres Leibes so fremd macht, als hätten wir sie noch nie besucht. Jedenfalls haben wir sie nie recht mitspielen lassen im großen unsichtbaren Wechselspiel unserer Muskeln und Empfindungen. Training ist dann eben nur die halbe Antwort. Technisch können wir exerzieren, diese Partien zu entwickeln; funktional können wir sie bewusster beteiligen an unseren Bewegungsabläufen und Leistungen. Obwohl damit ein gut laufender Körper aufgebaut wird, würden wir von dieser Seite allein eher Reparaturen durchführen, als insgesamt in das Spiel des Leibes, in sich wie mit der Mitwelt, zurückzufinden. Zu üben heißt eben, uns der vollen Bedeutung der Blockaden bewusst zu werden, und zwar nicht zu dem funktionalen Zweck, die Behinderung loszuwerden, sondern in dem Bewusstsein, sie anzunehmen als unsere Lebensgeschichte und mit dieser zu verändern. Mit dem Begriff der Ansteckung habe ich versucht anzudeuten, wie entscheidend wir da eben auch etwas ganz Anderem begegnen – Energien, die uns einfach zuteil werden, soweit wir das zuzulassen vermögen. Zu üben ist gerade an der Durchlässigkeit für dieses Andere, 167 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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das wir nicht zu machen brauchen und nicht machen, sondern nur fließen lassen oder blockieren können. Ein Bewusstsein dafür kann keineswegs durch kognitive Kontrolle oder moralisierende Disziplinierung gewonnen werden, wie sie das Exerzieren betreibt. Eher im Gegenteil. Wir haben dem Kognitiven und der Willkür bereits ihre helfenden Aufgaben zugewiesen, über die sie mit ins Spiel eintreten und ihre Isolation gegen die sinnenhaften Wahrnehmungen sowie die Ausbildung von Empfindungen und Gefühlen auflösen können. Bis dahin sind sicher die ersten Hindernisse, die sich dem Aussetzen und dem Durchlässig-werden entgegenstellen, das Training der kognitiven Kontrolle und das Forcieren der Willenskraft als Willkür. Beides verfestigt sich in uns physiologisch in Form dessen, was ich hier Verkrampfungen und Blockaden, aber auch Taubheit nenne. Gleichzeitig schwächen wir uns dabei psychisch, weil wir die Fremdbestimmung durch moralisierende, d. h. Schuldgefühle erzeugende Forderungen von außen verinnerlichen. So machen wir aber auch unseren eigenen Willen in uns zu einer ebenso äußerlichen, fremden Instanz. Von daher sind die Widerstände gegen das Üben in seinem vollen Sinne, wie ich jedenfalls ihn erst über das Sitzen und das Atmen aus der Za-Zen-Tradition kennengelernt habe, deutlich zu begreifen. Wenn es nicht die Momente der Ansteckung gäbe, von vornherein, wären wir vielleicht für die Wege verloren. Leider werden diese Momente geschwächt durch die Widerstände. Dürfen wir denn unsere Schwere einfach an den Boden abgeben und uns tragen lassen? Dürfen wir denn annehmen, nur Ausdruck und Mittler der großen Energien dieser Welt zu sein, die durch uns hindurch wirksam werden, wenn wir sie nicht daran hindern? Müssen wir nicht »eigene«, also zurechenbare Leistungen vorzuweisen haben? Diese Energien, diese Kräfte, vielleicht Hegels Weltseele, sind das Leben. Wir haben Angst vor dem Leben. Wir haben Angst vor dem Leben als dem Anderen gegenüber unserer definierbaren Persönlichkeit. Wir haben Angst vor dem Leben, das Bewegung und damit Wandel ist. Unsere Persönlichkeit mit ihrer Geschichte zum Austragungsort des Lebens zu machen und dem das Hier und Jetzt, unsere greifbare Situation, zu widmen, das sind die Wege des Übens. Sie können in die Lebenskunst führen und in die Künste.

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VON DER KUNST DES ÜBENS ZUM ÜBEN IN DER KUNST

Wenn nicht schon unsere Beobachtungen und Überlegungen zum Üben ohnehin viel darüber gesagt haben, wie die Künste leben, dann wird der Zusammenhang an drei Gedanken offensichtlich werden.

Üben des Spürens Der erste Gedanke nennt Werke, am deutlichsten die der bildenden Künste, eine Spur. Eine Richtung der Malerei des 20. Jahrhunderts verstand sich ganz ausdrücklich so: penture gestuelle. Was mit der gestischen Malerei gemeint ist, habe ich sehr eingehend in dem Kapitel »Vom Erfahren zum Gestalten« im »Sinnenbewusstsein« am Werk des französischen Malers Jean Degottex dargestellt. Mit allen Verbindungen und Unterscheidungen zum übenden Alltag. Die Bilder sind Bild als Spur dessen, wie eine große Bewegung durch den Maler gegangen ist und durch seine Hand sich auf einer Fläche in Farbe oder als Riss oder auf andere Weise niedergeschlagen hat. Dahin hat Degottex nicht in Anlehnung an eine fernöstliche Tradition, sondern als unser Zeitgenosse gefunden. Individuell in einer künstlerischen Lebens- und Werkgeschichte. Das ist zweifellos darum möglich, weil solche Momente alle große Kunst prägen. Sie sind nur für die Geschichte der abendländischen Kunst verborgen in Anderem, das wir mit Begriffen wie Darstellung, Ähnlichkeit, Ausdruck, Komposition zur Hauptrichtung unserer Aufmerksamkeit machen. Die Maler Chinas haben, etwa im 12., 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, wie Mathias Obert uns an ihren Pinselarbeiten und ihren Traktaten zeigt, ausschließlich darauf Wert gelegt, fern allen Darstellungsabsichten, selber so zum Empfang der Energien von »Berg und Wasser« fähig zu werden, dass ihre Bilder im Sinne ihrer eigenen Bewegtheit auch auf uns wirken können. Mit dem Stolz der Demut. In einer eigentümlich empfänglichen Tüch169 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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tigkeit, die eben nur in lebenslangen Übungen sich bildet, Übungen, zu denen auch die Situationen gehören, aus denen Werke hervorgehen. Und ebenso werden Bilder, die Spuren davon sind, nur in so übender Betrachtung wieder lebendig. Jede Situation der Entstehung und jede Situation der Betrachtung ziehen uns ganz in ihre einmalige und gerade darum mit dem ganzen Leben verbundene Gegenwart. Es geschieht etwas. Es trifft uns etwas und tut etwas in uns, und das wird Gestalt. Gestalt, die eine Spur auf dem Papier, auf der Leinwand, am Stein hinterlässt oder eben in uns, die wir nun anders erleben werden. Spuren eines Wandels zwischen jetzt und ewig. Und genau das macht in Wirklichkeit den eigentlichen Keim aller Kunst aus. Und es bedarf, um dies gegen die Forderungen der vielen Lebenssituationen mit ihren praktischen Zwecken möglich zu machen, besonderer Umstände und Zäsuren, obwohl so viele Situationen unseres Lebens mit einer empfänglichen Tüchtigkeit zu derartigem Erleben vertieft werden können. »Der Alltag als Übung«, sagt Karlfried Graf Dürckheim. Die Geschichten, in denen Werke entstehen, sowie die Geschichten, in denen sie wirken, gehören beide in zwei Reiche: in das Reich der Formen und das Reich des Übens. Im Werk gerinnen die Vorgänge zur Form. Auch wenn mancher Vorgang von den möglichen Formen seinen Ausgang nimmt, in der Betrachtung werden die Formen wieder verflüssigt zur Wirkung. In der Musik macht ein Mittleres diese Übergänge noch wesentlicher. Die Werke sind hier nicht nur im Hören erst wieder lebendig, sie existieren überhaupt nur in der Folge ihrer Aufführungen. Das Gleiche gilt, mit gewissen Abwandlungen, für alle darstellenden, wir sagen heute besser, performativen Künste. Dramen können gelesen und als Aufführungen vorgestellt, von manchen Menschen können ebenso Partituren gelesen werden. Tanzstücke und Performances lassen so sich nicht ins Leben rufen. Dass Aufnahmen, visuelle wie akustische, einen ganz anderen Status haben, ist dabei offensichtlich. Aufführungen sind Produktionen auf der Grundlage eines Werkes, wenn dieses Werk in ihnen sich so fortsetzt, dass es jedes Mal noch sich verändert. Gleich bleiben die Strukturen der festgesetzten Formen. Wie diese aber je neu sich in Beziehungen verwandeln, variiert nicht nur die Aussagen des Werkes; es bildet weitere Bedeutungen und Schichten, Proportionen und Gegenüberstellungen aus. Hier ist das Werk selber ebenso die Geschichte seiner Wiederaufnahmen wie der Entstehung des ausgearbeiteten Entwurfs für die Auf170 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Von der Kunst des Übens zum Üben in der Kunst

führungen. Regina Busch sagt sogar, die Partitur sei schon der Niederschlag der ersten Aufführung, gewissermaßen, in Ohr und Sinn der Komponierenden. Jedenfalls geht die Vorstellung vom Werk als Ding über in Geschichten unterschiedlicher, immer neuer Annäherungen und Ausbildungen. Wie diese sich an dem Entwurf abzuarbeiten haben, macht die Art deutlich, in der sie als Übungen zu begreifen sind. Kann Walter Benjamin die Geschichte der Betrachtungen, Wirkungen und Beziehungen der Werke bildender Kunst in seinem Begriff von Aura fassen, so müssen wir hier noch einen Schritt weiter gehen. Zweifellos lassen beim Golde das metallische Material aureum und sein Schein, in dem wir es wahrnehmen, sich gerade nicht voneinander trennen. Gold, dem, durch welche technischen oder situativen Eingriffe auch immer, das Scheinen genommen wird, ist ärmer als die Mona Lisa im gläsernen Panzerschrank oder die Mutter Gottes von Wladimir im Moskauer Museum, wo eine Gläubige ihre Blumen am Fuße des Sockels mit der Glashaube niederlegt, nachdem sie eine Eintrittskarte hat kaufen müssen für die Versammlung ausgestellter Kunstwerke. Die Aura ist die Hülle, mit der allein das Gold zu leben vermag. Sonst wird es auf seine physikalischen und chemischen Eigenschaften reduziert. Gewiss sind auch die Rituale der Verehrung und Andacht, in denen von Rechts wegen die Ikone eine Ikone ist, Übung. Auch die Wahrnehmung des Goldes als Gold, insbesondere in der Gestaltung durch die Goldschmiede, ist als Übung aufzufassen, erinnert sich doch der gemeinte Vorgang in den Verwandlungen von einer Gegenwart zur anderen und bildet sich dabei doch in den Betrachtern, den Verehrern ein bewussteres Empfinden, das zu einem entschiedeneren Moment ihrer Persönlichkeit, ihrer Lebensgeschichte wird. Für das, was uns angesichts musikalischer oder anderer Werke in der Folge ihrer Aufführungen beschäftigt, reicht dieser Begriff von Aura aber noch nicht aus. Zu stark liegt ihm noch die Vorstellung von einem Festen, Bestehenden und dessen flüchtigen Wirkungen zugrunde. Es fällt schwer, zu behaupten, das Gold werde immer erst durch die Wahrnehmung seines Scheinens überhaupt wieder Gold, wenn man doch weiß, dass der Klumpen da liegen bleibt. Allerdings, so ist er vielleicht wirklich nur ein Klumpen. Das wird nicht von sich aus eintreten, sondern erst wenn man ihn im Fort Knox einsperrt. Gold strahlt und wirkt an sich auch in seine naturbedingte Umgebung, ohne von Menschen in seinem Wesen geschätzt zu werden. Der Begriff Aura gibt dagegen gerade die historische menschliche Wahrnehmung zu achten. 171 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Und Wahrnehmung ist noch nicht Aufführung. Zu fragen bleibt, ob die Aufnahme einer Aufführung, also eines Abbildes, wirklich als Werk wahrgenommen werden kann. Oder auch die Reproduktion einer Skulptur. Immerhin haben Humboldt und Goethe und die ganze Klassik ihre eingehende Beschäftigung mit den Antiken an den berühmten Gipsabgüssen ihrer Zeit entwickelt. Je nach technischer Qualität werden zumindest die das Werk ausmachenden Informationen weitergegeben. Schon an ihnen können wir unsere Auffassung schärfen, unsere Aufmerksamkeit üben. Ob auch der Gestus der Werke mitempfunden werden kann, wird von der Qualität der Reproduktion, aber mehr noch von der Geübtheit der Horchenden oder Betrachtenden abhängen. Wenn sie den akustischen bzw. visuellen Informationen die Erinnerungen und Entwürfe, überhaupt die Vorstellungen des Empfindens beigesellen, wird zumindest an der Wahrnehmung gearbeitet. Dem kommt eine gute Abbildung oder Aufnahme durch eine auch technisch sich vermittelnde Intensität entgegen. Wieweit eine Aufführung selber den ausdrücklichen oder erst zu entdeckenden Intentionen des Werkes dient, ist ohnehin die Frage. Freilich wird das Schielen auf die entfernte Aufmerksamkeit der Reproduktionskonsumenten das Problem verschärfen. Vielleicht wird zum Beispiel hier für den Massenkonsum, noch mehr als in Darbietungen im Genre von Promenadenkonzerten, auf schnelle Attraktion spekuliert, so dass dem Üben die Widerstände entzogen werden. Genau solche Veränderungen, etwa der Spielgeschwindigkeit, der Hervorkehrung gefälligen Wohlklangs oder auch der Auswahl und Zusammenstellung der Werke, greifen selbstverständlich auch auf der Seite der Kompositionen in die Geschichte ein. Das ist das Votum Adornos gegen »die schönen Stellen«. Sie lenken eben ab von einer übenden Fortsetzung, indem sie die Spannung zwischen Dauer und Wandel nach der einen oder der anderen Seite auflösen – entweder konservativste Imitation »klassisch« gewordener Spielweisen oder modische Aufbereitung. Dass im Prinzip die bildenden Künste dem gleichen Syndrom zu erliegen drohen, zeigen viele Beispiele nur zu deutlich. Die Prominenz der Bilder von Bernard Buffet etwa verdankte sich dem Umstand, dass sie sozusagen schon auf ihre Postkarteneignung angelegt waren. Die Werke von de Chirico oder Dali sind zusehends in die einmal ausgelöste Attraktion abgerutscht. André Breton sagte dazu: »Malen ist sehr schön, aber nicht malen ist auch sehr schön.« Da wird Aufmerksamkeit abgesogen und nicht in das Bedürfnis und, mehr und mehr, die Fähig172 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Von der Kunst des Übens zum Üben in der Kunst

keit umgesetzt, wahrnehmend zu antworten. Unsere Wahrnehmung als die Spur der Werke. Das Problem aber scheint mir die, freilich nicht beabsichtigte, Konsequenz aus dem Prinzip der Ideenlehre des Plato zu sein. Die Ideenlehre hat zwei Probleme für eine übende Auffassung von Kunst, aber auch von Leben insgesamt geschaffen. Die Trennung, ja die Entgegnung von Idee und Erscheinung, von unberührbarem Ideal und immer mangelhafter Wirklichkeit hat die Arbeit an den wirklichen Stationen des Lebens entmutigt, zusammen mit der erkenntnistheoretischen Furcht vor den Sinnen, die uns täuschen könnten, und der Angst, dass unsere Leiblichkeit uns vom Streben nach der Wahrheit der reinen Ideen abbringen wird. Die andere Seite hat die Möglichkeit von Bildern im vollen Sinne untergraben, zerstört. Alles Wirkliche kann erkenntnistheoretisch nur unzulängliches Abbild sein, während ein Eigentliches vorgestellt wird, das zwar unerreichbar bleiben muss, aber nichtsdestoweniger real sein soll, ja die Realität schlechthin besetzt hält. Diese Teilung hat einen Dualismus von Geist und Materie begründet, der durch die christlich theologische Teilung in Diesseits und Jenseits zu seinen metaphysischen auch noch seine frommen Weihen bekommen hat. Das hat die Platosche Trennung von Inbild und Abbild entscheidend verstärkt, galt sie den Griechen doch noch als greifbare Gegenüberstellung. Die Idee wurde gegenwärtig anwesend mit den Erscheinungen verglichen, die ihr nacheiferten. Von diesem existenziellen Erleben abgelöst kann das »Schöne« uns eben immer weniger zur »Wahrheit« führen. Aristoteles hat dann faktisch den Begriff des Abbilds in der Ästhetik zentral gemacht, indem er die Künste zu Nachahmerinnen der Natur berufen sah. Kunst auf unser Leben in einer naturhaften Welt bezogen zu sehen, ist sicher allen Kulturen selbstverständlich. Das Problem der abendländischen Tradition ist der Charakter dieser Beziehung, der mit der Forderung nach Ähnlichkeit einseitig die Perspektive anlegt, in der das Subjekt auf sein Objekt zu sehen hat. Das Sehen derart vor die anderen Wahrnehmungen zu stellen, ist eine Folge von entscheidenster Bedeutung, die das Problem der Ähnlichkeit weiter zuspitzt. Kunst wird paradigmatisch darauf verwiesen, wie wir Welt im distanzierten Sinn des Sehens zu unserem Gegenüber machen. Es geht dann sowohl in der Wahrnehmung überhaupt wie in den Künsten programmatisch um Darstellung. Deren Aufgabe und Kriterien sind dann in aller erster Linie Ähnlichkeit. Bedeutende Kunstwerke aller 173 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Gattungen haben selbstverständlich immer dabei ein Einmaliges entstehen lassen, das von noch ganz Anderem spricht. Die allgemeine Aufmerksamkeit wird aber so ausgerichtet, dass Wiedererkennen den Ausgangspunkt der Rezeption bestimmt, wenn es nicht überhaupt deren Inhalt ausmacht. Interessant, wie spät und mit wie wenig Durchsetzung bei einem größeren Publikum Inhalt und Gehalt von Werken unterschieden worden sind. Und selbst nach der Epoche der sogenannten abstrakten Malerei und Skulptur hat sich nicht viel daran geändert, wie hilflos viele Menschen reagieren, wenn ihre Wahrnehmung sich nicht am Wiedererkennen festhalten kann. Die Spur, mit der die Werke in unserem Wahrnehmen wieder aufleben, wird überlagert, verdeckt oder sogar ausgelöscht, wenn wir fixiert sind auf das Realistische der Wiedergabe. Dieses Wiedererkennen, das eben dann auf Wiederholung des Gleichen drängt, mit dieser oder jener Variante der Darstellungsweise, sperrt allem übenden Umgang mit den Dingen und uns selbst jede Entfaltung. Im Üben erneuern wir uns selbst und die Beziehungen zu dem, was uns da begegnet, gerade an den Momenten des Wandels. Sie lassen uns wacher werden; körperlich, geistig, seelisch. Mit Aristoteles ist ein im Grunde entgegengesetztes Ordnungsschema zur Herrschaft gekommen; die praktische Seite des Dualismus. Form gegen Stoff. Dieses Ordnungsschema verlangt Strukturen. Es wird tradiert in einer Vorgeschichte. Zu bedenken wäre u. a. die kunsthistorische, anthropologische, erzieherische, ergonomische, militärische, sportliche Formengeschichte des immer moderneren Europa. Übungswege bilden ein anderes Modell von Ordnungen. Sie sind wesentlich von Beziehungsfragen, nicht von Strukturen geprägt, die es vielmehr immer neu einzuschmelzen gilt.

Aiskesis oder Askese Der zweite Gedanke geht den verschiedenen Bedeutungen von Askese, im eigentlichen Sinne, nach. Nicht nur die Kunsttheorie der Antike, zusammen mit ihrer Erkenntnistheorie, hat Traditionen des Übens im Sinne der Wege den Boden entzogen. Man müsste das Wort im Griechischen mit Aiskesis übersetzen. Daraus ist aber, wiederum unter heftigem Einfluss der christlichen Kirchen, ein Begriff von Askese geworden, in der eigent174 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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lich nur eines geübt wird, das Weglassen. Da die Erscheinungen vom Wesen und der Leib von der Suche der Seele ablenken, sind es also die Welt der Sinne und was sie einlädt, auffordert, anregt, die wegzulassen sind. Schmerzlich, wie solches Entbehren sein soll, wird es möglichst noch ins Wütende gesteigert. So geht solche Askese immer von einem Ziel aus, das letzten Endes ein jenseitiges ist. So sehr ist sie vom Ziel her gedacht, dass sie möglichst unter Umgehung gegenwärtiger Erfahrungen die Welt beiseite schaffen soll. Der indische Wunsch, das Rad der Inkarnationen endlich zu verlassen, wird immerhin als Durchgang durch die Welt gelebt, in einer Bewegung Schritt für Schritt durch die Situationen des Lebens. Kasteiung und Geißelung müssen wohl immer als wütende Formen von Askese betrachtet werden, obwohl es einen Unterschied macht, ob im Schmerz die Seele sich dem Heiligen öffnen oder ob das sündige Fleisch bestraft und verzehrt werden soll. In Europa wie in Asien werden die Menschen sagen, dass sie unabhängig und frei werden wollen. Aber auch hier im Geistig-Seelischen gibt es das Streben nach Leichtigkeit, das die Schwere bekämpft, und ein anderes, das, eben geduldig übend und vielleicht sogar freudig, leicht zu werden lernt durch die Schwere, die angenommen wird, hindurch. Askese kann eben auch wohltuend sein, streng vielleicht, aber behutsam. Raimon Panikkar spricht von einer Askese, in der wir uns nicht loszureißen versuchen vom Begehrten, sondern nach und nach Befriedigungen meiden, die bereits überflüssig geworden sind, die uns nur noch einmal an ein gar nicht mehr empfundenes, nur noch erinnertes Begehren zurückbinden. Einen möglicherweise mittleren Weg könnte die Übung bilden, im Genuss zugleich sich bereit dazu zu machen, ebenso frei ohne ihn leben zu können. Auf diesem Weg wird, was uns zuteil wird, als Geschenk erfahren und mit Dankbarkeit beantwortet. Das ist ein anderes Spiel als das Drama von Anspruch, Verzicht und Opfer, das sich entweder in der Befriedigung oder im Verzicht doch immer mit Stolz erfüllen muss. Stolz ist dann der Ersatz für die Befriedigung, auf die wir verzichtet haben. Nur zu oft beherrscht uns dann die Sucht nach dem Ersatz so wie vor dem Verzicht das Begehren. Gehört das Drama dem Rausch, so führt die wohltätige Askese in eine ausgleichende Ruhe. Diese Ruhe ruht in der Bewegung des Atems, die sich bewegen lässt im Wechsel von Annehmen, Aufnehmen und Lassen. Wandel ereignet sich in dieser Bewegung. Er wird nicht gemacht und erst recht nicht beschleunigt. Wer übt, kann keine Siebenmeilenstiefel gebrauchen, eher schon, wenn uns die Vertrautheit mit 175 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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dem Boden fehlt, »bleierne Sohlen«, wie Sartre sie sich einmal gewünscht hat. Wieder ist dann die Frage, wie sich solche Ruhe, solches Schwersein oder die Leichtigkeit in einer Kunst absetzen gegen Alltagszustände, die ähnlich aussehen könnten. Dazu bedarf es bewusster Setzungen, die sich jeweils in einer sinnenhaften Geste ausdrücken. John Cage hat die celebration seiner Stücke oft markiert durch technische Handgriffe wie das Öffnen und Schließen eines Klavierdeckels oder zeremonielle Gewohnheiten wie das Tragen eines Fracks. Diese Zeichen sind deutlich gerade dadurch, dass sie den Stücken vollkommen äußerlich sind. Ob die Gebärde einer traditionellen Tänzerin, die vor Beginn ihres Tanzes eine Geste der Verehrung für eine Gottheit vollzieht, intensiver mit ihren dann einsetzenden Schritten verbunden ist, hängt sicher von ihrer Auffassung ab. Vielleicht vollzieht sie die Geste ja als Beginn des Tanzens. Zwischen den beiden so gegensätzlichen Formen sind alle Abstufungen möglich vom rein formalen Element bis zur Geste der Versenkung. Und was ist in diesem Zeitraum, der da eröffnet wird für eine bestimmte Weile, anders als vielleicht ähnlich Aussehendes in der übrigen Wirklichkeit? Aiskesis, ein Übungsweg, hat die Menschen durchlässig werden lassen. Das kann sich am Beginn einer Performance etwa darin vergegenwärtigen, dass die Aufführenden warten, bis sie ganz da, ganz bereit sind. Der Durchlässigkeiten sind viele. Grundlegend nehme ich das Wort von Karlfried Graf Dürckheim auf aus seinen Sitz- und Atem-, seinen Steh- und Gehübungen. An der Arbeit von der Stimme her habe ich von Blockaden im Leib und ihrer Auflösung gesprochen. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass sich dies gar nicht primär psychologisch vollzieht, sondern durch das Materielle unserer Physiologie hindurch. Die Muskeln und Muskelgruppen, Bänder und Sehnen dehnen sich, aus den Zellen des Gewebes heraus lösen sich übermäßige Spannungen. So werden die Spannungen frei, die diese Zellen, das Gewebe, die Muskelgruppen mit einander in Beziehung halten. Die Energien können ungehindert fließen. Dem Fluss im Ganzen entspricht eine Aufladung im Einzelnen. Der Atemvorgang ist das angemessene Bild. Erst in den Qualitäten des Erlebens werden die Unterschiede begründet. Rausch oder Ruhe erscheinen geradezu als Gegensätze wie das Dionysische und das Apollinische bei Nietzsche. Die Tänzerin Susanne Linke tritt mit einer außerordentlichen Kraft ihrer Präsenz auf und 176 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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berichtet, dass es in ihren Vorübungen immer um intensivste, aber eben auch extensive Dehnung des ganzen Körpers geht. Sie beeindruckt durch die Strahlkraft ihrer Formen, die als solche meist sehr einfach und klar sind. Strahlen können sie dadurch, dass diese Tänzerin insgesamt, in diesen Dehnungen, »durchlässig zwischen innen und außen« geworden ist. Diese Durchlässigkeit führt der Form die ganze Energie des Kraftflusses zu. So kann sie über sich hinaus wirksam werden, während innerlich Spannungen und Lösungen miteinander in die rechten Schwingungen kommen. Nietzsche hat das Apollinische als eine Haltung verstanden, mit der die klassischen Griechen den Stürmen, die ein oft erbarmungsloses und ungerechtes Schicksal auf die Menschen loslässt, standzuhalten suchten. Mit der Form, mit der schönen Form der Kunst die Existenz der immer bedrohten Individuen zu behaupten, ist eine Haltung, die in das Statische von Formen geführt hat. Sie setzen dem menschlichen Vergehen etwas entgegen, das sich Ewigem verwandt fühlt. Sie verdanken sich einem bewundernswerten Widerstand gegen die Willkür der Götter. Etwas von dem nur Widerständigen bleibt aber in den Haltungen stecken und wird zur Pose des Bewusstseins. Als Gegenbewegung zu den statischen Konsequenzen solcher Schicksalsarbeit hat Nietzsche dann das Dionysische gesehen. Seither haben philosophische Anthropologen betont, dass an einem bestimmten Punkt der Entwicklungen Selbstbehauptung und ihr Schutz zum Panzer, schließlich zur Verpanzerung gerät. Der Begriff nimmt bei Max Scheler ebenso wie bei Wilhelm Reich eine wesentliche Bedeutung ein. Helmuth Plessners Werk ist der Gedanke alles andere als fremd, auch wenn die Verdinglichung menschlicher Organleistungen in der Form von Werkzeugen und Apparaten der Wahrnehmung noch eine andere Richtung gibt. Das Auslagern unserer Vermögen in steigernde, aber auch erstarrende Dinge. Wir sind nahe an Heideggers »Gestellen«, die den Menschen ihre Beziehungen zur Welt und damit zu sich selbst schließlich verstellen. Im dionysischen Rausch sieht Nietzsche Form, die zu Isolierhaft der Menschen wird, einschmelzen wie Metall im Feuer. Daraus sollen wir wieder auftauchen, empor- und weitergetragen von den Kräften, die uns in die Welt gehoben haben und neu uns zu tragen versprechen. Den endlosen, aufmerksamen, gelassen-gespannten Wegen der Aiskesis gegenüber zeigt sich die ekstasis, das Außer-sich-Geraten, das merkwürdigerweise ja ebenso mit Besessenheit übersetzt wird. 177 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Mir scheint, wir sollten den Begriff einer anderen Art von Ereignissen und Vorgängen vorbehalten. Entzücken, das alte Wort, wäre eine angemessenere Übersetzung. Darin gehen Rausch und Ruhe eine eigenartige Verbindung ein. Apollinische Form und dionysische Energie bleiben einander entgegengesetzt, wie sie beide eine, selbstverständlich auf ganz Unterschiedliches antwortende Ästhetik des Widerstands darstellen. Mit Hilfe der Form wird der Auslöschung widerstanden; aus dem Rausch des Dionysos wird der Erstarrung unter der Form widerstanden. Ekstase dagegen verdankt sich der Hingabe, die sich finden lässt, dem Versinken, das sich in Transparenz verwandelt. Besessenheit setzt voraus, dass ein Fremdes ein leeres Innen vorfindet. Außer sich zu geraten setzt voraus, dass ein Bei-sich-sein normal ist, das sich gegen ein Außen bestimmt. Außer sich sein – das Wort unterstellt, dass wir dieses Außen eigentlich von uns ausgrenzen. Beide Richtungen geben nicht Durchlässigkeit als einen Weg der Vereinigung dessen zu verstehen, was im Grunde zueinander gehört. Über welche Unterscheidungen und Schwellen auch immer – etwa die zwischen Menschen und Göttern oder zwischen der Tierwelt und der menschlich geprägten. Statt selber zu übender Durchlässigkeit zu gelangen, steht da plötzlich ein Aufreißen. Wenn in Ekstase ihrerseits das Ereignis der Kommunikation plötzlich ist, so verdanken es die Menschen doch einer Vermittlung. Übungen haben kein Ziel, aber ihre Vorbereitungen haben Wirkungen in uns. Sie haben uns aus unserem eingefahrenen Habitus herausgelöst. Insofern hat das Üben ein ekstatisches Moment. Wege des Übens sind vielleicht am deutlichsten zu charakterisieren durch etwas, das sie nicht sind, in keinem Fall. Für diesen Gegensatz könnte man den Begriff der toten Bewegung setzen. Bewegung wird dann herabgesetzt zu etwas ganz Mechanischem, so mechanisch, wie in der Natur wohl der Reflex nie wirklich eintritt, den die Verhaltenspsychologie automatisch vom Reiz ausgelöst sich vorstellt. Es wäre die absolute Wiederholung. Tot wäre diese Bewegung natürlich nicht physiologisch. Aber alles Seelische, alles entfaltet Existenzielle wäre ausgelöscht in dem Sinne, in dem Hegel vom Werkzeug als einer »toten Mitte« zwischen dem Menschen und seinem Gegenstand spricht. Die Wahrnehmungen und Verrichtungen eines Arbeitsvorganges sind in einem Ding abgelegt, einem Grabstock, einem Hammer, einem Computer. Das weitere Arbeiten bedeutet, dass vorgegebene Verrichtungen ausgeführt werden müssen. Nur wenn das Werkzeug in einer 178 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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neuen Weise verwendet wird, kann der arbeitende Mensch wieder mit dem Ausführen einen Entwurf verbinden. Dann wird sein Zutun wieder im vollen Sinne »lebendige Mitte« werden, während er sonst auf den bloßen Einsatz seiner Arbeitskraft beschränkt wird. Jedes Geschick, das der Umgang mit einem Werkzeug erfordert, bringt freilich ein lebendiges Moment menschlicher Art in den Vorgang. Das erweist sich besonders daran, dass darin dieser Mensch in sich ebenso etwas ausbildet, wie er mit dem Werkzeug vor sich etwas bildet, das dann von seinem Wirken zeugt. Die Wahrnehmung eines Stoffes, eines Vorgangs und gerade auch seiner selbst ist dann im Spiel und wird zum mimetischen Vermögen. Dazu ist Askese in dem Sinne notwendig, dass wir uns verfestigter Formen entledigen. In seiner Analyse des Kapitals nennt Marx die Maschinerie, das Produktionskapital, »tote Arbeit«. Was einmal die »lebendige Arbeit« der »unmittelbaren Produzenten« geleistet, hergestellt hat, tritt ihnen als Maschine tot gegenüber. Schon Hegel hatte beklagt, dass so die Menschen der Maschine, nicht diese ihnen dienen müssten. Die anthropologische Klage hat Marx in eine sozial-politische Kritik übersetzt. Dabei ist faktisch allerdings wieder die anthropologische Dimension aus dem Blick geraten. Seine Kritik hat sich, historisch verständlich, darauf konzentriert, dass die »tote Arbeit« denen, die weiter »lebendige Arbeit« leisten müssen, enteignet und ihnen als Macht anderer über sie gegenübergestellt ist. Dabei ist die Frage danach, wie lebendig denn im Rahmen einer solchen Technologie Arbeit überhaupt sein könne, versäumt worden. In Wirklichkeit hat aber das technologische Modell, das die menschliche Arbeit wesentlich der mechanischen unterwirft, die Gesellschaft insgesamt erobert, ob unter den Machtvorzeichen des privaten oder des kollektiven bzw. Staatskapitals. Haushalt, Sport, Verkehr, mehr oder weniger alle Bereiche der gesellschaftlichen Tätigkeiten werden nach diesem Modell bereits gedacht und dann auch immer perfekter danach organisiert, bis der Typus toter Bewegung die meisten Tätigkeiten beherrscht und damit praktisch zum Vorbild wird. Man nennt das Habitualisierung. Von außen bestimmte Vollzüge verdrängen die von innen bestimmten. Interessant ist grundsätzlich daran auch, dass die Entfremdung der Menschen von ihren Gegenständen und der Art ihres Umgangs mit ihnen sich entsprechend niederschlägt in ihrem Verhältnis zu sich selbst. Wir werden im selben Maße uns selber fremd, indem unsere äußeren Bewegungen nicht mehr aus den inneren Bewegungen hervorgehen. Während wir mit Armen und 179 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Händen den Takt eines Montagebandes bedienen, verlieren unsere Bewegungen die Resonanz selbst mit dem Rhythmus unseres Atmens, erst recht mit den feineren Rhythmen, deren Zusammenspiel unser vegetatives Leben bildet. Regeln verdrängen das Spiel, wo Systeme das analytische Modell liefern. In Systemen, auch in den inzwischen propagierten »offenen Systemen« ist das immer Neue jeder lebendigen Bewegung auf die Wahrscheinlichkeitskategorie des Zufalls reduziert. Im kybernetischen Steuerungsinteresse müssen letzten Endes alle Vorbereitungen zu Zurichtungen verkommen. Es wird von da her gedacht, wo man hin soll, der Ausgangszustand einfach als Defizienz definiert. Wir hatten aber gerade für das Üben den umgekehrten Weg als Bedingung erkannt. Zwar kann es nur in einem ganzen Horizont bewusster Möglichkeiten – und noch nicht bewusster Entdeckungen – wirklich einen Weg bilden. Aber dessen Schritte können sich im Einzelnen nur vom jeweiligen Hier und Jetzt her bestimmen. Die Menschen unter solchem Zwang unterliegen einer Selbstentäußerung, die alle Entzugsstrategien von Askese reproduziert und womöglich verstärkt. Ihnen winkt als Versprechen dafür kein ewiges Heil. Umso gigantischer müssen die Reize der höheren Lebensstandards in Szene gesetzt werden. In den Künsten können wir uns wenigstens eine gewisse Freiheit von äußeren Vorgaben verteidigen, um lebendige Bewegung und damit Schritte möglich zu machen zwischen den Risiken und den Aussichten von Wandel. Das viel strapazierte Stichwort Kreativität nimmt einen schon viel verbindlicheren Klang an, wenn wir einfach uns der notwendigen Möglichkeit von Wandel stellen und zuwenden. Mit ihren Erkundungen können Künstlerinnen und Künstler uns Wege oder wenigstens Schritte und deren Vorbereitungen zeigen, uns anregen und ermutigen, anstecken. Je weiter die Verdinglichungen menschlicher Vollzüge, in der Wahrnehmung wie in den Tätigkeiten, fortgeschritten sind, desto mehr brauchen wir aber auch weite Felder einer Pädagogik des Übens. Selbst traditionelle Gesellschaften – und gerade sie – haben Entsprechendes entwickelt. Man könnte sagen, dass ihnen doch entsprechende Erfahrungen so gegenwärtig waren in einer Fülle von handwerklichem Tun, dass sie solcher Betonung nicht bedurften. Gerade sie haben aber die Intensivierung des Alltäglichen zu pflegen gewusst. Ausgerechnet unsere pädagogischen Institutionen sind unter den Maximen einer borniert zielfixierten Lehrplanpolitik und einer entsprechend engstirnig operationalisierenden Erziehungswissenschaft 180 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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selber zur Durchführung des falschen betriebswirtschaftlichen Modells übergegangen. Sie wetteifern geradezu darin, die Methoden toter Bewegung zu perfektionieren. Aus heilloser Angst, nicht bestimmte Ziele garantieren zu können, wird die Verdrängung von Leben geplant. Auch Pädagogik muss eine Kunst der Gegenwart entfalten. Didaktik leitet dagegen allzu oft, was jetzt geschehen soll, ab von dem, was später erzielt sein soll. Menschliche Selbständigkeit gegenüber dem Gang der Evolution erlaubt und erfordert einen bewussten Blick auf Kommendes und Vergangenes, aber eben auch Geistesgegenwart. Das Ziel als Ziel ist dem entgegengesetzt. Didaktiken, nicht nur operationalistische, verfahren nach einem mechanischen Prinzip. Ziele werden festgelegt und der Wille der Schüler eingesetzt, um von hier nach da zu kommen. Dabei wird eine geplante Zukunft auf das Jetzt projiziert. Unter der Projektion kommen die Energien und Anregungen der gegenwärtigen Situation zum Erliegen. Sie werden als Widersacher zu den künftigen Zielen behandelt. Den resultierenden Mangel an Bewegung versuchen willkürliche Motivationsstrategien wettzumachen. Eine lange als liberal bezeichnete Strategie kehrt den Fehler um. Ohne Eingriffe, aber auch ohne bewusste Anwesenheit eines Horizonts von Möglichkeiten, durchaus auch ganz bestimmten Möglichkeiten, werden Anregungen zu bloßen Reizen und Energien in bloßen Reaktionen verbraucht. Dieses Modell von Reiz und Reaktion wird häufig Spaß genannt, weil nichts ernst genommen werden muss. Energien und Anregungen werden einem rein passiven Konsum geopfert, statt Entdeckungen zu gewinnen und die Kräfte sich in Wirkungen stärken zu lassen. Eines der wichtigsten Ansatzmomente für ein richtiges Leben im falschen ist gerade darin zu entdecken, dass wir lernen, solche Gegensätze wie den zwischen Zielfixiertheit und Beliebigkeit in Spannungsfelder zurückzuverwandeln. Nur in solchen Spannungsfeldern können Reize als Anregungen, Anregungen als Ansteckung wahrgenommen und aufgegriffen werden. Ansteckung hat eben ein durchaus aktives Moment in sich, das freilich aus der Aktivität des Aufnehmens, nicht aus der einer eingesetzten Willkür geboren wird. Momente dieser Art tauchen hier und da im Leben auf. Sie als die wesentlichen zu begreifen, bedarf hingegen der Intensität und Konzentration der Künste.

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Unterscheiden und vergleichen Der dritte Gedanke ist dem besonderen Spiel von Unterscheiden und Vergleichen gewidmet, wie diese Grundbewegung des Lebens vom Menschen in den Künsten eigens hervorgetrieben wird. Mir scheint die Kunst der Pädagogik etwas Grundlegendes mit den Künsten gemeinsam zu haben. Es kommt in diesen beiden Feldern besonders darauf an, dass aus der Fülle oder Überfülle der Erscheinungen eine Auswahl getroffen wird, und zwar so, dass wir in die Lage versetzt werden, alles Ausgewählte voll wahrzunehmen und die eigenen Bewegungen ganz den vorgebildeten oder möglichen Beziehungen zwischen den Momenten der Situation folgen zu lassen, das heißt, sie selber und ausdrücklich mitzuvollziehen. In Wahrheit sind Beziehungen immer wesentlich Spannungsfelder, und diese mitzuvollziehen, sind genau die Vorgänge, in denen wir uns weiten und im Weiten die Kräfte des Zusammenhaltens stärken. Unsere lebendige Mitte wird ausgebildet. Dies ist die Weise, wie in der Evolution Differenzierungen entstehen und mit der Notwendigkeit, diese zu integrieren, höhere Intensität von Beziehungen einleiten. Das menschliche Bewusstsein ist solch eine Differenzierung, ja ein Riesenbündel von Differenzierungen. Gegenwärtig wird in den rationalisierten Gesellschaften vorherrschend die Strategie betrieben, einzelne Differenzierungen zu forcieren, womöglich mit allen Mitteln einer apparativen Technologie. Die »künstliche Intelligenz« ist zu ihrem Flaggschiff gemacht worden. Solche Entwicklungen setzen die Auffassung fort, differenzierende Leistungen vollbrächte nur das Gehirn, nicht das Gefüge unserer Sinnesorgane im Zusammenspiel mit dem Hirn. Die gesamte Evolution variiert immer, von dem Leben der einzelligen Wesen an, das Wechselspiel von unterscheiden und vergleichen, das sich auch bis in die anorganische Welt verfolgen lässt. Einmal mehr ist es Bateson, der von uns verlangt hat, die Begriffe Unterschied und Vergleich, denen wir in unserer Erkenntnistheorie wie im sogenannten gesunden Menschenverstand eine trügerische abstrakte Gültigkeit verliehen haben, als Vollzüge zu begreifen: Es gibt nicht einfach Unterschiede. A difference is only a difference when it makes a difference. Nur in einem Kontext, der zu vergleichen erlaubt und fordert, kann unterschieden werden. Das gilt eben genau so auf dem Niveau höchster Intelligenz. Differenzierungen bleiben Fiktionen im Leeren, wenn wir uns nicht gleichzeitig um Integrationen bemühen. 182 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Wissenschaftstheorie und Lernpsychologie sind auf diese Wirklichkeit in ganz ähnlicher Weise zu verpflichten. Wege dazu zu üben, gehen eben die Künste voran. Gerade darum sollte Pädagogik sich intensiv mit ihnen verbinden. »Präzision versus Relevanz«. Diese Einsicht der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie fasst das Gesagte in eine umwerfende Formel zusammen. Je präziser die Messungen, desto geringer ist der Anwendungsbereich der Ergebnisse. Der Fokus auf die Präzision ist unabdingbar. Wir versäumen über der exakten Bestimmung von Ausschnitten aber die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang all der Vergleiche, die eine wirkliche Welt ausmachen und so weit erhalten. Das Vergleichen hält sie in der Bewegung, die auf jeden Unterschied mit einer ausgleichenden Antwort reagiert. Gängig wird so etwas Ganzheitlichkeit genannt. Das Wort halte ich für denkbar unglücklich, solange wir mit dem Ganzen eine Vorstellung von Abgeschlossenheit verbinden. Das »Ganze«, um das es jeweils geht, ist weder abgeschlossen noch im Gleichgewicht. Es wandelt sich unaufhörlich von einem relativen Ungleichgewicht zum nächsten; und wir hoffen, dass die relativen Ungleichgewichte relativ bleiben, das heißt bezogen auf die Möglichkeit ihrer immer neuen Integration. So nenne ich einen Organismus gesund, solange er die Fähigkeit hat, Störungen aufzunehmen und in Bewegungen des Ausgleichens zu übersetzen. Mit allem Üben werden wir uns sehr schwer tun, wenn wir nicht diese Vorstellung von der Welt annehmen können. Manche Kulturen haben sie aus der Beobachtung entwickelt. Manche modernen Wissenschaften erkennen auch ihre logische Notwendigkeit. Manche Menschen folgen darin der Weisheit der Erfahrung, die uns durch die Millionen Jahre der Menschwerdung getragen und in unserer Weise, ein Lebewesen zu sein, sich niedergeschlagen hat. In der Komposition eines Bildes ebenso wie in der Dramaturgie eines Theaterstücks wird die Dichte der Spannungen darin gewonnen, wie alle Elemente des Werkes mit einander in Beziehungen treten und uns auffordern, diese Beziehungen mitzuvollziehen. Die Spannungen sind nicht nur in den Verwandtschaften, sondern gerade auch in den Widerständen begründet; selbstverständlich nicht nur zwischen den einzelnen Elementen, vielmehr erst recht zwischen den unterschiedlichen Beziehungen, die sie miteinander bilden. Selbstverständlich ist im ganzen Leben die Kunst, diesen Seiten gerecht zu werden und sie 183 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ein möglichst gelingendes Feld bilden zu lassen – zwischen den jeweils beteiligten Menschen, den Bedingungen der Orte und Zeiten, der Dinge und Vorgänge. Als Künstlerinnen und Künstler aber haben wir die Freiheit, uns die Widerstände und die Verwandtschaften zu wählen, an denen wir unsere Arbeit entwickeln wollen. Genau diese Wahl ist die höchste Form des Übens zwischen unseren Vermögen und unserem Gegenüber, Adorno sagt, einem Material. Wir üben dabei, wie viel Gelingen im Ausloten des Feldes wir mit dieser Freiheit den Vorprägungen eben des Materials und genauso unserer selbst abzugewinnen vermögen. Das ist die Übung darin, angelegte Potentiale zu erahnen und gegen deren historisch bedingte Blockaden zu kämpfen. Beide Seiten dieser Arbeit brauchen so viel mimetische Bereitschaft und so viel Drang zu einem ganz Eigenen, ganz Neuen, wie wir nur irgend aufzubringen vermögen. Das Spiel von unterscheiden und vergleichen erfordert Spieler, die sich seinem Gang anverwandeln und seinen einseitigen Spannungen Widerstand leisten. Das stärkt eine Subjektivität im Wandel. Sie kann so viel in Bewegung setzen, wie sie an Bewegung aufnehmen kann.

