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German Pages VIII, 201 [230] Year 2021
Religion in Philosophy and Theology Editors
Helen De Cruz (St. Louis, MO) Asle Eikrem (Oslo) Thomas Rentsch (Dresden) Hartmut von Sass (Berlin) Heiko Schulz (Frankfurt a. M.) Judith Wolfe (St. Andrews)
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Das Böse denken Zum Problem des Bösen in der Klassischen Deutschen Philosophie Herausgegeben von
Andreas Arndt und Thurid Bender
Mohr Siebeck
ANDREAS ARNDT, geboren 1949; 1968–1974 Studium der Philosophie und Germanistik; 1977 Promotion; 1987 Habilitation; seit 1993 Professor an der FU Berlin; seit 2010 Lehrstuhl für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. THURID BENDER, geboren 1989; 2010–2017 Studium der Philosophie, Mathematik und Erziehungswissenschaften; Master of Arts in Philosophie und Master of Education in Philosophie und Mathematik; seit 2018 Arbeit an der Dissertation und Lehrauftrag an der TU Braunschweig für Philosophieseminare.
Der Druckkostenzuschuss wurde von der Fondation Meyer übernommen. ISBN 978-3-16-160064-7 / eISBN 978-3-16-160092-0 DOI 10.1628/978-3-16-160092-0 ISSN 1616-346X / eISSN 2568-7425 (Religion in Philosophy and Theology) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Das Buch wurde von Martin Fischer aus der Minion gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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THURID BENDER Zur Einführung: Das Böse denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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JOACHIM RINGLEBEN Das anstößige Thema Sünde – oder wie die Aufklärung zur Vernunft kommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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BURKHARD NONNENMACHER Kants Begriff des Bösen und Hamartiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 SEBASTIAN BÖHM Die paradoxe Aneignung der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 ALEXANDRE LISSNER Kant und der Skandal des Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 THURID BENDER Terror und Erlösung. Erscheinungsformen des Bösen bei G. W. F. Hegel . . . 71 ANNE BECKER Die logische Erfassung des Bösen bei Kant und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 GILLES MARMASSE Hegel und das Übel in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 CHRISTIAN DANZ Der „umgekehrte Gott“. Schellings identitätsphilosophisches Verständnis des Bösen in der Freiheitsabhandlung von 1809 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 CHRISTOPH BINKELMANN Das Böse ist Ansichtssache – aber auch Realität. Über einen vernachlässigten Aspekt in Schellings Freiheitsschrift . . . . . . . . . 135
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Inhaltsverzeichnis
VINCENT GIRAUD Das Böse als Nichts: Schelling und Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 CHRISTOPH ASMUTH „Es ist eine abgeschmakte Verläumdung der menschlichen Natur, daß der Mensch als Sünder gebohren werde“. Fichte über das Böse . . . . . . . 159 ANDREAS ARNDT „… das Böse ist nur außer dem Werden des höchsten Gutes“. Die Relativität des Bösen bei Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Vorwort Der vorliegende Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Mai 2019 am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Wir danken Allen, die dabei mit Vorträgen mitgewirkt und uns ihre Beiträge für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben. Weiterhin gilt unser Dank der Fondation Meyer und der Association Idea, die die Organisation der internationalen Konferenz im Rahmen der Tagungsreihe Rencontres internationales sur l’idéalisme großzügig unterstützt haben. Besonders möchten wir uns bei Herrn Prof. Dr. Tobias Rosefeldt und Herrn Prof. Dr. Christoph Asmuth für die tatkräftige Unterstützung bei der Organisation bedanken. Schließlich danken wir den Herausgebern für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe Religion in Philosophy and Theology. Berlin, im September 2020
Andreas Arndt, Thurid Bender
Zur Einführung: Das Böse denken THURID BENDER „Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.“1 Es ist diese Verwebung der menschlichen Freiheit mit dem Bösen, die in dem Zitat Kants zum Ausdruck kommt, die als grundsätzlicher Gegenstand der Klassischen Deutschen Philosophie identifiziert werden kann. Mag die Thematisierung dieser Verwebung auch eine philosophische und theologische Tradition haben, erreicht sie in dieser philosophischen Epoche, in der die Freiheit selbst zum zentralen Begriff und Problem wird, dennoch einen entscheidenden Höhepunkt. Der Fortschrittsglaube und die Vernunfteuphorie der Aufklärung drücken sich nicht zuletzt im Umgang mit dem Bösen aus: Auf Leibniz’ Theodizee, in der dieser die Übel – das Böse als moralisches Übel mit inbegriffen – insoweit relativiert, als er sie als notwendige Bedingung für unsere, d. h. die bestmögliche aller Welten ansieht, folgen Auslegungen der biblischen Erzählung des Sündenfalls als felix culpa. So ist für Schiller der Sündenfall „ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, von diesem Augenblick her schreibt sich seine [die des Menschen; TB] Freiheit“.2 Kant, der den Grundstein der Klassischen Deutschen Philosophie legt, interpretiert in seiner Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte von 1786 Gen 2 und 3 und schreibt, dass der Ausgang des Menschen aus dem ihm durch die Vernunft als erster Aufenthalt seiner Gattung vorgestellten Paradiese nicht anders, als der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß thierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instincts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit gewesen sei.3
Gott wird nun nicht mehr dadurch entschuldigt, dass er die Übel in Kauf nehmen musste, um eine allgemein harmonische Welt zu erschaffen:
IMMANUEL KANT, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, AA 8, 115. – Hervorhebungen im Original werden hier und im Folgenden ausgelassen. 2 FRIEDRICH SCHILLER, Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, in: Werke und Briefe, Bd. 6, hg. von Otto Dann, Frankfurt/M 2000, 434. 3 KANT, Muthmaßlicher Anfang, 115. 1
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Es ist aber von der größten Wichtigkeit: mit der Vorsehung zufrieden zu sein […]: theils um unter den Mühseligkeiten immer noch Muth zu fassen, theils um, indem wir die Schuld davon aufs Schicksal schieben, nicht unsere eigene, die vielleicht die einzige Ursache aller dieser Übel sein mag, darüber aus dem Auge zu setzen und in der Selbstbesserung die Hülfe dagegen zu versäumen.4
Die Schuld wird einerseits stärker auf den Menschen verlegt. Andererseits steht diese Schuld im Dienst der Erfüllung der sittlichen Bestimmung des Menschen durch Selbstbesserung. Der Sündenfall wird hier wie traditionell als Sinnbild für den Augenblick verstanden, in dem sich der Mensch auf sich selbst stellt, sich für sich setzt. Nur wird diese Selbstsetzung jetzt nicht mehr einfach als Sünde ausgelegt, sondern als erster und notwendiger Schritt auf dem Weg der Selbstbesserung bzw. -erlösung. Insofern wird der Sündenfall nicht nur teleologisch eingeordnet, sondern zugleich und vor allem wird die Selbstsetzung neu bewertet. Der Sündenfall wird mehr als Befreiungsmoment denn als Abfall verstanden. Diese Auslegungstradition reicht bis in die Klassische Deutsche Philosophie und wird von Fichte, der auch vom „Wahn der Sünde“ spricht,5 auf die Spitze getrieben. In seiner Darstellung werden die einzelnen „Stationen“ des Sündenfalls so sehr in eine neue Reihenfolge gestellt und umgedeutet, dass eigentlich nichts mehr von der Sünde übrigbleibt: Nur soll die Menschheit diesen Weg auf ihren eignen Füßen gehen: mit eigner Kraft soll sie sich wieder zu dem machen, was sie ohne alles ihr Zuthun gewesen; und darum mußte sie aufhören es zu seyn. Könnte sie nicht selber sich machen zu sich selber, so wäre sie eben kein lebendiges Leben; […] Im Paradiese, – daß ich eines bekannten Bildes mich bediene – im Paradiese des Rechtthuns und Rechtseyns ohne Wissen, Mühe und Kunst, erwacht die Menschheit zum Leben. Kaum hat sie Muth gewonnen, eigenes Leben zu wagen, so kommt der Engel mit dem feurigen Schwerte des Zwanges zum Rechtseyn, und treibt sie aus dem Sitze ihrer Unschuld und ihres Friedens. Unstät und flüchtig durchirrt sie nun die leere Wüste, kaum sich getrauend, den Fuß irgendwo festzusetzen, in Angst, daß jeder Boden unter ihrem Fußtritte versinke. Kühner geworden durch die Not, baut sie sich endlich dürftig an, und reutet im Schweiße ihres Angesichts die Dornen und Disteln der Verwilderung aus dem Boden, um die geliebte Frucht des Erkenntnisses zu ziehen. Vom Genusse derselben werden ihr die Augen aufgethan, und die Hände stark, und sie erbauet sich selber ihr Paradies nach dem Vorbilde des verlornen; der Baum des Lebens erwächst ihr, sie streckt aus ihre Hand nach der Frucht, und ißt, und lebet in Ewigkeit.6
Die aufgewertete Vorstellung der Selbstsetzung bricht sich in Form von derjenigen der Selbstgesetzgebung Bahn. Indem sich der Mensch mit der Vernunft identifiziert, entsteht der Anspruch, allein sich selbst zu gehorchen. Dieser äußert sich auf politischer Ebene in Gestalt einer Bewegung, die sich gegen jede Art von gesellschaftlich-institutioneller Heteronomie und überholten Traditionen Ebd., 121. Vgl. JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Anweisung zum seeligen Leben, GA I, 9, 126. 6 JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, GA I, 8, 201 f. 4 5
Zur Einführung: Das Böse denken
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richtet. Nicht nur theoretisch verschont die kritische Grundgeste der Aufklärung weder religiöse noch staatliche Autoritäten und Strukturen: Durch die Französische Revolution, in der die Aufklärung politisch kulminiert, scheint diese ihrem Selbstverständnis, ein philosophisches Zeitalter zu sein, zunächst endgültig gerecht zu werden. Denn anstatt die Welt lediglich philosophisch zu interpretieren, gedenkt sie, zugleich die Philosophie in die Welt zu bringen und diese so zu verändern – mit Fichte gesprochen: ihr eigenes Paradies zu erbauen. Entsprechend vernehmen die Philosophen der Klassischen Deutschen Philosophie die politischen Entwicklungen auf der anderen Seite des Rheins zunächst mit Begeisterung: Der Legende nach pflanzen Hegel, Hölderlin und Schelling nahe dem Tübinger Stift zu Ehren der Französischen Revolution gemeinsam einen Freiheitsbaum. Die Schreckensherrschaft jedoch, in die sich die Französische Revolution entwickelt, versetzt diesem Enthusiasmus einen Dämpfer. Gerade in dem Augenblick, in dem die Vernunft verwirklicht werden soll, beginnt der Terror! Dieser scheint vor Augen zu führen, was in der aufwertenden Auslegung des Sündenfalls verschüttet wurde: dass dort, wo sich der Mensch anmaßt, sich abstrakt auf sich selbst zu stellen, das Böse droht einzubrechen. Er erinnert daran, dass die Vernunft nicht allein Freiheit, sondern auch den Tod bringen kann, dass Erkenntnis ein „doppelseitiges, gefährliches Geschenk“ ist,7 weil sie das Gute – theologisch gewendet: Gott – aus den Augen verlieren kann. Allerdings lassen sich nicht alle Denker von dieser Entwicklung zu einer Adjustierung ihrer Haltung zur Revolution bewegen. Fichte, dessen zitierte Sündenfallauslegung übrigens aus einer Vorlesung aus den Jahren 1804/05 stammt, veröffentlicht im Jahr 1793 eine Schrift, die die Revolution rechtfertigt. In dieser wird zwar nicht die Brutalität der Schreckensherrschaft legitimiert. Die Tatsache jedoch, dass dieser Text im Jahr der Hinrichtung des Königs und dem Beginn der Schreckensherrschaft publiziert wird, spricht dafür, dass Fichte im Terror keinen Grund zur Korrektur seines Standpunkts sieht. Vielmehr scheint die Übernahme der Perfektibilitätskonzeption, die in der Aufklärung in den verschiedensten Gestalten verbreitet ist, ihn dazu zu führen, die Brutalität der Französischen Revolution als notwendiges Übel auf dem Weg der allmählichen Vollendung der Menschheit, der Verwirklichung einer moralischen Gemeinde anzusehen, auch wenn sich dieser nur immer weiter angenähert und sie in ihrer Perfektion niemals erreicht werden kann. Ein ähnlicher von der Aufklärung übernommener Fortschrittsbegriff führt auch Schleiermacher dazu, das Böse zu relativieren. Die Frühromantik besinnt sich zwar gegen die Aufklärung auf unterschiedliche Arten des Unvernünftigen wie das Gefühl oder ‚die Natur‘ zurück, die nun eine starke Aufwertung erfahren. 7 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, in: Werke. Theorie-Werkausgabe, Bd. 17, Frankfurt/M 1969, 76.
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Der Mensch soll wieder ganzheitlich in den Blick genommen und nicht auf ein abstrakt Allgemeines reduziert werden. Allerdings wird das Unvernünftige keineswegs einfach wider die Vernunft ausgespielt. Denn die Frühromantiker richten sich vor allem gegen die einseitige Verabsolutierung der Vernunft, die sie in der Aufklärung erblicken. So ist die Einheit von Geist und Natur als Totalität für Schleiermacher das höchste Gut, welches in der Geschichte immer weiter realisiert wird, obschon es – wie bei Fichte – niemals vollkommen erreicht werden kann. Schleiermacher übernimmt also ebenso das progressive Moment des Perfektibilitätsbegriffs von der Aufklärung, damit aber eben auch die Marginalisierung des Bösen zum bloßen Schein. Lassen sich manche Philosophen der Klassischen Deutschen Philosophie in ihrem prinzipiellen Optimismus also nicht erschüttern, findet bei vielen anderen eine „Erinnerung“ an das Böse nicht allein durch die politischen Ereignisse, sondern auch auf philosophischer Ebene statt. Nicht nur Schiller gibt seine Ansicht auf, dass der Austritt des Menschen aus dem Paradies ein Übergang aus der Vormundschaft der Natur in die Freiheit war. In seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 erweitert auch Kant seine Freiheitslehre um das radikal Böse, dessen „förmlichen Beweis“ man sich in Anbetracht „der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Thaten der Menschen vor Augen stellt,“ sparen könne.8 Kant attestiert dem Menschen einen „natürlichen Hang zum Bösen“, welcher darin besteht, das moralische Gesetz einer anderen Maxime entweder bei- oder unterzuordnen. Diesen Hang kann man, „da er doch immer selbstverschuldet sein muß, […] ein […] angebornes, (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen“.9 Jetzt lässt sich durch die Geschichte des Sündenfalls Kant zufolge vorstellen, in welcher Situation wir uns in jedem Augenblick befinden: in der Gefahr, uns frei – d. h. durch eine intelligible Tat – gegen die Pflicht zu entscheiden und also böse zu sein.10 Zusammen mit Kant wollen Schelling und Hegel das Böse nicht mehr einfach „links liegenlassen“, können das unmittelbare Vertrauen auf die Vernunft und den mitunter naiven Fortschrittsbegriff der Aufklärung nicht länger tragen. Vielmehr erkennen sie, dass das Böse in gewisser Hinsicht der Vernunft sogar immanent ist und es von Schwäche zeugt, sich nicht mit ihm zu konfrontieren. In diesem Sinne radikalisiert vor allem Schelling das Problem des Bösen, das ihn sein ganzes philosophisches Leben begleitet – neben der dafür berühmten Freiheitsschrift von 1809 beschäftigen sich u. a. sowohl seine Magisterarbeit von 1792 als auch späte Vorlesungen wie die Philosophie der Offenbarung (1841/42) und die Philosophie der Mythologie (1842) mit ihm –, indem er es wieder in einen IMMANUEL KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 6, 32 f. Ebd., 32. 10 Vgl. ebd., 42. 8 9
Zur Einführung: Das Böse denken
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theologischen Rahmen setzt und damit zugleich ontologisiert. Um auf eine Erklärung der Möglichkeit des Bösen hoffen zu können, muss man nach dem Ursprung des (endlichen) Seins überhaupt fragen. Zwar hatte schon Leibniz die Ursache der Sünde in die prinzipielle Unvollkommenheit der Kreaturen gelegt. Aber während Leibniz dadurch in der Endlichkeit einen zureichenden Grund für den sozusagen nur noch sekundären, nicht mehr als abgründigen Einschnitt genommenen Sündenfall erblickt und diesen damit beinahe banalisiert, avanciert für Schelling der „Übergang“ vom Absoluten zum Endlichen selbst zum ontologischen Abfall. In diesem sind Einzel- und Universalwille nicht mehr unzertrennlich wie in Gott, sodass die Möglichkeit entsteht, den Universalwillen dem Einzelwillen unterzuordnen – böse zu sein. Somit ist der ontologische Fall die Bedingung der Möglichkeit derjenigen Freiheit, die als „Vermögen des Guten und des Bösen“ verstanden wird, welches den „reale[n] und lebendige[n] Begriff “ ausmacht und gerade die spezifisch menschliche Freiheit bezeichnet.11 Aber die Geschichte lehrt uns, dass der Mensch diese Freiheit „immer schon“, d. h. in außerzeitlicher Sphäre des Intelligiblen, realisiert hat, und zwar zum Schlimmeren. Diese dem Menschen wesentliche Entscheidung zum Bösen wird Schelling zufolge in der Erzählung des Sündenfalls und der Erblichkeit der Sünde mythisch vorgestellt und in Kants radikal Bösen begrifflich gedacht. Das Böse ist dem Menschen wirklich wesentlich, insofern sein Wesen darin besteht, sich als Bewusstsein selbst zu setzen, d. h. sich vom Sein, von Gott abzusetzen. Damit wird die Selbstsetzung des Menschen, die in der Aufklärung größtenteils gefeiert wurde (was zur Interpretation des Sündenfalls als glückliche Schuld geführt hatte), nun wieder weitaus negativer bewertet. Zugleich wird das Böse zum Wesenszug, durch welchen der Mensch überhaupt erst Mensch wird. Paradoxerweise macht uns das Böse also gerade menschlich. Damit wird das Problem der Erlösung aber eines zum Verzweifeln: Die Selbsterlösung, wie sie z. B. bei Fichte gedacht wird, ist ausgeschlossen, würde ihr Versuch doch die sündhafte Selbstsetzung einfach perpetuieren, und es stellt sich die unmögliche Frage, was der Mensch tun soll, wenn er aufhören muss, Mensch zu sein, um ein guter zu sein. Auch für Hegel nimmt das Problemfeld des Bösen einen hohen Stellenwert ein und wird nicht allein auf moralischer Ebene behandelt. Bereits die Tatsache, dass die Auslegung des Sündenfalls an sehr vielen verschiedenen Stellen auftaucht und vor allem in Systemteilen, in denen man es womöglich nicht erwarten würde, kann als Hinweis dafür genommen werden. So wird Gen 3 nicht nur in der Religionsphilosophie (gleich mehrere Male) zum Thema, sondern auch an Orten wie der Rechtsphilosophie oder der Logik. Die Erzählung wird 11 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Stuttgart 1976 ff., Abt. I, Bd. 17, 125.
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auf zweifache Weise ernst genommen: zum einen wird sie als „Mythus“ verstanden,12 durch den sich der Mensch seines Wesens und seiner „ewigen Geschichte“ in der Sphäre der Vorstellung bewusst wird. Insofern legt Hegel den Sündenfall als Darstellung der Selbstkonstitution von Bewusstsein und somit der Emanzipation des Menschen aus der Anhaftung an die Natur aus. Damit einher geht zweitens die Betonung des dialektischen Moments, das bereits im Begriff der felix culpa steckt. Die Schuld wird zwar auch als glückliche anerkannt, aber ohne dabei den Schuldcharakter vor lauter Euphorie aus den Augen zu verlieren. Denn solange das Bewusstsein in einem repulsiven Verhältnis zum Allgemeinen oder Guten – im Sündenfall als persönlicher Gott vorgestellt – verharrt, sein Wille somit abstrakt bleibt, ist es böse. Wie böse, lässt sich erahnen, wenn man Erscheinungsformen einer solchen sich missverstehenden Freiheit betrachtet: So thematisiert Hegel gerade die Schreckensherrschaft als solche und zeigt, inwiefern diese dialektisch aus einer „aufgeklärten Vernunft“ folgt, die das Allgemeine verabsolutiert und darüber die Konfrontation mit der Negativität, mit ihrem Anderen, vergisst. Aber der Terror der Französischen Revolution ist nur ein Beispiel für das Böse in der Geschichte, die Hegel in einem berühmten Bild mit einer „Schlachtbank“ vergleicht und deren ideologische Beschönigung somit verbietet. Doch obwohl „die Perioden des Glücks […] für die Geschichte leere Blätter“ sind,13 versteht Hegel seine Geschichtsphilosophie als Theodizee, die aufzeigt, inwiefern das Gute – die Selbstbewusstwerdung des Geistes – in der Weltgeschichte realisiert wird. Weil das Wesen des Geistes wiederum Freiheit ist, kann Hegel die Geschichte als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ bezeichnen. Hegel modifiziert den Fortschrittsbegriff der Aufklärung also dahingehend, dass eine Steigerung des Glücks oder gar der moralischen Verfassung der Menschheit ausgeschlossen wird. Nimmt man den Begriff der Theodizee allerdings ernst, muss das Bewusstsein der Freiheit all die physischen und moralischen Übel der Geschichte irgendwie aufwiegen. Eben darin haben viele Kommentatoren einen Grund dafür gesehen, einigen Philosophen der Klassischen Deutschen Philosophie, insbesondere aber Hegel, eine nie dagewesene Hybris vorzuwerfen. Kann man der Aufklärung ihren Optimismus gerade noch aufgrund ihrer „Naivität“ verzeihen, wird ihren Nachfolgern das Böse zum Verhängnis: Anstatt im Angesicht der Schreckensherrschaft, die aus der Verabsolutierung der Vernunft erwächst, eine angemessene Demut zu entwickeln, haben sie das Böse vielmehr als Herausforderung für die Vernunft genommen, vor der sie nicht zurückschrecken wollten. Die Hybris besteht also nicht darin, das Böse zu leugnen, sondern im Anspruch, dieses zu GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, TWA 12, 389. 13 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 1, GW 27, 1, 54. 12
Zur Einführung: Das Böse denken
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verstehen,14 es mit dem Denken zu durchdringen. Genau in diesem Anspruch kann aber auch die Stärke einer Philosophie wie derjenigen Hegels erblickt werden: Weit davon entfernt, den Standpunkt der Trauer und der Empörung einfach zu verwerfen, fordert Hegel uns auf, diesen nicht einseitig gegen eine Perspektive auszuspielen, die zu erkennen sucht, ohne dabei zu vergessen, das Übel ernst zu nehmen. Mag man diese Forderung nun für maßlos und insofern eine solche Philosophie selbst für sündhaft halten oder nicht: Die Klassische Deutsche Philosophie scheint die letzte zu sein, in der auf ontologischer, theologischer und ethischer Ebene das Böse in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Vernunft und der Freiheit erhellt wird.
So fasst Hegel gerade das Projekt der Theodizee: „Somit wollen wir uns anders ausdrucken, wir wollen den Plan der Vorsehung der Welt verstehen lernen. Sofern kann man die Geschichte die Rechtfertigung Gottes Theodicee nennen.“ GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 3, GW 27, 3, 797 (Hervorhebung T. B.). 14
Das anstößige Thema Sünde – oder wie die Aufklärung zur Vernunft kommt JOACHIM RINGLEBEN „Initium est salutis notitia peccati“.1
Ja in einem gewissen Sinne ist es unwiderleglich wahr, daß wir der Mosaischen Religion einen großen Teil der Aufklärung danken, deren wir uns heutiges Tags erfreuen. Denn durch sie wurde eine kostbare Wahrheit, welche die sich selbst überlassene Vernunft erst nach einer langsamen Entwicklung würde gefunden haben, die Lehre von dem Einigen Gott, vorläufig unter dem Volke verbreitet … bis sie endlich in den helleren Köpfen zu einem Vernunftbegriff reifen konnte. Dadurch wurden einem großen Teil des Menschengeschlechtes alle die traurigen Irrwege erspart, worauf der Glaube an Vielgötterei zuletzt führen muß.2
Mit diesen denkwürdigen Sätzen leitet der Jenaer Geschichtsprofessor Friedrich Schiller 1790 im zehnten Heft der Thalia seinen Aufsatz über Die Sendung Moses ein.
1. Biblische Aufklärung Worauf Schiller hier aufmerksam machte, das ist ein aufklärerisches Potential, das schon im alttestamentlichen Glauben an den Einen und Einzigen liegt.3 Der biblische Monotheismus hat demnach mit seiner exklusiven Auszeichnung des Einheits-Gedankens etwas Vernunftkonformes. Die Aufklärung fängt somit bereits im Alten Testament an. Das setzt sich fort, wo die Propheten im Namen des einen Gottes gegen die von Menschen gemachten Götzenbilder aus Holz oder Stein oder Gold und Silber polemisieren (vgl. Jes 44, 9–20; Ps 115, 4–7). Dieser prophetische Aufklärungseifer verkennt zwar, dass auch die Andächtigen der „heidnischen“ Religionen einen Unterschied EPIKUR, Wege zum Glück, hg. von R. Nickel, Düsseldorf/Zürich 22006, Fragment 125. FRIEDRICH SCHILLER, Die Sendung Moses, in: Werke und Briefe, Bd. 6, hg. von O. Dann, Frankfurt/M 2000, 451. 3 Vgl. Biblische Aufklärung – die Entdeckung einer Tradition, hg. von Martin Frühauf/ Werner Löser, Frankfurt/M 2005 (St. Georgener Hochschulschriften 6). 1 2
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Joachim Ringleben
machen zwischen dem materiellen Götterbild und der angebeteten Gottheit selbst.4 An sich ist das aber ein soz. aufgeklärter Zug im religiösen Bewusstsein selber.5 Ihn systematisch festzuhalten und auszuarbeiten, bedeutet grundsätzlich, dass die Aufklärung in dem Maße im Recht ist, als sie sich als legitime Frucht des Religiösen selber in den Dienst seiner kritischen Durchklärung und Reinigung stellt. Umgekehrt bedeutet es: jede Aufklärung verfehlt die Wahrheit des Religiösen, wo sie das Religiöse nur auf sich selber (sc. den aufgeklärten Verstand) reduziert und das komplexe Andere gar nicht erreicht. Der Kampf der Aufklärung gegen den Glauben ist solange ein Selbstmissverständnis, als sie nicht wahrnimmt, dass im religiösen Glauben selbst ein Aufklärungspotential steckt, das mit ihr konvergiert, ja, aus dem sie sich selber entgegenkommt. Ohne das aber würde die Aufklärung sich selbst widersprechen.6 Man kann auch allgemein sagen: Jede Aufklärung benötigt eine Meta-Kritik; im 18. Jahrhundert waren das im Falle I. Kants Hamann und – wie wir sehen werden – Hegel.7 Doch zunächst noch einmal zurück zur Bibel. Im NT eignen bereits dem Auftreten Jesu aufklärende Züge, insofern er im Sinne seines unmittelbaren Gottesverhältnisses traditionskritische Momente gegen die Religion seiner Väter zur Geltung bringt. So im Falle der Reinheitsfrage, die Jesus von allem Äußerlichen ablöst (vgl. Mk 7, 15), und so die für alle vorchristliche Religion – einschließlich der alttestamentlichen – grundlegende kultische Unterscheidung von rein und unrein (bzw. von heilig und profan) vom Gottesgedanken her aufhebt. Ähnlich das ungeheuerliche Wort Jesu: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Mk 2, 27).8 Der Apostel Paulus hat dies Ineinander von religiöser Entpositivierung und religiöser Aufklärung im Namen des lebendigen Gottes fortgesetzt und universalisiert: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid alle eins in Christus Jesus“ (Gal 3, 28).9 Damit werden die tiefsten, naturwüchsigen Scheidungen der antiken Welt: die religiöse Spaltung, die soziale Zerklüftung und die Hierarchie im Geschlechterverhältnis prinzipiell außer Kraft gesetzt. Das hat eine tiefe Wahlverwandtschaft zu Grundanliegen der europäischen Aufklärung, bedeutet aber zunächst eine radikale innerreligiöse Kritik überkommener Religion selber. Vgl. dazu schon GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Phänomenologie des Geistes, TWA 3, Frankfurt/M 1970, 409. 5 Vgl. neuerdings WERNER HUGO SCHMIDT, Aspekte der Religionskritik im Alten Testament, in: Gottes Wirken und Handeln des Menschen, hg. von Werner Hugo Schmidt (Biblisch-Theologische Studien 147), Neukirchen-Vluyn 2014, 73–86. 6 Zu dieser Dialektik der Aufklärung vgl. HEGEL, Phänomenologie, 391–431. 7 Vgl. auch ARBOGAST SCHMITT, Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht, Heidelberg 2016. 8 Dazu JOACHIM RINGLEBEN, Jesus. Ein Versuch zu begreifen, Tübingen 2008, 196–204. 9 Vgl. auch 1 Kor 12, 13; Röm 10, 12 u. Kol 3, 11. 4
Das anstößige Thema Sünde – oder wie die Aufklärung zur Vernunft kommt
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Zuletzt sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass im NT, insbes. in den johanneischen und paulinischen Schriften, griechische Leitbegriffe wie Wahrheit (ἀλήθεια), Freiheit (ἐλευθερία) und Geist (πνεῦμα) religiös zentral in Anspruch genommen werden. Es ist durchaus nicht für jede Religion kennzeichnend, dass sie z. B. Wahrheit (und nicht nur Gehorsam oder kultisch-rituelle Reinheit und Korrektheit) beansprucht.10 Nur weil das so ist, gibt es im Christentum auch so etwas wie eine wissenschaftliche Theologie: als intellektuelle Durchklärung und denkende Aneignung der Tradition. Diese Glaubensbegriffe von Wahrheit, Freiheit und Geist sind auch in ihren säkularen Varianten in der europäischen Denkgeschichte wirksam geblieben.11 So ist es auch kein Zufall, dass der Begriff „Aufklärung“ in den europäischen Hauptsprachen (enlightenment, les lumières, secolo illuminato, siglo de las luces bzw. ilustración) auf religiöse Ursprünge in der Lichtmetaphysik bzw. der Theologie der Erleuchtung (illuminatio) zurückweist.12
2. Das radikale Böse Wir wenden uns nun der Frage zu, wie sich vor diesem Hintergrund die theologisch wesentlichen Begriffe der Sünde und der Erbsünde verstehen lassen. (1) Ohne weitere Belege kann man sich vorstellen, dass die weithin moralisch (und optimistisch) denkende Aufklärung mit diesen Begriffen nicht nur nichts anfangen konnte, sondern insbesondere den der Erbsünde als unmoralischen Angriff auf die Freiheit und Selbstbestimmung des vernünftigen Menschen ablehnen musste. Wie kann ein freies Subjekt für etwas verantwortlich bzw. an etwas sogar schuld sein, bei dem es gar nicht selbsttätig beteiligt war? „Ererbte“ Schuld, unausweichliche Sünde – das war etwas Widermoralisches schlechthin, ein völliger Widerspruch zur aufgeklärten Humanität. Und insbes. die Erbsünde im Sinne Augustins schien ein schlechter „dogmatischer“ Ausdruck für die überkommene Leib- und Sexualfeindlichkeit der christlichen Religion zu sein. Hier tat Aufklärung not – um der Menschlichkeit des Menschen willen. Daher konnte Josef Ratzinger behaupten: „Im Christentum ist Aufklärung Religion geworden und nicht mehr ihr Gegenspieler“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 6 vom 8. 01. 2000; Beilage. Bilder und Zeiten. S. I.). Vgl. auch KLAUS HONRATH, Der Glaube als aufgeklärte Form des Wissens, in: Metaphysik – Metaphysikkritik – Neubegründung der Erkenntnis: Der Ertrag der Denkbewegung von Kant bis Hegel, hg. von Héctor Ferreiro/Thomas Sören Hoffmann (Begriff und Konkretion 5), Berlin 2017, 126–137. 11 Nach Emanuel Hirsch macht das Johannesevangelium mit seinem Wahrheitsbegriff das „Fragen nach der christlichen Erkenntnis vom Verhältnis Gottes zum Menschen zum unentrinnlichen Schicksal unserer abendländischen Geistigkeit“ (EMANUEL HIRSCH, Leitfaden zur christlichen Lehre, Tübingen 1938, 29.). Vgl. auch: „Der Paulinismus hat die Macht der Worte Geist, Freiheit und Liebe im abendländischen Denken begründet“ (Ebd.). 12 Biblische Wurzeln sind: 1 Joh 1, 5; Ps 36, 10 (Licht); Joh 4, 24 (Geist und Wahrheit); 2 Kor 3, 17 (Freiheit). 10
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So verwundert es nicht, dass sich im Aufklärungszeitalter zahlreiche rationale Umdeutungen der biblischen Sündenfallgeschichte (Gen 3) finden. Dabei reicht das Spektrum von einem bloßen Rationalismus, wie z. B. die Erbsünde als Folge des Genusses einer vergifteten Frucht im Paradies zu erklären (so der Theologe H. E. G. Paulus in Heidelberg) bis zu anspruchsvolleren freiheitstheoretischen Interpretationen.13 Eine solche hat indes auch Fr. Schiller vorgetragen. In seiner Schrift: Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde (Thalia 1790) erklärte er den Sündenfall für die „glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein geleget“.14 Schiller liest Gen 3 gegen den Strich; als felix culpa: im selbständigen Übertreten des göttlichen Verbotes und im Verlassen des Standes reiner Unschuld stößt der Mensch sich emanzipatorisch ab vom bloßen Sein im Paradies – als „das glücklichste und geistreichste aller Tiere“15 – und begibt sich „auf den gefährlichen Weg zur moralischen Freiheit“,16 d. h. zur sittlichen Autonomie. Dass Adam, d. h. der Mensch überhaupt, sich vom vor-vernünftigen Zustand paradiesischer Passivität befreit, das ist die „erste Äußerung seiner Selbsttätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseins“.17 Der Vernunftoptimismus der Aufklärung ist in dieser Umdeutung der Sündenfallgeschichte nicht zu übersehen. (2) Aber wie dachte der Meisterdenker der deutschen Aufklärung, Immanuel Kant, hierüber? Kant ist bekanntermaßen der neuzeitliche Philosoph der Freiheit schlechthin, und er verstand sie im Kern als sittliche Freiheit bzw. vernünftige Autonomie des Menschen. Auch er führte dies auf die aufklärerische Potenz der christlichen Religion zurück, und er fand diese in seiner in der Aufklärung begriffenen Gegenwart wieder. Kant spricht noch 1794 von der „moralischen Liebenswürdigkeit, welche das Christentum bei sich führt“, „welche … zur Zeit der größten Aufklärung, die je unter Menschen war [d. h. zu Kants Zeit], sich immer in einem nur desto hellern Lichte zeigt“.18
13 Vgl. dazu MARTIN METZGER, Die Paradieseserzählung. Die Geschichte ihrer Auslegung von J. Clericus bis M. L. de Wette, Bonn 1959 und JOACHIM RINGLEBEN, Hegels Theorie der Sünde (Theologische Bibliothek Töpelmann 31), Berlin/New York 1977. 14 FRIEDRICH SCHILLER, Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde, in: Werke und Briefe, Bd. 6, hg. von O. Dann, Frankfurt/M 2000, 434. Vgl. auch IMMANUEL KANT, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), AA 8, 109–123. 15 SCHILLER, Menschengesellschaft, 433. 16 Ebd., 434. 17 Ebd. 18 IMMANUEL KANT, Das Ende aller Dinge, AA 8, 327–339, hier: 339.
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Dennoch kam es soweit, dass dieser König der Aufklärung und Freiheitsphilosoph im Alter die Aufklärer und idealistisch denkenden Humanisten so ziemlich alle tief enttäuschte und verstörte. So schrieb etwa Goethe an Herder: Dagegen hat aber auch Kant seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei Vorurtheilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbei gelockt werden, den Saum zu küssen.19
Was war geschehen? Kant hatte im April 1792 in der Berlinischen Monatsschrift eine Abhandlung Über das radikale Böse in der menschlichen Natur publiziert und dann 1793 als erstes Stück seiner Religionsphilosophie Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft veröffentlicht. Nachdem Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft und in der Kritik der praktischen Vernunft die reine Vernunftidee der Freiheit postuliert hatte, wandte er sich jetzt der realen Situation des Menschen zu und zeigte, dass dessen Moralität in der Wirklichkeit immer schon durch einen radikalen, d. h. an die Wurzel des menschlichen Selbstseins reichenden, „Hang“ zum Bösen korrumpiert sei. Dem pädagogischen Fortschrittsglauben der Aufklärung, der von einem ursprünglichen Gutsein des Menschen ausging, setzte Kant nicht nur die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ des Menschen entgegen,20 sondern seine philosophische Rekonstruktion des christlichen Gedankens der Erbsünde.21 In seiner Abhandlung über das Radikalböse interpretiert Kant dazu die Sündenfallgeschichte (Gen 3).
3. Der intelligible Ursprung des Bösen22 (1) Kants Versuch einer vernünftigen Rekonstruktion des Begriffs des Bösen hat eine alles weitere bestimmende Auffassung vom Wesen menschlicher Freiheit zur Voraussetzung. Diese erweist sich in seinem Konzept als eine nicht zu überschreitende Letztgegebenheit für das Denken: „die Freiheit der Willkür ist von 19 7. 6. 1793. Vgl. JOHANN GOTTFRIED HERDER, Briefe zur Beförderung der Humanität, in: Sämmtliche Werke, Bd. 18, hg. von B. Suphan, Berlin 1883, 295–301. Schiller äußert sich brieflich an Gottfried Körner (28. 2. 1793) zu Kants Religionsschrift (1. Stück): er findet einen der ersten Grundsätze Kants „empörend für mein Gefühl“. Denn Kant „behauptet nehmlich darin eine propension des menschlichen Herzens zum Bösen, das er das radikale Böse nennt“ (https:// www.Friedrich-schiller-archiv.de/briefe-schillers/briefwechsel-mit-gottfried-koerner/schilleran-gottfried-koerner-28-februar-1793/; Aufruf 6. 5. 2020). 20 IMMANUEL KANT, Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung?, AA 8, 35–42, hier: 35. 21 Vgl. PEDRO JESUS TERUEL, Zur Wurzel des Bösen. Das Problem der Erbsünde zwischen geoffenbarter Religion und Vernunft, von Kant und Schelling bis Freud, in: Vernunftreligion und Offenbarungsglaube. Zur Erörterung einer seit Kant verschärften Problematik, hg. von Norbert Fischer/Jakub Sirovátka, Freiburg/Basel/Wien 2015, 421–441. 22 In diesem Abschnitt greife ich Formulierungen eines früheren, ausführlicheren Aufsatzes wieder auf; vgl. JOACHIM RINGLEBEN, Die Dialektik von Freiheit und Sünde, in (ders.): Arbeit am Gottesbegriff II, Tübingen 2005, 149–159.