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Ein Weg individueller Arbeit an einem viel weiteren Bewusstsein Jenseits der auf Trennungen beruhenden Organisation und Institutionalisierung des gesellschaftlichen Lebens und Arbeitens suchen wir Wege, auf denen neue Bewegungen in der Auseinandersetzung auch mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit erwachsen können. Für die Auseinandersetzungen sind dabei bestimmend die falschen Formen der Ökonomie und die Suche nach angemesseneren. Die inneren Kräfte neuer Initiativgemeinschaften wie Bürgerinitiativen, künstlerischen Gruppen oder für naturgemäßen Anbau usw. werden gegenüber den bedrohenden Gewalten und für die Verbindung mit weiteren Kreisen der Bevölkerung entwickelt, und diese Tätigkeiten nach außen sind Anreiz und Kräftigung der inneren Bewegtheit der Gruppen, aus der heraus sie geleistet und getragen werden müssen. Aikido ist einer der Wege, auf denen wir als Individuen die bewusste Übung der körperlichen Bewegungen mit einer Klärung der geistigen verbinden können und auf denen dies in einer Auseinandersetzung mit den Wirkungsgesetzen der Natur geschieht. Eine über tausend Jahre erprobte und veränderte Reihe von Übungen öffnet Einsichten in die Formen, in denen Leben lebt, in denen das geistig bewusste menschliche Leben leben kann und in denen wir Menschen einen sinnvollen Umgang miteinander und mit der Natur erlernen können. Aikido kommt aus den Zen-Traditionen des Fernen Ostens, denen manche Züge unserer eigenen Geschichte einmal nahe gekommen sind, denen unbewusst noch heute unsere Geschicklichkeit in Arbeiten und Sportarten mehr oder weniger entspricht. Aber wir haben aus diesen Annäherungen und unbewussten oder intuitiven Fähigkeiten keine eigene Lernform gemacht, so dass wir heute, da die Welt sich zu einer großen gemeinsamen Geschichte zusammenschließt, in dieser Richtung uns außereuropäisches Wissen zu eigen machen. In ihm finden 185 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Übungen

wir viele der verbindenden Formen ausgebildet, die in unserer Geschichte der trennenden Formen erst zu kurz gekommen, dann in ihren unbewusst fortlebenden Zusammenhängen zerstört worden sind. Die wesentliche Verbindung ist die von geistiger und körperlicher Haltung und Bewegung. Das Wissen, dem die Übungen wie Werkzeuge dienen, ist konkretes Verhalten und abstraktes Denken in einem: bei unserem Schritt mit dem ganzen Körper und dem ganzen Verstand in der Bewegung des Fußes konzentriert sein und in dieser Bewegung die gesamte Situation zu einer eindeutigen Form zusammenfassen. Da die Übungen aus Traditionen der Selbstverteidigung entwickelt sind, ist die Form immer eine Form des Reagierens auf eine Situation und des Handelns gegenüber einem Anderen. Zur Übung von Körper und Bewusstsein werden die Bewegungen durch Konzentration aller Fähigkeiten auf sie. Nur genaue Beschreibungen und ihr Nachvollzug können eine Vorstellung vermitteln. Man kann nie die über die einzelnen Augenblicke hinausweisende Richtung der Bewegungen als abstrakte Form allein darstellen. Im Aikido ist die Ausgangshaltung ein vorgeschobener Fuß in die Richtung vorn und ein zurückgesetzter, der quer steht und zu einer Seite weist, so dass ich immer auch nach der einen Seite offen bin. In dieser Haltung ist so viel Spannung vorwärts und rückwärts, dass ein weiteres Vorschieben des vorderen Fußes nicht wirklich eine neue Bewegung bedeutet. Eine latente Spannung in dieser Richtung wird nur in eine sichtbare Bewegung umgesetzt. Ich kann aber auch den Körper rückwärts verlagern. Vielleicht so weit, bis sich der quer gesetzte Fuß längs zur Richtung der Bewegung dreht und den noch vorderen Fuß jetzt rückwärts an sich vorbeigleiten lässt. Die Querrichtung des hinteren Fußes kann aber auch für genügend seitliche Spannung genützt werden, um Sicherheit nicht nur auf der Linie vorwärts-rückwärts zu entwickeln. Die Sicherheit ist Voraussetzung für Wendigkeit und Aufmerksamkeit für mich selbst wie für die ganze Situation. Und Sicherheit heißt bewegliches Gleichgewicht. Beim Walzertanzen hebe ich mich etwas auf die Fußspitzen, vor allem, um besser drehen zu können. Dabei kann man ziemlich leicht das Gleichgewicht verlieren; manchmal ist es gut, sich an der Partnerin festhalten zu können. Wenn die auch gerade nicht ganz sicher ist, hat man Schwierigkeiten mit der Balance. Im Aikido-Schritt wird das Körpergewicht etwas nach unten verlagert; die leicht gebeugten Knie ermöglichen dem Leib, sich fe186 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Aikido

dernd eine gute Balance zu suchen. Selbst im Drehen auf dem Ballen kann das Gleichgewicht ganz sicher sein. In der Grundstellung bilden der Fuß nach vorn und der quergestellte hintere Fuß ein schmales Dreieck. Ich schiebe nun den hinteren Fuß gerade am vorderen vorbei, der sich daraufhin querstellt. Nach diesem Vorgehen drehe ich mit dem nunmehr vorderen Fuß nach innen, während der zurückbleibende sich querzustellen beginnt. Dieses Querstellen geht aber durch die Drehung über in ein Gleiten hinter den gedrehten und jetzt wieder vorn stehenden ersten Fuß. Der Körper wird immer von beiden Beinen getragen; so nahe gleiten die Füße über den Boden, so gleitend wird das Gewicht vom einen Fuß auf den anderen verlagert, dass – übt man nur lange genug – jederzeit der Vorwärtsschritt zurückgenommen, die Drehbewegung angehalten, die Richtung verändert werden könnte. Dazu muss man aber auch geistig ganz in die Bewegung hineingehen. Sonst verzögern sich die Reaktionen der Bewegung auf Hindernisse, die der Fuß wahrnimmt; oder ich plane einen Schritt, den der Fuß in seiner gegenwärtigen Situation gar nicht ausführen kann; oder ich bin mit der Koordination meiner Gliedmaßen zu sehr beschäftigt, um die Bewegung eines Partners auf mich zu richtig einschätzen zu können. Die Konzentration verbindet nicht den »kontrollierenden Kopf« mit den »ausführenden Füßen«; Zentrum der Bewegung ist immer die Körpermitte, etwas oberhalb des Beckenraums. In ihr beginnt jede Bewegung und Richtung, und die Körperteile folgen. Dadurch, dass sie in verschiedener Weise dem Beginn aus der Mitte folgen, sind sie immer auf diese Mitte und dadurch mittelbar aufeinander bezogen. Konzentration bedeutet, uns seelischen Kräften dieser Mitte anzuvertrauen und Verstandes- und Wahrnehmungsvermögen ebenfalls mit einzubeziehen. In geschriebenen und zu lesenden Worten kann man nur die eine Seite der Übungen beschreiben, die konkrete Seite kann man allein im Üben erfahren. Also muss man sich hier mit einer Beschreibung der Bewegungssituationen behelfen und hoffen, dass die Lesenden aus Erinnerungen an Ähnliches sich eine Vorstellung machen können oder es praktisch probieren. Die andere Seite, die des Denkens im Üben, ist die der vorgestellten Figuren und insofern leichter in Begriffen darzustellen. Aber auch das ist nur andeutungsweise möglich; denn die Figuren füllen sich doch nur in der praktischen Übung selber mit Erfahrungsgehalt und wirken ohne ihn leicht einigermaßen banal. Fatal wäre das 187 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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naheliegende Missverständnis, als ob es abstrakte Formen gäbe, die in der übenden Bewegung angestrebt würden – mehr oder weniger ähnlich, recht oder schlecht getroffen. Es ist umgekehrt. Die gesuchte Bewegungsgestalt überhaupt in einer visuellen Form fixieren und darstellen zu wollen, läuft bestenfalls auf eine Hilfskonstruktion hinaus. Trotzdem versuche ich eine Darstellung, weil die innige Verbindung von Denkform und körperlicher Wirklichkeit unserem europäisch intellektuellen Denken eben grundsätzlich gegenübertritt. Außerdem können hier auch einige Formen mit Hilfe von Worten einen gewissen Sinn einnehmen; die gleichen Formen begegnen uns in gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen oder physiologisch und psychologisch formuliert in den anderen Zusammenhängen. Sie sind aber der Art von Ordnung am nächsten verwandt, auf die uns die Beobachtung und das Erleben der Vogelschwärme aufmerksam gemacht haben. Der Drehschritt vorwärts ist eine Grundform, die zu vielen komplexeren weiterentwickelt wird. In ihm geschieht etwas ganz Einfaches, das wir aber so wenig gewohnt sind, dass es uns noch nach langem Üben nicht ganz selbstverständlich geworden ist. Wir machen eine Vorwärtsbewegung und drehen uns dabei gegen die Anfangsrichtung. Das heißt, wir gehen z. B. auf einen Angreifer zu. Durch den Wechsel des linken und rechten Fußes beim Drehen gleiten wir gleichzeitig auch etwas zur Seite. Wir stehen am Ende nicht dem Ausgangsplatz direkt gegenüber und können leicht diese Verschiebung noch weiterführen. Indem wir also mit einem solchen Drehschritt einem Angreifer entgegenschreiten, treten wir auch zur Seite wie der Torero, der den Stier auf sich lockt und mit einem Schritt seitwärts ins Leere laufen lässt. Durch die Drehung wird es uns außerdem möglich, dem enttäuscht an uns vorbeistolpernden Angreifer nachzublicken, ja den Verwirrten, der uns doch frontal zu treffen dachte, vollends aus seiner Bahn zu bringen. Aus der sicheren, aber beweglichen Position am Ende unserer Drehung können wir ihn sogar leicht in eine Bahn unter unserer Hand umwenden. Darin wird eine bestimmte Figur der Bewegung erfahren. Einem Angreifer brauche ich nicht töricht auf der von ihm angegebenen und natürlich für ihn vorteilhaften Angriffslinie und -richtung tapfer entgegenzutreten, sondern ich kann selber eine für mich günstigere Situation bestimmen. Ich kann entgegentreten und doch dabei ausweichen; ich kann ausweichen genau in das neue Zentrum meiner eigenen Überlegenheit. Dann läuft sein Angriff sich tot. Während er sein Ziel ver188 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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fehlt, auf das er sich fixiert hat, und mindestens für einen Augenblick ohne Orientierung ist, kann ich ihm mit einer geringen Bewegung die Orientierung meiner Bewegung auferlegen, so dass er zu Fall kommt. Dies ist die Freiheit von der Fixiertheit auf den Anderen, aber auch die Freiheit von einer eigenen Fixiertheit auf ein direktes Ziel. Aikido ist kein Kampfsport für Raubeine und Angeber. Eher kann man auf diesem Wege die Kraft und Treffsicherheit »gewaltfreier Aktion« üben. Aikido ist ein Weg des Übens; das heißt, seine Ziele können nicht unmittelbar erreicht werden, z. B. indem man einen Angreifer abwehrt, unterwirft oder ihm die Knochen bricht. Selbst wenn man das mit Sicherheit und geringstem Aufwand vermag, selbst wenn man sich auf den eigenen Körper, die eigenen Sinne und die Wirkungsweise der Naturgesetze meisterhaft versteht, verfehlt man ganz das Ziel, solange man nicht fähig ist, mit dem Partner »etwas zusammen zu machen«. Dazu muss man dessen Schwächen, Hemmungen, Blockaden wahrnehmen können; man muss sie ihm in der Übung aber auch deutlich machen, damit er an sich arbeiten kann, nicht um ihn aufs Kreuz zu legen. In diesem Geiste kann man seine eigene Sicherheit, soweit man sie schon gewinnen konnte, dem Anderen dienstbar machen, statt sie skrupellos gegen ihn auszuspielen. Man braucht eigene Sicherheit, um dem Anderen so bestimmt entgegentreten zu können, dass er merkt, woran er ist, und selber klarer reagieren kann. Ich muss lernen, meine Bewegung eindeutig auf ihn zu richten, aber von mir her. Dann ist auch für ihn die Situation klar genug, um präzise seine Bewegung der meinen antworten zu lassen. Darin kann ein »Besserer« beim Üben auch mit einem ungeübteren Partner an sich arbeiten – man kann immer lernen. Umgekehrt gilt das Gleiche. Wenn ich einen Schritt auf den Anderen zu unternommen habe und er klug reagiert, verliere ich das Gesetz des Handelns an ihn. Aus einem Schritt auf den Anderen zu führe ich meine Hand gegen seinen Leib. Er geht einen Schritt zurück, dreht sich aber zugleich seitwärts um. So steht er, während ich an ihm vorbeistolpere, seitlich hinter mir und fasst meine ursprünglich gegen ihn gerichtete Hand. Durch leichten Schub kann er meinen Schwung nach vorn in eine Kreisbewegung um seinen Stand ziehen. Meine Vorwärtsbewegung kann er durch leichten Druck auf meinen vorgestreckten Arm nach unten wenden, so dass er mich bald im Griff und am Boden hat. Wenn 189 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ich erst gelernt habe, diesen Griff zunächst geschehen zu lassen, statt mich auf Widerstand zu fixieren, wird auch der Augenblick kommen, in dem er sich zu sehr auf das Festhalten konzentrieren muss. Dann kann ich in der Richtung seines Zugriffs ihm so weit nachgeben, bis er nicht mehr nachlassen kann, und aus der Spannung frei werden. Fasst er mich z. B. am Handgelenk und drückt mich im Genick zu Boden, so gibt er selber mir damit zugleich den Schwung, den ich brauche, um vorwärts mit einer Rolle ihm zu entgleiten. Soll es dann weitergehen, so muß er nun mich angreifen und wird sich in meiner vorigen Situation finden. In den Partnerübungen des Aikido wird mit überschaubaren und nachprüfbaren Zweiersituationen an der notwendigen Klarheit gearbeitet, die wir darin brauchen, wie wir einander gegenübertreten. Die Alltagsinteraktionen sind heute weitgehend von einer außerordentlich kräfteverzehrenden Unentschiedenheit beherrscht. Oft genug tritt Aggressivität unreflektiert zutage. Wenn sie so in die Übungstechniken hineingetragen wird, lernt der halsbrecherisch Aggressive mit der Zeit, dass er sich vor allem den eigenen Hals zu brechen droht und dass er sich selber Lernmöglichkeiten an sich selbst und mit Anderen blockiert, die nur im Miteinander entwickelt und nur im Nachvollziehen der Reaktionen eines anderen Menschen überprüft werden können. Sehr viele lehnen Gewalttätigkeit in offener Aggressivität ab. Solange jedoch die eigenen Aggressionen dadurch nur unterdrückt, aber nicht verarbeitet werden, verbietet mehr die Angst vor der Verantwortung für schlimme Folgen des eigenen aggressiven Zugriffs solches Handeln, als dass die Einseitigkeit von Gewalt abgelöst würde durch die Wechselseitigkeit von Beziehungen auf den anderen Menschen. Dabei kommt eine unreflektierte Hemmung allen Verhaltens zu den Anderen überhaupt heraus, so dass die Situation auch für den Anderen unklar gemacht wird, weil er seinerseits sich nicht auf ein Verhalten mir gegenüber einstellen kann. Die berühmte traditionelle Unentschlossenheit, wer denn nun als Erster durch eine Tür gehen solle, ist ein Beispiel der Hilflosigkeit, in die man sich gegenseitig verstrickt, ohne dass ein Weg zur Klarheit führt. Im Aikido kann ich üben, auf den Partner so bestimmt zuzugehen, dass er sehr genau mit seinem Gegenschritt zu reagieren vermag. Ich kann meinen Arm so gut in jedem beliebigen Moment eines Stoßes anhalten lernen, dass ich unbesorgt, mein Gegenüber versehentlich zu verletzen, ganz entschlossen auf ihn zugehen kann. 190 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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In solchem Üben erfahren wir, dass ein Nicht-Verhalten eine versteckte, aber um so üblere Art von Aggressivität ist: Ich entziehe dem Anderen die Grundlage, die er für sein Verhalten braucht; ich entleere die Situation, bis er in einer Art Vakuum oder schalltotem Raum seiner Orientierungslosigkeit ausgeliefert ist. Dabei kann er mich für keine benennbare Verletzung verantwortlich machen. Es ergibt sich, dass Aggressivität nicht durch Unterlassung, sondern nur in festem Auftreten einander gegenüber überwunden wird. Nicht erst die Kung-fu-Filme oder Karatewettkämpfe der kommerzialisierten westlichen Länder machen aus den Übungen ein Instrument der gegenseitigen Zerstörung. Die Samuraigeschichte Japans war mit der brutalen Hierarchie der Shogunenherrschaft eng verbunden. Aber die Übungen können, wie alle Wege, zu entgegengesetzten Zielen führen. An den Traditionen wurde besonders in jenen ZenKlöstern gearbeitet, die Freiheiten gegenüber dem Shogunenregime zu hüten und zu entfalten suchten. Aikido heißt Weg, in Harmonie die inneren Kräfte nach außen zu entwickeln. Er ist aus den sehr alten chinesischen Traditionen und aus dem japanischen Zen kommend erst Mitte des 20. Jahrhunderts von einem der bedeutendsten japanischen Meister in dieser Gestalt und Verbindung der Übungen gelehrt worden. Dieser Meister Ueshiba sagte: »Wir müssen die Vorstellung des Kampfes durch die der Liebe ersetzen. Wir müssen uns gegenseitig aufbauen, statt uns zu zerstören.« So berichtet es uns sein Schüler, der Meister Noro in Frankreich, der bei aller Bestimmtheit der Bewegungen besonderen Wert auf die Biegsamkeit legt. Krampfhaftigkeit und Unsicherheit bedingen sich gegenseitig. Unsicherheit, Angst, Panik lassen uns nicht die freie Wahl, wie wir angemessen Situationen beantworten können. Diese Freiheit zu gewinnen, im Wahrnehmen und Aufnehmen des Begegnenden wie im Erwidern und Handeln, sollen die Übungen helfen, die wir inzwischen schon in vielen deutschen, französischen, englischen oder italienischen Städten und Dörfern als Anfänger oder Fortgeschrittene ausführen. Das ist eine sehr schwere Forderung. Sicher war sie auch in Zeiten und Gesellschaften schon sehr schwer, in denen aus allen alltäglichen Verrichtungen die Menschen ein viel sichereres Verhältnis zu den Möglichkeiten und Schwierigkeiten ihres eigenen Körpers wie der Natur um sie herum entwickeln konnten. Aber sie erlebten im Ackerbau, dass die zartesten Keime des Getreides sich durch eine harte Boden191 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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kruste schieben können, und so war ihnen die Erfahrung nicht so fremd wie uns heute, dass bei rechtem Verhalten auch das Schwache stark wird und dass den Menschen die wichtigsten Dinge aus der Natur zuwachsen, wenn man sie nur richtig fördert. Sie erlebten in den verschiedenen Handwerken, wie Meisterschaft aus dem Üben im Umgang mit dem Material und den Werkzeugen, aus der Nachahmung vorbildlichen Arbeitens und aus der immer bewussteren und sichereren Wahrnehmung der Wirkungsweisen von Werkstoff und Werkzeug erworben wird. Wir »Modernen« dürfen nach dem ersten Kindesalter kaum noch aus der Nachahmung lernen und können kaum Fähigkeiten im Zusammenhang des Lebens entwickeln, indem wir nach und nach ernsthafter an den wirklichen Arbeiten der Gesellschaft beteiligt würden. Dass Üben gleichzeitig auch schon Teil des »Lebensernstes« ist, dass umgekehrt das Leben immer auch Übung bleibt, kommt uns nach Kindergarten und Schule und Training und Ausbildung und theoretischen Examina »künstlich« vor. Wir fragen nach Resultaten, und zwar nach direkter Nützlichkeit für begrenzte Zwecke. Außerdem muss es schnell gehen. Man muss Ergebnisse sehen. Im Aikido oder in anderen ähnlichen Übungsformen werden Aussichten vorwegnehmend deutlich. Schon in der ersten Stunde wird neben allen eigenen Schwierigkeiten auch ein wenig für einen selbst spürbar von den Sicherheiten, die der Weg einem bringen kann. Wenn man aus dem Sitzen, dann aus dem Stehen rückwärts abrollen lernt, ohne mit seinen Knochen auf dem Boden aufzustoßen oder mit dem Kopf die Matte zu berühren, verliert man ein großes Stück Angst vor dem Hinfallen, die uns doch im Gehen so verunsichert. Um so mehr später beim Vorwärtsrollen. Anders als beim Sport kommt es dabei nicht auf eine gute Haltung am Schluss an. Die ergibt sich von ganz allein, wenn man während des Rollens sich eben nicht auf die perfekte Form fixiert, sondern sich jeweils auf die Situation von Körper und Matte konzentriert, um von einer sicheren Haltung in die nächste gleiten zu können. Am besten können sich praktisch arbeitende junge Leute darauf einstellen. Ein Schiffsmaat von der Binnenschiffahrt, der längere Zeit mit uns übte, hatte am meisten Geduld: »Wenn man auf dem Schiff ein Tau losmachen und bei der Geschwindigkeit auch noch in die richtige Richtung bringen muss, da tut man sich auch erstmal schwer damit. Aber so nach drei Jahren, da kann man das dann eben. Das wird hier wohl auch so sein.« Am schwierigsten machen es sich die Intellektuel192 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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len, die bei jeder Phase fragen, wozu das führt und was »das soll«, die darauf bestehen, jede Bewegung erst im Kopf genau klar zu bekommen, ehe sie sich aufs Ausprobieren einlassen. Die Angst davor, etwas zu erleben, das man nicht vorher intellektuell genau kalkulieren kann, ist selbstverständlich bei uns Kopfarbeitern am größten. Wir suchen einen Schutz davor, uns auf eine Erfahrung einzulassen, die unweigerlich auch mit den Sinnen des Körpers verarbeitet werden muss. Alle möglichen klugen Argumente sind dazu gut, wenn nicht einfach gängige Vorurteile herhalten müssen. Dem Sport gegenüber sind die Hemmungen offensichtlich längst nicht so groß; vielleicht weil Sport gewohnten Zwecken wie der Gesundheit und Fitness dient oder weil man auf bestimmte messbare Ergebnisse hin trainieren kann wie Torzahlen, Geschwindigkeit usw. Beide Gründe würden eine wirkliche Konzentration des ganzen Menschen auf das, was man da körperlich tut, vermeiden helfen. Im Fußball ist der Mann neben mir der Linksaußen, bin ich der Mittelstürmer. Im Hundertmeterlauf ist er der Mann, der vor mir ist, bin ich der, der ihn überholen muss. Die Aikido-Übungen sind immer eine Meditation. Im ruhigen Sitzen heißt das, dass ich mich auf die innere Bewegung in mir konzentriere, bis sie sicher und stark genug ist, um nach außen fortgesetzt zu werden. In den Bewegungstechniken heißt Meditation, dass ich mich genügend auf die Entwicklung der Bewegung und auf alle Teile meines Körpers dabei konzentriere, um genau zu spüren, wo und wann z. B. mein sich vorschiebender Arm noch nicht selbstverständlich genug den Schwung des vorangehenden Beckens und Beines aufnehmen kann und die Zusammenarbeit der Glieder zur gemeinsamen Bewegung gestört wird. Für die Partnerübung wäre eigentlich Bedingung, dass diese Konzentration sich schon ohne fortwährenden Aufwand bewussten Willens selbstverständlich herstellte, damit ich meine Aufmerksamkeit auf die Situation mit dem Anderen und auf meine Bewegung wenden kann. Sonst entgeht mir die gemeinsame Bewegung mit dem Anderen; ich spüre nicht genug, zu welcher zusammenfassenden Figur sich unser beider Bewegungen vereinigen und wo meine Hemmungen oder die des Anderen noch im Wege sind. Zu welcher Selbstverständlichkeit und Bewusstheit solche Übungen führen können, vermag ich selbst nur aus dem zu ahnen, was ich heute von den Bewegungen der Meister zu sehen in der Lage bin. Aber ich spüre doch auch, dass am eigenen Üben sich einige Dinge klären und dahin führen können. Um genau genug zu wissen, wohin meine Anfänge gehen müssen, brauche ich 193 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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die Anschauung des Vorbildes. Auch brauche ich das Üben mit Anderen, die sicherer sind als ich, um mich besser mit mir selbst auszukennen. Dies sind Hilfen zur Konzentration. Wir wissen, dass wir alle diese Hilfen brauchen, und versuchen uns auf diese Gemeinsamkeit zu konzentrieren. Auch dies gehört zur »Meditation«, die immer eine geistige, aber sehr praktische Sache ist. Karlfried Graf Dürckheim, mein Lehrer seit etwa 1960, gebrauchte das Wort nur, wenn auch Gelegenheit war, seinem Sinn nachzugehen. Medium, die Mitte, Meditation, in die Mitte gehen. Im Aikido hat dies eine doppelte Bedeutung, weil es um meine Mitte geht und um eine gemeinsame mit dem Anderen zugleich. Einen sehr großen Unterschied macht das allerdings nicht – ohnehin sind unser aller Mitten auf eine Mitte, die der Erde in unserer Schwere und Aufrichtung, bezogen. Konzentration ist kein ganz glückliches Wort für dieses Zusammenspiel. Es wird zu leicht mit dem Bemühen um Kontrolle verwechselt, also im Sinne einer Aktion verstanden. Es geht hier aber mehr um Wahrnehmung. Allerdings auch um ein bewusstes Bemühen darum, bereit genug zu werden. Im Namen Aikido steht in der Mitte ki, ein Ausdruck für die diese Welt durchwirkenden Energien; vielleicht kann man auch sagen, für das Leben in Allem. ki wirkt auch in mir, aber mehr durch mich hindurch, ebenso wie in den Anderen und durch sie. ai, das gelingende Zusammenspiel, ereignet sich, indem wir die in uns verteilt, eigentlich scheinbar verteilt wirkenden Momente von ki sich wieder als eine Bewegung finden lassen können. Eine Kosmologie der Sinne en miniature. Es muss noch weiter von unseren Schwierigkeiten im heutigen Europa mit solchen Übungen gesprochen werden. Leben, Erfahrungen und Lernen sind zunehmend voneinander getrennt, so dass wir wirkliche Erfahrungen in »bloßen Übungen« nicht recht für möglich halten, sie sogar scheuen. Das ist auch so weit durchaus berechtigt, wie die Gefahr besteht, daß in unserem Alltag der Aufteilungen in Arbeit und Freizeit, Stress und Abschlaffen etwas so Eigenes wie Aikido zu isoliert für sich genommen wird. Gewohnter ist die Vorstellung, etwas als »Ausgleich« zu betreiben oder darin eine Zuflucht für sein »besseres Ich« zu suchen. In solchen Fällen würde auch die Vorstellung, eine Elite gegenüber den Uneingeweihten zu bilden, in der einen oder anderen Form nicht vermieden werden. Zum Üben gehört ein Bewusstsein davon, in welchem Verhältnis dieser eigene Weg zu den äußeren Bedingungen unserer Existenz steht. 194 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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In diesem Sinne werden die Übungen nun gerade ein Werkzeug kritischen Erkennens, das aber im Gegensatz zur rein verstandesmäßigen Kritik gleichzeitig aufbaut und stärkt. Es führt einen Weg des Erkennens durch neue Vergleichsmöglichkeiten, so dass auch eine Analyse der zu überwindenden Verhältnisse möglich wird, aber nur das Nebenprodukt beginnender wirklicher Überwindung ist. Das Kriterium dabei ist immer sachlich und untrüglich, ob ich nämlich besser in die Bewegungsgestalten hineinfinde und entsprechend weniger an meinen Verkrampfungen festhalte. Anders als im Sport und allen Formen der Leistung, die mich auf messbare Ergebnisse festlegen, kommt es dabei nicht eigentlich auf Mut oder Überwindung an. Keine abstrakte moralische Leistung wird verlangt, um aufzusteigen. Alle Übungen sollen so gemacht werden wie das Rollen: Man beginnt, sie vorwärts oder rückwärts zu machen, je nachdem, in welcher Richtung man sich sicherer fühlt. Anfangs macht man noch gar keine richtige Rolle, sondern kniet sich auf die Matte und senkt das Körpergewicht ganz langsam vorgehend immer weiter auf den vorgerundeten Arm, der am Fuß aufgesetzt ist. So nimmt man die Gestalt einer Kugel an, legt den Kopf zur Seite und probiert selber aus, wie stark man das vornüber ziehende Körpergewicht durch Muskelspannungen ausgleichen muß und wie viel von dem Schwung des Vorfallens man braucht, um bis in eine Sitzhaltung zu rollen und gut in eine neue geordnete Haltung am Ende der Bewegung zu gelangen. Statt Mut für das Ziel braucht man praktisch Feingefühl für jede einzelne Zwischenphase und die genaue Vorstellung vom Ganzen der Bewegung. In jedem Augenblick soll man sich sicher fühlen und daraufhin weitergehen. Die wachsende Konzentration hilft, ein immer angemesseneres Verhältnis zu gewinnen zwischen einer Gelassenheit, mit der man sich in den Zwischensituationen gut wahrnehmen kann, und einem Wachbleiben für den fortzusetzenden Lauf einer ganzen Bewegung. Es ist eine mimetische Aufmerksamkeit, keine didaktische. Wir spüren in uns in verschiedenen Richtungen Abwehr. Wie sollen wir uns konzentrieren können, nachdem für uns Gehen eine Sache allein der Beine, Aufmerksamkeit allein des Kopfes, Schlagen allein des Armes, Schreiben allein der Hand geworden ist und unser gesamter Alltag nach Uhr und Taktvorgaben und Schulstunden und Fahrplänen usw. zerstückelt ist? Eigentlich müsste aber das Bedürfnis danach, etwas in konzentrierter Einheit aller unserer Glieder und Vermögen zu tun, desto stärker sein, je mehr uns das übrige Leben von uns selbst 195 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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und von den Anderen und den Situationen abtrennt. Warum also Abwehr? Bei jedem von uns ist sie etwas anders begründet und drückt sich etwas anders aus. Trotzdem lassen sich vielleicht zwei Hauptrichtungen benennen. Zum einen fürchten wir uns vor zu viel Wachheit für ganze Gestalten und selbstgefundene Körperlichkeit, weil wir ahnen, dass wir die falschen Anforderungen von außen, die doch weitergehen werden, als um so unerträglicher werden erfahren müssen. In dem Bewusstsein, in dem man übt, sollte immer die Frage gegenwärtig sein, ob wir mit den entgegengesetzten Erfahrungen im Vollzug der Übungen auch brauchbare Werkzeuge der Selbstwehr gegen wenigstens einen Teil der falschen Forderungen gewinnen, denen wir am Arbeitsplatz oder im Transportsystem oder mit den Konsumverführungen usw. ausgesetzt werden. Denn dazu brauchen wir sie. Wir brauchen sie als selbsterfahrene Maßstäbe für Belastbarkeit, sinnvollen Rhythmus, produktive Situationen, und um sie mit sicherem Gespür im Augenblick selbst abwägen zu können gegen verzerrende Lasten, überhetzendes Tempo, unvereinbare Spannungen. Zugleich brauchen wir auch eigene Stärke, um Unzumutbarem widerstehen zu können, brauchen gewisse Erfahrungen von einer Einheit unserer selbst und mit Anderen, um gegenüber den Forderungen an uns genau unterscheiden zu können zwischen dem, was noch mit einer Ausbildung zu vereinbaren ist, und dem, wo Ausplünderung beginnt, um der Ausplünderung durch heimlich geschickte oder offen ausgedrückte Verweigerung begegnen zu können. Neben der berechtigten Furcht vor den Spannungen zwischen Alltag und Gegenerfahrungen im Üben spielt bei unserer Abwehr eine schwer zu fassende Angst eine Rolle. Der abendländische Teil der Menschheit hat sich zur Höhe unserer industriellen Kultur eben nicht zusammen mit einer Entfaltung von körperlichen Tätigkeiten entwickelt. Unsere Selbstsicherheit ist zu stark an die Techniken einer abstrakten Überlegenheit gebunden. Sicherheit wird so weitgehend von Kontrolle aus der Distanz erwartet. Deshalb können wir uns kaum vorstellen, dass solche Übungen nicht einen Verzicht auf geistigen Anspruch und Identität der Persönlichkeit bedeuten. Wir haben Angst, unkontrollierbar ins Tierreich zurückzusinken, wenn wir uns ausdrücklich körperlichen Erfahrungen anvertrauen sollen. Gerade diese Angst schädigt uns aber derart, dass wir ihr entgegenarbeiten müssen, und zwar inzwischen durchaus systematisch. Anstandsregeln, z. B. dass 196 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ein Erwachsener sich nicht auf dem Fußboden aufhält, oder Schönheitsregeln, z. B. dass eine Frau ohne Schminke wie nackt im Gesicht sei, haben uns von unserer Körperlichkeit so weit entfernt, dass wir Angst haben, auf sie angewiesen sein zu können. Andererseits schützen uns die Regeln davor, im Alltag in solche Verlegenheit zu geraten. Alle solche Formen gehen selbstverständlich auf die grundsätzliche Trennung zurück, durch die Handarbeit nicht mehr an der geistigen beteiligt ist, so dass wir unsere Körper als »bloße Arbeitskraft« oder als beweglichen Untersatz für den Kopf betrachten müssen. Ein Gymnasialschüler hat einmal ein Bild gezeichnet, auf dem die Köpfe der Kinder auf Stangen über den Schulbänken befestigt sind. Von dieser Seite her entstehen allerdings wirkliche Gefahren für die Übenden, wenn sie mit den gewohnten Trennungsvorstellungen in die Übungen zur Vereinigung von Geist und Körper hineingehen. Konzentration wird dann aufgefasst wie ein Kult der Versenkung. Aufmerksamkeit auf die inneren Bewegungen wird mit religiöser Demut verwechselt, die auf die Erleuchtung von oben statt auf die eigene Erfahrung wartet. Damit wird aber nur die falsche Vorstellung in die ganz unideologischen Übungen hineingetragen, als ob man leiden müsste, bis man für eine milde Gabe würdig sei. Manche neigen zu feierlichem Herumhüpfen, andere zu asketischer Härte. Etwas davon müssen wir alle erst nach und nach wegarbeiten. Aber es geht ohnehin immer um Arbeit, die in jedem Schritt eine ernsthafte Tätigkeit ist und mit jedem Fortschritt neue Aufgaben entdeckt. Gegebenermaßen sind die Angstformen, die auf die Entfernung von der eigenen Körperlichkeit zurückzuführen sind, desto stärker, je einseitig intellektueller die Menschen arbeiten und leben. Deshalb stehen die Übungen eigentlich den körperlich Arbeitenden viel näher. Gerade ihnen erscheinen sie aber in negativem Sinne exotisch, weil Ausbildung des Individuums ohne direkte berufliche Vorteile desto mehr als lächerlicher Luxus erscheint, je stärker die Menschen Arbeit als bloße Verausgabung von Arbeitskraft kennengelernt haben und je weniger ein gehobenes Einkommen interessante Nebenbeschäftigungen wie das Klavierspiel oder die Ballettstunde der höheren Tochter ermöglicht. Die höheren Töchter jeden Alters und Geschlechts erwerben in solchen Nebenbeschäftigungen vermutlich jede Menge falsche Erwartungen und formalisierte Kriterien des Beurteilens. Die Richtung der Vorurteile gegen überflüssige Stilisierungen wird bei den von solchen Pflichtübungen Ausgeschlossenen aber nicht so anders sein. Das Miss197 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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trauen von Arbeitern oder von Bauern, die selber in ihrer täglichen Arbeit noch ansatzweise auch lebendige körperliche Erfahrungen machen, gegenüber künstlichen Übungssituationen ist sicher ein wichtiger Grund dafür, dass sie, wenn sie dennoch z. B. an Aikidostunden teilnehmen, oft sehr bald gut zurechtkommen. Die erforderte kritische Fähigkeit, Bedrohungen durch gegenwärtige lebenszerstörende Arbeitsorganisationsformen zu erkennen und ihnen zu begegnen, zeigt an sich deutlich genug den alltäglich praktischen Sinn solcher Übungen, um von dem Misstrauen einen gewissen Abstand gewinnen zu können. Ein entsprechender Bezug der im Üben zu gewinnenden Erfahrungen auf die übrige Wirklichkeit wird es uns allen ermöglichen, ein Werkzeug aus den Zeiten und Verhältnissen bäuerlicher und handwerklicher Produktion in die veränderte Gegenwart zu übertragen. Wir können und wollen den alten Weg nicht rückwärts gehen, bis wir dem Fortschritt wenigstens ein bisschen entkommen sind. Wir können nicht bereit sein, insgesamt wie in den frühen Zeiten wieder so abhängig von der Natur zu sein wie die Bauern vom Regen und die Tischler vom Holz. Aber eine erweiterte Unabhängigkeit kann auch nicht diese Abhängigkeiten leugnen. Wir können auf einem Wege, der praktisches Wissen von den Lebensformen unseres Lebens entwickelt, die bedrohten Formen der Verbindung in uns stärken, bis wir auch zu neuen Figuren der Ökonomie kommen, die unsere Lebensbedürfnisse vielseitig zu entfalten erlauben. Einer Ökonomie des Lebens. Zurück zum Aikido selber. Nachdem der Lehrer zusammen mit einem Schüler eine Übung vorgemacht hat, wird sie von allen jeweils zu zweit weitergeübt. Nach einer Reihe von Wiederholungen wird dieses Üben vom Lehrer unterbrochen, damit man den Partner wechselt. Dabei muss man sich auf die verschiedensten Partner einstellen und auch einen guten Wechsel finden zwischen Situationen, in denen man als der Sicherere einem noch Ungeübteren gegenübertritt, und Möglichkeiten, an den größeren Sicherheiten eines Anderen selber klarer zu werden. Während meiner ersten Wochen kam es mir einmal vor, dass ein anderer Anfänger, der jedoch viel weiter war als ich, eine Unfähigkeit zur Auffassung und Ausführung einer bestimmten Bewegung bei mir feststellte und bei jedem Partnerwechsel sich wieder mir zuwandte. Das erste Mal nahm ich seine Hilfe etwas verlegen an und bemühte mich, durch besondere Konzentration seine Unterstützung für mich zu erwidern. Beim zweiten Wechsel aber brachte mich seine 198 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Ausdauer in Verwirrung. Obwohl ich fühlte, damit falsch zu reagieren, gab ich meiner anerzogenen Höflichkeit nach und sagte: »Diesmal musst du dir jemanden suchen, von dem du lernen kannst.« Sehr freundlich sagte er nun: »Das bist du.« Ich hatte das eigentlich genauso gespürt; aber vielleicht aus Sorge, mich ihm zu verpflichten, hatte ich loskommen wollen. Im Grunde hatte ich schon geahnt, dass er einfach das Richtige tat, und sein Lächeln nahm seiner Antwort auch alles Belehrende. Er konnte selber an mir seine Sicherheit erproben. Zu sehen, dass man von der eigenen Klarheit abgeben kann, ist eine der größten Stärkungen. Der jeweilige Partner ist auf seine Weise immer der richtige, der beste für mich. Diese Erkenntnis hat mir auch geholfen, mich gegen die Angeberei eines späteren Partners zu wehren, der mich ohne seine Sicherheit und ohne die notwendige Vorbereitung in eine gewagte Luftrolle schicken wollte. Der wollte das, um sich zu beweisen, dass er das schon konnte. Mit dem habe ich mich nicht aufs Glatteis begeben. Er war der richtige Partner, um zu lernen, dass man selber entscheiden muss, wann die Situation reif ist. Wenn ich in ähnlichen Fällen während des Schulsports bei einem Kastensprung oder am Barren mich verweigerte, hatte ich hinterher immer das schlechte Gewissen, mich nicht mutig vor einem so Mutigen gezeigt zu haben. Jetzt war ich sicher, im ersten Fall hinter meinen Fähigkeiten zurückgeblieben zu sein, im zweiten selbst als der technisch Schlechtere die Situation richtiger eingeschätzt zu haben. Aikido im ganzen wie jede einzelne Übung sind auf diesem Grundsatz aufgebaut, dass man sich für das Gemäße und das Mögliche entscheiden muss. Nach Funktionen und Zusammenhängen sind unser aller Körper zwar gleich, aber jeder hat etwas andere Proportionen, andere Erleichterungen von Natur her und andere Verkrampfungen aus seiner Lebensgeschichte. So muss selbst das Nachahmen der Vorbildbewegungen des Lehrers immer noch in die eigenen Möglichkeiten umgesetzt werden. Bei einem guten Lehrer werden die Schüler, die auf dem richtigen Wege sind, Atemübungen nicht genau nach dem Rhythmus des Lehrers ausführen, sondern sich ihren eigenen suchen. Jeder muss sich für die Übungen seine eigene Schnelligkeit ausprobieren, und zwar mit seinen Fortschritten, aber auch mit den Schwankungen seines Befindens von Tag zu Tag neu. Die Aufgabe ist immer, mit den Möglichkeiten des eigenen Körpers im gegenwärtigen Augenblick das Entsprechende zuwege zu bringen, wie man es in der vorgemachten Form wahrnehmen kann. 199 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Technische Fertigkeiten können insofern auch Gefahren sein und Rückschritte bedeuten, wenn man ihnen stolz verfällt. Auch große Meisterschaft in den Bewegungen kann nicht davor schützen, dass über ihrer Selbstverständlichkeit das Bewusstsein für die nächsten Aufgaben verlorengeht. Härte und Benutzung des eigenen Vorsprungs gegen die Anderen können auf jeder Stufe den Weg verfehlen lassen. Zu geringe Ansprüche an sich selbst und die Anderen kann jederzeit gewonnene Sicherheit in gefällige Erfolgsbestätigung auflösen. Mit den beiden Hauptschwierigkeiten gegenüber den Übungen hängt das Problem der richtigen Entspannung zusammen. Arbeit und Freizeit, Stress und Abschlaffen sind derart getrennte Formen, dass statt eines durchgehenden Rhythmus ein Wechsel von unvereinbaren Gegensätzen unseren Alltag bestimmt. Ruhe wird als Schlaffheit missverstanden, und die Überspanntheit von Nerven und Muskeln dauert an. Entsprechend stürzen wir uns entweder in die Übungen, als ob wir möglichst schnell ein Pensum erledigen müssten, das es in diesem Sinne gar nicht gibt, oder wir lösen die Muskeln, bis wir uns aufgelöst haben und uns selbst nicht mehr kennen. Entspannung ist etwas Anderes. Lösen von Spannungen soll immer mit einer intensiven Wachheit verbunden werden. Die Kraft, die nicht länger in die Verspannung hochgezogener Schultern oder in ängstliches Festhalten der Bauchdecke geht, wird frei. Wenn wir uns auf den Boden legen und ganz von ihm tragen lassen, können wir sie der Aufmerksamkeit zuwenden für die innere Bewegtheit der Körperbereiche, die wir eben noch durch krampfhafte Anspannung festgehalten haben und die nun wie ein aufgeschnürtes Bündel Schwämme sich lebendig zu dehnen beginnen. Die Wachheit des Beobachtens hilft der Bewegtheit, immer lebendiger und ruhiger zugleich zu werden. Sobald die Konzentration stark genug ist, können die inneren Bewegungen auch in bestimmte Richtungen gewandt werden, z. B. zur Durchblutung und Erwärmung der steifen kalten Füße. Diese Wachheit unterscheidet übrigens die »meditativen« Übungen von dem »autogenen« Entspannungstraining etwa nach J. H. Schultz. Die Ruhelage am Boden ist im Aikido eben nicht grundsätzlich etwas Anderes als eine Sitzhaltung, als eine Übung im Stehen oder eine ortsverändernde Bewegung. Wie im richtigen Stehen immer schon aus den inneren Bewegungsrichtungen eine latente Spannung zum Schritt überleitet, so ist auch der Sitz eine Grenzsituation zwischen Hinsetzen und Aufstehen, in der allerdings über lange Zeit aufmerksam aus200 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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geharrt werden kann. Entspannung ist überhaupt nur mit Hilfe einer besonderen Konzentration möglich, solange die Gewohnheiten der Menschen fortwirken, sich unausgesetzt einen bestimmten Ausdruck zu geben, eine Haltung anzunehmen, bewusst oder unbewusst Bedrohungen und Anforderungen auch dann noch mit angespannten Muskeln abzuwehren, wenn sie gar nicht aktuell auf einen auftreffen. Von solchen lebensgeschichtlich und sozial bedingten Spannungen freizukommen, ist ein Stück Arbeit an uns selbst: Sowohl Emanzipation von unbewusst aufgenommenen oder mit hilflosem Bewusstsein erlittenen Verformungen durch den gesellschaftlich organisierten Alltag wie Aneignung der Naturkräfte, die im und am menschlichen Körper wirken. Die wichtigste von ihnen für die Entspannung ist die Anziehungskraft der Erde. Wir sind derart gewohnt, die Zähne aufeinanderzubeißen, alles runterzuschlucken, die Backen zusammenzukneifen, für alles Mögliche geradezustehen und unser Bündel zu tragen, dass wir verlernt haben, unser eigenes Gewicht einfach von der Erde, auf der wir stehen oder sitzen, tragen zu lassen. Militärische Haltung und feinere Gangart bringen uns bei, uns wenn nicht am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen, so wenigstens an den eigenen Schultern aufrechtzuhalten. So ist Entspannung eine Übung, derart an sich unsinnige Anstrengungen einfach zu unterlassen. Im eigenen Schwersein zu leben. Die Aufmerksamkeit muss dabei eine ziemlich aktive Form annehmen. Unser Körper, aufrecht und mit nur einer kleinen Grundfläche für das Gleichgewicht, muss schon in die richtige Haltung gebracht werden, um seine Last einfach aufruhen zu lassen. So brauchen wir einen Teil der aus den gelösten Verkrampfungen frei werdenden Kraft, um bestimmte Spannungen besonders von Becken und unterem Rückgrat aufzubauen, durch die dann die obere Wirbelsäule und der an ihr sich haltende Oberkörper von allein ihren Halt finden. Entspannung heißt nicht Auflösen aller Spannungen, sondern Ablösen der uns einengenden und schmerzenden Verspannungen durch neue Festigkeiten, die von unten her, von den auf dem Boden aufruhenden Füßen oder dem auf ihm ruhenden Gesäß her uns leicht tragen können und dabei Bewegungsfreiheit gewährleisten. Die Übungen dienen eben auch einem jeden, mit Hilfe der lang erprobten Bewegungen herauszufinden, welche Spannungen Festigkeit und Freiheit entwickeln und welche anderen Verkrampfung und Blockaden bedeuten. 201 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Wenn solche Ausgewogenheit zur Kunst entwickelt wird, kann man im Stehen seinen Arm ausstrecken und einen oder sogar mehrere Menschen sich daran hängen lassen, ohne dass er sich beugt. Dann kann man die ungeheuren Zugkräfte, die einwirken, durch die gelösten Glieder »hindurchgehen lassen«, wie die Meister sagen, und zugleich die Richtung des Armes mit anderen Spannungen unverrückbar halten. Wie das möglich ist, bleibt rätselhaft, ebenso wie alte Bäume, die schwerste Äste waagerecht in den Raum gestreckt halten. Was über den Mut gesagt wurde, ist doch nicht ganz richtig. In jeder Phase des Lernens braucht man eben auch so viel Mut, dass man sich angesichts von Schwierigkeiten im Üben dafür entscheidet, seine Kräfte auf der Seite der stark machenden und befreienden Spannungen zu betätigen, statt vorherrschenden Verspannungen nachzugeben. Scheinbare Bequemlichkeit und Selbstunterschätzung schwächen uns allzu leicht. Kräfte, die in krampfhafter Abwehr, an die wir uns gewöhnt haben, gebunden waren, werden frei, fließen uns zu und helfen bei der Aufgabe. Krampfhaft heißt, sich dem Begegnenden zu verschließen. Die Folge dieses Verschließens ist, dass die Kräfte antagonistisch in uns weiter wirken, während ihnen der Bezug nach außen verwehrt wird. Sie werden eher mobilisiert als Reaktion auf Äußeres, vor dem wir Angst haben und das wir abwehren; das zu sehen und dem zu begegnen wir uns wehren. So entsteht nicht eine gleichgewichtige innere Bewegung, sondern die Kräfte behalten auch in unserem Inneren wirkend die Ausrichtung auf einen Gegner. Nur, der bleibt draußen und ungeschoren; stattdessen wirken sie in uns gegnerisch, zerstörend. Die Muskulatur um den Magen herum zieht sich spastisch, eben krampfartig zusammen und nimmt ihm die notwendige Bewegungsfreiheit, so dass die Wände sich entzünden und sich Geschwüre bilden. Die Psychologie weiß längst, wie intensiv solche körperlichen Vorgänge fehlgeleitete Regungen und Kräfte ausdrücken und zum Ursprung haben. Die neue Somatik und Psychosomatik wenden sich immer bewusster diesen Zusammenhängen und ihren Gründen in fehlleitenden Alltagssituationen unserer Gesellschaft zu. Die Krebsforschung etwa von Frederic Vester fragte sogar: Welche Lebensweisen lassen es in anderen, in sofern gesunderen Gesellschaften und bei unseren Gesunden nicht zur Bildung jener Überaktivität innerhalb sich abschnürender Körperpartien kommen, wie sie in den Geschwulsten zu analysieren sind? Selbstverständlich ist nicht gemeint, dass es so einfach ein Mittel 202 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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zum Zweck gibt. Wir brauchen Wege zum Leben und Denken in Verbindungen und Wechselwirkungen, aus denen sich in allen Bereichen Veränderungen folgern lassen. Viele haben Vorstellungen von dem Meister-Schüler-Verhältnis und der Autorität des Lehrers im Aikido und vergleichbaren Formen, die den dargestellten Vorgängen entschieden entgegegenstehen müssten. Selbst wenn man als Nicht-Beteiligter oder sogar bei ersten Versuchen auf der einen Seite der großen Matte die Schüler auf ihren Knien sitzen sieht und ihnen gegenüber auf der oberen Seite den Meister, vor dem sie sich verneigen, werden alle Kritik und Vorbehalte gegenüber Autoritäten und persönlicher Verehrung laut. So einfach ist das aber keineswegs. Hier geht es nicht darum, die ursprünglichen Beziehungen zwischen Meister und Schüler im asiatischen Lebenszusammenhang mit ihren für uns, wenigstens auf Anhieb, manchmal vielleicht empörenden Härten der Lehrer und einer scheinbaren Hörigkeit der Schüler zu verstehen. Für uns ist entscheidend, welche Bedingungen zu dem Weg selbst gehören und wie wir uns zu ihnen verhalten wollen. Der Meister Noro sagt: Früher durfte nur der Lehrer fragen; aber es ist gut, wenn heute auch die Schüler fragen. Ohnehin wird dann der Lehrer entscheiden, ob die Antwort eine praktische Übungssituation, ein Wort oder ein Schweigen ist. Seitdem auch Frauen genauso wie Männer üben und Lehrerinnen und Meisterinnen werden, ist sowieso ein Stück des patriarchalischen Charakters der Meisterautorität verwandelt und einer für uns noch deutlicheren reinen Sachautorität gewichen. Auf einem Weg der Verbindungen kann eine Autorität nicht Autorität in dem institutionellen europäischen Sinne sein, der immer voraussetzt, dass es zwischen einem Oben und einem Unten eine grundsätzliche Trennung gibt. Im Aikido ist der ernsthafte Schüler gleichermaßen, im Verhältnis nur zu seinen jeweiligen Möglichkeiten, auf dem Wege wie der Lehrer. Das wird durch die Lehren und Geschichten der Meister ausgedrückt und bildet offensichtlich den Grund, auf dem die Übungen immer und immer wiederholt werden, ohne sich je zu »wiederholen«. Es gibt kein Ritual, das eigens den »demokratischen« Umstand betonen würde, dass auch der Lehrer selber ständig lernt. Eine solche Betonung, wie sie in den 1970er Jahren einfach den kritisierten Hierarchien entgegengesetzt wurde, würde nämlich in gewisser Weise die Situation verfälschen. Der Lehrer, der lernt, während er lehrt, ist sicherlich zu Recht 203 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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unser Vorbild, weil wir nur im Lernen offen genug sind. Eine solche Formel, platt verstanden, führt aber zu einem gefährlichen Missverständnis, dem wohl alle Gutwilligen damals eine Zeitlang verfallen sind. Die Formel verdeckt für unsere geschichtlich unerfahrene und systematisch auf technokratische Tricks ausgerichtete Vorstellung einen wesentlichen Unterschied. Was in einer bestimmten Vermittlungssituation die Schüler lernen und was der Lehrer lernt, sind durchaus verschiedene Schichten derselben Sache. Jedenfalls sollten sie bewusst verschieden sein, weil nur ein unvorbereiteter, also ein schlechter Lehrer dasselbe lernen könnte wie die Schüler, denen etwas Neues gebracht werden soll. Was der Lehrer bringt, kennt er länger, besser als die Schüler. Selbst wenn es nur eine Frage ohne Antwort ist, so hat er schon bewusster über sie nachgedacht. Dies muss er auch vor den Schülern gelten lassen, damit sie erst einmal einen klaren Gegenstand haben, mit dem sie sich auseinandersetzen können. Das jedenfalls kann man von ihm verlangen. Der Lehrer lernt dabei, die Begegnungen der Schüler mit dem Gegenstand wahrzunehmen, noch klarer zu sein, sich daraufhin neu selber zu prüfen. Aber dieses Lernen ist seine Sache. Nur in den seltensten Fällen würde er, wenn er sein eigenes Lernen auch noch zum Gegenstand der Vermittlungssituation machen würde, die Schüler nicht bei ihrer Auseinandersetzung auf der ersten Ebene stören. Ebenso geht es mit seinem Lernen an den Beobachtungen des Vermittlungsvorganges, die man eben nicht einfach mitteilen kann. Trotzdem kann und muss der Lehrer diese gegenwärtigen Vorgänge in ihm nicht als Privatsache von der Unterrichtssituation ausschließen. Sie werden, wenn man sich nicht starr macht, selbstverständlich einfließen, aber nicht unmittelbar zur Sprache kommen. Durch diese Vorgänge, die von der Situation in ihm ausgelöst und bestimmt werden, ist er intensiv an ihr beteiligt, ist wach für ihre Elemente und Veränderungen, kann trotz seines Abstands zum Lernen der Schüler ganz engagiert sein. In dieser notwendigen Spannung zwischen Abstand und Engagement werden auch die Beiträge der Schüler, die etwas für ihn Neues aus deren Leben und Sicht darstellen, einen bestimmten Sinn bekommen. Im gegenwärtigen Zusammenhang Unverdauliches wird ohne Brüskierung des Schülers ausscheiden; Veränderungen der Denkrichtung werden so weit mitvollzogen, wie sie noch greifbar auf die Ausgangssituation bezogen bleiben, und werden darüber hinaus für geeignetere Zusammenhänge aufgeschoben werden. 204 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Was der Lehrer uns jetzt ist, das ist ein überbrückender Ersatz für das, was unser eigenes Bewusstsein uns einmal sein soll. Würde der Lehrer uns darin nicht weiterhin vorangehen durch seine eigenen Fortschritte, so würden uns unsere Fortschritte nach und nach bewusst machen, dass etwas Eigenes in uns ihn überflüssig macht. Das ist ein stärkeres Ich des Schülers als dasjenige, das – nach einem Examen mit der und der Benotung seitens der Lehrer oder der unbekannten Kommission – durch einen Hoheitsakt das Recht verliehen bekommt, jetzt selber die Autoritätsrolle des Lehrers zu übernehmen. Außerdem ist immer deutlich, dass zwar die Figur, wie der Lehrer sie jetzt eben macht und vorgibt, die richtige ist, dass sie aber nur jetzt solche Geltung beansprucht. In dieser Lernsituation ist seine Form als die genaueste und bewussteste unter uns die richtige. Anderes ist augenblicklich nicht greifbar. Sobald wir weiterkommen können, wird die gegenwärtige Form als Zwischenphase, als Lernschritt eingeordnet werden können. Auch ein »Irrweg« wird dann erkannt und damit zu einem guten Lernschritt im Nachhinein gemacht werden können. An ihm werden wir lernen, wohin wir uns zu verirren geneigt sind, und der Neigung entgegenarbeiten. Um diese Ausdauer und jene übergreifende, weiterführende Spannung in uns zu erzeugen, brauchen wir Ermutigung. Zum Teil kommt sie aus den ansetzenden eigenen Erfahrungen im Üben. Aber diese sind doch zu vage und die aufgedeckten Hemmungen zu entmutigend. Was uns über Verwirrung und Resignation trägt, ist unsere Beziehung zum Lehrer und seine Zuwendung zu uns. Allerdings nur, wenn wir eine Beziehung voller Achtung für ihn und eine Zuwendung im Abstand unausgesprochener Gemeinsamkeiten annehmen können. Wesentlich dafür ist, wie für alle Zusammenhänge der Übungen, die konkrete materiale Auseinandersetzung der Übungen selbst mit Fähigkeiten und Schwierigkeiten der Körper im Verhältnis zu Angeboten und Gefahren der Naturwirkungen auf uns. Damit diese immer zusammenwirkenden Momente genau unterschieden werden können, müssen die Bewegungsfiguren der Übungen stark ritualisiert sein. Ritualisieren heißt in diesem positiven Sinne, dass aufgrund von intensiven und lange und bewusst erarbeiteten Erfahrungen bestimmte Formen festgehalten werden. Das ist die Voraussetzung für die Möglichkeit von Wiederholungen, diese sind die Voraussetzung für Vergleiche. Starr und damit neuen eigenen Entwicklungen hinderlich wird Ritualisierung dann, wenn die festgehalte205 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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nen Formen als solche Ziel und Sinn sein sollen. Auf Wegen wie dem Aikido sind sie aber Werkzeuge, mit denen immer neu umgegangen werden muss. Für Übungen der Einzelnen ist die festgelegte Form wichtig, damit jeder selbst anhand genau derselben Bewegungsfolge neu entstehender Fähigkeiten zu Drehungen, Dehnungen oder selbstverständlicherem Gleichgewicht gewahr werden kann. Ebenso erlaubt nur die Wiederholung herauszufinden, welche Teile des Körpers sich in welchem Augenblick noch dagegen sperren, den Fluss der Bewegungen in die Richtung einer gemeinten Figur freizugeben. Für Partnerübungen stellt darüber hinaus die ritualisierte Form von Bewegung und Gegenbewegung bzw. Angriff und aufnehmender Weiterführung durch den Anderen ein Werkzeug genauer Beziehung des einen auf den anderen dar. Entlang der notwendig aus einer bestimmten Anfangshaltung folgenden Bewegungsreihe kann ich klar genug für den Anderen sein, er für mich, damit wir »etwas zusammen machen« können. Selbstverständlich ist dafür entscheidend, dass die Formen nicht aus irgendeiner »Konvention« festgelegt sind, wie die modernen Sprach- und Strukturforscher das oft für die Verbindung von Wortlaut und Wortsinn oder für bestimmte gesellschaftliche Organisationsprinzipien usw. behaupten. Die Ritualisierungen sind in keiner Weise zufällig. Es ist auch nicht so, als hätten sich irgendwann ein paar allmächtige Meister zusammengesetzt, sich auf einen Kanon von Bewegungsformen geeinigt, die dem einen oder anderen irgendwie eingefallen wären, und die Kinder und Enkel zum Nachahmen verurteilt. Sie haben auch nicht einfach typische Bewegungsabläufe ihrer Zeit, wie sie z. B. durch bestimmte Handwerke oder andere Arbeitsverrichtungen geschichtlich vorgegeben waren, stilisiert und zu für immer gültigen Übungsformen erklärt. Die vielen Formen, die heute unter bestimmten Bezeichnungen geübt und zu fast unbegrenzt vielen Kombinationen in bestimmten Übungssituationen verbunden werden, haben keinen willkürlichen Ursprung. Sie sind entwickelt worden aus den historischen Erfahrungen ihrer Entstehungszeit. Haltungen und Bewegungen, die wie die Yogaübungen bestimmte Funktionen des Körpers und den ganzen Menschen beleben und heilen, wurden verbunden mit den Selbstverteidigungskünsten der Krieger. Vielen Figuren im Aikido ist ihr Ursprung aus dem bewegten Führen eines Schwertes noch spürbar eigen, obwohl nicht mehr das Schlagen, sondern das Zielen und Ausweichen, das feste 206 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Stehen und die Wendigkeit dabei wichtig sind. Der ganze Körper ist, wie im Führen eines Schlages, auf eine Richtung bezogen. In dem Weg des Tai chi, auf dem das Aikido ebenfalls gründet, heißt eine Übung »mit beiden Händen den Himmel stützen«. Sie kommt zwar im Aikido nicht selbst unmittelbar wieder vor, aber von dem Geiste dieser Übung sind die anderen durchdrungen: Jeder im Übungsraum trägt mit seinem Gleichgewicht und seiner Konzentration zum Vorankommen aller bei. Den Figuren ist also durchaus die Lebensweise der Entstehungsgesellschaften eigen; heute gibt es aus bestimmten Gründen keinen Schwertkampf und kein Schattenboxen mehr, wo im Alltag Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Warum übernimmt man dann aus ihnen entwickelte Wege, zumal es solche Kriegskünste in Europa nicht gegeben hat, dafür aber andere wie das Fechten? In der industrialisierten Welt nehmen die körperlichen Formen der Auseinandersetzung mit Gegnern, aber auch mit sich selbst und mit der Natur überhaupt keine wirkliche Bedeutung mehr ein, die mit der Intensität und schließlich auch dem Ernst zu vergleichen wäre, der aus dem Handeln auf Tod und Leben in jenen Zeiten in die Konzentration einfloss. Deswegen wird heute ein Meister im Aikido oder Tai chi weder die Auseinandersetzungsform vor Gericht noch die Gefährdung durch einen Angriff mit einer Pistole außer Kraft setzen. Er wird es auch nicht wollen. Er wird gewiss in der einen oder anderen Handgreiflichkeit, wenn sie ihm durch einen Zufall aufgedrängt wird, auch mal einen Angreifer außer Gefecht setzen können. Aber das in den Übungen Gelernte wird für die Lebenswirklichkeit im allgemeinen viel eher in einer veränderten geistigen Haltung und einer klareren und freieren Form seines Denkens im Handeln und Reagieren wirksam. Er wird sich z. B. viel weniger durch Provokationen bestimmte Reaktionen vorschreiben lassen und wird, weil man dies bei seinem Auftreten schon spürt, viel weniger provoziert werden, vielleicht sogar Partnern so viel eigene Sicherheit entgegenbringen, dass sie selber klarer und unaggressiver sein können. Gewiss, ob es soweit kommt, hängt nicht nur von der Meisterschaft in den Übungen ab, sondern auch davon, wie stark der Meister sein Können in die Wirklichkeit außerhalb der ritualisierten Übungen noch einmal zu übertragen vermag. Insofern besteht immer die Gefahr, dass der irgendwo abbrechende Lernprozess die Übungsformen doch zu einem Endziel und damit zu einem Ritual im schlechten Sinne macht. Warum nehmen wir nicht Traditionen unserer eigenen Geschich207 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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te? Im Bereich körperlicher Künste in Europa gilt dasselbe, was von unserer Entwicklung der trennenden Formen und der Abwertung, ja Ausbeutung körperlicher Arbeit allgemein festzustellen ist. Sicherlich geht der Docker, der in Neapel oder New York noch ein Messer zieht, dabei mit seinem Gleichgewicht zwischen kauernder Sicherheit und gespanntem Vorschnellen, mit seinem fließenden Wechsel zwischen Ausweichen und Angreifen grundsätzlich genauso um wie der japanische Schwertkämpfer. Aber weder sein Können noch der hochentwickelte Boxsport hat diese Momente so bewusst zu üben erlaubt, so weit zu entfalten, so tief mit der ganzen Persönlichkeit des Menschen zu verbinden und so stark in weitere Bereiche ausgebildeten Lebens zu übertragen gelehrt. Auf der anderen Seite sind die europäischen Kriegskünste des Fechtens, z. B. in den Formen des Duells, immer starrer in die Sackgasse der Konvention geraten, so dass sie keine Anknüpfungspunkte mehr bieten. Das ist wirklich schlechte Konvention. Meisterhaft hat Kubrick in seinem Film »Barry Lyndon« die Geschichte dargestellt, in der nach und nach die Duellanten nicht mehr fechten in Sprüngen über Tische und Bänke, Brücken und Mauern. Das formalisierte Duell kennt nur noch den Abtausch von Schlägen und Paraden im eingegrenzten Bezirk. Im Wechsel vom Degen zur Pistole sind dann vollends die Elemente fixiert; die Entfernung zwischen den Gegnern, deren Standort und die Reduktion der Bewegungen auf das minimale Handhaben der Feuerwaffe. Das Fechten der »schlagenden« Studentenverbindungen ist die Karikatur einer körperlichen Auseinandersetzung, die unsere Geschichte leider nur zu deutlich im Nachhinein bloßstellt. Sie drückt sich in Bewegungslosigkeit der Duellanten aus, die jeweils auf den Schuss oder Säbelhieb des Anderen mit steifem Körper warten mussten, »ohne zu kneifen oder mit der Wimper zu zucken«. Das steht im Gegensatz zu den außereuropäischen Traditionen, wie wir sie uns im Aikido oder auf anderen Wegen aneignen können. Die Übungen haben seit jeher den ganzen Menschen wie den ganzen Körper mit allen unseren Bewegungsmöglichkeiten gemeint. Nur im Zusammenspiel aller Teilsysteme des Körpers kann eine menschliche Bewegung bewusst so richtig werden, wie die Bewegung eines Tieres oder das Dastehen eines Baumes es sind. Jene ereignen sich unproblematisch; aber sie können auch nicht übertragbare Erfahrungen begründen. Die ritualisierten Bewegungen der Übungen sind auch deshalb nicht bloße Konvention, sondern objektives Werkzeug, weil sie eine erprobtermaßen intensivste und präziseste Form darstellen, mit 208 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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den Gelenken und Muskeln und Bändern unseres Körpers auf den Zug unseres Gewichtes, die Verteilung und Struktur unserer Gliedmassen im Raum und die Kräfte unseres Bewegungsapparates zu reagieren. Sie sind ebenso genau wie ein physikalisches Messinstrument, nur auf ganz andere Weise. Es wird nicht möglichst unbeteiligt ein Teilphänomen wie z. B. die Fallgeschwindigkeit einer Kugel von dem und dem Gewicht mit genormten Instrumenten gemessen. Ich erprobe, wieweit ich durch Dehnung z. B. meines Schultergelenkes unter dem Griff der Hände des Anderen ihm nachgeben kann und muss, bis er nur noch festhalten kann, indem er selber meiner Ausweichbewegung folgt und sein Gleichgewicht verliert. Ich erprobe in Fußstellung und Gewichtsverlagerung, wie in genau dem Augenblick sein Zugriff den Widerstand bildet, den ich brauche, um mich in die befreiende Rollbewegung abzudrücken, die nur die Fortsetzung dessen ist, was er vorher mit mir gemacht hat. Das Maß sind die Konstellation und meine Bewegungsfreiheit in ihr. Oder: man macht eine Drehbewegung rückwärts, indem man aus dem Becken einen Fuß rückwärts schiebt, und nicht etwa mit dem Arm oder Oberkörper oder auch dem Fuß vorangeht. Diese Regel formuliert nur eine Erfahrungstatsache. Unser Körper wird getragen von den über das Becken miteinander verbundenen Beinen. Wir stehen auf den Füßen. Wenn ein Fuß vom Becken her in eine veränderte Position geschoben wird, folgt nach dem Gesetz der Schwere der übrige Körper, der über das Becken mit den Beinen verbunden ist. Diese unwillkürliche Veränderung an unserem Körper können wir uns zunutze machen, ihr nicht nur folgen, sondern diesen Folgebewegungen ein wenig von unseren Kräften beigeben, um sie in eine Wirkung nach außen zu verlängern. Dazu benutzen wir immer bessere praktische und theoretische Kenntnis, die für alle Zusammenhänge im Leib gelten und entsprechend übertragen werden. Einen Arm einfach für sich auszustrecken, womöglich mit ihm auch noch einen Schlag führen oder etwas tragen zu wollen, wäre eben töricht und gefährlich. Was wir die Konzentration genannt haben, wird nach längerem Üben in vielen Momenten »die Bewegung aus der Mitte«. Aus ihr kommend und durch die schräge Rückenmuskulatur werden die Arme erst zu den Schultern, dann durch sie hindurch emporgetragen werden. Bei diesem Vorgang wird dann gleichzeitig und eben doch unwillkürlich eine Spannung ins linke Bein gehen und den gesamten Spannungsbogen, der den rechten Arm trägt, vom linken Fuß her abstützen, das heißt, im Wortsinne erden. 209 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Übrigens ist auch so langsam erlangte Vollkommenheit nicht etwa allumfassend. Wie immer vollkommen wir uns in der gewählten Übungswelt bewegen können, in einer anderen Tradition oder auch in manchen Alltagssituationen fangen die Aufgaben von vorn an. Die Ganzheit am Höhepunkt eines Weges ist alles andere als geschlossen. Als schönes Zeichen dafür bewahre ich einen alten Zinnteller auf, dessen Boden sich in der Form einer Mondsichel öffnet. Diese Ränder sind noch in kleinen Buchten und Klümpchen geschmolzen. Ein Zen-Meister, in Japan dem Zinn nie begegnet und unerfahren darin, an der weichen Schwere des Metalls seinen niedrigen Schmelzgrad zu erraten, hat auf dem Teller in einer einsamen Stunde sich ein Essen aufzuwärmen versucht – leider auf einer elektrischen Kochplatte. Die Übungen sind aufgebaut aus den Grundfragen menschlich körperlicher Existenz überhaupt: Auch unterschiedliche Gewichtungen in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften haben einen objektiven Grund und Maßstab jeweils gemeinsam. Der aufrechte Gang, der uns Menschen anatomisch grundsätzlich auszeichnet, stellt objektiv das Problem eines leicht gefährdeten Gleichgewichts dar, zumal wenn wir beachten, dass in uns auch als Erwachsenen immer die andere elementare Situation ein Bedürfnis und eine Möglichkeit bleibt: die eingerollte Lage des Embryos im Mutterschoß. Gerade wenn man heutzutage junge Leute sich in tiefen weichen Sofas wälzen oder im Stehen gegen Wände krümmen sieht, wird deutlich, wie viel Wachheit von Kräften und Bewusstsein dazu gehören, nicht dem Einrollen und den Geborgenheitserinnerungen zu verfallen. Dass dem immer mehr nachgegeben wird, hängt damit zusammen, dass in unserer Gesellschaft freies Stehen und Gehen eine immer nebensächlichere Funktion erhalten und dass stattdessen immer mehr Arbeits- und Freizeittätigkeiten im Sitzen ausgeübt werden. Dieses Sitzen, zum Teil auch das Stehen z. B. vor einer Schalttafel, ist die Folge davon, dass immer mehr Tätigkeiten auf die überwiegende oder ausschließliche Benutzung der Hände zum Greifen oder auch nur des Kopfes zum Begreifen eingeschränkt werden. Das Zugreifen ist so weitgehend vom Kontrollieren abgelöst. Die greifende Hand mit dem Daumen, der den anderen Fingern entgegengesetzt ist, stellt die andere anatomische Auszeichnung der Menschen gegenüber den anderen Lebewesen dar. In unserer industrialisierenden und körperfeindlichen Geschichte ist aber auf diese Fähigkeit und die Leistungen, die auf Übertragungen von ihr in den geistigen Bereich zurückgehen, ein unverhältnismäßiges, fast aus210 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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schließliches Gewicht gelegt worden: das Begreifen. Darüber wird vergessen und versäumt, dass die Hände nur greifen können, weil die Arme nicht mehr Vorderbeine sind und den Körper nicht mehr zu tragen brauchen. Das Greifen wie alle weiteren Entwicklungsstufen bis zum Begreifen des Verstandes in abstrakten Formen beruhen auf dem aufrechten Gang. Die Wege wie das Aikido üben uns darin, diesen Zusammenhang wahrzunehmen, wörtlich und im übertragenen Sinne. Übrigens auch im selbstverständlichen Zusammenspiel der greifenden mit der fühlenden Hand. So lernen wir erst wieder, unseren Halt aus einem sicheren Stand zu gewinnen und, wo wir uns im Raum fortbewegen, diese Sicherheit durch gleichmäßige und fließende Gewichtsverlagerung in den Gang, selbst in alle möglichen anderen Bewegungen und Haltungen weiterzuführen. Wir lernen, aus diesem Halt oder aus seiner Veränderung durch die Gewichtsverlagerungen unsere Bewegungen in Rumpf, Armen und Kopf wachsen und sich entwickeln zu lassen, statt wie in der Straßenbahn unser unsicher balancierendes Ganzes mit Hilfe der Hände an über uns angebrachten Stangen festzuhalten. Aikido ist ein sehr fein und umfassend durchgearbeiteter Übungsweg. Er wird sicherlich nicht für alle und für jedes Ziel solchen Lernens der geeignetste sein. Aus den Erfahrungen mit seinen sehr genau wirkenden Werkzeugen werden sogar ganz einfach zugängliche Übungen entwickelt werden, über die wir diese Grundzusammenhänge auch ohne die vielfältig ineinandergreifenden Techniken uns für einen veränderten Alltag erarbeiten können. Aber die Formen des Aikido erlauben uns, diese Zusammenhänge und die notwendigen Verbindungsrichtungen für unsere zerstückelte Existenz wiederzuerobern, indem wir in erprobten Übungen Schritt für Schritt uns eigene Sicherheiten ausprobieren. Dies ist ein Weg der Achtung auch für die körperliche Seite des Menschen und damit der Achtung vor dem ganzen Menschen. Damit hängt das Letzte zusammen, das uns an den Ritualen befremden kann. Diese Achtung wird in Verneigungen zum Ausdruck gebracht. Der Zuschauer neigt dazu, sie mehr gegenüber dem Lehrer und dem Bild des Begründers von Aikido im Übungsraum zu beachten. In Wirklichkeit verneigt der Lehrer sich auch gegenüber den Schülern; die Schüler verneigen sich einer gegenüber dem anderen – nicht vor ihm – zu Beginn und zum Abschluss jeder gemeinsamen Partnerübung. Im Sport bringt das Fairness zum Ausdruck; hier meint es, im Sinne der Konzentration aufeinander und auf die Figuren, noch mehr. Mein junger Partner, der 211 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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dreimal nacheinander sich mir widmete, hat es am besten ausgesprochen: »Der, von dem ich jetzt am besten lernen kann, das bist du.« Aber auch die andere Erfahrung gehört dazu. Was unsere Kräfte bewegt, meine wie deine, ist das Gleiche, das Gemeinsame, das wieder uns Verbindende – ki. Aikido ist erst vor wenigen Jahrzehnten als solches entwickelt worden, um in vielen Schulen geübt zu werden. Sein Urheber, der Meister Ueshiba, wollte, dass dieser Weg auch den Europäern angeboten würde, und entsandte Schüler in die größten Länder. Alle die Veränderungen gegenüber der Tradition, von denen nur die gleiche Öffnung für Frauen und Männer, der Wechsel des geistigen Zieles zum »Miteinander in Liebe« und das Recht des Schülers zu fragen erwähnt worden sind, haben eine Übertragung in eine neue Zeit und für eine zukünftige Gesellschaft von Grund aus vorbereitet. Dass dieser Schritt am Ende des Zweiten Weltkriegs geschah, halte ich für ein historisches Symbol: Dies war der Zeitpunkt des Unterganges der traditionellen Herrschaft in Japan im Zusammenbruch der faschistischen »Achsenmächte«. Die Werkzeuge der Überlieferungen sind grundsätzlich frei, damit wir sie in ganz andere Verbindungen einbringen können. Während der letzten Jahrzehnte hat Meister Noro die Bewegungen immer fließender, die Figuren immer weiter schwingend werden lassen. Er nennt sie inzwischen nicht mehr ai ki do, sondern kino michi. Mein anderer Lehrer und Freund, Gerd Walter, hat schon, als wir in Oldenburg eine Gruppe gegründet haben, gesagt, man müsste im Grunde ein Aikido selbst für Einbeinige entwickeln. Ein durchaus ernst gemeintes Scherzwort. Es geht nie um die Formen als solche. Das Bewegungsbewusstsein, das in bestimmten Figuren sich auf besondere Weise ausdrückt, gilt es zu üben. Wie dies am besten geschehen kann, ist selber im Wandel.