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der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, dass sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat“.23 Demnach wird, was auch immer das Handeln des Menschen bestimmt, dieses nur dann unter den Bedingungen der Freiheit gedacht, wenn es als durch die eigene Selbsttätigkeit des Subjektes für es wirksam gedacht wird; als von der „absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit)“ selbsttätig übernommen und angeeignet.24 Nur so ist es Bestimmungsgrund des eigenen Handelns des Menschen. Grund des Bösen kann unter den Bedingungen von Freiheit nur eine Maxime sein, d. h. eine „Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht“.25 Der Ausdruck „(böse) von Natur“ ist also insofern dialektisch, als er beim Menschen gerade nichts „Natürliches“ meint, sondern einen ersten bzw. letzten Grund, der für das freie Subjekt eben nur eine Maxime sein kann. Dass der Mensch „von Natur aus böse“ ist, bedeutet mithin für Kant: „er enthält einen (uns unerforschlichen) ersten Grund der Annehmung … böser (gesetzwidriger) Maximen, und zwar allgemein als Mensch“.26 Nennt man dies einen „angeborenen“ Charakter, so soll damit nicht der Natur die Schuld gegeben, sondern gerade der Mensch selber als Urheber des Bösen gedacht werden. Denn der erste, in Freiheit entspringende Grund des Bösen kann kein empirisch in der Zeit wirkliches Faktum sein; er muss vielmehr allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauch der Freiheit schon vorausgesetzt werden. Ebenso kann er auch nicht in der Zeit erworben sein27 bzw. von irgendeinem ersten zeitlichen Akt abgeleitet werden. Denn der wahrhaft erste subjektive Grund der Annahme der Maximen kann nur ein einziger sein und „geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit“.28 Von einem „radikalen Bösen in der menschlichen Natur“ zu reden, heißt also, von einem ursprünglichen, aber selbstverschuldeten Hang zum Bösen zu reden: Dieser natürliche Hang zum Bösen kann nur dem moralischen Vermögen der Willkür „ankleben“.29 Auch dieser Begriff „Hang“ ist dialektisch zu verstehen, weil er ursprüngliche Tat der Freiheit ist. Er ist die vor jeder empirischen Tat vorhergehende Tat der ursprünglichen Selbstbestimmung des Subjektes: derjenige „Gebrauch der Freiheit […], wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen“ wird.30 Insofern ist der Hang zum Bösen die „intelligible“ Tat, in der die bösen Handlungen, die jener gesetzeswidrigen IMMANUEL KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 6, 1–202, hier: 23 f. 24 Ebd., 24. 25 Ebd., 21. 26 Ebd. 27 Ebd., 25. 28 Ebd. 29 Ebd., 31. 30 Ebd. 23
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Maxime gemäß ausgeübt werden, ihren ursprünglichen Freiheitsgrund haben. Ist jede wirkliche böse Tat in der Zeit empirisch gegeben (Factum phaenomenon), so ist die ursprüngliche Tat (der Hang zum Bösen) intelligibel, d. h. vor aller Erfahrung vorher und sie begründend. Das Intelligible ist „bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“,31 weil es den Ursprung der Freiheit meint und betrifft. Nur als Tat vor jeder empirischen Tat kann die Freiheit der Subjektivität identifiziert werden: sie ist das, was sich selber voraussetzt. Als solches Intelligible ist der „angeborene Hang“ auch durch empirisches Handeln nicht aufzuheben und kann dafür keine empirische Ursache angegeben werden (d. i. seine Unableitbarkeit), obwohl es gerade durch die eigene Tat des Subjektes ist. Wegen seines intelligiblen Ursprungs in der subjektiven Freiheit ist das allgemeine Faktum des Bösen für Kant „unerforschlich“.32 Als solches kann es nur hingenommen werden, denn jeder angebbare Grund für es verwiese selber wieder auf ein subjektives Annehmen seiner als Grund bzw. auf eine noch höhere Maxime. Der Ausdruck „unerforschlich“ verhindert also einen unendlichen Regress. Und genau in dieser Notwendigkeit, über jeden denkbaren Grund wieder hinaus zu fragen nach einer Regel seiner freien Übernahme, zeigt sich die notwendige Selbstvoraussetzung von Freiheit. Freiheit erzeugt sich ständig neu an dem, was sie irgendwie begründen soll. Kants Hinweise auf das Unerforschliche bezeichnen die begreifende Selbstaufhebung des Begreifens angesichts von Freiheit als dem Unbedingten; das aber ist etwas anderes als bloßes Nicht-wissen-Können. (2) Um den Ursprung des Bösen näher zu beschreiben, bezieht Kant sich auf die „Vorstellungsart“ der Sündenfallgeschichte (Gen 3). Soll dieser Ursprung in seiner inneren Möglichkeit „nach Freiheitsgesetzen“ verstanden werden,33 so kann das, wie gezeigt, nur auf einen intelligiblen Ursprung führen. Denn jeder Zeitursprung (bzw. innerzeitliche Ursprung), d. h. jede Ableitung des Bösen aus einem empirisch vorhergehenden Zustand nach dem Schema einer zeitlichen Abfolge von Ursache und Wirkung, würde das Böse als naturhafte Weltbegebenheit, nicht aber als freie Handlung auffassen. Kant nennt die intelligible Verknüpfung von Bestimmungsgrund der Willkür und ihre Bestimmung zum Bösen, weil sie nicht als in der Zeit geschehend vorstellbar ist, den „Vernunftursprung“ des Bösen.34 (Der Begriff meint, dass der Grund des Gebrauchs der Freiheit selber kein empirisches Faktum sein kann.) Daher ist nach Kant mit dem Vernunftursprung der bösen Tat der Gedanke eines „Standes der Unschuld“, wie ihn Gen 3 vorstellt, notwendig verbunden. Denn wegen ihres intelligiblen Ursprungs in der Freiheit muss jede böse Handlung so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar „aus dem Stande der Ebd., 31. Ebd., 21. 33 Ebd., 39. 34 Vgl. ebd., 39 f. 31 32
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Unschuld“ heraus „zum Bösen übergeschritten wäre“.35 Der Gedanke eines Unschuldsstandes bedeutet also den Abbruch der zeitlichen Folge im UrsacheWirkung-Zusammenhang, um so die Unmittelbarkeit der sich selbst setzenden (verwirklichenden) Freiheit denkbar zu machen. „Unschuld“ ist der moralische Begriff, der den intelligiblen Ursprung vorstellbar macht. Unter diesen Voraussetzungen wird auch Kants weitere Bezugnahme auf die biblische Überlieferung vom Ursprung des Bösen verständlich. Er rekonstruiert den vernünftigen Sinn des religiösen Textes von der Unausweichlichkeit des Freiheitsgedankens her. Dabei geht es ihm einzig um die vernunftgemäße Art, „wie man sich einen historischen Vortrag moralisch zunutze macht“.36 Derart sichert gerade die transzendentale Interpretation von Gen 3 die gegenwärtige Verbindlichkeit der Tradition: Im Namen der Vernunft („aufgeklärt“) kann Kant von der biblischen Erzählung sagen: „Mutato nomine de te fabula narratur“.37 Der Ursprung des Bösen aus Freiheit ist intelligibel, d. h. er ist nicht vorstellbar. Denn Vorstellung ist für Kant eine Form des empirischen Bewusstseins. Er bestimmt es nun aber gerade als eine Funktion des religiösen Bewusstseins bzw. seiner Dokumente, das Intelligible doch vorstellbar zu machen und so das rein Vernünftige mit den Formen des empirischen Bewusstseins zu vermitteln. Das Hauptmerkmal solcher Akkomodation an sinnliche Vorstellbarkeit ist die Verzeitlichung: das sachlich Primäre erscheint als das zeitlich Erste. So wird in Gen 3 das Intelligible als zeitlicher Anfang der Menschengattung vorgestellt und der Stand der Unschuld – philosophisch ein Vernunftmoment – als ein historisch anfänglicher Zustand, der verlassen wurde. Auf diese Weise kann das Intelligible als eine tatsächliche Geschichte der Vergangenheit vorgetragen werden. Kant hingegen liest die Genesiserzählung als mythische Veranschaulichung dessen, wie es ist, „wenn man die Handlung als mit Bewußtsein aus Freiheit entspringend denkt“ – des Intelligiblen.38 Damit ist die universelle Gültigkeit des Erzählten kein Problem; es ist für Kant klar, „daß wir es täglich eben so machen, mithin ‚in Adam alle gesündigt haben‘ und noch sündigen“.39 Außerdem ermöglicht es diese freiheitstheoretische Interpretation Kant, die traditionelle, auf Augustin zurückgehende dogmatische Vererbungslehre für das Böse scharf abzulehnen.40 (3) Ohne auf weitere Einzelheiten der Kant’schen Auslegung von Gen 3 einzugehen, sei noch der hier wichtige systematische Ertrag festgehalten. Ebd., 41. Ebd., 43 (Hervorhebung J. R.). 37 Ebd., 42. 38 Ebd. 39 Ebd; vgl. Röm 5, 12.17.19 u. 1 Kor 15, 22. Möglicherweise liegt auch ein Anklang an Luthers Katechismus vor. Kant schreibt selber: „so möchte wohl vom Menschen allgemein wahr sein, was der Apostel sagt: ‚Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder – es ist keiner, der Gutes tue (nach dem Geiste des Gesetzes), auch nicht einer‘ “ (KANT, Religion, 39; vgl. Röm 3, 23 und 12). 40 KANT, Religion, 40; vgl. ebd., Fußnote. 35 36
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Kant stellt von der Sündenfallgeschichte fest: Nach ihr fängt das Böse nicht von einem zum Grunde liegenden Hange zu demselben an, weil sonst der Anfang desselben nicht aus der Freiheit entspringen würde, sondern von der Sünde, (worunter die Übertretung des moralischen Gesetzes als göttlichen Gebots verstanden wird).41
Im göttlichen Verbot artikuliert sich der Dualismus von Sinnlichkeit und sittlicher Vernunft, dem der Mensch als ein von Neigungen versuchtes Wesen unterworfen ist (vgl. Gen 2, 16 f.), sowie die Aufgabe, ihn in Freiheit ethisch zu gestalten. Nur so kann es auch zur „bösen“ Vertauschung seiner Maximen kommen.42 Systematisch fundamental ist nun aber für Kants Sicht etwas Doppeltes. Zum Einen: Auch die Schrift leitet das Böse nicht aus einer natürlichen Vorgegebenheit her; denn nach Gen 3 entsteht das Böse aus der Sünde43 bzw. aus der Verführung durch das Böse.44 Die verzeitlichende Vorstellungsart des religiösen Bewusstseins wird mithin an diesem entscheidenden Punkt von dem Zirkel aufgehoben, dass „das Böse […] nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur [hat] entspringen können“.45 Dieser scheinbar naive Zirkel in der biblischen Erzählung, die auch das Böse schon (in Gestalt der Schlange) voraussetzen muss, um es erklären zu können, ist für Kants Verständnis gerade ein Reflex der Freiheit. Denn in dieser Durchbrechung der zeitlichen Vorstellungsart bzw. in der zirkulären Vorstellung von der Aufhebung der Vorstellung manifestiert sich das Intelligible. Zum Andern: Die Erklärung vom Ursprung des Bösen in Gen 3 vermeidet durch ihre Zirkularität ebenfalls den unendlichen Regress zu immer neuen Erklärungsgründen. So bleibt auch für diese religiöse Überlieferung der Vernunftursprung des Bösen „unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß“.46 Die biblische Vorstellung von einem verführenden Geist drückt demgemäß in der Geschichte selber das Unbegreifliche einer „Erklärung“ des Intelligiblen aus. Zugleich verhindert sie eine totale Identifikation des Menschen mit dem Bösen schlechthin47 und hält die Aussicht einer Besserungsfähigkeit offen.48 41 Ebd., 41 f. Die letzte Formulierung nimmt Kants allgemeinen Begriff von Religion als „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ auf (ebd., 153 und 99; vgl. IMMANUEL KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 129). 42 Zum Anlass des Sündenfalls, d. h. der Abweichung vom Sittengesetz, wird die mit der Freiheit gegebene Allgemeinheit; d. h.: die Bedingung für Sittlichkeit ermöglicht auch ihr Verfehlen. 43 KANT, Religion, 41. 44 Ebd., 44. 45 Ebd., 43. 46 Ebd. 47 Ebd., 44; vgl. 35. 48 Ebd., 44.
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Diese „Unerforschlichkeit“ ist – weit entfernt davon, nur etwas Irrationales zu sein! – Index einer Notwendigkeit: dass Freiheit sich selbst stets sich voraussetzen muss. Die Unaufgebbarkeit der Zurechnungsidee besagt, dass Freiheit, wenn sie ist, sich nur als ihren eigenen Ursprung begreifen kann;49 aber eben damit wird sie unbegreiflich. Genau dies beides aber reflektiert sich in der Intelligibilität der Sünde: auch das Böse ist etwas, das nur so ist, dass es sich zugleich schon voraussetzt.50 Gerade so ist der Gedanke des „radikalen Bösen“ für Kants Theorie der menschlichen Freiheit unverzichtbar – um dieser Freiheit selber willen.
4. Sünde und Erbsünde Während J. G. Fichte noch 1806 von „dem drükenden Wahn von Sünde“ sprach,51 hat Hegel Kants Sicht dieser Dinge „viel vernünftiger als die Aufklärung“ gefunden, gerade was die Vernunftidee der Erbsünde angeht.52 Auch Hegel hat Gen 3 an vielen Stellen seiner philosophischen Werke eingehend interpretiert.53 Es sei auch daran erinnert, dass noch ein wichtiger Aufklärer des 20. Jahrhunderts, Sigmund Freud, wieder das Böse als tief in der menschlichen Natur verwurzelt behauptet hat, und er war ein wirklicher Kenner der menschlichen Seele.54
Moralisch gilt: Jeder externe „Grund“ für das Böse, der nicht selber wieder böse ist, würde es aufheben. 50 Würde das Böse von etwas Nicht-Bösem hergeleitet, wäre nicht erklärt, wie es böse wird. Daher kann das Böse nur aus sich selber erklärt werden; d. h. es setzt sich, indem es (als Böses) ist, schon voraus (bzw. schon böse gewesen zu sein). Sören Kierkegaard hat im Begriff Angst (1844), außer von Schelling ersichtlich auch durch Kants Religionsschrift beeinflusst, festgestellt, dass die Sünde sich selbst voraussetzt bzw. dass sie, indem sie ist, vorausgesetzt ist, und dies sowohl für den Begriff der „Erbsünde“ in Anspruch genommen als auch die Gleichartigkeit mit der Freiheitsidee bemerkt (SÖREN KIERKEGAARD, Der Begriff Angst, in (ders.): Gesammelte Werke, Abt. 11, hg. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1958, 29 und 115). Auch in der Krankheit zum Tode (1849) ist die Rede von dem „Voraus (Prius), in welchem die Sünde sich selber voraussetzt“ (SÖREN KIERKEGAARD, Die Krankheit zum Tode, in (ders.): Gesammelte Werke, Abt. 24, hg. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1957, 88). 51 JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804–05), GA I, 9, 346 (13. Vorlesung) und DERS., Die Anweisung zum seeligen Leben (1806), ebd. 126; vgl. 185 f. (6. Vorl.; vgl. 11. Vorl.). 52 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, TWA 20, 365. 53 Vgl. RINGLEBEN, Hegels Theorie der Sünde. 54 Vgl. PETER ANDRÉ ALT, Sigmund Freud. Der Arzt in der Moderne, München 2016, 689, 711 f. u. ö. 49
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4.1 Zum theologischen Begriff der Sünde An Kants Lehre vom radikalen Bösen ist theologisch vor allem auszusetzen, dass er zwar den Begriff der Erbsünde vernünftig rekonstruieren konnte, aber bei ihm der Begriff der Sünde religiös unterbestimmt bleibt. Denn er bezieht alles nur auf das (göttliche) moralische Gesetz schlechthin, nicht aber auf das Bösesein vor Gott. Kant berücksichtigt nicht den spezifisch religiösen Bezugspunkt des radikal Bösen im Gottesverhältnis als solchem. Diese Verortung des Bösen im Gottesbezug, wodurch es erst zur Sünde im religiösen Sinne wird, hat grundlegend M. Luther geleistet.55 Er formuliert schon 1517 in einer Disputation gegen die scholastische Theologie: „Der Mensch kann nicht von Natur aus wollen, dass Gott Gott sei. Vielmehr wollte er, dass er selber Gott sei und Gott nicht Gott sei“ (Non potest homo naturaliter velle deum essse deum; Immo vellet se essse deum et deum non esse deum; WA 1, 225,1 f.; TH. 17). Die Schlange im Paradies spricht genau dies Verlangen an: „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 3, 5). Das ist also, christlich und nicht moralisch verstanden, eigentlich die Sünde: ein tief verborgener, „radikaler“ Widerstand gegen Gott bzw. ein Sichfesthalten und Sich-Immunisieren des Menschen gegen Gott in seinem innersten Selbstsein.56 Wenn die Sünde darin besteht, dass der Mensch sich als ein für-sichseiendes Ich in allem voraussetzt und festhält,57 dann ist das der radikale Gegensatz zu Gott, der sich in seinem Sein nur so voraussetzt, dass er im Sich-Abstoßen von dieser Voraussetzung erst zu sich findet. „Gott“ – das ist überhaupt ein Wort, das unsere quasi-natürliche Selbstbehauptung unterbricht und unsere naturwüchsige Selbstbejahung stört. Sünde bedeutet so, die Eigenmächtigkeit unserer Freiheit gegen den Grund unserer Freiheit im Schöpfer aktiv auszuspielen. Für Luther ist daher unser sogenannte freier Wille Gott gegenüber immer schon unfrei: ein servum arbitrium, eine im Bezug auf Gott immer schon verspielte Freiheit.
55 Bei Thomas von Aquin noch ist die Sünde nur ein Mangel an ursprünglicher Gerechtigkeit (defectus originalis iustitiae); vgl. Summa Theologica II/I q. 82 a. 3. Inhaltlich wird die Sünde von ihm oft auch als Verkehrung der gottgegebenen Ordnung der Tugenden gedeutet. 56 Luther sprach vom homo incurvatus in seipsum (WA 56, 304,25 f. u. ö.). 57 Das ist eine Art von Selbst-Vergegenständlichung, d. h. ein eigenwilliges Sichzurücknehmen aus einer kommunikativen Offenheit für Gott (als seinen Anderen). Dies Sichzurückhalten ist aber ein Stillstellen des eigenen, im Werden begriffenen Seins bzw. des eigenen lebensmäßigen Noch-„nicht-Festgestelltseins“ durch Abblenden der eigenen Geschichte mit Gott bzw. Gottes mit einem. Beides ist eine falsche Distanzierung von der eigenen Wirklichkeit und offenen Gegenwart durch eine eigenmächtig voreilige Identifikation seiner selbst. Sich auf das Gottesverhältnis einzulassen, bedeutet demgegenüber nicht eine Selbstauflösung; sondern aus ihr kann das Ich wahrhaft wieder auf sich zurückkommen.
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4.2 Zum theologischen Begriff der Erbsünde Ähnlich wie Kant hat auch der Apostel Paulus die ausnahmslose Allgemeinheit der Sünde behauptet: „Da ist kein Unterschied: Denn sie alle [d. h. Juden und Heiden] haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes bei Gott“ (Röm 3, 22 f.).58 Dann genauer: „Darum wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist [sc. Adam], und durch die Sünde der Tod und so der Tod zu allen Menschen gelangte, weil alle sündigten“ (Röm 5, 12). Obwohl Paulus hier u. a. an die Genesis anknüpft (Gen 2, 17; 3, 19), hat, wie Hegel sich ausdrückt, die Sünde, in dieser Radikalität verstanden, im Judentum „geschlafen“.59 Denn erst angesichts der universalen Bedeutung von Christi Erlösungstod konnte die Universalität auch der Sünde erkannt und formuliert werden.60 Hierbei ist auch zu beachten, dass „Adam“ nicht nur die Bezeichnung eines (männlichen) Individuums (am Beginn der Menschheitsgeschichte) ist, sondern zugleich auch den Menschen überhaupt bedeutet.61 Dieses Ineinander von Individuum und menschlicher Gattung bzw. Menschennatur greift der Begriff der Erbsünde auf. Augustinus hat den Zusammenhang zwischen der Allgemeinheit der Sünde und dem Sündersein des einzelnen Menschen durch die Vorstellung einer mit dem Geschlechtsakt, also durch die natürliche Fortpflanzung des Menschen, ausnahmslos verbreiteten „Vererbung“ erklären wollen. Die Problematik dieser einflussreichen Erbsündenlehre, die hier nicht im Detail zu entfalten ist,62 liegt auf der Hand. Einerseits droht der Sündenbegriff naturalisiert zu werden, andererseits hat Augustins Lehre dem Christentum eine verhängnisvolle Abwertung bzw. Diskriminierung der menschlichen Sexualität, ja der Leiblichkeit überhaupt, mit auf den Weg gegeben. Seine „biologistische“ Deutung der Erbsünde hat der Kirchen- und Theologiegeschichte ein fatales Erbe eingestiftet. Gibt es eine Alternative, und wie könnte sie aussehen? Schauen wir uns zunächst an, was 1530 die Confessio Augustana (CA), also die maßgebliche Bekenntnisschrift der evangelisch-lutherischen Kirche, über die Erbsünde, die im Anschluss an Luther auch Ursünde oder Personsünde heißt, lehrt. Im Art. II der CA
Vgl. oben Anm. 39. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, TWA 17, 78 und 72. 60 Das bereitet sich verborgen schon in der Verkündigung Jesu selber bzw. in seinem Verständnis von Sünde vor. Vgl. RINGLEBEN, Jesus, 175 f.; 189 f. und 191–195. 61 Nach Kierkegaards berühmter Formulierung ist es das Wesentliche der menschlichen Existenz, dass „der Mensch Individuum ist und als solches zu gleicher Zeit er selbst und das ganze Geschlecht“ (KIERKEGAARD, Angst, 25). 62 Vgl. TOM KLEFFMANN, Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns (Beiträge zur historischen Theologie 86), Tübingen 1994. 58 59
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steht zum peccatum originis63: „Weiter lehren sie: Nach dem Falle Adams werden alle Menschen im natürlichen Zusammenhang der Fortpflanzung (secundum naturam propagati) mit Sünde geboren (nascantur cum peccato)“ (BSLK 53, 2–4). Die Sünde selbst wird gut reformatorisch definiert als ein Sein „ohne Gottesfurcht, ohne Vertrauen auf Gott und mit Begierde“.64 Unsere systematische Frage ist nun: Was kann die auch hier betonte Universalität der Erbsünde für einen Sinn haben, wenn man sich die von Augustin beeinflusste Formel: secundum naturam propagati (im natürlichen Zusammenhang der Fortpflanzung) nicht mehr in einem quasi-biologischen Sinn zu eigen machen kann? Was kann man sich in der Sache dabei denken? Zuerst ist festzuhalten: Die Formel post lapsum Adae (nach Adams Fall) verweist auf eine geschichtliche Verkehrung des Menschseins; die Sünde ist also nicht anerschaffen. In diesem Sinne sind alle Menschen als „Adamskinder“ betroffen. Denn „Erbsünde“ meint einen geschichtlichen Unheilszusammenhang, der ausnahmslos jeden Menschen ergreift. Dass alle Menschen „im natürlichen Zusammenhang der Fortpflanzung mit Sünde (schon) geboren werden“, bedeutet eine so tiefgreifende, „radikale“ Veränderung der menschlichen Verfassung (condition humaine), dass von ihr kein Zeitmoment ausgenommen ist. Der Begriff Erbsünde redet also der Sache nach von einem Verstrickungszusammenhang, in den hinein jedes Individuum (neu) eintritt und der immer schon über ihm herrscht.65 Die Unheilsmacht der Sünde ist dem Einzelnen vorgegeben, nämlich als das, in das er unausweichlich hineingezogen wird, indem er sich selber hineinziehen lässt und sie so selber und selbsttätig fortsetzt. Jeder sündigt selbst; so erzeugt er neu Sünde und wiederholt „Adams“ Fall. Aber darin reproduziert sich nur die Sünde, die schon da ist: als das sich Voraussetzende und als beherrschende Macht – eine Art universaler Verblendungszusammenhang. Erbsünde meint im Kern die Dialektik, dass das eigene Tun von Sünde als ihn beherrschende Gewalt auf den Menschen zurückschlägt.66 Die soz. ungeschichtliche Übersetzung der zentralen Stelle im Römerbrief: „in welchem [sc. Adam] alle gesündigt haben“ (Röm 5, 12: in quo omnes peccaverunt) hat indes Augustinus sachlich richtig auf die dialektische Formel gebracht: „Alle sind jener eine Mensch gewesen“ (omnes ille unus homo fuerunt).67 Die Erbsünde ist mithin nur von da aus zu verstehen, dass die Sünde sich selbst voraussetzt.
morbus seu vitium originis (CA II). BSLK, 53, 5 f. 65 Der Hebräerbrief spricht von der Sünde als einer Macht, die uns „umringt“ oder „umgarnt“ (Hebr 12, 1b: εὐπερίστατος). 66 Deshalb kann sich kein Mensch aus eigener Kraft aus ihr befreien; s. u. Anm. 71. 67 De peccatorum meritis et remissione I 10, 11 (MPL 44, 145). 63 64
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5. Die Vernunft der Theologie Der Philosoph Hegel hat klar erkannt: „Der Ursprung des Bösen überhaupt liegt in dem Mysterium […] der Freiheit“.68 Daher kommt Hegel folgerichtig zu einer Behauptung, die jedem Aufklärer die Haare zu Berge stehen lassen musste, die aber die konsequente Metakritik der Aufklärung darstellt, nämlich zu der These: dass es die Lehre von der Erbsünde ist, „ohne welche das Christentum nicht die Religion der Freiheit wäre“.69 Mit dieser Einsicht ist die Aufklärung wirklich zur Vernunft gekommen.70 Demnach macht der Gedanke der Erbsünde dem Menschen seine Freiheit präsent, und zwar im Modus ihres faktischen, immer schon eingetretenen Verlustes. Die wirkliche Situation der Menschen ist, dass ihre Freiheit immer schon verspielte Freiheit ist.71 Dass die menschliche Freiheit zunächst eine verlorene ist (servum arbitrium) und dass es realiter für uns endliche und sündige Menschen Freiheit nur als Befreiung von der Sünde gibt – denn gäbe es keine Erbsünde, wäre die Erlösung durch Christus nicht für alle gültig –, das war auch M. Luthers anthropologische Grundansicht. In diesem Sinn hat er die christliche Theologie als die „Wissenschaft von der christlichen Freiheit“ (scientia libertatis Christiana) definiert.72
GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, TWA 7, 261, § 139, Erläuterung. 69 Ebd., 69, § 18, Zusatz. – Βereits Pascal hat von der Erbsünde gesagt, dass „wir uns selbst ohne dies unverständlichste Mysterium unbegreifbar“ sind (Pensées, Fragment 434). 70 Die Erbsünde besteht formal in (habituell) festgehaltener Endlichkeit gegen das Absolute. Die Aufklärung hingegen ging überzeugt von der Annahme aus, dass der Mensch an sich „gut“ sei. Hegel hat begriffen, dass das mit der Meinung von der Nichterkennbarkeit Gottes zusammenhängt (GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, TWA 16, 171). 71 Zu Luthers Gedanken, dass die sich selbst überlassene (und überschätzende) Vernunft „blind“ sei, den er gegen Erasmus verteidigt, vgl. JOACHIM RINGLEBEN, Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 57), Tübingen 2010, 208–217. 72 Vgl. WA 6, 538, 30, De captivitate Babylonica …; 1520. Demgemäß definiert Luther den Menschen als Menschen (in seinem freien Menschsein) durch die „Rechtfertigung“ (vgl. WA 39/I, 176, 33–35, Disp. De homine, 1536; Th. 32; vgl. auch ebd. 176, 12 f., Th. 23: „per Christum liberanda“). Auch der berühmte Traktat Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) ist hier einschlägig. 68
Kants Begriff des Bösen und Hamartiologie BURKHARD NONNENMACHER Im ersten Stück der Religionsschrift unterscheidet Kant bekanntlich drei „Elemente der Bestimmung des Menschen“1 (AA 6, 26): „Thierheit“, „Menschheit“ und „Persönlichkeit“ (ebd.). Unter „Tierheit“ versteht Kant eine Anlage zur „physischen und bloß mechanischen Selbstliebe“ (ebd.), zu der keine Vernunft „erfordert“ (ebd.) wird, weil sie lediglich die Anlage zur „Selbsterhaltung“ (ebd.) und zur „Fortpflanzung“ (ebd.) ist. Unter „Menschheit“ versteht Kant eine Anlage zur „vergleichenden Selbstliebe“ (AA 6, 27), zu der „Vernunft erfordert wird“ (ebd.) und die darin besteht, sich „nur in Vergleichung mit andern als glücklich oder unglücklich zu beurtheilen“ (ebd.).2 Unter „Persönlichkeit“ schließlich versteht Kant „die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür“ (ebd.) und fügt dieser Definition präzisierend hinzu: Die Idee des moralischen Gesetzes allein mit der davon unzertrennlichen Achtung kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellectuell betrachtet). Aber daß wir diese Achtung zur Triebfeder in unsere Maximen aufnehmen, der subjective Grund [kurs. B. N.] hiezu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein und daher den Namen einer Anlage zum Behuf derselben zu verdienen. (AA 6, 27 f.)
Nicht der theoretisch-technische Intellekt macht den Menschen also bereits zur Person, sondern erst seine „Empfänglichkeit“ für die „Achtung für das moralische Gesetz“ (AA 6, 27). Jene Empfänglichkeit bedeutet jedoch nicht, dass wir notwendig die „Achtung zur Triebfeder in unsere Maximen aufnehmen“ (AA 6, 28), sondern diese „Aufnahme“ ist dem ersten Stück der Religionsschrift zufolge selbst noch einmal von einem „subjectiven Grund“ (ebd.) abhängig. Kants Werke werden mit Band- und Seitenangabe nach der Akademie-Ausgabe (AA) im laufenden Text zitiert. Die Kritik der reinen Vernunft wird wie üblich nach der Paginierung der A- und B-Ausgabe zitiert. 2 Kant betont, dass diese Vergleichung „ursprünglich“ (AA 6, 27) nur auf „Gleichheit“ (ebd.) ausgerichtet und d. h. allein von der „Besorgnis“ (ebd.) getragen ist, dass man selbst keinem Anderen unterlegen, bzw. dass einem selbst kein Anderer überlegen ist. Gleichwohl gilt, dass bereits hierin die Idee eines „Wetteifers“ (ebd.) enthalten ist, der darin gründet, dass schlicht ein jeder, um der „verhaßten Überlegenheit über uns“ (ebd.) durch Andere vorzubeugen, sich „der Sicherheit halber diese [Überlegenheit] über Andere als Vorbauungsmittel selbst zu verschaffen“ versucht (ebd.). 1
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Doch was ist eigentlich Kants Grund dafür, über solch einen subjektiven Grund der „freien Willkür“, aus dem heraus sie die Achtung vor dem Gesetz, „in ihre Maxime“ aufnimmt (AA 6, 27) nachzudenken? Und in welcher Beziehung steht dieser Grund zu Kants Begriff des Bösen und in welcher zu Kants Sündenlehre? Um genau diese Fragen soll es in meinem Beitrag gehen. Untergliedert ist er in sieben Abschnitte: Der erste Abschnitt fragt, worin das Böse als malum morale nach Kant besteht. Der zweite und dritte Abschnitt fragen, was Kant unter einem „Hang“ des Menschen zum Bösen versteht und inwiefern Kant das Böse nicht nur als Privation des Guten (also nicht nur als privatio boni), sondern als positive Größe begriffen wissen will. Der vierte Abschnitt fragt nach dem Grund für Kants Frage nach dem subjektiven Grund des Gebrauchs unserer Freiheit. Der fünfte und sechste Abschnitt erörtern die Fragen, weshalb Kant von einer „Unerforschlichkeit“ der „Annehmung“ guter oder böser Maximen spricht und warum Kant im ersten Stück der Religionsschrift den Begriff einer sogenannten „intelligiblen That“ einführt. Ein siebter Abschnitt erinnert schließlich daran, welche sündentheologischen Probleme Kant in seiner Lehre vom radikalen Bösen reflektiert sieht, bzw. vergegenwärtigt umgekehrt, wie Kant versucht, seine Theorie des malum damit zu untermauern, dass er sie in Gen 3 hineinliest.
1. Das Böse (malum morale) als „Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens“ Ihren Begriff des Bösen gewinnt die Religionsschrift aus der Annahme, „[dass] die Freiheit der Willkür […] von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit [ist], daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will)“ (AA 6, 23). Inwieweit Kant hiermit eine zusätzliche Annahme zum in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelten Freiheitsbegriff einführt,3 kann ich hier nicht näher diskutieren.4 Mir geht es im Folgenden zunächst nur darum, dass Kant aus der zitierten Annahme folgenden Begriff des „Moralisch-Bösen“ (vgl. AA 6, 29) zieht: [W]er es [das moralische Gesetz] zu seiner Maxime macht, ist moralisch gut. Wenn nun das Gesetz jemandes Willkür in Ansehung einer auf dasselbe sich beziehenden Vgl. FRIEDRICH HERMANNI, Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie, Wien 1994, 132–136; NORBERT FISCHER, Das „radicale Böse“ in der menschlichen Natur. Kants letzter Schritt im Denken der Freiheit, in: Kritische und absolute Transzendenz. Religionsphilosophie und Philosophische Theologie bei Kant und Schelling, hg. von Christian Danz/Rudolf Langthaler, Freiburg/München 2006, 67–86, hier: 81–86. 4 Vgl. BURKHARD NONNENMACHER, Vernunft und Glaube bei Kant, Tübingen 2018, 293– 308. 3
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Handlung doch nicht bestimmt, so muß eine ihm entgegengesetzte Triebfeder auf die Willkür desselben Einfluß haben; und da dieses vermöge der Voraussetzung nur dadurch geschehen kann, daß der Mensch diese (mithin auch die Abweichung vom moralischen Gesetze) in seine Maxime aufnimmt (in welchem Falle er ein böser Mensch ist): so ist seine Gesinnung in Ansehung des moralischen Gesetzes niemals indifferent (niemals keines von beiden, weder gut, noch böse). (AA 6, 24)
Böse ist der Mensch damit also genau dann, wenn er die Abweichung vom moralischen Gesetz in seine Maxime aufnimmt. Kant unterscheidet dabei „drei verschiedene Stufen“: erstens „die Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur“ (AA 6, 29), zweitens „die Unlauterkeit (impuritas, improbitas) des menschlichen Herzens“ (AA 6, 29 f.) sowie drittens „die Bösartigkeit (vitiositas, pravitas), oder, wenn man lieber will, die Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens“ (AA 6, 30). Die Gebrechlichkeit besteht darin, dass das Sittengesetz zwar in die Maxime der Willkür aufgenommen ist und hierbei „objectiv in der Idee“ als „unüberwindliche Triebfeder“ anerkannt wird, „subjectiv“ aber dann, „wenn die Maxime befolgt werden soll“ im „Vergleich mit der Neigung“ als „schwächere“ Triebfeder unterliegt (AA 6, 29). – Die Unlauterkeit besteht darin, dass die Maxime dem „Objecte nach“ zwar „gut“ ist, also ebenfalls das Sittengesetz befolgen will, jedoch das, was Pflicht ist, nicht aus Pflicht will, „wie es sein sollte“, sondern „mehrentheils (vielleicht jederzeit) noch andere Triebfedern außer derselben bedarf, um dadurch die Willkür zu dem, was Pflicht fordert, zu bestimmen“ (AA 6, 30). – Die Bösartigkeit schließlich besteht darin, „die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz andern (nicht moralischen [Triebfedern]) nachzusetzen“ (ebd.). Nach Kant kann sie deshalb auch als „Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens“ bezeichnet werden, „weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt“ (ebd.), also bewusst die Triebfeder des moralischen Gesetzes in ihrer subjektiven Wichtigkeit anderen Triebfedern unterordnet,5 was allerdings nicht ausschließt, dass auch in dieser Haltung „noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen“ (ebd.) hervorgebracht werden können, nur dies hier dann eben nur noch deshalb, weil keinerlei Neigungen für einen Bruch des Gesetzes im Sinne des privaten Nutzenkalküls für vorteilhafter erachtet worden sind. Kant unterscheidet also drei Stufen des Bösen. Als Gebrechlicher achtet der Mensch, was er soll, tut aber nicht, was er soll, sondern unterliegt seinen Affekten. Als Unlauterer achtet der Mensch auch, was er soll, und er tut hier sogar auch, was er soll, aber das eben nicht allein aus Pflicht, sondern auch oder sogar nur aus zusätzlichen Gründen heraus, weil ihm das Pflichtgemäße das Angenehmere ist. Die Bösartigkeit ist schließlich der Gipfel, hier wird Pflicht 5 Vgl. JAKUB SIROVÁTKA, Das Sollen und das Böse in der Philosophie Immanuel Kants. Zum Zusammenhang zwischen kategorischem Imperativ und dem Hang zum Bösen, Hamburg 2015, hier: 105–109.
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systematisch anderen Beweggründen untergeordnet und nur dann erfüllt, wenn sie nicht mit anderen Beweggründen kollidiert.
2. Was nach Kant unter einem „Hang (propensio)“ des Menschen zum Bösen zu verstehen ist Unter einem „Hange (propensio)“ (ebd.) versteht Kant keine Anlage. Zwar kann nach Kant ein Hang ebenso „angeboren sein“ (AA 6, 29), aber dennoch gilt für Kant, dass er „doch nicht als solcher vorgestellt werden darf: sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn er böse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen gedacht werden kann.“ (ebd.). Gibt es das aber überhaupt: erworbenes Angeborenes? Und wenn ja, wie soll dies vorgestellt werden, nur weil jener Hang nicht als Anlage vorgestellt werden darf? Ich komme darauf in der Auseinandersetzung mit Kants Lehre von der „intelligiblen That“ noch ausführlicher zurück. Zunächst sei Kants Rede von einem „Hang zum Bösen in der menschlichen Natur“ aber näher erläutert. Unter einem Hang „zum Bösen“ versteht Kant, dass der Mensch aufgrund seiner Anlage für die Tierheit und Menschheit eine „Prädisposition“ (AA 6, 28, Anm.) dazu hat, die Abweichung vom moralischen Gesetz in seine Maxime in gebrechlicher, unlauterer oder bösartiger Art und Weise aufzunehmen. „Natürlich“ nennt Kant diesen Hang deshalb, weil er nach Kant „als allgemein zum Menschen (also als zum Charakter seiner Gattung) gehörig angenommen werden darf “ (AA 6, 29.32).6 Kant betont deshalb auch, dass alle drei der oben unterschiedenen Anlagen (Tierheit, Menschheit und Persönlichkeit) dem Menschen nicht „zufällig“ (AA 6, 28) sondern „ursprünglich“ (ebd.) zukommen, und zwar das mit der Begründung, dass sie zur „Möglichkeit eines solchen Wesens nothwendig“ (ebd.) gehören. Mit Blick auf die ersten beiden Anlagen (Tierheit und Menscheit) sagt Kant deshalb, dass der Mensch sie zwar „zweckwidrig brauchen, aber keine derselben vertilgen“ kann (ebd.), und mit Blick auf die dritte Anlange (Persönlichkeit) sagt Kant, dass er sich niemals „vom moralischen Gesetze freigesprochen“ weiß (vgl. AA 6, 35). 6 Zur Problematisierung der Begründung dieser These Kants vgl. CHRISTOPH HORN, Die menschliche Gattungsnatur: Anlagen zum Guten und Hang zum Bösen, in: Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. von Otfried Höffe (Klassiker Auslegen, Bd. 41), Berlin 2011, 43–69. Maximilian Forschner betont in diesem Kontext zu Recht, dass Kants Rede vom Hang zum Bösen nicht nur als „eine theoretische Aussage von empirischer Allgemeingültigkeit“ verstanden werden darf, sondern „auch“ als „ein wohlbegründetes anthropologisches Interpretament in praktisch-pragmatischer Absicht“, das auf der Einschätzung gründet, dass wir „in praktisch-pragmatischer Hinsicht gut daran tun, […] mit diesem Hang zu rechnen“, vgl. MAXIMILIAN FORSCHNER, Über die verschiedenen Bedeutungen des „Hangs zum Bösen“, in: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. von Otfried Höffe, 71–90, hier: 72 f.
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Was bedeutet das nun für den Begriff des malum morale, den die Religionsschrift verhandelt? Kann der Grund des Hangs zum Bösen so noch allein in die „Sinnlichkeit des Menschen“ und in die „daraus entspringenden natürlichen Neigungen gesetzt werden“ (AA 6, 34)? – Hiergegen protestiert die Religionsschrift entschieden. – Denn dann würde der böse Mensch auf maximal zwei seiner drei ihn wesentlich auszeichnenden Anlagen reduziert, was freilich der Annahme widerspräche, dass alle drei Anlagen – Tierheit, Menschheit und Persönlichkeit – für das Wesen des Menschen konstitutive Anlagen sind, die ihm notwendig und unaufhebbar zukommen. Doch dasselbe gilt freilich auch in umgekehrter Richtung: Ebensowenig wie die Sinnlichkeit allein zum „Grund des Moralisch-Bösen“ (ebd.) gemacht werden kann, schließt Kant die Möglichkeit aus, dass der Mensch dazu im Stande ist, „das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen“ (AA 6, 37), was den Menschen „zu einem teuflischen Wesen“ (AA 6, 35) machen würde. Der Mensch ist also kein teuflisches Wesen nach Kant. Er kann es gar nicht sein, weil die Annahme einer solch regelrechten „Verderbniß der moralisch-gesetzgebenden Vernunft“ (AA 6, 35) der Annahme widerspräche, dass der Mensch die Anlage zur Persönlichkeit „ursprünglich“ besitzt, i. e. sich niemals „vom moralischen Gesetze freigesprochen“ wissen kann (vgl. ebd.). Folgerichtig leistet deshalb auch „der ärgste“ Mensch „nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams)“ (AA 6, 36) auf das moralische Gesetz „Verzicht“ (ebd.), da sich ihm eben das moralische Gesetz „kraft seiner moralischen Anlage“ (ebd.) stets mindestens ebenso „unwiderstehlich“ aufdringt (ebd.) wie es ihm auf der anderen Seite unmöglich ist, seine beiden anderen Anlagen ganz zu „vertilgen“ (AA 6, 28). Auch bei jenem, der vermeintlich teuflische Taten begeht, gilt deshalb nach Kant auch und gerade immer noch genau das, was der § 13 der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten dann folgendermaßen ausspricht: Jeder Mensch hat Gewissen, und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben, oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen, oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben [des inneren Richters] vernimmt. Er kann es, in seiner äußersten Verworfenheit, allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht zu kehren, aber sie zu hören, kann er doch nicht vermeiden. (AA 6, 438)
3. Das Böse nicht als privatio boni, sondern als positive Größe Eine entscheidende Konsequenz aus dem bislang Entwickelten ist, dass der Unterschied zwischen Gut und Böse nach Kant niemals in der schieren Anoder Abwesenheit von „Gesetz“ oder „Sinnenantrieb“ (AA 6, 36) liegen kann,
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sondern allein darin, welche Anlage der Mensch welcher anderen Anlage unterordnet, bzw. – wie Kant auch sagt – „welche von beiden er zur Bedingung der andern macht“ (ebd.). Für den Begriff des Bösen bedeutet das, dass das Böse für Kant nicht nur privatio boni ist, d. i. nicht nur eine im Mangel am Guten bestehende Größe, sondern vielmehr eine eigene, dem Guten entgegenstehende positive Größe,7 die gerade nicht mit der Sinnlichkeit gleichzusetzen ist, sondern vielmehr mit der Verkehrung der sittlich gebotenen Hierarchisierung unserer Anlagen.8 Damit gilt: Entweder nimmt der Mensch Abweichungen vom moralischen Gesetz in gebrechlicher, unlauterer oder bösartiger Weise auf, oder nicht, bzw. entweder macht er das Gesetz zum dem Sinnentrieb bei- oder gar übergeordneten Prinzip, oder nicht, tertium non datur. Also ist der Mensch notwendig entweder gut oder böse. Nicht zuletzt für den Begriff der Unlauterkeit ist dies sehr wichtig. Die paulinische Unterscheidung von Geist und Buchstabe aufgreifend, sagt Kant nämlich, dass schlicht jede nur dem Buchstaben nach erfolgende Befolgung des Gesetzes Sünde ist und alle Beiordnung des Eigennutzes und des Sittengesetzes nicht nur die halbe Wahrheit, sondern die ganze Unwahrheit.9 Doch wie sieht es mit diesem Hierarchisieren unserer Anlagen bei Kant nun genauer aus? Initiieren wir selbst den Wechsel von der guten zur bösen und von der bösen zur guten Hierarchisierung?10 Mit diesen Fragen sind wir am Kern des ersten Stücks der Religionsschrift angelangt.
Vgl. hierzu FRIEDRICH HERMANNI, Das Böse und die Theodizee. Ein philosophisch– theologische Grundlegung, Gütersloh 2002, 146–150. Hier wird auch herausgestellt, wie die Position der Religionsschrift zum Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen von 1763 in Beziehung steht. 8 Schelling übernimmt in der Freiheitsschrift, wie Friedrich Hermanni herausgestellt hat, exakt diesen Gedanken von Kant. Vgl. HERMANNI, Die letzte Entlastung, 132–136. 9 Vgl. AA 6, 30: „Es ist aber zwischen einem Menschen von guten Sitten (bene moratus) und einem sittlich guten Menschen (moraliter bonus), was die Übereinstimmung der Handlungen mit dem Gesetz betrifft, kein Unterschied (wenigstens darf keiner sein); nur daß sie bei dem einen eben nicht immer, vielleicht nie das Gesetz, bei dem andern aber es jederzeit zur alleinigen und obersten Triebfeder haben. Man kann von dem Ersteren sagen: er befolge das Gesetz dem Buchstaben nach (d. i. was die Handlung angeht, die das Gesetz gebietet); vom Zweiten aber: er beobachte es dem Geiste nach (der Geist des moralischen Gesetzes besteht darin, daß dieses für sich allein zur Triebfeder hinreichend sei). Was nicht aus diesem Glauben geschieht, das ist Sünde (der Denkungsart nach).“ 10 Zu fragen ist also erstens, wie man sich nach Kant den Übergang vorzustellen hat von einer Hierarchisierung A, die die dritte Anlage (Persönlichkeit) den ersten beiden Anlagen überordnet (vgl. AA 6, 36), hin zu einer Hierarchisierung B, die genau umgekehrt die Persönlichkeit der Tierheit und Menschheit unter- oder allenfalls beiordnet. Und zu fragen ist zweitens, wie hat man sich umgekehrt den Übergang von einer zugunsten der ersten beiden ordnenden Hierarchisierung B zu einer die dritte Anlage als oberstes Prinzip bejahenden Hierarchie A vorzustellen. 7
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4. Die Frage nach dem „subjektiven Grund des Gebrauchs unserer Freiheit“ Kants zentrale und folgenschwerste These des ersten Stücks der Religionsschrift besteht darin, dass „der Gebrauch oder Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes“ ihm nur genau dann „zugerechnet“ werden kann, wenn der „subjective Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter objectiven moralischen Gesetzen)“ selbst ein „Actus der Freiheit“ ist (AA 6, 21). Kant erläutert seine These mit zwei Argumenten: Das erste Argument besteht darin, dass derjenige, der nicht moralisch handelt, nur dann verantwortlich für sein Handeln ist, wenn er selbst in einem „Actus der Freiheit“ gegen „den Gebrauch seiner Freiheit unter objectiven moralischen Gesetzen“ (AA 6, 21) entschieden hat, – oder positiv formuliert: wenn er sich selbst dazu entschieden hat, seine Persönlichkeit der Tierheit und Menschheit unter- oder allenfalls beizuordnen. Das zweite Argument besteht darin, dass auch der, der moralisch handelt, nur dann wirklich frei genannt werden kann, wenn er sich selbst in einem „Actus der Freiheit“ für „den Gebrauch seiner Freiheit unter objectiven moralischen Gesetzen“ (AA 6, 21) entschieden hat, – also dann, wenn er sich selbst dazu entschieden hat, seine Persönlichkeit über seine Tierheit und Menschheit zu stellen.11 Sowohl für als auch gegen den Gebrauch unserer Freiheit unter objektiven moralischen Gesetzen müssen wir uns nach Kant also selbst entscheiden können, weil uns ansonsten unsere moralischen und unmoralischen Handlungen nicht als solche zugeschrieben und zugerechnet werden könnten. Denn zugerechnet werden können sie uns nach Kant nur dann, wenn wir uns aus freien Stücken für sie entschieden haben und das wiederum aber bedeutet für Kant, dass wir uns auch für die Hierarchisierung unserer Anlagen aus freien Stücken entscheiden können müssen, weil für Kant Freiheit im Vermögen besteht, „eine Reihe von Folgen […] schlechthin [Hervorhebung B. N.] anzufangen“ (KrV B 473). Ich gehe hier nicht näher auf die Frage ein, inwiefern Kants Argumentation stichhaltig ist, sondern halte nur fest, welche Konsequenzen in ihr enthalten sind und wie Kant diese reflektiert: Der Mensch soll dem eben Entwickelten zufolge nicht nur (wie z. B. für Luther und Leibniz) derjenige sein, der die oben genannte jeweilige „Umkehrung der Triebfedern“ stets will und bejaht, wenn sie stattfindet,12 sondern für Kant soll der Mensch darüber hinaus diese Umkehrung selbst initiieren, ganz im Sinne der in der ersten Kritik gegebenen Definition der Denn ansonsten, sagt Kant, könnte „der Gebrauch der Freiheit ganz auf Bestimmung durch Naturursachen zurückgeführt werden“, „welches ihr aber widerspricht“ (AA 6I, 21). 12 Vgl. FRIEDRICH HERMANNI, Das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Ders., Metaphysik. Versuche über letzte Fragen, Tübingen 22017, 93–114. 11
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Freiheit als das Vermögen „eine Reihe von Folgen […] schlechthin anzufangen“ (KrV B 473). Was aber ist damit Kants Position? In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist für Kant „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ (AA 4, 447). Denn der negative Begriff der Freiheit, der unter Freiheit lediglich eine Kausalität versteht, die „unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann“ (AA 4, 446), kann, wie bereits die Grundlegung argumentiert, allererst darin zu einem positiven Begriff werden, wenn unter der „Freiheit des Willens“ die „Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“ (AA 4, 446), verstanden wird. – Gut verständlich ist hiermit zunächst, weshalb auch die Religionsschrift vom „Gebrauch der Freiheit überhaupt (unter objectiven moralischen Gesetzen)“ spricht (vgl. abermals AA 6, 21). – Ganz anders sieht es jedoch mit der Frage aus, wie sich mit der referierten, Freiheit und Autonomie in eins setzenden Position der Grundlegung die These der Religionsschrift vereinbaren lassen soll, dass wir uns aus Freiheit für die Freiheit entscheiden, also in einem „Actus der Freiheit“ (AA 6, 21) für diejenige Selbstbestimmung des Willens, die es der Grundlegung zufolge allein verdient, als Freiheit bezeichnet zu werden. Prima facie sieht man sich hiermit vor folgendes Dilemma gestellt: Entweder man folgt der Grundlegung, derzufolge „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ (AA 4, 447) sind. Auch jener ursprüngliche Akt der Freiheit könnte dann streng genommen nur dann als Akt der Freiheit bezeichnet werden, wenn er selbst schon das ist und darin begründet ist, dessen Bejahung oder Verneinung mit ihm selbst erst erklärt werden soll. Dann allerdings stellt sich die Frage, ob der von der Religionsschrift benannte „Actus der Freiheit“ (ebd.) überhaupt noch einen erklärenden Charakter hinsichtlich des subjektiven Grunds des Gebrauchs unserer Freiheit besitzt. – Oder aber man versucht dem Modell der Religionsschrift darüber einen erklärenden Charakter zuzusprechen, dass man jenen ursprünglichen Akt der Freiheit der Religionsschrift vom positiven Gebrauch unserer Freiheit als Autonomie unterscheidet. Dann kauft man sich aber umgekehrt die Frage ein, von was für einer Freiheit in jenem ursprünglichen Akt der Freiheit eigentlich noch die Rede sein kann, bzw. nach welchen Gründen und Prinzipien diese Freiheit operiert, falls sie nicht gänzlich grundlos sein soll. Es kommt viel darauf an, es sich mit diesem Dilemma nicht zu einfach zu machen: Freilich ist für Kant die Entscheidung für oder gegen den Gebrauch unserer Freiheit aufgrund der Ursprünglichkeit unserer Anlage zur Persönlichkeit notwendig eine Entscheidung, die unter dem unbedingten Sollensanspruch des Sittengesetzes getroffen wird. Deshalb kommt jener Aktus für Kant auch der stets erneut ausstehenden Entscheidung gleich, ob wir unserer „Pflicht, sich zu bessern“ (AA 6, 41) nachkommen, oder nicht. Das entscheidende Problem ist hiermit jedoch noch nicht gelöst. Denn auch wenn unser Ja-Sagen zum Gesetz stets schon ein durch das Gesetz gefordertes Ja-Sagen ist, stellt sich noch immer
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die Frage, worin jenes als Entscheidung fürs Gesetz verstandene Ja-Sagen zum Gesetz begründet sein soll. Hätten wir auf diese Frage nur die Antwort, dass das Ja-Sagen zum Gesetz selbst das Unter-dem-Gesetz-Stehen ist, dann hieße das, dass der subjektive Grund des Gebrauchs unserer Freiheit eben schlicht darin besteht, dass unsere Vernunft praktisch ist, d. h. unsere Willkür unbedingt bestimmt und wir allein aus Pflicht das moralische Gesetz befolgen (vgl. AA 6, 26, Anmerkung). Für die Frage, was der Fall ist, wenn dies nicht der Fall ist, bliebe dann nur noch die Antwort übrig, dass wir in diesem Fall durch unsere natürliche Bedürftigkeit determiniert sind, bzw. unseren beiden ersten Anlagen gleichsam mechanisch folgen.13 Genau damit will sich das erste Stück der Religionsschrift nun aber nicht zufrieden geben, und zwar genau deshalb nicht, weil es der Überzeugung folgt, dass um der Zurechenbarkeit unserer Handlungen willen jener Grund der Entscheidung für oder gegen die praktische Freiheit notwendig in uns selbst gefunden werden muss. Dass diese Position freilich höchst problematisch und keineswegs alternativlos ist, kann ich in diesem Rahmen im Verweis auf Luthers De servo arbitrio und Leibniz‘ Confessio philosophi nur anmerken.14 Aus Platzgründen kann ich hier nämlich nur näher auf diejenigen Fragen eingehen, die Kant selbst als mit seiner Position verknüpfte Probleme ventiliert.
5. Von der „Unerforschlichkeit“ der „Annehmung“ guter oder böser Maximen bei Kant Kant selbst bezeichnet jenen „ersten Grund der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen“ in uns bekanntlich als „unerforschlich“ (AA 6, 21). Das deshalb, weil erstens unsere Entscheidung für oder gegen den Gebrauch unserer Freiheit selbst „immer wieder in einer Maxime gesucht werden muß“15 und genau das zweitens in einen infiniten Regress führt, weil wir nicht einfach einen „obersten Grund“ (AA 6, 25) unserer Gesinnung „von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten können“ (ebd.). Trotzdem – und das ist wichtig – will Kant aber Folgendes annehmen: Vgl. HERMANNI, Die letzte Entlastung, 132–136. Vgl. hierzu ausführlicher NONNENMACHER, Vernunft und Glaube bei Kant, 293–308. 15 Vgl. AA 6, 21 Anmerkung: „Daß der erste subjective Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei, ist daraus schon vorläufig zu ersehen: daß, da diese Annehmung frei ist, der Grund derselben (warum ich z. B. eine böse und nicht vielmehr eine gute Maxime angenommen habe) in keiner Triebfeder der Natur, sondern immer wiederum in einer Maxime gesucht werden muß; und, da auch diese eben so wohl ihren Grund haben muß, außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjectiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können.“ 13 14
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Die Gesinnung, d. i. der erste subjective Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. Sie selbst aber muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden. (AA 6, 25)
Was für eine Position will Kant damit vertreten? Zur Beantwortung dieser Frage gilt es jetzt, auf Kants Begriff der „intelligibele[n] That“ (AA 6, 31) einzugehen, sowie auf die Frage, wie Kant diesen Begriff in Auseinandersetzung mit Gen. 3 zu derjenigen „Vorstellungsart“ (AA 6, 41) in Beziehung setzt, „deren sich die Schrift bedient, [um] den Ursprung des Bösen als einen Anfang desselben in der Menschengattung zu schildern“ (ebd.).
6. Der Begriff „intelligible Tat“ und die Frage nach dem Ursprung des Bösen Kants Begriff „intelligible Tat“ ist unmittelbar mit der Begründung seiner These verknüpft, dass wir den „obersten Grund“ unserer Gesinnung „nicht von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten können“ (AA 6, 25). Kant liefert diese Begründung allerdings erst zu Beginn des vierten Abschnitts des ersten Stücks in seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Ursprung des Bösen, obgleich er den Begriff der intelligiblen Tat schon am Ende des zweiten Abschnitts des ersten Stücks eingeführt hat (vgl. AA 6, 31). Bereits dort heißt es: Es kann aber der Ausdruck von einer That überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch der Freiheit gelten, wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen, als auch von demjenigen, da die Handlungen selbst (ihrer Materie nach, d. i. die Objecte der Willkür betreffend) jener Maxime gemäß ausgeübt werden. Der Hang zum Bösen ist nun That in der ersten Bedeutung (peccatum originarium) und zugleich der formale Grund aller gesetzwidrigen That im zweiten Sinne genommen, welche der Materie nach demselben widerstreitet und Laster (peccatum derivativum) genannt wird; und die erste Verschuldung bleibt, wenn gleich die zweite (aus Triebfedern, die nicht im Gesetz selber bestehen) vielfältig vermieden würde. Jene ist intelligibele That, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar; diese sensibel, empirisch, in der Zeit gegeben (factum phaenomenon). (AA 6, 31)
Was ist also Kants intelligible Tat? Inwiefern ist sie „bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung“ erkennbar? Und vor allem, wie hängt sie mit der Begründung von Kants These zusammen, dass wir den „obersten Grund“ unserer Gesinnung „nicht von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten können“ (AA 6, 25)? Weiteren Aufschluss hierüber gibt der Beginn des vierten Abschnitts des ersten Stücks, weshalb hier gleich noch eine Stelle zitiert sei, bevor ich beide zusammen erläutere. Zu Beginn des vierten Abschnitts heißt es: Wenn die Wirkung auf eine Ursache, die mit ihr doch nach Freiheitsgesetzen verbunden ist, bezogen wird, wie das mit dem moralisch Bösen der Fall ist: so wird die Bestimmung
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der Willkür zu ihrer Hervorbringung nicht als mit ihrem Bestimmungsgrunde in der Zeit, sondern blos in der Vernunftvorstellung verbunden gedacht und kann nicht als von irgend einem vorhergehenden Zustande abgeleitet werden; welches dagegen allemal geschehen muß, wenn die böse Handlung als Begebenheit in der Welt auf ihre Naturursache bezogen wird. Von den freien Handlungen als solchen den Zeitursprung (gleich als von Naturwirkungen) zu suchen, ist also ein Widerspruch; mithin auch von der moralischen Beschaffenheit des Menschen, sofern sie als zufällig betrachtet wird, weil diese den Grund des Gebrauchs der Freiheit bedeutet, welcher (so wie der Bestimmungsgrund der freien Willkür überhaupt) lediglich in Vernunftvorstellungen gesucht werden muß. (AA 6, 39 f.)
Kants Begründung seiner These, dass wir den „obersten Grund“ unserer Gesinnung „nicht von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten können“ (AA 6, 25), argumentiert also über eine reductio ad absurdum der Annahme, dass diese Ableitung möglich sei, und argumentiert folgendermaßen: Freie Handlungen können überhaupt nicht aus „irgend einem vorhergehenden Zustande abgeleitet“ werden. Denn sie aus einem vorhergehenden Zustande abzuleiten, würde bedeuten, sie nicht als freie Handlungen zu denken, sondern sie als durch Naturkausalität zustande gekommene Wirkungen vorzustellen. Eine durch Naturkausalität zustande gekommene freie Handlung wäre jedoch ein Widerspruch. Wie ist Kants Rede von einer intelligiblen Tat vor diesem Hintergrund zu verstehen? Freilich betrachten wir unsere Handlungen „als Begebenheit[en] in der Welt“ (AA 6, 40) und beziehen sie auf ihre „Ursache[n] in der Zeit“ (AA 6, 39), wenn wir retrospektiv nach dem Grund dafür fragen, „warum ich z. B. eine böse und nicht vielmehr eine gute Maxime angenommen habe“ (AA 6, 21 Anm.). Auch wenn wir die Ursache einer Maxime nicht in einer „Triebfeder der Natur“, sondern in einer weiteren Maxime suchen, gilt in jener nach den „Ursache[n] in der Zeit“ (AA 6, 39) fragenden Perspektive, dass „auch diese ebensowohl ihren Grund haben muß“ (AA 6, 21 Anm.), sodass man hierbei „in der Reihe der subjectiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können“ (ebd.). Nun soll der oberste Grund unserer Gesinnung und des Gebrauchs unserer Freiheit gemäß der kantschen Voraussetzung aber selbst ein Akt der Freiheit sein. In der Zeit lässt sich dieser Akt als „Usprung“ und „Ursache, welche nicht wiederum Wirkung einer anderen Ursache von derselben Art ist“ (AA 6, 39) aber nicht vorstellen. Deshalb sagt Kant, dass „der Bestimmungsgrund der freien Willkür überhaupt […] lediglich in Vernunftvorstellungen gesucht werden muß“ (AA 6, 40). – Nur, was soll dieser Terminus „Vernunftvorstellung“ eigentlich heißen? Kant gebraucht diesen Ausdruck höchst selten, nur dieses eine Mal in der Religionsschrift und zuvor prominent ebenfalls nur einmal in der Kritik der praktischen Vernunft, wenn es dort heißt, dass der Begriff der „Willensbestimmung a priori“ (AA 5, 65) eine „Causalität der reinen Vernunft“ (ebd.) voraussetzt, deren Bestimmungsgrund ebenfalls nur in einer „Vernunftvorstellung“ (ebd.)
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gedacht werden kann, nämlich in der „Vernunftvorstellung eines Gesetzes […], welches als Gesetz der Freiheit die Vernunft sich selbst giebt und dadurch sich a priori als praktisch beweiset“ (ebd.).16 Bereits dieser kurze Blick in Kants zweite Kritik und die dortige Verwendung des Ausdrucks Vernunftvorstellung erhellt m. E. nun aber auch bereits, was Kant in der Religionsschrift damit sagen will, wenn er dort sagt, dass „der Bestimmungsgrund der freien Willkür überhaupt […] lediglich in Vernunftvorstellungen gesucht werden muß“ (AA 6, 40): Nämlich nichts anderes als dies, dass jene intelligible Tat, obgleich sie nicht zeitlich vorgestellt werden kann, unter Zuhilfenahme einer Vernunftvorstellung dennoch als jene freie und ursprüngliche Tat gedacht werden können soll, die „die Wurzel des Bösen in der obersten Maxime der freien Willkür in Beziehung aufs Gesetz“ bildet und „vor aller Erfahrung vorhergeht“ (AA 6, 39 Anmerkung). Zu fragen ist damit nur noch, durch welche Vernunftvorstellung die Religionsschrift ihren Begriff der intelligiblen Tat näher erläutert. – Ich komme damit zu Kants Erbsündenlehre und Auseinandersetzung mit Gen. 3.
7. Kants Begriff des peccatum originale und peccatum actuale Kants religionsphilosophische Entfaltung des bislang Entwickelten besteht darin, dass die Frage nach jenem ersten „Actus der Freiheit“ (AA 6, 21), in dem sich der Mensch für oder gegen den Gebrauch seiner Freiheit entscheidet, als die Frage nach dem Ursprung derjenigen Tat reflektiert wird, mit und in der der Mensch „aus dem Stande der Unschuld zum Bösen übergeschritten ist“ (AA 6, 41). Kant verfolgt damit ein doppeltes Ziel: Erstens soll die Geschichte des Sündenfalls als Vernunftvorstellung dazu dienen, jenen „erste[n] subjective[n] Grund der Annehmung der Maximen“ (AA 6, 26) als ursprüngliche Tat vorzustellen. Zweitens soll umgekehrt gezeigt werden, dass die Geschichte des Sündenfalls in genau dieser Interpretation als durch das Vernunftsystem gerechtfertigte Geschichte ausgewiesen werden kann. Nun zur Umsetzung dieses Programms: Unter Sünde versteht Kant „die Übertretung des moralischen Gesetzes als göttlichen Gebots“ (AA 6, 42). Der „Stand der Unschuld“ ist der „Zustand des Menschen […] vor allem Hange zum Bösen“ (ebd.). Der „Sündenfall“ ist „die Vorstellungsart, deren sich die Schrift bedient, den Ursprung des Bösen als einen Anfang desselben in der Menschengattung zu schildern“ (AA 6, 41). Kant sagt damit, dass auch die Schrift den Hang zum Bösen nicht einfach als Gegebenes hinnimmt, sondern als durch einen ersten freien Akt zugezogenen Hang vorstellt und nach Kant genau hiermit für die
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Vgl. zudem zum Terminus „Vernunftvorstellung“ AA 6, 400; AA 7, 251; AA 20, 391; AA 22,
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Zurechenbarkeit unserer Handlungen einsteht.17 Auch in jenem ersten Akt, in dem Adam aus dem Stand der Unschuld zum Bösen überschreitet, steht für Kant das moralische Gesetz deshalb bereits als „Verbot“ (AA 6, 42) im Raum, und Röm. 5,12 interpretierend sagt Kant zusätzlich: „Daß wir es täglich eben so machen, mithin ‚in Adam alle gesündigt haben‘ [ἐφ’ ᾧ πάντες ἥμαρτον] und noch sündigen, ist aus dem obigen klar“ (AA 6, 42). Kants Begriff des peccatum originale wird damit in folgender Überlegung gewonnen: Wir alle sind stets in der Situation Adams. Denn auch für uns, die wir im Gegensatz zu Adam den Hang zum Bösen bereits in uns vorfinden, gilt, dass unser Handeln stets erneut der Gefahr ausgesetzt ist, in dem Sinne aus dem Stand der Unschuld zum Bösen überzutreten, dass wir uns erneut für das Verbotene entscheiden, indem wir gegen die „Pflicht, sich zu bessern“ (AA 6, 41) votieren. Gegen die Pflicht zu votieren, ist der Sündenfall. Der Sündenfall ist deshalb stets erneut gegenwärtig und unsere eigene intelligible Tat stets greifbar in der Versuchung Adams. Damit ist klar: Jeder Verstoß von uns gegen das Gesetz ist ein ursprünglicher Akt. Kants schlichte, aber eindrückliche Idee ist damit diese: In der Vorstellung, „daß wir es täglich ebenso machen“ (AA 6, 42) wie Adam und nicht nur alle „in Adam gesündigt haben“ (ebd.), sondern immer „noch sündigen“ (ebd.), bietet die Schrift die Möglichkeit, jenen ersten Aktus der Freiheit, der über den Gebrauch unserer Freiheit entscheidet, als intelligible, stets virulente und vor aller Erfahrung vorhergehende Tat vorzustellen. Nicht sehen wir so in Gen. 3 nur die Geschichte des Anfangs unseres Hangs zum Bösen, sondern uns selbst in derjenigen Situation, in der wir uns Kant zufolge stets stehend denken müssen, um uns der Zurechenbarkeit unserer Handlungen zu vergewissern.18 Kant versteht deshalb unter dem peccatum originale niemals nur eine „Erbkrankheit oder Erbschuld“ (AA 6, 40), die „durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen“ (ebd.) ist, sondern hält diese Vorstellung gerade für „die unschicklichste“ (ebd.) Herangehensweise, um uns die Einwurzelung des Bösen in uns als einen natürlichen, die gesamte „Menschheit“ betreffenden, aber gleichwohl „selbstverschuldet[en]“ Hang vorzustellen (AA 6, 32).19 Vielmehr ist Vgl. hierzu auch Kants Definition der Zurechenbarkeit in der Metaphysik der Sitten: „Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urtheil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird“ (AA 6, 227). Ausführlicher kann hier nicht auf das Verhältnis des Zurechenbarkeitsbegriffs der Religionsschrift und der Metaphysik der Sitten eingegangen werden. Zu letzterem vgl. CLAUDIA BLÖSER, Zurechnung bei Kant. Zum Zusammenhang von Person und Handlung in Kants praktischer Philosophie, Berlin/Boston 2014. 18 Vgl. hierzu auch Wolfhart Pannenbergs Ausführungen zur Entwicklung und Transformation des Gedankens der „Teilhabe der Nachkommen Adams an seiner Sünde“ seit Augustin in: WOLFHART PANNENBERG, Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991, 290 ff. 19 Vgl. hierzu auch ALEXANDER HEIT, Versöhnte Vernunft. Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie, Göttingen 2006, 82–85. 17
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für Kant das peccatum originale allein diejenige Bewusstmachung der Unausweichlichkeit des Hangs zum Bösen in uns, die uns zugleich bewusst macht, dass wir stets alle die Wahl haben und deshalb jede Entscheidung gegen den Gebrauch unserer Freiheit als erneute freie Bejahung des Übertritts aus dem Stand der Unschuld zum Bösen begreifen müssen. Der Begriff peccatum originale mutet uns mit Kant deshalb gerade nichts Unzumutbares zu. Vielmehr führt uns die Ursprungsgeschichte der Sünde für Kant gerade unsere volle Verantwortlichkeit vor, indem sie uns zeigt, dass die Ursprünglichkeit unseres Handelns in der je virulenten Gefahr des Übertritts aus dem Stand der Unschuld in die Sünde besteht, die in Adams Fall prototypisch vorgestellt worden ist.20 Die Rationalität von Gen. 3 besteht für Kant deshalb also keinesfalls nur darin, dass uns die Schrift hier doch noch eine Geschichte gibt, in der jener erste freie Akt, in dem wir über den Gebrauch unserer Freiheit entscheiden, nach der Zeit vorgestellt ist. Sondern vielmehr zeigt uns die Schrift, dass wir deswegen alle in Adam gesündigt haben und noch sündigen, weil auch wir genau stets jener Versuchung ausgesetzt sind, der bereits Adam ausgesetzt war, nämlich der Gefahr, die Strenge des Gebots, welches den Einfluß jeder andern Triebfeder ausschließt, zu bezweifeln, hernach den Gehorsam gegen dasselbe zu einem bloß (unter dem Princip der Selbstliebe) bedingten eines Mittels herab zu vernünfteln, woraus dann endlich das Übergewicht der sinnlichen Antriebe über die Triebfeder aus dem Gesetz, in die Maxime zu handeln, aufgenommen und so gesündigt ward […]. (AA 6, 42)
Auch die Schrift illustriert die Ursprünglichkeit unseres Handelns nach Kant deshalb nur in zweiter Instanz durch eine zeitliche Vorstellung. In erster Instanz geht es für Kant auch bei ihr (a) darum, dass der Hang zum Bösen als ein aus einem Akt der Freiheit hervorgegangener, „uns von uns selbst zugezogener“ (AA 6, 32) Hang zu verstehen ist, sowie (b) darum, dass der Hang zum Bösen gleichwohl eine uns alle betreffende Disposition ist. In der Vorstellung des für uns alle stehenden ersten Menschen Adam wird deshalb dem Begriff eines „radicalen“ und „angeborenen“, aber „nichts destoweniger von uns selbst zugezogenen Bösen in der menschlichen Natur“ (vgl. AA 6, 32) Auf die Frage, in welchem Verhältnis diese Interpretation von Gen. 3 in der Religionsschrift zur Auseinandersetzung mit Gen. 3 im Rahmen von Kants Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte von 1786 steht, kann hier nicht ausführlicher eingegangen werden. Dort votiert Kant, „daß der Ausgang des Menschen aus dem ihm durch die Vernunft als erster Aufenthalt seiner Gattung vorgestellten Paradiese nichts anderes, als der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß thierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instincts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit gewesen sei“ (AA 8, 115). Kant denkt hier den Fall als Gewinn und die Differenzierung von Gutem und Bösen als Preis der Freiheit. Die Religionsschrift setzt dann die Wahl zwischen Gut und Böse als ursprüngliche Freiheit zur Freiheit. Vgl. hierzu ausführlicher FRIEDRICH HERMANNI, Felix Culpa. Die geschichtsphilosophische Transformation der Sündenfallerzählung im 18. Jahrhundert, in: Philosophische Orientierung. Festschrift zum 65. Geburtstag von Willi Oelmüller, hg. von Friedrich Hermanni, München 1995, 249–266. 20
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sein Bild verschafft, mit dem Ziel, hierin erstens die Gefahr abzuwehren, dass der Hang zum Bösen im Menschen unterschätzt wird, und zweitens die Gefahr aufzuheben, dass der Hang zum Bösen als Entschuldigungsgrund für unsere schlechten Taten fungiert. Auch Kant geht es dabei, wie Luther, um die „Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens“ (AA 6, 30). Allerdings kennt Kant dabei keinerlei „transmoralisches Verständnis von Sünde“.21 Deshalb versteht er die Sünde auch gerade nicht als eine concupiscentia divinitatis, d. i. als ein Sein-Wollen-wie-Gott.22 Ganz anders Luther. Das, was wir uns Kant zufolge im Dienste der Sittlichkeit selbst zuschreiben müssen, d. i. jene Freiheit zur Freiheit als schlechthinnigen Anfang, ist für Luther ein Sein-Wollen-wie-Gott, das die Alleinwirksamkeit Gottes in Frage stellt.23 Kant dagegen ordnet diesen Gedanken dem Sittengesetz unter und lehrt hiermit die Relativierbarkeit der Alleinwirksamkeit Gottes in praktischer Absicht.24
Vgl. GUNTHER WENZ, Hamartiologische Konstellationen im Umkreis Kants, in: Ders., Sünde. Hamartiologische Fallstudien (Studium Systematische Theologie Bd. 8), Göttingen 2013, 140–158, hier: 148. 22 Vgl. hierzu auch ELISABETH GRÄB-SCHMIDT, Sünde und Bestimmung des Menschen. Die bleibende Aktualität der Lehre von der Erbsünde, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 45 (2003), 149–169, hier: 151. 23 In Luthers Heidelberger Disputation heißt es deshalb: „Haec autem tota est perversitas, scilicet sibi placere fruique seipso in operibus suis seque idolum adorare.“ (WA 1, 358). 24 Auch die Tatsache, dass Kant die Vereinbarkeit von göttlicher Alleinwirksamkeit und menschlicher Zurechenbarkeit nicht absolut ausschließt, sondern lediglich sagt, dass wir im Blick auf unsere Verantwortlichkeit so denken müssen, „als ob“ (vgl. AA 6, 100 f.) alles auf uns ankäme, macht die Sache freilich nicht besser. Denn auch Kants Behauptung, dass der Gedanke einer „geschöpften Freiheit“ für unsere Vernunft notwendig ein „Geheimnis“ bleibt (vgl. AA 6 142), kann sich dem Diskurs mit Luther und Leibniz nicht einfach verschließen, denn immerhin versuchen Luther und Leibniz Argumente für eine angebliche Inkompatibilität von göttlicher Alleinwirksamkeit und menschlicher Zurechenbarkeit mit gewichtigen Argumenten zu entkräften. Vgl. hierzu ausführlicher HERMANNI, Das Wesen der menschlichen Freiheit; NONNENMACHER, Vernunft und Glaube bei Kant, 346 f.; 273 f.; 293–308. 21
Die paradoxe Aneignung der Autonomie SEBASTIAN BÖHM Autonomie ist ein zentraler und emphatisch aufgeladener Begriff der Moderne. Die Frage nach einem richtigen Verständnis dieses Begriffs ist immer auch zugleich die Frage nach einem richtigen Verständnis unserer Selbst. Dass wir hiernach fragen müssen, zeigt an, dass es sich nicht von selbst versteht autonom zu sein und dies heißt, dass Autonomie und ihr Verständnis je angeeignet werden müssen. Denn, selbst wenn der Mensch in einem gewissen Sinn an sich und immer schon ein autonomes Vernunftwesen ist, so muss dies doch auch für ihn werden. Im Folgenden wird daher der Frage nach dem Begriff der Autonomie und ihrer Aneignung im kantischen System nachgegangen. Dies soll anhand der gegenwärtigen Debatte zum „Paradox der Autonomie“ geschehen.1 Es soll gezeigt werden, dass dieser Diskurs einerseits fehlgeht, da er vom Ergebnis der kantischen Vernunftkritik ausgeht und daher das kantische Verständnis der Aneignung von Autonomie verstellt. Andererseits ist dieser Diskurs erhellend, da sich in ihm bleibende Probleme der kantischen Konzeption manifestieren.2 Nachfolgend wird die These vertreten, dass der Begriff der Autonomie und seine Aneignung ohne einen systematischen Bezug auf die Dialektik der praktischen Vernunft und damit, wie zu zeigen sein wird, auf das Böse, unverstanden bleiben müssen. Das Böse und die Dialektik sind der Schlüssel zum Verständnis und damit zur Aneignung der Autonomie. Autonomie wird durch die paradoxe Bewegung der Aneignung durch Entfremdung für uns. Die Notwendigkeit der Überwindung der Fremdheit der Autonomie lässt sich anhand folgender Beobachtungen darlegen. Kant führt den Begriff der Autonomie, dem Anspruch nach, ohne jeglichen Bezug auf die Anthropologie ein: Vgl. dazu u. a.: THOMAS KHURANA/CHRISTOPH MENKE, Paradoxien der Autonomie, Berlin 22019, sowie PAULINE KLEINGELD/MARCUS WILLASCHEK, Autonomy Without Paradox: Kant, Self-Legislation and the Moral Law, in: Philosophers’ Imprint 19/6 (2019), 1–18. 2 Man kann konstatieren, dass in diesem Diskurs vom spezifisch menschlichen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft abgesehen und damit die Funktion der kantischen Dialektik der reinen praktischen Vernunft im „Paradox der Autonomie“ nicht reflektiert wird. Wenn sich innerhalb der Debatte paradoxale (Butler, Menke) und nichtparadoxale Lesarten (Rödl; Kleingeld und Willaschek) entgegenstehen, so reflektiert dies Kants Ambivalenz bezüglich der (subjektiven) Notwendigkeit der Dialektik. 1
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alle Moralphilosophie beruht gänzlich auf ihrem reinen Teil, und, auf den Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das mindeste von der Kenntnis desselben (Anthropologie), sondern gibt ihm, als vernünftigem Wesen, Gesetze a priori.3
Da das Gesetz verbindlich ist, insofern es für alle Vernunftwesen verbindlich ist, ruht „der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen“.4 Die Geltung des Gesetzes gründet in der reinen praktischen Vernunft überhaupt und allein für die Anwendung desselben bedarf es der Kenntnis des Menschen. Ohne diese Unterscheidung und damit der provokativen und paradoxen Forderung, Selbstgesetzgebung ohne Kenntnis des menschlichen Selbst denken zu sollen, lässt sich, gemäß Kant, Autonomie nicht widerspruchsfrei denken, der praktische Empirismus und damit Epikureismus wären unvermeidbar. Auch die kantische Antwort auf die Frage nach der Einheit der beiden Begriffsmomente des Begriffs der Autonomie enthält eine Provokation: Die Einheit der Begriffsmomente der Autonomie ist für uns unbegreiflich. Gemäß Kant ist es für den Menschen unmöglich, das objektive Verhältnis beider Begriffe zu bestimmen, allein der subjektive Schein, dass beide Begriffe wesentlich verschieden sind, lässt sich vermeiden. Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von Zirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus zu kommen ist. Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben, denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe, davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund anzugeben, sondern höchstens nur, um, in logischer Absicht, verschieden scheinende Vorstellungen von eben demselben Gegenstande auf einen einzigen Begriff (wie verschiedne Brüche gleiches Inhalts auf die kleinsten Ausdrücke) zu bringen.5
Die menschliche Vernunft kann „ein unbedingtes praktisches Gesetz […] seiner absoluten Notwendigkeit nach nicht begreiflich machen.“6 Diese Unbegreiflichkeit der Einheit der Autonomie gilt im Übrigen für alle zentralen Begriff der praktischen Vernunft Kants!7 IMMANUEL KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, 389. Ebd. 5 Ebd., 450. Dies zeigt sich u. a. auch in der Unmöglichkeit, im Faktum der Vernunft das Verhältnis zwischen Freiheit und Gesetz objektiv zu bestimmen. Kant fragt allein nach unserer subjektiven Erkenntnisordnung und nicht nach dem objektiven Verhältnis beider. Vgl. IMMANUEL KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 29. 6 KANT: Grundlegung, AA 4, 463. 7 Der Begriff der Freiheit bleibt eine „völlige Unbegreiflichkeit“ (KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 7). Die Ideen von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit kann „nach ihrer Möglichkeit kein menschlicher Verstand jemals ergründen“ (ebd., 133). Wie Achtung möglich ist, „ist ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem“ (ebd., 72). Die Möglichkeit des Bösen wie des Guten ist unbegreiflich (vgl. KANT, Die Religion, 59) und damit sowohl die ursprüngliche Verkehrung (ebd., 44) als auch die Wiederherstellung (ebd., 45). 3 4
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Neben der Anthropologiefreiheit und Unbegreiflichkeit der Einheit der Autonomie ist, so Theunissen, der faktische Zerfall der begrifflichen Einheit der Autonomie zu konstatieren. Beide Begriffsmomente tendieren zur Verselbstständigung und Vereinseitigung. Die durchaus gegensätzlichen, in einem gespannten Verhältnis zueinander stehenden Elemente des Kantischen Autonomiebegriffs – das Selbst und das Gesetz, autos und nomos – bildeten ursprünglich gleichwohl eine Einheit, weil Kant an die von ihm so genannte „Menschheit in uns“ glaubte appellieren zu dürfen. Vermöge der „Menschheit in uns“ kann das Gesetz, das wir uns selbst geben, zugleich ein allgemeines Gesetz sein. Heute hingegen fallen die Bestandteile des Begriffs auseinander, weil einerseits dieses Gesetz den Verdacht erregt, die Institution eines Über-Ichs zu sein, das in Wirklichkeit Heteronomie internalisiert, und weil wir andererseits echte Autonomie nur noch davon erwarten, daß wir tun, was wir wollen, und zwar als Individuen, die sich dem normativen Druck der Allgemeinheit entziehen.8
Das Auseinanderfallen des Begriffs führt in die bloße Verinnerlichung von objektiver Herrschaft, von Gesetzlichkeit als Heteronomie, einerseits und in die Depotenzierung des Selbst in der bloß subjektiven Willkür andererseits. Die allgemeine Frage nach der Aneignung des Begriffs der Autonomie konkretisiert sich anhand der dargelegten Anthropologiefreiheit, der Unbegreiflichkeit der begrifflichen Einheit sowie des festgestellten faktischen Zerfalls der Einheit der Autonomie.9 Im Folgenden wird zunächst eine abstrakte Beschreibung des Paradoxes der Autonomie gegeben (1). Die sich gegeneinander vereinseitigenden Positionen des Diskurses werden dann, anhand des „Primats des individuellen Subjekts“ (2) sowie des „Primats des allgemeinen Gesetzes“ (3), entfaltet. Im Anschluss hieran wird gezeigt, wie Kant das Paradox der Autonomie einerseits begrifflich vermeidet und es andererseits faktisch konstatiert (4).