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V. SINNE

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EIN SINNENBEWUSSTSEIN FÜR UNSERE ZEIT

Alle Kulturen haben in den Schritten ihrer Geschichte zwischen den Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen eine gewisse Auswahl getroffen. Das macht ihre Stärke aus, aber auch ihre Schwächen. Die westliche Zivilisation, von Europa hervorgebracht, inzwischen in vielen Teilen der Welt weitergetrieben, hat eine Verengung der Vernunft auf die Potentiale vorgenommen, die den Verlängerungen menschlicher Handlungsfähigkeit dafür dienen können, die übrige Welt den eigenen materiellen Bedürfnissen entsprechend umzuformen. Dabei hat sie wesentliche Zugänge, die zu der Vernunft in einem vollen Sinne unverzichtbar gehören, vernachlässigt. Viele Menschen ahnen kaum noch unter den Folgewirkungen und Bedingungen technischer Funktionen und den entsprechenden Herrschaftsformen, woran sie ihren undeutlich empfundenen Mangel empfinden und welche Seiten menschlicher Lebenstätigkeit in ihnen verkümmern. Das ist ein Grund für sehr viel Leid und die unerfüllte, unbegriffene Sehnsucht vieler Menschen. Ihre Antwort ist eine ganz allgemeine Angst. Oft drückt sie sich aus als Angst vor den verschiedensten Verlusten; in Wahrheit ist es die Angst vor dem Leben selbst. Wir spüren, dass es sich uns zunehmend entzieht. Wir spüren das im Verborgenen. Wir kommen nicht einmal darauf, dass in Wirklichkeit wir uns dem Leben entziehen. Wir verstecken uns hinter Apparaten und Maschinen und flüchten uns in eine virtuelle Realität, die angeblich nur mehr Möglichkeiten für die Verwirklichung unserer eigentlichen Existenz bereitstellen sollten. Dies ist aber nur die lebensgeschichtliche Seite der Entwicklung, die das Projekt der Moderne genommen hat. Auf seine Öffnungen könnten wir nicht mehr verzichten. Die Bindungen und Regulationen, die wir historisch verlassen haben, würden uns heute als unerträgliche Einschnürungen erscheinen. Die alten Ordnungen haben Beziehungen und Beziehungsgefüge in der Mitte des Zusammenlebens gesehen, Be217 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Sinne

ziehungen zwischen den Menschen und zwischen uns Menschen und der übrigen Welt, der Mitwelt. Diese gingen oft einher mit der unreflektierten Unterwerfung unter historische Autoritäten und mit dem Hinnehmen naturgegebener Bedrohungen. Mit dem oft unübersehbaren Zwangscharakter dieser Ordnungen haben wir zugleich die Beziehungen überhaupt aufgegeben. So wollen wir uns nicht mehr in fremden Diensten verbrauchen. Aber wir haben auch keine Vorstellung mehr von der Freude, unsere eigene Wirkung zu erfahren, indem wir einem liebenswerten Menschen oder einer guten Sache dienen. Mit der großen Unabhängigkeit von vielen, nicht allen, Naturgewalten haben wir vergessen, dass die Erde uns trägt, die Luft uns belebt, das Wasser uns seine Fähigkeit zu fortwährendem Wandel mitteilt. Wir wissen nicht mehr, wie gut es tut, Dankbarkeit zu empfinden. Ihr gelingenden Ausdruck zu geben, ist für die meisten undenkbar geworden zugleich mit den abgeschafften oder äußerlich gewordenen Ritualen dafür. Dies ist von bestimmender Bedeutung für die Geschichte der Gattung. Die versäumten Seiten der praktischen Lebenstätigkeit und ihrer alltäglichen wie ihrer rituellen Gestaltung entziehen uns und ganz besonders unseren Kindern wesentliche Erfahrungen. Sie fehlen, um lebendige Vorstellungen von einem anderen, einem sich anders erfüllenden Leben, Zusammenleben entstehen zu lassen. Gleichzeitig sind wir in neue Abhängigkeiten geraten, von den technologischen Strukturen und den Herrschaftsformen der Verwaltung, die solche Technologie mit sich bringt. Henri Bergson hat mit großem kritischem Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass die abstrakten Begriffe unseres Denkens – erst recht die Grundtypen unseres Empfindens und Fühlens – abstrahiert sind auf der Grundlage von sinnenhaften Wahrnehmungen. Jede Kultur hat ihre am meisten prägenden Begriffe von ihrer eigenen Auswahl unter Wahrnehmungen mehr der einen als der anderen Sinne gebildet. Europa hat das Sehen, Afrika den Rhythmus der Bewegungen vorgezogen. Wir sollten also die Weltbegegnungen der Menschheit dazu nutzen, uns für die unterschiedlichen Stärken der Anderen zu interessieren, von und mit ihnen zu lernen. Faktisch sind wir dabei, mehr oder weniger alle die gleichen Versäumnisse zu praktizieren und die gleichen Mängel zu produzieren. Dem entgegenzuwirken ist eine wesentliche ästhetische Aufgabe. Ästhetische Praxis und Reflexion, nicht nur, aber ganz besonders in den Schulen, hat heute nicht länger zum Programm, die Wahrnehmung 218 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Ein Sinnenbewusstsein für unsere Zeit

und den Geschmack der Schülerinnen und Schüler auf irgend eine bestimmte Richtung institutionalisierter Kunst hin zu erziehen. Die Aufgabe ist vielmehr wesentlicher Beitrag dazu, mit den Menschen neue Gleichgewichte der anthropologischen Entwürfe von Menschsein mit der Welt zu ermöglichen. Kaum etwas in den westlich ausgerichteten Ländern erschrickt und beschämt mich so sehr wie die Beobachtung dessen, was wir in unseren Kindern verkümmern lassen und ersticken, dessen, was wir in ihre Seelen zu stopfen versuchen. Die traditionelle afrikanische Weisheit erkennt in den Kindern die keimhafte Anlage, mit allen Vorgängen und Wesen und Dingen dieser Welt vertraut zu werden. Afrikanische Freunde sagen heute, die Europäer betrachten ihre Kinder als leere Flaschen, in die Eltern und Erzieher die vorhandenen Kenntnisse abfüllen. Für die so geplanten Resultate haben wir im Deutschen noch den pejorativen Ausspruch »lernklug«, das heißt, die mögliche eigene Klugheit im Umgang mit der Welt ist durch Angelerntes, durch Ansammlungen von Informationen ersetzt. Die Fortschritte einer angeblich rationalen Didaktik seit den 60er Jahren zielen weitgehend darauf ab, diese Strategien durch mechanisch kontrollierbare Taktiken zu operationalisieren. Die Parallele zur Arbeit im Akkord und am Produktionsband ist offensichtlich. Ein Produktionsplan stellt vorgefertigte Teile zur Verfügung und organisiert, dass sie so schnell und abrufbar in der Intelligenz der Schüler zu gewünschten Mustern montiert werden. Wie viel Einsicht in die Einseitigkeit solcher Sozialisation jeweils dennoch eine Chance hat, zeigt sich daran, welche Bedeutung dem Ästhetischen, traditionell gesprochen, dem Kunstunterricht und den Leibesübungen im Lehrplan der Schulen eingeräumt wird. In Wahrheit geht es sogar, wie gerade eine Schülerin von mir in einer sehr bemerkenswerten Doktorarbeit gezeigt hat, um ästhetische Momente in den Situationen zwischen Lehrern und Schülern überhaupt. Die Lernschritte eigentlich aller Sachgebiete, z. B. auch der Mathematik, sind in einem ästhetisch-sozialen Miteinander zu entwickeln. Damit ist vor allem die Sensibilität dafür gemeint, wie Menschen aufnehmen, beantworten, zögern, vergleichen, verbinden und wie sie dies mit ihrem Erleben durchzutragen vermögen. Dann müssen aber auch die sinnenhaften Momente aller Ebenen der Intelligenz, des Verstehens, der Kritik und der Kreativität ins Spiel kommen können. Die Keime möglicher Vertrautheit mit der Welt, die sich in der frühesten Kindheit regen, 219 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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müssen geachtet und beachtet werden, damit sie sich mit dem abstrakten Wissen verbinden können. Lou Andreas-Salomé sagt, wir kommen auf die Welt mit der Fähigkeit und Bereitschaft zu einer »All-Liebe«. Diese diffuse Stimmung gilt es, durch kreatives Wissen bestimmter werden zu lassen, statt ihr schematisch aufteilendes Wissen entgegenzusetzen. Dem hat leider die, in anderer Hinsicht verdienstvolle, Entwicklungspsychologie etwa von Piaget entgegengewirkt. Sie hat den Grundirrtum der modernen Anthropologien weitergeführt und einen Fortschritt von den leiblich zu leistenden zu den intellektuellen Bewältigungen, z. B. von der tastenden Hand zum kontrollierenden Auge, absolut gesetzt. Der alte Hochmut der »höheren Vermögen« des Verstandes über die »niederen Vermögen« der Sinne wurde damit nicht nur zu einer gattungsgeschichtlichen Errungenschaft, sondern auch zu einer Forderung an jede Lebensgeschichte gemacht. Statt Kinder in der Beobachtung zu unterstützen, welche Blätter und welche Früchte zu welcher Baumart gehören, sollen sie im »logischen Baukasten« die Kongruenz von Dreiecken üben. Auch die sehr frühe Fähigkeit von Kindern, symbolisch zu reagieren, ein wenig später in aller Naivität Rituale zu erfinden, verlagert Piaget ins Intellektuelle. Die Weltdekade der Gehirnforschung hat inzwischen die tiefe Bedeutung von Symbolen ganz verdrängt. Semiotik lehrt uns stattdessen eine Zeichenlehre, in der Verkehrsschilder Symbole genannt werden. In den letzten Jahrzehnten haben die Künste ungeahnte Erweiterungen ihrer Mittel und Themen und Wirkungsformen erfahren, die uns oft mehr verwirren, als dass wir sie als Hilfen in neuer Orientierung erleben könnten. Aber genau dies, sinnenhaft Orientierungsvorschläge mit evidenten Mustern und Verbindungen zu schaffen, wird immer offensichtlicher Aufgabe der Künste in unseren Kulturen sein. Und in einigen Richtungen bereiten sie sich sehr wohl darauf vor. Dekonstruktion von Desorientierung gehört selbstverständlich dazu, besonders wenn Gefühle durch Gefühle aufgeklärt, Konstrukte durch sinnliche Wahrnehmung aufgelöst werden. Die Wahrnehmungen unserer Sinne auszubilden, ist bis in die Epoche der Industrialisierung der Güterproduktion die andere Seite handwerklicher Arbeit gewesen, die eben nur zurückgebunden war in den alltäglichen Nutzen der Gewerbe. Marx hat dies schon immer den »bornierten Kunstsinn des Handwerkers« genannt. Ich hebe solche praktischen Künste als »gestisches Wissen« hervor. Voll Anerkennung 220 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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für das Gespür der Sinne und ein Gestalten als Antwort auf die Qualitäten von Stoffen, Werkzeugen und Vorgängen. Kritisch dagegen, dass dies nicht anders Gestalt annehmen konnte als zugleich mit unmittelbarer Nützlichkeit. Aus dieser »Borniertheit«, Begrenzung, sind solche Vollzüge freigeworden, nachdem maschinelle Massenherstellung die menschliche Verbindung, wie Schiller sagt, von Hand, Herz und Verstand nicht mehr braucht. Exemplarisch durch eigene Werkgeschichten übernehmen nun Künstlerinnen und Künstler diese entscheidende Dimension dessen, was Karl Marx gesellschaftskritisch, Goethe individuell emphatisch Lebenstätigkeit genannt haben. Kunstrichtungen wie land art oder die Spurensicherung haben bereits einige Wegweiser aufgestellt. Den großen Bereich des sogenannten design zähle ich nicht dazu, weil zu weitgehend Formen für Gebrauchsgegenstände in mehr oder weniger originellen Variationen des Arsenals der Kunstgeschichte gesucht werden, denen die inneren Beziehungen zu den Entstehungsund Gebrauchsgeschichten fehlen. Hier sehe ich ein großes Feld für neue Ansätze. Umgekehrt haben Länder wie gerade Japan eine so exquisite Tradition kunstvollsten Umgangs in täglichen Lebensvollzügen, z. B. dem Einpacken von Gegenständen, dass sie längst von Künstlern aufgegriffen und frei entfaltet werden, nachdem uns die Postämter vorgefertigte Patentkartons verkaufen. In diesen Beispielen zeichnen sich bereits Züge einer noch weiteren, allgemeineren anthropologischen Aufgabe der Künste und erst recht der künstlerischen Pädagogik ab. Alles Leben, ja, alle Vorgänge in der Welt, erst recht das menschliche spielen sich ab ausgehend von dem grundlegenden Wechselspiel von Unterscheiden und Vergleichen. Daran sind zumindest zwei Dinge zu üben, die für das Überleben unserer Gattung und die gelingende Gestaltung unserer Lebensformen von größter Bedeutung sind. Genormte Waren und eine Lebensumwelt, die immer weniger Qualitäten von Materialien zu erfahren gibt und mit homogenen, nach Normen gemischten Farben unsere Augen zur Untätigkeit verurteilt, entziehen den Sinnen ihre alltäglichen Übungsfelder. Dafür werden wir an umso mehr Orten mit musikalischen Massenwaren beschallt. Dagegen das Unterscheidungsvermögen zu üben, bis wir wieder die Freude an den Differenzierungen erleben, scheint wesentlich den Künsten zuzufallen. Niemand hat eindrucksvoller solche Kunst zu verteidigen gesucht als Janichiro Tanizaki mit dem Spiel von Licht und Schatten. Ivan Illich hat das die Askese des Blicks genannt. 221 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Es geht dabei aber auch um eine grundlegende Denkform. Die abendländische Metaphysik, inzwischen die westliche Denkweise allgemein hat uns vergessen lassen, dass die Handlung des Unterscheidens in Wahrheit jedes Mal eine eigene Beziehung zwischen dem, der unterscheidet, und dem Phänomen begründet, dem wir da begegnen. Einen Unterschied zu machen, heißt eben nicht bloß, eine bekannte Definition auf einen unabhängigen Gegenstand zu projizieren. Wir beziehen uns, mit unserem bislang gewonnenen Unterscheidungsvermögen und mit einem Augenblick unserer Existenz darauf. Unsere Reflektion ist eben auch dem Vorgang verwandt, in dem eine Blüte auf den Aufgang der Sonne antwortet, indem sie sich öffnet, in feuchter werdender Luft intensiveren Duft verströmt und unter heftiger Hitze erschlafft. Mit anderen Worten, die Welt ist nicht, wie unsere Erkenntnissysteme sie zu erfassen empfehlen. Sie trifft uns immer auch neu und existenziell. Aus diesen Erfahrungen muss eine Behutsamkeit im Umgang mit unserer Mitwelt und mit uns selbst erwachsen. In der Freude an der Begegnung, wo abstrakte Ethik vergeblich moralisch für ein Bewusstsein notwendige Grenzen anmahnt. Die Künste der Moderne haben seit einem Jahrhundert das Bedürfnis unserer Zivilisationen aufgegriffen, wieder Beziehungen zum Elementaren zu gewinnen. In den Richtungen, die den Erfolg gehabt haben, die breite Aufmerksamkeit zu beherrschen, ist das Ergebnis entscheidend in einer Reduktion gesucht worden. Wo das Bauhaus elementare Formen durch Reduktion auf einfachste geometrische Module zur beliebigen Verfügung gestellt hat und Farben auf stereotypes Rot, Blau, Gelb stilisiert hat, da hat es zugleich seine breiteste und seine unheilvollste Wirkung erzielt. Die Moderne ist angetreten, um Vielfalt zu ermöglichen gegen die Zwänge und strengen Grenzen von autoritären Traditionen. Die Marktmechanismen haben aber zusammen mit einem zu einfach statistischen Verständnis von Demokratie an deren Stelle das Lösungswort »Standardisierung« gesetzt. Standardisierung ist ebenso in den westlich privatkapitalistischen wie in den sozialistisch staatskapitalistischen Gesellschaften im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zur obersten Devise geworden. Unsere Einstellungen zur Kultur haben sich davon keineswegs erholt. Vielmehr finden auch hier die Künste eine Aufgabe vor, die unsere neu entstehenden »Kulturwissenschaften« ihnen zu klären helfen sollten. Die Pädagogik wird auf das dringendste gebraucht, um den Künsten für ihre Erkundungen und Vorschläge Aufmerksamkeit und Auffassungsvermögen so zu be222 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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reiten, dass unsere Gesellschaften auch aus dem sinnenhaften Bewusstsein ihrer Bürgerinnen und Bürger demokratischere werden können. Dasselbe gilt für alle Zusammenhänge, in denen gegen die funktionelle Starre mechanischer Strukturen Menschen ihr Leben aus beweglichen Beziehungen entfalten könnten. Dazu haben sich Ansätze immer wieder in politischen und künstlerischen Bewegungen des Widerstands gezeigt, sind aber auch immer wieder in Unsichtbarkeit gesunken. Politischer Widerstand verteidigt Visionen von der Entfaltung des Lebens insgesamt. Dazu gehört ein ästhetischer Widerstand, den sich jede künstlerische, jede Lebenstätigkeit und jedes Werk wählen müssen, um aus den Erfahrungen mit Hindernis und Grenze Gestaltungsmöglichkeiten zu stärken und zu klären. Der Unterschied zwischen Pinsel und Kugelschreiber teilt sich sofort mit. Dem Meer stundenlang an seinem Rand liegend standzuhalten und mit seinen Gezeiten zu atmen wie ein buto¯-Tänzer, fordert die äußerste Anwesenheit. Die Auswahl von zwölf Tönen in der Neuen Musik ist vermutlich zu willkürlich abstrakt. Die Befreiung vom seinerseits willkürlichen System der Tonalität drohte bald, wie schon Adorno gezeigt hat, ins Schematische umzuschlagen. Diese Neue Musik dürfte eine gewisse Begrenztheit dadurch in sich tragen, dass sie von dem Alten, gegen das sie protestiert, nicht loskommt. Diese Situation ist dadurch umso dramatischer, dass der Musikkonsum im Alltag, aber bis in die Konzertprogramme hinein die tonalen Hörgewohnten geradezu allgegenwärtig fortsetzt, dabei aber die Differenzierungen, die sie klassisch ermöglicht haben, einschleift. An der neuesten Neuen Musik scheint mir, neben der Überwindung dogmatischer Trennungen zwischen Klängen und Geräuschen, die Aufhebung des Kontrastprinzips klassischer Komposition besonders interessant. Wenn vom Werk her nicht mehr zwischen Haupt- und Nebenstimmen vorsorglich unterschieden wird, kann und muss das Hörbild von der Landschaft dessen, was es zu hören gibt, in uns entstehen. Wir müssen und dürfen uns selber fragen, in welchen Beziehungen wir da wahrnehmen. Was von der Musik her zweifellos reflektiert angelegt wird, führt uns aber noch in Spannungsfelder, in denen wir selbst unsere Wahrnehmung und damit uns auszuloten haben. Solche Spannungsfelder der Kunst brauchen wir, um die Spannungsfelder in uns selbst – Nietzsche spricht vom polyphonen Menschen – und in der Welt – Bateson spricht von der Co-Evolution – annehmen und aufnehmen zu lernen. Für die künstlerischen Initiativen und Aufgaben sind jeweils be223 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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stimmte Gefühle konstitutiv. Auf diesen Wegen werden sie in unsere so ergänzungsbedürftige Vernunft mittelbar integriert. Das ist umso wichtiger, als die Impulse, die unser Denken in Bewegung setzen, ebenfalls Gefühle sind. Ich bestehe so nachdrücklich darauf, dass all dies zu den Vernunftvermögen des Menschen gehört, weil die üblich gewordene Definition des Rationalen viel zu vieles in eine so erst künstlich geschaffene Irrationalität abdrängt und darüber auch selber irrational wird. Ich möchte an einem Beispiel aus neueren, von den Frauen kommenden Entwürfen zur Ethik die Gefühle zu erläutern versuchen, die es im Sinne einer umfassenderen, am Leben und Erleben sich ausrichtenden Vernunft zu retten gilt. Es gibt keinen Zweifel, dass, selbst trotz des gesellschaftlichen Drucks zur Konkurrenz, in den Menschen ein ursprünglicher Drang, zu beschützen und zu bewahren, zumindest gegenüber den uns anvertrauten Kindern ganz ursprünglich prägend ist. Hans Jonas hat das betont, aber leider noch nicht zur Grundbeobachtung einer Ästhetik überhaupt gemacht. Lehrerinnen und Lehrer erfahren wie die Eltern die Not, abzuwägen, wie wir den jungen Menschen, die sich uns anvertrauen müssen, einerseits genügend Tüchtigkeit gegenüber den Forderungen von Alltag und Beruf vermitteln, ihnen andererseits jedoch die Spiel- und Denkräume schaffen und bereiten, in denen allein sie ihre Individualität wie ihre Fähigkeit zu eigenen Beziehungen und Erfahrungen ausbilden können. So sprechen einige Philosophinnen von einem neuen Typus von Ethik, die nicht in rational begründeten und normativ formulierten Verantwortungsmustern ihren Niederschlag findet, sondern auf einem Prinzip von care beruht – Fürsorge. Dazu gehört, dass wir die Erforschung der Welt nicht den Wissenschaften allein überlassen. Sie treiben ihre Sonden in die Dinge, um nach Maß, Zahl und Gewicht festzustellen. Sie sind zu den Pionieren von Technologie, Epistemologie und Verwaltung geworden. Gegen solch im Grunde vivisektionistische Bemächtigung einerseits, andererseits durchaus im Bunde mit den Einsichten in qualitative Zusammenhänge, die selbst in den modernen Naturwissenschaften eine Rolle zu spielen beginnen, können die Künste auftreten. Sie können unternehmen, mit unserem Gegenüber in dessen Resonanz zu gehen, zu lauschen und laut werden zu lassen, was wir da vernehmen. Schließlich kommt das Wort Vernunft vom Vernehmen. Selbst ratio hat noch bis ins abendländische Mittelalter zugleich die Bedeutung von guten Proportionen im rechten Maß gehabt. Ich meine, dass die Systemtheorien 224 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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nach solchen Proportionen nur suchen, um Funktionen der Teile für das Ganze sicherzustellen oder im Interesse menschlicher Absichten umzuformen. Friedrich Schiller hat Aufklärung dagegen darin gesehen, dass die Teile nur annehmen dürfen, dem Ganzen, das sie bilden, zu dienen, wenn das Ganze ebenso den Teilen dient. Das heißt Spiel, Zusammenspiel. Die Künste können Modelle solchen Spiels entwerfen und erproben. An den Künsten können wir unser Bewusstsein dafür klären und stärken. Das höchste Kunstwerk wäre ein gelingendes Zusammenspiel der Menschen in einer sinnvollen Gesellschaft, im Austausch mit einer geachteten Mitwelt. Dies hieße, Vernunft entfalten im Austausch zwischen Fremden, die einander vertrauen und immer vertrauter werden und dabei sich selber kennen lernen und Vertrauen zu sich gewinnen. Wir als Einzelne wie zwischen unseren Völkern und Kulturen. So wollte ein anderes Europa mit Wilhelm von Humboldt und William Blake »Menschheit«, mit Goethe »Weltliteratur« verstanden wissen, Schiller seine, inzwischen zum Olympiade-Kitsch entstellte »Hymne an die Freude«. Gegen die negative Anthropologie Europas, nach der ein Mensch des anderen Feind sei, nach der Gesellschaft nur durch Vertrag von Einzelnen begründet ist. Jede und jeder sind wir einseitig in unserer Sicht auf die Welt. Wenn wir aus ihr ein Absolutes machen, dann werden wir einander zu Feinden und führen bald auch Krieg gegen die Welt, die dann unserer Interpretation widerspricht und unser Handeln verkehrt – gegen uns. Wenn wir auf einander und auf sie horchen, hören, können wir die Fülle des Reichtums an Ansichten und Einsichten zu einander fügen. Die meisten Menschen spüren das unbewusst, indem sie ihre eigenen Erkenntnisse als Korrektur gegen andere stellen; wir vergessen nur zu gern, dass auch unsere Korrekturen der Korrekturen bedürfen. Vor allem fordert uns dies dazu auf, zu begreifen, dass »der Mensch« nur mit Menschen und zwischen ihnen existieren kann. Genau das trifft sich mit der biologischen Erkenntnistheorie, die mit Humberto Maturana sagt, Existenz gibt es ausschließlich als co-existence, überhaupt in allem Leben, das ja auch in der co-evolution, Gregory Bateson, sich zu den unzählbar vielen Arten entwickelt hat. Solche Erkenntnisse bleiben von den Wissenschaften her intellektuell. Wenn Maturana das Spiel und die Liebe als vergessene Potentiale der Menschheit wieder zu entdecken gibt, wird damit dem Verstand ein neuer Horizont geöffnet; aber die ihm entsprechenden Gefühle und 225 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Fähigkeiten zu üben, sind Aufgaben, die den Künsten zufallen und pädagogischen Anleitungen, wenn sie denn künstlerisch angelegt und verwirklicht werden. Dann allerdings sind sie allein dieses Namens würdig. Die wahre Pädagogik ist eine Psychagogik. Gerade wird neu und grundsätzlich im wissenschaftlichen Kontext und kritisch begleitet wieder entdeckt, dass jede Vermittlungssituation fruchtbar nur werden kann, wo sich ein eigenes Zwischen zwischen den Lehrenden und den Lernenden, zwischen beiden und einem Gegenstand, einer Frage bilden kann. Dieses Zwischen ist durch ästhetische Qualitäten bestimmt und muss mit ästhetischem Gespür bewusst gemacht werden: Zusammenspiel. In einer Mathematikstunde kann so, geradeso wie in einem Kunstunterricht, das unausgesprochene Zögern einer Schülerin gegenüber einer Methode, Gleichungen zu lösen, als Wendepunkt aufgegriffen werden. Dann können alle lernen, vom mechanischen Vorbeten und Nachbeten der Formel überzugehen dazu, dass auch die, die die gelieferte Methode überrasch anwenden konnten, zu begreifen beginnen, was eine »Gleichung« wirklich bedeutet: Eine Position wird mit einer anderen gleichgesetzt – also eine besondere Spielart des Unterscheidens und Vergleichens, von dem wir theoretisch gesprochen haben. Ein ausdrücklicher künstlerisches Modell gibt uns die Musik. Das Zusammenspiel von Komponist, Partitur, Instrumenten, Musikern, eigentlich auch Publikum in der Folge der Aufführungen bildet erst ein Werk. Dies sind Beispiele für die eigenen Stile von Weltdeutungen und Weltaneignungen, die von den Künsten her in das allgemeine Bewusstsein hineinwachsen könnten und sollten. Selbstverständlich ist die andere Bedingung solcher Zugänge ebenso wichtig. Askese. Vor den Zugängen hat unsere Geschichte und Gegenwart riesige Müllhalden aufgetürmt. Wenn wir in den Künsten und an den pädagogischen Orten üben wollen, dass das Bild nicht viel mit visuellem Wiedererkennen von Bekanntem oder dessen Verlängerung in »virtuelle Realitäten« zu tun hat, dann müssen wir uns darin üben, uns von der Welt wie von den Bildern angesehen zu wissen. Alles, was uns heute überflutet und unsere Sinne verstopft, sind Abbilder, die oft raffiniert gezielt, aber nicht reflektiert sind und für deren Bedeutung kein Mensch Zeuge ist. Sie wegzuräumen und den Zugang dazu zu finden, dass uns das anschaut, zu dem wir die Augen öffnen, sind zwei Seiten derselben Aufgabe. Uns gegen die akustische Nötigung zu wehren und von den traditionellen Erwartungen an Strukturen einer Komposition abzurücken, sind die zwei Seiten einer freund226 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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lichen Askese des Gehörs, die Spielräume schafft für das Spiel der Klänge mit einander und mit der Resonanz in uns. Dass gerade in Japan solche Zugänge zu finden sind und wirksam werden können, erlebe ich an zwei ganz unterschiedlichen Beispielen. Fujio Maeda zeigt uns, wie das Grau in den Farbholzschnitten des 17., 18. und 19. Jahrhunderts zu der modernen Darstellung in Zentralperspektive eine Alternative bedeutet, wie sie die europäische Avantgarde um 1900 nur mühsam zu suchen vermochte. Statt die Strukturen von Körpern im euklidischen Raum vorgegebener »drei Dimensionen« zu rekonstruieren, lassen die frühen Werke bis Hiroshige die Beziehungen im Zwischen erahnen, dem das Grau einen ungreifbaren Ort leiht. So verstanden, kann eine Tradition in ganz neue Erkundungen tragen. Umgekehrt mein anderes Beispiel. Die Evolutionen des buto¯-Tanzes brechen in existenziellem Ausdruck von Widerstand mit allen klassischen Formvorgaben. Aus meinen sehr bescheidenen, aber lebenslangen Übungen im Za-Zen meine ich jedoch zu spüren, dass die buto¯Tänzer sich und den Beziehungen in der Welt mit dem ganzen Ernst und der ganzen Feinheit auf der Spur sind, die Japans Künste und Lebenskünste seit je hervorgebracht haben. Es geht darum, die Kunst auszubilden, in der Gegenwart der Ereignisse zu leben und solche Begegnungen durch alle Sinne in das Bewusstsein zu tragen, mit dem Bewusstsein alle Wahrnehmung zum Tragen zu bringen.