1. Das Paradox der Autonomie Das Paradox wird oftmals anhand folgender Passage eingeführt: Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er sich selbst als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß.10 8 MICHAEL THEUNISSEN, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins, Berlin/New York 1982, 7. 9 Der Frage, ob und wie die bei Kant nur durch ihre Unbegreiflichkeit gesicherte begriffliche Einheit der Autonomie mit dem von Theunissen konstatierten faktischen und geschichtlichen Auseinanderfallen der Begriffsmomente verbunden ist, kann hier leider nicht nachgegangen werden. 10 KANT, Grundlegung, 431.
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In dieser Passage wird das Verhältnis von Wille und Gesetz derart eingeführt, dass der Wille allein derart durch das Gesetz bestimmt wird, dass der Wille das Gesetz bestimmt. Die Bestimmung des Willens durch das Gesetz, die Unterwerfung, geschieht allein durch die Bestimmung des Gesetzes durch den Willen, die Selbstgesetzgebung. Autonomie als Selbstgesetzgebung geht für den Menschen stets mit Nötigung einher. Selbstgesetzgebung durch Unterwerfung ist ineins Unterwerfung durch Selbstgesetzgebung. D. h., der Akt der Einsetzung des Gesetzes ist zugleich der Akt der Unterwerfung unter dasselbe, es ist ein und derselbe Akt. Wie aber ist dieser Akt zu verstehen? Besteht zwischen beiden gegenläufigen Bestimmungen nicht ein Widerspruch? Wie soll das vom Subjekt hervorgebrachte, das durch es bestimmte Gesetz, dieses Subjekt unterwerfen und bestimmen? Wie soll das dem Gesetz unterworfene, der durch es bestimmte Wille, dieses Gesetz hervorbringen, dieses bestimmen? Legt man den Akzent in der ersten Richtung auf die Selbstgesetzgebung des Gesetzes durch das Subjekt, so scheint dieses letztlich nicht durch das Gesetz bestimmt zu werden und dies heißt, es ist bloße subjektive Willkür gesetzt. Legt man den Akzent hingegen auf die Unterwerfung des Subjekts unter das Gesetz, so wird unverständlich inwiefern es durch das Subjekt bestimmt wird und dies heißt, es ist bloße objektive Heteronomie gesetzt. Ohne die Vermittlung durch das Gesetz bleibt das Subjekt in der bloßen Willkür gefangen, ohne die Vermittlung durch das Subjekt bleibt das Gesetz Ausdruck bloßer Heteronomie. Wie also ist die (paradoxe?) Einheit dieses autonomen Aktes zu verstehen? Worin gründet sich ein Missverständnis dieses Aktes und also die Gefahr der Vereinseitigung zur bloßen Willkür einerseits und dem bloßen Schein von Autonomie andererseits? Nun, dass das Subjekt durch das doppelte Verhältnis von Selbstgesetzgebung und Unterwerfung dem Gesetz gegenüber bestimmt ist, beschreibt zunächst allein das doppelte Verhältnis von Subjekt und Gesetz. Damit ist aber weder das Subjekt noch das Gesetz konkreter bestimmt. Sowohl Subjekt als auch Gesetz der von Kant anvisierten Einheit der Akte von Selbstgesetzgebung und Unterwerfung blieben bisher unbestimmt und changieren zwischen verschiedenen Bestimmungen. Das doppelte Verhältnis zwischen Subjekt und Gesetz erscheint noch nicht als doppeltes Verhältnis innerhalb des Subjekts und des Gesetzes.11 Folgende kantische Differenzierungen hinsichtlich des Subjekts, des Gemäß Kant kann die Einheit des autonomen Aktes, welche als Einheit von Selbstgesetzgebung und Unterwerfung erscheint, nur widerspruchsfrei gedacht werden, wenn zwei Formen des Selbst sowie zwei Formen des Gesetzes unterschieden werden. Den Fehler der Nichtunterscheidung begeht das natürliche menschliche Bewusstsein notwendig, durch das skeptische Bewusstsein, die Dialektik, entwickelt sich dann das kritische Bewusstsein (Vgl. IMMANUEL KANT, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA 20, 264.) Damit ist das kritische Bewusstsein der Autonomie vermittelt und nur möglich als Überwindung des praktischen Empirismus und Subjektivismus einerseits und des praktischen Rationalismus und Objektivismus andererseits. 11
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Prädikats, und des Objekts der Autonomie sind daher im Folgenden mindestens zu berücksichtigen: (i) Autonomie kennzeichnet den Willen als Willen, als bestimmt durch das Gesetz der reinen praktischen Vernunft überhaupt. Die Autonomie ist die Eigengesetzlichkeit der reinen praktischen Vernunft überhaupt, welche nichts anderes als der Wille ist. (ii) Autonomie bezeichnet den Willen eines intelligiblen Wesens als bestimmenden durch das Gesetz der reinen praktischen Vernunft als Gesetz seines Selbst. Autonomie ist die Eigengesetzlichkeit des intelligiblen Wesens, welches dadurch als „selbstgesetzgebend“ angesprochen wird. (iii) Autonomie bezieht sich auf den Willen eines intelligiblen und zugleich sinnlichen Wesens als bestimmenden und zugleich bestimmten durch das Gesetz als Imperativ. Autonomie bezeichnet hier die Eigengesetzlichkeit des Selbstverhältnisses eines intelligiblen und zugleich sinnlichen Wesens, welches dadurch zugleich als „selbstgesetzgebend“ und „unterworfen“ angesprochen wird. (iv) Autonomie bezieht sich auf den Willen eines sinnlichen Wesens als bestimmenden durch das Gesetz der Natur als Gesetz seines Selbst. Autonomie bezeichnet die Eigengesetzlichkeit des sinnlichen Selbst, welches dadurch als „selbstgesetzgebend“ angesprochen wird. Für die reine praktische Vernunft ist diese Selbst-liebe Hetero-nomie. Die Debatte zum Paradox der Autonomie hebt an der Auslegung dieser Differenzierungen und Bestimmungen des kantischen Systems an. Denn, obgleich Kant zwischen der allgemeinen Eigengesetzlichkeit der reinen praktischen Vernunft überhaupt einerseits und der Autonomie eines individuellen Subjekts, der „subjektiven Autonomie der praktischen Vernunft eines jeden Menschen“ unterscheidet,12 bleibt der systematische Grund dieser Unterscheidung unentwickelt. Wie zeigt sich dies? Gemäß Kant ist die Differenz zwischen der Maxime, dem Einheitsprinzip eines Subjekts, und dem Gesetz, der „allerwichtigste[n] Unterschied[es], der nur in der praktischen Untersuchung in Betrachtung kommen kann“.13 Allein, die von Kant im Modus des Sollens geforderte Übereinstimmung beider setzt ihr Auseinandertreten voraus. Die Differenz zwischen individuellem Selbst und der Eigenbestimmtheit der Vernunft setzt die ursprüngliche Identität beider voraus. Das Auseinandertreten beider, die Individuation angesichts des Gesetzes, erscheint als Selbstgesetzgebung des intelligiblen Subjekts einerseits, die Differenz als Unterwerfung des sinnlichen Subjekts andererseits. Die Einheit dieses Aktes der Individuation und also die Bildung eines Selbstverhältnisses bleibt aber gemäß Kant eine Unbegreiflichkeit.14 IMMANUEL KANT, Metaphysik der Sitten, AA 6, 480. KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5 26. 14 Auch Kroner behauptet, Kant sei nicht berechtigt von Individualität auf der Ebene des Intelligiblen zu sprechen. „Ueberhaupt läßt sich eine Mehrheit von Dingen an sich nur Denken, 12 13
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Dies hat Folgen für den Begriff der Autonomie. Beide Lesarten des Paradoxes der Autonomie setzen an der Unbestimmtheit der Autonomie infolge der Unbestimmtheit der Individuation an. Die beiden sich entgegenstehenden Auslegungen zum Paradox der Autonomie gründen in der Unbestimmtheit der kantischen Rede vom Selbst und vereinseitigen sich zu einer Disjunktion: Entweder individuelles Selbst, oder allgemeine Eigenbestimmtheit der reinen praktischen Vernunft. Damit reflektiert sich in der Disjunktion des Diskurses ein Problem der kantischen Systematik: Das Problem des Selbstverhältnisses der Vernunft und also die Dialektik sowie das Problem des Selbstverhältnisses des Selbst und also die Individuation und das Böse. Da sich im Paradox der Autonomie unreflektiert die Dialektik der reinen praktischen Vernunft manifestiert, da beide Seiten des Paradoxes von derselben absehen, erliegen beide Positionen derselben.
2. Primat des individuellen Subjekts Gemäß der Interpretation von u. a. Brandom und Pinkard bezieht sich die kantische Rede von der Selbstgesetzgebung vor allem auf die Urheberschaft des Gesetzes durch das individuelle Selbst. Das Subjekt der Selbstgesetzgebung ist ein konkretes Individuum, welches sich selbst ein Gesetz und also einen allgemeinen praktischen Grundsatz gibt. Brandom formuliert dies wie folgt: Kants praktische Philosophie […] ist entscheidend geprägt durch seine doppelte Festlegung, uns zugleich als vernünftig und als frei zu verstehen. Vernünftig zu sein heißt, an Regeln gebunden zu sein. Doch Kant möchte die für uns wesentliche Normgebundenheit mit unserer radikalen Autonomie versöhnen […] in der These […], die Autorität dieser Regeln für uns beruhe darauf, daß wir sie als für uns verbindlich anerkennen. Unsere Würde als Vernunftwesen besteht gerade darin, daß wir uns nur Regeln unterwerfen, die wir billigen, an die uns zu binden wir frei gewählt haben. […] Wenn uns etwas anderes als unsere eigenen Einstellungen und unser eigenes Tun binden könnte, wären wir nicht frei. Autonomie, gemäß der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, besteht darin, für uns selbst Gesetze aufzustellen.15 wenn die Eine Vernunft nicht in ihrer formalen Leerheit verbleibt, sondern in bestimmten Individuen wirklich wird. Kant hat aber kein Recht, diese Individuen als Dinge an sich aufzufassen (wenn es auch nur zum Behufe der praktischen Vernunft geschieht), denn das was die Bestimmtheit derselben ausmacht, ist nach ihm durchaus Naturbestimmtheit, die als solche von den intelligiblen Wesen fernzuhalten ist. Sobald er daher das Problem der Individualität streift, gerät er in den sonst so gefürchteten Mystizismus hinein; denn wie soll man den Ausdruck anders bezeichnen, daß sich das Vernunftwesen seinen Charakter, d. h. seine individuelle moralische Bestimmtheit, in einer intelligiblen Wirklichkeit selbst ‚verschaffeʻ?“ RICHARD KRONER, Von Kant bis Hegel, Tübingen 21962, 199 f. 15 ROBERT BRANDOM, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt/M 2000, 99. Auch Pinkard expliziert die Selbstgesetzgebung als Maximenbildung: „[W]enn der Wille sich ein solches ‚Gesetzʻ auferlegt, dann muss er dies aus einem Grund
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Damit wird das Subjekt in der Maximenbildung als Selbstgesetzgeber begriffen. Dem Akt der Einsetzung des Gesetzes geht ein gesetzloses Selbst voran, welches sich in einem zweiten Schritt dem Gesetz unterwirft. Der Grund der Verbindlichkeit des Gesetzes liegt damit allein im individuellen Subjekt, welches sich, ursprünglich gesetzlos, ein allgemeines Gesetz gibt. Damit aber verschwindet die Differenz zwischen Selbst und Gesetz im grundlosen Akt der Selbstgesetzgebung, es bleibt unverständlich inwiefern das Selbst dem Gesetz unterworfen ist. Bestimmt allein das Selbst das Gesetz, so bleibt das Selbst letztlich unbestimmt, es kann letztlich nur vorgeben durch es bestimmt zu sein. Das Selbst ist hier scheinbar schon vor seinem Bezug auf das Gesetz es selbst und wird in seiner Unmittelbarkeit zum Ausgangspunkt und Grundlage des Normativen.16 Die Einheit von Selbst und Gesetz ist derart eine subjektive Einheit und also wird letztlich bloße Willkür und Ironie gesetzt. Gewiss, dies ist eine bloße Karikatur, sowohl der Debatte als auch des kantischen Gedankens der Selbstgesetzgebung. Gleichwohl verweist uns die enthaltene „legislatorische Vorstellung der Autonomie“ auf den Bereich der von Kant ausgeschlossenen Anthropologie und damit u. a. auf die Phänomene der Sozialität,17 Geschichtlichkeit und sinnlicher Individualität. Da, gemäß Kant, dieser Bereich allein durch empirische Erkenntnis zugänglich ist, artikuliert diese Auslegung eine empirische, anthropologische und legislatorische Vorstellung von Autonomie.
3. Primat des allgemeinen Gesetzes Im Gegensatz zu dieser Auslegung ist u. a. gemäß Rödl das Subjekt der kantischen Selbstgesetzgebung im grundlegenden Sinn der Wille als Wille und nicht ein individuelles Subjekt.18 Erst im abgeleiteten Sinne kann man von der Autonomie einzelner Subjekte sprechen, welche den Gesetzen der Autonomie unterliegen. tun (oder gesetzlos sein); ein gesetzloser Wille kann jedoch nicht als ein freier Wille angesehen werden; also muss der Wille sich das Gesetz aus einem Grund auferlegen, der dann jedoch nicht wiederum selbstauferlegt sein kann […]. Das ‚Paradoxʻ besteht darin, das bei der gesetzgebenden Auferlegung einer grundlegenden Maxime sowohl von uns gefordert ist, keinen vorhergehenden Grund zu haben als auch einen solchen Grund zu haben.“ (TERRY PINKARD, Das Paradox der Autonomie: Kants Problem und Hegels Lösung, in: Paradoxien der Autonomie, 25–59, 48). 16 Gemäß Kant sind auch alle intersubjektiven Normen, „die Menschheit in uns“, als intersubjektive Normen, gattungsspezifisch und also subjektiv, d. h. als solche keine Manifestationen des allgemeinen Gesetzes. Die Anthropologie muss aus der Moralbegründung ausgeschlossen bleiben. Vgl. zur Kritik der Ansätze, welche das vermeintlich paradoxe intrasubjektive Verhältnis durch Bezug auf nichtparadoxe intersubjektive Verhältnisse explizieren und auflösen wollen: SEBASTIAN RÖDL, Selbstgesetzgebung, in: Paradoxien der Autonomie, 91–111, 96. 17 THOMAS KHURANA, Paradoxien der Autonomie. Zur Einleitung, in: Paradoxien der Autonomie, 7–23, 17. 18 Vgl. hierzu: KARL AMERIKS, Kant and the Fate of Autonomy: Problems in the Aproportion of the Critical Philosophy, Cambridge 2000, 13–15.
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Tatsächlich spricht die Formel ‚der Wille gibt sich das Gesetzʻ nicht von einem Akt, der zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort vollzogen würde. Die Aussage hat ein generisches Subjekt (den Willen), ihre Prädikation (,gibtʻ) ist daher zeitlos und bezeichnet nichts, was hier und jetzt oder dort und dann geschieht. Grundlegend wird ‚autonomʻ vom allgemeinen Subjekt eines Gesetzes ausgesagt (vom Willen oder, noch abstrakter, von einer praktischen Lebensform), wenn es ein Gesetz der Autonomie ist. Abgeleitet sagt man vom einzelnen Subjekt, es sei autonom, wenn es Gesetzen der Autonomie unterliegt.19
Diese Ordnung entspricht der kantischen Darstellung des Verhältnisses der reinen praktischen Vernunft überhaupt und des Vernunftgebrauchs des individuellen Subjekts. Im grundlegenden Sinn beschreibt Autonomie die Eigengesetzlichkeit der Vernunft, erst abgeleitet davon die Autonomie eines individuellen Subjekts. Zu ihrer [der Vernunft, Anm. S. B.] Gesetzgebung aber wird erfordert, daß sie bloß sich selbst voraussetzen bedürfe, weil die Regel nur alsdenn objektiv und allgemein gültig ist, wenn sie ohne zufällige, subjektive Bedingungen gilt, die ein vernünftig Wesen von dem anderen unterscheidet.20
Dieses Verhältnis manifestiert sich auch im Verhältnis der Metaphysik der Sitten einerseits und der Anthropologie andererseits, diese wird auf jene angewandt. Das Gesetz ist gültig für Vernunftwesen überhaupt und erst hierdurch, durch Anwendung auf den (individuellen) Menschen, gültig auch für denselben.21 Der Begriff der Autonomie bezieht sich derart im grundlegenden Sinn auf die allgemeine Selbstgesetzgebung des Willens als Wille, dieser „gibt“ sich das Gesetz „selbst“. Abgeleitet hiervon kann man von der Autonomie eines individuellen Willens bzw. vom Willen eines Individuums, d. i. ein Wille der notwendig Bezug auf etwas anderes hat,22 sprechen, welcher dieser allgemeinen Gesetzgebung unterliegt, ihr „unterworfen“ ist. Da das Gesetz dem Menschen daher als Gesetz der Pflicht erscheint, soll die reine praktische Vernunft nicht nur gesetzgebende, sondern auch „das Gesetz ausführende Gewalt“ sein.23 Da das Gesetz nicht für den Menschen als Menschen, sondern für den Menschen als Vernunftwesen gilt, können die individuellen Maximen dem Gesetz nur noch unterworfen sein. Die Rede von der „Anwendung“, die darin enthaltene Differenz, der reinen praktischen Vernunft auf den Menschen und seiner Selbstgesetzgebung passen nun aber offenbar nicht unmittelbar zusammen. Vielmehr erscheint nun die Rede von Autonomie als bloße Verinnerlichung von Heteronomie. Es bleibt unverständlich, inwiefern das Gesetz vom individuellen Selbst selbstgegeben ist. Diese exekutive Vorstellung der Autonomie verweist SEBASTIAN RÖDL, Selbstbewußtsein, Berlin 2011, 161. KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 20 f. 21 Vgl. KANT, Grundlegung, AA 4, 412. 22 Vgl. KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 21. 23 KANT, Metaphysik der Sitten, AA 6, 405. 19 20
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uns auf den Bereich des rein Intelligiblen. Da diese Perspektive uns nicht durch empirische Erkenntnis, sondern allein durch das Faktum der Vernunft zugänglich ist, artikuliert diese Auslegung eine rationale, anthropologiefreie und exekutive Vorstellung von Autonomie. Diese beiden gegenläufigen Vereinseitigungen gemeinsam sind der Verlust der kantischen Einheit der Selbstgesetzgebung als Einheit von Legislative und Exekutive. Der Vorrang der legislativen Funktion artikuliert sich in der Vorstellung eines zunächst gesetzlosen individuellen Selbst, welches sich „dann“ an das selbstgegebene Gesetz bindet. Der Vorrang der exekutiven Funktion artikuliert sich in der Vorstellung einer „immer schon“ gegebenen Eigenbestimmtheit der reinen praktischen Vernunft, von welcher „abgeleitet“ in der Anwendung dieser auf den Menschen von der Selbstgesetzgebung desselben gesprochen werde kann. Damit verteilen sich die beiden gegenläufigen Momente – Selbstgesetzgebung und Unterwerfung – der kantischen Einheit auf diese beiden sich entgegenstehenden Positionen. In der empirisch-legislativen Vorstellung der individuellen Autonomie verliert sich das Moment der allgemeinen Unterwerfung, obgleich es, gemäß Kant, wesentlich ist, dass sich das empirische Selbst unterwirft. In der rational-exekutiven Vorstellung der allgemeinen Autonomie verliert sich hingegen das Moment der individuellen Selbstgesetzgebung, obgleich es, gemäß Kant, wesentlich ist, dass sich das intelligible Selbst selbst das Gesetz gibt. Damit erliegen beide der Dialektik der reinen praktischen Vernunft: Der praktische Empirismus verkennt sowohl den Begriff der Autonomie wie den Begriff des Menschen. Der praktische Rationalismus verkennt sowohl die Natur der Autonomie wie die Natur des Menschen.24 Beide Seiten sehen in der Auslegung der Autonomie von der besonderen Form des Gesetzes als Imperativ und also von der Form des Sollens ab. Hierdurch abstrahieren beide Positionen von den, gemäß Kant, notwendigen Voraussetzungen der Aneignung von Autonomie, sie abstrahieren von der in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft gründenden praktischen Notwendigkeit des transzendentalen Idealismus.
4. Kant: Begriff und Gebrauch der Autonomie Im Folgenden wird kurz umrissen, welche systematischen Unterscheidungen gemäß Kant notwendig sind um den Begriff der Autonomie widerspruchsfrei denken zu können (i). Im Anschluss soll gezeigt werden, dass Kant diese Unterscheidungen in Anspruch nimmt, ohne auf die darin enthaltene Verkehrung zu reflektieren (ii).
24 Vgl. zur Differenz von Begriff und Natur des Menschen bei Kant das 1. Hauptstück der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.
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4.1 Begriff der Autonomie des Menschen Kant unterscheidet im Praktischen zwischen objektiven Grundsätzen, Begriffen und Gefühlen einerseits und subjektiven Grundsätzen, Begriffen und Gefühlen andererseits.25 Dies heißt für endliche Wesen, da das objektive Gesetz ihm als Imperativ erscheint, ist dieses Gesetz ein Gesetz der Pflicht. Im Begriff der Pflicht artikuliert sich gemäß Kant die Einheit von Unterwerfung und Selbstgesetzgebung. Denn so fern ist zwar keine Erhabenheit an ihr [der die Pflicht erfüllenden Person, Anm. S. B.], als sie dem moralischen Gesetze unterworfen ist, wohl aber, so fern sie in Ansehung eben desselben zugleich gesetzgebend und nur darum ihm untergeordnet ist.26
Die Unterwerfung ist die Unterwerfung unter den eigenen Begriff, der in der Pflicht als Sollen erscheint. Dieselbe Einheit von Unterwerfung und Selbstgesetzgebung im Gesetzesverhältnis zeigt sich nun auch im Begriff der Achtung. Das Gesetz ist, indem es im Gegensatze mit dem subjektiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung, und, indem es ihn sogar niederschlägt, d. i. demütigt, ein Gegenstand der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls.27
Das durch das Gesetz gewirkte Vernunftgefühl der Achtung ist a priori zugleich Demütigung, „intellektuelle Verachtung“.28 Die Herabsetzung der sinnlichen Seite ist zugleich die Erhebung der intellektuellen Seite. Die negative Wirkung auf die unmittelbare Sinnlichkeit ist zugleich positive Wirkung. Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz, doch als mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft angetan wird, verbunden, ist nun die Achtung fürs Gesetz.29
Das moralische Gefühl der Achtung beschreibt dieselbe Einheit von Unterwerfung und Selbstgesetzgebung, welche auch im Begriff der Pflicht vorgestellt wird. Das Gesetz ist selbstgegeben, indem das Selbst sich ihm unterwirft. Das Gefühl der Achtung ist erhebend, indem es zugleich Unterwerfung ist. D. h. die Momente von Selbstgesetzgebung und Unterwerfung erscheinen, wenn das Gesetz als Imperativ und die Triebfeder als Achtung erscheinen. Die darin enthaltene
25 Diese in der Analytik der reinen praktischen Vernunft entwickelten Differenzierungen sind allein auf endliche Wesen anwendbar. Gott hat keine Maxime, er erkennt nicht durch die Begriffe von Gut und Böse, er hat keine Achtung. 26 KANT, Grundlegung, AA 4, 440. 27 KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 73. 28 Ebd., 75. 29 Ebd., 80.
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Differenz erscheint auf der Seite des Gesetzes als Sollen, auf der Seite der Sinnlichkeit als Schmerz.30 Bekanntlich verteilt Kant diese beiden gegenläufigen Momente in seiner Systematik auf zwei „Welten“, „Standpunkte“ bzw. Formen des „Selbst“. Die Funktion des transzendentalen Idealismus besteht im Praktischen, wie im Theoretischen, in der Widerspruchsvermeidung, ohne ihn lässt sich der Begriff der Pflicht und damit alle bisher genannten Unterscheidungen nicht denken. Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt, und erkennen die Autonomie des Willens, samt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig.31
Nun sind diese beiden Standpunkte für Kant keinesfalls gleichrangig. Im „eigentlichen“, intelligiblen Selbst32 fällt die Eigenbestimmtheit der Vernunft und des individuellen Selbst scheinbar unmittelbar zusammen.33 Hier findet kein Sollen und keine Unterwerfung statt. Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt, und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.34
Am deutlichsten zeigt sich die Zuordnung beider Momente sowie die praktische Notwendigkeit des transzendentalen Idealismus in der Einführung des Begriffs einer Pflicht gegen sich selbst. Wenn das verpflichtende Ich mit dem verpflichteten in einerlei Sinn genommen wird, so ist Pflicht gegen sich selbst ein sich widersprechender Begriff. Denn in dem Begriffe der Pflicht ist der einer passiven Nötigung enthalten (ich werde verbunden). Darin aber, daß es eine Pflicht gegen mich selbst ist, stelle ich mich als verbindend, mithin in einer aktiven Nötigung vor (Ich, eben dasselbe Subjekt, bin der Verbindende); und der Satz, der eine Pflicht gegen sich selbst ausspricht (ich soll mich selbst verbinden), würde eine Verbindlichkeit verbunden zu sein (passive Obligation, die doch zugleich, in demselben Sinne des Verhältnisses, eine aktive wäre), mithin einen Widerspruch enthalten. – Man kann diesen Widerspruch auch dadurch ins Licht stellen: daß man zeigt, der Verbindende (auctor obligationis) könne den Verbundenen (subiectum obligationis) jederzeit von der Verbindlichkeit (terminus obligationis) lossprechen; mithin (wenn beide ein und dasselbe Subjekt sind), er sei an eine Pflicht, die er sich auferlegt, gar nicht gebunden: welches einen Widerspruch enthält.35
Vgl. ebd., 73. KANT, Grundlegung, AA 4, 453. 32 Vgl. ebd., 457. 33 „Als bloßen Gliedes der Verstandeswelt würden also alle meine Handlungen dem Prinzip der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäß sein“ (ebd., 453). 34 Ebd., 455. 35 KANT, Metaphysik der Sitten, 417. 30 31
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Die Widerspruchsfreiheit des Begriffs der Pflicht gegen sich selbst erfordert die Verteilung der aktiven Nötigung auf das homo noumenon und der passiven Nötigung auf das homo phaenomenon. Die Widerspruchsfreiheit des Begriffs der Pflicht erfordert, „daß der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet)“ werden muss.36 4.2 Gebrauch der Autonomie Die Einheit des autonomen Aktes in der Form der Pflicht, d. i. die Einheit von Selbstgesetzgebung und Unterwerfung, machte die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Notwendigkeit notwendig, ohne diese Unterscheidung wäre der Begriff der Autonomie selbst widersprüchlich. Beide Momente/Welten/ Standpunkte/Selbste gründen also in einem Akt, in diesen treten beide allererst überhaupt auseinander. Auf der einen Seite finden sich die subjektiven Grundsätze, Begriffe und Gefühle, in ihnen zeigt sich Autonomie als Unterwerfung – lat. subjectum, das Daruntergeworfene –, auf der anderen Seite finden sich die objektiven Grundsätze, Begriffe und Gefühle – lat. objectum, das Entgegengeworfene –, in ihnen zeigt sich Autonomie als Pflicht. Das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt im autonomen Akt, von eigentlichem noumenalen Ich und uneigentlichen phänomenalen Ich, erscheint daher bei Kant stets als Einheit von Unterwerfung und Pflicht. Selbst und Gesetz sind nicht bloß äußerlich verbunden. In der Individuation, d. h. in der Formulierung der obersten Maxime als Einheitsprinzip des Selbst, wird das allgemeine Gesetz als Gesetz für das Selbst und zugleich wird für das Selbst die Frage nach seiner obersten Maxime und damit nach der Form der Einheit seines Selbst. Da das Selbst durch das Auseinandertreten von Gesetz und Selbst in ein Selbstverhältnis eintritt, ist gesetzt, dass das Selbst sich sowohl zum Gesetz als auch zu sich selbst verhalten muss. Das Verhältnis des Selbst zum Gesetz ist zugleich Verhältnis des Selbst zu sich selbst. In der kantischen Systematik ist dies der Ort der Dialektik. Hier tritt die Vernunft bzw. das Subjekt, welches von dieser Gebrauch macht, in ein Selbstverhältnis ein. In der Dialektik wird das Verhältnis zwischen richtigem und falschem Gebrauch und also des richtigen und falschen Selbstverhältnisses des Subjekts wie der Vernunft dargelegt. Gemäß der Lehre von der Unvermeidbarkeit des transzendentalen Scheins ist dieses Verhältnis zunächst immer ein verkehrtes. Das Selbstverhältnis des Menschen ist faktisch zunächst immer ein verkehrtes Selbstverhältnis. Da Selbst und Gesetz überhaupt auseinandertreten und damit in ein gegenseitiges Verhältnis treten, welches sich als ein verkehrtes Verhältnis erweist, sind alle Momente der Entzweiung stets auch von sich entzweit sind. Dies zeigt sich u. a. anhand folgender Formen: 36
Ebd., 418.
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(a) Im Auseinandertreten von objektiven und subjektiven praktischen Grundsätzen, von Gesetz und Maxime, entzweien sich beide zugleich von sich selbst. Das Gesetz erscheint als Imperativ und die oberste Maxime erscheint als böse Maxime, welche die sittliche Ordnung der Triebfedern verkehrt. Die Form des Gesetzes als Imperativ und die Form der Maxime als böse Maxime sind notwendig aufeinander bezogen.37 (b) Damit, alle Imperative artikulieren ein Sollen, treten auch Sollen und Wollen auseinander.38 Das Sollen des Imperativs bezieht sich auf das faktisch falsche Wollen der obersten verkehrten Maxime. Der Imperativ sagt also, welcher durch mich mögliche Handlung gut wäre, und stellt die praktische Regel in Verhältnis auf einen Willen vor, der darum nicht sofort eine Handlung tut, weil sie gut ist, teils weil das Subjekt nicht immer weiß, daß sie gut sei, teils weil, wenn es dieses auch wüßte, die Maximen desselben doch den objektiven Prinzipien einer praktischen Vernunft zuwider sein könnten.39
Daher gründet die Erfüllung des Gesetzes ursprünglich im Wollen und erscheint erst als Sollen, wenn diesem ein „Hindernis“ entgegensteht. Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabte Wesen? Ich will einräumen, daß mich hiezu kein Interesse treibt, denn das würde keinen kategorischen Imperativ geben; aber ich muß doch hieran notwendig ein Interesse nehmen, und einsehen, wie das zugeht; denn dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre; für Wesen, die, wie wir, noch durch Sinnlichkeit, als Triebfedern anderer Art, affiziert werden, bei denen es nicht immer geschieht, was die Vernunft für sich allein tun würde, heißt jene Notwendigkeit der Handlung nur ein Sollen, und die subjektive Notwendigkeit wird von der objektiven unterschieden.40
Wenn die Vernunft ohne Hindernisse praktisch wäre, wäre das Sollen ein Wollen.41 Gemäß Kant ist die Ethik des Sollens ursprünglich eine Ethik des Wollens. Vor der Verkehrung des Selbstverhältnisses ist sie dies gewesen und nach der Wiederherstellung wird sie dies wieder sein. Die Rede von der Sinnlichkeit als Diesen notwendigen gegenseitigen Bezug beider Formen aufeinander sowie die darin enthaltene Selbstentfremdung des Selbst im Bösen stellt auch Gobsch heraus. Vgl. WOLFRAM GOBSCH, Autonomy and radical evil: a Kantian challenge to constitutivism, in: Philosophical Explorations. An International Journal for the Philosophy of Mind and Action 22 (2019) 194– 207. 38 Für den heiligen Willen hingegen kann das Gesetz nicht als Imperativ erscheinen, diese Differenz ist für ihn nicht: „das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist.“ KANT, Grundlegung, 414. 39 Ebd. 40 Ebd., 449. 41 Kant geht hier scheinbar noch davon aus, dass bloße Sinnlichkeit genügt, um als „Hindernis“ die Differenz von Sollen und Wollen zu erklären. Dass dies nicht der Fall ist, erklärt er in Religionsschrift. Die Sinnlichkeit ist eine Anlage zum Guten, d. h. die Sinnlichkeit ist als Sinnlichkeit kein Hindernis. 37
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Hindernis verweist wiederum auf die Verkehrung des Selbstverhältnisses des sinnlichen Selbst. (c) Wie objektive und subjektive Grundsätze auseinandertreten und dann zunächst in einem verkehrten Verhältnis stehen, so treten auch zwei Formen der Sinnlichkeit auseinander und stehen in einem verkehrten Verhältnis. Das ursprüngliche Wollen als die Gesinnung der praktischen Liebe verkehrt sich in die Achtung einerseits und die Eigenliebe des Menschen in den Eigendünkel andererseits. Die Achtung enthält als solche ein „Bewußtsein eines kontinuierlichen Hangs zur Übertretung“ und zugleich ein „Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetz.“42 Das Gefühl der Achtung artikuliert damit, im Gegensatz zur Liebe, eine „innere Weigerung des Willens gegen das Gesetz“.43 Und auch die Eigenliebe des Menschen, als Prinzip seines sinnlichen Selbst, verkehrt sich selbst in den Eigendünkel, da sie „sich gesetzgebend und zum unbedingten praktischen Prinzip macht.“44 Auch hier sind beide Formen der Entzweiung aufeinander bezogen, die Achtung ist nichts anderes als die Negation des Eigendünkels.45 Gleichwohl soll sich die Achtung, durch die Vollendung der Gesinnung, wieder in Liebe verwandeln, wie auch das Gesetz dann die Form des Imperativs ablegen würde.46 So wie das Sollen ursprünglich und eigentlich ein Wollen ist, so ist die Achtung ursprünglich und eigentlich ein Lieben. Da das ursprüngliche Wollen als nötigendes Sollen erscheint, erscheint das selbstgegebene Gesetz als Unterwerfung fordernd und das selbstgewirkte Gefühl der Achtung erscheint als Abbruch der Selbstliebe. Im Gegensatz hierzu erscheint die Heteronomie des Eigendünkels als selbstgegebenes unbedingtes praktisches Prinzip. Im Begriff der Pflicht selbst ist die Verkehrung des Selbstverhältnisses des Menschen artikuliert, da er das durch das Pflichtgesetz geforderte „eben nicht gerne, sondern nur aus Achtung“47, nicht aus „bereitwilliger Ergebenheit“48, „nicht aus freiwilliger Zuneigung“49 erfüllt. KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 128, KANT, Grundlegung, 401. Ebd., 84. Die im Gefühl der Achtung enthaltene Differenz zwischen der individuellen Willensbestimmung und dem allgemeinen Gesetz zeigt sich auch in ihrem doppelten Gegenstand: „Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werte, der meiner Selbstliebe Abbruch tut“ (ebd., 401). In diesem Abbruch der Selbstliebe ist der eigene vollendete Wille Gegenstand der Achtung. „Unser eigener Wille, so fern er, nur unter der Bedingung einer durch seine Maximen möglichen allgemeinen Gesetzgebung, handeln würde, dieser uns mögliche Wille in der Idee, ist der eigentliche Gegenstand der Achtung“ (ebd., 440). Zugleich ist das selbstauferlegte Gesetz Gegenstand der Achtung: „Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz, und zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich notwendig auferlegen.“ (Ebd., 401). 44 KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 74. 45 Vgl. ebd., 73. 46 Vgl. ebd., 84. 47 Ebd., 83. 48 Ebd., 84. 49 Ebd., 84. 42 43
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D. h., dass die Vernunft im Menschen nicht ohne Hindernisse praktisch ist, liegt nur scheinhaft in seiner Sinnlichkeit, denn der Mangel der Übereinstimmung mit dem Gesetz kann allein in einer „realiter entgegengesetzten Bestimmung der Willkür, d. i. einer Widerstrebung derselben“,50 einer sich im Gefühl der Achtung artikulierenden „inneren Weigerung des Willens gegen das Gesetz“ gründen. Das einzige Hindernis der Vollendung der Gesinnung und damit des Selbst ist das Selbst selbst. Im Sollen des Gesetzes erscheint dem Menschen das Sollen seines eigenen Begriffs und damit die Stufe seiner sittlichen Entwicklung.
5. Schluss Wie gezeigt werden konnte, ist es für das Verständnis der kantischen Konzeption der Autonomie entscheidend, dass dieses im Falle des Menschen auf ein zweites Gesetz, das Gesetz der Selbstliebe, welches für die reine praktische Vernunft eine Gesetz der Heteronomie ist, verwiesen ist. Damit ist zugleich die Notwendigkeit gesetzt, beide Gesetze in ein Verhältnis zu setzen, welches objektiv in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft sowie subjektiv in der intelligiblen Tat geschieht. Gemäß Kant, dies enthält seine Lehre vom transzendentalen Schein sowie die Lehre vom radikal Bösen, ist dieses Verhältnis im Falle des Menschen stets ein bereits verkehrtes Selbstverhältnis: Denn, so früh wir auch auf unsern sittlichen Zustand unsere Aufmerksamkeit richten mögen, so finden wir: daß mit ihm es nicht mehr res integra ist, sondern wir davon anfangen müssen, das Böse, was schon Platz genommen hat […], aus seinem Besitz zu vertreiben: d. i. das erste wahre Gute, was der Mensch tun kann, sei, vom Bösen auszugehen, welches nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime, und also in der Freiheit selbst zu suchen ist.51
Da im Diskurs zum Paradox der Autonomie dieser Bezug auf ein zweites Gesetz fehlt, kann auch die Dialektik der reinen praktischen Vernunft in diesem keinen Ort haben. Die dargestellten Seiten des Paradoxes, die aktive Nötigung als legislative Vorstellung der Autonomie und die passive Nötigung als exekutive Vorstellung der Autonomie, können daher nicht mehr als Seiten einer primären Verkehrung, als Seiten der Dialektik begriffen werden. Weder die legislative Vorstellung der Autonomie, das individuelle Subjekt als Urheber des Gesetzes und also die Verfügbarkeit der Selbstgesetzgebung, noch die exekutive Vorstellung der Autonomie, das individuelle Subjekt als durch das Gesetz verpflichtetes und unterworfenes und also die Unverfügbarkeit der Selbstgesetzgebung, haben einen Bezug auf den Gerichtshof der Vernunft, d. h. weder auf seine Notwendigkeit als auch seine Auflösung, und damit auf die judikative 50 51
KANT, Religionsschrift, 22. Ebd., 57.