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Als ich Ästhetik für die Gegenwart von Kunst und Lebensformen der Menschen und als Grundlage auch der pädagogischen Wege neu anzulegen und auszuarbeiten unternahm, habe ich den Begriff Sinnenbewusstsein gefunden und dann auch zum Titel gemacht. Er spricht davon, wie alle unsere wahrhaften Bewusstseinsmomente von sinnenhaften Eindrücken und ihrem Erleben getragen und geprägt sind. Andererseits wirkt bei allen Sinnestätigkeiten und ihrem Ausdruck das Bewusstsein mit seinen verschiedenen Schichten zwischen lebhafter Erinnerung und abstrakter Begrifflichkeit mit. So wurde das Wort zu einem Entwurf, der jeder Einseitigkeit entgegengesetzt wird und mit seinen vielfältigen Tätigkeiten der Sinne und der Reflexion den ungeheuren Beschleunigungen der programmierten Lebensvollzüge in der automatisierten und virtualisierten Welt entgegenwirkt. Zugleich ist Sinnenbewusstsein vermutlich die genaueste mögliche Übersetzung der Bedeutung von aı7sthesis für die griechische Antike – nach all den Verengungen, die »Ästhetik« erfahren hat, seitdem der Begriff Kunst einen Bereich menschlichen Ausdrucks und Gestaltens in der modernen Welt aus den übrigen Tätigkeiten der Menschen ausgegliedert hat. Im Sinnenbewusstsein können Kunst und Lebenskunst vielleicht wirklich wieder zusammenfinden. Ästhetik spricht immer von dem, was uns bewegt und wie dies geschieht. Damit sind die entscheidenden Momente und Kategorien der Ästhetik immer solche des Wandels. In Gesellschaften starrer Oberflächen und festgestellter Strukturen ist sie immer Ästhetik des Widerstandes. Zwischen dem »Sinnenbewusstsein« und dem »Wahnsystem Realität« bestimmen sich Mangel und Fülle, Tätigkeit und Ohnmacht, Wissen und Einbildungskraft der Menschen neu. Zwischen der Entwicklung neuer Medienkonstruktionen und der Wiederentdeckung

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ältester Sinne gilt es, mit Wissen und Weisheit, mit Mut und Liebe neu unser Leben zu entwerfen. Das erste Erscheinen des »Sinnenbewusstseins« hat einem aktuellen Interesse an Ästhetik noch nicht eine neue Orientierung mitgeteilt. Die öffentlich inszenierte Diskussion hat sich weiterhin als Frage der Beurteilung von Kunst verstanden. Die Probleme einer »Warenästhetik«, ohnehin einseitig ideologiekritisch rekonstruiert, sind aus dem Blick geraten unter der zunehmenden Verwischung der Grenzen zwischen Kunst, Kunst als Ware und Ware als Kunst. Alltägliche Wahrnehmung und die Lage der Sinne in den Gesellschaften unter fortschreitendem Industrialisierungsdruck werden allgemein immer noch mehr oder weniger technisch unter Gesichtspunkten der Hygiene, der Didaktik oder der Psychologie abgehandelt. Die neue Einteilung unter dem Begriff der Aisthesis gegenüber der Ästhetik verhilft dabei manchen fortgesetzten Konventionen zu einem guten Gewissen; »aisthetisch« wird, jenseits der Künste, Wahrnehmung abgehandelt – eher technisch. Die Ratlosigkeit angesichts der Funktion der elektronischen Medien und in diesen entwickelter Medienkünste müsste eigentlich endgültig deutlich machen, dass die Kunst des Urteilens über das Schöne in der Kunst – oder das Hässliche, das Ordentliche oder das Absurde – allein für sich aus der Kultur zu verabschieden ist. Sie sollte sich wieder einer kultur-anthropologischen Besinnung einbeziehen; ebenso ökonomischen wie philosophischen, künstlerischen wie lebensweltlichen Überlegungen zum Stand der conditio humana und unserem Umgang mit den gegenwärtigen Möglichkeiten, Grenzen, Fragen und Entscheidungserfordernissen. Das Sinnenbewusstsein hat vielfältige Aufnahme als Grundlagenwissenschaft gefunden. Insgesamt fordert es, eine Wirklichkeit sich bewusst zu machen, an der ökologische und humanökologische Aufgaben, pragmatische Probleme und Fragen der Transzendenz wesentlich mit einander verbunden sind. Die verschiedensten Disziplinen sind dabei, hier einen Boden für Kategorien und Kriterien ihres theoretischen Begreifens zu entdecken, die zugleich leitend für ein verändertes Verständnis in der Praxis sein können. So ist der Begriff gestischen Wissens in einer neuen Sicht der Naturwissenschaftsgeschichte aufgegriffen worden und wird weiter entwickelt werden, um die ausgebliebene Sinnenvermittlung von Experiment und Theorie angemessen fassen zu können. Im Gesundheitswesen, in der Arbeit mit Behinder229 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ten sowie in einer dieses Begriffes würdigen Pädagogik werden die Zusammenhänge alltäglicher Lebensfragen aus den Tiefendimensionen des Ästhetischen neu produktiver aufgenommen. Vermittelnde, heilende, entfaltende Schritte werden als besondere Formen des Lebens verstanden und so dem Leben einbezogen. Eine Ökonomie vieler Formen des Wirtschaftens wird der herrschenden Abstraktion von Industrialisierung und Kapitalisierung gegenüber entworfen. In pluralen Ökonomien werden die sinnenhaften Beziehungen der Menschen zu einander, zur Natur, zu ihren eigenen Vermögen und an den Ergebnissen von Lebenstätigkeit wesentliche Formen des gesellschaftlichen Lebens wiederbegründen – Markt als wirkliche, lokale Begegnung; Gebrauchswert von Leistung für Menschen der eigenen Umgebung; die Erfahrungen subsistenzwirtschaftlicher Existenz. Darin wird zugleich die Bedeutung des Sinnenhaften für die sogenannten Überlebensnotwendigkeiten deutlich so anzuerkennen sein, wie unsere herrschenden Verrechungen sie in Pädagogik oder Kunst oder Heilkunst nicht leicht zulassen. Sinnenbewusstsein ist die theoretisch wie praktisch reflektierende Wahrnehmung, die für die Fragen der Nachhaltigkeit, vielleicht besser gesagt, der Tragfähigkeit von Lebensformen eine Grundlage schafft. Auf Interesse trifft das Sinnenbewusstsein aber auch am anderen Ende der gegenwärtigen Lebenszusammenhänge. So sehen sich etwa neue liturgische Bemühungen bestärkt und in die Entsprechungen zwischen geistigen, seelischen und leiblich spürbaren, greifbaren Schichten der Wirklichkeit eingebunden. Im Sinnenbewusstsein sind auf allen Ebenen die Momente der Situation so deutlich und so frei gegenwärtig, dass immer neu die Richtungen der Bewegungen und die Beziehungen in ihren Verhältnissen zu einander sich verwandeln können – vom Ökonomischen bis ins Spirituelle hinein. Auffallend einander verwandt sind rund um die Welt alte spirituelle Traditionen mit neuer Kritik an bestimmten abendländischen Vorgaben für Denken und Fühlen. Die spezifische Fixierung des Westens auf die Suche nach einem Absoluten löst sich an wesentlichen Stellen auf. Das ist zunächst noch so trotzig wie der Konstruktivismus oder so distanziert wie Postmoderne, posthistoire. Die Kulturen beginnen aber, zwischen Europa und dem asiatischen Osten, zwischen afrikanischer und Weisheit der Indios mit einander wahrzunehmen, wo der eigenen Kritik eine Einladung aus der Ferne entgegenkommt. Die Stärken der einen können an den Fragen der anderen sich läutern, und historische 230 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Verpackungen ihrer wesentlichen Einsichten sollten abfallen. So wird die große substanzielle Freiheit menschlichen Erlebens und Gestaltens an dieser Welt in freudige neue Begegnungen führen. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts erschien das Buch »Body Consciousness« des nordamerikanischen Psychologen Seymour Fisher. Er stellte darin vor allem fest, dass in den westlichen Zivilisationen ein Bewusstsein vom Körper und von den Sinnen – mit Leib dürften wir hier sicher nicht übersetzen – allenfalls dann und da zustande kommt, wo er nicht mehr funktioniert. Dies ist eine Beobachtung, die er in ungezählten Lebensgeschichten seiner Patienten gemacht hat, bis er in ihnen ein sich durchgängig zeigendes Phänomen der westlichen Menschen und der sich westlich prägenden Gesellschaft selber erkannte. Diese Gesellschaften haben in den Jahrzehnten seither auf eine entsprechend verbreitete Ahnung von dem Mangel reagiert. Fisher diagnostizierte eine Mentalität, aus der die Antworten auf Reparatur für unauffällige Funktionstüchtigkeit zielen. »Trimm-Dich«-Programme und »Fitness«-Center und Transplantationsmedizin geben ihm, jedenfalls durch die Erwartungen des Publikums, recht. Noch nicht prognostiziert hat er den Synergieeffekt von Reparaturbetrieb und sich etablierender Spaßgesellschaft. Jedenfalls sind, zumindest bislang, beide Erscheinungen zu sehr Mode, um ein wahrhaftes Bewusstsein zu befördern. Die altgriechische palaı˜stra, die ritterlichen Künste des Reitens, Fechtens, Tanzens oder die meditativen Wege zu geistig-seelischen Weltbeziehungen durch die Erfahrungen des Leibes bleiben abseits. Bewusstsein als eine leibhaftige Bildung zu unseren Tätigkeiten und unserer Stille, in unserem Wahrnehmen und unserem Einwirken auf die Welt, im Ringen und im Lieben, das gilt als Zeitvergeudung oder, schlimmer noch, als Spinnerei. Realistisch sind Maßnahmen fürs Überleben, fit for survival. Inzwischen ist ein gigantischer neuer Reparatursektor angesagt. Die Katastrophe der Missachtung des Leibes scheint angesichts aller möglichen Varianten von Körperkult kein Thema mehr zu sein, obwohl freilich im Gesundheitswesen wenig davon angekommen ist und die Bedingungen immer beunruhigender sind. Doch ein anderer Mangel wirkt inzwischen faszinierender. Physische Arbeit ist so weitgehend an die Automatisierung abgegeben, dass der Produktionsfaktor Mensch vorrangig Gehirn bedeutet. Die Jahrhunderte alte Ideologie, nach der das Gehirn die Kommandozentrale im Mechanismus Mensch darstellt, hat das Sprungbrett geliefert, von dem aus die virtuelle Di231 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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mension erreicht werden soll: Steuerung ist alles. Kenntnis der Voraussetzungen und der Manipulationstechniken sind im Dienste der Steuerung erforderlich. Erkenntnis mag ihnen dienen; aber Wege zu öffnen zu Beziehungen der Menschen zueinander, zur Welt und zu sich selbst, ist keine Priorität. Gehandelt werden »Infos«, und seien es inzwischen »Emo-Infos« (Emotionalitätsinformationen). Parallel werden immer neue Techniken der Prothese für fehlerhafte Körperorgane und der »künstlichen Intelligenz« entwickelt. Expansion der Kapazitäten des Menschen in erhebliche Komplikationen wird betrieben, als sei das eine Antwort auf den Mangel, der am einfachsten herrscht. Von dem Erfolg unabsehbarer Produktion neuen Wissens ist die Rede, während das Bekannte verlorengeht und es gerade am Bewusstsein für Beziehungen und Zusammenhänge fehlt. Kunst und Kunstpädagogik haben heute die Aufgabe mit aufzunehmen, die in den traditionellen Gesellschaften Handwerk und künstlerisch entwickeltes Arbeitsverständnis erfüllen: die Überlieferung, Ausbildung und Schulung im gestischen Wissen. Traditionell hatte dies in Japan etwa das Pinseln der Charaktere bewirkt. In Zen-Übungen wurde gestische Antwort auf Konstellationen einer Gegenwart zur höchsten Kunst erhoben. Solche Wege sind umso lebensnotwendiger zu entfalten, als die einseitige Entwicklung von Kognitionsmechanismen und Abgabe von menschlichen Fähigkeiten an apparative Techniken komplementäre Bildung erfordern. So könnte eine wirkliche Erweiterung der menschlichen Bedingungen vorgestellt werden – in intensiver Spannung zu den Sinnesvermögen. Stattdessen wird gerade ein »Bewusstseins-Management« propagiert, das mit Hilfe nun beherrschbarer Gehirnfunktionen die Menschen kompatibler für die technologischen Systeme machen soll. Das Wort »Bildung« wird da zur Beschwörung benutzt. Dabei wird gleichzeitig nicht reflektiert, dass es immer die Begegnung von Geschichten meint, die miteinander neue Schritte der Entfaltung möglich werden lassen. Man ruft hinaus »Bildungskatastrophe« und spekuliert darauf, die aufgeregten Energien der Beunruhigung auf die Durchsetzung einer »Wissensgesellschaft« mit expandierendem aktuellem Informationsstand zu lenken. Goethe bevorzugte das Wort Bildung gegenüber dem der Gestalt. An Gestalt kritisierte er, was wir Struktur zu nennen gewöhnt sind. Bildung meint nicht fragloses Benutzen von feststellendem, geltendem Wissen. Bildung ist der richtige Ausdruck für das, was auf beiden Sei232 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ten geschieht, in den sich bildenden Menschen und, uns gegenüber, an einem Gegenstand, der sich seinerseits so und so gebildet hat, bevor er uns im gegenwärtigen Zustand gegenübertritt, und der folglich vor neuen Umbildungen steht – wie wir selbst. Bildung setzt immer Wissen ebenso voraus, wie sie weiteres Wissen hervorbringt. Sich zu bilden bedeutet indessen, was das Wort »aneignen« ausdrückte, ehe es in einer unserer »Bildungsreformen« zur Vokabel verkam. Wir bringen Wissen auch da hervor, wo wir bekanntes Wissen zu unserem eigenen machen; denn dabei bringen wir es in den je einzigartigen Kontext einer Lebensgeschichte, mit ihren Wünschen und Befürchtungen, ihren Bildern und Kenntnissen und Unkenntnissen. Informationen stellen wie jedes andere Instrument potentielle Verfügungsgewalt dar. Sie gehören im moralischen Haushalt als solche auf die Seite der Willkür, obwohl sie ebenso dem Abwägen in der Entscheidung dienen können. Das aber erfordert, dass wir auch wissen, was wir wollen, also dass wir daran arbeiten, unserem Wollen Inhalte und Bezüge zu geben. Wissen ist wie Samenkörner. Wenn sie nicht ausgesät werden, um durch die neuen Früchte ersetzt zu werden, trennt sie Sterilität vom weitergehenden Leben. Dass Wissen ebenso immer neu umgesetzt und geprüft werden muss, kann in den Künsten besser als irgend sonst geübt und erfahren werden. Damit ist gesagt, dass Bildung auf einen vielseitig reflektierten und erfahrenden Erwerb von Wissen und Können angelegt wird. So wird zugleich der Grund bewertet für die Haltung gegenüber den Dingen, nach der sonst die »ethischen« Notschreie vergeblich ausgestoßen werden: »Kreativität« einerseits, die dann plötzlich doch wieder gebraucht wird, und »Ethik« andererseits, die eben allein aus abstrakten Kategorien des Verhaltens eher zu Verboten und Verzichtsgeboten gerät, als eine Lebensführung zu bereichern.

Umdrehen Den Nürnberger Trichter umdrehen. Das ist das Erste. Die »Bildungsförderung« soll in immer frühere Jahre vorgezogen werden. Es gibt bislang keine Anzeichen dafür, dass dabei an Anderes gedacht wird, als das Pensum und die Methoden der Beschulung einfach um Jahre vorzuverlegen. Genau das wäre aber ein weiteres Programm zur Ver233 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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nichtung eines anderen als des Schulwissens und einer eigenen Lernfähigkeit, die wir ohnehin durch mangelnde Achtung und Beachtung entmutigen oder ersticken. In den ersten Jahren unseres Lebens lernen wir vermutlich wesentlich mehr als je in einer späteren Laufbahn. Wir lernen im Spiel. Es gibt schwere Spiele und heitere Spiele. Doch sie sind immer Spiel in einem ganz anderen Sinne, als der übliche Wortgebrauch ahnen und gelten lässt. Sie folgen Regeln, aber nicht institutionell verkündeten. Am wichtigsten sind gerade die Regeln, die im Spiel selber erfunden werden. Sie folgen Spuren, die in uns durch Erfahrungen angelegt oder durch Vorbilder gelegt sind. Aber sie verfolgen keine vorgegebenen Ziele. Sie führen eben deshalb zu Ergebnissen, weil ihre Entdeckungen und Lehren sich aus dem Zusammenspiel all dessen ergeben, was uns da gerade begegnet, wie wir es aufnehmen, wie wir darauf eingehen, wie unsere Reaktionen sich zugleich als unsere Handlungen erweisen. Reaktionen sind immer auch Aktionen und bewirken neue Reaktionen uns gegenüber. Solches Spiel ist immer auch ein Zusammenspiel nicht nur zwischen uns und einem Gegenüber und einer Situation. Ebenso vielseitig bringt es unsere verschiedenen Anlagen und Organe ins Spiel miteinander. Schiller nennt das den sinnlichen und den ideellen Trieb. Was wir wahrnehmen und empfinden und was wir fühlen und denken dabei. Dies ist die Fortentwicklung unserer Lebensgeschichten vor der Geburt. Anhand der Spuren, die die Geschichte unserer Gattung aus den Tiefen ihrer Vorgeschichten geprägt und in ihre zukünftigen Individuen gelegt hat, haben unsere Organe sich durch ihren Anteil an einem Zusammenspiel von einer embryonalen Phase zur nächsten entfaltet. »Organe entstehen nicht für Funktionen, sondern in Funktionen und durch Funktionen«, sagt der Schöpfer der dynamischen Embryologie, Erich Blechschmidt. Dieser Satz muss in die Pädagogik erst noch übersetzt werden. Das Wort Erziehung macht misstrauisch. Es lässt immer daran denken, dass an den Kindern gezogen werden müsse, und zwar dahin, wo die Erwachsenen angekommen zu sein meinen. Wie schon erwähnt, fassen Afrikaner ihre Eindrücke vom westlichen Schulsystem oft in dem Bild zusammen, wir würden unsere Kinder als leere Flaschen behandeln, in die wir angesammelte Wissensvorräte abzufüllen versuchen. Unser deutsches Wort vom Nürnberger Trichter passt auffallend gut dazu. Paul Parin hat seine ethno-psychologischen Beobachtungen in dem großartigen Buchtitel »Die Weißen denken zu viel« zusammengefasst. 234 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Pädagogik der Sinne im Zeitalter digitaler Manipulationen

Was meint die Formel, den Trichter umzudrehen? Andere Formen des Wissens und des Lernens ebenso zu achten wie die abstrakt kognitiven, an denen uns Piaget Intelligenz und ihren schuldigen Fortschritt zu messen gelehrt hat. »Alles ist Gegenseitigkeit«, sagt Christiane Singer vom Menschen in der frühen Kindheit und der Wirklichkeit. Das Kind »trinkt sie, kaut sie, beißt sie, leckt an ihr, riecht an ihr, hält sie ans Ohr …« Statt Messwerte abzulesen, können Kinder Konkretes mit Konkretem vergleichen. John Dewey wird neu aktuell. Er stellte den Begriff der Erfahrung an den Anfang und in die Mitte auf allen Wegen menschlichen, pädagogischen, künstlerischen und politisch-sozialen Reifens zugleich. Vor allem die Grundvorstellung vom aufwachsenden Menschen als defizient, als Objekt von Entwicklungsstrategien ist umzukehren in die Fragen danach, was Kinder können und wie. Von Natur aus möchte jedes Kind teilhaben am Leben seiner Welt und selber etwas dazutun. Wo ihm dazu Kenntnisse und Fertigkeiten fehlen, reagieren wir in der Regel mit Verboten, so lange, bis die kleinen Menschen resignieren, was wir dann später Faulheit nennen und Desinteresse. Stattdessen müssen wir die Situationen so eingrenzen, dass dieses Kind sie überblicken und mit seinen Möglichkeiten antworten kann. An diesen Stellen wird sonst jene Apathie provoziert, derentwegen wir dann von den Erwachsenen behaupten, dass sie nur unter existenziellem Zwang, also aus ökonomischen Gründen zu Leistungen motiviert werden können. »Motiviert«, d. h. in Bewegung sind wir von Natur aus. Fragen wir doch, was sie hemmt! Kinder haben alle ihre Organe und Sinne in tätigem Lernen ausgebildet, bis sie auf die Welt kommen. Dies fortzusetzen ist ihre selbstverständliche Lebenstätigkeit. Dazu gehört die Neugier, wissen zu wollen, ebenso wie die Lust, machen zu können. Sie können dafür aus den in Millionen Jahren der Evolution erprobten Erfahrungen schöpfen, auf die unsere Schulweisheit längst vergessen hat. Sie haben aus dem Wechselspiel, in dem Anforderungen von außen und Antworten von innen Fähigkeiten ausbilden, die Orientierung an Vorbildern entwickelt. Die Verantwortung der Kultur liegt viel weniger darin, Ziele zu setzen, als vielmehr geeignete Vorbilder beizutragen. Sie müssen die Aufgaben konkret genug und die Lösungen offen genug halten. Inzwischen scheint es auch wieder lohnend zu werden, die Gehirnforscher zu entsprechenden Erklärungen einzuladen. Ein Kind weiß, dass es nur denen vertrauen kann, die ihm ver235 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Sinne

trauen. Dass die Umstände und Bedingungen immer verschiedene sein werden, steht außer Zweifel. Es geht um das Grundgefühl, das mit Achtung verbunden ist. Auch Gefühle müssen gebildet werden, aber im gemeinsamen Erleben, nicht im profanen Katechismusunterricht. Kinder sind kreativ, z. B. in ihrem Gebrauch von Stift und Papier. Das Vorurteil der Gesellschaft, nur realistisches Darstellen, möglichst genau nach der Zentralperspektive, für bildende Kunst zu erklären, ist von den Künstlern längst in verschiedenen Richtungen eines Besseren belehrt, wird an den Kindern jedoch weiterhin ausgetobt. Wir müssen hingucken lernen, nicht die Kinder zu schlechten Konventionsmalern trimmen. Nur ein Beispiel. Was Kindergärtner für das typische »Knäuel« der Dreijährigen halten, ist kein »Gekritzel«, sondern zeigt das Gefühl, beim Zeichnen in einem Kokon zu leben, einer beschützenden eigenen Welt. Wir können überhaupt lernen, dass Kreativität weder erzeugt werden muss noch kann. Man muss sie sich entfalten lassen, frei von Konventionen und frei von Angst, aber in der Intensität, die sich an geeigneten Widerständen entwickelt. Warum wissen wir so wenig von dem allen? Warum wird auch das Wenige nicht anders als beiläufig beachtet? Immer noch sind es die Mütter, denen dieses unglaubliche Pfund vorwiegend anvertraut ist, mit dem auch sie kaum wuchern können in einer Gesellschaft, die sich so viel existenzielle Ignoranz leistet und ihre wichtigsten, die menschlichen, Potentiale nach einseitigen, töricht verzweckten Maßstäben versäumt. Wer will denn zuhören, wenn die Mütter berichten würden? Mit der Frauenemanzipation ist es soweit nicht her. Die Emanzipation der für Erwerbsstellen uninteressanten Menschengruppen, der Kinder und der Alten, steht noch nicht einmal auf dem Programm. »Die frühe Kindheit ist auch eine Enklave der Wildnis innerhalb unseres domestizierten Lebens. Ähnlich wie die Gesellschaften, die sich nicht auf die merkantilen und staatsorientierten Ideale reduzieren lassen, zur Zielscheibe unseres zivilisatorischen und zerstörerischen Furors werden, ist das Territorium der frühen Kindheit einer gnadenlosen Plünderung ausgesetzt.« (Christiane Singer) Seit vor 100 Jahren die Kindheit unter Schutz gestellt wurde, sind die Kinder derselben Gleichschaltung unterworfen wie die Karrieren ihrer Eltern, nur hilfloser und fassungsloser. Und doch ist immer noch »der Widerstand, den sie ihrer Unterwerfung entgegensetzen, wild und verbissen«. Es geht nicht darum, Kinderparteien zu gründen wie die der Rentner. Alle sind aufgefordert, den Trichter umzudrehen und hinzuhorchen. Was sich da 236 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Pädagogik der Sinne im Zeitalter digitaler Manipulationen

bewegt, kann eine Geschichte der Erstarrungen wieder in Bewegung bringen und die verdrängten Dimensionen von Intelligenz ins Leben zurückholen, das ihrer so drängend bedarf. Der Ruf nach Kreativität als wichtigstem Faktor der Volkswirtschaft sollte dahin die Aufmerksamkeit lenken.

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Askese und neue Entfaltung In unserer Wahrnehmung treten die Phänomene der Welt immer neu und nie identisch auf, erscheinen sie in Zusammenhängen, die wechseln, und in Situationen, die etwas in uns berühren und verändern. Durch unsere Wahrnehmungen bleiben unsere Vorstellungen von der Welt wandelbar und in wirkliche Beziehungen verwoben. In Beziehungen unter einander, zu ihren Geschichten und zu uns, die wir selber uns wandeln. So nützlich es offensichtlich ist, Phänomene andererseits zu identifizieren, indem sie gegen andere abgegrenzt werden, so notwendig für viele Zwecke die dabei zustande kommenden Definitionen sind, so brauchbar es ist, dies in festen Begriffen zur Verfügung zu halten, das rationale, mentale System sichert Erkenntnis eben gegen die Wandlungen des Lebens. Von diesen zu wissen und ihnen unsere Erkenntnis anzupassen, wird im wesentlichen ausgeschlossen. Weil beide Methoden zu den menschlichen Vermögen gehören, aber ihre je eigenen Bedingungen und Möglichkeiten haben, wird von den Zivilisationen eine Wahl gefordert: Wahrnehmung und Rationalität können einander ergänzen, ebenso aber als Widerspruch mit einander konkurrieren. Es gilt mit großer jeweiliger Aufmerksamkeit abzuwägen. Die heute westlich genannten Zivilisationen funktionieren aufgrund einer Entscheidung für vorherrschend rationale Methoden mit spektakulären Vorteilen. Die Welt wird, jedenfalls weitgehend oder auch nur scheinbar, kontrollierbar und planbar bis in die Zukunft gemacht. Aus diesen Strategien entspringt die Beschleunigung. Um Abwägen neu zu ermöglichen, ist deshalb das Lob der Wahrnehmung angesagt. Ein Lob der Sinne und des Wahrnehmens wäre irreführend und vermessen nach einer Geschichte, die wesentliche Zugänge zu ver238 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Eine Kunst der Wahrnehmung

gessen, zu verdrängen und zu unterdrücken geboten hat. In einer Gegenwart, die ihrer Wiederentdeckung systematisch entgegenarbeitet und Ansätze dazu in Seitenwege oder auf dubiose Terrains verweist. Sich einer Kunst der Wahrnehmung zu widmen, bedeutet damit, zuerst die Verkrustungen einer Geschichte der Deformationen zur Kenntnis zu nehmen und abzutragen. Dekonstruktion. Ein solches Unternehmen allein wäre freilich allzu unbefriedigend. Doch solange wir lebende Menschen sind, ist offenbar eine gewisse Lebendigkeit unserer Sinne im alltäglichen Zusammenhang wirksam. An ihr können wir, was das Überleben gesichert hat und vielleicht doch auch etwas mehr, zur Fülle entfalten. In der Nachfolge von Habermas hat Ulrich Oevermann in diesem Sinne von »Überresten resistenten Lebens« gesprochen. Um ihrer sich zu versichern, sieht sich allerdings der Sozialwissenschaftler auf die Künste angewiesen, die für seinen urteilenden Intellekt aufbereiten sollen, was seinen Kategorien und Denkfiguren sich, gestisch, entzieht. Gerade um dem sich widmen zu können, sollte indessen Ästhetik sich zur anthropologischen Disziplin entwickeln. Askese, nämlich Übung, soll dem Abtragen verkrusteter Schichten dienen, um der Entfaltung Spielraum zu schaffen.

Wahrnehmung als Problem Das Abendland hat eine lange Geschichte der Missachtung menschlicher Korrespondenz mit der Welt durch die Sinne. Manche ziehen es vor, einer Tradition wütender Askese durch die Kirchen die Hauptverantwortung zuzuschreiben. Oft wird dabei vergessen, dass die Aufklärung auch diese Linie durchaus fortgesetzt hat, nun als rationalistische Askese der Erkenntnis. Andere sehen die Vorgeschichte in der griechischen Philosophie und erkennen die Ideenlehre Platos als ein Grundproblem. Ich meine, dass auch die große Bedeutung des jüdischen Kanons der Hunderte von Verboten und Geboten in der Religion entsprechenden Einfluss ausgeübt hat. Jedenfalls ist nur zu offensichtlich, dass »der Leitfaden des Leibes« verdammt worden ist, einen »großen« und »unerhörten«, aber eben »unhörbaren Strom« unserer Geschichte zu bilden. Nietzsches Ausbruch aus dem Belagerungsring haben sich um 1900 einige Denker und Künstlerinnen, vor allem aber Aufbrüche in der Gesellschaft wie die Jugendbewegungen angeschlos-

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sen. Statt der Vehemenz der Nietzscheschen Empörung haben sie, oft auf stillen Pfaden, neu die Zugänge gesucht. Unsicher durch Mangel an leitenden Erfahrungen und eigener Übung sind solche Bewegungen im Bann der Ambivalenz, die zwischen Suche und Sucht in Irrungen und Wirrungen führt, ohne dass darum die Entdeckungen wertlos oder uninteressant wären. Doch es ist schon deutlich, dass aus der Ambivalenz ebenso ein Wille zur Natürlichkeit bei Rousseau und die höfischen Schäferspiele des 18. Jahrhunderts wie schließlich die Blut- und Boden-Ideologie reaktionärer und faschistischer Propaganda hervorgetreten sind, mit der eine erbarmungslose Forcierung kapitalistisch-industrieller Großtechnologie überkleidet worden ist. Diese Vermischung kehrt übrigens, freilich unterschiedlich um weitere Elemente angereichert, in allen Fundamentalismen wieder. Wir können heute Wahrnehmung nicht anders bedenken als in diesem Spannungsfeld zwischen Misstrauen, Entzugserscheinungen, Sehnsucht und glücklichen Ahnungen. Es ist kein Zweifel, dass seit einigen Jahrzehnten Sinne, Leib und Wahrnehmung in den westlichen Gesellschaften eine stark erhöhte Aufmerksamkeit bekommen. Sie setzte ein mit der flächendeckenden Ansteckung, die von Elvis the pelvis ausging und Epizentren der Erschütterung im Hula-Hoop fand, später im Twist. Was haben Modetänze mit Wahrnehmung zu tun? Die Black Panther, Nordamerikas kämpferische Bewegung der schwarzen Wiederbesinnung gegen die weiße westliche Zivilisation, sie wussten es sofort. Die Weißen entdeckten Leib als Rhythmus und den Beckenraum als die bewegte Mitte dieses Leibes zugleich wieder. Malcolm X begriff das als Signal, dass mit den Tätern dieser Zivilisation, die längst deren Opfer geworden waren, plötzlich doch noch einmal zu rechnen sei. Wir dürfen das nicht mit unserer üblichen Fixierung auf das »Motorische« abtun. Motorisch sind wir die Bewegung zu nennen gewohnt, die wir glauben geometrisieren zu können nach den berechenbaren Mustern der Mechanik. Was da in Wahrheit geschah, war eine Wiederentdeckung der Mitte, von innen, und in ihrer Bewegtheit von innen. Das aber ist der Kern und Keim allen Wahrnehmens überhaupt. Ohne Selbstwahrnehmung wird alles Wahrnehmen außen zur Inventur. Die Blockierung dieser Mitte lässt wahrhafte Vermittlung zwischen uns als Wahrnehmenden und unserem Gegenüber nicht zu. Wenn wir nicht in unserer Wahrnehmung unserer selbst aufnehmen, was uns zukommt, uns trifft, dann herrscht Mangel an einem lebendigen Organ der Synthesis. Dieser Mangel drückt sich aus im 240 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Misstrauen, das sich gegen die Sinne kehrt, die wir so nicht recht zu synthetisieren wissen, und gegen die Welt mit uns, die so zur »Umwelt« verkommt. Das heißt, sie wird auf unsere Zielsetzungen des Willens und unsere Interessen des kalkulierenden Verstandes bezogen. Dass wir, wie es eigentlich doch geradezu unvermeidlich ist, dennoch immer mit dem Gegenüber auch uns selbst wahrnehmen, kann zu solch strategischer Position keinen Ausgleich schaffen, noch weniger zu ihrer Überwindung ansetzen. Das Modische an den Tänzen, in denen da etwas aufgewacht ist, hat so viel mit Mode insgesamt gemeinsam, dass der sogenannte Trend zwar von den Agenturen des Konsums bis zur Unkenntlichkeit manipuliert wird, aufgetaucht ist er aber aus der Tiefe von Wünschen und Sehnsucht. Hier ist Sehnsucht entschieden Tochter des »gefühlten Mangels«, Hegels großartiger Figur für die Ahnung des Mangelnden aus der Negativität heraus. Ohne Spuren dessen, wider unser angeblich besseres Wissen, wäre Leben nicht möglich. Leben ist Resonanz, und zwar einer hohen Stufe von Komplexität. Doch hat die westliche Zivilisation das Bewusstsein für solches Mit-Sein mit den anderen Wesen und Vorgängen und Dingen der Welt stolz hinter sich zu lassen versucht. Entsprechend sind die Lebenswelten weitgehend so gemacht, dass Anlässe zur existenziellen Wahrnehmung reduziert sind. Die Untrennbarkeit eigenen Erlebens, Lebens davon, wie das Andere zu uns kommt, macht dem Willen Angst. Diese Angst rät und drängt zu immer mehr Kontrolle, für die auch Komplexität eine Bedrohung darstellt. Je hermetischer wir uns vor den Bedrohungen verschließen, desto stärker wird noch eine andere Angst. Sie ist die ungeahnte Unterströmung, dem gesteuerten Kurs entgegengerichtet, gegenläufig von ihm bestimmt; aus den von ihm vermiedenen Gefühlen und Bewegungen machtvoll gespeist. Der horror vacui. Die Isolation, die im Programm noch Autonomie heißt. Dazu die bange Sorge, wie sich versäumte und verschmähte Freundschaften gegen uns kehren werden. Schon ist – Projektion von ganz und gar menschlichen Reaktionen – von einer »Rache der Natur« die Rede. In Wahrheit ist es unsere Angst vor dem Leben in seiner bewegten, bewegenden Wandelbarkeit, was unsere beschleunigten Veranstaltungen für Kontrolle und Reduktion auf Kontrollierbares »motiviert«. Doch ist es nicht vorbei mit aller Sinnen- und Lebensfeindlichkeit? Kaum zwei andere Worte kommen so oft vor wie Sinne und Lebendigkeit, wenn es darum geht, etwas als berechtigt und begehrens241 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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wert darzustellen. Eben. Lessing sagt, »man redet immer von den Tugenden, die man nicht hat«. Der überall sich durchziehende Drang zur Totalprothese steuert den Ersatz von Leben an, selbst wo die Techniken nicht einmal Funktionstüchtigkeit versprechen, sondern nur profitabel erscheinen. Es gibt eine Tendenz in der Kunst zum »posthumanen Zeitalter«. Auslaufmodell Mensch. Auf dem müllverpesteten Wegwerfmodell Erde. Man muss das gerade dann ernst nehmen, wenn man nicht vor der Absurdität kapituliert. Sonst sickert der verdrängte Nihilismus ins Grundwasser der Seele ein. Es gibt nicht nur auch, sondern gerade seelische Altlasten. Es braucht Mut zum Wahrnehmen, wenn immer neue Störungen und Zerstörungen zum Vorschein zu kommen drohen. Der Erlebnisbetrieb der Spaßgesellschaft dürfte mit seinem sicheren Instinkt für Oberfläche und Darstellung dem entsprechen. Nicht erst Walt Disney ließ die Natur als Schausteller auftreten. Seither wird sie nicht im Zeichentrick, sondern im life-Trick vorgeführt. Daran wie Künstler der land art oder der Spurensuche mit einer Lebensgeschichte oder mit einem unbeachteten Ort leben, bis eine Gestalt die ungeahnten Beziehungsmuster auch unseren Augen öffnet, könnte viel gelernt werden. Und mit der Freude des Entdeckens. Aber beachtet werden eher spektakuläre Veranstaltungen. Struggle for attention ist die Devise. Die eingesetzten Mittel tendieren zur Simplifikation und anderen Formen von Brutalität. Andere Traditionen der Wahrnehmung verfallen zusammen mit den Berufen, denen sie dienten, die aber auch solch gestisches Wissen erst hervorgebracht haben. Der Bäcker, der die Hitze seines Ofens am Geruch misst und an der Farbe der Glut. Der Schmied, der im Gefühl für den Rhythmus seines Schlages dem Hammer Kraft und Genauigkeit gibt. Die Spinnerin, die zwischen den Fingern spürt, wie der Faden die rechte Stärke und Haltbarkeit bekommt. Auch die Jagd gehört dazu. Ihre ideologischen Feinde sehen nur den Städter, der Pacht zahlt, um auf Tiere zu schießen. Jäger sind die leidenschaftlichsten Beobachter von Wild und Wald, bis in die feinsten Unterschiede von Fährten oder Färbung des Fells im Wechsel der Jahreszeiten. Die Geschichte der experimentellen Naturwissenschaften hat vom gestischen Wissen gelebt, das in den Laboren entwickelt oder aus dem Handwerk bezogen wurde. Die theoretischen Physiker machen die Ergebnisse dann aber wieder ehrlich vor dem Anspruch der Exaktheit. Ein erster Rettungsversuch ist selber abwertig genug ausgefallen: Polanyis Votum für 242 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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»tacit knowledge«. Herablassend von der Höhe rationaler Erkenntnisstrategien wird dem Können der Helfershelfer sein stummes Existenzrecht zugestanden. Was sich nicht in Worte fassen lässt, hat nichts mit Erkenntnis zu tun und verfällt der Missachtung durch die Semantiker, die eigene Methoden ersinnen müssen, um sich mit Bedeutungen zu beschäftigen, die sich den Regeln von Wortsinn und Grammatik entziehen, die in anderen Geschichten Fähigkeiten zum Ausdruck gewonnen haben. Christiane Rochefort hat auf die erste große Ölpest, die aus einem Tankschiff die Küsten der Bretagne erreichte, mit dem Haiku reagiert: »Emeraude noire. Oiseaux morts. Printemps Shell.«

»Schwarzer Smaragd. Tote Vögel. Frühling von Shell.«

Von verschiedenen Seiten wird unser Wahrnehmen ruiniert. Um eine Kunst der Wahrnehmung neu zu gewinnen, muss Spielraum, Denkraum, Fühlraum freigeräumt werden. Nach einigen Seiten wird dies im Folgenden versucht.

Beginnen wir bei der Physiologie der Sinne Nicht systematisch und nicht chronologisch, aber unter den Gesichtspunkten soll das unternommen werden, die am meisten unser Bewusstsein beherrschen. Ich meine jenen sogenannten gesunden Menschenverstand, der so weitgehend kein Naturprodukt ist, sondern die verklebte Ansammlung von Gewohnheiten, die eine meist dumpfe Geschichte getrennt hat von den Bedingungen und den Aufgaben ihrer Entstehung, so dass man offenbar jeder Frage nach ihrer Begründung enthoben ist. Die Reihe solcher Gewohnheiten im Umgang mit unseren Sinnen und in den Vorstellungen von ihnen fängt an, bevor es überhaupt um Umgang und Vorstellungen geht. Die Formel von »den fünf Sinnen« legt deren Zahl fest und benennt, welche Wahrnehmungen normal sind. Wer weniger hat, ist behindert. Wer mehr zu haben meint oder für möglich hält, ist ein Spinner. Behinderungen können in gewissem Umfang ausgeglichen werden, so dass die geltende Realität leidlich weiter funktionieren kann. Die Spinner gefährden die Definitionen dieser Realität und müssen unter wachster Beobachtung gehalten werden. 243 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Um die Definitionen gegen Unterspülung zu schützen, gibt es ein System von Wissenschaften, die Funktionen so konstruieren und Befunde nachmessen. Es ist wohl sinnvoll, aus der Geschichte dieses Vorgehens Descartes hervorzuheben. Er hat exemplarisch die Kunst und Übung des Sehens in das Koordinatensystem der Optik projiziert. Dort finden sich die Leistungen eines Organs in mechanische Ursache-Wirkungsketten übersetzt. Deren Zusammenspiel mit einem der anderen Organe des Menschen – von Mitsein mit dem Gegenüber ist ohnehin keine Rede mehr – wird aus der Ebene der Physiologie ausgegrenzt und als Leistung der übergeordneten Psyche behandelt. Die Beziehungsmuster eines Zusammenspiels werden also ersetzt durch das Verhältnis der Hierarchie. Eine Kommando- und Speicherinstanz benutzt die Physiologie von Auge und Sehnerv zur Ausführung ihrer Befehle und zum Sammeln ihrer Daten. Diese Sprache ist die der Verhaltensforschung, wie sie durch die Funktionszuweisungen des Behaviourismus gegangen ist; bis heute. Genau diese Projektion des Wahrnehmens in die mechanische Messbarkeit und in die hierarchische Konstruktion hat weitere Sinne über die klassischen fünf ausgeschlossen. Und sie hat diese fünf auf eine moderate mittlere Bandbreite ihrer Frequenzen reduziert. Dass Geschmack und Geruch überhaupt anerkannt sind, ist der Evidenz von, mindestens einigen, »Geschmacks- und Geruchstypen«, nicht ihrer verlässlichen Messbarkeit zu verdanken. Wenn Menschen wie Tiere an der Intensität von Blütenduft riechen können, dass Regen in der Luft liegt, scheidet das aus dem Bereich dessen aus, was zur Kenntnis genommen werden kann. Radikal, mit der Wurzel, ist unser Sinn für Kraftfelder und -punkte der Erde stillgestellt, obwohl die wenigen, die sich darum kümmern, die Radiästhesie neu beleben und viele klammheimlich doch an Wünschelrutengänger und Wasseradern »glauben«. Das Wort glauben kommt zu Unrecht in solchen Kontext. Es ist ein Hinweis darauf, dass Prüfungen eigener Art nicht bekannt sind. Statt ihrer werden Beweise, also verlässliche Messungen von Quantität verlangt. Wo diese nicht produziert werden können und doch irgendeine Art von Vorgang nicht zu leugnen ist, wird über die Zusammenhänge spekuliert, bis die einen an dies, die anderen an das »glauben«. Das Problem der Wahrnehmung wird solange unlösbar bleiben, wie die Verwechslung fortdauert, die aus dem Urteil über Wahrnehmungen im Vergleich mit Messungen folgt. Aus solch naturwissenschaftlicher Auffassung werden die Sinnesorgane des Menschen als 244 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Messinstrumente missverstanden. Ihnen als solchen in vielen Fällen Defizienz nachzuweisen, ist nicht schwer. Ihre typische Leistung muss in einem grundsätzlich anderen Parameter erkannt werden. Diese Leistung ist im Mitsein begründet. Unser Wahrnehmen ist zugleich eine ausgleichende Antwort. Vielleicht das offensichtlichste Beispiel ist das »Nachbild«. Wir brauchten uns eigentlich nicht erst von Goethes Farbenlehre darauf aufmerksam machen zu lassen, dass wir, etwa, nach einem roten Feld vor Augen, wenn wir sie schließen oder abwenden, ein grünes Feld von gleicher Gestalt sehen. Diese gehört zu den »physiologischen Farben«; sie wird von unserem Sehen hervorgebracht. Was ist also ihr ontischer Status, in welcher Weise können wir sagen, es gebe sie? Einerseits ist dieser grüne Fleck subjektiv im Gegensatz zu objektiv; er ist nicht eine Eigenschaft des roten Flecks. Andererseits ist er intersubjektiv; jeder Mensch kann ihn unter gleichen Bedingungen sehen. Doch lässt er sich nicht festhalten. Sein Auftreten muss von uns bezeugt werden. Die Gestaltgleichheit zeigt, dass es ein fundamentum in re, nämlich in dem roten Fleck gibt. Der grüne Fleck hat also eine Existenz zweiten Grades, in Abhängigkeit von dem roten, den wir z. B. fotografieren können. Im grünen Fleck zeigt sich etwas von dem roten, das wir am roten selber nicht wahrnehmen können. So tief geht die Wahrheit dieses Nehmens. Rot »fordert« grün, sagt Goethe. Rot ist ohne grün nicht im vollen Sinne existent, wie Licht ohne Dunkel. Die gleiche Wahrnehmung des Nachbildes lässt sich auch für hell und dunkel vernehmen. Unsere Nachbilder liefern die Ergänzung zu den Phänomenen, sind also weder eigene Phänomene in sich noch Einbildungen des Subjekts. Die gleiche Erscheinung von Nachbildern tritt zu hell und dunkel auf. Descartes klagt den Gesichtssinn an, dass er den selben Menschen in der Entfernung kleiner zeigt als in der Nähe. »Das Auge« ist aber eben kein Messinstrument. Die Augen leisten gerade, uns die Elemente unserer Welt in Beziehungen zu setzen und Situationen zu zeigen, Nähe und Ferne sowohl einschätzen wie auch empfinden zu lassen. Solches Mitsehen ist ein Wahrnehmen, das in Wahrheit mit sein mit der Welt bedeutet. Eine Resonanz, die zur ergänzenden Antwort wird. Diese physiologischen Vorgänge spielen auch in anderen Sinnen eine Rolle, im Gleichgewichtssinn z. B., und begründen ein mimetisches Verhalten, das zugleich in die Gegensymmetrie geht, nicht bloße Verdoppelung meint. 245 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Selbstverständlich sind diese physiologisch zutreffenden Feststellungen längst mit anderen Dimensionen, etwa der psychischen, konstitutiv verbunden. Gerade dies hat die mechanische Auffassung von unseren Sinnen, um einer einfacheren Erfassung ihrer Daten willen, ausgeblendet. Auf diese Weise hat sie den spezifischen Leistungsstil unserer Organe, Antworten zu sein bis hin zur ausgleichenden Ergänzung, verkannt und in den offensichtlich aktiven Fällen zur Täuschung erklärt. Unsere Sinne brauchen sehr wohl den Verstand. Nur nicht als Kontroll- und Korrekturbehörde. Es geht immer darum, abzuwägen, wie viel von unseren Eindrücken sich eignet, unmittelbar als Tatsache genommen zu werden in einem bestimmten Zusammenhang, und wo sie ins Mittel gesetzt werden sollten, weil der Zusammenhang anders nicht stimmen kann. Die alte, schon platonische, Beschwerde über Täuschungen durch die Sinne verkennt, dass diese nicht Fakten, sondern Beziehungen aufnehmen. Was Erwin Straus den »Sinn der Sinne« genannt hat, ergibt ein komplexes Zusammenwirken, sowohl der Sinne miteinander wie der Vermögen, die unsere Anthropologie die niederen und die höheren nennt. In Wirklichkeit geht es um das Wechselspiel zwischen den näher am Gegenüber wirkenden Sinnen mit den Fähigkeiten, Eindrücke wieder auf weitere Zusammenhänge zu beziehen. Der Verstand ist nicht als Korrekturleser der »niederen Vermögen« eingesetzt, sondern hat deren Eindrücke wiederum zu beziehen auf weitere Eindrücke, die nicht unmittelbar anwesend sind, aber auch auf abstraktere Kontexte, in denen ein Horizont zur Anwesenheit gebracht wird – in Vorstellungen, in Begriffen, in Mustern, Beziehungstypen. Einen solchen Kontext hat Henri Bergson zur typischen Funktion des Verstandes erklärt: die Selektion unter dem pragmatischen Kriterium, welche Wahrnehmungen dem gewohnten Alltagsleben dienlich sind, welche von der nützlichen Routine nur ablenken würden. Er sieht den Verstand unsere Lebensbewältigung sichern, indem nicht immer neu beachtet und bedacht wird, was ohnehin bekannt und bewährt ist. Neben der wütenden Askese der Verarmung aus Angst vor dem Leben und der wohltätigen zur Pflege der Sinne wäre hier von einer nützlichen Askese zu sprechen. Absehen von allem, was fraglos funktioniert. Bergson rühmt zugleich die Unfähigkeit der Künstler zu solchem Vorurteil. Und tatsächlich muss sich gegenwärtig Wahrnehmung selbst für das Überleben neu mit dem Gewohnten beschäftigen, vor allem mit dem gewohnheitsgemäß Ausgeblendeten. Kunst des Wahrnehmens. Und die wird 246 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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uns auf neue Weise problematisiert, wo keiner unserer Sinne uns warnt – besonders nicht vor der Strahlung von Radioaktivität.

Wie der Verstand die Wahrnehmung ruiniert hat Der Versuch, die physiologische Dimension an einigen ihrer Seiten zu untersuchen, hat bereits manche Erwähnung erforderlich gemacht, die physisch-chemisch-biologische Zusammenhänge im Ganzen des Menschen zu verstehen geben. Die eine der gegenwärtigen Modeauffassungen hätte nahe legen können, strenger molekularbiologisch zu argumentieren. Seit die Chemie zur Grundlage interdisziplinärer Forschung geworden ist, hat sich die Suche nach Erklärungsmodellen für das Zusammenspiel des Lebens wesentlich auf die Transmitterstoffe konzentriert. In Wahrheit ist diese Betrachtung für Erklärungen ungeeignet; vielmehr bietet sie eine neue, höchst interessante Strategie der Beschreibung von Vorgängen an. Wie »die Botschaft« transportiert wird, erklärt nicht, warum überhaupt eine »Botschaft« auf den Weg geht. Die Fragen werden, einmal mehr seit Descartes, auf die stofflichen Aspekte zusammengezogen, also insofern auf ihre manifesten Erscheinungsformen reduziert. Die Reduktionen, die sich dabei ergeben, erhalten, weil sie nicht als Beschreibungen, sondern wie Erklärungen gehandelt werden, den Status von Wirkmächten im Mythos. Der homerische Held, verwundet im Kampf um Troja, liegt, seiner Kräfte beraubt, zwischen Gefallenen und zerbrochenem Kriegsmaterial. Da vernimmt er die klagende Stimme des sterbenden Freundes und ist von dem Wunsch erfüllt, sich erheben und ihm beistehen zu können. In seiner Seelennot fleht er zu der Göttin, die mit ihm und den anderen Griechen ist. Athena. Und tatsächlich, sie hilft. Sie schickt seinen Knien neue Kräfte, so dass ihn die Beine zum Sterbenden tragen. Der Held im Zeitalter der Amphetamine und der Enkephaline sagt: Der Ansturm war ungeheuer, wir hatten keine Aussicht mehr durchzuhalten. Da kam der Adrenalinstoß, und wir schlugen sie alle zusammen. Warum eröffnen wir mit dieser Geschichte die Überlegungen über den Verstand? Ratio hat doch gerade die mythologischen Erklärungsformen aufgelöst. Sie ist nur noch lange nicht dieser Aufgabe angemessen gerecht geworden. An die Stelle einer früheren Bereitschaft der 247 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Menschen und ihrer Kulturen, sich in die Hände größerer, vielleicht höherer Mächte zu begeben, ist zunächst der Wille getreten, selber die Kontrolle zu übernehmen. Dazu ist die Analyse dessen, womit man es zu tun hat, z. B. der chemischen Äquivalente zu Stimmungen und Energieformen im Organismus, sehr nützlich. Wenn hier die Untersuchung von Kontext halt macht, weil bis dahin so schön benennbare und oft sogar irgendwie messbare Ergebnisse anfallen, dann kommt ein ganz anderes Moment der Versuchsanordnung zum Tragen. Der Verstand, der Kontrolle und Kommandogewalt verspricht, ist zu der Instanz erhoben worden, von der die Leistungen der Sinne abhängen sollen. Mental soll, und zwar rasch und effektiv, entschieden werden, wann die Wahrnehmungen verlässliche Daten liefern und wann sie in Täuschung führen. Sozusagen nebenbei, ist damit die Bezogenheit der Sinne auf die Seele aufgelöst und auf den Verstand umgepolt. Was hier mit der Seele gemeint sei, muss offen bleiben. Deutlich wird, worum es bei der Ablösung durch den Verstand geht, an einer Beobachtung der historischen Anthropologie – der Sozialgeschichte der Sinne. Dass der homo sapiens sapiens bereits seit seiner Aufrichtung als Zweibeiner mit greifend-fühlenden Händen die Fernsinne Gehör und Gesicht zu seinen hervorragenden Orientierungsorganen gemacht hat, braucht nur in Erinnerung gerufen zu werden. Betont werden muss hingegen, dass, darauf aufbauend, das mentale Zeitalter, wie Jean Gebser sagt, eine Hierarchie der Sinne offiziell etabliert, dass spätestens die Aufklärung sie deklariert und institutionalisiert hat. Wo Kant von den Sinnen als den niederen Vermögen im Gegensatz zum höheren Verstand spricht, hat Baumgarten die Fernsinne in den Status der höheren Sinne im Unterschied zu den niederen Nahsinnen Geschmack, Geruch, Gefühl erklärt. Damit ist freilich das Gesicht zusammen mit der Geometrisierung des Sehens – Vergleichbares ist für das Gehör nicht gelungen – beim Verstand in die Pflicht genommen worden. Während Anschauung schon früh an Sichtbarem festgemacht wird, führt die Erkenntnistheorie solch Sichtbares aus an dem Beispiel, das eigentlich vor allem gedacht ist: immer wieder die Figur des Dreiecks. Sie ist zugleich definitorisch klar, optisch einfach, das heißt, offensichtlich rekonstruierbar. Bis heute ist unser Sehvermögen immer mehr in den Dienst einer vestandesgemäß konstruierten Erkenntnis der Welt gestellt worden. Bis hin zum cyber space, wo die Augen Zeugen sein sollen dafür, dass da eine menschengemachte Realität an die Stelle der 248 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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zu komplex, vielleicht sogar chaotisch vorgefundenen tritt. Wie die altmodische, klassische Physik das Experiment zur Prüfung bzw. zur Demonstration spekulativ erarbeiteter »Naturgesetze« verlangte. Früh ist das Sehen in ein aktivistisches Schema geraten. Der Blick, in dem doch der Begegnende das Glück sucht zu versinken, wird in der Neuzeit als ausgesandter Strahl dargestellt. Dem Bedrohenden muss der Blick standhalten; das Ungewisse auf Gefahr prüfen. Diese Haltungen der Verteidigung hat aber eine Zivilisation im Schutz der Naturbeherrschung in die Offensive gekehrt. So trifft der Blick als Pfeil auf Gegenstände, um sie auf vorgegebene Figuren und Kriterien hin zu sondieren. Mag sein, dass diese Strategie ihr Vorbild gehabt hat im »Auge Gottes«, das mehr als kontrollierendes, strafendes zitiert worden ist. Die Ergonomie der Manufaktur, erst recht der Industrialisierung, Automatisierung hat die Kontrolle mechanisch auf Knöpfe und Signale von Armaturen gerichtet. Zwischen Mittelalter und Neuzeit setzte sich zudem die optische Form der Zentralperspektive durch, in deren Versuchsanordnung das zweite Auge nur stört, während das erste den Fluchtpunkt anpeilt. Das tiefenscharfe Sehen ist angelegt als eine grundlegende Figur der komplexeren Leistung unserer Sinne, die wir die Fähigkeit genannt haben, Beziehungen, Situationen aufzufassen. Die Aufgabe, das vorne Große mit dem Kleinen hinten in ein Verhältnis zu setzen, übernimmt aber im Schema der Zentralperspektive dessen Rekonstruktion von Situationen als Topographie, so dass es eben um vorn und hinten statt um das mir Nahe und mir Ferne geht. Im affektiven Sinne sind nah und fern gleichermaßen in die Distanz einer Rekonstruktion gerückt. Daran muss man denken, wenn man sagt, »das Auge« sieht. Dürer hat, als einer der ersten und mit europäischem Erfolg, zur Demonstration dieser Definition ein Auge einsam in den Strahlenursprungspunkt seiner Projektionsanleitungen gesetzt. Ein Auge, nicht zwei; und das Auge ohne den Menschen. Auf dem Vormarsch zur Optik, die so viel vom Sehen verdrängt hat. So hat der Gesichtssinn eine Rolle des Überwachens übernommen. Seine Gefangenen sind die Sinne, die niederen Vermögen, allesamt im Arbeitshaus des Verstandes. Das Gesicht ist unter ihnen zum Kalfaktor, also zu jemandem, der für die Aufseher Hilfsdienste leistet, avanciert. Deshalb dürfen wir, wenn wir »die greifende Hand« wieder befreien zum Tasten und Fühlen, aber nicht versäumen, auch das Sehen aus seiner Kommandorolle im »Auge-Hand-Feld« zu befreien. Wir haben uns gefragt, was mit der Seele gemeint sein könnte, die 249 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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abgelöst wurde durch den Verstand in der Aufgabe, den Sinnen die Partnerin zu sein, die dem immer Hiesigen und Jetzigen ihrer Eindrücke den Horizont der Einordnung und die Beziehungen auf das Entfernte, das Abwesende vermittelt. Seele als Instanz zu definieren, wird immer fehlschlagen. Von bestimmten Funktionen her wird sie uns deutlicher; Funktionen, die immer etwas mit einem Verwandeln zu tun haben, einem Umsetzen. Wo im menschlichen Leib die verschiedenen Kulturen »den Sitz der Seele« vermuten, davon spricht eine Fülle von Metaphern in einleuchtender Korrespondenz zu den physiologischen Organen. Atem und Herz, Leber und Geschlecht, um nur einige zu nennen, sind exemplarisch für den Stoffwechsel, den Austausch, die Vermittlung. Für unser Sehen, das wie alle anderen Sinne auf eine verwandte Weise zu den Organen solchen Austauschs, solcher Vermittlung gehört, ist entscheidend, wie das Bild, also das, was wir sehen, begriffen wird. Dafür aber ist in der abendländischen Kulturgeschichte entscheidend die Platosche Lehre von den Ideen geworden. Das Wort, eı7dolon oder ı3déa, kommt zwar vom Sehen, gedacht werden die Ideen bei Plato aber gerade in einem entscheidenden Gegensatz zum Sehen unseres Sinnes. Sie gelten als die unvergänglichen und unerreichbaren Essenzen. Eigentlich müsste unser Wort Inbild ins Spiel kommen vom Metaphorischen her; tatsächlich trifft der Inbegriff die Sache viel besser. Die Ideen werden in solcher Perfektion gedacht, dass alle wirklichen Erscheinungen nur auf sie hinweisen, an sie erinnern können wie Abbilder. Diese Abbildhaftigkeit ist erkenntnistheoretisch und entzieht unseren Sinnesleistungen, allen voran unseren sehenden Wahrnehmungen, ihre ureigenste Daseinsweise. Fixiert auf die erkenntnistheoretische Autorität einer absoluten Wahrheit, sind wir dem existenziellen Zusammenspiel mit unserer wirklichen Mitwelt wesentlich entzogen. Ich stimme in dieser Kritik dem Votum von Gottfried Boehm gegen die Plato’sche Lehre zu, die letzten Endes allen Wahrnehmungen ihre eigenen Beziehungen auf ein Wahres nimmt. Goethe hatte uns das längst mit dem Eintreten für den »wahren Schein« gelehrt. »Wie wahr, wie seiend.« Die gesamte Wahrnehmungsgeschichte der Moderne, mit der mittelalterlich scholastischen wie der aufklärerischen Rationalisierung, hat den Sinnen ihre eigene Bezogenheit auf Wahres genommen. Zusammen mit deren eigenen Bedingtheiten und Begrenztheiten. Manche Wiederentdeckung der Sinne hat eben darum ihrerseits keine Vorstellungen von diesen Bedingungen und Grenzen und propagiert 250 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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gewissermaßen Sinnlichkeit pur. Noch in solcher Negation ist die Absolutheit traurig am Werk. Es gilt, das Absolute zu verabschieden. Das ist mit Schmerzen und Mühen verbunden, weil es für die ängstliche Sehnsucht nach absoluter Gewissheit stand. Das Gegenteil ist aber nicht die so gefürchtete absolute Ungewissheit. Vielmehr ist gefordert, abzuwägen, wie viel sich vom Gegenüber in uns zeigt, wenn wir die Begegnung aufnehmen. Wie viel von uns selber sich dabei zeigt. Wie viel von Verwandtschaft zwischen unseren Organen als unserer inneren Natur und denen der äußeren uns gegenüber sich zeigt. Co-existenz verlangt dies von uns, in jedem Augenblick neu. »Les correspondances de l’esprit et des sens« laden uns dazu ein, wie Baudelaire es gegen die herrschenden Lehren und Praktiken in einer Gedichtssammlung unter dem traurig-trotzigen Titel »Die Blumen des Bösen« uns übermittelt hat. Humberto Maturana hat seine nüchterne Feststellung, dass alle Existenz Co-existenz ist, längst übertroffen mit der Aufforderung zu einer »biology of love – amor«. Für die lange und vielschichtig rigorose Geschichte der Ruinierung der Wahrnehmung durch Fron und stumpfsinnigen Verschleiß menschlicher Vermögen für entfremdete mechanische, repetitive Arbeit verweise ich auf die Kapitel meiner »Ökonomie des Lebens«. Hier sei eine Untersuchung der Semantik angeschlossen, die eigentlich zum Feld des Verstandes gehört, aber so viel expliziten Einfluss auf unser Gewahren und Vernehmen zugunsten des Registrierens ausübt, dass man sich eigens mit ihr auseinandersetzen muss, zumal dieser Einfluss gar nicht angemessen bemerkt wird, auch nicht so unmittelbar ins Auge fällt wie z. B. die Zerstörung von Rhythmus, innerer Bewegung, Sensibilität durch die Industriearbeit. Die semantischen Betrachtungsweisen beschäftigen sich zunächst nicht mit Fragen des Wahrnehmens, sondern damit, wie wir was mitteilen. Sie gehen aus von Ferdinand de Saussures Analyse, nach der Worte den Transport einer Bedeutung übernehmen, signifiant, und hinter ihnen eine Bedeutung steht, signifié. Auf Wahrnehmungen angewendet, wird dann die Begegnung im Hin und Wider zwischen meinem Gegenüber und mir verkürzt auf den einmaligen Akt. Vom Gegenstand geht ein Signal aus; der Verstand registriert und kontrolliert dessen Inhalt. Wenn dieser, zweifellos wichtige, Aspekt ganz die Aufmerksamkeit beherrscht, geht ein Bewusstsein dafür verloren, dass jede Wahrnehmung von alleine in mir zur Begegnung wird und nur 251 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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als ein Zusammen-, ein Wechselspiel zu verstehen sein kann. Außerdem kann die unter Umständen sinnvolle Unterscheidung zwischen dem Gemeinten und dem Bedeutungsträger sich verselbständigen. Gerade in einer Kultur, die wie selbstverständlich von der Platoschen Trennung in Idee und Erscheinung geprägt ist, werden schnell die Bedeutungsträger nach dem Modell einer Realität aus Abbildern, Erscheinungen, ihres eigenen Interesses entkleidet wie Spielmarken. Hinzu kommt eine Abkehr von der Metaphysik, die aber nicht im Sinne unserer Kritik an der Ideenlehre, sondern positivistisch darauf angelegt ist, in den Abbildern greifbare, benennbare Feststellungen über Realität zu suchen. Der moderne Ausdruck Information ist so an die Stelle der Bedeutung getreten. Das hat mit Saussure nur noch sehr wenig zu tun. Vielmehr hat sich eine Erklärungsfigur des Behaviorismus dazwischengeschoben, die, einmal mehr, in Wahrheit eine Beschreibung ist, und zwar eine äußerst oberflächliche. Sie ist auf gewisse sichtbare Momente des komplexen Geschehens einer Wahrnehmung konzentriert und schafft sich den Rest vom Halse, den sie nur mühsam und wirr findet, den wir als die Dimension des Gewahrens schätzen – mitgeteilte »Botschaft«, wie es heißt, und Gewahren verhalten sich etwa so zueinander wie Inhalt und Gehalt, eine Tatsache und ihr situativer Bedeutungskontext. Die behavioristische Figur läuft unter der Bezeichnung »Sender-Empfänger-Modell« und ist so verbreitet, dass sie gemeinhin kaum noch ernstlich befragt wird. Wenn Wahrnehmungen nur auf die Informationen hin betrachtet werden, die ein Subjekt da über seine Objekte erhält, sind die Sinne zu Erfüllungsgehilfen des Verstandes für erkenntnistheoretische Pflichten herabgesetzt. Die jeweilige Gegenwart ist dann nicht mehr Glied der Geschichten von co-existence. Sie wird behandelt wie das Verhältnis eines Apparates, der Morsezeichen ausschickt, zu dem Apparat, der sie irgendwann auffängt und hörbar macht. Dann ist die existenzielle Dimension in Rente geschickt. Der Mitwelt ist gekündigt. Wilhelm Busch schließt die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe mit der Zeile »Er liest in der Kölnischen Zeitung und teilt ihr das Nötige mit.«

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Psychologische Sackgassen Das Grundproblem entsprechender psychologischer Erklärungsstrategien für die Wahrnehmung dürfte darin liegen, dass sie unser Wahrnehmen als ein Verhältnis von außen zu außen definieren. Die Selbstwahrnehmung unseres eigenen Innern haben wir, dem gegenüber, bereits als Bedingung für das Wahrnehmungsspiel wieder eingeführt, in dem nach konventioneller Auffassung einziger »Gegenstand« des Wahrnehmens ein Gegenüber ist. Die Forderung, dies zu erkennen und anzuerkennen, hat zwar ihre hohe ethische Bedeutung. Sie folgt aber soweit aus einer logischen Vergegenwärtigung des Zusammenhanges. Selbstverständlich ist keine deduktive Logik gemeint, erst recht nicht das Regelwerk der Syllogistik. Es geht nicht um Ursache-Wirkungsketten als solche, die immer wieder in psychologischen Theorien zum Vorbild gemacht worden sind. Ich nenne es eine Konstitutionslogik. Sie hilft uns, zu untersuchen, wie eine Entstehungsgeschichte zu gegenwärtigen Strukturen, besser, Organen geführt hat; wie weit dabei diese in sich differenziert haben ausgebildet werden können, um entsprechend Differenziertes angemessen wahrnehmen zu können. Die wesentlichen Kategorien sind Möglichkeiten und Bedingungen. Gefragt wird danach, welche weiteren Beziehungen möglich geworden sind auf Grund der Entwicklungsschritte bis hierher und welche Grenzen dabei mitgesetzt wurden, welche Ausweitungen nicht mit der Bildungsgeschichte vereinbar sein können. Wir könnten dies als eine aristotelische Art von Dialektik begreifen. Im Zuge einer e3nérgeia entsteht ein o7rganon und wird eine entsprechende dy´namis freigesetzt, durch ein Ins-Werk-setzen entsteht ein Werkzeug mit seinen spezifischen Möglichkeiten. Für unsere Frage heißt das: Welche innere Komplexität hat ein Zusammenspiel erreicht, um eine äußere mit vollziehen zu können? Wir haben bereits unsere Aufmerksamkeit auf die inneren Bewegungen gerichtet, in denen Wahrnehmung nach außen bedingt und begründet ist. Wir haben dies zunächst physiologisch eingeführt. Zweifellos ist die eigenste Leistung für das Wahrnehmen, die wir seelisch nennen sollten, in der Gegendimension angesiedelt zu den Aspekten, die wir ein Außenverhältnis nennen können. Die Gegendimension ist jedoch nicht, wie oft und kritisch vermeint wird, die reine Innerlichkeit. Man soll sich darunter offenbar vorstellen, dass Wahrnehmungen, durchaus im Stil von Informationen, im seelischen Innern eigene 253 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Vorgänge auslösen, die vermutlich Emotionen genannt werden müssten. Dergleichen kommt vor, ist aber vom Wahrnehmen zu unterscheiden. Was mir hier wesentlich für die Wahrnehmung selber zu sein scheint, ist eine sich in ihr – zusammen mit Feststellungen, Daten, Verifizier- und Falsifizierbarem – bildende Beziehung zwischen dem Innern des Gegenübers und dem Innern des Wahrnehmenden. Es ist die besondere Gegenwart und Wirklichkeit des allgemeinen Mitseins mit Mitwelt, gerichtet in dieser Beziehung jetzt zwischen diesem Gegenüber und mir. Zur Anschauung eignen sich Erfahrungen des Distanzsinnes Gesicht weniger eindrucksvoll als die anderer Sinne. Jenseits aller einschlägigen Klischees hat Léopold Sedar Senghor die afrikanischen Kulturen essentiell aus dem Rhythmischen zu verstehen gegeben. Darin ist er mit vielen auch seiner Kritiker einig. Ein Weg der Wahrnehmung durch die Sinne kann sogar zu eigenen Formen von Erkenntnis führen. Voraussetzung ist ein Bewusstsein, eher ein bewusstes Sein etwa im eigenen Rhythmus. Dieser wird oft zu einem besonderen Ausdruck im Tanz drängen. Doch selbst ohne jede sichtbare Bewegung des Körpers setzt er sich stetig fort als ein inneres Schwingen. Bewusst kann dies nur im Sinne eines tiefen, tragenden Gespürs sein. Es hat nichts mit dem Abzählen von Schlägen, mit der Definition von vollen und leeren Zeiten zu tun. In solchem Schwingen werden mich alle Begegnungen entweder verstärkend oder verändernd oder verstörend treffen. Über das Gegenüber werde ich so kaum Daten empfangen; umso wesentlicher wird sich mir etwas vom Charakter seiner Energien und von der Intensität seiner Bewegtheit mitteilen. Erst in einem solchen lebhaften Zusammenhang hat es einen Sinn, von Mimesis zu sprechen. Sie darf nicht verwechselt werden mit dem Nachäffen, das zustande kommt, indem ein statisches Erscheinungsbild körperlich rekonstruiert wird. Wenn wir »lebende Bilder« stellen, arbeiten wir zwar mit dieser Technik; aber gelingen können auch sie nur, sobald uns etwas vom Vorbild als innere Bewegung erfasst. Erst recht verdient den Namen Mimesis ein Vorgang, in dem – vielleicht mit einem Bild zusammen, vielleicht in der Vorstellung, vielleicht auch im spontanen Mittun – eine innere Bewegtheit von einem Gegenüber ansteckend auf uns übergeht und uns in verwandte Bewegungen zieht, die immer Ausdruck sein werden, nicht Daten oder Feststellungen. Wir erleben staunend, wie sich an uns etwas vollzieht und zum Ausdruck eines Anderen wird. Lässt sich Mimesis gegen Eros ab254 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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grenzen? Vielleicht ist in der Erotik die Wechselseitigkeit noch nachdrücklicher betont.

Wahrnehmung durch Pornographie ruiniert Als ich mich vor drei Jahrzehnten daran begab, die Leiblichkeit in den westlichen Gesellschaften aus der Zange von übler Moral und rücksichtloser Vernutzung zu befreien, in der »Naturbeherrschung am Menschen«, war das Wort Leib derart unvertraut geworden, dass ich noch beim üblichen Körper blieb. Inzwischen sind Leib und Sinne in aller Munde. Jede Menge und jede Art von Geschäften lässt sich mit ihnen machen. So hatte ich, durch die Entdeckung der Za-Zen-Übungen bewegt, mir die Befreiung nicht gedacht. In den Sitz- und Atemübungen machen wir, so gut wir können, den Leib frei von allen Besetzungen, die eine krampfhaft gespannte Gesellschaftsumgebung und eine unaufgelöste Lebensgeschichte vorgenommen haben. Das kann, auch nur ansatzweise, einzig gelingen, soweit diese Befreiung schon den Vorgeschmack einer sich erfüllenden Freiheit auf die Lippen bringt wie Meeresluft das Salz. In der Lösung der eigenen Verspannungen werden zugleich die Spannungen aufgerichteter Haltung aufgebaut und die stoffliche Schwere an die Erde abgegeben, auf der unsere Glieder, unser Rumpf aufruhen können. So zieht eine bewegte Ruhe, ein leichtes Aufwachsen im Sitz, ein friedreiches Getragensein in uns ein, nein, eigentlich eben durch uns hindurch. Es ist nicht hier oder dort, es ereignet sich in diesem Augenblick nur gerade da, wo ich es spüre, mit vollziehe und auch mit meinem Bewusstsein begleite, einem stillen Bewusstsein. Ich spreche von der Transparenz des Leibes und von der Transzendenz, der wir gerade »am Leitfaden des Leibes« zugehören. Die »Befreiungen« dieser Jahrzehnte haben sich keineswegs auf diese Parameter zubewegt. Sie haben vielmehr die strategischen Irrtümer der Vergangenheit zwar umgekehrt, aber weiter zu ihren Wegweisern gemacht. Tabus werden mit beliebiger Freigabe und Vernachlässigung mit Leistungssport beantwortet. Beides im Stil von Spaß, der dem Mangel an Lebensfreude entgegengestellt wird. Pornographie ist die Geschichte der Verfügung über den Leib, die der Lust diese oder jene Resultate verspricht. Genau dies tut die Spaßgesellschaft. Nicht etwa ist ein erotisches Leben der Berührungen und 255 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Ahnungen, der Begegnungen und Erregungen gemeint. Die Spaßinszenierung fängt da an, wo der Spaß aufhört, mit dem Begehrten. Das Begehren führt nicht zu ihm, sondern wird von ihm abgeleitet. Produkt ohne productio, dieses entfaltende Hervorbringen, Schritt um Schritt, das in jeder seiner Phasen ein Gewinn, ein Streben und eine Erfüllung in sich ist. Stattdessen heißt das Programm »Sex pur«, auch wenn es ihn nur happenweise oder gar nicht gibt. In der Erotik sind sinnenhaftes und sinnliches Erleben nicht zu trennen, ohne dass man wüsste, wohin die Reise noch gehen wird. Im erotischen Geschehen heißt die Frage: Was wird denn das? Und die Antwort lautet: Das ist schon etwas. Jeder Augenblick von Gegenwart löst etwas ein, das Pornographie nur zur Erwartung macht. Über Sexualität zu sprechen, bedeutet, das bis zur Unkenntlichkeit eindeutig Gemachte aus seinen Beziehungsfeldern neu zu gewinnen. Eine Resonanz wie alles Leben, mit besonderen Reizen. Eine Verbindung von Energien wie alles Leben, in besonderen Richtungen zwischen Hingabe und Eroberung und dem Wiederfinden des wissenden Gefühls, eigentlich eins sein zu dürfen mit dem Anderen, das wir eben als Anderes brauchen. In diesem Feld, auf diesen Wegen sind die Wahrnehmungen unsere Führer und unsere Belohnungen und unsere Warnungen in den Feiern der Sinne, die endlich der Seele ebenso zugehören wie dem Fleisch in seiner köstlichsten Lebendigkeit. Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht so klingt, ich spreche nicht von irgendeinem tollen Rausch, der aufbraust und weg ist. Unendlich viele Informationen sind im Spiel. Sie werden nur nicht abgelöst von den Beziehungen, in denen sie gegeben und gewonnen werden. Sie sind nicht einsetzbar, ohne dass wir uns dieser Situation erinnern, am besten im Innersten unserer Fingerspitzen oder im Rhythmus unseres Atmens, und ohne dass wir behutsam und deutlich suchen, wie sie nun zu übertragen, zu verändern sind. All das durchkreuzt Pornographie im Kurzschluss, wie der Schuss auf das Wild, das dem Jäger gleichgültig ist. Wie der Axthieb, der den Klotz zerhackt, ohne im Spalten den Fasern des Holzes nachzuspüren. Wie der Angler, der den Kick registriert, dass der zappelnde Fisch ihm gehört. Pornographisches kann freilich auch die Sinne wecken und zu Beobachtungen, selbst in Gestimmtheiten führen – dann aber in einem anderen Umgang. Wenn wir zulassen, dass Wahrnehmung ihren Gesetzen, nicht denen einer Absicht folgt, verwandeln unsere Sinne unser Empfinden und Bewusstsein von selbst. Wir müssen nur die Quellen 256 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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der Aufmerksamkeit bereithalten. Einige Jahre habe ich selber die klassische leçon beim Ballettmeister geübt, um Positionen und Repertoire der »Geometrisierung des Menschen« nicht nur vom Papier und der Bühne kennenzulernen. Meine Entdeckungen davon, wie ein Leib noch die mechanischsten Anforderungen in seine Rhythmen verwandeln oder wenigstens mit ihnen umkleiden kann, haben mehrere Hefte gefüllt. Als man nach den Exerziervorschriften, nach denen Foucault den militärischen Leib des 17. Jahrhunderts rekonstruiert hat, auszuführen versuchte, zeigte sich, dass offensichtlich die Praxis anders aussah. Die Soldaten haben die Vorgaben mit dem Wissen des Leibes von seinen eigenen Möglichkeiten und Bedingungen versetzt, sonst wäre ihnen das Blut in den Adern stehen geblieben. Und immer wieder Marianne Herzogs Bericht von den Akkordarbeiterinnen. Sie bezeugt, was niemand wissen will, die Erfindung einer fliegenden Bewegung der Arme zwischen zwei über die Massen sie spannenden Takten an der Maschine. Ohne dies würden Takt und Überspannung weder Leistung noch das Überleben zulassen. Die Kunst der Wahrnehmung hat viel zu entdecken.

Was bedeutet Wahrnehmung als Begegnung? Gerade im Erotischen wird immer wieder evident, dass wir am Gleichen nicht Wiederholung erleben. Was sich wiederholen lässt, dasselbe, muss von den Spannungen und Öffnungen der jeweils anderen Situation eingeschmolzen werden, um neu geformt aus ihr hervorzutreten, oder aber es zerstört die Möglichkeiten der Gegenwart. Das sollte am Problem des pornographischen Programms verständlich werden. Wesentlich darum geht es dem Arzt, Physiologen, Erkenntnistheoretiker Alfred Prinz Auersperg in der Fortsetzung Viktor von Weizsäckers und dessen Gestaltkreises. Ihm habe ich »Vermutungen für eine Wahrnehmungsphilosophie« gewidmet. Zwei Betrachtungen müssen von dort wieder aufgegriffen werden. Die eine kreist eben um die Frage, was wir neu nennen wollen. Die andere ist unserem Verständnis von Zeit zu widmen. Bergson hat von der gestischen Einheit einer Melodie gesprochen oder einer Handbewegung. Sie seien unteilbar. Auersperg hat dies erläutert, etwa mit der Aufforderung, uns bei dem Geschehen nicht für nebeneinander oder aber nacheinander zu entscheiden, wie es Kants 257 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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»transzendentale Ästhetik« vorschlägt. Wie soll dies aber geschehen? Eine Deutungsfigur von Freud hat eigentlich den Weg dahin vorbereitet. Die Nachträglichkeit. Rückwirkend kann ein spätes Geschehen die Wirkung eines früheren noch verändern und damit dessen Wirklichkeit. Der erste Kuss wird im Laufe eines Lebens etwas sehr Anderes sein, wenn er der einzige bleibt oder wenn weitere ihn zum Eingangstor ihrer Entdeckungen werden lassen. Auersperg macht auch den Versuch, dies mit verschiedenen Qualitäten zu benennen, die sich einander steigernden Intensitäten, wir könnten im weitesten Sinne sagen, von Reflexion verdanken. Er sagt Leben, erlebendes Leben und erlebt erlebendes Leben. Eine Stärke innerer Resonanz baut sich auf, wachgerufen durch Eindrücke, Einladungen, Forderungen von außen, die in irgendeiner Weise auf einander antworten. Dadurch entsteht dann eine Intensität eines diese Stufen integrierenden Zusammenspiels. Sinnenbewusstsein. Darin werden wir fähig, auch ein ebenso intensives Zusammenspiel von Momenten einer uns begegnenden Konstellation zu gewahren, nämlich gleichzeitig integrierend und ebenso differenzierend aufzunehmen. Der Gestaltkreisgedanke gibt dies ganz entschieden zeitlich zu verstehen. Wir sind gewohnt zu meinen, ein Reiz trifft uns, und das Auge, das Ohr oder ein anderes Organ hat eine Reaktion. Dies kann aber nur in Fällen einer bestimmten Reduktion das sein, womit wir es zu tun haben. Von Wahrnehmung kann eigentlich erst die Rede sein, wo die Reaktion aus der ersten punktuellen Information eine Rückfrage macht, die zu dem Gegenüber wieder hingeht – und dies in einer vielfachen Folge. So tastet z. B. unser Blick in ungezählten Operationen, die eine auf den Eindruck der anderen aufbauen, ein Sehfeld ab. Das heißt, da, wo mehr Unterschied sich bietet, werden die Rückblicke umso öfter aufzunehmen suchen, wie sich dieser genauer bestimmen lässt. Weizsäcker hat systematisch in solche Folge das Moment des Abreißens eingefügt. Erst wenn im Zuge unseres Rückfragens das Gegenüber sich uns entzieht, kommt unser Bewusstsein so ins Spiel, dass wir die Situation wiederherzustellen versuchen. Wir folgen z. B. dem auffliegenden Vogel mit Bewegungen erst der Augen, dann des sich wendenden Kopfes, dann laufen wir womöglich ihm nach. Wenn wir so durch die Zerreißung hindurch uns das Gegenüber wiedergewinnen, ist deutlich genug die Qualität der Begegnung erreicht. Begegnung meint ein existenzielles Getroffensein; aber sie lässt sich durchaus in ihren Momenten beschreiben. 258 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Sie lässt sich als Begegnung, als Wahrnehmung verstehen, nur nicht auf isoliert Feststellbares reduzieren. Dies ist eine praktische Seite unseres Einspruchs gegen ein Absolutes. Wir können wohl von der Wahrheit sprechen, die es aufzunehmen gilt. »Wir müssen nur anzunehmen bereit sein«, sagte ich in meinen »Vermutungen«, »dass Wahrheit nicht zeitlos zu gewinnen ist. Wahres ist nicht für uns als Untätige da. Wir müssen vielmehr das Wahre als den Zusammenhang von Phänomenen – den Aspekten eines Phänomens – wahrnehmen, die wir nicht synchron erkennen.« Wir setzen auch nicht, jedenfalls nicht nur, das Bild aus Teilabbildungen zusammen. Das Bild gibt sich uns zugleich auch außerhalb der Abfolge von Zeiteinheiten. Und es gibt sich uns als denen, die wir eine Geschichte mitbringen und mit dem Gegenüber in einer je anderen Beziehungskonstellation uns befinden. Auersperg hält in »Landschaft und Gegenstand« fest: »Die nach dieser Methode vorgenommenen Experimente machen deutlich, dass der wahrgenommene bewegte Gegenstand nur als Ergebnis eines kompositionellen Aktes, eines Aktes der Vergegenwärtigung reiz-korrelativ successiver Phasen verstanden werden kann.« Vergegenwärtigung heißt, in einer Wahrnehmung werden in der Vergangenheit Aufgenommenes, jetzt sich Einprägendes und Ahnungen künftig sich daraus abzeichnender Bilder in einer Gegenwart zusammengebracht. Darin wird noch das Bekannteste der Elemente zum Moment eines Neuen. Diese physiologisch begründete Einsicht ist sehr nahe an der Philosophie Walter Benjamins. Neu ist also kein Gegenbegriff zu einer zeitlosen Identität, wie sie die herrschende identifikatorische Logik voraussetzt. Wenn mit dieser Logik unser Verstand die Wahrnehmung einsetzen will, um das Bekannte als bekannt wiederzuerkennen, ist das Neue dadurch definiert, dass es in dieses Erkennungsmuster nicht passt. Die Qualität von Neuheit dagegen, an der unsere Sinne und durch sie unser ganzes Sinnenbewusstsein ins Zwischen, ins Interesse gezogen werden, die uns ansteckt mit den Energien des Hin und Wider im Vorgang, die wir an den Resonanzen in uns spüren können, dieses Neue ist vielleicht das älteste Bekannte im Einmaligen seines gegenwärtigen sich Ereignens oder das Unbekannte vor dem Horizont des Bekannten. Neu heißt immer, in welcher Konstellation sich ein Gegenüber, selber in dieser Korrespondenz, zeigt. Das Wahre der Wahrnehmung ist so augenblicklich wie dauernd und so mit dem Wahrnehmen verbunden. Vor Gebrauch schütteln. Bedingt haltbar. 259 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ZWISCHENSPIEL CELEBRATION UND ERSCHRECKEN

Unsere Sinne vermögen das Neue gegenüber dem Bekannten wahrzunehmen, unser Verstand kann beide Seiten erkennen sowie unterscheiden und vergleichen, unsere Vernunft fordert dieses Wechselspiel, in dem sie sich stärkt und weitet. Zu denken bedeutet, dieses Wechselspiel bewusst zu vollziehen und ihm bestimmte Formen zu geben. Auch die Künste, vor allem der Tanz, bewegen sich in diesem Spannungsfeld. Ihre Fragen und Antworten leben im Medium des Gestischen, übersetzen Momente des Verstandesmäßigen und der Vernunft in sinnliche Gestaltungen oder lassen sie in den Gesten entstehen. Wir nennen das sinnfällig. Die besondere Aufmerksamkeit für solche Bewegungen und das, was in ihnen zum Ausdruck kommt, wird durch die Haltung erzeugt, die wir mit John Cage celebration nennen. Wir meinen damit ein Bewusstsein, in dem ein Vorgang, eine Handlung, ein Gewahrwerden so eigens gesetzt werden, dass sie sich zugleich als ein Schritt in unserem Leben und als Symbol vollziehen. Sie laden dazu ein, sie zu transzendieren oder, besser, ihre Übergänge ins Transzendente zuzulassen, einzulassen. Formen zeigen sich vorwiegend in dem, wie diese Vorgänge sich manifestieren. Bestimmte Traditionen halten formale Ausgangspunkte bereit, zum Beispiel die Schritte des klassischen indischen Tanzes barata natyam, des klassisch-romantischen Balletts oder eines afrikanischen Tanzens, etwa die Bewegungsfolgen der alten ruandesischen Schule. Zur Geste im Sinne der celebration werden sie jedoch erst, sobald sie helfen, einen neuen Kontext zu bilden, neu im Sinne von hier und jetzt. Darin sind sie den rituellen Handlungen verwandt, die mythologische oder religiöse Zusammenhänge vergegenwärtigen. Im Denken sind es bestimmte Formen, die provozieren und disziplinieren, wie wir bestimmte Fragen, Zusammenhänge, Situationen zu fassen versuchen. Klarheit will sich an nachvollziehbaren Strukturen überprüfen lassen. Dafür trägt in der abendländischen Tradition 260 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Zwischenspiel: Celeration- und Erschrecken

Sorge zunächst einmal, was konventionell unter aristotelischer Logik verstanden wird. Exemplarisch für eine andere Struktur ist die Hegelsche Dialektik zu betrachten, die den Gestus der Bewegung zu ihrem Prinzip macht. Deren Systematik erlaubt jedoch, insbesondere in den Phasen der Aufhebung ins »Allgemeine«, für das Beziehungsgeschehen einen nur begrenzten Spielraum. Da unser Denken auch in den alltäglichen Gewohnheiten bis in den sogenannten »gesunden Menschenverstand« von jenen Strukturen geprägt ist, wird die Frage nach anderen Denkformen, vielleicht sollten wir sagen, anderen Figuren des Denkens zu einem Problem unserer Beziehungen zur Welt, zu einander und zu uns selbst, eben weit über jeden Streit zwischen philosophischen Richtungen hinaus, ganz grundlegend. Nicht nur die zeitlichräumlichen, sinnlichen Momente unserer Existenz sind angemessen ins Spiel zu bringen. Das Zwischen, das wir in vielfältigen Feldern deutlich zu machen versucht haben, braucht eigene Weisen der Reflexion. Das Üben und seine Wege dürfen nicht allein Gegenstand von Prozessen des Denkens sein, sondern müssen dessen Gestus selber bestimmen, wie es auf eine Weise die Platosche Dialektik tut, die deshalb auch eine pädagogische genannt wird. Die »negative Dialektik« Adornos wendet diese Figur radikal noch einmal auf das Denken selber zurück, in dem sie fordert, dann auch auf das zu reflektieren, was sich der »Arbeit des Begriffs« immer noch entzieht, das »Nicht-Identische«. Gadamer hat dies implizit zur Forderung gemacht, indem er feststellt, dass eben alles Wissen durch die Frage hindurchgehen muss. Sein Konzept der »Wirkungsgeschichte« gibt auf, sich den Durchdringungen verschiedener Geschichten zu stellen, also von dieser Seite her Definitionen in Frage zu stellen und eher Konstellationen nachzugehen, wie Walter Benjamin sagt. Jeanne Herschs Philosophie der Transzendenz gehört dazu, die über keine Transzendenz etwas auszusagen bereit ist, vielmehr zu ihr hinführt – in der Geste des »philosophischen Staunens«. Nietzsche inszeniert die »Überwindung des Allzumenschlichen« als Erschrecken. Diese Figur finden wir ebenso radikal als Kern und Keim, wo europäisches Tanzen zur Kunstform Tanz sich erhoben hat.

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VI. TANZ

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PHILOSOPHIEREN ALS TANZ – NIETZSCHE

Für das Sommersemester 1997 kündigte ich ein Seminar zu Friedrich Nietzsches »Also sprach Zarathustra« an: »Jenseits von Schluss und Dialektik«. Überdeutlich fügte ich hinzu, worum es mir bei der Lektüre dieses Textes im besonderen ging: »Tanz als Form des Denkens«. Die Veranstaltung sollte insofern einen ausgesprochen experimentellen Charakter haben, als mit diesem Vorschlag der große, jedenfalls im konventionellen Verständnis ganz unsystematische Text sich gerade dadurch erschließen könnte, dass er mit der Frage nach einer unentdeckten Denkform gelesen würde; insofern also systematisch. Zwar ist das Wagnis einer solchen Vermutung offensichtlich; doch wurde es selbstverständlich nicht ganz unvorbereitet eingegangen. Zwei Jahre zuvor hatte man mich aus Weimar gebeten, für eines der Nietzsche-Symposien dort einen Vortrag zum Tanz-Motiv im »Zarathustra« zu halten. Als Anhaltspunkt wurde der Seiltänzer genannt. Dies halte ich nun für ein Missverständnis, wenn man wirklich an die Figur des Tanzes denkt, wie ich sie bis in die Entstehungszeit des europäischen Kunsttanzes im Quattrocento zurückverfolgt habe. Gleichzeitig hätte es fruchtbarer nicht sein können. Ich las »das Buch für keinen und alle« wieder, mit der Aufmerksamkeit auf Sinn und Bewegung. Einmal stellt sich dabei das Werk dar wie ein Bildungsroman, in dem die Wege und Orte des Helden bedeutungsvoll von seiner Bildungsgeschichte sprechen. Sie ergeben im Falle des »Zarathustra« geradezu eine Art von Choreographie mit engen Bezügen und aufschlussreichen Bildanalogien zu den Phasen des sich wandelnden Lebens und der reifenden »Propheten«gestalt. Diesem Grundeindruck konnte das Seminar nachgehen. Mehrere studentische Beiträge haben ihn durchgängig verdeutlicht und bis in Einzelheiten ausgearbeitet. Dabei sind wesentliche gedankliche Deutungen und unerwartete Einsichten in die stilistische Spracharbeit Nietzsches zu Tage getreten. 265 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Tanz

Erst bei einer weiteren Lektüre hatte ich selber wahrgenommen, in wie außerordentlich großer Zahl die Worte Tanz, tanzen, tanzend, tänzerisch den gesamten Text durchziehen. Bei eingehenderer Aufmerksamkeit wird deutlich, dass Tanz geradezu wesentliche Stellen, wenn nicht die wesentlichen, bezeichnet, ja Nietzsche lässt seinen Zarathustra sich als den Tanzenden überhaupt charakterisieren. Eine zweite Gruppe von Studierenden hat sich für diese Beobachtungen interessiert. Dabei ist eine überwältigende Sammlung von Stellen zustande gekommen, und, sehr viel wichtiger, wird in vielen Abwandlungen des Tanzens von wörtlich der rhythmischen Bewegung der Glieder bis hin zum sinnenhaft und geistig sich vollziehenden Elan des Überwindens des »Geistes der Schwere« das Wesen von Wandlung spürbar gemacht. Da wir einmal begonnen hatten, Nietzsches Werk auch mit der Aufmerksamkeit auf die literarische Arbeit an einem Roman zu betrachten, mussten neben den Wegen und Orten auch die Zeiten, die Tageszeiten einer ähnlich genauen Untersuchung unterzogen werden. Dass »der große Mittag« eine Metapher von größtem Rang darstellt, ist ohnehin gewiss. Ihre philosophische Deutung gehört selbstverständlich zu den Aufgaben der Lektüre. Eingebettet in die lange Folge durchgängig erwogener Zeitangaben und -beschreibungen oder auch ihr konfrontiert, erschließt sie mit den vielen weiteren sich ergebenden Metaphern eine eigene Dimension gewissermaßen choreographischer Qualität, die eine dritte Gruppe ans Licht gezogen hat. Jede dieser Linien hat unsere Versuche des Verstehens auf eine eigene Weise tief in den Gehalt des Werkes hineingeführt. Sie alle folgen, an einem je anderen roten Faden, dem Gestus dessen, worum es Nietzsche geht und wie er dies durch die Stationen einer aphoristischen Erzählung zu vollziehen gibt. Es sind jeweils Gesten, Gesten also der Bewegung, die zu Bewegungen des Wandels auffordern und diese im Vorbild vor uns entstehen lassen. Die verschiedenen roten Fäden, entsprechend der jeweiligen Dimension oder dem jeweiligen Medium, bilden sozusagen gemeinsam einen Zopf, der dann insgesamt die Dramaturgie des Werkes konstituiert und seine Aufgabe bestimmt. Gehalt und Aussageform fallen in solcher Geste in eins. Da diese Geste als Tanzen begriffen werden kann und auch so von Nietzsche immer wieder benannt wird, gilt es, noch einen weiteren Schritt zu machen. Zu diesem weiteren Schritt ermutigt auch, was sich in Giorgio Collis Nachwort zum »Zarathustra« in dieser Hinsicht findet. »… die 266 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Philosophieren als Tanz – Nietzsche

einzelne Vision oder sogar das, was nicht geschrieben ist – das Tempo, die musikalische Färbung, dieses oder jenes Cantabile, Smorzando, Crescendo oder Teneramente – gelten mehr als der dahinterstehende Gedanke«, sagt Colli und spricht von einer »keimenden Ausdrucksform«. Er zieht einen Satz aus der »Geburt der Tragödie« heran: »… dass die einzige ›Realität‹ eben der Chor ist, der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet.« Schließlich erkennt er für »die Offenbarung des Gedankens einen kathartischen Charakter. Die Themen ›Tanz‹, ›von Ungefähr‹, ›gegen die Zwecke‹, ›Leichtwerden‹, ›Fliegen‹ sind Variationen dieser grundlegenden Erfahrung.« »… jeder Augenblick ein Anfang.« Was mit Tanz gemeint ist, zeigen ebensowohl stilistisch-rhetorische Formen einzelner Sätze, aber auch gegeneinandergestellter Absätze, wie die gedanklichen Verbindungen, die so zum Ausdruck kommen. Der Text wird beherrscht von Widersprüchen und Verletzungen oder gar Zerstörungen von gewohntem Sinn, wie es scheint. Wenn man sich indessen fragt, nicht auf welcher Ebene sie sich auflösen, sondern wo oder wie sie sich einlösen lassen könnten, wird man in eine Tiefen- und Höhendimension geführt, in der sich eine andere, eine nicht-lineare Verständigung mit der Sprache Nietzsches ereignet. Als Geste gebildet, zur Nachahmung auffordernd, wie dieses Ereignis auf uns wartet, kam mir die Bezeichnung contre temps in den Sinn. Dieses contre temps hielt ich zwar für einen Ausdruck irgendwie aus dem Musikalisch-Tänzerischen, gebrauchte ihn aber eher metaphorisch, ebenso den geläufigeren Ausdruck Synkope. Ich meinte damit, Bewegung und Gegenbewegung sind so gegeneinandergesetzt, dass zwischen ihnen ein Spielraum sich öffnet, der von keiner der beiden Seiten besetzt werden kann und gerade dadurch die Gelegenheit bietet, mit einer Bewegung über den Gegensatz hinaus dahin zu gelangen, wo ein neues Drittes sie einzulösen verspricht. Sprung ist eine der möglichen Bewegungsformen, dies im Tanz zu vollziehen. Eine Aufhebung in eine dritte Dimension. Sie würde aber in dem Augenblick in nichts zerfallen, in dem der Widerspruch des Gegeneinanders nicht mehr als gegenwärtig erlebt würde – also wenn etwa eine dialektische Bewegung über These und Antithese mehr oder weniger endgültig zur Synthese hinwegeilen würde. Erst bei einer späteren Diskussion über diesen Text mit der Komponistin Violeta Dinescu wurde präzise genug bestimmt, was die Aus267 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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drücke tatsächlich musikalisch meinen. Synkopen kommen zustande, wenn in der Folge von Takten plötzlich die unbetonten Zeitschritte ausfallen, so dass die betonten unvermittelt auf einander prallen. Die von mir zu Nietzsches Sprach- und Denk-Gestus assoziierte Figur des contre temps wird ebenfalls durch ein Auslassen von Schritten im Zeitmaß der Takte provoziert. Hier ist es aber gerade der erwartete betonte Ton, der übersprungen wird. Dadurch kommt eine unbetonte Phase gegen die nächste zu stehen. Man könnte, wenn das einfach so ausgedrückt wird, meinen, dass sich hier eine weniger auffällige Konfrontation ergibt. Das Gegenteil ist der Fall. Der contre temps ist die stärkere, die heftigere Figur. Vielleicht versteht man das besser, wenn man sich vergegenwärtigt, dass man auch von vollen und leeren Zeiten spricht und die leeren nicht einfach leer sind oder die Ruhe nach dem Sturm, sozusagen, verkörpern. Ob wir es uns klarmachen oder nicht, in der Leere klingt nicht nur die gehörte volle Zeit aus; vielmehr bereitet sich in ihr die nächste volle Zeit vor. Deren Überspringen bricht dann den inneren Elan ab, so als hielte uns im Schwingen auf der Schaukel plötzlich jemand das Brett fest, einmal im Aufschwung, einmal im Abschwung. Auf jeden Fall wird unser Denken als ein rhythmischer Vollzug herausgefordert. Erst so genau genommen, fordern die Metaphern auf, zu überlegen, was den Vorgängen in einer Komposition entspricht, wenn wir Denkbewegungen mit ihnen vergleichen. In dieser Linie hat eine vierte Gruppe vom Konzept der Synkope aus die Sprach- und Denkform kennenzulernen und leiblich, sprachlich wie denkend zu üben, dann aber wieder auf den Text zurückzubeziehen gegeben. Alle Beteiligten haben, offenbar angetrieben von solchen Beobachtungsfragen, eine intensive Kenntnis des Textes, zumindest langer Passagen, gewonnen. Wie viel vergleichende Übersicht, oft über die vier Bücher des »Zarathustra« insgesamt, möglich wurde, halte ich für ungewöhnlich. Dabei sollte vielleicht ein Umstand noch erwähnt werden. Ich habe von vornherein keinen Hehl daraus gemacht, dass ich diesen Nietzsche, wie noch zwei andere große Texte, als Siebzehnjähriger wütend in die Ecke geworfen und noch in meinem Weimarer Vortrag, zugleich mit meiner neuen Faszination, als unerträglich bezeichnet habe. Besonders zu Anfang, als wir mehrere Sitzungen lang einfach Stellen Seite für Seite, Satz für Satz miteinander gelesen haben, wurde auch im Seminar viel Empörung und Ärger laut. Ich war sehr froh 268 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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darüber. Zum einen ist es unmöglich, nicht von der quasi prophetischen Redehaltung und anderen Stilattitüden entschieden verstimmt zu werden. Das muss geäußert und verstanden werden, wenn man weiter in die Sache hineinfinden will. Zum anderen bilden gerade die Provokationen, die schon als Widersprüche und Sinnverletzungen bezeichnet worden sind, das dynamische Potential, das uns in Bewegung versetzen und zu diesem oder jenem Sprung oder Hüpfer treiben muss, wenn irgend eine Hoffnung sich einstellen soll, dass wir solches Tanzen zu lernen vermöchten. Das mussten wir eigentlich schon bei der Erörterung des Namens tun. Wir lasen in »Ecce homo«, Teil 3 besonders den Satz immer wieder: »Zarathustra schuf diesen verhängnisvollsten Irrtum, die Moral: folglich muss er auch der erste sein, der ihn erkennt … Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz – in mich – das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra.« An dieser Stelle muss ich in lebhafter Dankbarkeit Manzino Montinaris gedenken, der mich, nach meinem jugendlichen Misserfolg, während unseres Jahres am Wissenschaftskolleg an Nietzsche herangeführt hat und zwar eben auf der Fährte, für die er bei mir eine einigermaßen ausgebildete Nase wahrgenommen hatte: »am Leitfaden des Leibes«. Vielleicht liegt darin auch das Geheimnis begründet, wie später so viele Mitglieder eines Seminarkreises von verschiedensten Fächern, in verschiedenstem Alter und Semester in ein so bemerkenswertes Engagement gegangen sind und dies weit über das vorgesehene Semester hinaus durchgehalten haben. Die intensive Arbeit am Text haben wir sowohl auf einzelne Abschnitte gerichtet wie auf die Linien längs durch alle vier Bücher des »Zarathustra«, in denen wir den verschiedenen Motiven und Dimensionen nachgingen. Daneben haben wir, ausgehend von der Beobachtung der Widersprüche, der »contre temps«, der »Synkopen« uns die verborgene Figur des Gedankens klarzumachen versucht. Wir gingen aus von der Stelle, da Zarathustra mitteilen will, »bis die Weisen … ihrer Thorheit und die Armen … ihres Reichtums froh geworden sind« in der Vorrede 1. Weisheit und Armut werden festgestellt, offenbar nach den üblichen Vorstellungen. Aber den einen ist Torheit, den anderen Reichtum, unentdeckt oder ungeachtet, zu eigen: »ihrer Thorheit«, »ihres Reichtums«. Zwei Schichten der Wirklichkeit, die nach dem konventionellen Verständnis im Widerspruch zueinander stehen, 269 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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werden gleichzeitig behauptet. Was gemeint ist, kann so nur ausgedrückt werden durch einen Wechsel der Bewertungen. Etwas anderes wird nun reich und töricht genannt. Dabei ist einmal die hohe, neue Wertschätzung mit dem konventionellen Begriff für Positives, Reichtum, zum anderen mit dem konventionell Negativen, Torheit, benannt, derer sie »froh werden« sollen. Auch auf der Ebene der Benennung lösen sich die Bewertungen gänzlich vom Üblichen, so dass auch der konventionelle Wertbegriff Reichtum einen neuen Sinn einnehmen kann. Alle diese Vorgänge der Verneinung, des Ablösens und der neuen Ordnung finden unausgesprochen statt. In Anlehnung an den musikalischen Vergleich müssen wir sagen, dass gewissermaßen die Betonung von dem Begriff, der sie zunächst zu besitzen scheint, weggenommen und auf das Attribut, das erwartungsgemäß beiläufiger sein würde, gesetzt wird. Die Weisen sind doch weise. Nein, plötzlich sind sie voller Torheit. Die Reichen sind nicht bzw. nicht nur reich, sondern arm. Die vermittelnde Erklärung ist dabei übersprungen. Alles bleibt in den Widersprüchen erstarrt gefangen – bis eben die Menschen dessen »froh werden«, was Unerwartetes von ihnen gesagt werden kann. Froh zu werden, ist genau der Sprung, der die umständliche Gedankenkette ersetzt, durch die der Begriff Reichtum zunächst relativiert und dann auf andere, als die zuerst gemeinten materiellen, Inhalte bezogen werden würde. Dann wäre aber das Frohwerden nur ein Begleitumstand. Bei Nietzsche ist es jedoch der Motor und das Motiv der Metanoia, des Sinneswandels im Leben. Wesentlich ist ein Hinweis darauf, wo und wie diese Vorgänge stattfinden. Es ist der Sinneswandel des »froh werdens«. In dem Sprung zwischen einer konventionellen und der neuen Ordnung ereignen sie sich. Sie werden nicht ausgesprochen, beschrieben oder erklärt. Wer die Worte hört oder liest, muss an sich selber vollziehen, was von jenen Menschen gesagt wird, einen Sinneswandel, der sowohl den Sinn der Worte, der uns zunächst contre cœur geht, wandelt, wie eben, als Bedingung dafür, den eigenen Sinn verwandelt. Die Reflexionen sind sehr wohl von sprachlicher und gedanklicher Art und Bedeutung. Ihr Medium sind aber nicht Worte und Begriffe. In denen schlägt sich der Wandel – die »Umwertung« – schließlich im zweiten Schritt nieder. Dazwischen vollzieht er sich existentiell, mit Leib und Seele, mit Haut und Haaren, mit Herz und Hand … Oder er vollzieht sich nie. Die nicht gelebte Bewegung zu beschreiben oder zu erklären, ist sinnlos. Und es würde gerade verhindern, was das Denken neu prägen soll, nämlich die 270 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Aufforderung, den Sprung mitzumachen und dadurch von den konventionellen Fesseln frei zu werden. Vielleicht ist es doch angebracht, an eine neue physiologische Einsicht in die alten psychischen Erfahrungen vergleichend zu erinnern. Der Stressforscher Hüther nennt auch den »Stress«, der von der bisherigen Forschung als zerstörerischer, zu vermeidender »Dys-Stress« isoliert wird, notwendig. Nur, wo wir aus den geübten Bahnungen unserer Reaktionen herausgeworfen werden, tut sich ein Chaos auf, dem gegenüber wir neue Antworten und damit eine Erweiterung und Belebung unserer Reaktionsvermögen zuwegebringen. »Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können«, sagt Nietzsche in der Vorrede 5. Redeweisen wie die vom Untergang als »Übergang und Untergang« zum Beispiel oder »die Stunde der großen Verachtung« als »das größte, das ihr erleben könnt«, weisen auf eine entsprechende Bewegung hin, die gefordert wird. An diesen Beispielen bereits der Vorrede konnten wir uns einen Gestus des Hörens erwerben, der uns dann durch den gesamten Text und über manche Barrikade getragen hat. Das fiel uns sehr viel leichter mit der Hilfe derer, die in den Literaturwissenschaften, etwa der Germanistik oder Anglistik, zu lesen üben und lesen lernen. Das heißt, sie sind gewohnt, im Lesen an den Text und sich selbst Fragen zu stellen; für manche dieser Fragen auch die Kenntnis verschiedener möglicher Stilmittel und rhetorischer Formen zu Rate zu ziehen. Dann allerdings galt es auch, im Vergleich mit der Geschichte der philosophischen Figuren des Denkens deutlich werden zu lassen, was hier bei Nietzsche Besonderes geschieht. »Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden –« Der Tanz der Gleichnisreden um die höchsten Dinge kann sich nur Schritt für Schritt in einem vielgestaltigen Muster ausbilden. Die deduktive, zweiwertige Logik hat demgegenüber einen zentralperspektivischen Charakter. In das Modell des Schlusses mit erstem und zweitem Vordersatz, den Prämissen, und daraus sich eindeutig, kausal ergebendem Urteil kann eine solche Beziehungsstruktur offensichtlich nicht gefasst werden. Auch die Form des Schlusses hat selbstverständlich eine Spannung, eben diejenige, die durch die Synthese zusammengeschlossen wird. Daraus folgt auch eine Bewegung wie die eines Pfeils, freilich des »Subjunktionspfeils« wie Günther Patzig sagt. Die Bahn dieses Pfeils muss indessen, den Vorgaben des analytischen Prinzips folgend, immer geradlinig sein. 271 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Umso näher liegt es, an eine Dialektik mit ihrer zeitlichen Ordnung von Schritt zu Schritt zu denken. Wie um unsere Arbeit vorzubereiten, hat vor einigen Jahren Uwe Beyer alle Antworten auf diese Frage, die bisher gegeben wurden, zusammen- und einander gegenübergestellt, von Alfred Schmidt über Heinz Röttges und Salaquarda bis Deleuze. In dieser Sichtung und Beyers Überlegungen ergeben sich zahlreiche sehr interessante Ansatzpunkte für weitere Untersuchungen. Hier müssen drei grundlegende Gedanken die Fülle der Aspekte zusammenfassen. Dialektik im Sinne Platos kommt der Grundfigur von Nietzsche darin wesentlich nahe, dass sie ebenfalls in den wirklichen Entfaltungsgang wirklicher Menschen gebunden ist und damit sowohl zeitlich ist, wie auch Wandel meint. Indessen hat sie zwar anleitenden, aber nicht provokatorischen Charakter. Und sie hat nicht vergleichbar mit dem Umsturz herrschender Verhältnisse und Vorstellungen zu tun, obwohl die Ironie des Sokrates zweifellos Verstellungen und verstellende Einbildungen einreißt und damit in dem neuen Zarathustra einen Nachfolger findet. Selbstentfaltung und Konkretisierung des Weltgeistes durch die Hegelsche Dialektik wird derart von Schritt zu Schritt gedacht, dass ihre Dynamik dem Entwicklungsgang Zarathustras vergleichbar erscheint. Allerdings vollzieht sie sich nicht wie hier in dem Wechsel von ausgreifender Geste und sich Zusammenziehen zur inneren Reife, von Höhe und Tiefe, von Sinnenhaftigkeit und Geistesflug. Eine Analogie kommt nicht in Frage. Vielleicht ist Beyers Formulierung etwas zu grob, wenn er sagt »Hegel ontologisiert die Dialektik« zur »universalen Struktur«. Umso deutlicher wird daran aber, dass Nietzsche seine Figur gerade nicht schließt, sondern durch den Widerspruch eine Öffnung aufbrechen lässt. Diese Öffnung bleibt auch offen. Zwar wird eine neue Ordnung, die der Überwindung, gefordert, manchmal auch angedeutet – etwa wenn der absolute Verächter des Mitleids denen, die in seinem Reiche in Not schreien, zugreifend beisteht –; aber es gibt keine Teleologie. Kein pfeilartiges Prinzip treibt durch die Phasen von These, Antithese und Synthese. Das »Immer Gleiche« sind die Umstände der Phasen, nicht jedoch der Charakter der Synthesis, jene Form der Allgemeinheit, wie sie auch für die Lebensprozesse in Hegels »Realphilosophie« angenommen und angegeben wird. Vergleiche und Unterschiede fasst Beyer in einem Begriff »QuasiDialektik« zusammen, der gut die Nähe zur dialektischen Denkform 272 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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bezeichnet, das Spezifische des Unterschieds indessen nicht zu begreifen versucht. Ähnlich ist auch seine Formel von einer »kreisenden Dialektik« nicht glücklich. Beyer denkt sie so, als ob die Linearität jener Pfeilbewegung auf sich selbst zurückgebogen wäre. Stattdessen geschieht vor allem etwas mit der Zeit, die eine grundlegend andere wird. Sie lernt bei Nietzsche wieder, zwischen begrenzter Dauer und Ewigkeit zu vermitteln. Im Schwingen des Tanzes schmilzt Zeit den Bewegungen, ob linear oder kreisend oder spiralig, Momente des Ewigen ein. Sie verlassen den Kreis – aber nicht, weil die Linie am Ziel wäre. Hier ist nicht nur »der Gekreuzigte« in ein vom »Tüchtigen« angenommenes Leiden zu transzendieren, sondern auch die Eucharistie ins geschichtliche Bewusstsein. Man denkt an Walter Benjamins Vorstellung von »Momenten erlöster Menschheit«, die sich, gleichwohl als Teile eines Zustandes jenseits der Geschichte, mitten in ihr ereignen können. Am ehesten versteht man das Gemeinte in Benjamins »Zusammenschießen« von Vergangenheit und Zukunft mit Gegenwart und zu Gegenwart in einem höheren und tieferen Sinne. Ein paar der Tanz-Stellen im »Zarathustra« geben gemeinsam etwas Vergleichbares zu verstehen. Etwa die Lebensgeste überhaupt: »So will ich Mann und Weib; kriegstüchtig den einen, gebährtüchtig das andere, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen.« In der Zeit und für den Ort: »Oh meine Seele, ich lehrte dich ›Heute‹ sagen wie ›Einst‹ und ›Ehemals‹ und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen. Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit.« Und in »Von der großen Sehnsucht«: »In jedem Nie beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.« Zumindest eine interessante Parallele zeigt sich zwischen Hölderlins »exzentrischer Bahn«, auf der Hyperion aus dem Stadium der naiven Einheit in das der historischen, gesellschaftlichen Trennungen gerissen und schließlich einer neuen Einheit in der »Sicherheit« zugeführt wird, und dem Entwurf der »Überwindung des Menschen« und seinen Bildern in dem Entwicklungsroman »Zarathustra«. Die Negativität, die Empörung wurzeln darin, dass Nietzsche an der Vereinigung gerade gegen alle faktischen und theoretischen Trennungskonzepte festhält, und zwar so selbstverständlich, dass nur die Empörung unmittelbar zu Wort kommt. Insofern antwortet Nietzsche noch auf die »Vereinigungsphilosophie«. Wenn es indessen zutrifft, dass Hölderlin – wie Michael Franz 273 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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betont – den Übergang zur dritten Phase wesentlich transzendental versteht, so kehrt sich das im »Zarathustra« zur immanenten Transzendenz um. Mit diesem Unterschied kann aber nicht verdeckt werden, wie der Widerspruch der zweiten Phase zwischen »Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt«, insofern sie geschichtlich zerrissen ist, einerseits und unserem Streben,« dies zu »endigen«, andererseits bei Nietzsche wieder auftritt: Diesmal aber als eine Tat der sich überwindenden Menschen, die zugleich gelingt nur in einer Transzendierung aus tierhaft-geistigem Elan. »Oh, Zarathustra, sagten darauf die Thiere, Solchen, die denken wie wir, tanzen alle Dinge selber …« Der Widerspruch wird ausgeschritten, um an der Stelle seiner Unmöglichkeit zu dem zu werden, was ich nicht anders benennen kann als mit den Begriffen contre temps oder Synkope, und so im Luftsprung dennoch sinnenhaft eingelöst zu werden. Gadamer betont, Nietzsche »hat selbst die Figur der neuen kommenden Philosophie als die der ›Versucher‹ charakterisiert, die nicht Wahrheit bringen, sondern Wagnis«, und spricht von dem »Drama Zarathustras«. Er nennt es »ein halb poetisches Buch«. Die Frage zwischen Heidegger und den Franzosen wie Derrida ist, ob Nietzsche »an einen vorgegebenen Sinn glaubt und damit in der Priorität des Logos steckenbleibt«. Gadamer erkennt besonders deutlich die heikle Balance, in der sich Nietzsche bewegt, indem er literarische Mittel und philosophische Entwürfe in einander verfugt an uns heranträgt: »Vielmehr ist es eine hermeneutische Aufgabe ersten Ranges, das ›Zwischen‹ von Lehre und Handlung, das hier vorliegt, zu bestimmen, das jedem poetischen Text eigen ist.« »Die Reden Zarathustras sind keine bloße Sammlung von Reden, wie die Reden Gautama Buddhas, sondern sind in eine Handlung eingefügt. Das rückt sie eben auch in die Nähe der Evangelien.« »Beim ersten Lesen wird man das Buch als die Botschaft von neuen Tafeln lesen … Das ist gewiss nicht falsch, aber etwas Oberflächliches bleibt darin, wenn man es dem Drama gegenüberstellt, dessen Geschehen in diesem Buch erzählt wird.« Und es ist eben bis in den einzelnen Satz hinein Geschehen, was erzählt, aber auch was im Leser bewirkt wird, wenn eine angemessene Lektüre überhaupt stattfinden kann. In seinem Brief an Erwin Rohde vom 22. 2. 1884 aus Nizza schreibt Nietzsche: »Lies Goethe nach einer Seite meines Buches – und du wirst fühlen, dass jenes Undulatorische, das Goethen als Zeichner anhaftete, auch dem Sprachbildner nicht fremd blieb. Ich habe die strengere, männlichere Linie vor ihm voraus, 274 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ohne doch, mit Luther, unter die Rüpel zu geraten. Mein Stil ist ein Tanz; ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien …« In der abendländischen Philosophie bietet sich eine weitere Figur zum Vergleich mit der Nietzsches an, das Paradox. Seine Geschichte scheint mit Zenon von Elea zu beginnen, der Paradoxa aufstellte, wie das vom Rennen zwischen Achill und der Schildkröte, um Denkformen bewusst zu machen und seine Schüler zu ihrem reflektierten Gebrauch aufzurütteln. Sie ist voller interessanter Hinweise auf unterschiedlichste Versuche, eine Enge des Denkens und der Erfahrung aufzubrechen. Vom Befremdlichen bei Xenophon und dem VerwunderlichWunderbaren bei Menander wie bei Cicero – »admirabilia contraque opinionem omnium« – werden die Paradoxa bei den Kirchenvätern zum Ausdruck von »Übervernünftigem«; so wie schon Aristoteles betont hatte, das Paradox sei gegen eine vorher geweckte Erwartung gerichtet. Als Beispiel nennt er den Aufbau eines Witzes und ist damit sehr nahe an Freuds Erklärung des Lachens, das unsere Reaktion bildet auf eine plötzliche, unerwartete Auflösung einer zuvor im Witz aufgebauten Spannung. Die »Theologische Realenzyklopädie« widmet ein Kapitel über das Paradox den »Paradoxien als Hinweis auf eine höhere Wahrheit« und nennt ausgerechnet Robert Musil als einen Dichter, der von einer »konstitutiven Paradoxie« wesentlichen Gebrauch macht. In der Theologie hat das Paradox eine Bedeutung, die immer wieder zu Vergleichen mit Dialektik herausfordert, und »sie hat mit Irrationalität nichts zu tun, wohl aber mit dem Problem der Offenbarung als Geheimnis, der Verborgenheit in der Erscheinung«. Karl Barth meint sogar: »Geheimnis dürfte in der Sprache des Paulus das sein, was wir das Paradox nennen«, und Paul Tillich hat den dialektischen Charakter der Paradoxie bejaht. Für die abendländische Geschichte der Denkformen im besonderen, der Mentalität im allgemeinen ist zweifellos ein Dualismus von Gott und Welt, Geist und Materie von ausgeprägtester Bedeutung, der die Suche »nach einer höheren Wahrheit« oder auch einer tieferen, will sie sich auch denkend Rechenschaft geben, in eine spezifische Not bringt. Diese Problematik ist auf das Engste mit Nietzsches Kampf gegen die Metaphysik verbunden, die sozusagen die Kehrseite der Medaille des Dualismus darstellt. Zugleich ist wohl allen Kulturen, die eine selbständige mentale Reflexion entwickelt und eine insgesamt 275 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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gültige mythische Weltdeutung verlassen haben, in wie unterschiedlichem Grade auch immer, dieses Problem auch gemeinsam. Wenn Nietzsche mit Paradoxa arbeitet, ist die Frage hochinteressant, wie weit er sich dazu von einer mystischen Seite Luthers ermutigen lässt – »Gott schleust durchs Widerspiel« – und wieweit er etwa in die Nähe eines buddhistischen Koan gelangt. Um hier gar nicht in dessen strengen Kontext einzutreten, sei nur eine der Reden des Daodejing zitiert: Verfall der Sitte Der große Sinn ward verlassen: so gab es Sittlichkeit und Pflicht. Klugheit und Erkenntnis kamen auf: so gab es die großen Lügen. Die Blutsverwandten wurden uneins: so gab es Kindespflicht und Liebe. Die Staaten kamen in Verwirrung und Unordnung: so gab es treue Diener.