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Funktion der Autonomie. Die Vernunft ist nicht nur durch eigene Gesetze bestimmt, sie ist auch ihr eigener Richter. Daher tritt auch die Frage nicht mehr auf, weshalb überhaupt zwei entgegengesetzte Bestimmungen – Unterwerfung und Selbstgesetzgebung – erscheinen, und weshalb sie ineinander verkehrt sind, weshalb die Selbstgesetzgebung des (eigenen) Willens als Unterwerfung und die Unterwerfung unter das heteronome Gesetz der Selbstliebe als Selbstgesetzgebung erscheint. Da das Paradox der Autonomie an der Unbestimmtheit der kantischen Rede vom Selbst und also an der Unbestimmtheit der Individuation ansetzt, wurde versucht darzulegen, dass Kants Lehre vom verkehrten Selbstverhältnis des Menschen ein Schlüssel zum Verständnis der Individuation bei Kant ist. Die Frage nach der Individuation und nach dem Bösen sind nicht unabhängig voneinander. Die ursprüngliche Verkehrung des Selbstverhältnisses des Menschen, seine Natur im Gegensatz zu seinem Begriff, zeigt sich in der Verkehrung seiner Anlagen. Dass das Gesetz als Imperativ erscheint, zeigt das Verhältnis des Subjekts zum Gesetz, seine ursprüngliche Stellungnahme, an, dass unbedingte Gesetz nicht als unbedingtes Gesetz anzusehen. Dass die Sinnlichkeit als Hindernis erscheint, zeigt das Verhältnis des Subjekts zur Sinnlichkeit, seine ursprüngliche Stellungnahme, an, den bedingten Grundsatz nicht als bedingten Grundsatz anzusehen. In der intelligiblen Tat manifestiert sich damit die Differenz zwischen zwei Formen der Autonomie. Der allgemeinen Eigenbestimmtheit der reinen praktischen Vernunft bzw. der allgemeinen Selbstgesetzgebung des Willens überhaupt einerseits, und der individuellen Selbstbestimmung andererseits. Die Individuation vollzieht sich angesichts des Gesetzes, genauer angesichts der Aufgabe der Bestimmung des individuellen Verhältnisses beider Gesetze und dies ist ein Vollzug der Verkehrung der allgemeinen Ordnung der Gesetze. Das zurechenbare individuelle Selbst „entsteht“ im Vollzug der Verkehrung der allgemeinen Ordnung seiner Anlagen.52 52 Die kantische Rede von den Anlagen des Menschen in der Religionsschrift transformiert damit die Begriffskonstellationen der Grundlegung. Sind in der Grundlegung das intelligible Selbst und sein Wille gut, das empirische Selbst böse und begründet sich das Sollen aus ihrem Verhältnis, so ist hingegen in der Religionsschrift die Differenz von Gut und Böse stets auf die richtige Ordnung der Anlagen bezogen, wodurch die Differenz von Gut und Böse letztlich allein auf den Bereich des Intelligiblen angewandt werden kann. Der Fortschritt dieser Konzeption liegt in der Überwindung des Scheins, dass die Abweichung vom Gesetz sich in der bloßen Endlichkeit oder Sinnlichkeit, welche als „Hindernis“ erscheint, des Subjekts begründen lässt. Alle Anlagen sind Anlagen zum Guten und also als solche weder gut noch böse. Allein das Verhältnis des Selbst zu seinen Anlagen kann gut oder böse sein. Noch genauer ist es nicht das Verhältnis des Selbst zu seinen Anlagen, sondern das (subjektive) Verhältnis zum (objektiven) Verhältnis der Anlagen – der sittlichen Ordnung der Triebfedern –, welches gut oder böse genannt werden kann. Die Begriffe von Gut und Böse beziehen sich damit auf das Verhältnis der Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung des Subjekts mit sich selbst. Darin ist es erst ein Verhältnis, welches sich zu sich selbst verhält, und also ein Selbst. Das Sollen und damit die Pflicht
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Genau diese Konsequenz, die Verknüpfung von Individuation und dem Bösen, muss Kant aber zurückweisen, denn diese Notwendigkeit des Widerspruchs hieße nichts Anderes als, dass der Mensch sich nicht mehr als Vernunftwesen vorstellen kann. Daher trennt Kant das Faktum der Vernunft, welches scheinbar bereits Zurechenbarkeit und also Individualität überhaupt eröffnet, vom Faktum des Bösen, welches dann scheinbar allein die konkrete Bestimmung des Individuums beschreibt. Damit werden die Konstitution der Vernunft und der Begriff des Menschen von ihrem konkreten Gebrauch und ihrer Anwendung getrennt. Das Paradox der Autonomie wird begrifflich vermieden und faktisch konstatiert. Hierdurch wird es möglich, dass Autonomie und Individuation einerseits wesentlich unbegreiflich sind und hierdurch ihre begriffliche Widerspruchsfreiheit gesichert wird, und andererseits beide für uns faktisch widerspruchsvoll sind. Damit entwickelt Kant den Zusammenhang von Freiheit, Individuation und dem Böse als faktischen aber nichtbegrifflichen. Ihr konstitutiver Zusammenhang wird auf einen bloß faktischen und also überwindbaren reduziert. Das Böse bleibt für die autonome Vernunft letztlich eine Äußerlichkeit.53 Dieser Versuch der Auslegung und damit der Aneignung des kantischen Begriffs der Autonomie zeigt, dass diese allein durch die Dialektik hindurch und dies heißt des transzendentalen Scheins im Praktischen und des faktisch Bösen gelingen kann. Schon für Kant ist die Aneignung der Autonomie faktisch allein durch ihren Verlust und damit nur durch die Überwindung von Formen der Heteronomie hindurch möglich. Dies heißt, dass auf dem Weg der Aneignung der Autonomie durch den Menschen notwendig die Selbstmissverständnisse in Gestalt der rein subjektiven Willkür einerseits und der absoluten Heteronomie sind so direkt auf ein verkehrtes Selbstverhältnis bezogen, d. h. die Pflicht gegen sich selbst auf ein Lügen gegen sich selbst. Gleichwohl bleibt für Kant auch hier dieser faktische Zusammenhang eine begriffliche Äußerlichkeit. So wie in der Grundlegung das intelligible Selbst außerhalb des Bösen zu stehen scheint, ist nun die Anlage zur Persönlichkeit keines Missbrauchs fähig. 53 Gegen diese Trennung werden vor allem Schelling und Hegel argumentieren. Vgl. SEBASTIAN GARDNER, Die Metaphysik der menschlichen Freiheit. Von Kants transzendentalem Idealismus zu Schellings Freiheitsschrift, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 65 (2017), 211–238. Auch für Hegel ist der von ihm entwickelte konstitutive Zusammenhang von Freiheit, Zurechenbarkeit und dem Bösen entscheidender Differenzpunkt zu Kant. Die Individuation vollzieht sich in der notwendigen Abkehr vom Allgemeinen. Prägnant heißt es: „Bösesein heißt abstrakt, mich vereinzeln; die Vereinzelung, die sich abtrennt vom Allgemeinen; dies ist das Vernünftige, die Gesetze, die Bestimmungen des Geistes“ (GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, TWA 17, 257). Wenn Hegels Philosophie auch eine Antwort auf den „Widerspruch“ des Begriffs der Autonomie ist (DIETER HENRICH, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Kant, hg. von Gerold Prauss, Köln 1973, 249), dann derart, dass die bei Kant noch vorhandene begriffliche Möglichkeit der Vermeidbarkeit der Dialektik und damit des Bösen beseitigt wird. In der von Kant aus systematischen Gründen festgehaltenen begrifflichen Möglichkeit der Autonomie ohne Antinomie erkennt Hegel eine festgehaltene Unmittelbarkeit des Selbst.
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des Objektiven andererseits auftreten müssen und dieser Weg notwendig zu bestreiten ist. Die menschliche Vernunft hat hier, wie allerwärts in ihrem reinen Gebrauche, so lange es ihr an Kritik fehlt, vorher alle mögliche unrechte Wege versucht, ehe es ihr gelingt, den einzig wahren zu treffen.54
Die Notwendigkeit der paradoxen Aneignung der Autonomie richtet sich damit wider den Schein von unmittelbarer und damit bloß scheinhafter Autonomie. Gemäß Kant ist die Aneignung der Auto-nomie ohne die Anti-nomie des Menschen faktisch unverständlich.
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KANT, Grundlegung, 440.
Kant und der Skandal des Idealismus ALEXANDRE LISSNER
1. Einleitung Die Philosophie strebt danach, uns vom Bösen durch das Denken zu befreien. Notwendigerweise ist dieses Böse also immer mit einem Mangel oder einer Verwirrung des Denkens verbunden. Jede Philosophie zeichnet sich durch die ontologische Ausprägung des von ihr identifizierten Bösen und durch die Natur der reflexiven Mittel aus, die sie einsetzt, um es zu besiegen. Dies lässt auch die Identifizierung des Bösen mit dem Denken selbst und die Abschaffung der Reflexivität als Mittel zu. Der Erfolg einer Philosophie bemisst sich also an ihrem Vermögen, die Ohnmacht, die sie konfrontiert, zu integrieren. Gelingt es ihr nicht, so bleibt die Befreiung äußerlich und ihr fehlt es an Wirksamkeit. Wir trachten danach, uns durch das Denken von einem Denken zu befreien, das uns behindert. Es ist paradox, Kant als wichtigen Vertreter des Deutschen Idealismus einerseits anzunehmen, und andererseits festzustellen, wie sehr es ihn beunruhigt, zu den Idealisten gezählt zu werden.1 Idealismus überhaupt stellt für Kant keine Geistestradition dar, zu der der transzendentale Idealismus gehört. Es handelt sich bei ihm eher um eine abwertende Bezeichnung, die eine Philosophie disqualifizieren soll. Der Idealist ist wie der Spinozist im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Figur des Hochmuts geworden. Er stellt, wenn man will, eine Art Sündenfall des Denkens dar, gegen den sich das Denken unbedingt schützen muss. Gibt es böse Philosophen? Es geht hier nicht darum, Individuen moralisch zu beurteilen, deren Wille den Verstand pervertieren und in den Dienst von bösen Zwecken stellen könnte, sondern darum, zu fragen, ob es überhaupt möglich ist, dass die reflexive Aktivität an sich böse sein kann. Gibt es also eine spekulative Bösartigkeit? Per Definition darf der böse Philosoph nicht der unreflektierte 1 Idealismus ist für Kant keine Gattung, unter der wir den kritischen Idealismus neben anderen Arten des Idealismus einordnen können. Der kritische bzw. transzendentale Idealismus widersetzt sich als „formal“ dem materiellen bzw. empirischen Idealismus. Unter diesem materiellen Idealismus versteht Kant Arten, die sich vom skeptischen bzw. problematischen Idealismus (Descartes) bis hin zum dogmatischen bzw. mystischen Idealismus (Berkeley) erstrecken.
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Schlafwandler2 sein. Sollte er existieren, wäre er vielmehr der Entschlossene, den man fürchtet, als ob es für den Philosophen neben dem Mangel an Reflexion einen Gebrauch ihrer geben könnte, der zu radikal wäre. Diese seltsame Möglichkeit erscheint zum ersten Mal mit dem Bemühen Platons, die Philosophie von ihrem sophistischen Schatten zu unterscheiden. Der Dialog Der Sophist etabliert auf meisterhafte Art und Weise, dass die rationale Gewalt des Sophisten kein zufälliger Fehler ist, den man in einer geschlossenen ontologischen Region unter Quarantäne stellen könnte,3 sondern der Protest gegen die Rechtmäßigkeit jedweder Regionalisierung selbst. Sie zwingt die Vernunft dazu, sich zu dialektisieren, um zu vermeiden, bei einer bloß unmittelbaren, ohnmächtigen Einheit zu bleiben. Ohne die Radikalität dieser Gewalt verwandelt sich die Selbstzufriedenheit der Vernunft in Einseitigkeit. Der wahrhaft Böse in der Philosophie ist also nicht derjenige, dem der Wille fehlt, das Gute zu schaffen, sondern derjenige, der in der Vorstellung des Guten einen Mangel an Willen anprangert. Weder widerspricht noch verweigert er das Ideal an sich, noch weniger vergisst er das Sollen, sondern er erinnert daran, dass hinter der vermeintlichen Selbstverständlichkeit des Ideals eine verborgene Begierde steckt, eine Macht der Unbestimmtheit, die man nicht länger verschütten kann. Er offenbart die Pseudoherrschaft überhaupt, er enthüllt die Schwäche einer Zustimmung, die am liebsten die Freiheit vergessen würde, die sie überhaupt erst ermöglicht hat. Kurz gesagt: Der Böse in der Philosophie zwingt immer dazu, das Denken in die Richtung zu orientieren, in der die Freiheit der Trägheit der Bestimmung widersteht. So sehr, dass man durchaus sagen kann, dass Platon ohne die Ironie des Sokrates den Sophisten nichts als einen harmlosen moralisierenden Dogmatismus entgegensetzen hätte können; dass eine Philosophie, die sich nicht mit der übergriffigen Begierde, die in jeder Vernunft eingeschrieben ist, auseinandersetzt, ein bloßer Katechismus ist.
2. Die Unschuld des Dogmatismus In der Vernunft liegt eine Liebe zur Transzendenz. Wir lieben es, Evidenzen aufzulösen, sobald wir einsehen, dass wir sie selbst geschaffen haben. Diese Neigung zur Überschreitung ist Kant keineswegs fremd. Er findet in ihr sogar eine Der Besitz des Logos durch den Philosophen zeichnet sich laut Heraklit durch die Intensität seiner Wachsamkeit aus: „Den anderen Menschen aber entgeht, was sie im Wachen tun, genau wie das, was sie im Schlaf vergessen.“ (HERAKLIT, Fragment 2, in: Die Vorsokratiker, hg. von Jaap Mansfeld/Oliver Primavesi, Stuttgart 2012, 248–289). Allgemein ist das Böse in der vorchristlichen Philosophie nach dem Vorbild des Vergessens zu verstehen. 3 Das wäre die Lösung von Parmenides, der den Weg des Nichtseins einen „völlig unerfahrbare[n] Pfad“ nennt (PARMENIDES, Fragment 6, in: Die Vorsokratiker, hg. von Jaap Mansfeld/ Oliver Primavesi, Stuttgart 2012, 290–341). 2
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schicksalhafte Liebe.4 Diese verändert sich gravierend im Laufe der kritischen Arbeit. Zunächst erscheint sie als Trieb der reinen Vernunft. In diesem liegt die Gefahr, den Philosophen genauso zu verwirren wie den Seefahrer, der am Ende der transzendentalen Analytik es kaum erwarten kann, „das Land des reinen Verstandes“, „das Land der Wahrheit“ für den „weiten und stürmischen Ozean“ zu verlassen.5 Warum riskieren, alles zu verlieren, wenn man schon über solch einen sicheren Boden verfügt? „Dieses Land aber ist eine Insel“,6 schreibt Kant. Wie kann die Wahrheit eine bloße Insel sein? Und wie wertvoll kann eine Wahrheit sein, die uns einen Aufenthaltsort zuweist? Wird sie nicht schon unwirklich, sobald wir unseren Blick auf den Horizont richten? Liegt in unserer Begierde nicht mehr Wahrheit als in diesem Land, das „wir durchmessen und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt“ haben?7 Aber wenn der Seefahrer sich einfach nur nach „neuen Ländern“ sehnt,8 wenn er sich bloß etwas Identisches anzueignen sucht, was hat er dann zu gewinnen? Wenn er das Land für den Ozean verlassen will, kann es für Kant eigentlich nur heißen, dass er neue Karten von neuen Ländern zeichnen möchte, die außerhalb der Möglichkeit der Erfahrung leider nur noch erträumt werden können. Besteht das Schicksal des Philosophen darin, ein Geograph zu sein? In jedem Fall muss sich der „Trieb“ im Kanon der Kritik der reinen Vernunft in einen „Hang“ verwandeln, der in dem praktischen Gebrauch seine Wahrheit findet und damit die Kartographie der reinen Vernunft vervollständigt. Das ist also das Schicksal dieser Liebe zur Metaphysik: Sie wird zunächst von der transzendentalen Reflexion in eine gewissenhafte Erdkunde verwandelt. Was der Steuermann auf dem Ozean oder die Taube im luftleeren Raum sucht, ist, die Begierde des Jenseits immer im Horizont einer möglichen Welt zu befriedigen. Anders ausgedrückt: Das Transzendental soll uns von unserer Leidenschaft für das Transzendente heilen. Der böse Idealist zeigt sich zuerst hinter der Maske des unschuldigen dogmatischen Metaphysikers. Dieser verdammt uns zwar dazu, umherzuirren, indem sein erfolgloser Versuch, die Objektivität zu erweitern, dazu führt, die Vorstellung insgesamt zu entwirklichen, aber seine Absicht ist nicht böse, weil er auch gern abgrenzt, weil er auch gern ein Objekt in seiner Vorstellung fassen möchte. Bei ihm ist die Grenzenlosigkeit eher das Resultat einer Unvorsichtigkeit als einer Radikalität. Diese Unvorsichtigkeit überlässt schließlich die Vernunft der ozeanischen Gewalt einer bodenlosen Vorstellung. Trotzdem gehört diese Begierde Kant zufolge zur Natur der Vernunft selbst. Die spezielle Metaphysik 4 „Die Metaphysik, in welche [er] das Schicksal ha[t] verliebt zu sein“, (IMMANUEL KANT, Träume eines Geistersehers, Hamburg 1975, 62) trägt in einen Bereich, der den der sicheren Erfahrung übersteigt. 5 IMMANUEL KANT, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998, 336. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd.
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entsteht aus dem Exzess der Kategorien der Relation über die mögliche Erfahrung hinaus. Die transzendentale Illusion lässt sich durch den Versuch erklären, den intelligiblen Gegenstand mit den Werkzeugen zu fassen, welche die Objektivität der Erscheinung bestimmen sollen. Der Dogmatiker irrt sich, während er glaubt, das Richtige zu tun. Daraus folgt eine Ökonomie des vernünftigen Triebs, den die transzendentale Reflexion in zwei Richtungen bearbeiten muss. Indem die Idee einerseits Objekt einer Begierde ist, besteht ihre transzendentale Dimension in dem regulativen Horizont. Und insofern sich in ihr andererseits eine Begierde, dem Reich des Bedingten zu entkommen, offenbart, führt sie zur praktischen Vernunft. Im Grunde entfaltet sich die spezielle Metaphysik im Einflussbereich des „für uns“, wobei sie die transzendentalen Prämissen desselben ignoriert. Sie ist die Kindheit einer Vernunft, die die Befriedigung dieses Anspruchs auf das Unbedingte mit der Befriedigung, ein Etwas zu sehen, verwechselt. Sie sehnt sich nach einem unbedingten Objekt in der Idee, obwohl diese bloß das reine Gesetz der Verwirklichung dieses Objekts bzw. die reine Form der Objektivität liefert. Zunächst alleinig regulativer Horizont für die theoretische Erkenntnis, erhält sie in Bezug auf den letzten Zweck, also als Endabsicht, eine objektive Realität dem moralischen Gebrauch gemäß. Der Dogmatiker ist also nur so böse wie ein Kind, das seine Begierden für die Wirklichkeit hält. Würde man ein Kind böse nennen, wenn es stur die Existenz seines imaginären Freundes behauptet? Ohne es zu wissen, versucht es sich daran, die reine Forderung der Freundschaft subjektiv zu erfüllen. Was an sich ist, ist nicht der Freund, sondern die Idee der Freundschaft als Maßstab, dem gemäß wir unsere Erfahrungen einordnen und uns selbst das Gesetz eines freundschaftlichen Handelns geben können. Es kann seltsam anmuten, einen Philosophen Idealist zu nennen, der das Sein der Idee im Spekulativen für imaginär hält.9 Trotzdem besitzt die transzendentale Idee, obwohl sie am Ende der transzendentalen Dialektik als „eingebildeter Gegenstand“ bezeichnet wird, eine „unbestimmte Gültigkeit“.10 Ihre Funktion in Bezug auf die Vorstellung ersetzt reflexiv die substantielle Fülle, welche man von ihrer unbedingten Form erwarten würde. Was begehrt die Vernunft, wenn sie nach dem Ganzen strebt? Nicht ein absolutes Ganzes, von der man die Vorstellung als Teil oder einfache Wirkung ableiten könnte (wie bei Leibniz), sondern ein Ganzes der subjektiven Die Ideen haben „einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen“ (ebd., 710). Diese Macht des Irrealen besteht also darin, die objektive Gültigkeit zur systematischen Einheit zu bringen. Auf dieser methodologischen Bedeutung der Idee hat der Neukantianismus besonders insistiert. 10 Ebd., 725. 9
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Vorstellung, das an dem ursprünglichen Charakter der Rezeptivität festhält. Die transzendentalen und moralischen Bedeutungen der Idee bestätigen nämlich die ursprüngliche Unterscheidung zwischen Materie und Form, in der die endliche Erkenntnis gründet. Wenn die Metaphysik glaubt, diese Priorität umdrehen zu können, indem sie z. B. die Existenz aus der Essenz im ontologischen Beweis des Daseins Gottes ableitet, tut sie eigentlich nichts anderes, als diese Vorrangstellung zu stärken. Jede theoretische Behauptung eines unbedingten Objekts folgt der bedingten Form eines Bewusstseins, das durch und durch von dem Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit bestimmt ist. Indem die Reflexion in der Idee Gottes das Unendliche entdeckt, muss sie nur noch, wie im Textabschnitt zur Amphibolie zu sehen ist, die endlichen Bedingungen dieser Vorstellung des Unendlichen herausarbeiten. Die Begierde der Idee als natürliche Anlage zur Metaphysik ist also an und für sich für die kritische Philosophie kein Skandal. Die Konturen der philosophischen Reflexion definieren sich nicht mehr vom reflektierten Sein des Objekts her (wie bei Platon oder Leibniz), sondern von dem Modus Operandi für ein endliches Bewusstsein ausgehend. Die Idee besitzt also sehr wohl eine Äußerlichkeit, eine unbestimmte Gültigkeit, deren Unbestimmtheit (oder Horizont) nichts tut als die primäre Bindung der Vorstellung an ihre eigene Notwendigkeit zu bestätigen. Es geschieht also auf der Basis der Gewissheit, dass die Trennung von Materie und Form uns de facto vorausgeht, dass die transzendentale Reflexion der Idee ihre Grenzen de jure zuschreibt. Die Idee bekommt eine Bedeutung, anstatt ein Sein an sich zu besitzen. Die Idee ist dasjenige, was paradoxerweise das Jenseits in die Vorstellung verlegt und so daran hindert, dass das Unbedingte sein Wesen jenseits der Bedingungen der Vorstellung behauptet. Sie ist das Unbedingte als potentielle Form. Sie ist diese höchste Möglichkeit, die den Verstand orientiert und den Willen erleuchtet, gerade weil sie von der Gegenständlichkeit unabhängig ist.
3. Der Skandal des Idealismus Aber können wir uns in der Differenz von Möglichem und Wirklichem, im Zwiespalt von Sein und Sollen als in „unserem“ natürlichen Ort einwohnen? Wenn die Vorstellung die einzige Dimension ist, wo die Bedingungen der Wirklichkeit selbst bearbeitet werden müssen, erwartet Kant dann nicht von uns, dass wir uns mit Bildern zufrieden geben? Da die Materie auch zur Erscheinung gehört, können nur die Grenzen des Bildes, d. h. seine innerliche Synthese, einen Zugang zur Wirklichkeit garantieren. Sind wir nicht in die Vorstellung wie in ein Bild verbannt, dessen Vorbild unausweichlich abwesend ist? Wir werden der Wahrheit der Vorstellung erst wirklich zustimmen, wenn wir aufhören,
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in ihr einen ontologischen Mangel zu empfinden. Hinter dem dogmatischen Metaphysiker erscheint also nach und nach der wahrhaft Böse: der Idealist. Bei ihm geht es nicht mehr um eine illegitime Ausdehnung der endlichen Vorstellung auf ein unerreichbares Land. Im Gegensatz zum dogmatischen Metaphysiker, der mit guten Absichten handelte, stellt der Idealist im allgemeinen Sinne eine echte Gefahr für die Kritik dar. Wenn er eine Figur der philosophischen Boshaftigkeit ist, dann nicht, weil er das Dasein der äußerlichen Welt verneint, sondern weil er daran erinnert, dass das Bild bloß ein Bild ist, und – noch schlimmer –, dass wir diesem nur aufgrund eines Glaubens verhaftet sind. Darüber schreibt Kant in der zweiten Vorrede der Kritik der reinen Vernunft: Der Idealismus mag in Ansehung der wesentlichen Zwecke der Metaphysik für noch so unschuldig gehalten werden, (das er in der Tat nicht ist), so bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns (von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen, selbst für unseren inneren Sinn, her haben) bloß auf Glauben annehmen zu müssen und, wenn es jemand einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können.11
In der ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft sollte der Idealismus im vierten Paralogismus der reinen Vernunft, also auf der dialektischen Stufe in Schach gehalten werden. Indem der Subjektivität ihre illusorische Substantialität entzogen wird, indem sie sich also als reine Form des Cogitos reflexiv in einer Abhängigkeit vom Dasein der äußerlichen Dinge befindet, hatte Kant den problematischen Idealismus Descartes’ und den Spiritualismus zurückgewiesen. Die Rezension von Feder und Garve von 1782, auf welche die Prolegomena von 1783 harsch antworten, und dann die Einwände von Jacobi in seiner Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus von 1787 führen Kant dazu, seine Widerlegung des Idealismus in der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft von der Dialektik zur Analytik (Postulate des empirischen Denkens) zu verlegen. Da die Kritik des vierten Paralogismus (Paralogismus der Idealität des äußeren Verhältnisses) sich nicht auf die Kausalität des Dings an sich stützen darf, schafft sie es nicht, sich zwischen empirischem Realismus und reinem Idealismus zu entscheiden. Die äußere Wahrnehmung erfasst zwar das Wirkliche außerhalb von uns, d. h. in einer räumlichen Äußerlichkeit, aber dieser Raum ist in uns. Deshalb beschäftigt sich die zweite Ausgabe wieder mit den Vorwürfen des Idealismus aus der Perspektive der ontologischen Bedeutung, die man dem empirischen Objekt zuschreibt. Das idealistische Böse ist nicht mehr metaphysisch, sondern jetzt ontologisch. Der Idealismus will zeigen, dass die Konstitution der Objektivität selbst das Objekt jedweder ontologischen Konsistenz enteignet. Der Verzicht auf die Ontologie für eine bloß transzendentale Analytik könnte nämlich glauben machen, dass das Objekt kein wahres Sein hat. 11
Ebd., 36.
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Wer ist der Idealist? Allgemein derjenige, der in der Erfahrung nur einen Schein findet, d. h. derjenige, der das Verhältnis zur Äußerlichkeit als einen Akt betrachtet, der nicht in der Vernunft gründet. Das Dasein des Objekts der Vorstellung hat keine ontologische Konsistenz, es wird im Moment, in dem die Vorstellung es setzt, selbst verneint. Oder besser: Dadurch dass die Vorstellung in sich die Wirklichkeit des Objekts entdeckt, negiert sie dessen Sein. Deshalb betrachtet Kant diesen Idealismus als spekulativen bzw. philosophischen Egoismus und also als Nihilismus. Da das Ding an sich unerkennbar ist, ist es nicht die Aktivität des Subjekts allein, die willkürlich entscheidet, dem Objekt verhaftet zu sein, das sie selbst geschaffen hat? Diese neuen Schwierigkeiten, die von den Prolegomena nicht gelöst wurden, geben in der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft den Anlass zur Widerlegung des Idealismus. Dabei geht es darum, sich von Descartes und Berkeley zu distanzieren, ohne sich auf das Ding an sich zu beziehen, indem gezeigt wird, dass der innerliche und der äußerliche Sinn in einem notwendigen Zusammenhang stehen. Wovor soll uns diese Widerlegung schützen? Dies kann man nur bestimmen, wenn man die Identität des Idealisten genauer untersucht. Was will der Idealist? Der Realität der Existenz der Objekte im Raum widersprechen. Das wahrhaft Böse besteht hier freilich nicht in dem Risiko, aufzuhören, an die Existenz der äußerlichen Welt zu glauben. Der echte Skandal liegt darin, uns zu zwingen, zuzugeben, dass es sich dabei nur um einen subjektiven Glauben handelt. Das würde bedeuten, dass wir theoretisch der Äußerlichkeit nicht zustimmen und uns unabhängig von ihr erfassen könnten. Der aus Descartes entstandene Idealismus, von Humes Skeptizismus und Berkeleys Radikalität angereichert, macht aus der Vorstellung ein Bild ohne Bezugspunkt. Die Relativierung der Dualität von Form und Materie würde das kritische Projekt gefährden, da ihre letzte Konsequenz der Ruin der Wissenschaft und der Moral wäre. Ruin der Wissenschaft: ohne göttliche Garantie besitzt die Objektivität keine Norm der Wahrheit mehr, weil sie nicht mehr Synthese a priori, sondern willkürliche Produktion von mentalen Bildern ist. Ruin der Moral: weil wir zwischen Natur und Freiheit nicht mehr rigoros unterscheiden können.12 Wie kann man dieser desaströsen Konsequenz entgehen? Man muss zeigen, dass die Dualität weder eine bloß zufällige psychologische Erfahrung ist, noch eine reflexive Stufe, die die Spekulation überwinden könnte. Wenn wir dem Nihilismus entkommen wollen, muss diese Dualität in das Wesen der Subjektivität selbst eingeschrieben werden. Dies ist das Paradox des kritischen Idealismus: Kant will uns vor der Entwirklichung retten, indem er die Spaltung im Subjekt selbst situiert und so zeigt, dass diese Spaltung die Bedingung für den 12 Die Natur ist die Existenz der Erscheinungen als allgemeinen Gesetzen unterworfen. Sie ist der Ort des Seins im Gegensatz zum Sein-Sollen. Das moralische Verdienst erhält allein seine Bedeutung, wenn der Mensch sich durch diese Dualität versteht.
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Zugang zur Wirklichkeit ist. Die Spaltung ist dasjenige, wodurch wir sind. Der Horizont geht dem Gegebenen voraus. Die Erscheinung ist etwas Seiendes, zunächst, weil Zeit und Raum nichts Seiendes sind. Im Namen einer spekulativen Emanzipation verkennt der Idealismus Kant zufolge das Schicksal der Philosophie, das darin besteht, in der Krise zu wohnen und die Endlichkeit schließlich anzunehmen. Seinem Selbstverständnis nach will der gefährliche Idealismus von einem bloß virtuellen Denken befreien, von einer Form, die konfus und ohnmächtig bleibt. Woher soll diese Ohnmacht kommen? Von einer Unangemessenheit zwischen Form und Inhalt. Diese Unangemessenheit ist die der Erfahrung, welche nur zweitrangig in Bezug auf die primäre Substantialität des Denkens ist. Die Arbeit der Reflexion ist für den Idealismus sinnvoll, weil sie nach der Abschaffung der Arbeit in einem makellosen Schauen strebt. Warum sollten wir Denkarbeit leisten, wenn das Denken an sich nicht über die Kraft verfügte, dieser Trennung ein Ende zu setzen? Kant vollzieht eine radikale Umwertung, wenn er am Anfang der transzendentalen Analytik über die Analytik der reinen Begriffe schreibt: Wir werden also die reinen Begriffe bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstande verfolgen, in denen sie vorbereitet liegen, bis sie endlich bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt und durch eben denselben Verstand, von den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen befreiet, in ihrer Lauterkeit dargestellt werden.13
Von den empirischen Bedingungen zu befreien, bedeutet nun, einen Keim und eine Anlage zu isolieren, die auf eine empirische Gelegenheit warten. „Frei“ bedeutet also in der theoretischen Sphäre: in seiner Möglichkeit erfasst im Hinblick auf eine Andersartigkeit, im Kontakt zu welcher sich das endliche Bewusstsein aktualisiert. In dem Moment, in dem die transzendentale Logik „die Handlungen des reinen Denkens“ sich anmaßt zu isolieren, herrscht eigentlich die transzendentale Ästhetik. Handeln besteht für das reine Denken darin, sich virtuell für die Handlung vorzubereiten. Kant hat also recht, sich gegen jeden Idealismus zu verteidigen, wenn Idealismus bedeutet: die Möglichkeit der Form zu überwinden, um ihre substantielle Identität mit dem Inhalt zu etablieren. Wie sucht der Idealismus diese Identität zu realisieren? Wir haben bis jetzt eine Strategie identifiziert. Von Descartes inspiriert, nimmt dieser Idealismus eine „Subreption des hypostasierten Bewußtsein“ vor.14 Er begeht zwar den Fehler, zu glauben, dass die Identität des Bewusstseins unabhängig von ihrer bindenden Aktivität wahrgenommen werden kann, aber sein skeptisches Vorgehen steht auf vollkommene Weise im Einklang mit dem kritischen Projekt. Da dieser Idealismus, indem er mit seiner Gewalt das Objekt der Vorstellung vom Ding an sich trennt, uns dazu bewegt, dieses Objekt „in unseren Besitz aufzunehmen“, wird er für einen „Wohltäter der menschlichen 13 14
Ebd., 143. Ebd., 509.
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Vernunft“ gehalten.15 Diese Strategie setzt immer die Vorherrschaft des „uns Menschen wenigstens“, mit dem die transzendentale Ästhetik öffnet, voraus. Ist erst einmal das Endliche als methodologisch primär anerkannt, kann der cartesianische Idealismus, sei er dogmatisch oder skeptisch, von der Selbstbegründung der Vorstellung überwunden werden. Hinter diesem Idealismus der Subjektivität versteckt sich jedoch ein anderer, den man, um es kurz zu fassen, „platonisch“ nennen kann. Für diesen Idealismus impliziert der Primat der Idee, dass die Identität des Denkens und des Seins de jure der Vorstellung vorausgeht. Er gibt gerne die interne Dualität der Vorstellung zu, aber er hält diese Zusammenstellung für relativ, sekundär. Im Gegensatz zum blinden Trieb der Vernunft, welcher von der transzendentalen Reflexion zu seinem wahren Objekt geführt werden muss, ist der philosophische Eros an sich selbst reflexiv. Er ist die Begierde nach der völligen Souveränität des Denkens. Ist es nicht diese, die wir eigentlich finden wollen? Woher wissen wir, dass die Andersartigkeit der Form und der Materie ursprünglich ist? Und dürfen wir ihr das Unbedingte unterwerfen? Hier soll der erstaunliche Aspekt der kantischen Philosophie unterstrichen werden. Besteht die Aufgabe der Philosophie nicht darin, den Ort der wahrhaften Weisheit, wenn nicht zu erreichen, wenigstens zu bestimmen, und die Bedingungen herauszuarbeiten, um zu ihr zu gelangen? Und wenn diese Begierde der Anwesenheit danach strebt, alle Abgrenzungen zu zerstören, alle Äußerlichkeit als relativ zu überwinden, das Exil anzufechten, tut sie dies dann nicht deshalb, weil die Weisheit die Verwirklichung einer Identität mit sich selbst ist, die allein das Denken erschaffen kann? Diese Form des Idealismus lehnt es ab, die Unterscheidung von Form und Materie als Bedingung für das Denken anzunehmen. Er behauptet also die unauflösliche Einheit von Theorie und Praxis. Da nur das Denken verwirklicht, ist dieses allein ein wahrhaft freies Handeln. Was ist die Vorstellung für ihn? Ein schwächliches Handeln, das von der Liebe zur Endlichkeit, von der Faszination der Äußerlichkeit, geführt wird. Was wäre die Arbeit einer theoretischen Vernunft, die von der praktischen abgespalten ist? Ungefähr das, was der νοῦς des Anaxagoras für Sokrates im Phaidon bedeutet. Nachdem er die Naturphilosophen erwähnt, die die Position der Erde durch rein mechanische Ursachen erklären, sagt Sokrates: Daß sie [die Erde] aber nur so liege, wie es am besten war, sie zu legen, die Bedeutung davon suchen sie gar nicht auf und glauben auch gar nicht, daß darin eine besondere höhere Macht liege, sondern meinen, sie hätten wohl einen Atlas aufgefunden, der stärker wäre und unsterblicher als dieser und alles besser zusammenhielte; das Gute und Richtige aber, glauben sie, könne überhaupt gar nichts verbinden und zusammenhalten.16 Ebd., 491. PLATON, Phaidon, in: Ders., Werke, hg. von Gunther Eigler, Bd. 3, Darmstadt 1974, 143 (99c). Paul Natorp findet in dieser Kritik von Anaxagoras die Entfaltung des Kritizismus gegen den Dogmatismus (PAUL NATORP, Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Hamburg 2004, 153). Sokrates entdecke hier, dass der Gegenstand im Verhältnis zur Erkenntnis 15 16
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Das wäre bloß theoretische Vernunft. Und welche objektive Realität würde der freie Wille haben, der sich auf das höchste Gut bezöge und sich damit die spekulative Macht unterwirft? Die Realität, welche den „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ in der Dialektik der praktischen Vernunft annimmt. Aus diesem Primat folgen Postulate, d. h. ein reiner praktischer Vernunftglaube, also ein Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft, das auf einer Pflicht basiert.17 Die sittliche Einsicht erzeugt hier eine Absicht ohne Anschauung, sodass ein Abgrund zwischen der intelligiblen Sphäre der Freiheit und der sinnlichen Sphäre der Natur entsteht. Bis zur dritten Kritik ging es darum, dem idealistischen Bösen dadurch zu entkommen, dass gezeigt wurde, dass das Verhältnis der Vorstellung zur Äußerlichkeit vor der Zufälligkeit des Glaubens bewahrt werden kann. Aber der Skandal konnte nicht ganz getilgt werden, weil er mit der Unmöglichkeit zusammenhängt, gleichzeitig die Immanenz des Objekts in der Vorstellung und die unnachgiebige Dualität des innerlichen und des äußerlichen Sinnes zu behaupten. Entweder bleibt die Welt in unseren Vorstellungen gefangen oder es wird die Wirklichkeit des Dings an sich angenommen. Kant begründet zwar die Existenz der Vorstellung der äußerlichen Welt objektiv, aber er beweist natürlich nicht die Existenz der äußerlichen Welt an sich. Kurz gesagt: das perfekte Zusammenfallen von Erscheinung und Vorstellung kann nie ausreichend sein, um den Verdacht zu beseitigen, dass die Wirklichkeit der Äußerlichkeit nicht bloß die Wirkung eines Glaubens ist. Das cartesianische Cogito in ein kosmologisches Cogito zu verwandeln, macht keinen Unterschied. Aber wenn man den Idealismus nicht widerlegen kann, wenn die Hoffnung, dass ein Beweis der Existenz der äußerlichen Welt diesen Glauben ersetzen wird, eigentlich eitel ist, dann besteht trotzdem weiterhin die Möglichkeit, den Glauben seiner zufälligen Natur zu entledigen. Wie? Indem man diesen Glauben ausgehend von einer Meditation über die Endlichkeit versteht, indem man die Liebe für diese verabsolutiert.
4. Das Erhabene und das Endliche Die Metaphysik als natürliche Anlage drängt uns dazu, die Möglichkeit der Erfahrung zu übersteigen. Das Denken in uns sehnt sich nach einer Präsenz, die nie gegeben, sondern nur auf-gegeben werden könne. Im Rahmen dieses Artikels kann diese Tendenz des Neukantianismus, Platon als Vorgänger des Kritizismus zu betrachten, nicht diskutiert werden. Dass die notwendige Ent-ontologisierung der Ideen zugunsten eines logischen Idealismus die jeweilige Radikalität von Platon und Kant aufopfert, kann nur in einer zukünftigen Untersuchung gezeigt werden. 17 „Ein Bedürfnis der reinen Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch führt nur auf Hypothesen, das der reinen praktischen Vernunft aber zu Postulaten“ (IMMANUEL KANT, Kritik der praktischen Vernunft, in: Ders., Werke, Bd. 7, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M 1974, 276).
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weder von der theoretischen noch von der praktischen objektiven Realität geboten wird. Wir begehren, dass das Denken durch seine Aktivität seine völlige Innerlichkeit endlich erobert. Deshalb dreht der Idealist den Vorwurf um: Das Böse besteht jetzt darin, alle möglichen Strategien einzusetzen, um das Denken glauben zu lassen, dass es strukturell und endgültig begrenzt ist. So fragt der Idealist: Wenn die Reflexion von jedwedem endlichen Inhalt Abstand nehmen kann, liegt es dann nicht daran, dass sie aus einer unendlichen Identität des Denkens mit sich selbst schöpft? Ist der Primat des Endlichen nicht eine Verletzung des Denkens? Und wenn sich das Denken auf die Vorstellung reduziert, werden wir dann nicht letztendlich das Denken hassen und ihm die dunkle Wirkung des unvernünftigen entgegensetzen? Der regulative Horizont der Idee und der Vernunftglaube der Postulate reichen nicht aus, um diese Begierde nach Unendlichkeit zu zähmen. Wegen dieser Hybris muss der radikale Idealismus endlich in seine Schranken gewiesen werden. Kant versteht jedoch, dass keine formale Gewalt ihn auslöschen kann. Schlimmer noch: Die Behauptung der Dualität hat den Effekt, seine Begierde zu stimulieren. Dies schreibt Kant auf der letzten Seite seiner 1796 veröffentlichten Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie: Die verschleierte Göttin, vor der wir beiderseits unsere Kniee beugen, ist das moralische Gesetz in uns, in seiner unverletzlichen Majestät. Wir vernehmen zwar ihre Stimme, und verstehen auch gar wohl ihr Gebot; sind aber beim Anhören im Zweifel, ob sie von dem Menschen, aus der Machtvollkommenheit seiner eigenen Vernunft selbst, oder ob sie von einem Andern, dessen Wesen ihm unbekannt ist, und welches zum Menschen durch seine eigene Vernunft spricht, herkomme. Im Grunde thäten wir vielleicht besser, uns dieser Nachforschung gar zu überheben; da sie bloß speculativ ist […]. [D]as didaktische Verfahren aber, jenes Gesetz zu personificieren und aus der moralisch gebietenden Vernunft eine verschleierte Isis zu machen, [ist] eine ästhetische Vorstellungsart eben desselben Gegenstandes […]: deren man sich wohl hinter nach, wenn durch erstere die Principien schon ins Reine gebracht worden, bedienen kann, um durch sinnliche, obzwar nur analogische Darstellung jene Ideen zu beleben, doch immer mit einiger Gefahr in schwärmerische Visionen zu gerathen, die der Tod aller Philosophie ist.18
Der Verweis auf Isis und die analogische Darstellung beziehen sich auf das Erhabene, in welchem die Diskrepanz zwischen Bild und Idee thematisiert wird. Wir müssen also in der dritten Kritik nach der Möglichkeit einer Darstellung suchen, die die Äußerlichkeit der Vorstellung überwindet, ohne uns dem Tod der Philosophie zu übergeben. In der Erfahrung des Erhabenen19 soll endlich der 18 IMMANUEL KANT, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA 8, 405. 19 „Denn es ist hier ein Gefühl der Unangemessenheit der Einbildungskraft für die Ideen eines Ganzen, um sie darzustellen, worin die Einbildungskraft ihr Maximum erreicht, und, bei der Bestrebung, es zu erweitern, in sich selbst zurück sinkt, dadurch aber in ein rührendes Wohlgefallen versetzt wird“ (IMMANUEL KANT, Kritik der Urteilskraft, in: Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Frankfurt/M 1974, 174).