Mit Sicherheit ist in »Zarathustras« Reden indessen die Sprache Kiergegaards gegenwärtig, wo dieser etwa sagt: »Ein Denker ohne Paradox ist wie ein Liebender ohne Leidenschaft«. Immerhin fasst Henning Schröer seinen Artikel in der »Theologischen Realenzyklopädie« in die Beobachtung einer Aktualität zusammen, die gewiss Nietzsche schon vor einem Jahrhundert herbeiprovozierte: »Das Paradox als Speerspitze eines freien Denkens, das der Überraschung und Erwartung fragmentarisch hoffend Raum gibt und Unruhe in die geregelten Systeme bringt, hat wieder an Kurswert gewonnen.« Und er fügt hinzu: »Daraus könnten auch Impulse für die exegetische Arbeit erwachsen.« Besonders interessant sind fünf Punkte, in denen das »Handbuch der philosophischen Grundbegriffe« von Krings, Baumgartner und Wild das Wesen des Paradox charakterisieren: »1. zu einem P. gehören ein Zusammenhang und Menschen.« Die Erwähnung der Menschen weist auf den situativen, existentiellen Charakter solcher Zusammenhänge hin. »2. Ein P. ist eine durch regelwidrige Selbstverneinung zustandekommende Mitteilung.« Also eine Aussage, die sich an jemanden richtet, den sie damit in den Vorgang der regelwidrigen Selbstverneinung von etwas mit hineinzieht. »3. Jeder derartige Selbstwiderspruch, wie verschieden sein Ergebnis und sein Gewicht auch sein mögen, verändert den Zusammenhang, in dem er auftritt. 4. Pe. machen das Ganze, in dem sie auftreten, reicher, beweglicher und offener. 276 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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5. Das P. kann als Gefahr, als Randerscheinung oder als Chance gewertet und behandelt werden.« Selbstverständlich hat unsere Beschäftigung mit diesen Aspekten logischer Formen uns wesentlich ermutigt in unserem sehr weit gehenden Verständnis des Nietzsche-Textes. Für das, was ich versuchsweise zunächst einen contre temps, dann eine Synkope genannt hatte und was wir in vielen Varianten und Steigerungen im »Zarathustra« auffanden, stellte sich ein ziemlich treffender Terminus ein, gerade im Paragraphen »Neues Testament« des Artikels »Paradox« im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« von Ritter. Dort wird bei Bultmann die Figur einer »Existenzialdialektik« als »hermeneutischer Schlüssel« gegen jede Objektivierbarkeit des Glaubens eingesetzt. Sehr ähnlich wirkt Zarathustras Seelenführung. Seine Jünger suchten sich und fanden ihn, so dass er sie verlassen muss, damit sie, nunmehr durch seinen Gestus vorbereitet und angesteckt, wirklich sich selbst finden könnten. Wie bei Sokrates alles Wissen der Einsicht in das Nichtwissen dienen muss, so muss hier auch alles Erworbene dazu dienen, das Äußerliche, Willkürliche, Schwere zu überwinden. »Die Wiederkehr des Gleichen« und das Symbol des »Rades« sind mir, während die Figur des Über-Menschen und der Überwindung aus dem Text selbst vielfach sehr deutlich werden, gerade vom indischen Hintergrund her weitgehend unverständlich geblieben. Ich habe das auch den studentischen Teilnehmern gegenüber ausgesprochen. Dass diese von ihren verschiedenen Unterthemen her immer wieder besonders die Wiederkehr des Gleichen betont haben, ist ebenso einleuchtend. Gadamer sagt: »Die wahre philosophische Aufgabe, die Nietzsches Denken stellt, war aber gewiss, die anscheinende Unvereinbarkeit des Willens zur Macht mit der Wiederkehr des Gleichen aufzulösen.« Nietzsche selber erklärt diesen Widerspruch, freilich nur an einigen Stellen, indem er dem Willen zur Macht die Aufgabe stellt, seine Willkürlichkeit zu überwinden. Die Selbstbemeisterung, wie sie etwa im traditionellen Bild des Kriegers, der sich selbst besiegt, vorgestellt wird, kann dann der Wiederkehr so sich einfügen lernen, dass das Rad wieder, wie beim Kinde, aus sich selbst rollt. Wie aber die Überwindung sich der Wiederkehr des Gleichen zu verdanken und sie in das Andere zu transzendieren vermag, scheint mir die größte Schwierigkeit zu bedeuten, selbst wenn man sich bewusst ist, dass Nietzsche von der Wiederkehr nicht des Selben, sondern eben des 277 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Gleichen, also nur eines Vergleichbaren in neuem Zusammenhang spricht. Es liegt nahe, nun daran zu denken, die Figur des contre temps oder die der Synkope nicht nur aus dem Sprachlich-Stilistischen in die Dimension der Denkformen zu übersetzen. Warum sollte nicht die wahre philosophische Aufgabe von Nietzsche in diesem Rhythmus angelegt sein? Wir haben gesehen und gezeigt, dass er alles andere als eine beiläufige oder Gelegenheitslösung eines Schriftstellers ist und in vielfältigen Abhandlungen den Text aller vier Bücher prägend durchwirkt. Gadamers hermeneutisches Verständnis des »Zarathustra« bereitet für eine solche äußerste Übersetzung, meine ich, den Grund. Er nimmt die Einwände von Derrida und Deleuze gegen Heideggers Deutung auf. »Ihr Argument ist, dass Heidegger, solange er fortfährt, nach dem Sinn des Seins zu fragen, an einen vorgegebenen Sinn glaubt und damit in der Priorität des Logos stecken bleibt.« Insofern ist diese Kritik der negativen Dialektik Adornos ganz nahe, als sie ablehnt, dem Ereignis von Sein mit den Leimruten und Kastenfallen der Konzepte des Subjekts aufzulauern. Diese Ereignisse ihnen entkommen zu lassen, kann nur hoffen, wer das Ereignis nicht beschreiben oder in den Begriff zu fassen versucht und doch sich Rechenschaft geben will, wie und wann und wo es ihn trifft im »Zwischen von Lehre und Handlung«. Mit Handlung dürfte gemeint sein jene Arbeit »des Willens zur Macht«, in der er seiner selbst mächtig wird, also aus der Fatalität von Willen herausspringt. Dann verwandelt sich dessen Elan in die Qualität eines zielfreien Willens. Dieses kann soweit mit dem Ereignis konvergieren, dass ein Schritt des Überwindens zuwege gebracht wird. Äußere Bedingung für solchen Schritt von innen her ist dabei, dass der Zusammenhang der Situationen von gewissen Grundelementen her in einer Kontinuität bleibt, ohne die nichts geschehen kann, das bestimmbar wäre; zugleich müssen auch sie sich der Verwandlung fügen, so wie in der Wiederkehr des Gleichen. Im Sprung kann Konvergenz gedacht werden. »Die erzählte Handlung ist … selber das, was wir auf seine Wahrheit bringen möchten«, sagt Gadamer. Auf die Frage »Wie kann man die Unschuld des Kindes als ein Ziel proklamieren?« antwortet »das Paradox der wiederhergestellten Unmittelbarkeit, der vermittelten Unmittelbarkeit. – In der Handlung öffnet sich gleichsam immer wieder ein Fenster zu dem hin, was den Reden zugrundeliegt …« Der innere Kampf Zarathustras mit sich selbst ist zugleich, und zwar in 278 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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seinem Bewusstsein, ein Kampf gegen »den Geist der Schwere«, so dass ein neues »Tanzlied« davon kündet, wie er zwischen »Weisheit und Leben« und zwischen Wiederkehr und Überwindung sich bewegt, darin den Widerspruch weder endgültig auflösend noch ihm endgültig unterworfen, sondern eben in ihm sich darüber hinaus bewegend. Wir haben Nietzsches Denkfigur, auch weil sie zugleich als eine Figur reflektierenden Handelns in einer wirklichen Lebensgeschichte begriffen werden muss, den Figuren der sogenannten formalen Logik gegenübergestellt, nach deren Satz vom Widerspruch sie einfach unlogisch erscheinen muss. Wenn wir indessen auf Aristoteles selbst zurückgehen, der als der Beginn einer Logik gilt, die den Widerspruch ausschließt, finden wir dort diese Figur noch im Verbund mit ganz anderen Denkfiguren, durch die ein identifikatiorisches Prinzip wesentlich begrenzt und relativiert wird. Es ist einmal mehr Georg Picht, der diese anderen Richtungen der aristotelischen Philosophie betont, etwa in seinem Buch über »De Anima«. Von Interesse ist dabei, wie die e3ntelécheia des Aristoteles die Welt so ganz anders begreift als die, aus ihr entwickelte, Entelechie und Teleologie. Im Gegensatz zur einseitigen Zielgerichtetheit im modernen Denken wie schon der mittelalterlichen Weltdeutung zur Zeit der Scholastik erlebte Aristoteles noch die Wesen und Vorgänge in einem polaren Spannungsfeld. Dessen mythisch-kosmologische Deutung ist sicher Nietzsche fern. Die Offenheit von Geschichten der Entfaltung und ihren Verhinderungen aber ist ihm wesentlich näher, als die konventionelle Aristotelesrezeption annehmen lässt. Ein »In sich Haben des Ziels« auf einem solchen Wege scheint mir die Aufgabe der Menschen, sich zu überwinden und den Übermenschen in sich hervorzubringen, recht gut zu beschreiben. »Diese Bewegung aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit nennt Aristoteles dy´namis.« Nur in der Form dieser Bewegung ist das télos im Seienden präsent, so »dass die Struktur selbst als Bewegung gedacht wird«. Wenn derart eine Denkform selber Bewegung ist und damit auch die in jeder Bewegung sich vollziehende Dauer oder Zeit aufgenommen hat, dann ist ihr eine Figur wie die des Denkens als Tanz in der Lebensgeschichte der Menschen in einer wesentlichen Hinsicht verwandt. Bei Nietzsche spielt nun der Widerspruch in vielen Formen die entscheidende Rolle, eine solche Bewegung gegen die Verkrustungen eines den Verwandlungen des Lebens sich verweigernden Bewusstseins freizusetzen – wie die Spannung des Witzes unser Lachen oder die 279 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Synkope den Sprung im Tanz. Aber auch diese Einsicht in die Bedingungen wahrhaften, also zum Handeln bereiten Denkens ist Aristoteles keineswegs ganz fremd. Besonders tritt dies in der Denkfigur der Aporematik hervor. »Aporematisch nennt man eine Untersuchung, die nicht wie eine deduktive Wissenschaft aus vorgegebenen Axiomen more geometrico weitere Erkenntnisse und Lehrsätze ableitet, sondern von Aporie zu Aporie fortschreitet, um sich durch die Aufdeckung und Analyse der Aporien den Weg zu Erkenntnissen zu bahnen, die nach deduktiver Methode nicht zu gewinnen sind. Die Feststellung, dass die gesamte Philosophie des Aristoteles einen aporematischen Charakter hat, bedeutet also, dass er überhaupt nicht eine in wissenschaftliche Form gebrachte Lehre vorträgt, sondern nur zeigt, wie man vorgehen muss, um eine solche Lehre schließlich zu finden. Wenn das so ist, dann ist der vorangestellte Katalog der Aporien in einem noch sehr viel strikteren Sinne des Wortes ein unabtrennbarer Bestandteil dieser Philosophie. Die Aporien zeigen dann die Grundform des aristotelischen Denkens überhaupt. Was üblicherweise in dogmatischer Form als die ›Lehre‹ des Aristoteles dargestellt wird, muss in den Kontext der Aporien zurückgeholt und von den Aporien her in seinem aporematischen Charakter aufgehellt werden.« Was bedeutet Zarathustras Springprozession durch die Stationen seiner Läuterung? Sicher auch ein ritardando zur Beförderung einer Selbstkritik auf dem Wege eines Lehrers, der Ironie und Selbstironie übt, weil er weiß, dass Entfaltung und Vergeblichkeit ineinander verschränkt sind: Sie sind weder auseinanderzudividieren noch gegeneinander aufzurechnen. Im Widerspruch bedingen sie einander und weisen auf die Weite des höheren, tieferen Lebens. Zwischen ihnen wird eine Art negativer Transzendenz frei, eben nicht eine Metaphysik. Darum mag Heidegger Nietzsche »Seinsvergessenheit« vorgeworfen haben. Die abendländische Geschichte erweist in ihrer Negativität wider Willen noch ihre Unfähigkeit, eine »Seelenfahrt« als Erkenntnislehre und ethische Schule in einem zu erzählen. Nietzsche wendet gegen diese Unmöglichkeit ausgerechnet das Pathos seiner metaphysischen Gegner und das belehrende Predigen seiner religiösen Gegner auf, die uns oft genug die Freude am Tanz verderben. Aber gerade den Ärger weiß er zugleich gegen dumpfe Hingabe an den Nihilismus der gemeinen Konventionen zu kehren, so dass er uns zu Mittänzern zwischen Zorn und Heiterkeit machen kann. Wie in einen eigenen Gebrauch eines solchen Tanzens als Denk280 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Philosophieren als Tanz – Nietzsche

form – nicht eines Tanzes der Denkformen allein – zu finden wäre, liegt noch hinter dem Horizont dieser Entdeckung. Gewiss werden indessen das Verständnis für die Klärung, die wir Nietzsche verdanken, und für Traditionen wie die Figuren des Paradox oder des Aporematischen wieder ihre Bedeutung einnehmen auf der Lichtung, die entsteht, wenn wir die zentralperspektivischen Strategien unseres Denkens überwinden. Das heißt, wenn wir auf das Absolute als Letztbegründung verzichten und in den Gegenständen unseres Denkens ebenso wie in seinen eigenen Figuren Zeit als konstitutiv begreifen, also in Prozessen denken, statt die Zeitlosigkeit der Logik von A = A zum metaphysischen Prinzip einer Identitätslogik zu erheben. Der Ausdruck »Lichtung« für dieses Bestreben ist sympathisch, weil er von einer konkret begrenzten Öffnung für das Licht einer neuen Klarheit spricht, die sich dem Wandel und der Bewegung verbindet.

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DIE POSA – EINE LEBENDIGE MITTE ALS BESTIMMENDES PRINZIP

Auch die Lebenswege in den Künsten sind Weisen des Übens. Wie heben sie sich dann aber aus all den anderen Übungsformen heraus? Kaum lässt sich aus der abendländischen Geschichte eine geeignetere Entwicklung, um dies zu klären, finden als das Phänomen der posa im Tanz des Quattrocento. Ich greife also einige Beobachtungen und Überlegungen aus dem ersten Band der »Naturbeherrschung am Menschen« hier neu auf. Dort geht es um »die Entfaltung von Sinnen und Beziehungen«; genau das ist das Thema von Übungen. Ich habe behauptet und, wie es scheint, erwiesen, dass gerade über eine Figur, die in den ersten Choreographien und den sie begleitenden ästhetischen Theorien fast beiläufig erwähnt wird, Tanz beginnen konnte, zur Kunstform zu werden. Eingeübte oder spontane Tänze und Bewegungsfolgen gab es selbstverständlich im Ritual, bei Festen und ausgelassenen Anlässen so lange schon, dass man sie bis in das Verhalten von Tieren hat zurückverfolgen wollen. Posa indessen bedeutet, dass in die Folgen von Schritten an bestimmten Stellen ein Einhalten trat, und zwar als ausgezeichnetes Moment gegenüber der Bewegtheit, die, zugleich, in ihm sich fortsetzen sollte. Unsere Worte Pose und Pause erinnern an zwei der gemeinten Aspekte. In diesen Momenten ist die Bewegtheit der Tanzenden ganz innere. Dadurch wird die Aufmerksamkeit frei dafür, eben gemachte Schritte noch einmal nachzuvollziehen und die sogleich zu vollziehenden Schritte vorzuahmen. Wir sagen gewöhnlich, vor dem geistigen Auge. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass gerade unser Bewegungssinn, was wir sehen und was wir uns vorstellen, immer andeutungsweise mitvollzieht, bis in die Spannung der Muskelgruppen hinein. Dieses Zusammenspiel von Sinnen im geistig-seelischen Erleben ist die Bedingung für eine Intensivierung von Tanz über das Gelingen der Bewegungen und die Freude daran hinaus. Im Spiel der Sinne mit sich und einem von ihnen nicht abzulösenden Bewusstsein kommt Mimesis 282 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Die Posa – Eine lebendige Mitte als bestimmendes Prinzip

zu sich und kann Reflexion sich in dieses Zusammenspiel noch einmal vertiefen, aus dem sie auftaucht. Tanztechnisch ist die posa von Ingrid Brainard mit Begriffen beschrieben worden wie Übergänge, Zäsuren, Atemholen, Transformationen. Sie spricht von Augenblicken der Sammlung, in denen sich aber zugleich »eine Metamorphose der Bewegungen« ereignet. Bewegung kommt, von einem Sinnenbewusstsein geführt, zu sich – nämlich zum Wandel. In der Polarität zwischen Ruhe und Bewegtheit steigert sich das Pulsieren zu einer Metapher für das Leben selbst. Ähnlich stellt Hegel sich das Wesen der Weltseele vor – die »in sich pulsiert, ohne unruhig zu sein«. Die posa bewirkt, dass die Teile der Bewegungsfolge in Wirklichkeit überhaupt erst eine Folge, eine übergreifende Form bilden. In diesem bedeutenderen Zusammenhang gehen sie nicht nur auf, sondern werden auch jedes für sich deutlicher. Indem die Schritte die größere, in sich reflektierte Geste bilden, gewinnen sie auch in sich an Bestimmtheit. Hegel nennt dies an anderer Stelle seiner »Phänomenologie« eine »höhere Wahrheit«. Der Zusammenhang ist mehr als die Summe seiner Teile, und zwar dadurch, dass die vorher nur aufgereihten Elemente sich in der Verbindung verwandeln. Der Begriff der Dialektik dafür heißt Vermittlung. Wenn wir dabei aber, wie gewohnt, nur an eine übergeordnete Denkform denken, geht das Ereignis verloren, das Hegel doch eigentlich existenziell benennt: »Seiner selbst gewahrwerden«. Gemeint ist nicht, dass wir plötzlich auf etwas, das wir immer schon hätten wissen können, aufmerksam werden. Der ganze, im Grunde erschütternde Sinn des Ereignisses entsteht dadurch, dass er sich ereignet, und zwar in uns. Dieses existenzielle Moment nennt Nietzsche dann Tanz als Denkform. Er stellt Teile in genau reflektierten Widersprüchen so zusammen, dass ihr Zusammenhang nur erkennbar wird, wenn wir uns durch den Vollzug des Widerspruchs in einen Sprung katapultieren lassen. Angelegt ist diese Bewegung auch in der Platoschen Dialektik, die eine didaktische genannt wird. Jeanne Hersch hat uns aufgefordert, uns zu fragen, warum eine Äußerung aus der Mitte oder vom Ende eines seiner Dialoge nicht auch am Anfang stehen könnte: Weil die voraufgegangenen Äußerungen »etwas in uns getan haben«, weil sie uns verwandelt haben und wir geführt worden sind, Schritt für Schritt Andere zu werden. So forderte der Tanzmeister Domenico im 15. Jahrhundert, »den Beginn und die Mitte und das Ende zu unterscheiden«. Bei Plato spüren wir allerdings immer, dass die Dramaturgie sei283 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ner Dialoge auf Wendungen hin angelegt ist, die man schon hätte kennen können. Wenn Nietzsche dagegen im »Zarathustra« uns auf den Wegen des Denkens dazu antreibt, den banalen Menschen in uns zu überwinden, dann geht es um einen Tanz wie den des Gottes Shiva, in dem die Welt vernichtet und neu geboren wird. Nur im Sprung kann das Über-Menschliche erreicht werden. Nietzsche verachtet diejenigen, die stattdessen intellektuelle Konstruktionen aufbauen, als die sogenannten »höheren Menschen«. Aus der jüdisch-mystischen Tradition heraus sagt Eveline Goodman-Thau dagegen, »erst im Sprung entsteht ja das andere Ufer«. Die Übergänge in letztlich ekstatische Exerzitien sind entschieden genug zu spüren. Die viel weniger spektakuläre Figur der posa ist darum nicht weniger interessant für unsere Frage. Praxis und Theorie der frühen Kunst des Tanzes haben dem Augenblick des Einhaltens und der inneren Bewegtheit seine ganz bestimmte Möglichkeit in einem klar gegliederten Rahmen geschaffen. Die Zeit wurde in einem Kanon unterschiedlicher, auf einander bezogener Rhythmen bestimmt unter der Kategorie der misura. Unter der Kategorie memoria wurden alle Forderungen an ein übergreifendes Bewusstsein und alle Hilfen, sich dessen im Einzelnen zu erinnern, zusammengefasst. Wie die Schritte waren auch die verschiedenen posa-Figuren formalisiert – sowohl als durchgezählte Pausen wie als Posen im Nach- und Vorklang der einen oder der anderen Schritte. Die grundsätzliche Spontanität ihrer Ausführung konnte gerade an diesem Rahmen ihre »dynamisch spannende Kraft«, wie Brainard gesagt hat, entwickeln. Das Wesentliche ist offenbar, dass die zählende Reflexion des Verstandes als das mimetische Innewerden sich vollziehen konnte, nicht eines neben dem anderen, sondern als eine bewusste Gestimmtheit des Gemütes. Dazu muss man sich den Bewegungssinn nach allen seinen Seiten vergegenwärtigen: als Impulse aufnehmenden, Impulse generierenden und auch beendenden und immer als Impulse bewegt verwandelnden. So verstehe ich die Anweisung von Cornazzano, aus der posa sollten die Tanzenden wie »vom Tode zu neuem Leben erwachen«. Also sich selbst immer neu entdecken und gestalten, und zwar getragen aus den Reizen und Bedingungen des Bewegungssinns heraus. Das hat eine fast utopische Qualität – die posa wurde auch fantasmata genannt – und wurde doch ganz gegenwärtig und konkret erfahren. So war das wohl nur in der besonderen Übergangszeit der früheren Renaissance möglich, als für die höfischen Oberschichten und 284 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Die Posa – Eine lebendige Mitte als bestimmendes Prinzip

die großen Handelsherren die strenge und martialische Ordnung der Lehenspyramide ihre Zwänge verlor, als zwanglosere Harmonie der Temperamente und der Ausdrucksformen, wie sie etwa in der gregorianischen Musik wirksam sind, aber fortwirken zu können schien. Wir können die posa heute als eine Wegbereitung aufgreifen, wie wir sie sonst so gern aus den inzwischen notleidenden Traditionen anderer Kulturen herauszuheben versuchen. Das verlangt aber auch hier, uns mit den historischen Bedingungen und deren Übertragung in moderne Verhältnisse auseinanderzusetzen. In der frühen Tanzkunst des Quattrocento war eine gewisse Harmonie vergleichsweise leicht zu haben. Die Zahl der Beteiligten an diesen Gesprächsrunden im Medium leiblicher Bewegungen war auf einen vertrauten Kreis begrenzt, ebenso die Zahl der Bewegungstypen zwischen den beiden getragenen und den beiden lebhaften Tempi, die auch musikalisch vorgegeben waren. Mimesis war im Geschick der Alltagsvollzüge selbstverständliches Moment; sie für das Bewusstsein in der Freiheit und Intensität der Kunst eigens zu entdecken, geriet nicht unbedingt in die Gefahr, für Zwecke der Kommerzialisierung oder der Ostentation instrumentalisiert zu werden. Die Menschen der Höfe tanzten mit und für einander. Berufliche Ausbildung und Auftritte gab es erst viel später. Die verschiedenen Bewegungen, Schritte, Gesten wurden als Ausdruck verschiedener Erlebnisweisen auf einander bezogen, also von inneren Vollzügen her. Ein Überblick nach systematischen, äußerlichen Kriterien, wie er in der späteren Renaissance für das militärische Exerzieren, für Sportarten und besonders die Fechtschulen, aber genauso auch für das »geometrische Ballett« entwickelt wurde, lag der Zeit fern. In der Malerei seit der Schule von Sienna, bei Botticelli oder Raffael zeigte sich ein verwandtes Erwachen zur Begegnung von Menschen miteinander: ein ungezwungenes Erkennen des Anderen in eins mit einem Selbsterkennen, das sich damit verbindet. Die Formen, die posa jeweils annahm, konnten mehr Spur der Bewegungsvorgänge im Augenblick bewusster Unbewegtheit sein, als dass sie einem vorgefertigten Arsenal entnommen wurden. So waren sie nicht, jedenfalls nicht identisch reproduzierbar – deshalb wird sie auch in den Traktaten der Tanzmeister nicht genau beschrieben wie die übrigen Schritte. Eine posa sprach von dem Menschen, der sie ausführte, von der Zeit, in die sie fiel und eingriff, und von dem Ort, an dem sie auftrat und der um sie sich bildete. Die memoria bildete dafür jedoch einen Orientierungszusammenhang; die misura hielt ein Ensemble von 285 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Maßen bereit. Hans-Georg Gadamer nennt das die »Bindekräfte«, mit denen in den Künsten fortlebt, was in den Mythologien zu kosmischen Ordnungsprinzipien ausgebildet wurde. Er spricht dabei mit großem Nachdruck von einem je auftretenden Maß, das um Angemessenheit bemüht ist und sie zu erkennen gibt. Während aber der Mythos solche Maße ein für alle Mal vorgibt, ist es in der Kunst gerade die Frage nach der Angemessenheit, ja danach, wem und was die Vorgänge und ihre Formen angemessen sein sollten, woran sich ihre Bewegungen entzünden. Diese Frage ist stets von neuem aktuell. Sie lebt auf in jeder Sehnsucht nach möglicher Angemessenheit und vielleicht in ihr sich verbindende Ahnung. Sie wird wach gegen die Erfahrungen empörender, gewalttätiger Unangemessenheit. Jenes utopische Moment muss an solchen immer anderen Bestimmungen je neu aufleuchten können. Nichts lädt mehr uns dazu ein als ein Horchen in das Eigene unserer Sinne, gerade auch des Bewegungssinnes, und in das, was uns begegnend sie wach ruft. Dem in ein leiblich getragenes und frei gebundenes Denken zu folgen, wäre eine Übung im Sinne der posa, wie wir von heute aus sie uns vorstellen können. Unterhaltungen in einer Bewegungssprache, die nicht semantisiert, auf eine semiotisch systematisierte »Körpersprache« reduziert ist. Über ein mimetisches Aufnehmen und Ausdrücken entsteht eine eigene Kompetenz für Kommunikation mit dem Anderen. Deren Vorbedingung ist nicht ein gegebenes Maß, sondern die unausweichliche Notwendigkeit, immer in bestimmten Maßen sich zu bewegen. Die Angemessenheit, die der künstlerische Prozess sucht, bildet selber, als diese Suche, seine wesentliche Substanz – eine Substanz freilich, die damit weder gegeben noch fest, noch bleibend, noch dem Prozess vorhergehend ist. Die Formen, die diese Prozesse als Spuren hervorbringen, eignen sich ebenso wenig zu zeit-ort-prozess-loser Identität. Unter ähnlichen Bedingungen wird Ähnliches entstehen. Aber Ähnlichkeit ist nicht reproduzierbar; wir können uns indessen darum bemühen, ähnliche Bedingungen wiederzuschaffen, um sie neu in ähnlichem Ausdruck entstehen zu lassen. Oder wir können für vergleichbare andere Bedingungen Entsprechendes entstehen lassen. Die Formensprache folgt dabei dem Satz, den Carl Friedrich von Weizsäcker ursprünglich auf die Mathematik angewendet hat: Beschreibung von Gestalt durch Schaffung von Gestalt. Die Mathematik oder die Kunst bilden nicht etwas ab, »wie es ist«. Sie fassen dessen Gestalt auf und geben sie wieder durch eine Gestalt, die aus ihrem Medium hervorgeht. 286 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Die Posa – Eine lebendige Mitte als bestimmendes Prinzip

So verlangt Nietzsche, die Willkürlichkeit zu überwinden, indem wir nicht Herr über die Formen, sondern unserer selbst Herr werden. Nur aus einer vermittelten Unmittelbarkeit, wie wir sie hier in verschiedenen Aspekten geschildert haben, können Bewegungen zu Formen des Wandels werden.

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ZWISCHENSPIEL INDIVIDUELLES UND ÖFFENTLICHES LEBEN

Wie entscheidend beide einander durchdringen und bedingen, ist an vielen Stellen deutlich geworden. Doch sie zu trennen, gegeneinander zu kehren, sie als Gegensätze darzustellen und zu behandeln, ist zu tief in die bewussten und die unbewussten Strategien der modernen Gesellschaften eingegraben. Dass Marx und Goethe beide in ihrer Kritik zu dem emphatischen Begriff der Lebenstätigkeit gefunden haben, hat bis heute kaum Aufmerksamkeit erregt. Und tatsächlich hat das, worum es gehen soll und muss, doch der eine ganz vorwiegend an den Wegen individueller Bildung, der andere ebenso vorherrschend an der Veränderung des Gemeinwesens ausgeführt. Die beiden Seiten des Lebens können nur in wechselseitiger Abhängigkeit von einander und als gegenseitige Beförderung für einander ausgebildet werden. Weil nicht auch in unseren Beobachtungen und Überlegungen die jeweiligen Hinweise darauf sich in den grundsätzlichen Untersuchungen verlieren dürfen, werden die gemeinsamen Fragen jetzt noch einmal in den gesellschaftlichen Blickrichtungen aufgegriffen. Das ist auch deshalb umso notwendiger, als immer weitere Dimensionen unserer Existenz immer tiefgreifender einer Vergesellschaftung unterworfen werden. Diese gestalten so weitgehend die Lebensformen und unser Bewusstsein für Funktionen eines immer einseitigeren Wirtschaftssystems um. Nicht nur vollzieht sich dabei entscheidend die Determination des scheinbar so persönlichen Konsums, ja weit mehr: Die Gesellschaft erhält die Macht, unsere Lebensweise und unsere Einstellungen zu einander, zur Welt und zu uns selbst zu bestimmen. Dieser Prozess vollzieht sich aber im Schatten eines Schweigens von Seiten des Staates und der Institutionen, in dem die Fragen nach Sinn und Berechtigung, Bedingungen und Interessen verschwinden. Was den Individuen und ihren unmittelbaren Lebenszusammenhängen genommen wird, wächst gerade nicht einem öffentlichen Leben zu, das dieses Begriffes würdig wäre. Der traditionelle 288 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Zwischenspiel: Individuelles und öffentliches Leben

Gegensatz von kapitalistisch organisiertem Individualismus und sozialistisch konzipiertem Kollektiv löst sich auf. An Subjektivität auf der einen wie der anderen Ebene wird wenig gedacht. Freiheit meint aber gerade beide Sphären der Begründung und der Betätigung der Subjekte – zwischen Innerlichkeit und Objektivismus. Als ich in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts diese Problematik unter dem polemischen Titel »Objektiver Faktor Subjektivität« bewusst zu machen versuchte, war die Polemik gegen den marxistisch formulierten Objektivismus von starren Kadergruppen und ihre Diffamierung alles Subjektiven gerichtet. Ihre Revolutionspropaganda sollte Wandel durch einen Kurswechsel der objektiven Faktoren initiieren. Das hieß zugleich: gegen die historisch deformierten Subjekte. Ich wollte dagegen die unabdingbaren Leistungen der Menschen selbst gegen falsche Mechanismen betonen und erhoffte Bewegung im Kleinen wie im Großen von Entfaltungen dessen, was an ungeplanter, unverplanter Lebensfähigkeit sich noch alltäglich und gegen alle Systeme erneuert. Diese Wirklichkeit, in der unentwegt die starren Strukturen von ökonomischer Organisation und staatlicher Verwaltung durch den klammheimlichen Zusatz unbotmäßiger Beziehungsfähigkeiten am Leben erhalten werden, galt es und gilt es, stark zu machen. Diese menschlichen Potentiale haben es einerseits immer schwerer, andererseits provozieren Erschöpfung und Brüchigkeit der institutionellen Strukturen nicht unwesentliche neue Bewegungsfreiheiten. Wandel wird nicht dadurch bewirkt, dass die Revolutionäre die Schalter umlegen. Wandel der Gesellschaft ereignet sich nur in der Vielfalt von Bewegungen, deren Gemeinsamkeit nicht durch Gleichschritt kommandiert und kontrolliert wird.

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VII. GESELLSCHAFTEN IN BEWEGUNG

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Gesellschaften in Bewegung

Nach vielen Seiten können wir Bewegung wahrnehmen, immer auch in uns selbst. Ordnungen des Wandels werden denkbar und versprechen uns Lösungen aus der Starre herrschender Strukturen. Wir sehen, wie heftig uns Bau und Funktionssystem unserer Gesellschaften an diesen Wahrnehmungen hindern und derartige Lösungen, schon die Suche nach ihnen blockieren. Müssen wir also, können wir Gesellschaften in Bewegung vorzustellen, vorzubereiten beginnen?

Gesellschaften in Bewegung In Wirklichkeit sind sie längst in Bewegung. Viele wollen es nur noch nicht merken, besonders diejenigen, die behaupten, sie hätten die Verantwortung für die Gesellschaft übernommen. Es gibt sowohl Gedanken und Experimente wie praktische Unternehmen und Ansätze zu anderen Arbeits- und Lebensformen, die aus der Tiefe ihrer Gestaltungen und Auffassungen sich genau der Flexibilität nähern, die Politik, Unternehmer und Gewerkschaften zu dem absurden Zweck fordern, die starren Strukturen gerade zu erhalten, statt zu verwandeln. Adrienne Goehler hat darauf den Titel ihres Buches »Verflüssigungen« geprägt. Ich selber trage zu diesen Überlegungen mit einem Buch zu einer »pluralen Ökonomie« bei, das hervorhebt, dass die industriellkapitalistische Produktion nicht die einzige Wirtschaftsform ist, die wir haben und die wir brauchen. Ein vielschichtiges Miteinander von Massenproduktion und individuellem Können, von freien, ortsgebundenen Arbeits-Gemeinschaften und globalem Austausch für die Beziehungen der Menschen zu einander wie zu unserer gesamten Mitwelt begründet neue Chancen. Alle diese Überlegungen kreisen um eine grundlegende Forderung: Wo Strukturen sind, müssen Beziehungen werden. Beziehungen sind immer Geschichten der Verwandlung von Gegenwart zu Gegenwart – sicher im Bewusstsein ihrer Entstehung, ihrer Vergangenheit und im offenen Blick auf einen Horizont von Möglichkeiten, aber auch von Bedingungen, die vielleicht erweitert, doch nicht ungestraft gebrochen werden können. Eine der offensichtlichsten Veränderungen ist die weltweite und die regionale Migration. Eine Gesellschaft in Bewegung? Nein, das ist etwas anderes als die Scharen von, so weitgehend unfreiwilligen, Migranten. Rastlosigkeit ist noch keine Bewegung, eher »rasender Still293 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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stand«, wie Paul Virilio sagt. Bewegung: Pulsieren ohne Unruhe, sagte Hegel. Die Ströme von Flüchtlingen und von Sehnsüchtigen nach den Lebensbedingungen der westlichen Industrieländer brechen aus Gesellschaften auf, die einmal von einer beseelten Welt mehr verstanden haben als moderne Bevölkerungen, wo wir Lebensformen durch Lebensstandards ersetzen. Aber sie erleben und bringen heute Unruhe ohne die Rhythmen des Pulsierens. Die Erinnerungen ostdeutscher Flüchtlinge an die Abschottung der Westdeutschen gegen sie nach 1945 sind fast so Geschichte wie die Ablehnung der Ansässigen gegen die Migranten in Goethes »Hermann und Dorothea«. »Eingegliedert« wurden die Ostflüchtlinge erst, nachdem Arbeitskräfte für den Aufbau gebraucht wurden. Aufgenommen können Menschen nur von Menschen als einzelnen oder Gruppen werden. Beziehungen erwachsen nur im nachbarschaftlichen Maß. Strukturen können das nicht ersetzen. Sie brechen Lebensgeschichten und provozieren, dass sie selber von Missbrauch durchbrochen werden. Wer wollte Bedürftigkeit und Ausnutzung, Hilflosigkeit und Betrug mit Hilfe von Gesetzen und durch Behörden unterscheiden? Nur wenn sich Patenfamilien finden, die Asylanten begleiten, können dürftige Mittel sinnvoll verwendet, können schwierige Verhältnisse erträglich gestaltet werden. Warum wird nicht einmal darüber nachgedacht, wie sich in einem Volk von 80 Millionen für 600 000 Asylanten usw. individuelle Betreuung organisieren ließe? Bei allen Irritierungen durch Mangel an Arbeit und Klagen über Einsamkeit und Nicht-Gebrauchtwerden. In Bewegung könnten die Menschen miteinander kommen durch kleine praktische Aufgaben, die Begegnungen andeuten und eine Wahrnehmung von einander, mit einander ins Leben rufen. An diesen kleinen praktischen Aufgaben zeigen sich die großen unlösbaren Probleme so greifbar, dass ein bisschen gesunder Menschenverstand plötzlich überflüssige Starrheiten und mögliche Abwandlungen entdeckt; dass dennoch gegen unüberwindliche Vorstellungen und Gewohnheiten wenigstens Staunen und Nachdenken in Gang kommen, wenn wir einmal die Augen aufmachen. Lernen wir wirklich doch erst uns selber am Anderen kennen. Bewegung muss gar nicht Auswechseln bedeuten, darf nicht mit Vertauschung verwechselt werden. Die gleichen zu werden in neuen Kontexten, kann die intensivste Verwandlung werden. Bewegung braucht wahrnehmbare Orte und Zeiten. Die Arbeitsformen verändern sich am ehesten und am besten nicht nach ergonomischer Planung durch Experten, zumal dann immer schon der Profit294 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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parameter die Überlegung von der Sache ablenkt. Deshalb und weil tarifverträgliches Denken das Erproben verhindert, hat das viel beschworene Modell Teamwork so wenig grundlegend verändert. Ein Team kann nicht entstehen, wo weiterhin eine zentrale Planung der Schritte herrscht und es allein die Verantwortung ist, die von der Betriebsleitung auf die Individuen verlagert werden soll. Ein Team wird wirkungsvoll und kreativ nur werden, wenn es sich in einer gemeinsamen Freundschaft zur Sache bildet und weiterentwickeln kann – ob es nun in der Werkstatt, im Labor, beim Film, im Theater, in einer Agentur oder in Lehre und Betreuung wirksam werden soll. In der Forschung ist es nicht anders. Interdisziplinarität gedeiht nur da, wo das Vertrauen wächst, einander Fragen und Lücken mitzuteilen. Dann können Entdeckungen in den Methoden und Erfahrungen der Anderen weiterhelfen. Das Verkünden der eigenen Siege heizt nur Konkurrenz an. Institutionelle Hierarchien im Gegensatz zu unterschiedlicher Nähe zur Sache zwingen die Vorgesetzten zur Verteidigung der Strukturen und die Unteren zu unsachgemäßer Anpassung. Die Kategorien des Wandels und der Bewegung im praktischen Leben heißen Durchlässigkeit und Durchdringung. Dafür sich zu öffnen, setzt Vertrauen voraus. Dafür das eigene Denken und Handeln zu öffnen, setzt eine intensive Beziehung voraus. So muss Professionalität verstanden werden, mit Leib und Seele – nicht als Beharren auf institutionalisierten Standards. Titel und Karriere in einer Profession ereignen sich dann sozusagen als Grenzfall. Im Hin und Wider entsteht die Bewegung immer neuer Beobachtungen des Vergleichens und Unterscheidens, aus denen unweigerlich neue Ansichten auftauchen. Es müssen nicht immer Einsichten sein; die stellen sich viel lieber wie beiläufig ein und bringen so niemand in die Verlegenheit, sich mit den Ansprüchen einer fremden Überzeugung konfrontiert zu sehen. Es gibt Menschen und Gemeinschaften, die so die Katastrophe ihres Exils verwandeln. Traditionen müssen nicht in der Fremde einfach zerbrechen oder ersticken. Sie können sich auch an der neuen Luft, die ebenso erschreckt, wie sie von altem Druck befreit, reinigen von den Schlacken und Krusten der Hierarchien und der Ängstlichkeit. Offensichtlich hat der Dalai Lama die Zukunft des buddhistischen Tibet in eine weltergreifende Geste der Befreiung verwandelt, jenseits von Fixierung auf vergangene Formen einerseits und von Verzicht andererseits auf eine angemessene Fortsetzung. Die Wegweiser zu einer Hermeneutik des Islam, wie Mohammed Arkoun oder 295 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Nasr Hamid Abu Said, erfinden ihrer Religion, bedroht und vertrieben, Öffnungen auf eine Gläubigkeit, die kritisches Bewusstsein vom Wandel der historischen Bedingungen nicht länger ausschließt. Wir nennen diese Vorgänge, die ja auch die Verhältnisse in den Europa fernen Ländern der Erde selbst längst ergriffen haben und wo die Menschen nur weniger spektakulär von Verzweiflung und Hoffnung sprechen, die Modernen der vielen Kulturen. In ihnen geraten die traditionellen Strukturen auch in innere Exile. Wenn ihre Anhänger die geistige und die materielle Bewegungsfreiheit zu Verwandlungen nicht finden, konzentrieren sie ihre Energien darauf, innere und äußere Feinde auszumachen und zu bekämpfen. Solcher Fundamentalismus, unähnlich etwa dem der eher egoistischen Weltbeglücker von Nordamerika, trägt im Grunde den Kern zu einer Befreiung in sich, die sogar über die jeweiligen Grenzen hinauswirken könnte, zumal wenn sie sich mit den Erfahrungen der verwandten Migranten in der übrigen Welt zu vereinigen vermag. Diese immer halb erzwungenen und halb ersehnten Modernen machen die Lebensformen einer Vergangenheit zu Fremden im eigenen Lande. Ich möchte ihre Wege sich einbeziehen sehen in den Entwurf der Wiedergeburt der Kulturen aus dem Schock und den Verführungen des Exils. Irgendwie dürften alle Kulturen, eben auch vor jeder Moderne, aus Begegnungen von Kulturen sich gebildet haben. Die Modi sind die unterschiedlichsten; vom neugierigen oder resignierten Aufnehmen über mehr oder weniger friedliche und bewusste Überlagerungen und Übernahmen bis zu erzwungenen Konversionen und dem Diktat von Eroberern. Sie alle haben bewirkt, dass Völker und Gruppen sich dem Fremden und das Fremde auch sich anverwandelt haben. Viele individuelle Geschichten von Durchdringungen. Einige besonders eindrucksvolle Thesen und Berichte sind in den Büchern von Maria Todorova, von Ilija Trojanov und Ranjit Hoskote zusammengefasst. Dem Durchdringen hat allerdings das Eindringen der systematischen Grundsätze und Strategien kaum je die Zeit und den Atem gelassen. Ob in kolonialen Eroberungen, in imperialen Verwaltungen oder im alternativlosen Anschluss an einen einseitig beherrschten liberal world market, der Druck und der Sog waren und sind zu vehement, um kulturelle Besinnung zu erlauben. Unter der Beschleunigung werden selbst die tiefsten Schichten ergriffen, noch bevor Fragen bewusst werden können. Schwindel wird erzeugt, statt dass Antworten erprobt werden könnten. Bruch statt Geschichte. Verlust bleibt absolut, statt 296 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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dass Brüche reflektiert und ihre befreienden Momente aus der Zerstörung gerettet werden können. Nur aufgelöst in Störungen kann das Unheil neue Bewegungen anregen. Die Rede ist von all dem, was wir im Wesentlichen auch im Vollzug der deutschen Einheit versäumt haben. Freilich gehört dazu jenes Dritte zu Sehnsucht und Verzweiflung, das davor bewahrt, in Hass oder in Gier zu geraten. Hegel nennt es den gefühlten Mangel. Den Mangel zu fühlen, bedeutet, nicht in den gewohnten Strukturen Wut auszuagieren, sondern dem Fehlenden, dem sich Entziehenden, dem Verwehrten nachzuspüren – so stark, dass eine neue Beziehung dazu entsteht. Sie wird sich ausdrücken in umfassenderen Vorstellungen, so erfüllt von dem Gefühl, dass sie vom Mangelnden sich lösen können, um es in Übertragungen neu zu erfinden. Dies sind andere Wege als die der historischen Kritik. Die Reflexion durch Gefühle dringt tiefer ein in die vergangenen Strukturen, die Kritik zu durchschauen und neu zu begreifen versucht. Sie dringt ein bis in die Schichten jener vererbten und unbefragten Gefühle, die vielleicht am meisten zerstört und am meisten entwertet werden. Uralte Sicherheiten, uralter Bann von Bedrohungen der individuellen Seelen und der Seele des Gemeinwesens, die nicht intellektuell überwunden werden können, weil sie allein aus Andeutungen neuer Sicherheiten abgelöst werden können. Das ist eine Aufklärung von Gefühlen durch Gefühle. Damit wird auch noch einmal eindrucksvoll deutlich, dass die großen Bewegungen sich in der Vielzahl der kleinen vollziehen müssen, im menschlichen Maßstab. Wesentlich beigetragen zu den erstarrenden Strukturen der Gesellschaft hat Unfähigkeit der bürgerlichen Theorien ebenso wie der sozialistischen. Sie können Entwicklungen in den großen Ordnungen von Völkern, Ländern, Gesellschaften nicht gleichzeitig in den Geschichten der Individuen denken, die solch große Einheiten und zwischen den Lebensgeschichten der individuellen Wirklichkeit und den historischen Entwicklungen im Großen vermitteln. Die bürgerlichen Ökonomen, Soziologen und Politiker haben sich damit zufrieden gegeben, ihre Statistiken und Strategien auf der rechnerischen Einheit von Individuen – also nicht mehr den feudalen Gemeinweisen und Standesgruppen – aufzubauen. Das ist noch keine Demokratisierung. Die Menschen sind zusätzlich, je nach Fragestellung, aufgeteilt worden in Konsumenten und Produzenten, in Geschlechtsund Altersgruppen usw. Ihre Lebensgeschichten kommen in diesen 297 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Rastern nicht vor. Die Raster erfassen individuelle Veränderungen nur im Niederschlag als pauschale Entscheidungen über allgemeine Fakten wie Konsumwahl, Schulform oder Zugehörigkeit zu Parteien, Kirchen usw. Die Menschen werden damit zu einem Stück Bevölkerung gemacht. Es sind aber die Lebensgeschichten als Geschichten des Erlebens, Erleidens, Begreifens, Schaffens und Fühlens, in deren Schritten Verwandlungen sich ereignen können und müssen. Die westliche Politik hat genau dies z. B. in Bosnien und Herzegowina übersehen und das historisch gewachsene Miteinander der Religionen und Kulturen dadurch noch weiter auseinanderdividiert, dass sie die Menschen in ethnischen Identitäten gegen einander definiert hat, statt die wechselseitigen Beziehungen zu stärken. Dass die sozialistische Planwirtschaft und kollektive Lebensplanung den Lebensgeschichten noch weniger Bedeutung zugestanden hat, ist offensichtlich. Die Idee selbst der Revolution ist eine summarische Strategie. Das Proletariat sollte sein eigenes Schicksal und damit das Schicksal aller von der Fron und Entfremdung befreien. Es sollte seine Energien nicht länger dumpf verausgaben in der Produktion von Dingen und Profiten, sondern sie in der Entfaltung der menschlichen Vermögen ausbilden. Das Erleiden der Geschichte sollte umgekehrt werden und Geschichte gestaltet werden. Ja, das sind die Paradigmen des Wandels in der Gesellschaft. Aber das Proletariat wurde anonym gedacht, als Masse. Einzelne werden dabei zu Typen stilisiert, wie in den Lehrstücken von Brecht. Für mehr ist keine Zeit. Marx erhoffte sich die Revolution daraus, dass dieses Proletariat – von dem niemand so genau weiß, wer das alles sein soll – einen Mangel fühlen würde und dieses Gefühl ablösen könnte von den mangelnden Dingen, um es gegen die Bedingungen des Mangels zu richten. So kann aber kein Raum und keine Kraft bleiben für das Vorgefühl jener verwehrten Entfaltung, das Hegel gemeint, das er aber erst recht nicht in politisches Vorstellungsvermögen umgesetzt hat. Das muss wahrhaftig in den Lebensgeschichten der Vielen sich bilden und dann, selbstverständlich, auch einen Ausdruck im gemeinschaftlichen Bewusstsein erhalten. Die sozialistischen Regime haben es allenfalls umgekehrt versucht, nämlich staatlich den Menschen Gefühle verordnet. In Bewegung kann man eine Gesellschaft genauso wenig versetzen oder kommandieren wie Bildung mit dem Nürnberger Trichter oder Gesundheit in Form von Pillen verabreichen. Das kann aus zwei Hauptgründen nicht gelingen. Jeder Organismus muss sich auf seine 298 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Weise nehmen, was er brauchen kann. Der Stoffwechsel hat seine eigenen Möglichkeiten und Bedingungen, um etwas aufzunehmen, auch wenn die chemische Analyse ihn als bedürftig erweist. Alles Wissen muss durch die Bewegung des Fragens aufgenommen werden. Was man von außen und programmatisch für die Bewegungen tun kann, ist wesentlich im Weglassen zu suchen: ihnen ihre Bedingungen einräumen, ihre Möglichkeiten nicht blockieren und nicht verplanen. Aber dazu gehört, dass ein öffentliches Leben Bewusstsein vom Wandel ausbildet, und dazu gehört, dass Menschen individuell und untereinander Vorbilder erproben. Der zweite Hauptgrund ist eigentlich noch offensichtlicher. Wie die jeweilige Bewegung aussehen wird, lässt sich im Voraus nicht sagen, sonst wäre sie gar keine wirkliche Bewegung. Davor haben aber alle, die sich für die Entwicklung »verantwortlich fühlen«, unüberwindliche Ängste. So bleibt im großen Ganzen nur die traurige, vielleicht selbstmörderische Alternative von In-Marsch-Setzen oder Blockieren. Was dazwischen hindurchgeschmuggelt wird, nennt sich dann Reform. Aber Gemeinwesen gehören auch zu den Organismen, denen Gerald Hüther die Notwendigkeit und die Fähigkeit zu immer neuer Re-Organisation zuspricht. Umgruppieren der Kräfte, Umbahnen der Muster des Fühlens und Denkens und Handelns.

Für eine Kulturpolitik des Leibes Wesentlich dafür ist sicher, dass wir unser Leben vom Leib her erleben, begreifen, gestalten – und zwar das individuelle wie das öffentliche. Dazu braucht es die praktischen Ansätze von den Seiten her, die wir Gesundheit, Erotik, Lernen, Arbeiten, Tanz zu nennen und von einander zu trennen gewohnt sind. Genauso können und müssen sich die theoretischen Vorstellungen verwandeln, mit denen wir philosophisches und alltägliches Denken, das Bewirken und das Aufnehmen von Künsten und Musik, Wissenschaften und Religion gegen einander und gegen die vielfältige Komplexität des Lebendigen kehren. In allen Gebieten unserer Zivilisationen haben sich Spuren oder Schienen vivisektionistischer Strategien durchgesetzt. Vielleicht heißt die älteste divide et impera. In der modernsten Form wuchert sie als eine geradezu paranoische Kontrollwut. Unsere Gesellschaften sind von dieser kaum verdeckten Angst vor dem Leben ergriffen. Die institutionell zum Pro299 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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gramm erhobene Vertauschung von »Lebensqualität« durch »Lebensstandards« zeigt, welch falsches Paradigma da propagiert wird. Standards werden an Messungen von Messbarem festgemacht. Wie Viktor von Weizsäcker und Alfred Auersperg längst als Ärzte einer »anthropologischen Medizin« klargemacht haben, müssen die Lebensvorgänge zwar u. U. auch fest-gestellt, angehalten werden, um gemessen werden zu können. Messwerte sagen aber deshalb immer nur etwas über Zustände aus, die durch das Messen erst hergestellt werden. Deshalb sind sie weder uninteressant noch wertlos; aber sie sagen über Wirklichkeit erst etwas aus, wenn sie auf den Vorgang bezogen werden, den das Messen anhält. Weder Qualität noch Glück lassen sich messen und planen, programmieren. Wir können ihnen nur möglichst günstige Bedingungen zu schaffen versuchen. Das sind Bedingungen, die geeignet sein können, die Vielfalt des Zusammenspiels zu erlauben, in der lebendige Prozesse sich entfalten müssen. Das Beispiel der Bildung macht das sofort deutlich. Es kann kein Recht auf Bildung, nämlich das Ergebnis einer Bildungsgeschichte, geben. Umso wichtiger ist es, zu wissen und zu fördern, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit Menschen sich nehmen können, was dann Bildung wird. Leiblichkeit ist vermutlich ein zu allgemeiner Begriff. Im Wesentlichen sind natürlich unsere Sinnesorgane die wirklichen Zugänge zu Welt, in denen unser Leib seine Bedeutungen und Vermögen ins Spiel bringt. Das sind vorzüglich die Dimensionen der Wahrnehmung. Der Pariser Bäcker und Unternehmer Poilâne schaffte in seinen Öfen und an seinen Mischtrögen die Messinstrumente ab; »in jeder Handlung muss der Mensch eine Wahl treffen«, um wirklich beteiligt zu sein – das ist die Bedingung für jede Art kreativen Schaffens, immer auch an der eigenen Persönlichkeit. Wahrnehmen und wählen, zwischen zu warm und zu kalt, zu früh und zu spät, zu fest und zu haltlos. Auch so viel Brot, wie sein Unternehmen liefern soll, ein Zehntel des Verbrauchs von Paris, darf dann nicht im industriellen Maßstab produziert werden. Die Entwicklung muss dann verwandelt werden in das Energiefeld zwischen vielen kleinen Werkstätten und einem großen Unternehmer. Das mag eine zeitgemäße Variante des Manufakturprinzips genannt werden. So, wie Frithjof Bergmann die Zukunft der industriell geplanten Produktion gewissermaßen als neues System von Hauswirtschaft entwirft. Da sind dann zwar die Konstruktionspläne besonders exakt vorzugeben und durchzuführen, damit die in vielen Haushalten 300 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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gefertigten Teile in der Endmontage zusammenpassen. Wieder individuell ist aber die Organisation der Arbeit, wenn auch nicht des Produkts. Die Wahlfreiheit bezieht sich also darauf, wie die Einzelnen ihre Arbeit als eine Seite ihrer Lebensformen bestimmen. Bergmann begreift die Koordination, die durch die Computer und deren Programme übernommen wird, als eine Befreiung von den Zwängen der Fabrikhallen und der Betriebshierarchie. Selbstverständlich muss sehr wach beobachtet werden, welche Bedingungen für die gesamte Lebensführung die Tatsache mit sich bringt, dass die starre Mechanik des alten Fließbandsystems nunmehr in die Psyche der Ausführenden, in ihren Gehorsam gegenüber den technischen Vorgaben übertragen wird. Es macht schon hellhörig, dass Bergmann seinen Entwurf zunächst damit begründet, wie überflüssig die Kosten für zentrale Produktionsstätten sind, um dann die Bewegungsfreiheit der neuen Heimarbeiter zu feiern. Die zwei Beispiele zeigen, durchaus unterschiedlich, die Bedeutung der leiblichen Existenz im handgreiflichsten Anwendungsbereich. Ob dabei ein Wandel auch mehr Bewegung in diese Existenz bringt oder nur, jetzt sagen wir besser, den körperlichen Input der Menschen rationalisiert, also beschleunigt, ist eine entscheidende Untersuchungsfrage. Mindestens in deren Verfolgung muss Wahrnehmung die wesentliche Rolle spielen. Ergonomische Messungen können nur Zeittakte erfassen und helfen so, von leiblichen Fragen der Rhythmen abzulenken. Zum Beispiel da werden künstlerische Methoden gebraucht, um über die Alltagswahrnehmung und deren, oft sogar gezielte, Verunsicherung durch die Experten hinauszugelangen. Schon die kritische Beurteilung der Parameter, die von den Experten bzw. nach den betriebswirtschaftlichen Interessen ausgewählt werden, bedarf der Wahrnehmung durch die Sinne und eines wohl entwickelten Sinnenbewusstseins. Schon dies auszubilden, ist Kulturpolitik des Leibes. Am Beispiel der Rhythmen ist offensichtlich, dass zu den Künsten, durch die Wahrnehmung von Bewegung zu einem feinen und starken Bewusstsein ausgebildet wird, besonders die leibpraktischen Reflexionen im Tanz, die einfühlend beobachtenden Beschreibungen der Literaten gehören. Leiblichkeit ist aber ebenso gerade das Medium aller Formen von Spiritualität, die sich nicht nur von geoffenbarten heiligen Texten oder aus metaphysischen Spekulationen ableitet. In den Religionen ist es die Sphäre der Liturgie mit ihren immer leiblich, sinnlich sich voll301 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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ziehenden Symbolhandlungen. Vom reflexiv-meditativen Gang der Za-Zen-Übungen bis zur Prosternation der katholischen Priester, vom Weihrauch in Asien, Europa und Amerika bis zu den Initiationen afrikanischer Traditionen, die den jungen Menschen, die in der modernen Welt achtlos als Pubertätsfälle registriert werden, die veränderten Weltsichten und Lebensformen der Erwachsenen, der vollverantwortlich Mittragenden leibhaftig zu erfahren geben. Von der islamischen Gebetshaltung mit ihren Wohltaten für die Organe des Leibes bis zu den tantrisch-sexuellen Ritualen bestimmen die Kulturen, aus welchen leiblichen Befindlichkeiten und Erlebensdimensionen Menschen ihre Beziehung zum »Ganzen«, vielleicht zu ihrem »Schöpfer«, zu ihrer Art von Transzendenz erleben. Das ist zunächst keineswegs eine Frage unterschiedlicher Formen. Vielmehr wird so unsere Grunderfahrung der Weltdeutung und unseres Selbstverständnisses geprägt. Sie drückt sich erst folgerichtig in allen Fragen und Formen des Lebens aus, also in dem, was insbesondere in Kunstwerken und Aufführungen von Musik, Theater, Poesie und Tanz die Kultur ausmacht. Goethe hat die Phänomene, in denen Natur sich zeigt und erfahren werden kann, gegen ihre bloße Feststellbarkeit im Geiste der Baconschen und Newtonschen Rationalität zu verteidigen versucht. In den Erscheinungen zeigt sich dem Innern des Menschen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, nämlich das Wirken ihrer Grundbewegungsweisen im polaren Miteinander dessen, was jene reduzierte Rationalität nur als Gegensätze definieren kann. Die Steigerung und die Hemmung dieser Weisen gehört wesentlich zu diesen polaren Spannungsfeldern, in denen alle Morphologie sich ereignet. Von den Prozessen der Kristallisierungen bis zu den Bildungsgängen von Verstandes- und Gefühlsintelligenz. Goethe sah, dass durch die einseitig mechanisch-materielle Erklärungsabsicht der klassischen modernen Physik den Menschen die Sphäre entzogen wird, in der wir sinnenhaft der Transzendenz zu begegnen vermögen. Damit wird aber ein Materialismus inthronisiert, der alles Nicht-Materielle aus der »Diesseitigkeit« verweist, um die Notwendigkeit eines abstrakten »Jenseits« zu bestätigen, wie metaphysische Konstruktionen es behaupten sollen. Überlebensreste anderer Wissens- und Erfahrungswege bleiben ins Abseits gedrängt. Die Verehrung der vedischen Religion und Philosophie für Feuer und Sonne haben die Europäer im Namen des Christentums für Götzendienst erklärt und bei sich selber eine existenzielle Achtung und Dankbarkeit gegenüber den Elementen, die das Leben 302 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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tragen, ausgelöscht. Damit sind zugleich alle anderen Schichten der Wahrnehmung ausgetrocknet, so dass erst Katastrophen unter der Misshandlung zum Aufhorchen provozieren müssen. Und wie hilflos, primitiv bleibt dieses Aufhorchen noch aufgeteilt in die Erfindung einer »ökologischen« Wissenschaft, die messen muss, was Wahrnehmung längst hätte bewusst machen können, und einigen esoterischen Beschwörungen, deren bemühte Betulichkeit die »Mutter Gaia« nicht in das geschichtliche Bewusstsein zurückholen kann. Zwischen den Bereichen ökonomischer Tätigkeit und eines Bewusstseins von Transzendenz liegen all die anderen Ebenen menschlicher Existenz, die unter derselben Zerreißung leiden. Eigentlich ist an allen Enden das zugrundeliegende Thema offensichtlich: die wechselseitigen Zugänge zwischen Leib und Seele und ihre gemeinsamen Begegnungen zur Welt. Auch ihr gemeinsames Ringen gegen die Welt. Aber gemeinsam, während vorherrschend Rollen auf Bereiche verteilt sind. Gesundheit ist eine Sache des Körpers. Meditation ist eine Sache der Seele oder des Geistes. Landbau heißt, Beschaffung von Materie durch materiellen Einsatz. Religion wird vom Körper nur gestört. Aber was macht man mit der Liebe? Man definiert seelische Neigung gegen körperliche Anziehung. Seelische Leidenschaft ist schon im Verdacht, vom körperlichen Triebleben gesteuert zu werden. Hat die Lust etwa nichts mit Seele zu tun? Beginnen wir mit der Gesundheit. »Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper.« Die Römer hatten mens gesagt und vielleicht die verschiedensten Modi von Intelligenz gemeint – wie das englische mind. Trotzdem, die Devise klingt wie eine funktionierende Zweckehe. Seit hundert Jahren immerhin geben sich die unterschiedlichsten Schulen der Psychologie und der Therapie die größte Mühe, die vielfältige seelische Bedingtheit somatischer Erkrankungen aufzuzeigen – wie auch den Einfluss von erkrankten oder zu Untätigkeit verdammten Organen auf die seelische Befindlichkeit. Zu einem Grundgedanken irgendeiner »Gesundheitsreform« hat dieses Wissen noch nicht geführt. Es müsste sonst auch eher von einer Behandlungsreform oder Ähnlichem gesprochen werden. Aber es geht im Grunde doch immer nur darum, Kosten zu sparen. Also bemüht man sich lieber, naturwissenschaftlich nicht feststellbare Zusammenhänge zu ignorieren, die vielleicht schon bald auch für die »exakt Denkenden« offensichtlich sein werden. Es geht selbstverständlich darum, den Einsatz entsprechender Behandlungen rational streichen zu können, statt Forschung, sehr ge303 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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mischter Gruppen, zu fördern, um Irrationalitäten aufzulösen, die durch Ignoranz hergestellt wurden. Über den Fragen von Gesundheit und Krankheit muss auch der Fokus auf das Individuum aufgelöst werden. Wesentliche Probleme, die an den Einzelnen auftreten, sind Erkrankungen der ganzen Gesellschaft. Aber das kann nicht angerührt werden, weil Sinn und Unsinn eingefahrener Lebensformen nicht Gegenstand öffentlichen Nachdenkens bei uns sind. Es ist richtig, dass Demokratie da keine normativen Antworten auferlegen darf. Das darf aber nicht zum Vorwand genommen werden, auch die Fragen totzuschweigen. Ein interessantes Beispiel ist die Initiative der Ministerin gegen den Mangel an Bewegung. Der ist so offensichtlich wie kaum ein anderer. Aber das Thema wurde schnell beerdigt. Es war ja auch erfrischend ungewohnt im Bundesparlament. Alle wussten gleich etwas dagegen zu sagen, dass eine Frage unserer leiblichen Existenz zum politischen Thema gemacht wird. Die Verteidiger des Individualismus waren empört über den zu befürchtenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht. Als ob Fettleibigkeit sinnvollerweise eine Selbstverwirklichung sein könnte. Viktor von Weizsäcker hat uns seit über einem halben Jahrhundert gelehrt und gezeigt: »Krankheit ist der Ausdruck ungelebten Lebens.« Genau das ist, körperlich und seelisch und geistig, also leiblich, Mangel an Bewegung. Andere haben mit gewerkschaftlich geübter Hellhörigkeit die Zwangseinführung von Massensport zu dem Zweck befürchtet, die Kosten der Symptome und Konsequenzen des Mangels abzuwenden. Alle sind sich einig; die wirkliche Frage ist aus den Agenden verdrängt. Und die eigentliche Frage ist die, wie wir in dieser Gesellschaft mit den Wechselbeziehungen und dem vielfältigen Zusammenwirken von Leib und Seele, Körper und Geist umgehen wollen? Die Durchlässigkeit der Seiten menschlicher Existenz für einander anzuerkennen, ist die Grundforderung. Dann wird auch unsere Wahrnehmung in allen Ebenen der Intelligenz sich darauf richten, die Durchdringungen der Seiten zu erkennen. Auch im Menschen geht es um Gleichgewichtsbewegungen aller Momente eines Kontexts, wie wir widerwillig und zögernd, aber gezwungenermaßen im ökologischen Denken lernen. An dieser Analogie wird deutlich, dass Wesen, die das Zusammenspiel ihrer eigenen inneren Existenz aufteilen und die Elemente gegeneinander definieren, unfähig sein müssen, äußere Kontexte sich wirklich in deren ganzer dynamischer Lebendigkeit überhaupt vorzustellen. Insofern ist ein leidlich gelingendes Leibbewusstsein auch Kulturpolitik in Richtung 304 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Ökologie. Nur im eigenen Erleben und Erfahren können angemessene Vorstellungen von nachhaltigen, tragfähigen Lebensgeschichten geleistet werden, deren Fortsetzung sich so in die Zukunft öffnet, dass neue Möglichkeiten entstehen. Die Einheit von Ökologie und Humanökologie. Ein Drehpunkt ist der Gesundheitsbegriff selbst. Die Formel der World Health Organisation hat es, theoretisch, geschafft, den Blick auf das Seelische, Körperliche, Geistige und das Soziale zu öffnen. Aber sie hat die Abwesenheit von Krankheit zum Maßstab gemacht. Wenn wir bei Krankheit an Zerstörung denken, ist Abwesenheit oder Vermeidung oder wenigstens Bekämpfung die richtige Antwort. Krankheit ist aber viel öfter erst einmal Störung. Störung hängt vielfältig und sogar widersprüchlich mit Gleichgewicht zusammen. Wir dürfen nicht einmal den Fehler der WHO-Definition zu überwinden versuchen, indem wir Gesundheit als Gleichgewichtszustand begreifen. Kein Lebendiges ist je in einem Zustand. Das ist genau die eine der Definitionen von Totem. Es geht immer um Gleichgewichtsgänge, in denen von Augenblick zu Augenblick Gleichgewichtigkeit aller Kontexte und Momente neu gesucht wird. Störungen sind die natürliche Anregung dazu. In der Physik heißt das jetzt Synergie. Gesundheit muss optional bestimmt werden: Ein Organismus ist solange und soweit gesund, wie in ihm noch die Option Gleichgewicht eine Chance hat; wie es noch Bewegungen gibt, die den Ausgleich von Ungleichgewichten bewirken können. Kein Zustand – ein work in process der Natur. Der Natur. Und zur Natur des Menschen gehört eben auch unsere Seele – freilich nicht reduziert auf eine Molekularbiologie des Gehirns, die viel mehr ihre Werkstatt ist. Dass die Seele nur »Natur«, naturwissenschaftlich erfassbare Natur sein soll, wie nun die Gehirnforschung die Dichotomie auszuhebeln versucht, ist selbstverständlich genauso sachfremd. Nur, wer die alte Trennung mitgemacht oder gar bewundert hat, kann von den Entdeckungen fasziniert sein, die nun an Messungen und Stoffen – vorzugsweise »Transmitterstoffen« – die physiologischen Entsprechungen zu Vorgängen nachweisen. Bewegt hat sich damit unsere Auffassung vom leib-seelisch-geistigen Zusammenspiel nicht wirklich. Es wird nur eine neue, nunmehr eine exakte Beschreibung bestimmter Aspekte des Zusammenspiels vorgenommen. Die hohe Exaktheit, mit der die relativ eng gewählten Ausschnitte dargestellt werden können, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es immer noch eine Beschreibung ist, 305 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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die für eine Erklärung ausgegeben wird. Botenstoffe sind nicht die Botschaften. Über deren Entstehung, Beteiligte und Sinn erfahren wir anhand der Proteine nur sehr wenig. Die praktische Beziehung zur äußeren Natur ist bis hin zur Industrialisierung und Automatisierung der Landbau, nachdem Sammeln und Jagen kaum mehr viele Völker ernähren. Bergbau und Seefahrt sind doch eher Sonderfälle. Landbau und Gärtnerei werden falsch in einer Gesellschaft verortet, wenn sie nur über ihre Produkte definiert und als Lieferanten von Waren ins Bruttosozialprodukt eingeordnet werden. Dort haben sie nicht nur schwache Zahlen zu bieten. Ihr bezifferbarer Output ist überhaupt gar nicht ihre wichtigste Leistung. Die modernen Gesellschaften haben wesentlich ihre praktische Beziehung zur Natur in die Hände der Bauern gelegt. Die haben allerdings, durch die Industrie und die Abhängigkeiten von abstrakten Marktlagen gedrängt, nichts Eiligeres zu tun gewusst, als ihr Gewerbe selber zu industrialisieren. Wenn Agrarkapitalisten ihre Angestellten drei Meter über dem Boden in riesigen Traktoren über die Felder fahren lassen, in Stoßzeiten mit Großscheinwerfern in dunkler Nacht; wenn die Massentierhaltung nach den Maximen der geschlossenen Anstalt durchgezogen wird; wenn die Ausscheidungen der Tiere, die einmal kostbarer Dünger waren, katastrophal zum Sondermüll werden; wenn Verbraucher dazu erzogen werden, statt auf Qualitäten der Früchte nur auf regelmäßige Formen und optische Signale wie grelle Farben zu reagieren; wenn Agrarwirte aus dem Kreislauf von Ernte und Saatgutpflege durch die Macht manipulativer internationaler Multikonzerne ausgebootet werden, dann ist dies zugleich eine negative Kulturpolitik des Leibes. Nach zwei und mehr Seiten. Die Kultivierung des Ackerbodens und seiner Fruchtbarkeit ist schon vom Wort her Beginn und Grundlage dessen gewesen, was wir heute mit der, von der ursprünglichen cultura ausgehenden Kultur meinen. Menschen haben am Ackerbau gelernt, ihre fordernden Eingriffe in die Bedingungen eines Stückes Erde so einzufügen, dass die evolutionär entstandenen Kreisläufe nicht aus den Fugen geraten. Noch heute kann man in wichtigen Gegenden der Welt staunen, welch hohe Schule der Wahrnehmung sich in diesen Wechselbeziehungen der Menschen mit ihrer Umgebung ausbildet. Ich finde immer die Erzählung von Waldmenschen in Brasilien so überzeugend und auch überraschend, nach der die Menschen dort daran, wie hoch eine bestimmte Spinnenart an den Stämmen der Bäume sich 306 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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aufhält, voraussehen können, wie hoch die nächsten Überflutungen steigen werden. Selbstverständlich ist jede landbezogene – oder auch meeresabhängige – Bevölkerung voll solcher Beobachtungen und zieht ihre Schlüsse daraus. Seit bei uns in Europa solches Wissen marginalisiert wird, hat es zwar oft immer noch lebenserhaltende Bedeutung, aber wird in den Spalten der Bauernkalender ins Dämmerlicht des Aberglaubens geschoben. Wie auch immer, es geht um Wissen eines eigenen Stils, wie Ludwik Fleck sagen würde. Ein Wissensstil, der im praktischen Naturverhältnis gründet, über Beobachtung und Erfahrung Wahrnehmung ausbildet und bestimmte Formen der Reflexion hervorbringt. Eine eindrucksvolle Studie dieses Stils hat Lévi-Strauss geliefert und »das wilde Denken« genannt – »la pensée sauvage«. Karen Gloy spricht da von unterschiedlichen »Rationalitätstypen«. Dies ist ein Wissensstil, der ebenso handlungsorientiert wie aufnahmeorientiert ist. Fokussiertes Handeln muss sich immer in die Achtung und Beachtung von Kontexten einbetten. Dabei entstehen Vorgehensweisen, die nicht eine abstrakte Kausalitätsspekulation in Problemlösungsstrategien umsetzen. Aktivität und Passivität durchdringen einander vom Anfang der Wahrnehmung bis zum Ende des Eingreifens. Der Gartenbauer Christian Hiss hat seinen eigenen Umgang mit dem Pilzbefall von Salatköpfen erprobt. Er hat verstanden, dass die Bekämpfung, die aufs Totale zielt, den Schädling ebenso total provoziert. Immer mehr Pestizide in immer neuen Varianten haben nur einen Erfolg auf die Dauer: eine nicht zu gewinnende Eskalation dieser Kriegsführung. Dagegen kann Züchtung den Pilz dazu bringen, wenn er irgendwie geduldet wird, sich an einem Teil des Salatkopfes anzusiedeln, der dem Genuss und dem Verkauf nicht abträglich ist. An diesem Modell oder an einem anderen grundsätzlich ein Verhalten zu entwickeln, das im Konflikt prüft, wie viel zu erreichen ist, indem man auf das Gegenüber zugeht, ist von allgemeiner Bedeutung. Da werden vita activa und vita contemplativa – durch die Universitätskonzeption der Scholastik getrennt – für einander durchlässig, ebenso wie Sinneswahrnehmung und Vernunftbewusstsein. Das ist Kultur insgesamt und verdient die intensivste politische Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit sicherten in traditionellen Gesellschaften religiöse Forderungen und die Rituale ihrer Befolgung. Der Vielfalt von Reissorten im Anbau indischer Bauern, berichtet Vandana Shiva, entsprach eine Folge von Opfergaben, die jede dieser Sorten mit einer besonderen Gottheit verband, der genau diese geschuldet war. Die 307 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Japaner ringen mit der Welthandelsorganisation um die Authentizität ihres heimischen Reisanbaus, der eben nicht irgendein Output irgendeiner Produktion sein darf, sondern die gewachsene Verbindung einer Kultur mit dem Naturverhältnis sichern muss, das ihre Geschichte ebenso getragen hat, wie sie von ihm bestimmt wurde. Schon der oberflächlichste Tourist könnte bemerken, dass bei den Shinto-Schreinen, die er besichtigt, Steine und Bäume geheiligt werden, indem Binden oder Girlanden aus Reishalmen um sie gewunden werden. Zu den anderen Seiten dieses Naturverhältnisses gehört vor allem, wie wir uns ernähren können. Feuerbachs These »der Mensch ist, was er isst« wäre auf vielen Ebenen auszuführen, die von traditionellen Ge- und Verboten der Religionen bis zu den Laboruntersuchungen krebserregender Stoffe oder freier bzw. gebundener Fette reichen. Die modernen Gesellschaften versäumen ihrerseits die Fragen nach dem Sinn von Ess- und Trinkgewohnheiten, weil in ihren Augen die traditionellen Gesellschaften die Kontrollen über Messzahlen für bestimmte Wirkstoffe und chemische Verbindungen versäumen. Viele Beobachtungen sprechen allerdings dafür, dass in langer Erprobung keine schlechteren Regeln und Gewohnheiten sich einspielen. Vielmehr werden meist die anthropologischen, sozialen und kulturellen Kontexte besser berücksichtigt. Während die Gleichheitsforderung der Demokratie in wesentlichen qualitativen Hinsichten leicht übergangen wird, unterstellt die wissenschaftliche Ernährungsauffassung qualitativ einen erstaunlich durchschnittlichen Einheitstyp, wenn sie Zahlen für »normales« Gewicht zur Körpergröße und dergleichen aufstellt. Die Hindu-Welt zum Beispiel mit unterschiedlichen Vorschriften für die Menschen unterschiedlicher Tätigkeiten, denkt oder dachte da rationaler. Krieger und Bauern sollen Fleisch essen, Priester und Kaufleute haben für diese Art von Energien keine angemessene Verwendung. Es hat für sie keinen Sinn. Daneben ist es selbstverständlich auch richtig, dass jede Differenzierung zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen benutzt werden kann. Dann wird die Formulierung von Sinn zur Ideologie und verschleiert Ungerechtigkeit, Bevorteilung, Ausbeutung. Da können die modernen Brüche zur Heilung benutzt werden, wie Gandhi es immer gefordert hat. Wie immer die Antworten lauten, das Bewusstsein von diesen Fragen bildet eine wichtige Seite einer Kultur und kann aus ihrem Zusammenhang so wenig weggedacht werden wie die jeweilige Bedeutung von Gewebe in den Techniken und Weltansichten eines Gemein308 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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wesens oder der Gebrauch von Metallen und Hölzern. Die Antworten können höchste Spiritualität und brutalste Barbarei bedeuten. Die Abwesenheit der Fragen ist jedenfalls einfach Unkultur. Dass nach alter Lehre ein Jude danach ein gerechter genannt wurde, ob er die sechshundert und soundso vielen Ge- und Verbote täglich einhielt, empfinde ich als einen Grenzfall von Sinnfragen zu einer Pedanterie, die eigentlich vom Sinn nur ablenken kann. Sie stellt das Verhalten der Menschen derart fest, dass sie der internen Bewegtheit des Lebens und der Öffnung für Bildung und Erfahrung durch Wandel nur noch Riegel vorschiebt. Unter der Kruste moralisierender Pedanterie und ihrer luxuriösen Umgehungen – scholastische Spitzfindigkeit war auch im Erlauben und Verbieten brillant – lohnt es, den Sinn der Fasten wiederzuentdecken. Das geschieht auch im Stillen, teils als Übung gegen Unbescheidenheit, teils als Entlastung des Kreislaufs von den Belastungen durch den Stoffwechsel, teils um des Genusses der so zu gewinnenden Leichtigkeit willen, die den Sinneswahrnehmungen wie den seelisch-geistigen Übungen freieres Spiel gewährt. In wohl allen Kulturen der Welt sind dem Tages- oder Jahreslauf solche Phasen eingeschrieben worden. In den westlichen Modernen wie in den sozialistischen und postkommunistischen Gesellschaften sind derartige Übungen und Erfahrungen unter einen Rechtfertigungsdruck geraten. Seine liberaleren Varianten machen die Erwähnung genierlich, dessen autoritäre Varianten gehen bis zur offenen Repression. Faktisch ist die Ausrichtung aller Lebensformen an den Strategien und Prinzipien kapitalistischer Kalkulationen unausgesprochen Repression. Freie Gestaltung wird in Reservate verwiesen und bis zum Sektiererischen entstellt. Die Gegenaktion sind auch hier fundamentalistische Organisationen, die umso fanatischer, vielleicht auch verzweifelter alte Gewohnheiten und Vorschriften mit völlig neuer Rigidität implementieren wollen, als sie gleichzeitig sich ökonomisch und technisch jene Kalkulationen zu eigen machen. Kulturpolitik des Leibes wirkt in alle Felder hinein. Wenn sie sich wirklich zu Politik für Kultur aufschwingt, geht es um Verflüssigungen gegen Blockaden. Sicher ist damit nicht gemeint, alles fließt so vor sich hin. Verflüssigung brauchen Politik und Kultur, um den Blick für die Lebensfragen frei zu bekommen und die praktischen Verhältnisse an ihnen auszurichten. Von allen Feldern unserer Existenz soll hier nur noch der Komplex von Kindheit, Pubertät und Tod in einigen Bemerkungen vergegenwärtigt werden. 309 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Kulturpolitik des Leibes für eine Gesellschaft in Bewegung kann nur beginnen am Beginn des Lebens. Als Kinder sind wir nicht in der Lage, für uns selber zu sorgen. Diese Abhängigkeit ruft in den Erwachsenen Fürsorge wach. Hans Jonas sieht in dieser Antwort geradezu eine Art Instinkt und beschreibt die Wahrnehmung des hilfsbedürftigen jungen Lebens so existenziell, dass darin ein Modell ästhetischen Begegnens erkannt werden könnte. In der »Geschichte der Kindheit«, wie sie Ariès für die europäische Neuzeit rekonstruiert hat, tritt aber ebenso eine entgegengesetzte Reaktion der Erwachsenenwelt auf. Die Unfertigkeit der Kinder wird als Mangel behandelt. Damit wird Menschlichkeit – und eigentlich Leben überhaupt – doppelt blockiert. Das Werdende wird nicht in der Polarität von Anlagen und deren Entfaltung erfahren, sondern von einem festgestellten Ziel her als defizient behandelt. Das bedeutet, eine »Erziehung« zieht am Kind, um es zu dem zu machen, was die Erwachsenen schon sind oder wie sie zu sein behaupten. Wir versuchen, wie erfolgreich auch immer, das dumme Gerede von »dem Menschen« zu überwinden, indem wir, und zwar öffentlich, politisch, weibliches und männliches Menschsein in ihren eigenen Bedeutungen und als komplementäres Gegenüber würdigen. Gleichzeitig werden die Lebensalter der Menschen weiterhin statistisch verrechnet. Kindesalter ist, wie das »dritte Alter«, eine eigene Weise, Mensch zu sein. Wie soll eine Lebensgeschichte sich entfalten, eine Persönlichkeit reifen, wenn sie nicht in jeder Gegenwart neu und anders wahrgenommen werden? Aber Eltern haben allzu oft den merkwürdigen Drang, plötzlich ihre Kinder dazu benutzen zu wollen, die Defizite ihres unerfüllten Lebens wenigstens nachträglich ausgleichen zu lassen oder ihren wirklichen oder vermeintlichen Erfolgen über den eigenen Tod hinaus ein bisschen Ewigkeit zu sichern. Ein fatales Syndrom. Hegel hat die Fürsorge der Eltern als Entäußerung begriffen und einmal gesagt: »Die Eltern entleeren sich ins Kind.« Das rächt sich nicht nur an ihnen selbst. Ihre Leere vererben sie diesen Kindern und, schlimmer noch, sie machen deren zukünftiges Leben zur Projektionsfläche ihrer eigenen Wünsche und Vorstellungen. Keine Rede von der eigenen Vernunft der Kinder, die wir aus einer Evolution von Milliarden Jahren mitbringen. Selbstverständlich gehört zu der erforderlichen Fürsorge, dass wir die Kinder in unsere Erfahrungen im Umgang mit der Welt einführen. Ihre Vernunft verlangt genau das von uns, indem sie sich und diese Welt behutsam in nachahmenden 310 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Schritten und Gesten kennen lernen. Vorbilder sind von größter, von überwältigender Bedeutung. Aber mit der Sicherheit des Erprobten teilen die Vorbilder zugleich die Erstarrung im Bornierten mit. Es ist die Vernunft des nächsten Alters, das wir Pubertät nennen, in der Abstoßung Spielraum für andere Zugänge zu schaffen und die Freiheit des eigenen Urteilsvermögens, selbst wo Vorbilder neu übernommen werden. Alle diese Vollzüge sind widersprüchlich. Natürlich. Es geht um Bewegungen zwischen den Polen, die schon alles biologische Leben bestimmen. Dauer und Wandel. Wandel kann nur an irgendwie zugleich Überdauerndem sich vollziehen. Lebensgeschichten können sich fortsetzen nur in Auseinandersetzung mit Veränderungen. Gregory Bateson hat das auf die einfache Formel gebracht: Eine Art sorgt für Dauer auf der Ebene der species, den Wandel erprobt sie auf der Ebene ihrer Individuen. Die Erprobungen vollziehen sich in der Natur in vielen kleinsten Schritten; Mutationen brauchen Generationen. Menschen versuchen immer mehr, entsprechende Entwicklungen in einer Gesellschaft sich vorauseilend vorzustellen. Ergebnisse vorwegzunehmen und Prozesse zu steuern und zu beschleunigen. Umso wichtiger ist die Chance, durch die Kinder mit einem neuen Blick sehen zu lernen. Wenn der Tod als unannehmbar, als empörend, als beleidigend für die Einmaligkeit jeder unserer Existenzen empfunden wird, ist die einzige mögliche Antwort die der Existenzphilosophen. Wir sind frei, ihm unsere Sinnbestimmung zu geben wie allem, das uns trifft. Warum sagen wir dann nicht einfach, dass doch die gerade Lebenden so ideale Menschen nicht sind, dass es andere nicht noch einmal neu versuchen sollten? So erschöpfend sind in ihnen die Vermögen der Menschheit nicht verwirklicht, dass wir nicht hinter unseren Bedingtheiten, Grenzen und Verletzungen neuen Lebensgeschichten Raum wünschen sollten. Das wäre eine Überwindung des Todes im Leben der Menschheit mit dieser Welt und hoffentlich für diese Welt. Die Bedingung ist aber, dass wir eben das neue Leben so achten, empfangen und begleiten, wie es die symbolische Verehrung eines Kindes in vielen Religionen, eben auch den christlichen, uns vormacht. Unsere Gesellschaften auf Wege eines solchen Verständnisses zu bringen, erfordert allerdings ganz anderes und sehr viel mehr als einen »Generationenvertrag«, der dazu noch die heute machtlosen Künftigen manipuliert. Diese Manipulationen sollen angeblich Kontinuität sichern, die ja wirklich immer den notwendigen Widerpart zum Neuen bildet. Eine ganz andere Kontinuität muss aber dem sich wandelnd fortsetzenden Leben den Boden ge311 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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währen und bereiten. Eine Gesellschaft, die Kinder will und sich von diesen Kindern eine Zukunft erhofft, übernimmt damit die Verantwortung dafür, dass diese Kinder von dieser Gesellschaft die Grundbedingungen für ein menschliches Leben im Verhältnis zu den herrschenden und möglichen Lebensformen erhalten – sowohl beizutragen zum Leben des Gemeinwesens wie teilzuhaben an seiner Wohlfahrt. Alle traditionellen Kulturen sind grundsätzlich nicht auf die Idee gekommen, dass es anders sein könnte. Allerdings das Töten weiblicher Kinder in manchen Weltgegenden verstößt dagegen in schrecklicher Weise, und alle Diskriminierungen sind Schritte in dieselbe Richtung. Der Grundsatz ist, meine ich, die wirkliche anthropologische Begründung für Entwürfe wie den eines »Grundeinkommens«, nachdem die kapitalistische Auflösung alter Gemeinschaften eben auch die gemeinschaftliche Fürsorge auf eine individuelle Basis verweist. Natürlich ereignet sich auch die Reifung zum Erwachsenen, mit den Manifestationen eines nun geschlechtlichen Lebens, an den Individuen. Von den unverwechselbaren Einzelnen muss sie erlebt und vollzogen werden. Was das Ereignis mit dem Einzelnen macht und wie es erlebt wird, ist aber eindeutig eine Frage der Kultur oder Unkultur. Die modernen Gesellschaften haben sich auch hier zu einem verwirrenden Durcheinander unentschlossener Haltungen entschlossen. Die offizielle Sprachregelung heißt Pubertät. Damit wird der ganze Vorgang individuell biologisch verbucht. Folglich geschieht da zwar etwas grundlegend Menschliches, unausweichlich, aber wir sind intim dafür verantwortlich, ohne zu erfahren, was es mit uns tun könnte, vielleicht sollte. In säkularisierten Gesellschaften wird diese vielleicht stärkste Verwandlung im ganzen Leben und dazu die erste so einschneidende im bewussten Erleben zum Privatproblem gemacht. Sexualkundeunterricht klärt immerhin über einige körperliche Organe und ihre Funktionen auf, so dass Frauen nicht mehr fassungslos von den Vorgängen der Blutungen, der Entjungferung, des Gebärens überwältigt werden, wie das erstaunlich lange noch der Fall war. Es war der Fall, weil dieser Wandel zu Biologie erklärt, über diese Biologie aber nicht gesprochen wurde. Biologie war peinlich. Der Sexualkundeunterricht ist aber nur eine Art Kurs in Fahrzeugtechnik, wo es in Wirklichkeit um die Reife zum Führerschein geht. Die Peinlichkeit wird zwar öffentlich, aber die Verantwortung dafür bleibt privat. Eine ganz dünne Schicht darüber bilden die Überreste der christlich-religiösen Deutung. In der »Konfirmation« sollen »die jungen 312 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Menschen« bewusst sich zu der Taufe bekennen, die ihnen unbewusst zuteil geworden ist. Das ist an sich folgerichtig gedacht und drückt sich darin aus, dass sie nun voll als Mitglieder der Gemeinde gelten. Das ist aber alles auch wieder ambivalent. Warum müssen wir in dem ersten Moment, in dem wir etwas so Wichtiges gefragt werden, schon die Antwort vorgegeben bekommen? Erwachsen werden gibt sich sofort als Doublebind zu erkennen. Die Konsumgesellschaft beschwichtigt auch diesen Konflikt mit Geschenken, möglichst großen im Sinne von teuer oder gleich in bar. Die Verantwortung für die eigene Lebensgeschichte soll zwar in das Gemeinwesen integriert werden – das hat die »Jugendweihe« der DDR sicher sinnfälliger betont; aber die Gesellschaft beansprucht weiter die Deutungshoheit über die nächsten Schritte dieser Lebensgeschichte. Hoheit bedeutet, dass nicht die Erfahrungen und die Sinnzusammenhänge der Kultur mit den Jungen gemeinsam angeschaut und befragt und erläutert werden. Das würde ja auch den wenigsten Erwachsenen gelingen, da sie selber gar nicht klar überzeugt sind. So legt sich der nächste Doublebind über das Ereignis und seine Folgen. Die Deutungshoheit wird als Tabu über den Fragen praktiziert. Ich vermute, dass die werdenden Frauen stärker darunter zu leiden haben als die werdenden Männer, insofern die Blutungen etwas Erschreckendes behalten und schwierigere Aufgaben leiblicher Disziplin stellen, während die Erektionen und Ejakulationen eher freundlich erregend wirken dürften, zumal seit der rigideste Bann über das Spiel mit der eigenen Sexualität gebrochen oder wenigstens verblasst ist. Auch darin findet eine Politik des Leibes in unserer Gesellschaft nicht statt. Sie verweigert diese Fragen und damit eine weitere Seite der Kultur. Sie macht bei der ersten besten Gelegenheit unmissverständlich klar, dass Wandel einen Haufen von Problemen bedeutet und jede und jeder allein, nein, im Grunde einsam damit »fertig werden« muss. Rat und Beratung sind den Zufällen glücklicher Einzelbegegnungen überlassen. Dabei ist die einzig angemessene Antwort auf Wandel das Fest. Dumpf so etwas ahnend werden immer mehr »runde Geburtstage« gefeiert, deren Feste allerdings meist wenig gemeinsame Arbeit am anzunehmenden und zu gestaltenden Schritt in eine andere Altersphase im Blick haben. Das könnte auch nur gelingen, wenn an der ersten großen Schwelle wirklich, eben und als Moment eines kulturellen öffentlichen Lebens gefragt worden wäre, wie anders denn nun die Heranwachsenden zu diesem öffentlichen Leben bei313 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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zutragen haben, zu dem ihre Familien und Freundeskreise, ihre Schulen und Gemeinden alle auf unterschiedliche Weise gehören. Von dem Beitrag, der von ihnen erwartet wird, erfahren sie ernstlich dann aus der Zeitung, wenn die aktuellen Bedingungen des »Generationenvertrags« bekanntgegeben werden. Ein Fest muss es sein. Wandel ist immer, zumindest auch, erschreckend. Nur ihn zu feiern, kann den Schrecken mitverwandeln. Unsere klammheimliche Kulturpolitik des Leibes ist dazu nicht fähig und dessen nicht willens. Die offizielle Politik institutionell gesicherter Kontinuität durch Starre wird in der Privatpsychologie der ganzen Gesellschaft weiter nachhaltig verankert. Inzwischen wird zugleich in bestimmten Funktionen daneben eine prekäre Flexibilität gefordert, weil das System das braucht, nicht weil es dem Leben helfen würde. Die einmal geleugnete Pubertät gehört zu den Tendenzen, die insgeheim unsere Lebensgeschichten und damit diese Gesellschaft beherrschen. Wir werden nie erwachsen. Wir können nie mehr ganz die Verantwortung für uns übernehmen, weil wir in der Kindheit und besonders noch einmal in der Jugend lernen, dass Wandel ein Missgeschick ist, das uns von außen trifft und möglichst wenig zu erkennen sein soll. Je nach Temperament und Umgebung haben wir vielleicht die Wahl, uns auf die Seite der cholerischen oder der pathetischen, der heldischen oder der resignierenden Erscheinungsform zu schlagen. Starre Machos und bigotte Dulder fallen mehr auf als die stilleren Typen. Aber im Grunde hören die Symptome und die Krisen, die man nur pubertär nennen kann, ein Leben lang nicht auf. Die heftigste und tragischte dieser Krisen ist dann der Tod. Wie sollen wir diesen Wandel, in dem unsere ganze Existenz eingeschmolzen wird, annehmen, wenn all die früheren Phasen so viel mehr mit Trotz, Resignation, Selbstbeherrschung und Überspielen beantwortet worden sind, als uns in eine Reifung zu führen. Nur Bewegungen, in denen wir anzunehmen lernen und unsere Veränderungen erproben, erneuern und vertiefen unsere Lebendigkeit. Das In- und Miteinander unserer leiblichen und unserer geistig-seelischen Bewegungen erfährt mit jeder neuen Phase, dass die Anteile und Impulse auf beiden Seiten sich verschieben. Immer mehr wird das naturgegebene Verfügungspotential des Körpers abgelöst durch das bewusste Selbst, das uns insgesamt zur zweiten Natur wird. Am Ende solcher Lebensgeschichten kann der Tod als die äußerste dieser Transzendierungen erfahren werden. Alle Verweigerungen und Behinderungen der vielen Phasen dahin 314 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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müssen die letzte als den ultimativen Bruch erscheinen lassen. Soweit wir uns erlauben, jede Veränderung als Verletzung zu empfinden, wird die äußerste als absolute Zerstörung auftreten. Unsere Kultur hat nicht gerade die Wahrheit des Wandels und die Fürsorge für wahrhafte Antworten auf seine Bewegungen zu ihrem Leitfaden gemacht. Die Trennung von Leib und Seele, Geist und Materie ist vielmehr metaphysisch überhöht und abgesegnet worden durch die Trennung von Diesseits und Jenseits. Und doch haben Menschen Wege und Deutungen gefunden, einfach aus einer Gefühlsintelligenz, die wohl wesentlich eine leiblich begründete ist, sich Schritte des Transzendierens mitten im Diesseits zu gewinnen. Die christlichen Religionen – wie die islamischen gleichermaßen – haben sie nur immer wieder als Vorwegnahme des jenseitigen Heils ihrer Wurzeln im Jetzt, im Hier, im Leib, im Selbst beraubt, um nur das Ziel im Jenseits gelten zu lassen. Das relativ späte Dogma der Auferstehung des Leibes ist vielleicht die wichtigste dieser Strategien. Transsubstantiation verdrängt Transzendierung. In diesem Rahmen konnten nur Exerzitien und kasteiende Askese Programme sein. Dagegen ist das Üben erst wieder zu entdecken und – zu üben.