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kritische Widerstand über das Spekulative triumphieren, damit die Begierde der Substantialität der Idee eine vorstellungshafte Befriedigung findet. Die von Kant erwähnte Unangemessenheit, die der wahrhafte Antrieb des Idealismus darstellt, soll durch die Positivität eines Gefühls verschüttet werden. Das vergebliche Bestreben, das Maximum zu erweitern, verwandelt sich in ein Wohlgefallen. In der Erfahrung des Erhabenen soll der Übergang der Vorstellung zu dem, was ihre Grenzen überwindet, endlich innerhalb von Grenzen bestimmt werden. Der Tod der Philosophie wäre der Tod der endlichen Natur der menschlichen Reflexion durch Schwärmerei. Aber wie kann die Vorstellung, sich den visionären Exzess des Denkens unterwerfen? Kann sich der Exzess nicht allein im Spekulativen vollbringen? Wie kann man diesen Exzess auf das bloß subjektive Spiel der Vermögen zurückführen, ohne die Endlichkeit implodieren zu lassen? Die Paragraphen 24 bis 29, die der Analytik des Erhabenen gewidmet sind, sowie der Paragraph 49 in dem es um das Gemüt des Genies geht, therapieren den idealistischen Wahn. Wahrscheinlich mit der platonischen Manie im Kopf benutzt Kant insbesondere in der „Allgemeine[n] Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile“ einen medizinischen Wortschatz des Gemüts.20 Das Prinzip der Behandlung ist einfach: Weder das Sinnliche noch das Intelligible dürfen sich von den Grenzen der Vorstellung emanzipieren, wenn „die Unerforschlichkeit der Idee der Freiheit“ auftaucht. Wie kann man die Vernunft davon heilen, was in ihr frei von Grenzen sein will? Indem man im Subjekt eine solche „Selbstschätzung“ erweckt, dass „die Menschheit in unserer Person unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt unterligen müßte“.21 Wenn die Reflexivität dazu neigt, sich vom Menschen zu befreien, bleibt sie in der Persönlichkeit sicher. Im Erhabenen ist die Menschlichkeit vor allem vor dem Exzess des Sinnlichen durch ihre moralische Erhebung geschützt und vor dem Exzess des Spekulativen durch ihre Demut. Auf welche Erfahrung gründet Kant diese „Selbstschätzung“? Das Erhabene funktioniert wie eine Impfung: Man führt Unbegrenztheit in das Bewusstsein ein, bis dieses dem Exzess zu widerstehen lernt. Die Gewalt des Exzesses muss mit dem Widerstand des Subjekts verbunden werden. Das Erhabene ist eine Mithridatisierung. So verwirklicht sich die kantische Umwertung: Das Unendliche, welches die Vorstellung von innen bedrohte, ist nun das, was die Endlichkeit anreichert und bestärkt. Indem sich die Vorstellung durch das Gefühl des Erhabenen in eine Darstellung umkehrt, zähmt sie die Unermesslichkeit und erlebt ihr ontologisches Vakuum nicht mehr, weil sie deren Kraft empfindet. Die Einbildungskraft ist der wahre Rechtsträger der Endlichkeit:
20 21
Ebd., 160–164. Ebd., 186.
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[D]enn die Einbildungskraft, ob sie zwar über das Sinnliche hinaus nichts findet, woran sie sich halten kann, fühlt sich doch auch eben durch diese Wegschaffung der Schranken derselben unbegrenzt ; und jene Absonderung ist also eine Darstellung des Unendlichen, welche zwar eben darum niemals anders als bloße negative Darstellung sein kann, die aber doch die Seele erweitert.22
Ist die negative Darstellung erst einmal eingeimpft, kann der Arzt feststellen, dass er die letzte Mutation des Idealismus besiegt hat: Diese reine, seelenerhebende, bloß negative Darstellung der Sittlichkeit bringt dagegen keine Gefahr der Schwärmerei, welche ein Wahn ist, über alle Grenze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d. i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen) zu wollen; eben darum, weil die Darstellung bei jener bloß negativ ist.23
Der egoistische Aristokrat des Idealismus zieht sich dann zurück aus der allgemeinen Kommunikationsfähigkeit des Genies, welcher „ein Talent zur Kunst, nicht zur Wissenschaft hat“.24 Der Begriff selbst der ästhetischen Idee, in dem sich die antiplatonische Fusion vom Unbedingten und vom Sinnlichen vollzieht, stellt diese allerletzte Unterwerfung des Unendlichen unter das Endliche dar. Der postkantische Idealismus, mag er Kants Philosophie nun vollbringen oder überwinden wollen, hat den Umfang dieser Strategie vielleicht nicht ganz durchmessen. Durch diese bloß negative bzw. analogische Darstellung schließt Kant die intelligible Unermesslichkeit in der Diskrepanz zwischen dem Sinnlichen und der Idee ein. Weder das Reich der Objektivität durch seine unmögliche Dialektik von Erscheinung und Ding an sich, noch die praktische Erkenntnis konnten vollständig mit der idealistischen Begierde fertig werden. Immer wieder tauchte der Mangel auf, von dem der Idealismus seinen Antrieb erhält. In der dritten Kritik fährt Kant die schwersten Geschütze gegen das Spekulative auf. Der Widerstand ist nämlich nicht mehr formal oder negativ, sondern besteht darin, unsere Liebe der Erfahrung zu erweitern. Was lieben wir in der Erfahrung? Die Grenze, die eine Aneignung sichert. Was prangerte der Idealist in dieser Liebe an? Die Illusion einer Aneignung, welche strukturell die Macht des Denkens nicht empfangen kann. Das Erhabene zeigt uns, dass wir das Bild brauchen und dass das Zeichen dem reinen Denken vorausgeht. Der idealistische Anspruch, das Denken von der Herrschaft des Zeichens zu lösen, um das Denken zur Unendlichkeit zurückzuführen, kann doch nur Halluzinationen erzeugen. Damit ist die spekulative Begierde, sich der Vorstellungsnorm entgegenzusetzen, unterdrückt. Aber ist sie wirklich verschwunden? Indem der Sinnlichkeit die Macht zugeschrieben wird, das Absolute negativ zu empfangen, hat Kant die Definition des Humanismus mit neuen Affekten erweitert. Könnte es sich dabei um eine Ebd., 201. Ebd., 202. 24 Ebd., 254. 22 23
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Rückkehr zur Kindheit handeln? Die Verwunderung verwandelt sich nach Kant im Erhabenen in die Bewunderung. Das Sinnliche verführt uns umso mehr, als es über einen möglichen übersinnlichen Gebrauch verfügt. Stellt die Verwunderung nicht „die erste aller Leidenschaften“ dar,25 die diejenigen betrifft, „die, obgleich sie ziemlich gesunden Menschenverstand haben, dennoch auch nicht eine zu große Meinung von ihren Fähigkeiten haben“?26 Kann das Gefühl des Erhabenen vor der Vorstellung ihre Mangelhaftigkeit verbergen, indem es der Vernunft ein ausreichendes Wohlgefallen verschafft? Der böse Idealist wäre schließlich für Kant der Platoniker, welcher es ablehnen würde, der transzendentalen und praktischen Interpretation der Idee zuzustimmen. Das Spezifische des platonischen Idealismus besteht darin, seine Verweigerung, die Idee auf eine Vorstellung zu reduzieren, auf der Radikalität einer Begierde basieren zu lassen. Philosophieren heißt, durch das Denken gegen die Herrschaft der Vorstellung über das Denken zu kämpfen. Diesen Aufstand will Kant in der Analytik des Erhabenen durch die Verführung einer bloß negativen Befriedigung dämpfen. Der ozeanische Trieb der reinen Vernunft fließt so zurück in eine neue Liebe der sinnlichen Erfahrung. Diese Liebe gibt dem Vorrang der Endlichkeit seine wahre Grundlage, indem sie nicht nur aus ihr den möglichen Ort einer Darstellung des Absoluten macht, sondern außerdem das Absolute und das Ereignis miteinander verknüpft. Der Verfügbarmachung der Welt durch die Quantifizierung und dem Ideal, die Wahrheit des Denkens in logischer Analyse zu finden, kann die Philosophie dann nur noch ihre Liebe zur Bedeutung und die Beschreibung, wie das sinnliche Ereignis den Begriff überwältigt, entgegenstellen. Der idealistische Aufstand setzt sich das Ziel, durch die Enthüllung dieser Strategie, die unreflektierte Begierde der Vorstellung umzustürzen. Denn diese schwache Begierde verbreitet sich nur, weil sie ihre eigene Relativität nicht reflektiert, weil sie ihre Pseudoevidenz gegen den Wahn bzw. die unmenschliche Absurdität des Spekulativen durchsetzt. Der Hang zum Sinn soll unsere Identität bestätigen. Der Idealist ist also nur für denjenigen gefährlich, welcher sich mit der Liebe der Vorstellung identifiziert. Er stellt diese selbstverständliche Identifikation in Frage und behauptet zugleich, dass es nicht unser Schicksal ist, Gefangene der Evidenz zu bleiben. Diese Entidentifizierung ist der radikale Idealismus selbst.
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RENÉ DESCARTES, Die Leidenschaften der Seele, Hamburg 1996, 95. Ebd., 121.
Terror und Erlösung. Erscheinungsformen des Bösen bei G. W. F. Hegel THURID BENDER
1. Einleitung: Das Böse als abstrakte Freiheit Das Böse eignet sich besonders, um die Philosophen der Klassischen Deutschen Philosophie zu erschließen, weil es einerseits aufs Engste mit deren Grundthema, der Freiheit, verzahnt ist, andererseits aber weitaus spezifischer als ebendieses allgemeine Grundthema ist. Aufgrund seiner Spezifik kann es als Leitfaden bei der Erhellung des Freiheitsverständnisses fungieren. Dies gilt nicht allein für Kant und Schelling, an die man wahrscheinlich beim Begriff des Bösen im Kontext der Klassischen Deutschen Philosophie am ehesten denkt, sondern genauso für Hegel. Deshalb soll im Folgenden das Böse nicht nur für sich untersucht, sondern auch als Zugang zum Begriff der Freiheit bei Hegel genommen werden. Was ist das Böse für Hegel? Wir wollen versuchen, diese Frage auf zwei Ebenen zu beantworten, die freilich ineinander verschlungen sind. Zunächst soll der Begriff des Bösen mit Hauptaugenmerk auf Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts abstrakt bestimmt werden (Abschnitt 2), um ihn dann durch die Betrachtung von geschichtlichen Erscheinungsformen, die dieser Bestimmung entsprechen, anzureichern (Abschnitt 3 und 4). Die Begriffsbestimmung wird zeigen, dass Hegel den Terminus „das Böse“ doppeldeutig und zwar für zwei verschiedene „Ebenen“ einer spezifischen Gestalt des Willens verwendet. Dabei ergibt sich, dass die „ursprünglichere“ Ebene des Bösen ein Wille ist, der sich in der Abstraktion von besonderen Zwecken fixiert. Um zu verstehen, weshalb ein solcher Wille Hegel zufolge böse ist, werden zwei geschichtliche Gestalten, in denen die Abstraktion des Willens in extremer Form verwirklicht ist, herangezogen. Diese zwei Gestalten sind Robespierre und Jesus, wie sie Hegel darstellt. Dabei überrascht, ja, schockiert womöglich, die Tatsache, dass Jesus hier als extremes Beispiel für einen Willen dienen soll, den Hegel als böse versteht; und dies nicht nur im Allgemeinen, sondern auch und vor allem im Kontext eines Philosophen, für den das Christentum die „vollendete Religion“ darstellt. Die Skepsis ist berechtigt: Hegel nennt Jesus nicht böse und würde es auch nicht tun, obwohl er ihn (vor allem in seinen Frankfurter Fragmenten) als radikale Erscheinungsform des abstrakten Willens darstellt.
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Thurid Bender
Dies erklärt sich nicht nur dadurch, dass sich in der Entwicklungsgeschichte Hegels dessen System erst noch herausbilden muss, wodurch sich selbstverständlich Begriffe und ihre Wertigkeiten ändern. So wird Jesus vom Frankfurter Hegel z. B. wiederholt als „schöne Seele“ bezeichnet. Eine schöne Seele ist seit der Phänomenologie des Geistes aber selbst eine Erscheinungsform des Bösen (Abschnitt 3.2). Der Ausdruck wird jedoch einerseits in Hegels verschiedenen Lebensabschnitten nicht völlig kongruent von ihm verwendet, andererseits ist die Kritik des jungen Hegel an der schönen Seele weniger vernichtend. Dies erklärt sich u. a. dadurch, dass dieser den Frühromantikern, die der reifere Hegel mithilfe der Figur der schönen Seele in der Phänomenologie „beisetzen“1 will, noch näher steht. Aber es hängt auch mit der Kontextualisierung des Willens zusammen: So ist der Rückzug in die abstrakte Innerlichkeit des Willens in Zeiten, in der die Wirklichkeit „eine geistlose, haltlose, hohle Existenz“ ist,2 gestattet. Mag sich dieses Zitat auf Sokrates und die Stoiker beziehen, so lässt es sich doch mit Hegel unschwer auf die geschichtliche Situation Jesu übertragen. Dieser sucht in der Innerlichkeit des Willens Güter wie Liebe und Freiheit, weil sie in der Welt, dem Staat, in dem er lebt, Hegel zufolge nicht zu finden sind. Die Abstraktion wird nur dadurch legitim, dass der Staat seine Legitimität verloren hat. Insofern ist die Legitimität der Abstraktion Zeichen eines Missstands und impliziert die Anforderung an den Staat, sich so zu wandeln, dass ebendiese Abstraktion wieder – so wie es sein sollte – als illegitim zu bewerten ist. Zudem erfüllt die Abstraktheit des Willens Jesu eine außerordentlich wichtige Funktion für die Entstehung des Christentums und somit die Geschichte überhaupt. In diesem Zusammenhang erhält sie eine Rechtfertigung dadurch, dass sie notwendiges Moment in der geschichtlichen Entwicklung des Bewusstseins der Freiheit ist. Durch eine solche Einbettung in die teleologische Ordnung der Geschichte kann Hegel selbst Robespierre eine gewisse Berechtigung einräumen. Dennoch müssen wir feststellen, dass diese Kontextualisierungen selbst bedingt bleiben: Im wahrhaften, also nicht geistlosen und haltungslosen Staat – und dieser ist Hegel zufolge „absoluter Endzweck“ der Geschichte – bleibt die Abstraktion des Willens wie gefordert verwerflich. Die geschichtlichen Erscheinungsformen des abstrakten Willens sind zwar notwendig, aber dies bloß als Momente. Auf ihrem Standpunkt darf nicht stehengeblieben werden. Vgl. den Titel von EMANUEL HIRSCH, Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie, in: Materialien zu Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘, hg. von Hans Friedrich Fulda/ Dieter Henrich, Frankfurt/M 41979, 245–275. 2 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 2, 900. Das Zitat bezieht sich auf den Paragraphen 138 der Grundlinien, also auf den Paragraphen, der genau vor demjenigen steht, in dem das Böse definiert wird. Als weiteres Beispiel für einen Rückzug in die Innerlichkeit des Willens, der durch die Unvernünftigkeit der Welt veranlasst wird, nennt Hegel hier die Stoiker. Vgl. dazu auch unten Fußnote 35. 1
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Im Folgenden wollen wir bei der Untersuchung des abstrakten Willens von Robespierre und Jesus zunächst von besagten Kontextualisierungen absehen (Abschnitt 3), um die Struktur des abstrakten Willens voll zu entfalten und zu verstehen, inwiefern ein solcher Wille böse ist und weiterhin mit welchen Mitteln Hegel zu zeigen gedenkt, dass dieser Wille widersprüchlich und deshalb unhaltbar ist. In einigen abschließenden Betrachtungen (Abschnitt 4) werden wir diese Kontextualisierungen dann noch einmal aufnehmen.
2. Der böse Ursprung des Bösen 2.1 Die Doppeldeutigkeit des Bösen Wie bestimmt Hegel selbst das Böse? Den bösen Willen behandelt er ausdrücklich in seinen Grundlinien und zwar im Paragraphen 139, in dem er eine originelle Kritik am Moralismus übt, die vor allem Kants Moralphilosophie treffen soll. Hegel zeigt hier, wie eine auf bloß formaler Widerspruchslosigkeit fußende Moral Gefahr läuft, paradoxerweise selbst ins Böse umzuschlagen. „Den bösen Willen in seiner abstrakten Bestimmung“ definiert Hegel hier als den Willen,3 der „die Willkühr, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Principe“ macht „und sie durch Handeln […] realisir[t].“4 Eine Moral, der ein inhaltlich bestimmtes Kriterium fehlt, um zu entscheiden, welcher Wille und welche Handlungen gut oder böse sind, tut genau dies: Sie wird willkürlich und somit böse. Ohne festen Maßstab, der durch die Sittlichkeit inhaltlich angereichert ist, muss der Wille laut Hegel nämlich auf die sich durch ihre Zufälligkeit auszeichnenden natürlichen Begierden und Triebe zurückgreifen, um sich einen bestimmten Zweck zu geben. Bedient man sich ihrer zur Willensbestimmung, lässt man den Zufall in sich walten.5 Dieser vom Zufall bestimmte Wille ist böse also nicht einfach deshalb, weil er etwas moralisch Böses will. Hegel gibt gerne zu, dass man einen natürlichen Trieb zum sittlich Guten haben kann.6 Er ist böse, weil er sich nicht ausdrücklich am sittlich Allgemeinen orientiert, sondern sich von seinem besonderen Trieb leiten lässt. In besagtem Paragraphen bestimmt Hegel aber nicht allein das Wesen des Bösen, sondern setzt sich außerdem mit der Frage nach dessen Ursprung HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 3, 1242. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14, 1, 121 (§ 139). 5 Vgl. ebd., 121 f. Die Triebe eines Staatsbürgers des modernen Staats sind allerdings von Vernunft durchsetzt und insofern weniger wild und willkürlich als die eines Menschen, der sich gerade erst aus dem rohen Naturzustand erhoben hat. Indem man in einer bestimmten Kultur aufwächst, werden auch die Triebe z. B. durch Erziehung kultiviert. 6 Vgl. ebd. 3 4
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auseinander. Diesen verortet Hegel in der „Notwendigkeit [der Freyheit], aus der Natürlichkeit des Willens herauszugehen, und gegen sie innerlich zu seyn.“7 Durch diese „Reflexion des Willens in sich“ setzt sich der Wille nämlich nicht nur der Natur entgegen,8 sondern auch dem sittlich Allgemeinen, an dem man sich eigentlich orientieren soll. Ein paar Zeilen später fügt Hegel dann hinzu: „[S]o ist diese Innerlichkeit des Willens böse.“9 Die zunächst als Ursprung des Bösen identifizierte Innerlichkeit des Willens ist in kurzer Zeit zum Bösen selbst avanciert. Um zu belegen, dass diese Doppeldeutigkeit des Begriffs des Bösen, die hier aufscheint, nicht zufällig und einer ungenauen Formulierung geschuldet ist, möchten wir es auf einem bloßen Hinweis auf die Auslegung der biblischen Erzählung des Sündenfalls10, die Hegel in seinem Gesamtwerk immer wieder vornimmt, belassen. Wenn diese Erzählung Hegel zufolge auch nicht frei von Inkonsequenzen ist, weil sie „auf äußerliche, mythische Weise ausgedrückt“ ist, würdigt Hegel sie dennoch als Darstellung der „ewige[n], notwendige[n] Geschichte des Menschen“ und arbeitet heraus,11 was an ihr vernünftig ist, indem er sie aus der Sphäre der Vorstellung in die des Begriffs übersetzt. Dabei interpretiert Hegel die grundsätzliche Abscheidung von Gott durch den Sündenfall, mit der die Abscheidung von Natur bzw. Welt und die dem Menschen innerliche Unterscheidung einhergeht, als Konstitution von Selbstbewusstsein überhaupt. Mit dieser Abscheidung entsteht die Frage nach dem Verhältnis zum Allgemeinen.12 Sünde – erst durch den Sündenfall ermöglicht – ist ein dem Natur des Menschen unangemessenes Verhältnis zu diesem. Sie ist in diesem Kontext genau jene Reflexion des Willens in sich, die sich dem Allgemeinen entgegensetzt, anstatt sich mit ihm zu versöhnen. Hegel verwendet die Bezeichnungen „Sünde“ und „das Böse“ manchmal synonym, an anderen Stellen meint diese auch anders als jene die Verwirklichung der Verfasstheit der Reflexion in sich in Form von spezifischen Einstellungen Ebd., 121. Ebd., 122. 9 Ebd. 10 Francesca Menegoni zeigt, dass der Paragraph 139 nicht nur ethische Fragestellungen behandelt, sondern auch theologische (vgl. FRANCESCA MENEGONI, Die Frage nach dem Ursprung des Bösen bei Hegel, in: Subjektivität und Anerkennung, hg. von Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante, Paderborn 2004, 228–242, hier 233). In den Vorlesungsnachschriften geht Hegel im Zusammenhang des Paragraphen explizit auf den biblischen Sündenfall ein (vgl. z. B. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 3, 1240 f.). 11 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Die bestimmte Religion, in: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 2, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1994, 425. 12 Hegel verwendet die Begriffe von Gott, dem Guten und dem Allgemeinen „gleichermaßen […], um den dem Bösen gegenüberstehenden Pol zu benennen.“ (JOACHIM RINGLEBEN, Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitäts-logische Konstruktion eines theologischen Begriffs, Berlin/New York 1976, 78) 7 8
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und Handlungen.13 Das Böse ist also zweifach. In der oben zitierten abstrakten Bestimmung des Bösen im Paragraphen 139 der Grundlinien wird der Terminus im Sinne dieser Verwirklichung, also nicht synonym mit „Sünde“ gebraucht, was an der Formulierung „durch Handeln […] realisir[t]“ bereits deutlich wird. In der auf die Definition folgenden Anmerkung benutzt Hegel dann den Begriff des Bösen auch in der zweiten Bedeutung, wenn er den Ursprung des Bösen plötzlich selbst als böse bezeichnet. 2.2 Die Fixierung in der Abstraktion des Willens Ebendiese Bezeichnung verweist uns an den Ort, wo dieses ursprüngliche Böse, die Innerlichkeit des Willens, behandelt wird: In den Paragraphen fünf bis sieben der Grundlinien legt Hegel die drei Momente der Dialektik des Begriffs des Willens dar. Das erste Moment ist dasjenige der Unbestimmtheit, in dem der Wille von jeglichem Inhalt abstrahiert, das zweite dasjenige der Bestimmung, in dem sich der Wille einen besonderen Zweck setzt, das dritte die „ausgeglichene“14 Vermittlung der beiden ersten Momente, durch welche sich der Wille selbst bestimmt und substantiell frei ist. Bevor wir untersuchen, inwiefern die Innerlichkeit des Willens böse zu nennen ist, wollen wir besagte Paragraphen etwas eingehender betrachten. Um Freiheit als Selbstbestimmung zu realisieren, muss sich zunächst von den Bestimmungen gelöst werden, die nicht durch das Selbst gesetzt sind. Dieses Moment legt Hegel im Paragraphen fünf dar, dessen eindrucksvoller Haupttext vollständig zitiert werden soll: Der Wille enthält α) das Element der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion des Ich in sich, in welcher jede Beschränkung, jeder durch die Natur, die Bedürfnisse, Begierden und Triebe unmittelbar vorhandener, oder, wodurch es sey, gegebener und bestimmter Inhalt aufgelößt ist; die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraction oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst.15
Hier finden wir die reine Reflexion in sich, die im Paragraphen 139 als der böse Ursprung des bösen Willens identifiziert wurde. Hegel illustriert die „schrankenlose Unendlichkeit“ dieser „absoluten Abstraktion“ anhand der Fähigkeit des Menschen, Suizid zu begehen. Der Wille ist nicht einmal durch das Leben des Wollenden beschränkt: „Dies ist die höchste Spitze der Abstraction.“16
Vgl. ebd., 73. Hegel verwendet dieses Adjektiv, um die angemessene Vermittlung zwischen den zwei für sich genommen abstrakten Elementen des Willen zu beschreiben (vgl. HEGEL, Grundlinien, 34, (§ 7)). 15 Ebd., 32 (§ 5). 16 Vgl. z. B. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 2, 603. 13 14
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Im zweiten Element des Willens, im „absolute[n] Moment der Endlichkeit oder Besonderung“,17 richtet der Wille sich auf eine Bestimmung als seinen Zweck.18 Hier fällt auf, dass Hegel die Anmerkung zum Paragraphen sechs vor allem dazu nutzt zu betonen, dass erstens dieses zweite Moment logisch bereits im ersten Moment enthalten ist und jenes deshalb organisch aus diesem folgt.19 In jedem Willen müssen sich demnach beide Momente wiederfinden lassen. Zweitens sind beide Momente, solange sie nicht auf rechte Weise miteinander vermittelt sind, in gleichem Maße abstrakt und einseitig. Mag das Element der schrankenlosen Unendlichkeit auch edler, erhabener, freier anmuten: Solange diese Unendlichkeit noch vom Endlichen ab-gegrenzt wird – genau damit glaubt man ihr eine Ehre anzutun – bleibt es eben eine be-grenzte Unendlichkeit, also eine schlechte oder endliche Unendlichkeit. Verbindet man diese zwei Aussagen, dann folgt daraus, dass die beiden Elemente in jedem Willen notwendig entweder auf „ausgeglichene“ oder auf „unausgeglichene“ Weise im Verhältnis stehen müssen.20 Die ausgeglichene Art wird im Paragraphen sieben dargelegt: Der substantielle Wille beschränkt sich zwar, indem er sich einen bestimmten Gegenstand als Zweck setzt, verliert sich jedoch nicht in dieser Bestimmtheit, sondern bleibt dabei „eben so“ bei sich als Allgemeinheit.21 Er „weiß“,22 dass er nicht an diese oder jene Bestimmtheit gebunden ist, weil er – wenn er nur wollte – jederzeit von ihr abstrahieren könnte. Das erste Element des Willens ist demnach in Form eines bloßen Wissens um die Möglichkeit, sich von jedem bestimmten Inhalt jederzeit lossagen zu können, im substantiellen Willen aufgehoben. Auch „im geringfügigsten Thun“ ist er auf diese Weise „bei [sich] selbst“, „befriedigt“, ist „Friede […] in [ihm]“.23 Vgl. HEGEL, Grundlinien, 33 (§ 6). Woher dieser Gegenstand kommt, bleibt jedoch noch offen: „Dieser Inhalt sey nun weiter als durch die Natur gegeben oder aus dem Begriffe des Geistes erzeugt.“ (Ebd.) Greift der Wille auf einen durch die Natur gegebenen Inhalt zurück, erreicht er keine Selbstbestimmung, weil er sich für eine Bestimmung entscheidet, die ihm von außen gegeben ist. 19 Hegel kritisiert hier Fichte dafür, dass er, obwohl die zwei abstrakten Elemente des Willens bei ihm auftauchen, diese nicht immanent auseinander entwickelt (vgl. dazu auch CHRISTOPH BINKELMANN, Theorie der praktischen Freiheit. Fichte – Hegel, Berlin/New York 2007, 171). 20 Vgl. Fußnote 14. 21 HEGEL, Grundlinien, 34 (§ 7). 22 Ebd. (Hervorhebung von mir, T. B.) 23 HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 3, 1082. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Hegel hier das für substantielle Freiheit fordert, was er zuvor als böse bezeichnet hat: die Besonderung des Willens. Folgende Ausführungen klären, inwiefern dies keineswegs der Fall ist: „Den bösen Willen in seiner abstrakten Bestimmung haben wir gesehen, der böse Wille will etwas, dieser Zweck ist böse, insofern er etwas Besonderes ist, wodurch wesentlich das Allgemeine gekränkt wird, wodurch das Allgemeine was an und für sich ist beleidigt wird. Böser Wille ist überhaupt der der einen besonderen Zweck geltend macht, insofern er dem Allgemeinen widerspricht. Das Besondere zu seinen Zweck machen ist sogar Pflicht, ist nothwendig, aber so daß dieser Zweck das Allgemeine nicht verletzt oder so daß ausdrücklich das Allgemeine damit auch verwirklicht wird.“ (vgl. ebd., 1242) 17 18
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3. Erscheinungsformen des abstrakten Willens 3.1 Robespierre: Tod durch Abstraktion Trotz des Friedens, den der substantielle Wille verspricht, tritt in der Geschichte, aber auch im modernen Staat, in dem der sogenannte absolute Endzweck der Geschichte laut Hegel erreicht ist,24 immer wieder ein Wille zutage, der sich in der endlichen Besonderung nicht zu befriedigen weiß, in dem die zwei Elemente des Willens in einem unausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen; ein Wille, in dem die Möglichkeit der absoluten Abstraktion in Wirklichkeit übergeht, anstatt als bloßes Moment aufgehoben zu bleiben, der sich also selbst in seiner Reflexion in sich hält und so böse wird. Robespierre als Gesicht der Schreckensherrschaft der Französischen Revolution ist Paradebeispiel für die Erscheinung dieser verwirklichten Abstraktion. Hegel befasst sich mit dem Tugendterror nicht nur in dem berühmten Abschnitt seiner Phänomenologie des Geistes. Er nutzt auch den Paragraphen fünf der Grundlinien, um den Willen Robespierres einzuordnen. Dieser dient hier als Exempel für den Willen, der einseitig im Element der reinen Reflexion in sich verharrt und sich so dem Element der Besonderheit aus Paragraph sechs starr entgegensetzt. Für diesen Willen besteht Freiheit nicht darin, in der Besonderheit bei sich selbst zu sein. Freiheit wird vielmehr negativ als Unabhängigkeit von jedweder Besonderheit verstanden. Robespierre führt uns vor Augen, welche Folgen es haben kann, wenn diese sogenannte „Freiheit der Leere“ sich zur Wirklichkeit wendet: Sie wird der Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, und die Hinwegräumung der einer Ordnung verdächtigen Individuen, wie die Vernichtung jeder sich wieder hervorthun wollenden Organisation […]. Nur, indem er etwas zerstört, hat dieser negative Wille das Gefühl seines Daseyns; er meynt wohl etwa irgend einen positiven Zustand zu wollen; z. B. den Zustand allgemeiner Gleichheit […], aber er will in der That nicht die positive Wirklichkeit desselben […]; So kann das, was [diese negative Freyheit] zu wollen meynt, für sich schon nur eine abstracte Vorstellung, und die Verwirklichung derselben nur die Furie des Zerstörens seyn.25
Aufgrund eines Irrtums bleibt Robespierre im Willensmoment der schrankenlosen Unendlichkeit verhaftet: Er meint, durch den Zweck der reinen Gleichheit und der reinen Freiheit etwas Bestimmtes zu wollen. Tatsächlich ist deren Reinheit jedoch Leere. Die reine Gleichheit und die reine Freiheit sind sogar so unbestimmt, dass ein Wille, der sich auf sie richtet, einem Willen, der nichts will, gleicht.26 Indem Robespierre sie in die Welt zu bringen sucht, will er eigentlich Vgl. z. B. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, GW 27, 2, 480.490 und GW 27, 3, 805. 25 HEGEL, Grundlinien, 32 f. (§ 5). 26 Vgl. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 3, 1077. 24
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die Abstraktion selbst, das Nichts in die Welt bringen. Weil er in diesen „abstrakten Vorstellungen“ den Inhalt und Maßstab für die besondere Handlung finden zu können meint, diese aber eigentlich unbestimmt sind, so muss er für seine Entscheidungen auf den Inhalt zurückgreifen, der ihm unmittelbar vorliegt. Dieser ist aber derjenige, den die natürlichen Triebe und Begierden an die Hand geben.27 Gerade die Weigerung, die abstrakt-allgemeine Freiheit durch eine Besonderheit zu bestimmen, führt dazu, dass Robespierres Wille den endlichsten und zufälligsten Inhalt erhält und willkürlich wird. Es ist diese Willkür, die im Paragraphen 139 böse genannt wird. Nun wird auch der Zusammenhang zwischen den zwei Bedeutungen des Terminus „das Böse“, also zwischen der bösen Willkür und der bösen Innerlichkeit des Willens ersichtlich: Durch die Fixierung in der schrankenlosen Unendlichkeit verschließt sich der Wille gegen jedweden Inhalt. Da er jedoch etwas Bestimmtes wollen muss – hier kommt die notwendige Bindung des ersten Willenselement aus Paragraph fünf an das zweite aus Paragraph sechs zum Tragen –, greift er auf den Inhalt zu, der durch natürliche Triebe und Begierden gegeben und deshalb zufällig ist, anstatt sich für den Inhalt zu öffnen, der durch den Geist produziert ist.28 Die fixierte Innerlichkeit des Willens zieht die Willkür also notwendigerweise nach sich. Deshalb kann sie als der Ursprung des Bösen auch selbst böse genannt werden.29 Aus solch einem unbeständigen Willen kann nichts Festes entstehen. Institutionen, die die Revolutionäre selbst ins Leben gerufen haben, werden wieder zerstört, weil sie der unbestimmten Vorstellung von Freiheit nicht genügen. Dies ist die gleichermaßen paradoxe wie konsequente Folge eines solchen Freiheitskonzeptes. Sie zeugt von einer Tendenz zur Selbstzerstörung, die im berühmten Vergleich der Französischen Revolution, die wie Saturn ihre eigenen Kinder Vgl. Fußnote 5. Indem die reine Allgemeinheit, die der Wille im ersten Element erreicht, durch Fixierung verabsolutiert wird, wird sie selbst auf eine Besonderheit reduziert. Somit wird auch die Definition des Bösen aus Paragraph 139 erfüllt, nach der das Böse darin besteht, das Besondere über das Allgemeine zum Prinzip zu machen. Durch die Dialektik von Allgemeinheit und Besonderheit löst sich der Unterschied zwischen den Figuren, die das Allgemeine in der Abstraktion suchen und dieses dadurch besondern, und Figuren, die unmittelbar die Besonderheit über die Allgemeinheit setzen, auf. 29 Vgl. dazu auch: „Insofern aber diß negative Verhalten nicht bloß eine innere Gesinnung und Ansicht bleibt, sondern sich an die Wirklichkeit wendet und in ihr sich geltend macht, entsteht der religiöse Fanatismus, der, wie der politische, alle Staatseinrichtung und gesetzliche Ordnung als beengende der innern, der Unendlichkeit des Gemüths unangemessene Schranken, und somit Privateigenthum, als der Liebe und der Freyheit des Gefühls unwürdig verbannt. Da für wirkliches Daseyn und Handeln jedoch entschieden werden muß, so tritt dasselbe ein, wie bey der sich als das Absolute wissenden Subjectivität des Willens überhaupt (§. 140.) daß aus der subjectiven Vorstellung, d. i. dem Meynen und dem Belieben der Willkühr entschieden wird.“ (HEGEL, Grundlinien, 215, § 270) Nebenbei bemerkt behandelt Hegel in dem Paragraphen 140, auf den er in diesem Zitat selbst verweist, verschiedene Erscheinungsformen der „letzte[n] abstruseste[n] Form des Bösen“ (ebd., 123, § 140). 27 28
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verschlingt, ihren bildlichen Ausdruck findet. Selbst der „Unbestechliche“ ist für den abstrakt-allgemeinen Willen zu besonders und fällt der abstrakten Abfertigung durch die Guillotine zum Opfer. Diese Tendenz zur Selbstzerstörung ist dem bösen Willen aufgrund seiner grundsätzlichen Widersprüchlichkeit Hegel zufolge schon immer eingeschrieben.30 Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich darin, dass der Wille, der sich im Element der „absoluten Allgemeinheit“ festhält, um dem Schicksal, sich besondern zu müssen, zu entgehen, gerade dadurch zur Willkür wird und also diesem Schicksal aufs Schlimmste verfällt.31 Konkreter lässt sie sich so fassen, dass Robespierre Freiheit und Gleichheit in die Welt zu bringen sucht, ohne sich dabei den Spielregeln der Welt zu unterwerfen, d. h. sich besondern zu wollen. In diesem Kontext erklärt Hegel: Wer Grosses will muß sich beschränken können sagt Goethe; er muß etwas wollen können, sich Wirklichkeit geben können, dieß setzt voraus das Treten in ein bestimmtes Dasein. [… S]o wie […] gehandelt werden soll muß etwas gewollt werden und dieß ist beschränkend.32
Robespierre will zwar Großes und dieses auch durch Handeln realisieren. Er will die Welt in eine verwandeln, in der Freiheit und Gleichheit herrschen. Aber er maßt sich an, dabei den Schritt der besonderen Beschränkung zu überspringen. Dieser würde der angestrebten abstrakten Freiheit widersprechen. Diese soll zwar auf keinen Fall bloßes Ideal bleiben, sondern aus dem reinen Denken in die Welt übersetzt werden. Dabei darf die Reinheit des Ideals jedoch nicht verloren gehen. Weil eine konkrete Handlung aber nur einem endlichen Willen entspringen kann, so muss sich wohl oder übel auch Robespierre besondern und kann seinem eigenen Anspruch mitnichten genügen. 30 Vgl. dafür: „Die Selbstständigkeit auf die Spitze des fürsichseyenden Eins getrieben, ist die abstracte, formelle Selbstständigkeit, die sich selbst zerstört; der höchste, hartnäckigste Irrthum, der sich für die höchste Wahrheit nimmt; – in concreteren Formen als abstracte Freyheit, als reines Ich, und dann weiter als das Böse erscheinend. Es ist die Freyheit, die sich so vergreift, ihr Wesen in diese Abstraction zu setzen, und in diesem Bey-sich-seyn sich schmeichelt, sich rein zu gewinnen. Diese Selbstständigkeit ist bestimmter der Irrthum, das als negativ anzusehen und sich gegen das als negativ zu verhalten, was ihr eigenes Wesen ist. Sie ist so das negative Verhalten gegen sich selbst, welches, indem es sein eigenes Seyn gewinnen will, dasselbe zerstört, und diß sein Thun ist nur die Manifestation der Nichtigkeit dieses Thuns. Die Versöhnung ist die Anerkennung dessen, gegen welches das negative Verhalten geht, vielmehr als seines Wesens, und ist nur als Ablassen von der Negativität seines Fürsichseyns, statt an ihm festzuhalten.“ (GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), GW 21, 160 f.; Hervorhebung von mir, T.B). 31 Aufs Schlimmste, weil die so entstehende Besonderung als willkürlich und böse der Allgemeinheit widerspricht. Würde sich der Wille hingegen der Besonderung gegenüber öffnen, so würde er in ihr den Weg finden, die angestrebte Allgemeinheit zu konkretisieren und anzureichern. Die Besonderung stünde dann im Einklang mit der Allgemeinheit und täte ihr keinen Abbruch (vgl. auch Fußnote 23). 32 HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 3, 1077.