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CODA EINIGE VERSUCHE IM TANZ

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ÜBER »RHYTHM IS IT« UND »DEN ORT DES GÖTTLICHEN«

Unser Gespräch ging aus von dem überwältigenden Erlebnis, wie da 200 junge Leute, die durch die Schulen und Straßen von Weißensee und Kreuzberg zu schlürfen gewohnt sind, in einen wunderbaren Gang und tanzende Bewegungen gefunden haben. Mein eigener Eindruck von der Aufführung war entschieden der, dass der Erfolg für die Jungen und Mädchen und die 3000 Zuschauer nicht von den Formen der Choreographie, sondern wesentlich von der Bewegungsfreude in diesem Tanz getragen war. Wie war diese Verwandlung möglich? Wie können Schritte auf einem solchen Wege gefunden werden? Zunächst sahen wir uns den kurzen Film an »Rhythm is it«, in dem für »Arte« die entsprechende Arbeit am »Sacre du Printemps« im Vorjahr dargestellt wird, und konnten unsere Fragen dazu mit Volker Eisenach besprechen, der diesen Prozess von Anfang bis Ende tätig begleitet hat. Wie konnte das Selbst-Bewusstsein solche Bewegung gewinnen und der Zauber solcher Leiblichkeit erwachen? Was wir sehen und hören, kann man zusammenfassen in drei Stichworte. Die Strenge des Choreographen gibt nicht nur die Arrangements vor, auf die in den sechs Wochen hingearbeitet wird, sondern auch ganz bestimmte Vorübungen zur Klarheit der Schritte und zum gemeinsamen Rhythmus. Mit großer Entschiedenheit und eben auch persönlicher Überzeugungskraft hat Roysten Maldoum die jungen Leute erst aus ihren Turnschuhen und dann aus ihrer eher dumpfen Neutralität, vor allem aber aus ihren Verlegenheiten herausgeholt in die Konzentration bewegter Arbeit. Ein Drittes war die aufregende Begegnung mit der Bühne und die Erwartung des eigenen Auftretens, dazu mit dem großen mitreißenden Orchester der Berliner Philharmonie unter Sir Simon Rattle. Diese Beobachtung ist so interessant, weil sie sagt, dass die Freude daran, sich zu spüren und sich auszudrücken, durch eine Verbindung 319 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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von letztlich befreiender Disziplin mit dem ansteckenden Elan von Professionellen, von großer Musik und von einer berühmten Institution entstehen kann, wenn eine ernsthafte gemeinsame Arbeit alle Begegnungen bestimmt – und vielleicht auch noch so ungeahntes Tanzen mehr Spaß verspricht als der übliche Unterricht in den Schulen, die diese Klassen unter Vermittlung der »Bürgerstiftung« in das Projekt geschickt haben. Bei den Aufführungen fielen zwei ganz unterschiedliche Ordnungsprinzipien auf. Genau vorgegebene Muster, wie Bewegungen auf der Bühne verteilt wurden, als auch, wie deren Ausführung gedacht war, einerseits. Andererseits kamen offensichtlich aus den Erfahrungen der jungen Mädchen und Jungen andere Bewegungen mit hinein. Zu diesen beiden Erscheinungen, erklärte uns Volker Eisenach, haben die gegebenen musikalischen Einsätze die Strenge und die ungelernten Improvisationen die freie Ausgestaltung beigetragen. Ich meine, an unterschiedlichem Gelingen interessante Ansatzpunkte für das eine und das andere ausmachen zu können. In den großen Mustern waren die Aufstellungen aller über die ganze riesige Bühne bewundernswert überzeugend. Nur individuelle Abstände im Vor- und Zurück, im engen und weiten Nebeneinander bildeten eine unbeschreibliche Ordnung von großer innerer Bewegtheit, wie sie da standen. Ich lege nahe, dass dergleichen aus dem Bewegungssinn kommt; das heißt, es entsteht, indem alle Einzelnen in die je eigene Nachbarschaft spüren, und zwar im Blick doch auf die Gewichtungen des Ganzen. Wir denken dabei an eine Übung, in der Elberfeld und ich mit Studentinnen und Studenten die energetischen Pole und Spannungen der Steine im japanischen Ryo¯an-ji-Garten nachgestellt haben. Eisenach mag das nicht bestätigen; die Gruppierungen in einander vertrauteren Klassenverbänden seien eher die Erklärung. Im Übrigen wurden sie durch die Choreographen aufgestellt. Solche visuellen Ordnungsformen habe ich dagegen sich durchsetzen sehen, wo die überlieferten Kreise entweder als bewegter Reigen oder als Haufen um die Protagonisten vorgeführt werden. Unabhängig davon wäre interessant zu erproben, woran es hier noch fehlte, wenn über den Köpfen wedelnde Arme sich wie vom Körper zu lösen schienen. Mit welchen Vorübungen hätten diese Professionellen da die Kraft aus dem Leib, aus dem Becken, aus Füßen und Beinen hinaufwachsen lassen? Bei Béjart geschah das aus der bewussten Verschiebung des Körpermittelpunktes ins Kreuz. 320 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Über »Rhythm is it« und »den Ort des Göttlichen«

Alle diese Überlegungen sollen aber in erster Linie dazu dienen, herauszufinden, was die Bewegungsfreude der jungen Leute hat frei werden lassen. In diesem Augenblick gesellte sich Koffi Koko zu uns. Er greift sofort dieses Wort auf. Bewegungsfreude. Und es strahlt von ihm zurück als Lebensfreude überhaupt. La joie de vivre. »Der Tanz kommt von innen. Er ist nicht vorgezeichnet.« Wir verstehen, dass er daraus erklärt, wie Schönheit entsteht, »selbst durch das Hässliche hindurch«. Koko spricht zugleich von Wahrheit und von Befreiung. Was wir hier mit diesen Begriffen verbinden, bleibt einem weiteren Gespräch vorbehalten. Sofort stellten sich Überlegungen zu einem Gedächtnis ein, dass der Körper aufbewahrt, und zwar ganz spezifisch bestimmte Erinnerungen an bestimmten Orten des Leibes. Die Erfahrungen der Leibtherapie von Dürckheim veranschaulichen das. Wolfram Helke hat das in der POIESIS ausgeführt mit Beobachtungen etwa des Brustraums zwischen den Schulterblättern, der Waden oder des hinteren Beckenrandes. Das Gespräch kehrt zu den Jugendlichen des Arena-Projektes zurück, wendet die Beobachtungen aber allgemeiner in Fragen eines Zusammenwirkens von Professionellen und ungelernten Tänzerinnen und Tänzern. Wieder benennt Koko das Thema: »Es gilt, einen Ort für das Göttliche zu bereiten.« Dies ist die Aufgabe der Professionellen. Wir kreisen um die Frage, was an diesen Orten frei werden kann und wie das geschieht. In Anlehnung an den schon aufgetretenen Begriff der Befreiung kommen wir auf das Selbst derer, die sich an einem tänzerischen Ereignis beteiligen. Was Koko zunächst grundlegend das Göttliche genannt hat, erkennen wir nun sowohl darin, wie da das Selbst der Menschen in Erscheinung zu treten vermag, und ebenso in dessen jeweiligen Beziehungen zu den Anderen, zu dem Anderen überhaupt. Uns beschäftigt die Einsicht, dass dies frei werden zu lassen, die Ungelernten die besseren Möglichkeiten haben, weil die Gelernten immer erlernte Mittel einsetzen, um etwas darzustellen. Sie sind immer in der Gefahr, nicht zu sein, in diesem Augenblick, sondern eine Seinsweise zu demonstrieren. Das ist gewissermaßen der Kampf des Existenziellen mit der Semantik. In diesem Gegensatz verlieren aber beide Seiten, wenn eben nicht geeignete Bedingungen für die Improvisationen der Ungelernten geschaffen werden. Solcher Ausdruck 321 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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braucht seine Orte und, selbstverständlich, seine Zeiten. Koko sieht die Freude sich in den Kindern ausdrücken und durch sie die Erwachsenen aufwecken. Tatsächlich haben nicht nur die Philharmoniker mit dem Elan ihrer professionellen Strenge die Jugendlichen mitgerissen, sie sind auch selber von deren langsam frei werdender Bewegungsfreude beeindruckt und angesteckt worden. Sicher hat im übrigen gerade das ungewöhnlich lebhafte Engagement von Simon Rattle beide mit der Musik zueinander geführt. Wir haben jedoch, auch für eben diese Jugendlichen, zu fragen, wie ihnen erst einmal die Selbstbefreiung gelingen kann. Dazu gehören die Untersuchungen, was alles das Selbst und das Zueinander der Selbste verstellt und blockiert. Eisenach weist dafür auf die Diskotheken hin, wo, wohl auf andere Weise, Ausdruck von diesen Jugendlichen frei wird. Genau das ist deutlicher anzuschauen. Wir wissen schließlich auch viel darüber, wie in den Szenen eigene Klischees eine erhebliche Rolle spielen; da gibt es nicht nur die Brillianz großartiger breakdancer. Ein neues Gespräch muss zu klären versuchen, was wir heute mit dem »Göttlichen« meinen, was »Wahrheit« im Ausdruck der Bewegung bedeuten soll, welche »Befreiung« und von was, wie wir uns vorstellen, was wir da »Schönheit« nennen und wie wir die Zeit-Orte denken, die es zu bereiten gilt. Eigentlich wollten wir einigen Begriffen genauer nachgehen, die Koffi Koko in unserem Gespräch einfach in den Fluss der Gedanken gestellt hatte. Ich hatte sie herausgeschrieben und ihm zur Vorbereitung ein kleines aide memoire gegeben: Was meinen wir mit dem Göttlichen, der Freiheit, Befreiung, der Wahrheit? Zunächst setzt sich einfach die so erstaunliche Vertrautheit im Austausch der Vorstellungen und Erfahrungen zwischen uns beiden fort. Unsere Lebensgeschichten kommen zum Vorschein mit unseren Meistern und mit Lösungen, nicht Auflösungen, traditioneller Werte, wie er sie von seinem Großvater als ihm nachfolgender Priester in Benin aufgenommen hat. Er hat als junger Mann die Tänze übernommen, in denen verschiedene Tänzer jeder eine der Gottheiten tragen. Inzwischen geht er zu dem jährlichen Fest als der zurück, der dem Gott, den er nicht mehr trägt, seine Stimme leiht. In der übrigen Welt ist er Künstler. Er lebt mit seiner Familie meist in Paris. Wir teilen uns von den Peripethien unserer Leben mit und kommen so schließlich den zu befragenden Worten aus erlebten Situationen nahe. 322 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Über »Rhythm is it« und »den Ort des Göttlichen«

Le divin meint in diesem Moment all die Begegnungen, in denen unsere Seelen sich öffnen und eine Verbindung aufnehmen, sagt er. Schon zu fragen, mit wem oder mit was, wäre zu viel. Ich verstehe ihn so, dass es die Vorgänge sind. Ich nenne mich einen Animisten, nicht im Sinne der Ethnologen, dass ich in irgendwelche Dinge irgendwelche Teil- und Spezialseelen hineinprojiziere. Umgekehrt. Statt auf die abendländische Frage fixiert zu sein, wie und was »die Seele« ist, vertraue ich mich der Vorstellung an, dass sie im Aufleben durch solche Begegnungen existiert und sonst das schlafende oder betäubte Organ dafür ist. Wir sprechen über Lebenssituationen, in denen diese Wachheit gelingt, und sind nahe bei dem Wort von der Befreiung. Was wir als unser Eigenstes und zugleich ein alles Durchwirkendes mit solcher Freiheit zu erfahren vermögen, wohl kaum je anders als in vollkommen gewissen Ahnungen, kommt dem Wort der Wahrheit sehr nahe. Das erübrigt nicht die Beobachtungen von äußeren Umständen und inneren Verkrampfungen, die solche Erfahrungen nicht freigeben wollen. Aber es ist auch klar, dass die Hindernisse nicht sozusagen soziologisch beseitigt werden können. Viel eher kann das unwillkürliche Vertrauen dazu einladen, das zwischen Menschen ursprünglich da ist, wo sie sich vor Konventionen, vorgegebenen Bewertungen und Strategien – all dem, was der Begriff Ego zusammenfasst – bewahren oder eben wieder davon befreien können. Die Schönheit dessen, was wir in solchen Augenblicken erfahren, ist eher eine hohe Intensität von Resonanz, die wir in uns spüren, die vor allem aber uns in diesen ganz besonderen Zeitort aufnimmt. Gewiss sind dabei Bewegungen zu beobachten, die wir mit schönen Formen vergleichen können. Aber sie sind nur sekundäre Hinweise. Was sich ereignet, ist diese große Resonanz, die wir so selten zulassen und die wir ebenso aus dem Bann unserer gewohnten Trennungen in vorgefasste Formen befreien müssen, wie sie zugleich uns in diese Befreiung ruft und trägt.

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FELIX RUCKERTS »LOVE-ZOO« ODER WIE DU MIR, SO ICH DIR

Das »Interaktive«, wie wir es im »Secret Service« kennen gelernt haben, wird weiterentwickelt. Die damals noch einzelnen Paare aus Gelernten und Ungelernten werden sich in der Halle zwischen den Zuschauern, die zunächst an den Wänden entlang von allen Seiten das Geschehen verfolgen, auf je zwei Stühlen einander gegenüber finden. Ich werde mich nicht in die Interaktion einmischen. Ein Tänzer sagt, das sei doch langweilig. Nein. Ich erwarte mir Beobachtungen zu der Kernfrage unseres zweiten »Tanz- und Bewegungsgesprächs« im »Haus der Kulturen der Welt« am Vortag. Dort verfolgten wir die Übergänge der hunderte von Berliner Schülerinnen und Schülern in der Tanzaufführung zu »Daphnis und Chloe« mit den »Berliner Philharmonikern«. Wichtig waren uns die Fragen nach dem, was eine Ausbildung leistet und was sie auch verstellt, nach dem, was Spontanität freiwerden lässt und welche Bedingungen dafür geschaffen werden müssen. Koffi Koko sagte einfach, »es muss dem Göttlichen ein Ort bereitet werden«; das ist die Aufgabe der Professionellen. Kinder können in einer gewissen Unschuld noch die Freude des Lebens ausdrücken. So sollten hier die ungelernt Mitwirkenden, die nicht mit eingeübten Techniken etwas darzustellen haben, ähnlich fähig sein, Ausdruck dessen einzubringen, um das es eigentlich geht. Auf diese Formel haben wir uns mit Koko verständigt. Mit ihm müssen wir weiter fragen, was mit dem Göttlichen gemeint ist, wie seine Orte beschaffen sein müssen und wie sie entstehen können, auch woran da Menschen mitwirken – sind es Aufführungen, Rituale, Performances? Bei Ruckert werden solche Begegnungen in einem Studio erprobt mit teils der Truppe Befreundeten, teils anonymem Publikum. Ist der Raum bereitet? Als einer der ersten Besucher habe ich noch Tänzer in dieser Halle üben sehen. Dann ist sie durch Stühle in regelmäßige Felder gegliedert. Wer sich da hinsetzt, wird eine Tänzerin oder 324 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Felix Ruckerts »Love-Zoo« oder wie du mir, so ich Dir

einen Tänzer zum Partner bekommen. Verhaltene, aber intensiv rhythmische Musik und gedämpftes, aber farbiges Licht bilden langsam eine Stimmung, während die Berührungen und Bewegungen der einige dutzend Menschen bald über die Stühle und den Boden gleiten. Die Truppe kommt aus verschiedenen Schulen und Stilen zusammen; davon ist nur selten hier etwas deutlich. Hier sind alle ihre Gesten und Bewegungen darauf angelegt, im einen oder anderen Sinn Verständigungen anzuregen. Unterschiede wirken mehr persönlich bedingt als durch gelernte Formen geprägt. Das Prinzip scheint mir dasselbe wie in der Aufführung »Mashroom« zu sein – Impulse werden frei oder gesetzt, und es fragt sich, wie sie aufgenommen, verfolgt, weiterentwickelt, ob sie beantwortet werden oder verloren gehen. Von Anfang an drängen junge Frauen und Männer auf die freien Stühle, dann auf die freiwerdenden, wenn die vorigen auf die Sitze an den Wänden verabschiedet werden. Lange zeigen die meisten die Erwartung, passiv sein zu dürfen. Sie warten auf Signale von den Tänzern und Tänzerinnen, die sich ihnen gerade zuordnen. Sie lassen sich an ausgestreckten Armen von beiden Seiten führen. Oft sind dabei die Köpfe geneigt, nach vorn oder zur Seite. Viele schließen die Augen. Das hilft gewiss einer Konzentration auf das, was ihnen da geschieht, wie darauf, welche Wirkungen sie in sich empfinden. Es ist nicht dieses lustlose Sich-nachziehen-lassen der Mädchen an der Hand des voraneilenden Freundes, das man immer wieder in den Städten oder auf Spaziergängen erlebt. Sie hängen vielmehr in sich hinein. Sie folgen zwar ihren Bewegungsführern und antworten auch mit eigenen Bewegungen; ihre Energien sind aber ganz im Aufnehmen gebunden. Andere machen mit, was ihnen begegnet, setzen dann aber, unvermittelt, auch eigene Impulse. Sie begleiten dies jedoch mit einem Minenspiel, das mit seiner Distanzierung unausgesetzt dem Bedürfnis dient, die jeweilige Situation durch Grimassen oder klischeehafte Handzeichen zu kommentieren. In diesen Kommentaren ersterben dann auch die Impulse und müssen durch neue abgelöst werden, denen es nicht besser ergehen wird. Bei einigen nimmt ein Eifer sofort alles in die Hand, der vielleicht nicht einen starken Willen verrät, umso unaufhaltsamer aber auf irgendeine Haltung oder Bewegungsfolge zuschießt. Gar nicht immer können ihnen die professionellen Partner spürbar machen, dass so sich nichts ereignen kann, dass die Momente angebotener Begegnung versäumt oder gewaltsam übertrieben werden. 325 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Coda: Einige Versuche im Tanz

In unserem Gespräch am Vortag über die Schüler aus Kreuzberg oder Weißensee haben wir uns nach den Arbeitsschritten gefragt, die ihnen erlaubt haben, in ihrem Gang wie in Läufen und Schwüngen bei sich zu sein. Die Aufführung war eindeutig von ihrer Bewegungsfreude in den Erfolg getragen. Dabei fiel der Begriff Befreiung. Bei Jugendlichen aus der Schule schon, erst recht bei jungen Leuten ist seit der von Koko beschworenen Kindheit so viel schon über die ursprüngliche Lebensfreude gedeckt, dass Schutzhaltungen und Ersatzhandlungen wie Krusten und Panzer durchbrochen werden müssen. Davon haben die Tanzpädagogen viel zu berichten. Felix Ruckert setzt auf das Ansteckungsvermögen der Truppe im Ganzen und aller Einzelnen. Zu den Tanzbegegnungen kommen ja auch besonders Interessierte; viele werden schon wissen, dass es auch um ihre Beteiligung gehen wird. Einige Schritte der Befreiung dürften, zumindest durch die Bereitschaft, auf so etwas sich einzulassen, gewonnen sein. Was dazu fehlt, ist eher das, was wir in den Einführungen von Kindern in ihre Lebensgeschichten vergessen und versäumen – ein eigenes Selbst-Bewusstsein in dem Erleben des Bewegungssinnes und in dessen handelnden Äußerungen. So sind bei den Erwachsenen hier die Einstellungen des Abwartens oder des bloßen Aufnehmens als mangelnde Anwesenheit der Individualität in ihrem Bewegungserleben zu begreifen. So werden die distanzierenden mimischen Kommentare verständlich als Flucht in eingeübte bourgeoise Konventionalität. So müssen Sehnsucht nach dem eigenen Elan und die mechanischen Ausbrüche als Ausagieren von Wünschen gedeutet werden, denen nie Ausgänge und Bahnen geschaffen wurden. Wo bei anderen, die vom Zuschauen in die Mitte wechseln, mehr sich zeigt und gelingt, ist genau so etwas im Spiel. Die Inszenierung wählt eine interessante Balance zwischen der Einladung, sich dem noch Unbekannten, den nur geahnten Situationen anzuvertrauen, und der Aufforderung, solches Vertrauen zu leisten. So mag es kommen, dass viele auch unfrei sich dem Spiel anvertrauen, obwohl Unfreiheit und das Vertrauen in sich selbst, als Freiheit begründet, nur die negative und die positive Seite desselben Mangels benennen. Unfreiheit wird uns durch Zwänge und gewaltsame, oft einfach voreilige Überformungen auferlegt. Vertrauen in uns selbst im Medium der Bewegung zu gewinnen, ist eine Aufgabe, die wir immer leisten müssen. In unserer frühen Kindheit waren wir uns unserer Existenz gerade darin bewusst, wie wir uns bewegten. Dieses unbewusste Bewusstsein ist uns mitgegeben, wird aber unter den bewussten Anstrengungen des weiteren 326 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Felix Ruckerts »Love-Zoo« oder wie du mir, so ich Dir

Lebens – schon des aufrechten Ganges – verdeckt. Unter all dem angelernten Können findet sich das ursprüngliche natürlich nicht einfach wieder. Es ist neu zu erfahren und befreien. Je genauer ich mir klarmache, was ich da gesehen und beobachtet habe, desto nachdrücklicher verliert sich mein erster Eindruck. Es sah nach Irrungen und Wirrungen aus, die nicht hoffnungslos wirkten, in denen aber die Linien der Hoffnung nur ganz undeutlich blieben. Diesem Eindruck begegnete die Inszenierung von Ruckert selber bereits sehr entschieden durch einen behutsam eingeleiteten Mittelteil ganz konzentrierter Arbeit an einem gemeinsamen Thema für mehrere Szenen zwischen nur den Tänzerinnen und Tänzern, in denen je drei von ihnen die möglichen Erfahrungen einer Szene erkunden. Ohne jede spektakuläre Oberfläche oder anekdotische Anspielungen geht jeweils einer der drei in die Ausbreitung der Arme und ihre Fixierung, wie sie in einer Kreuzigung zu erleben sein könnte. Die beiden anderen gehen in das Erleben dieser Haltung mit hinein, indem sie stützen oder sich neigen, die Füße umfangen, wieder stehend, mit tragen zu wollen scheinen. Wieder ist nichts festgelegt, wie eine Choreographie das tun würde. Nun aber gehört alles zu einem wohl reflektierten Projekt der Erkundung im Medium leiblicher Befindlichkeiten. Deren Ausdrucksmöglichkeiten lassen die Formengeschichte hinter sich. Erkundet wird nicht, was ein developpé oder eine Haltung von Martha Graham noch zu vermitteln vermöchten. Umgekehrt wird erkundet, in welche Art von Bewegungen eine bestimmte Situation wie die exemplarischen am Kreuze menschliche Leiber führen wird. Die Bewegungsvorstellungen unterscheiden dabei nicht mehr äußere, für Zuschauer sichtbare von inneren, uns allen spürbar sich mitteilende Bewegungen. Wie selbstverständlich kein Kreuz, kein Stück Holz oder irgendein Requisit benutzt werden kann. Der Ort wird dafür durch sehr intimes und warmes Licht auf den Gruppen und ein Dunkel um sie und zwischen ihnen bereitet. Musikalisch gelingt eine heikle Anspielung auf die Gestimmtheit eines Orgelspiels, das von Kirche, Choral und Feierlichkeit abgelöst simuliert wird. Erstaunlich, wie wir alle den Übergang vom Durcheinander der vielen lebensgeschichtlichen Augenblicksexperimente mitmachen zu dieser Versenkung. Doch die Versuchsanordnung ist eben für uns alle die gleiche. Die Vorgaben sind von der Oberfläche der Erscheinungsformen zurückgenommen in die Disziplinen der Suche. Und das serielle Prinzip nimmt jedem einzelnen Ereignis den Anspruch und damit die 327 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Coda: Einige Versuche im Tanz

Verpflichtung, allein gültig zu sein. In ihren verwandten Unterschieden bilden die Szenen gemeinsam ein Spiel um das Gemeinte herum. Wenn vielleicht gerade hier die Idee an einen Archetyp auftaucht, so hat das nichts Bedrängendes mehr. Sie sagt nur, da ist eine ursprüngliche, das heißt immer wieder einmal neu sich einstellende Erfahrung im Spiel. Andererseits können die verschiedenen Szenen nicht als bloße Variationen missverstanden werden. Es geht um Differenz und wechselseitige Erklärung im Sinne von Ludwig Wittgensteins Begriff von »Familienähnlichkeit«. Und auch diese Konzentration schließt den Abend nicht ab. Es ist eben keine Veranstaltung. Die erarbeiteten Szenen werden wieder aufgelöst in ein vielseitiges Wechselspiel mit den Ungelernten, die nun viel dazugewonnen haben – dazugelernt nicht im Sinne eines Repertoires oder von besser bekannten Regeln. Die gegenseitigen Entzündungen mit den Tänzern, das Umformen des Aufnehmens ins Weitergehen und Umdeuten fließen freier. Da entstehen intensive Momente eines Gegenübers in kleinen Gesten und Berührungen. Manchmal explodieren sie geradezu, von einer Seite oder der anderen, in ein Jagen und Nachjagen. Andere Paare wirbeln zu einem pas de deux umeinander, der alle pas und jeden Petitpa hinter sich lässt. Heiteres Gerangel findet in sich gestaltende Figuren, weil die erotische Nähe nicht sexuell wird und so immer neu ihre anderen Formen finden muss. Zwischen dem Zueinander, in das es den einen und die andere drängt, und den Öffnungen, Abstoßungen, in die ein künstlerisches Tabu über dem sexuellen Zugriff wieder hinaustreibt, bilden sich Strudel und Wirbel, umschlingende und mitreißende, klammernde und wieder in den Raum führende Folgen. Einer der einstigen Zuschauer ist zum gleich brillanten Partner, zum Anstifter mit einem ebenso ins Spiel geratenen Tänzer geworden. Ein anderer, weniger jung und eher in konventionellen Kleidern eigentlich festgehalten, lässt sich in den Elan seiner Leibesfülle fallen und bildet ihn um zu überraschenden Drehungen und Wendungen, die seine Partnerin mitträgt und leicht unterstützt. Es ist wahr, viele bleiben, wenn ihre professionellen Partner sich von ihnen trennen, nur noch stehen. Ist es nicht aber ein Stehen mehr des Staunens über das möglich Gewordene, eine Versenkung in noch ungeahnte Entdeckungen als das anfänglich ratlose Zuwarten? Ein Nachsinnen und Vorahnen … Dessen kann ein gesetztes Ende nicht sein. Nachdem ich einmal die Aufführung beobachtet und durch meine 328 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Felix Ruckerts »Love-Zoo« oder wie du mir, so ich Dir

Beschreibungen viel mehr von ihren Bedeutungen mir klar gemacht habe, ging ich ein zweites Mal, um mich nun auch selber mit einbeziehen zu lassen. Mich reizten die so lebhaften Wechselspiele, die sich im dritten Teil ergeben hatten. Ich setzte mich aber schon früh auf einen der Stühle, von denen man, irgendwann, abgeholt wird. An diesem Abend flossen die vielen Begegnungen und Bahnen der Paare von gelernten und ungelernten Tänzern in weiterem Atem zu einem großen Geschehen ineinander. Mit einer Tänzerin zunächst, dann mit einem Tänzer – oder lösten zwei einander ab? – geriet ich bald in ein ausgreifendes Eilen durch den Raum der Paare, das für zwei, drei Passagen in einem Ansatz zum Fliegen überging. Die Frage der geschlossenen Augen stellte sich neu. Eine Handbewegung über das Gesicht sagt zu Beginn, spüre von innen, lass den Blick weg. Das führt in langsamen Wendungen auch wirklich zu einer Vertiefung des Empfindens, sowohl für den anderen Leib um mich wie für das, was in meinem Leibe sich regt und geschieht. Für die schnellen Läufe wird der Mut umso stärker angeregt, sich den führenden Händen neben mir und dem bewegten Raum vor mir anzuvertrauen. Ein Vertrauen, das wohl ein blindes genannt werden muss, das zugleich die Wahrnehmungen des Bewegungssinnes auszubilden beginnt. Mit dem Elan der Schritte eilt auch das Gespür voraus. Dann wendet es sich wieder auf die Glieder der Begleitenden, der Anreger und die eigenen zurück, und eine Phase abklingender Energien bildet sich zu ruhiger Intensität aus. Die Partner bei all dem nicht zu sehen, ist eben auch klug, weil dem Ungeübten kaum gelingen würde, Personen gegenüber, die man erkennt, private Vorstellungen wegzulassen. Es kämen uns wieder beiläufige Inhalte dazwischen, die in uns Absichten und Ziele auf den Plan zu rufen pflegen. Mindestens Verlegenheiten. Nachdem mein Tänzer sich von mir verabschiedet hatte, nahm mich eine Tänzerin auf. Nicht in allen Phasen hätte ich übrigens mit Bestimmtheit sagen können, ob ich mich da in einem Mann-weiblichen oder Mann-männlichen Miteinander fand. Hier war es deutlich, ich meine, durch die schmalen Glieder, manchmal mich berührendes Haupthaar, eine fließendere Beweglichkeit. Und wir gerieten in ganz lange Folgen konzentriertester Bewegungen, bis hin zu unzählbaren Momenten der Stille am Boden, in denen Tanz war, indem wir einander im Rhythmus des Atmens spürten. War es dies, was sie meinte, als sie am Ende des Abends, als ich ihr meinen Dank für solche Verständigung sagte, zurück gab, mit mir habe sie selber etwas gelernt? 329 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Coda: Einige Versuche im Tanz

Eine ganze Zeit nahm ich mir, um wieder aus dem Spiel ins Beobachten zu gehen. Dann wollte ich aber gern neu beteiligt sein, um die Situationen von innen zu erkunden, in denen diesmal auch Ungelernte den leiblichen Themen begegneten, wie sie von Momenten der Kreuzigungshaltungen ausgelöst werden mögen. Aber nein, ich blieb während des ganzen Mittelteils auf meinem Stuhl mit dem »E« sitzen – für Einstieg, Einladung, sich Einlassen? Das wurde mir zur hohen Schule des Erlebens. Jeden Augenblick verfolgte ich die dort und dort in ungewöhnliche Haltungen Gezogenen oder Gestützten, an deren Stelle ich zu sein wünschte. Was dort vorging, empfand ich mehr mir durch die Glieder ziehen, als dass ich noch von visueller Beobachtung sprechen könnte. Gewiss waren die Eindrücke durch die Augen vermittelt. Es waren aber keine Formen und Figuren, die ich da durch Verstandesmuster und abgerufenes Wissen identifiziert hätte. Ich fühlte durch die Augen, sie hatten nun eigene, unkontrollierte Beziehungen zu meinem Bewegungssinn. Sie begannen, eine schön spürbarere Verwandlung in den Spannungen meiner Muskelpartien auszubilden. Goethes »mit den Augen fühlen, mit den Händen sehen« hatten wir ja längst spielerisch und ergreifend geübt. Zusammen mit einer Lesung meines »Mauersegleressays« kamen wir – Felix Ruckert und Gabrielle, Rolf Elberfeld und Katrin Wille und ein dutzend anderer – auf dies zurück. Vielleicht zeigt die Frage von Kirsten Wagner mitten in eine Entdeckung, die ich für einen großen Schritt in eine neue Richtung halte: »Gibt es nicht, bei allem Weglassen von Inhalten und Absichten und Zielen, eine andere Art von Bedeutung in den Gesten des Leibes?« Wir einigten uns rasch, dass dann Bedeutung befreit ist von allem Konvenierten, allem Systematischen und Etablierten; also Bedeutung diesseits semantischer Zuweisungen und Funktionen. An diese Bedeutungsmöglichkeiten hatten uns die Versuche herangeführt, zu beschreiben, ohne in vorgegebene Formen und Begriffe einzuordnen. Selbst die Worte müssen so zu einander kommen, dass ihre allzu bekannten Verwendungen durchsichtig werden und die Bilder, mit denen sie im Grunde verbunden sind, uns unvorbereitet genug treffen, um in uns vielleicht Geahntes, aber nicht zu Tatsachen Verfestigtes wachzurufen. Katrin Wille konnte von sich sagen, dass sie sich durch die Lesung ähnlich bewegt gefühlt habe wie ich, als mich die Eindrücke von dem Bewegungsgeschehen der Tanzenden mir gegenüber in diese ganz eigene Kommunikation zogen, die man vielleicht am besten erst einmal ein Mitahmen nennen könnte. 330 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Was kann das dazu beitragen, wie wir eigentlich nach anderen als den rational erfassbaren Ordnungstypen uns umsehen? Dies ist die Frage, die uns von meinen Mauerseglerbeobachtungen zu den Tanzexperimenten von Ruckert begleitet. Zunächst ist eine Erweiterung der Frage entstanden, die wir mit der Bestätigung beantworten, dass wir da Bedeutungen finden, die nicht semantischen Regeln zu schulden sind. Bedeutungen eines anderen Typus sind im Spiel. Sie sind nicht Stellvertreter von etwas anderem in einem Sprachsystem. Vielmehr sind sie selbst schon, worauf sie zugleich hindeuten. Es geht um Phänomene, und Goethes Methodenlehre erläutert gut wie. Die Bewegungsgeste, die Situation von Haltungen sind Erscheinungen, zu denen es in uns selbst wie uns gegenüber mit Sicherheit eine Fülle verwandter Innenbilder gibt. Wittgenstein würde eben von Familienähnlichkeit sprechen. Die jeweilige Erscheinung ist sowohl selber ein Aspekt als auch Hindeutung auf andere Aspekte einer Familie von, vielleicht können wir am besten sagen, besonderen Energien, Spannungen, Richtungen. Die Frage bleibt offen, ob wir nun etwas wie eine jeweilige Bedeutung empfinden, das ein bestimmtes energetisches Muster jetzt bildet, oder ob wir an dieses Muster erinnert werden, durch unterschwellige Assoziationen, die es mit entsprechenden Situationen unseres Lebens verbindet. Zugleich ist doch klar, solche Bedeutungen kommen in dem Wechselspiel von Spuren früheren Erlebens mit dem gegenwärtigen zustande. Als solche Muster erleben wir sie, und zwar in unserem Bewegungssinn und seinen Verbindungen zu unseren übrigen Organen. Das Bemühen, solche Phänomene zu beschreiben, diesseits von Begriffen und in eigens zu suchenden Wendungen der Sprache, wird gedrängt und geleitet von eben den Eindrücken des Bewegungssinnes. So lernen wir, unsere Erneuerung phänomenologischer Untersuchungen ebenso fern von Definitionen und Systemen wie nah an diesem Sinn und seinen Wahrnehmungen zu halten. Aus der eigenen Beteiligung erlebte ich die Aufführung durchaus anders als vom Rande her. Plötzlich wird einmal deutlich, dass unser Verhältnis zu solchem Geschehen in der Regel und als sei es selbstverständlich wie die berühmte Mauerschau angeordnet ist. Seit Homer die Zweikämpfe vor dem Tor von Troja aus der Sicht der Greise und Frauen geschildert hat, die auf einem Vorsprung der Stadtmauer sitzend beobachten, was geschieht, ist unser Leben auf immer mehr Gebieten von dieser Anordnung der Muroskopie bestimmt. Wir suchen den Über331 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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blick, um besser zu verfolgen, was uns interessiert. Aber das ist eben ein distanziertes, ein einschätzendes oder auch abschätzendes Interesse. Wir sind nicht dazwischen; das würde inter esse eigentlich sagen. Je vorherrschender unser Wahrnehmen dem Gesichtssinn überantwortet – und aufgebürdet – wird, desto weniger sind wir in unserer Welt. Wir lassen tanzen und wir lassen sein und unsere Augen uns davon berichten. Genau diese Entwicklung unserer Sinnesvermögen bekommt zugleich ihren metaphysischen Segen durch die Ideenlehre, wie wir sie seit der Antike von Plato übernommen haben: Was wir sehen, sind ohnehin nur Abbilder der ungreifbaren Urbilder. Erscheinungen sprechen nicht für sich, sondern von solchen Ideen, und unsere Sinne trügen uns ohnehin. Dass wir auch ganz anders zu sehen vermögen, habe ich gerade wieder einmal erfahren, lebhafter denn je, als ich auf meinem Stuhl wartend die Bewegungen und Haltungen der Tanzenden, unter denen ich schon sein wollte, verfolgte. Mauerschau ist nicht notwendig und sozusagen von Natur aus das Schicksal sehenden Wahrnehmens. In der Kunst der Wahrnehmung öffnen und stärken sich die uns verborgenen Zugänge zu den Sinnen des Gleichgewichts und der Bewegung. Zu unseren jeden Augenblick neu sich richtenden Sinnen der Verortung und der leiblichen Bezogenheit. Wir müssen nicht erst nachdenken und Entsprechungen erfinden, um bei dem zu sein, was wir sehen. Wäre dies nicht so, würden wir keine Treppe steigen und uns auf keinen Stuhl setzen können, wie es uns doch unausgesetzt gelingt, ohne dass wir eigens darauf achten müssen. In unserem Leib spielen eben alle Wahrnehmungen und alle handelnden Organe, besonders die ungezählten Gruppierungen unserer Muskulatur, ohne unsere Verstandeskontrolle zu dem zusammen, was der Arzt und Anthropologe Viktor von Weizsäcker den »biologischen Akt« genannt hat. Dieses Zusammenspiel ist gefährdet durch den Mangel an Übung in einer Umwelt der rechten Winkel und der Knopfdrücke. Felix Ruckert weckt mit seinen Tänzerinnen und Tänzern dieses Zusammenspiel auf und führt es in tänzerische Gesten. Noch einmal eine andere, eine noch weiter verändernde Geste war die Innenansicht der Situationen, in die mich nun zwei der Gelernten hineinnahmen. Bei dieser Aufführung werden Ungelernte auch im Mittelteil aufgenommen, der mich besonders beschäftigte, seit Ruckert in einem Gespräch das Kreuzigungsthema aufgeworfen hatte. Meine Bedenken waren sehr stark gewesen. Jeder ausgesprochene Bezug 332 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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schien mir gefährlich ins Unangemessene zu führen. Aus dem Leiblichen heraus das Vorstellungs-, vielleicht nur ein tastendes Empfindungsvermögen in diese Richtungen zu wenden, hatte ich aber sinnvoll, vielleicht muss man sagen, reizvoll gefunden. Was ich dann da fühlte und empfand, an ausgebreiteten Armen, vorangezogen von starken Schultern und im Griff der Hände, kann nur in einigen Anspielungen zu Worte kommen; Anspielungen, die nie die Intensität wiedergeben davon, wie ich mich fühlte, vor allem nicht die Tiefen, in die das Bewusstsein sich vor allen Benennungen dabei sinken lassen darf. Ich bin hineingegeben in einen Gang, zu dritt gewissermaßen; aber ich bin eigentlich nur die passive Seite einer Bewegung der Anderen. Wille ist mir abgenommen. Durch eine Fürsorge abgelöst, die allerdings mehr mich als schweren Körper meint. Zunächst. Ich werde hingestellt und weiß, spüre, dass mir etwas geschehen wird. Und der Wirbel bricht auf mich los, Hände prasseln auf mich und zerren, abwechselnd, an mir nach allen Seiten. Der Kern meines Bewusstseins von mir selbst wird aus mir vertrieben. Heftig geschüttelt, explodiert, was eben noch Ich gesagt hätte, an die Peripherie eines Feldes, in dem die Angreifer viel wirklicher da sind als ich. Das heißt, sie sind da und da und dort und wieder dort, ohne dass meine Wahrnehmung, die zwischen dem allen hin- und hergerissen ist, noch zu einem Selbst zurückzukehren vermöchte. Ich bin mir genommen. Diese Phase ist indessen zu kurz, als dass ich, der ich sie ja doch als irgendwie auf mich bezogen erlebe, mitzuvollziehen versuchen könnte. Dahinein führt mich erst ein Zug an beiden Händen, Armen, bis in die Mitte des Leibes. Ich bin, schwankend, aufrecht zwischen zwei fest Stehenden, nach außen sich Lehnenden. Der Zug nach beiden Seiten ist sehr fest und hat doch so viel Aufmerksamkeit auf mich, dass ich nicht auf die Idee komme, an Zweiteilung zu denken. Der Zug von rechts und der Zug von links begegnen einander in mir und rufen in meiner Brust eine Antwort wach. Sie schwankte zwischen Widerstand und Hingabe. Auch Aufgabe kommt in Frage. Aus dieser Situation gehen die, die mich da tanzen, über in weiche Bewegungen; führendes Stützen und auch ein weiteres Mich-von-mir-weg-nehmen. Gerade das Moment erbarmenden Mich-Mittragens lässt mich vollends in die Hingabe gleiten, die doch auch Aufgabe von Widerstand gegen Angriffe ist. Die nächsten Situationen handeln schon von einem Danach. Ich bin ein Stehender, auf schmalen Füßen, gestützt, aber aus mir heraus aufrecht. Ein Mensch hinter mir lässt mich in eine Anlehnung sinken. 333 https://doi.org/10.5771/9783495860083 © Ver

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Das tut wohl, und es bestätigt, dass ich mir als der Vorige, der ich am Beginn noch war, verloren bin. Ich habe nicht nur etwas über mich ergehen, ich habe es durch mich hindurch gehen lassen. Ich habe etwas vollbracht, das offenbar nicht allein für mich Bedeutung hat. Mitleid wird mir gegeben, aber auch eine Anerkennung. Ich bin in der Mitte einer Geschichte, die ich zu bestehen habe, aber nicht bestimmen kann. Dann gleitet der hinter mir Stehende nieder, die Tänzerin ebenso. Ich bleibe allein mit der vollbrachten Geschichte. Der Tänzer kniet jetzt um meine Füße, mit gesenktem Kopf, und umfängt meine Beine. Die Anerkennung geht in ein Wissen, das Mitleid in eine Würdigung über. Diese Kräfte stärken ganz sacht meine Aufrichtung, von innen her, ohne meine hängenden Schultern zu heben; und auch mein Kopf bleibt nach vorn geneigt. Dann schafft sich die Tänzerin Raum zwischen meinen Beinen und liegt nun am Boden ausgestreckt vor mir, unter mir, irgendwie auch mit mir. Ihre Beine eng aneinander zwischen den meinen. Ihr Kopf vor mir, mit geschlossenem Blick zu mir gerichtet. Liege ich dort? Bin ich ein Liegender in der Haltung eines Stehenden? Ich werde immer das eine im anderen sein. Aufrecht und liegend. Hingestreckt und der Welt gegenüberstehend. Bewegend sind all diese Wendungen, weil sie gar nichts Psychologisches haben. Ein Tanz der Physis mit den Gestimmtheiten der Seele. Schließlich wird der Leib wieder entlassen in den Bereich des Zuschauens. Die Glieder träumen weiter. Empfindungen formen sich zu Gefühlen oder verziehen sich wieder. Gedanken tauchen auf. Ein paar Wochen später taucht der Zusammenhang in einem Bühnengespräch mit Sasha Waltz wieder auf. Wir versuchen gemeinsam, stark zu machen, wie sehr wir uns wünschen, dass Tanz mehr aus dieser Verbindung des Bewegungssinns mit dem Bewusstsein erlebt wird. Das Visuelle sollte dieser Verbindung dienen, statt sie zu verdecken mit den Bemühungen, was wir sehen, auf bekannte Formen abzubilden und aus deren Geschichte zu interpretieren. Sie arbeitet seit Jahren bewusst daran, ihre Zuschauer ins Mitvollziehen führen zu können. Wie wollen wir solches Sinnenbewusstsein lebhafter deutlich werden lassen?

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ZUM WEITEREN LESEN

Bei dieser Zusammenstellung von Büchern und Aufsätzen geht es mir nicht darum, die zitierten Stellen zu belegen oder alle Texte anzugeben, die mich in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf die verschiedenen Themenkomplexe dieses Buches beschäftigt haben. Vielmehr sollen den Lesern Hinweise aufgezeigt werden, wo es sich für sie lohnen könnte, weitere Schriften zu bestimmten Themen heranzuziehen. Darum haben wir auch darauf verzichtet, Seitenzahlen hinzuzufügen. Abhinavagupta: Wege ins Licht. Texte des tantrischen Sivaismus aus Kaschmir. Ausgewählt, aus dem Sanskrit übersetzt und eingeleitet von Bettina Bäumer. Zürich 1992. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Ges. Schriften, Bd. VII. Frankfurt 1971. Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit. München/Wien 1975. Badrinath, Chaturvedi: Moksha as Human Freedom. Two Inaugural Lectures at the India Habitat Centre, New Delhi. Dalai Lama Foundation for Universal Responsibility, 27. und 31. März 1998. Bateson, Gregory: Mind and Nature. A Necessary Unity. New York 1980. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Aesthetica. Ausgabe von Rudolf Schweizer. Hamburg 1983. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Theoretische Ästhetik. Herausgegeben und übersetzt von Rudolf Schweizer. Hamburg 1983. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Illuminationen. Frankfurt 1955. Bergson, Henri: La perception du changement. In: La pensée et le mouvant. Paris 1934. Beyer, Uwe: Dialektik bei Nietzsche? Münster 1990. Boehm, Gottfried: Imago und Imaginatio. In: Wissenschaftskolleg zu Berlin, Jahrbuch 2001/2002. Berlin 2003. Brainard, Ingrid: Die Choreographie der Hoftänze in Burgund, Frankreich und Italien im 15. Jahrhundert. Diss. Göttingen 1956. Breton, André: Le surréalisme et la peinture. Paris 1962. Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful. London 1757.

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Zum weiteren Lesen Busch, Regina: Christian Ofenbauer: KLAVIERSTÜCK 1995 und BruchStück VI. Ein fingiertes Gespräch. In: ORF Landesstudio Steiermark (Hg.): Programmbuch zum musikprotokoll im steirischen herbst 96. Graz 1996. Butterworth, E. A. S.: The Tree of Life at the Navel of the Earth. Berlin 1970. Butterworth, E. A. S.: Some Traces of the Pre-Olympian World in Greek Literature and Myth. Berlin 1966. Cage, John: Ryoanji. In: Anarchic Harmony. Herausgegeben von Stefan Schädler und Walter Zimmermann. Mainz 1992. Dahm, Daniel, Dürr, Hans-Peter und Lippe, Rudolf zur: Potsdamer Manifest 2005. We have to learn to think in a new way – Potsdamer Denkschrift. München 2006. Danielou, Alain: Sémantique Musicale. Essai de Psychophysiologie auditive. Paris 1967. Diallo, Tirmiziou: Traditionelle Erziehung bei den Fulbe in West-Afrika. In: POIESIS 12. Hohengehren 2000. Dogen: Sho¯bo¯genzo¯. Übersetzt, erläutert und herausgegeben von Ryo¯suke Ohashi und Rolf Elberfeld. Tokio/Bad Cannstatt 2006. Dürckheim, Karlfried Graf: Hara. Die Erdmitte des Menschen. Weilheim/München 1981. Elberfeld, Rolf: : Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. Elias, Norbert: Der Prozess der Zivilisation. Basel 1939. Engel, Birgit: Spürbare Bildung. Münster/New York 2004. Ette, Ottmar: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne. Weilerswist 2002. Fisher, Seymour: Body Consciousness. Englewood Cliffs, N.J. 1973. Fox Keller, Evelyn: Reflections on Gender and Science. New Haven 1985. Franz, Michael: Hölderlins Logik. Zum Grundriß von »Seyn Urtheil Möglichkeit«. In: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986/87). Gadamer, Hans-Georg: Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins. In: Wahrheit und Methode, Ges. Werk Bd. 1. Tübingen 1986. Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart. Stuttgart 1949–1953. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Münster 1940. Gloy, Karen (Hg.): Rationalitätstypen. Freiburg/München 1999. Goehler, Adrienne: Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft. Frankfurt/New York 2006. Goethe, Johann Wolfgang v.: Inwiefern die Idee: Schönheit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Naturen angewendet werden könne. In: Hamburger Ausgabe, Bd. 13. München 1975. Goethe, Johann Wolfgang v.: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Goodman-Thau, Eveline: Schöpfung und Selbstschöpfung – Zeit als Handlung zwischen Mensch und Gott. Unveröffentlichtes Manuskript, Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit. Oldenburg 1993. Goodman-Thau, Eveline: Zeitbruch. Zur messianischen Grunderfahrung in der jüdischen Tradition. Berlin 1995. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer Realphilosophie. Herausgegeben von Johannes Hoffmeister. Hamburg 1931.

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ZU DEN ABBILDUNGEN

»Einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das Tempo dieser Zeichen, m i t z u t h e i l e n – das ist der Sinn jedes Stils« Friedrich Nietzsche

Suche und Erkundung anderer Ordnungen schlugen sich im »Sinnenbewusstsein« als Beschreibung von Situationen eines »auftauchenden Paradigmas« nieder. Die Beschäftigung mit solchen Phänomenen, die nun, von dem Eindruck von Vogelschwärmen inspiriert, diese Erkundungen weiterführt, hat neben der literarischen Beschreibung und der philosophischen Reflexion einen dritten Weg gefunden. Den Eindrücken wird ebenso im künstlerischen Ausdruck nachgespürt. Deshalb erinnern einige Abbildungen der gestischen Malereien, die freilich keinen unmittelbaren Zusammenhang mit den Texten haben, an die dritte Linie dieser Arbeit, die etwa in der gegenwärtigen Berliner Ausstellung, die denselben Titel hat wie dieses Buch, für sich deutlicher hervortritt. (Werkstattgalerie Berlin) Ausschnitte S. 14 S. 84 S. 114 S. 152 S. 214 S. 262 S. 290 S. 316

Chinatusche auf Transparentpapier Chinatusche auf Karton Chinatusche auf Packpapier Chinatusche auf Packpapier Chinatusche auf Karton Chinatusche auf Packpapier Chinatusche auf Karton Chinatusche auf Packpapier

300 cm  160 cm 333 cm  150 cm 300 cm  70 cm 300 cm  100 cm 65 cm  50 cm 300 cm  100 cm 65 cm  50 cm 300 cm  70 cm

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DANKSAGUNGEN

Lebhaften Dank sage ich Rolf Elberfeld, dem so viel jüngeren Gefährten auf Wegen einer Phänomenologie wirklich im Dienste der Phänomene und Wegbereiter des Philosophierens auch von den anderen Kulturen her, Beate Lukas für ihren großzügigen Beistand zur Umsetzung der Texte, Maurizio Spagliardi für die Reproduktion der Tuschebahnen und dem Verlag für seine ganz ungewöhnliche Fürsorge.

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