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Das extreme Beispiel Robespierres eignet sich ausgezeichnet dafür, einerseits die Gefährlichkeit und Bösartigkeit der abstrakten Freiheit zu demonstrieren, andererseits jedoch ebenso zu betonen, dass sie keinen Bestand haben kann, dass das Böse gewissermaßen machtlos ist: Die Anmaßung des bösen Willens ist absurd und schon immer zum Scheitern verurteilt. Es ist die Schizophrenie der gleichzeitigen Weltab- und Weltzugewandtheit, die es Hegel ermöglicht, Robespierres Willen der Widersprüchlichkeit zu überführen. Lässt sich nach diesem Modell jede Erscheinungsform des Bösen widerlegen? Wie würde Hegel mit einem Willen umgehen, der sich konsequent aus der Welt zurückzieht? Der nicht einmal mehr den Wunsch hegt, sich in der Welt zu realisieren, zu handeln? Kann es einen solchen Willen überhaupt geben? 3.2 Zwischenspiel: Die schöne Seele Tatsächlich scheint sich Hegel mit solch einem Willen in Form der schönen Seele zu konfrontieren, die hier kurz als Vermittlungsgestalt des Bösen betrachtet werden soll. Denn einerseits nennt sie Hegel in einer Vorlesung zur Rechtsphilosophie neben dem Willen Robespierres als Beispiel für den einseitigen Willen, der in der Abstraktion verharrt.33 Andererseits bezeichnet Hegel Jesus in seinen Frühschriften wiederholt als schöne Seele. Erst in der Phänomenologie wird die schöne Seele jedoch zum feststehenden Begriff erhoben und ihre Bösartigkeit ausgiebig expliziert. Sie ist eine Bewusstseinsgestalt auf der Suche nach reiner Güte, die sich in ihr Inneres zurückzieht, weil sie jede Besonderung ihres Willens und Handelns als Befleckung ebendieser Güte ansieht, sie für eine Art Selbstverletzung hält.34 Die Fülle in ihrer Reinheit, die sie in der Welt nicht glaubt, finden zu können, sucht sie in sich selbst. Für Hegel ist sie ein Phänomen seiner Zeit, welches auch als literarischer Stoff verarbeitet wird. Goethes Werther ist nur ein Beispiel für diese paradoxe Bewusstseinsstufe, die im Streben nach dem Guten böse wird. In einer Vorlesung zum Paragraphen fünf der Rechtsphilosophie erklärt Hegel: Es ist dieß die sogenannte schöne Seele, die sich mit nichts beschränkt, einläßt, indem sie sich mit jeder Schranke besudelt, sobald sie sich mit etwas befaßt, solcher Unbestimmtheit bleibt jedoch nichts übrig als zu verglimmen. Diese Schönheit der Seele ist Thatlosigkeit, sie schwelgt in ihrer Vortrefflichkeit, hat aber kein Dasein, ist kraftlos und verzehrt sich in sich.35 Vgl. ebd., 1078. Vgl. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Phänomenologie des Geistes, GW 9, 354 f. 35 HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 3, 1078. – Nebenbei bemerkt bringt Hegel über die Jahre in seinen Vorlesungen zur Rechtsphilosophie viele interessante Beispiele neben denen der Französischen Revolution und der schönen Seele: Die meditierenden indischen Gymnosophisten (vgl. HEGEL, Grundlinien, 32 (§ 5); Ders., Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 1, 242.345 und GW 26, 3, 1075), die Stoiker (vgl. HEGEL, 33 34
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Wie Robespierre glaubt sie, in der Abstraktion unmittelbar einen Inhalt zu finden. Sie erkennt wie er nicht, dass die Reinheit, nach der sie strebt, leer und unbestimmt ist. Wie Robespierre sträubt sich die schöne Seele davor, etwas Bestimmtes, etwas Endliches zu wollen. Allerdings scheint sie kohärenter als Robespierre zu sein, insofern sie deshalb die Konsequenz zieht und auf das Handeln verzichtet. Die schöne Seele erkennt, was Robespierre nicht einsehen will: dass man sich besondern muss, um zu handeln. Aber Tatlosigkeit schützt nicht vor Besonderheit. Die schöne Seele ziert sich zwar, besondere Pflichten durch Handlungen zu erfüllen, bestätigt sich selbst und den Anderen gegenüber aber ihre eigene Reinheit, indem sie dies immer wieder versichernd ausspricht. Durch solche Sprachhandlungen hat sich die schöne Seele schon immer besondert und kann ihrem Anspruch selbst nicht genügen. Als eine Diese ist die schöne Seele ans Dasein gebunden, in die Welt geworfen. Der Widerspruch, der in Robespierre offen zutage tritt, bleibt in der schönen Seele durch die vermeintlich konsistente Abkehr von der Welt zunächst verborgen. Aber auch die schöne Seele muss mit ihrem Vorhaben scheitern, weil sie in der Entgegensetzung weiterhin auf die Welt bezogen bleibt und handeln muss. Wie Robespierre greift sie in ihrer inneren Verschlossenheit auf den Inhalt zurück, der unmittelbar gegeben vorliegt: den der natürlichen Triebe und Begierden.36 Auch in ihr regiert somit die Willkür, und sie wird zu einer Erscheinungsform des Bösen. Und auch in ihr finden wir die Tendenz zur Selbstzerstörung. Der Widerspruch zerreißt die schöne Seele und macht sie verrückt. Ihre leere Reinheit wird zwar notgedrungen mit Inhalt gefüllt, dieser ist aber willkürlich und substanzlos, gibt keinen festen Halt, sondern befleckt nur, und lässt die schöne Seele „in sehnsüchtiger Schwindsucht [zerfließen].“37 3.3 Jesus: Innere Selbsttötung 3.3.1 Erlösung durch Loslösung Kommen wir nun zur Untersuchung des Willens Jesu beim jungen Hegel. In einem Fragment unterscheidet dieser mehrere Arten, auf eine Rechtsverletzung reagieren zu können: Entweder man kämpft tapfer, um das Recht durch Vergeltung wieder herzustellen, oder man duldet die Rechtsverletzung. Obgleich das Schicksal des Dulders die „Willenlosigkeit“ ist, hält auch er an seinem Recht fest. Er empfindet eine „schmerzende Passivität“.38 Jesus verhält sich auf eine Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 1, 345), die Mönche des Mittelalters und die Täufer von Münster nach der Reformation (vgl. ebd.). 36 Vgl. ebd., 355 und HIRSCH, Beisetzung der Romantiker, 251 f. 37 HEGEL, Phänomenologie, GW 9, 360. 38 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Frühe Schriften II, GW 2, 199.
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dritte Art zur Rechtsverletzung: Er gibt sein Recht auf, zieht sich aus der Rechtssphäre ins Innere zurück, indem er es nicht mehr als das Seinige versteht, sodass die Rechtsverletzung aufhört, eine solche zu sein. Ohne Recht keine Rechtsverletzung. Der junge Hegel beschreibt dieses Verhalten mit drastischen Worten: Diese Abstraktion von sich selbst aber hat keine Gränzen; sie ist eine Selbsttödtung, die sich endlich in das Leere zurückziehen muß; um sich zu retten, tödtet der Mensch sich; um das seinige nicht in fremder Gewalt zu sehen, nennt er es nicht mehr das seinige, und so vernichtet er sich, indem er sich erhalten wollte, denn was unter fremder Gewalt ist, ist nicht mehr er.39
Dicht gedrängt reiht Hegel hier Begriffe aneinander, die die Rhetorik des fünften Paragraphen der Grundlinien vorwegnehmen: Abstraktion, keine Grenzen, Leere, Selbstvernichtung, Selbsttötung. Weiter oben hatten wir gesehen, dass der reife Hegel gerade das Element der absoluten Abstraktion im Willen als dasjenige identifiziert, was es dem Menschen ermöglicht, sich selbst das Leben zu nehmen. Die innere Selbsttötung, die der junge Hegel Jesus zuschreibt, scheint auf demselben Vermögen zu beruhen. In der Überarbeitung des Fragments fügt der junge Hegel dann hinzu: [W]ie die schaamhafte Pflanze zieht er sich bei jeder Berührung in sich, und ehe er das Leben sich zum Feinde machte, ehe er ein Schiksal gegen sich aufreizte, entflieht er dem Leben; so verlangte Jesus von seinen Freunden, Vater, Mutter, alles zu verlassen, um nicht in einen Bund mit der entwürdigten Welt, und so in die Möglichkeit eines Schiksals zu kommen.40
An einer anderen Stelle, kreidet er Jesus seinen „feindseligen“ Bezug zum Staat an,41 den er u. a. an dessen Umgang mit der Steuerzahlung festmacht. Jesus zahlt die Steuern zwar, aber gerade nicht, weil er den Zweck des Staates anerkennt. Er verzichtet darauf, sich durch Arbeit oder Institutionen wie Familie, Ehe und Eigentum zu bestimmen. Die Verweigerung dieser Bestimmung ist Zeichen bzw. Folge seines fundamentalen Rückzugs. Dessen „Grenzenlosigkeit“ tritt in der radikalen Forderung Jesu zutage, sich das eigene Auge auszureißen, wenn es einem Anstoß gibt, sich die rechte Hand abzuschlagen, wenn sie einem zum Bösen verführt (Mt 5, 29–30). Mag Jesus hier auch polemisch sprechen, wie Hegel es meint: Im Kern zeigt diese Forderung, dass selbst der eigene Körper letztendlich nicht dem Selbst angehört. Jesus hört auf, diese besonderen Bestimmungen sein Eigen zu nennen. Er identifiziert sich nicht länger mit ihnen. So vollzieht Jesus eine grundsätzliche Enteignung42, die Ebd., 200. Ebd., 204. 41 Ebd., 291. 42 Im Begriff der Enteignung klingt nicht nur das Verhältnis Jesu zum Eigentum eindeutig an (vgl. den folgenden Text für Hegels Interpretation dieses Verhältnisses). Er bezeichnet auch die Umkehrbewegung der stoischen Zueignung (οἰκείωσις), die im Französischen mit „appropriation“, im Englischen mit „appropriation“ oder bezeichnenderweise „familiarization“ 39 40
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nicht nur durch den Verzicht auf rechtliches Eigentum, sondern prinzipiell auf egologischer Ebene stattfindet und sich durch die Weigerung auszeichnet, sich selbst in seiner Besonderheit zu affirmieren. In den obigen Zitaten ist es bereits angeklungen: Hegel schreibt diesem entidentifizierenden Prozess der Selbsttötung den paradoxen Zweck der Selbsterhaltung zu. Allerdings geht es hier nicht um die natürliche Selbsterhaltung, die auf das besondere Selbst geht, sondern die Erhaltung des Selbst in seiner Reinheit durch Erlösung: Während der Rächer die Rechtsverletzung durch eine eigene Verletzung vergilt, der Dulder passiv unter der Rechtsverletzung leidet, kann Jesus die Rechtsverletzung vergeben, weil er sich der Rechtssphäre enthebt. Diese Enthebung garantiert, dass Jesus selbst nicht nach dem Maßstab der Region des Rechts beurteilt wird, ihm seine Rechtsverletzungen nicht angelastet werden. So interpretiert es der junge Hegel, dass Jesus die Vergebung der Sünden der anderen zur Bedingung der Verzeihung der eigenen macht. Erlösung durch Loslösung. 3.3.2 Praxis der Enteignung Nicht nur in diesem Zusammenhang, sondern – wie in der Einleitung bereits erwähnt – verteilt über viele Fragmente bezeichnet Hegel Jesus immer wieder als schöne Seele.43 Wenn Hegel diesen Begriff hier auch noch nicht in der fest umgrenzten Bedeutung der Phänomenologie verwendet, liegt diese eindeutig in ihm angelegt. Unter Berücksichtigung des Rückzugs Jesu, wie wir ihn gerade mit Hegel beschrieben haben, mag dies auch nicht sonderlich überraschen. Jesus scheint nach der Interpretation des jungen Hegel zusammen mit der schönen Seele die Ansicht zu teilen, dass das Gute nicht in der Welt44 zu finden ist, dass die Bedingungen der Welt zu einer Verendlichung und Besonderung, zu einer Verunreinigung führen, die dem Allgemeinen widersprechen. Das Allgemeine in die Gestalt des Endlichen zu zwängen, würde ihn des Status des Allgemeinen berauben. Jesus und die schöne Seele ziehen sich deshalb beide in ihr Inneres zurück. übersetzt wird. Die Zueignung, die vor allem von dem Stoiker Hierokles entwickelt wird, ist die Tendenz zur Selbsterhaltung verstanden als Prozess der sich kontinuierlich ausweitenden Selbstaffirmation. Am Ende dieses Prozesses identifiziert sich der stoische Weise schließlich mit der Welt in ihrer Gänze. Diese Tendenz wird dem Menschen als natürlich zugeschrieben und ist deshalb (für die Stoiker) zugleich normatives Lebensziel. 43 Darauf verweist auch Emanuel Hirsch, wobei er vor allem zu zeigen gedenkt, inwiefern sich der Begriff der schönen Seele gewandelt hat (vgl. HIRSCH, Beisetzung der Romantiker, 265–269). Vgl. für die Bezeichnung Jesu als schöne Seele auch ADRIAAN T. B. PEPERZAK, Le jeune Hegel et la vision morale du monde, Den Haag 1960, 211–216. 44 Die Frage ist, wie absolut man diesen Ausdruck versteht. Durch die geschichtliche Kontextualisierung kann der reife Hegel dafür argumentieren, dass er sich nur auf die verdorbene Welt, in der Jesus lebt, bezieht. Aber bereits beim jungen Hegel bahnt sich dieses Verständnis an.
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Aber wie weit trägt die Parallelisierung von schöner Seele und Jesus, wie er hier vom jungen Hegel aufgefasst wird? Verfällt Jesus in denselben Widerspruch wie die schöne Seele, deren Willen aufgrund ihrer starren Entgegensetzung gegen die Welt und die Handlung zur Willkür wird? Dies erscheint vor dem Hintergrund einer ganzen Praxis, die durch die Lehre und das Leben Jesu an die Hand gegeben wird, unwahrscheinlich. Bei der schönen Seele aus der Phänomenologie hatte die Intention der Tatlosigkeit gerade dazu geführt, dass sie willkürlich handelt, wenn sie denn doch gezwungenermaßen tätig ist. Robespierre sträubt sich zwar nicht vor dem Handeln selbst, muss aber ebenso auf die zufälligen Triebe und Begierden zugreifen, um seine Handlung zu bestimmen, weil im Ideal von abstrakter Freiheit und Gleichheit keine inhaltlich bestimmte Norm für spezifische Handlungen liegt. Jesus hingegen erklärt uns, wie wir handeln sollen und versucht, selbst als Modell für die Praxis, die er predigt, zu fungieren.45 Der Rückzug Jesu muss irgendwie anders geartet sein als derjenige der schönen Seele aus der Phänomenologie. Die Besonderung durch die Handlung wird anscheinend nicht als Beschmutzung oder Selbstverletzung verstanden. Dann liegt aber die Vermutung nahe, dass Jesus nicht einfach willkürlich handelt – eine Konsequenz, die wir bei Robespierre und der schönen Seele beobachten konnten. Wenn wir aber einerseits zugeben, dass Jesus bestimmt und nicht willkürlich handelt, andererseits den Willen Jesu als Gestalt des abstrakten Willens der Selbstvernichtung, den wir aus Paragraph fünf der Grundlinien kennen, identifizieren, dann fragt sich, was für eine Art von Praxis dies ist, die auf der Abstraktion des Willens aufbaut und dennoch dem Schicksal der Willkür entkommt. Es muss eine Praxis sein, die es erlaubt, in der Welt tätig zu sein, ohne die Welt verändern zu wollen, würde ein Wille der Veränderung doch bereits eine Identifizierung mit der Welt voraussetzen.46 Wie ordnet der junge Hegel die Handlungen Jesu ein? Wie geht er damit um, dass Jesus, wie er hier aufgefasst wird, sich einerseits nicht am (weltlich) Sittlichen orientiert, um zu handeln, andererseits aber dennoch einen Maßstab für eine gute Handlung anzulegen scheint? Müsste der junge Hegel nicht zugeben, dass Jesus ein Verhältnis zur Besonderung entwirft, das dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit entkommt? Jesus scheint eine Argumentationsstruktur, die Hegel 45 Nur deshalb konnte Jesus in der Aufklärung vor allem als bloßer Tugendlehrer verstanden werden. Ein Vorwurf, den Hegel gegenüber der Aufklärung wiederholt äußert. 46 Dies bedeutet wiederum nicht, dass die Welt durch eine solche Praxis faktisch nicht verändert wird. Man könnte sich sogar vorstellen, dass gerade die Abkehr vom Zweck der Veränderung der Welt dazu führt, dass Veränderung entsteht. Nimmt man den Willen Jesu mit dem jungen Hegel als abstrakt, dann würde sich genau dies zeigen: Durch die extreme Abstraktion entfaltet dieser Wille gerade seine Wirksamkeit. Wenn der reife Hegel erklärt, dass die Praxis der Entsagung von Jesus in ihrer Radikalität so erscheinen musste, um der Wahrheit des Christentums – der zufolge jedoch diese Entsagung bloßes Moment ist – zu helfen, Fuß zu fassen (vgl. dazu Abschnitt 4), dann scheint darin genau das soeben beschriebene dialektische Verhältnis auf.
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immer wieder gegen den Versuch, vor der Welt zu fliehen, anbringt, in seinen Bezug zur Welt implizit integriert zu haben: dass die Entgegensetzung gegen die Besonderheit ebendieser gerade erst eine Macht zuteilt und dazu führt, dass man dieser im schlimmsten Maße in Form des Zufalls verfällt. Robespierre und die schöne Seele veranschaulichen genau dies. Durch ihre abstrakte Negation der Besonderheit, durch ihre Verschlossenheit, erreichen sie ungewollt das Gegenteil und werden von der Besonderheit der natürlichen Triebe immer wieder eingeholt. Jesus setzt sich der Besonderheit jedoch nicht starr entgegen. Gleichzeitig ist er aber auch nicht, wie wir in Hegels Darstellung der Enteignung Jesu sahen, in ihr bei sich selbst. Die Besonderheit ist für Jesus weder Hindernis noch Erfüllung. Wäre sie Hindernis, verfiele Jesus demselben Widerspruch wie Robespierre und die schöne Seele. Wäre sie Erfüllung, entspräche sein Wille Hegels Anforderungen eines substantiellen Willens. Dann fände Jesus sich in der Besonderheit wieder, wäre bei sich selbst, schlösse mit dem Endlichen Frieden. Indem Jesus jedoch die Endlichkeit in den Dienst der Loslösung stellt, widersetzt sich sein Wille einer solchen Einordnung. Das Kriterium, an dem sich der Jesus des jungen Hegel orientiert, ließe sich womöglich durch folgende Fragen, die bereits oben angedeutet sind, abstrakt formulieren: Wie kann ich in der Welt, aber nicht dieser gemäß handeln? Wie kann ich in der Welt tätig sein, ohne sie mir anzueignen? Wie kann ich handeln, wollen, ohne mich mit diesen Besonderungen zu identifizieren?47 Mögen diese Fragen auch noch kein bestimmtes Richtmaß für die Wahl des besonderen Inhalts an die Hand geben, so könnten sie womöglich als Orientierung bei der Interpretation der konkreten Handlungen Jesu dienen. Wie geht Hegel mit diesem auf gewisse Weise konsequenten Bezug auf die Besonderheit, der sie zulässt, ohne sie anzueignen, um? Stellt das subtile Verhältnis ein Problem für den jungen Hegel dar? Folgender Text lässt zumindest vermuten, dass der junge Hegel in ihm eine Gefahr erblickt: Über die folgende Foderung von Abwerfung der Lebens-Sorgen, und Verachtung der Reichthümer sowie über Matth. 19, 23. Wie schwer ist es, daß ein Reicher ins Reich Gottes komme, ist wohl nichts zu sagen; es ist eine Litanei, die nur in Predigten oder in Reimen verziehen wird, denn eine solche Foderung hat keine Wahrheit für uns. Das Schiksal des Eigenthums ist uns zu mächtig geworden, als daß Reflexionen darüber erträglich, seine Trennung von uns, uns denkbar wäre.48
Hegel argumentiert hier nicht, sondern setzt der Aufforderung Jesu, all seine Reichtümer loszuwerden und aufzuhören, sich um die alltäglichen Bedürfnisse und Sitten zu sorgen, in wütendem Tonfall die Mächtigkeit des Schicksals des Eigentums entgegen. Ausdrücke wie dem der „Litanei“ zeugen davon, dass an 47 Damit drängt sich vor allem auch die Frage danach auf, wer handelt und welches Verhältnis zwischen der „Instanz“ der Enteignung und derjenigen der Handlung besteht. 48 HEGEL, Frühe Schriften II, GW 2, 173.
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dieser Stelle ein Problem vorliegt: Was meint Hegel in diesem Zusammenhang mit dem Begriff des Schicksals, der in den Frankfurter Frühschriften insgesamt sehr häufig verwendet wird, aber deshalb in seiner Bedeutung auch relativ schillernd zu sein scheint? Und wer sind „wir“, für die dieses Schicksal zu mächtig geworden ist? Hat die Forderung Jesu an sich eine Wahrheit, die sie für uns nicht mehr hat? Inwiefern sind Reflexionen über die Trennung vom Eigentum unerträglich? Und wie kann Hegel uns die Kraft absprechen, diese Trennung zu denken? Jesus scheint dieses Schicksal nicht nur durch die besagte Forderung, sondern durch sein Weltverhältnis auf radikale und kohärente Weise in Frage zu stellen. Fügt Hegel deshalb die zeitliche Bestimmung des Geworden-Seins hinzu? Um dies einerseits nicht bestreiten zu müssen, andererseits aber dennoch betonen zu können, dass der Wille Jesu für uns – heutzutage – nicht nur nicht als Vorbild für den Bezug zur Welt genommen werden darf, sondern sogar nicht als solches genommen werden kann? Was hindert uns daran, dieses Schicksal abzulehnen, daran, uns nicht als Eigentümer zu identifizieren? Stellt dieser Jesus für den jungen Hegel in gewissem Sinne nicht sogar eine extremere Erscheinungsform des abstrakten Willens als Robespierre und die schöne Seele dar, weil er, anders als sie, diesem Schicksal nicht unterliegt? Diese Fragen sollen hier nicht beantwortet werden, können jedoch als Leitfragen einer tieferen Auseinandersetzung dienen.
4. Jesus revisited: „Mit dem Tode Christi beginnt aber die Umkehrung“.49 Wenden wir uns nun dem reifen Hegel zu. Dieser leugnet mitnichten die Abstraktheit der Lehre Jesu. Allerdings widmet er ihr weniger Text als in seinen Frühschriften. Dicht gedrängt folgen die Zitate aufeinander, die die grundsätzliche Enteignung ausdrücken, die Jesus vollzieht. Abschließend schreibt Hegel: Ja es heißt sogar: ‚Ihr sollt nicht wähnen, daß ich kommen sei, Frieden zu senden auf Erden. Ich bin nicht kommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert. Denn ich bin kommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter und die Schnur wider ihre Schwieger.‘ Hierin liegt eine Abstraktion von allem, was zur Wirklichkeit gehört, selbst von den sittlichen Banden. Man kann sagen, nirgend sei so revolutionär gesprochen als in den Evangelien, denn alles sonst Geltende ist als ein Gleichgültiges, nicht zu Achtendes gesetzt.50
Vgl. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, TWA 17, 286. 50 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, TWA 12, 396. Vgl. dazu auch HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, GW 27, 2, 741, wo Hegel schreibt: „Das weltliche also soll vernichtet werden.“ 49
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An anderer Stelle nennt der reife Hegel „dies Losreißen im negativen Sinne gegen alles Bestehende“ sogar eine „sozusagen Sansculotterie“.51 In solchen Ausdrücken hallt der Jesus, wie ihn der junge Hegel fasst, weiterhin nach. Es ist jedoch ein schwaches Echo: Denn der reife Hegel weiß den abstrakten Willen Jesu zu dialektisieren, indem er ihn auf christologischer, theologischer und geschichtsphilosophischer Ebene als bloßes Moment ein- bzw. unterordnet. Während der junge Hegel zeitweise noch unter dem Bann der Aufklärung steht, die Jesus als bloßen Tugendlehrer auffasst und in Verlegenheit gerät, wenn es um die Interpretation von „wunderbaren“ Begebenheiten wie die Fleischwerdung und die Auferstehung Jesu geht, macht gerade die Berücksichtigung des „ganzheitlichen“ Jesus, zu dem ebendiese Momente zählen, es dem reifen Hegel möglich, den losgelösten Willen Jesu auf einen notwendigen Schritt auf dem Weg zu wahrhafter, substantieller Freiheit zu reduzieren. So bezieht sich die Enteignung nur auf die Welt, die dieser vorfindet, nicht aber auf die Welt als solche. Der höhere Zweck ist eine neue, bessere Welt, nicht aber die Überwindung von Welt überhaupt. Weiterhin macht das Schicksal Jesu das Wesen Gottes vorstellig: Gott ist nicht einfach extramundanes Seiendes, getrennt vom Menschen. Vielmehr gehören Welt und Mensch wesentlich zum Sein Gottes dazu. Denn Gott ist Hegel zufolge Geist, der nicht als fertige Substanz, sondern als Prozess der Selbstwerdung gedacht werden muss. Das, was Gott, der Geist, an sich, als bloße Virtualität schon immer ist, entfaltet sich im Laufe der Weltgeschichte. Gott produziert sich somit selbst in der Zeit als das, was er ewig ist. Zu diesem Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, wie Hegel in berühmter Formulierung Geschichte definiert, gehört einerseits eine immer klarere Erfassung seiner selbst in der Sphäre des absoluten Geistes, zu der Kunst, Religion und Philosophie gehören. Andererseits vollzieht sich der Fortschritt aber auch auf der Ebene des objektiven Geistes, d. h. auf derjenigen der vom Geist durchsetzten Welt, dem Staat: Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei. […] Die Substanz ist sie, nämlich das, wodurch und worin alle Wirklichkeit ihr Sein und Bestehen hat; – die unendliche Macht, indem die Vernunft nicht so ohnmächtig ist, es nur bis zum Ideal, bis zum Sollen zu bringen und nur außerhalb der Wirklichkeit, wer weiß wo, als etwas Besonderes in den Köpfen einiger Menschen vorhanden zu sein.52
Hegels Theodizee baut auf dieser Überzeugung auf, dass die Vernunft die Welt beherrscht und sich in der Geschichte verwirklicht. Dabei behauptet Hegel jedoch mitnichten das allmähliche Verschwinden des Bösen, sodass wir „am
51 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Die vollendete Religion, in: Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 3, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1994, 54. 52 HEGEL, Philosophie der Geschichte, TWA 12, 21.
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Ende der Geschichte“ mit dem Paradies auf Erden rechnen könnten. Vielmehr kann die Versöhnung mit der Welt und ihrer Geschichte nur durch die Erkenntnis des Affirmativen erreicht werden, in welchem jenes Negative [– das Böse –; TB] zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet, durch das Bewußtsein, teils was in Wahrheit der Endzweck der Welt sei, teils daß derselbe in ihr verwirklicht worden sei und nicht das Böse neben ihm sich letztlich geltend gemacht habe.53
Hegel bestreitet keineswegs die Grausamkeit der Geschichte. Ganz im Gegenteil: Er vergleicht sie mit einer „Schlachtbank“ und erklärt: „Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr“.54 Dennoch fordert Hegel uns auf, die Geschichte nicht allein auf diese einseitige Weise zu betrachten. So stellt Hegel Robespierre, wie wir sahen, zwar zweifelsohne als Erscheinungsform des Bösen dar, die „verabscheut zu werden verdient“.55 Dennoch schreibt er ihm als Tyrannen zugleich eine zeitlich begrenzte Berechtigung und Funktion zu. Die Französische Revolution scheint genau das zu veranschaulichen, was Hegel behauptet: Dass sich die Vernunft in der Geschichte realisiert, dass der Idee der Freiheit eine „unbezwingliche Stärke“ zukommt,56 deren Verwirklichung nichts widerstehen kann. Diese Idee ist Hegel zufolge „durch das Christenthum in die Welt gekommen“.57 Erst einmal auf vollendete Weise in der Vorstellung der Einheit von menschlicher und göttlicher Natur ins Selbstbewusstsein des Geistes getreten, bahnt sie sich ihren Weg auch „in die Sphäre der weltlichen Existenz […] als die Substanz des Staats, der Familie u.s.f.“58 Ohne es zu bemerken und sogar oft in sturer Entgegensetzung führt die Aufklärung, deren Ideen sich die Französische Revolution auf ihre Banner schreibt, also letztlich zu der Verwirklichung einer christlichen Idee. Deshalb kann Hegel auch über die Reformation behaupten, dass sie dieselbe Funktion für Deutschland wie die Revolution für Frankreich erfüllt.59 Für den reifen Hegel tritt also in Jesus das wahre Verhältnis Gottes zur Welt zutage: Gott kommt zu sich selbst, indem er sich die Welt in der Geschichte aneignet, sie so gestaltet, dass er sich in ihr wiederfindet, sich in ihr anschauen kann. Indem Jesus ebendieses Verhältnis erscheinen lässt, legt er Hegel zufolge selbst den Grundstein für die Einbildung der Idee der Freiheit in die Welt, deren Vollendung Robespierre fast 1800 Jahre später wesentlich vorantreibt. Ähnlich wie Ebd., 28. Ebd., 42. 55 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 260. 56 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, 477 (§ 482). 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Vgl. OSCAR DANIEL BRAUER, Hegels Aufklärung der Aufklärung, in: Hegels Phänomenologie des Geistes, hg. von Klaus Vieweg/Wolfgang Welsch, Frankfurt/M 2008, 474–488, hier 487 f. 53 54
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Robespierre seine spezifische Funktion im Horizont der Weltgeschichte erfüllt, wird die Abstraktheit der Lehre Jesu selbst beim reifen Hegel funktionalisiert: Gerade aufgrund ihrer Radikalität, die in der Abstraktheit beschlossen liegt, kann die in dieser Gestalt noch unentwickelte Wahrheit Fuß fassen. Jesus musste die Enteignung in dieser exzessiven Form predigen: Die eine Seite ist diese Entsagung; dieses Aufgeben, diese Zurücksetzung alles wesentlichen Interesses und der sittlichen Bande ist im konzentrierten Erscheinen der Wahrheit eine wesentliche Bestimmung, die in der Folge, wenn die Wahrheit sichere Existenz hat, von ihrer Wichtigkeit verliert.60
Aus der Perspektive des „christlichen Standpunkts“ hat die Entsagung nicht mehr das letzte Wort. Hegel kann den abstrakten Willen Jesu nicht nur unschädlich machen, sondern ihn sogar in den Dienst der Realisierung konkreter Freiheit stellen. Und so unterliegt letztendlich auch die Freiheit der Enteignung der dialektischen Notwendigkeit, die denjenigen trifft, der vor dem Schicksal flieht und es dadurch erfüllt.
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HEGEL, Philosophie der Religion II, TWA 17, 281.
Die logische Erfassung des Bösen bei Kant und Hegel ANNE BECKER
1. Einleitung Unterscheidet Kant noch die theoretische von der praktischen Erkenntnis, so müssen bei ihm die zwei Arten von Gesetz, d. i. das theoretische Gesetz der Natur und das praktische Gesetz der Freiheit, unter der allgemeinen Form der Gesetzmäßigkeit gedacht werden. Beide Arten von Gesetz sind aufgrund ihrer unbedingten Gültigkeit keine bloßen Maximen, die das einzelne Subjekt als Handlungsanweisung befolgen kann oder nicht. Als Gesetz kommt ihnen eine logische Notwendigkeit zu, die gewissermaßen einer je eigenen Logik folgt, sodass beide unter die allgemeine Form der Gesetzmäßigkeit fallen und keinerlei Ausnahmen dulden. Wohingegen sich die unbedingte Gültigkeit und allgemeine Notwendigkeit der Naturgesetzmäßigkeit relativ leicht einsehen lässt, verhält es sich im Bereich des praktischen Gesetzes schwieriger. Dennoch betont Kant nicht nur, dass wir nicht gegen die Sinnlichkeit verstoßen können,1 sondern auch, dass „die Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen so deutlich, so unüberschreibbar“ ist,2 dass wir uns ihr nicht entziehen können, auch wenn wir entgegen dieser praktisch unbedingten Erkenntnis Handeln können. Dann haben wir unser Handeln aber laut Kant gerade nicht auf das praktische Gesetz gegründet, sondern auf ein materiales Objekt, weshalb es sich in diesem Fall um einen hypothetischen Imperativ handelt, also einer zweckmäßigen Handlungsweise zur Erreichung ebendieses ganz bestimmten Zwecks. Und hier liegt nun auch das Problem: Einerseits gibt es laut Kant eine reine Bestimmung des Willens durch die praktische Vernunft, diese ist als „Factum der Vernunft“3 aber mit der Moralität identisch und wird von ihm schließlich mit dem Sittengesetz in eins gesetzt.4 Andererseits ist es möglich entgegen dieser praktischen Einsicht „Keine Kraft der Natur kann aber von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen.“ (IMMANUEL KANT, Kritik der reinen Vernunft, AA 3, 234. – Hervorhebungen im Original werden hier und im Folgenden ausgelassen. 2 IMMANUEL KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 35. 3 Ebd., 31. 4 „In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren Maxime fähig sein muß, besteht das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und 1
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den Willen durch ein vorausgesetztes Begehren zu bestimmen. Dann unterliegt diese Willensbestimmung allerdings der theoretischen Vernunft, deren Aufgabe in der zweckmäßigen Beurteilung der eingesetzten Mittel zur Erfüllung dieses vorausgesetzten Begehrens liegt. Alle Zuordnung zu der einen oder anderen Art von Gesetz hängt schließlich von der Absicht oder Willensbestimmung ab. Wenn der Willensbestimmung kein Zweck vorangestellt ist, wird der Wille autonom, durch die eigene reine praktische Vernunft, bestimmt. Heteronomie ist dann aber nicht etwa das Böse, sondern eben die „Abhängigkeit vom Naturgesetze“.5 Wie verhält es sich nun mit dem Bösen? Kant leugnet nicht, dass es so etwas wie das Böse gibt. Davon zeugt seine Kennzeichnung des Menschen durch so widersprüchliche Figuren wie der „ungesellige[n] Geselligkeit“,6 das „krumme[ ] Holze, als woraus der Mensch gemacht ist“7 oder auch der Annahme eines „Volk von Teufeln“;8 Kant spricht in seiner Schrift Zum ewigen Frieden dezidiert von der „Bösartigkeit der menschlichen Natur“9 und in der Religionsschrift vom „Hang zum Bösen“.10 Einerseits erkennt er an, dass der Mensch böse handeln kann und er sieht auch, dass dies aus der eigenen autonomen Willensbestimmung folgen muss. Wäre der Mensch ein reines Vernunftwesen, würde er dem Sittengesetz umstandslos folgen, dann wäre er gerade nicht frei. Zur Freiheit gehört eben auch die Möglichkeit der Abkehr vom Sittengesetz. Andererseits stellt sich dann die Frage, wie das Böse als nicht sittlich und dennoch durch reine praktische Vernunft bestimmt gedacht werden kann. Zunächst kennzeichnet Kant das Böse als einen freiwillig angenommenen Grundsatz,11 wobei sich praktische Grundsätze dadurch auszeichnen, dass sie als solche, praktische Vernunft, ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können“ (Ebd., 33). 5 Ebd. 6 IMMANUEL KANT, Abhandlungen nach 1781, AA 8, 20. 7 Ebd., 23. 8 Ebd., 366. 9 Ebd., 355. 10 IMMANUEL KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, AA 6, 28. 11 „Es gibt Fälle, wo Menschen von Kindheit auf, selbst unter einer Erziehung, die mit der ihrigen zugleich, anderen ersprießlich war, dennoch so frühe Bosheit zeigen, und so bis in ihre Mannesjahre zu steigern fortfahren, daß man sie für geborne Bösewichter, und gänzlich, was die Denkungsart betrifft, für unverbesserlich hält, gleichwohl aber sie wegen ihres Tuns und Lassens eben so richtet, ihnen ihre Verbrechen eben so als Schuld verweiset, ja sie (die Kinder) selbst diese Verweise so ganz begründet finden, als ob sie, ungeachtet der ihnen beigemessenen hoffnungslosen Naturbeschaffenheit ihres Gemüts, eben so verantwortlich blieben, als jeder andere Mensch. Dieses würde nicht geschehen können, wenn wir nicht voraussetzten, daß alles, was aus seiner Willkür entspringt (wie ohne Zweifel jede vorsätzliche Handlung), eine freie Kausalität zum Grunde habe, welche von der frühen Jugend an ihren Charakter in ihren Erscheinungen (den Handlungen) ausdrückt, die wegen der Gleichförmigkeit des Verhaltens einen Naturzusammenhang kenntlich machen, der aber nicht die arge Beschaffenheit des Willens notwendig macht, sondern vielmehr die Folge der freiwillig angenommenen bösen und
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„eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten“.12 Sie können entweder subjektive Maximen oder aber objektive praktische Gesetze sein und zwar, wenn sie einen „zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten“,13 d. h., „daß nicht der Begriff des Guten, als eines Gegenstandes, das moralische Gesetz, sondern umgekehrt das moralische Gesetz allererst den Begriff des Guten […] bestimme und möglich mache“.14 Bekanntlich kommt es auf die Reihenfolge an: Zuerst muss das Gesetz gegeben sein, „das a priori und unmittelbar den Willen, und diesem gemäß allererst den Gegenstand bestimme“.15 Allerdings soll dieser Gegenstand als Folge der sich selbstbestimmenden praktischen Vernunft „an sich selbst gut“ und der „Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetze gemäß ist, […] schlechterdings, in aller Absicht, gut, und die oberste Bedingung alles Guten“ sein.16 Wenn aber der dem Gesetz gemäße Wille das Gute selbst ist und das Böse ausdrücklich „nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“,17 dann heißt das, dass das Böse in Folge des Gesetzes eine Negation desselben darstellen muss. Das Gute und das Böse werden von Kant jedoch lediglich als die Objekte der reinen praktischen Vernunft betrachtet.18 Als solche dienen sie der Beurteilung von möglichen moralischen Handlungen, indem sie entweder ein Begehren oder im Falle des Bösen eine Abscheu verursachen. Aber kann der Gedanke eines „Verabscheuungsvermögens“ dem Problem des Bösen gerecht werden?19 Wenn das Vernünftige selbst das Moralische, das Sittliche und damit eben auch das Gute ist, wie kann das Böse als Negation des Guten, d. h. bei Kant zugleich als nicht-vernünftige Willensbestimmung fungieren? Oder anders formuliert: Wenn wir das Böse nicht als vorausgesetztes sinnliches Begehren oder Abscheu betrachten dürfen, dann stellt sich das Problem der vernünftigen Bestimmung des Willens als Böse. D.h., der Wille negiert aus der vernünftigen Bestimmung heraus die Allgemeinheit seiner eigenen formalen Gesetzesstruktur. Das Böse verweist dabei sozusagen auf einen Akt überschüssiger Freiheit20 und umwandelbaren Grundsätze ist, welche ihn nur noch um desto verwerflicher und strafwürdiger machen.“ KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 99 f. 12 Ebd., 19. 13 Ebd. 14 Ebd., 64. 15 Ebd. 16 Ebd., 61. 17 Ebd., 63. 18 Vgl. ebd., 57–71. 19 Ebd., 58. 20 Vgl. dazu auch ALENKA ZUPANČIČ, Das Reale einer Illusion. Kant und Lacan, Frankfurt/M 2001, 46. Dort heißt es: „Das Böse, das radikal Böse figuriert als Paradox der ‚freien Wahl der Nicht-Freiheit‘. Anders gesagt gibt es auf dieser Ebene keine Negation, keine Negation der Freiheit. Das Subjekt ist frei, ob es will oder nicht, in der Freiheit und in der Nicht-Freiheit, es ist im Guten und im Bösen, es ist frei selbst da, wo es der natürlichen Notwendigkeit folgt.“ Man stößt Zupančič zufolge letztlich auf einen „gewissen Überschuß an (subjektiver) Freiheit“ (ebd.).
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erlaubt dem individuellen Subjekt einen eigenen Freiheitsanspruch gegenüber der vernünftigen Allgemeinheit geltend zu machen. Aufgrund der individuellen Besonderheit dieses Anspruchs muss Kant jedoch die zugrundeliegende vernünftige Struktur des bloß subjektiven Grundsatzes leugnen und wegen mangelnder Ausdifferenzierungen des Vernunftbegriffs aus der gesetzmäßigen, d. h. logischen Verfassung ausschließen. Zusammenfassend ergeben sich aus der Betrachtung des Bösen bei Kant folgende Probleme: Das Böse kann nicht als vernünftig verfasst gedacht werden. Als bloße Folge der freien Willensbestimmung kann es nicht die Willensbestimmung selbst begründen; als Objekt der reinen praktischen Vernunft dient es lediglich zur Beurteilung von möglichen moralischen Handlungen. Das Böse kann aber auch nicht als natürlich verfasst gedacht werden. Die Sinnlichkeit und ein Begehren zu verfolgen ist für das Mangelwesen Mensch lebensnotwendig und deshalb durchaus zweckmäßig und vernunftgemäß, insoweit wäre es unvernünftig die eigene Sinnlichkeit zu negieren.21 Das Böse unterliegt, weil es weder sinnlich noch sittlich verfasst ist, nicht der allgemeinen Form der Gesetzmäßigkeit. Es müsste eigentlich genauso wie das Gute in der Vernunft gründen. Dies erforderte allerdings sowohl einen ausdifferenzierteren Vernunftbegriff als auch eine Unterscheidung von Vernunft, Freiheit, Wille, Moralität, Sittlichkeit und dem Guten. Hier setzt nun Hegels Auseinandersetzung mit dem Bösen an, wobei dieses im Folgenden als Gegenstand der Rechtsphilosophie betrachtet und dabei gezeigt werden soll, inwiefern es dort logisch verfasst ist. Das Logische zielt dabei auf die notwendigen Denkstrukturen und unterscheidet sich insofern von Kants Auseinandersetzung mit der Bestimmung des Menschen,22 als Kant schließlich die subjektiven „Triebfedern“23 zur Befolgung des praktischen Gesetzes in den Mittelpunkt rückt.24 „Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört, und sofern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag, von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern […]“ KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 61. 22 „Die Bestimmung des Menschen ist die denkende Vernunft: Denken überhaupt ist seine einfache Bestimmtheit […]; er ist Denken an sich, insofern dasselbe auch von seinem Seyn-füranderes, seiner eigenen Natürlichkeit und Sinnlichkeit, wodurch er unmittelbar mit Anderem zusammenhängt, unterschieden ist. Aber das Denken ist auch an ihm; der Mensch selbst ist Denken, er ist da als denkend, es ist seine Existenz und Wirklichkeit; und ferner indem es in seinem Daseyn, und sein Daseyn im Denken ist, ist es concret, ist mit Inhalt und Erfüllung zu nehmen, es ist denkende Vernunft, und so ist die Bestimmung des Menschen.“ (GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), GW 21, 111. 23 KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 71 ff. 24 In diesem Sinne untersucht Kant in der Religionsschrift die „subjektiven Gründe der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze“ (AA 6, 29) und stellt anhand dessen eine Stufenfolge auf: „Erstlich, ist es die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt, oder die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur; zweitens, der Hang zur Vermischung unmoralischer Triebfedern mit dem moralischen (selbst wenn es in guter Absicht, und unter Maximen des Guten geschähe), d. i. die Unlauterkeit; 21
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Ausgehend von einigen allgemeinen Bemerkungen über den Zusammenhang von Rechtsphilosophie und Logik, soll zuerst plausibilisiert werden, inwiefern die Rechtsphilosophie einer logischen Grundlage bedarf. Zweitens wird auf diese logische Grundlage etwas näher eingegangen und mithilfe der Wissenschaft der Logik der Begriff des Bösen, der dort explizit erwähnt wird, näher gekennzeichnet. Drittens soll auf die grobe Struktur der Rechtsphilosophie eingegangen und gezeigt werden, dass der Übergang von der Moralität in die Sittlichkeit durch das Böse vollzogen wird. Und viertens wird diese Auffassung des Bösen noch einmal abschließend auf seine logischen Bestimmungen rückbezogen.25
2. Die Logik als Voraussetzung für die Rechtsphilosophie Gleich zu Beginn der Vorrede in die Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse betont Hegel den systematischen Zusammenhang zwischen der Rechtsphilosophie und der Wissenschaft der Logik: Die Natur des speculativen Wissens habe ich in meiner Wissenschaft der Logik, ausführlich entwickelt; in diesem Grundriß ist darum nur hie und da eine Erläuterung über Fortgang und Methode hinzugefügt worden. Bey der concreten und in sich so mannichfaltigen Beschaffenheit des Gegenstandes ist es zwar vernachläßigt worden, in allen und jeden Einzelheiten die logische Fortleitung nachzuweisen und herauszuheben; theils konnte diß, bey vorausgesetzter Bekanntschaft mit der wissenschaftlichen Methode für überflüssig gehalten werden, theils wird aber es von selbst auffallen, daß das Ganze wie die Ausbildung seiner Glieder auf dem logischen Geiste beruht. Von dieser Seite möchte ich auch vornehmlich, daß diese Abhandlung gefaßt und beurtheilt würde. Denn das, um was es in derselben zu thun ist, ist die Wissenschaft, und in der Wissenschaft ist der Inhalt wesentlich an die Form gebunden.26
Dass die Rechtsphilosophie nur in der Form von ‚Grundlinien‘ bzw. eines ‚Grundrisses‘ vorliegt, d. h. kein ausgearbeitetes, systematisch geschlossenes Werk mit vollständigen Ableitungen sämtlicher Gedankengänge bietet, bildet für ihre Interpretation bekanntermaßen maßgebliche Schwierigkeiten. Hegels Verweis aus der eben zitierten Textstelle darauf, dass „das Ganze wie die Ausbildung seiner Glieder auf dem logischen Geiste beruht“ und „von dieser Seite aus gefasst werden soll“, ist in der Hegelforschung keinesfalls selbstverständlich. Aber selbst wenn man die logischen Voraussetzungen ernst nehmen möchte, bleibt damit drittens, der Hang zur Annehmung böser Maximen, d. i. die Bösartigkeit der menschlichen Natur oder des menschlichen Herzens“ (Ebd.). 25 Es handelt sich im Folgenden um die gekürzte, überarbeitete Fassung meines Artikels: The meaning of exception in Hegel’s Philosophy of Right., in: Revista Eletrônica Estudos Hegelianos 16 (2019); http://ojs.hegelbrasil.org/index.php/reh/article/view/365/290 (Aufruf 11. 06. 2020). 26 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14, 1, 6.
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immer noch die Frage, wie dies konkret aussehen soll. Beispielsweise hat Michael Theunissen den drei Teilen der Rechtsphilosophie die drei Bücher der Wissenschaft der Logik zugeordnet, sodass das abstrakte Recht der Seinslogik, die Moralität der Wesenslogik und die Sittlichkeit der Begriffslogik entspricht.27 Eine andere logische Herangehensweise besteht in der Übertragung der begriffslogischen Schlusslehre auf die jeweiligen Sphären der Rechtsphilosophie, wodurch die schlusslogischen Vermittlungen etwa eine ideale staatliche Einheit mit der bürgerlichen Gesellschaft begründen sollen.28 Weil Hegel aber den Begriff des Rechts nicht nur im engen Sinn auf das abstrakte Recht beschränkt, sondern sehr umfassend vom „Daseyn aller Bestimmungen der Freiheit“ spricht und weil er insgesamt die Realisierungen oder auch Objektivierungen von Freiheit innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen thematisiert,29 die nebeneinander und in gewisser Weise äußerlich zueinander bestehen, scheint die vollständige logische Vermittlung viel zu hoch gegriffen, um diesem Gedanken gerecht zu werden. Vielmehr sollte m. E. Hegels Betonung der Endlichkeit ernst genommen werden. So heißt es beispielsweise in der Enzyklopädie, dass der „objective Geist […] auf dem Boden der Endlichkeit“30 steht. Eine ausführliche Thematisierung der Endlichkeit des Willens befindet sich auch in den einleitenden Paragraphen der Rechtsphilosophie, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden kann. Wenn die Rechtsphilosophie insgesamt auf dem ‚Boden der Endlichkeit‘ steht,31 gilt es eben diese endlichen Strukturen, d. h. die begrenzten, objektiven Verhältnisse zu erfassen und der logisch relevante Bereich, in dem sich Hegel mit der Endlichkeit auseinandersetzt, ist die Seinslogik als erstem Teil der Wissenschaft der Logik.32
„Hegel selber konstruiert das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat nach dem Modell des Zusammenhangs von Reflexionslogik und Begriffslogik. Genauer gesagt: In den begriffslogischen Rahmen der Sittlichkeit, die als die absolute Grundlage einerseits das seinslogisch gedeutete abstrakte Recht und andererseits die reflexionslogisch verstandene Moralität zu ‚Momenten des Werdens‘ hat, zeichnet Hegel die Figur der bürgerlichen Gesellschaft als eine Besonderheit ein, die, wiewohl sie an sich ja eine Bestimmung des Begriffs ist, zu der im Staat verkörperten Allgemeinheit nur in einem ‚Reflexionsverhältnis‘ steht.“ (MICHAEL THEUNISSEN, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt/M 21994, 473). 28 Vgl. bspw. KLAUS VIEWEG, Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München 2012, 366–433. 29 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Enzyklopädie (1830), GW 21, 479 (§ 486). 30 Ebd., 478 (§ 483). 31 Vgl. dafür auch den Abschnitt zur Philosophie des objektiven Geistes in: WALTER JAESCHKE/ANDREAS ARNDT, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845, München 2012, 644–656. 32 Ich beziehe mich hier ausschließlich auf die überarbeitete Fassung der Seinslogik von 1831/32, weil diese gegenüber derjenigen von 1812 den Vorteil hat, über eine entwickelte Endlichkeitskonzeption zu verfügen. 27
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3. Ein logischer Begriff des Bösen Es stellt sich also die Frage, was das Böse ist. Bei Kant haben wir erfahren, dass es eine Ausnahme von der allgemeinen Gesetztesstruktur bedeutet, d. h. insofern sich uns das praktische Gesetz bei Kant als ein kategorischer Imperativ darstellt, der uns das Kriterium des „Princip[s] einer allgemeinen Gesetzgebung“33 bietet, wäre der Verstoß gegen dieses Prinzip erst einmal als eine Ausnahme von der (qualitativen) Allgemeinheit bzw. von der allgemeinen Gesetzgebung zu verstehen. Aber wie lässt sich die Ausnahme von der Allgemeinheit denken? Was denken wir, wenn wir eine Ausnahme denken wollen? Hegel sagt, dass wenn wir Etwas von etwas Anderem ausnehmen, es von einem Anderem abtrennen, dann schließen wir es zugleich in sich selbst ein. Das Ausgenommene beansprucht ein eigenes Insichsein gegenüber etwas Anderem, es trägt einen eigenen Geltungsanspruch vor, der als solcher in einem Anderem keinen Bestand und keinen Ausdruck findet d. h., eine Ausnahme entspricht ziemlich genau dem, was in der Seinslogik als Grenzverhältnis der Endlichkeit bezeichnet ist. Entsprechend stellt sich zunächst die Frage, wie Hegel das Grenzverhältnis dort bestimmt: Die Grenze als einfache Negation trennt Etwas gegen Anderes ab, sie ist die Beziehung zwischen Sein und Nichts im Dasein. Einerseits stellt sich durch den Ausschluss des Anderen die einfache Identität des daseienden Etwas her. Das Andere ist die Negation des Etwas und indem es diese erste Negation negiert, wird es, durch das Aufheben der ersten Negation, zu einem einfachen, identischen Insichsein. Als solches ist es aber nur ein Unmittelbares, das gerade in keinem Zusammenhang zum Anderen steht, es hat „keine concrete[n] Bestimmungen“ zu seinen Seiten;34 es ist „zunächst nur als sich in seiner Beziehung auf sich einfach erhaltend“.35 Genauso verhält es sich mit dem Anderen. Weil Etwas die Negation des Anderen ist, wird dieses aber nicht nur aus dem Etwas ausgeschlossen, sondern auch in dessen Insichsein eingeschlossen. Das Etwas enthält das Andere zumindest teilweise in sich und es verweist deshalb implizit auf sein Nichtdasein, das ist das Sein-für-Anderes. Dasein ist bestimmtes Sein, dass, weil es das Nichtsein in sich einschließt, ein bestimmtes, in sich verneintes Sein ist. Es ist nicht sein Anderes. Aber das Andere Dasein erhält sich auch in der Verneinung, sein Nichtdasein als Etwas ist ebenso ein eigenes Sein. Beide bestehen sozusagen nebeneinander. In der Endlichkeit werden beide als affirmatives Ansichsein auseinandergehalten und als quasi Selbstständige, nebeneinander Bestehende aufgefasst. Zugleich machen sie aber jeweils die Bestimmtheit des Anderen aus; es handelt sich damit um ein relatives Bestimmen. KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 30. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Lehre vom Sein (1832), GW 21, 104. 35 Ebd. 33 34
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Allerdings ist das Andere am Anfang der Seinslogik im Abschnitt zur Qualität gerade kein tatsächlich Anderes, es gibt an dieser Stelle keine quantitativ bestimmten, d. h. numerisch verschiedenen, Etwas. Das andere Etwas ist vielmehr das endliche Etwas selbst und markiert dessen Veränderung und Vergänglichkeit. Die Endlichkeit ist schließlich deshalb endlich, weil ihr „Nichtseyn ihre Natur, ihr Seyn ausmacht“,36 d. h.: Die endlichen Dinge sind, aber ihre Beziehung auf sich selbst ist, daß sie als negativ sich auf sich selbst beziehen, eben in dieser Beziehung auf sich selbst über sich, über ihr Seyn, hinauszuschicken. Sie sind, aber die Wahrheit dieses Seyns ist ihr Ende. Das Endliche verändert sich nicht nur, wie Etwas überhaupt, sondern es vergeht, und es ist nicht bloß möglich, daß es vergeht, so daß es seyn konnte, ohne zu vergehen. Sondern das Seyn der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichseyn zu haben, die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes.37
Das Etwas ist endlich, insofern es nicht nur begrenzt ist, sondern sich durch sich, durch sein eigenes Dasein, über seine Grenze hinausschickt und sich dabei zu seinem Nichtsein und Ende bringt. Das endliche Etwas wird nicht durch andere Dinge zerstört, sondern es negiert und zerstört sich selbst. Endliche Dinge beziehen sich auf sich selbst und weisen dadurch ein eigenes Insichsein auf. Als nur negativ sich auf sich selbst beziehend richten sie sich selbst in ihrem eigenen Insichsein zugrunde.38 Damit bezeichnet die Endlichkeit der Dinge die „auf die Spitze getriebene qualitative Negation“,39 weil „in der Einfachheit solcher Bestimmungen ihnen nicht mehr ein affirmatives Seyn unterschieden von ihrer Bestimmung zum Untergange gelassen ist“.40 Innerhalb der Endlichkeit bildet die qualitativ einfache Negation den abstrakten Gegensatz des Nichts und Vergehens gegen das Sein; Endlichkeit ist so die vom Verstand „an sich fixierte Negation, und steht daher seinem Affirmativen schroff gegenüber“.41 Für Hegel kommt es nun aber darauf an, dass „das Vergehen, das Nichts, nicht das Letzte ist, sondern [selbst] vergeht“,42 denn sonst würde das Vergehen absolut gesetzt. Entsprechend ist die Wahrheit der Endlichkeit ihre Negation. Dagegen bezieht sich das unendliche Sein rein affirmativ auf sich selbst. Es ist der positive Selbstbezug des Seins, die innere Identität, in der das endliche Dasein als solches keinen Bestand hat. Das affirmative Sein ist das Sein, das sich nicht selbst zerstört, das ist und nicht aufhört zu sein,43 es ist „das Seyn, das sich Ebd., 116. Ebd. 38 Vgl. ebd. 39 Ebd., 117. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd., 118. 43 Vgl. dazu auch STEPHEN HOULGATE, Das Sein. Zweyter Abschnitt. Die Quantität, in: Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik, hg. von Nadine Mooren/Michael Quante (Hegel-Studien Beiheft 67), Hamburg 2018, 145–218, hier 149. 36 37
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aus der Beschränktheit wieder hergestellt hat“.44 Würde das endliche Sein nun dem Unendlichen als dessen Affirmation bloß gegenübergestellt, in dem Sinne, dass ein Negationsverhältnis zwischen der Endlichkeit und der Unendlichkeit angenommen würde, dann würden sich darin beide wechselseitig begrenzen und in einen schlecht unendlichen Progress eintreten bzw. darin verweilen. Das Schlecht-unendliche ist ein Jenseits, weil es nur die Negation des als real gesetzten Endlichen ist, – es ist die abstracte, erste Negation; nur als negativ bestimmt, hat es nicht die Affirmation des Daseyns in ihm; festgehalten als nur Negatives soll es sogar nicht da, soll unerreichbar sein.45
Nun kommt es darauf an die Negation selbst als Idealität zu bestimmen.46 Das heißt, dass dem Endlichen als Realität nun gerade nicht, wie beispielsweise noch bei Kant die Idealität der Unendlichkeit gegenübergestellt ist. Durch die Negation der Endlichkeit wird diese Art der Idealität nicht vollständig ausgedrückt. Das Endliche selbst ist im wahrhaften Unendlichen das Ideelle, es ist „als eine Bestimmung, [als ein] Inhalt, der unterschieden, aber nicht selbstständig seyend, sondern als Moment“ ist.47 Hegel versteht die Idealität deshalb auch als die „Qualität der Unendlichkeit“.48 Mit dem Aufheben der Endlichkeit, d. h. mit dem Aufheben der Endlichkeit als solcher und dem Aufheben der schlecht-unendlichen Endlichkeit, die eine nur negative Unendlichkeit darstellt, ist sie Rückkehr in sich, Beziehung auf sich selbst, also Sein. „Da in diesem Sein Negation ist, ist es Daseyn, aber da sie ferner wesentlich Negation der Negation, die sich auf sich beziehende Negation ist, ist sie das Daseyn, welches Fürsichseyn genannt wird.“49 Das unendliche Sein kann nicht von dem Dasein, der Negation und der Bestimmtheit getrennt werden. Es ist selbst die Unendlichkeit des bestimmten, unterschiedenen Daseins des begrenzten Etwas. Das unendliche Sein ist nicht nur ein bestimmtes Dasein überhaupt, keine einfache Negation, sondern es ist wesentlich sich auf sich beziehend, also Negation der Negation. Als „absolute Vereinigung der Beziehung auf Anderes und der Beziehung auf sich“ ist es das Fürsichsein.50 Wohingegen das Dasein immer relativ gegen anderes Daseiendes bestimmt ist, hat das Fürsichsein seine eigene Bestimmtheit und Identität in seiner reinen Beziehung auf sich selbst. Es schließt anderes Daseiendes aus sich aus, indem es in sich gekehrt ist und sich auf sich selbst bezieht. Die Struktur des fürsichseienden Eins besteht dann in der Einheit der Bestimmtheit und Negation mit der reinen Beziehung auf sich selbst. Und damit hat Hegel im Fürsichsein den höchsten Punkt oder die Spitze der Logik der HEGEL, Lehre vom Sein (1832), GW 21, 125. Ebd., 136. 46 Vgl. ebd., 137. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd., 151 f. 44 45
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Endlichkeit erreicht: Fürsichsein ist die Einheit von Realität und Idealität des endlichen Daseins. Es ist ein nur einzelnes, individuelles, aber ganzes und vollständig bestimmtes Sein. In diesem Sein ist zwar das einfache Negieren noch als eine Grenze enthalten, allerdings ist diese Grenze nur noch abstrakt, weil sie nicht mehr einen seienden Unterschied, sondern den reinen Selbstbezug und die innere Ausdifferenzierung dieses in-sich-unterschiedenen Seins markiert. Es bildet gewissermaßen eine Ausnahme, insofern es den Bezug auf tatsächlich Anderes aus sich ausschließen muss, um sich selbst zu erreichen. Hegel spricht dann auch von dem Fürsichsein als eines polemischen negativen Verhaltens gegen das begrenzende Andere.51 Und genau in diesem Sinne kennzeichnet er das Böse: Die Selbstständigkeit auf die Spitze des fürsichseyenden Eins getrieben, ist die abstracte, formelle Selbstständigkeit, die sich selbst zerstört; der höchste, hartnäckigste Irrthum, der sich für die höchste Wahrheit nimmt; – in concreteren Formen als abstracte Freiheit, als reines Ich, und dann weiter als das Böse erscheinend. Es ist die Freiheit, die sich so vergreift, ihr Wesen in die Abstraction zu setzen, und in diesem Bey-sich-seyn sich schmeichelt, sich rein zu gewinnen.52
Logisch betrachtet ist diese auf die Spitze getriebene Negation im Fürsichsein eine bloß ideelle Einheit. Als solche muss sie sich in den nachfolgenden Verhältnissen in einen Bezug zu Anderem, d. h. für unsere Thematik vor allem in Bezug zum abstrakten Recht und dann zur sittlichen Allgemeinheit stellen und sich darin allererst realisieren.
4. Das Böse als Gegenstand der Rechtsphilosophie Die Rechtsphilosophie unterteilt sich in die drei Abschnitte Das abstrakte Recht, Die Moralität und Die Sittlichkeit. Wohingegen das abstrakte Recht von der besonderen Subjektivität des Menschen absieht und lediglich die formelle und eben abstrakte Rechtsgleichheit der Person betrachtet, macht die Moralität die vollständige Besonderheit oder auch innere Freiheit des einzelnen Subjekts aus. Beides sind Formen, in der sich begrifflich noch keine sittliche Allgemeinheit hergestellt hat, auch wenn man sinnvollerweise davon ausgehen muss, dass der moderne Staat die Voraussetzung für die Betrachtung der besonderen Rechtsverhältnisse (d. h. für deren begriffliche Entwicklung) bildet. Insofern sich auf der Ebene des abstrakten Rechts Freiheit äußerlich im Eigentum realisiert und vertragsrechtlich geregelt wird, treten als Verstöße hier das unbefangene Unrecht, Betrug, Zwang und das Verbrechen auf. ‚Rechtskollisionen‘ sind dabei jederzeit möglich, denn es ist die „Natur des Endlichen, Besonderen […], Zufälligkeiten Raum zu geben. […] Collisionen müssen also Statt haben, 51 52
Vgl. ebd., 145. Ebd., 160.
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denn wir sind hier auf der Stufe des Endlichen.“53 Dabei ist wesentlich, dass das Recht im Allgemeinen anerkannt bleibt: „Der Streit betrifft nur die Subsumtion der Sache unter das Eigenthum des einen oder des andern“.54 Bereits in der Einleitung hat Hegel auf die Möglichkeit von Kollisionen hingewiesen: Da er ja den weiten Rechtsbegriff (Dasein aller Bestimmungen der Freiheit) von einem engen Rechtsbegriff (d. i. zunächst das abstrakte, formelle Recht) unterscheidet, ist es wichtig, dass Kollisionen nur dort vorkommen können, wo „sie auf gleicher Linie stehen“:55 Das Recht ist etwas Heiliges überhaupt, allein weil es das Dasein des absoluten Begriffs, der selbstbewußten Freiheit ist. – Der Formalismus des Rechts aber […] entsteht aus dem Unterschiede ihrer Entwicklung des Freiheitsbegriffs. Gegen formelleres, d. i. abstrakteres und darum beschränkteres Recht hat die Sphäre und Stufe des Geistes, in welcher er die weiteren in seiner Idee enthaltenen Momente zur Bestimmung und Wirklichkeit in sich gebracht hat, als die konkretere, in sich reichere und wahrhafter allgemeine, eben damit auch ein höheres Recht.
Und weiter heißt es: Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freyheit hat ihr eigenthümliches Recht, weil sie das Daseyn der Freyheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist. Wenn vom Gegensatze der Moralität, der Sittlichkeit gegen das Recht gesprochen wird, so ist unter dem Rechte nur das erste, formelle der abstracten Persönlichkeit verstanden. Die Moralität, die Sittlichkeit, das Staatsinteresse ist jedes ein eigenthümliches Recht, weil jede dieser Gestalten Bestimmungen und Daseyn der Freyheit ist.56
Im Gegensatz zum abstrakten Recht ist die Moralität die Sphäre, in der sich die innere Freiheit als besondere Individualität geltend macht. Es geht dabei um das Wohl des Einzelnen, wobei zunächst das Notrecht und dann vor allem das Böse, um das es hier vornehmlich geht, Formen der Ausnahme bilden. Genau genommen entspricht das Notrecht dabei jedoch keiner Rechtskollision, weil es als eine höhere Bestimmung des Freiheitsbegriffs gilt, d. h. das Leben bzw. Überleben steht ausdrücklich über dem niedriger angesiedelten formellen Eigentumsrecht. Auf der Seite des Notleidenden bedeutet das Notrecht zwar die Anerkennung des Rechts in der Eigentumsverletzung (bei Mundraub bspw.), zugleich würde aber ohne das Notrecht die „unendliche Verletzung des Daseyns und darin die totale Rechtlosigkeit“,57 d. h. der Tod des Notleidenden folgen. Wie bereits auf der Ebene des abstrakten Rechts das Verbrechen, so ist das Böse auf der Ebene der Moralität die Form der absoluten Selbstbezüglichkeit des einzelnen, für-sich-seienden Willen, der sich gegen den allgemeinen 53 GEORG FRIEDRICH WILHELM HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 2, 846. 54 HEGEL, Grundlinien, GW 14, 1, 86 (§ 85). 55 Ebd., 46 (§ 30, Anm.). 56 Ebd. 57 Ebd., 112 (§ 127).
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an-sich-seienden Willen des Rechts richtet.58 Das Verbrechen negiert das Recht und lässt allein den besonderen Willen des Verbrechers gelten. Es ist aber insofern systematisch notwendig, als erst durch die Verletzung des Rechts das Verbrechen als für sich positiv dem Recht negativ gegenüber stellt. Die Strafe als Reaktion auf das Verbrechen bzw. als dessen Negation führt schließlich zur „Wiederherstellung des Rechts“,59 dann aber auf der Ebene der Moralität, die die Besonderheit des Einzelnen, Individuellen zu betrachten hat. Gehen wir nun auf die letzte Stufe der Rechtskollision in der Moralität, dann zeigt sich, dass hier mit dem Begriff des Bösen (wie beim Verbrechen) eine Ausnahme vorliegt, die mit der logischen Figur des Fürsichseins vorgezeichnet wurde. Wie bereits erwähnt haben wir es auf der Ebene der Moralität mit der besonderen Subjektivität zu tun. So heißt es im Paragraphen 138: Diese Subjectivität als die abstracte Selbstbestimmung und reine Gewißheit nur ihrer selbst, verflüchtigt eben so alle Bestimmtheit des Rechts, der Pflicht und des Daseyns in sich, als sie die urtheilende Macht ist, für einen Inhalt nur aus sich zu bestimmen, was gut ist und zugleich die Macht, welcher das zuerst nur vorgestellte und seyn sollende Gute eine Wirklichkeit verdankt.60
Das heißt, als „absolute[ ] Reflexion in sich“ gibt sich das Subjekt eine „ideelle[ ] Innerlichkeit“,61 es weiß, dass ihr „alle vorhandene und gegebene Bestimmung nichts anhaben kann noch soll“,62 es richtet sich nach innen, um in sich danach zu suchen, was „als das Rechte und Gute in der Wirklichkeit und Sitte gilt“.63 Nun kommt es wesentlich auf den Inhalt an, denn nur „[w]enn die Welt um den Menschen verdorben ist, so ist die Weise wonach die Menschen urtheilen, handeln, ohne den Inhalt, ohne den Begriff der Wahrheit. In solchem Verderben findet der Mensch das eine Besondere seiner Wirklichkeit nicht mehr der Allgemeinheit des Begriffs gemäß.“64 Grundsätzlich gilt, dass die reine Innerlichkeit des Willens doppelt bestimmt ist. Sie ist die Möglichkeit, entweder das „an und für sich allgemeine“ oder die „Willkühr die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Principe zu machen, und sie durch Handeln zu realisiren“, d. h. „böse zu seyn“.65 Die formelle Subjektivität, die diesen Inhalt (entweder Allgemeines oder Besonderes zu sein) nicht berücksichtigt, befindet sich Hegel zufolge immer „auf dem Sprunge […] ins Böse umzuschlagen“,66 weil Moralität und das Böse denselben Ursprung Vgl. ebd., 96 (§ 104). Ebd., 91 (§ 99). 60 Ebd., 120 (§ 138). 61 Ebd., 121 (§ 138, Anm.). 62 Ebd. 63 Ebd. 64 HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 2, 900. 65 HEGEL, Grundlinien, GW 14, 1, 121 (§ 139). 66 Ebd., 121 (§ 139, Anm.). 58 59
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haben. Beide sind die für sich seiende, für sich wissende und beschließende Gewissheit ihrer selbst. Bleibt man bloß beim Positiven stehen, beim bloß rein Guten, das Gut in seiner Ursprünglichkeit sein soll, so ist dieß die Bestimmung des Verstandes, der solch Abstractes festhält, in solchem Einseitigen stehen bleibt […] Hat man aber den Begriff gefaßt, so faßt man die Positivität so auf, daß sie Thätigkeit, Unterscheidung ihrer von sich selbst ist. Das Böse also hat wie das Gute im Willen seinen Ursprung. Der Wille ist in seinem Begriff sowohl gut als Böse. Der Ursprung des Bösen – innerlich zu sein.67
Das heißt aber nicht, „weil das Böse im Begriff liegt, […] es nothwendig [ist], und es ergreifend […] der Mensch keine Schuld [hat]. Insofern für den Menschen das Gute ist, ist für ihn auch das Böse. […] Davon, daß dieß der Mensch hat, muß nun unterschieden werden, daß der Wille zu Einem oder dem Anderen sich entschließt. Diese Entschließung ist des Menschen eigenes Thun, das Thun seiner Freiheit, seiner Schuld.“68 Die Entschließung zu einem von beidem ist notwendig, um die Gegensätzlichkeit von Gut und Böse aufzuheben, aber es ist keine Naturnotwendigkeit sich für das Böse zu entschließen. „Ich habe nun also, da das Gute wie das Böse mir entgegensteht, die Wahl zwischen Beiden, kann mich zu Beiden entschließen […] Gerade hierin liegt die Subjectivität. Dieß ist also die Natur des Bösen daß der Mensch es wollen kann, aber nicht nothwendig muß.“69 Die Vorstellung des Subjekts treibt diesen Gedanken nun aber noch weiter, denn schon wenn das Böse gewählt wird, kann sich dieser böse Wille immer noch in den bloßen Schein des Guten verkehren. Entweder indem die Handlung nur für Andere als gut ausgegeben wird, dann handelt es sich um Heuchelei.70 Oder indem sie für sich selbst als gut behauptet wird, „so ist es die noch höhere Spitze der sich als das Absolute behauptenden Subjectivität“71. „Für diese ist das Gute und Böse an und für sich verschwunden, es ist ihr gleichgültig, und die Vorstellung […] kann […] dafür ausgeben, was sie will und vermag.“72 Die höchste Form des Bösen negiert in der absoluten Selbstbezüglichkeit des fürsich-seienden Subjekts nicht bloß das Gute, sondern treibt seine Subjektivität soweit, den Gegensatz von Gut und Böse selbst zu negieren: Nicht die Sache ist das Vortreffliche, sondern Ich bin der Vortreffliche, und bin der Meister über das Gesetz und die Sache, der damit, als mit seinem Belieben, nur spielt, und in diesem ironischen Bewußtseyn, in welchem Ich das Höchste untergehen lasse, nur mich genieße.73 HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 2, 903. Ebd., 904. 69 Ebd. 70 Vgl. HEGEL, Grundlinien, GW 14, 1, 123 (§ 140). 71 Ebd. 72 HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 2, 904. 73 HEGEL, Grundlinien, GW 14, 1, 134 (§ 140, Anm.). 67 68
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Dadurch hebt sich aber nicht nur der Unterschied von Gut und Böse auf, sondern dazu kommt „die ganz abstruse Sophisterei“74 der Besonderheit oder subjektiven Eitelkeit, allen Inhalt zu wissen und in diesem Wissen sich als das Absolute zu wähnen. Damit liegt auch hier eine Form von Ausnahme vor, in der sich das besondere Subjekt rein für sich gegen das Andere abkapselt und als quasi Göttliches auffasst. Dieser Standpunkt ist notwendig, insoweit er einmal vollkommen erreicht sein muss, um dann den Mangel einsehen zu können. Das Mangelhafte besteht darin, dass „ich zu etwas Objectivem mich verhaltend, es für mich auch zugleich untergegangen ist“,75 d. h. auf diesem Standpunkt wird kein objektives Recht mehr anerkannt, auf das sich die subjektive Überzeugung beziehen könnte: „[E]s ist die Berufung auf das Gewissen, auf die Subjectivität, daß das, was gelten soll, mir gelten soll. Dieß ist ganz richtig, aber das Mangelhafte ist, daß nur es auf diese Überzeugung ankommen soll, so daß nur die Überzeugung das Entscheidende sei, und es nicht ein Rechtes an und für sich gebe.“76 Deshalb betont Hegel schließlich, dass es in der Ironie mit der Überzeugung nicht weit her sei und daß in diesem höchsten Kriterium letztlich nur die Willkür herrsche. Es muss zur Objektivität fortgegangen werden, in der die Subjektivität „nicht ihre Willkühr, sondern das Objective will“ und „die Freiheit selbst zum Inhalt hat“.77 Das heißt, das Objektiv-Sittliche muss „an die Stelle des abstracten Guten“ treten.78
5. Fazit Sowohl Kant als auch Hegel gehen in ihrer je eigenen Systematik davon aus, dass das Böse eine Ausnahme von der Allgemeinheit darstellt und Kennzeichen von Freiheit und menschlicher Endlichkeit ist. Wohingegen sich das Böse bei Kant, wenn auch notwendig angenommen, der gesetzmäßigen Erfassung entzieht, entspricht es bei Hegel dem Begriff des in der Seinslogik entwickelten Fürsichseins und damit der auf die Spitze getriebenen Endlichkeit. Die subjektive Willensbestimmung des endlichen Menschen ist an sich betrachtet entweder gut oder böse. Beide sind mögliche Bestimmungen und dürfen nicht als trennbar gleichgültige und zufällig gegeneinander Bestehende vorgestellt werden. Dieses abstrakte Nebeneinander der endlichen Bestimmungen als in der Einfachheit der einander negierenden und ineinander umschlagenden
HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, GW 26, 2, 906. Ebd., 112. 76 Ebd., 910. 77 Ebd., 915. 78 HEGEL, Grundlinien, GW 14, 1, 137 (§ 144). 74 75
Die logische Erfassung des Bösen bei Kant und Hegel
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relativen Bestimmtheiten bezeichnet Hegel als die „Hartnäckigkeit des Verstandes“,79 der beide Seiten nicht zusammenbringen kann. Es ist das Charakteristikum der Endlichkeit zufällig, veränderlich und vergänglich zu sein. Aber dies stellt nur die negative Seite des endlichen Seins dar. Zur Endlichkeit gehört ebenso wesentlich gerade in die äußerlichen Verhältnisse eingebunden zu sein und sich in dieser Äußerlichkeit als ein eigenständiges Sein geltend zu machen bzw. sich in ihr zu realisieren. „Der Verstand verharrt in […] Trauer der Endlichkeit, indem er das Nichtseyn zur Bestimmung der Dinge, es zugleich unvergänglich und absolut macht.“80 Das Fürsichsein ist dann das absolutes Bestimmtsein als positiver Selbstbezug des Subjekts. Als absolutes Bestimmtsein muss es sowohl das Gute als auch das Böse in sich einschließen. Das Gute besteht im Menschen, insofern er „seinem Begriffe nach als Geist, Vernünftiges überhaupt, [ist] und […] die Bestimmung der sich wissenden Allgemeinheit schlechthin in sich“ hat.81 Das Böse besteht notwendig als das „Eigenste des Individuums, indem es eben seine sich schlechthin für sich eigen setzende Subjectivität ist“.82 Der qualitative Unterschied von Gut und Böse wird deshalb im Fürsichsein als ein ideeller bestimmt: Das Endliche, wie es in Wahrheit ist, ist dann als eine absolute Bestimmung, d. h. als ein Inhalt, der unterschieden, aber nicht selbstständig, sondern nur als Moment ist. Sowohl das vernünftig-allgemeine Gute als auch das individuell-besondere Böse sind Momente des für-sich-seienden Einen. Das für-sich-Sein ist für-ein-Anderes, welches es aber selbst ist. Es ist deshalb nur für Eines und der Unterschied ist ideell, er ist die abstrakte Grenze seiner selbst. Das Eine bildet nur eine Identität, die aber als solche bloße Idealität ist: „[D]ie Idealität ist aber diß, daß beide Bestimmungen gleicherweise nur für eines sind, und nur für eines gelten, welche Eine Idealität somit ununterschiedene Realität ist.“83 Als ununterschiedene Realität betrachtet sich das Eine unabhängig von der äußerlichen gesellschaftlichen Realität oder es verhält sich polemisch gegen dieses begrenzende Andere. Es ist die abstrakte, formelle Selbstständigkeit, der höchste hartnäckigste Irrtum, der sich in seiner Freiheit so vergreift, das eigene Wesen bzw. die eigene Subjektivität in dieser Selbstständigkeit rein gewinnen zu wollen. Damit verhält es sich aber nicht negativ gegen sein begrenzendes Anderes, sondern zerstört, weil es zunächst selbst sein eigenes Anderes ist, sein eigenes Sein. Die Moralität vermag deshalb in ihrem Fürsichsein schließlich ihrem eigenen Begriff nicht gerecht zu werden, denn als vollständige Erfassung des Gegensatzes HEGEL, Lehre vom Sein (1832), GW 21, 161. Ebd., 117. 81 HEGEL, Grundlinien, GW 14, 1, 124 (§ 140, Anm.). 82 Ebd. 83 HEGEL, Lehre vom Sein (1832), GW 21, 147. 79 80
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des abstrakt seienden Guten und des abstrakt seienden Bösen vollzieht sie bereits den Übergang in die sittliche Allgemeinheit und stellt sich in ein konkretes Verhältnis zu ihrer eigenen gesellschaftlichen Realität. „Das Sittliche ist subjective Gesinnung aber des an sich seyenden Rechts“.84 Es ist dann allerdings nicht nur Sache des einzelnen, besonderen Individuums sich selbst als Teil der sittlich-allgemeinen Institutionen (in der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat) zu begreifen und sich in ihr geltend zu machen, sondern auch umgekehrt Aufgabe dieser Institutionen einen Umgang oder eine Vermittlung mit den besonderen, individuellen Geltungsansprüchen zu finden. „Man könnte den Verstand damit für das schlichte Auffassen des Factums der [ideellen] Einheit gleichsam trösten, daß der Unterschied auch wieder eintreten werde.“85
84 85
HEGEL, Grundlinien, GW 14, 1, 135 (§ 141, Anm.). HEGEL, Lehre vom Sein (1832), GW 21, 161.
Hegel und das Übel in der Geschichte GILLES MARMASSE Wie wir alle wissen, stellt Hegel seine Philosophie als eine Theodizee dar. Während er sich einerseits auf das Vermächtnis von Leibniz beruft, zeigt er andererseits auch eine gewisse Distanz dazu: Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz metaphysisch auf seine Weise in noch unbestimmten, abstrakten Kategorien versucht hat, so daß das Übel in der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen versöhnt werden sollte.1
Was ist die Originalität des hegelschen Ansatzes? Die Frage stellt sich umso mehr, als der Hegelianismus oft nur als eine radikale Wiederholung der leibnizschen Argumentation interpretiert wurde, dass jedes Übel eine Raison d’être hat und zu einem höheren Gut beiträgt. Laut Frederick Beiser zum Beispiel „geht in Hegels grundlegend optimistischem Bericht im Reich der Geschichte nichts verloren oder wird nichts umsonst erreicht“.2 Paul Ricoeur fragt sich ebenfalls, „ob diese Dialektik nicht mit logischen Mitteln, die Leibniz nicht hatte, einen Optimismus wiederherstellt, der aus der gleichen Kühnheit resultiert, aber aus einer vielleicht noch größeren rationalen Hybris“.3 Nach diesen Interpretationen besteht das spekulative Wissen als solches darin, den Standpunkt des Menschen aufzugeben, um denjenigen Gottes anzunehmen. Der spekulative Philosoph stellt fest, dass das, was gemeinhin als ungerechtfertigt angesehen wird, eigentlich Teil des göttlichen Projekts ist. Deswegen verhalte er sich gegenüber dem Unglück der Menschen gleichgültig und freue sich unbegrenzt über die Vortrefflichkeit der Wirklichkeit. Mehr noch: Die hegelsche Theodizee vermittele die Vorstellung, dass das Übel nicht nur, wie nach der leibnizschen Argumentation, eine unvermeidliche Bedingung des Guten ist, die in gewisser Weise durch die Logik der Suche nach dem Optimum auferlegt wird, sondern dass es von Gott ganz freiwillig produziert wird. Hegels Gott wäre nicht, wie der von Leibniz, einer Rationalität unterworfen, vor der er machtlos wäre, sondern würde selbst die Ziele und Mittel GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1830/31, GW 18, 150. 2 FREDERICK BEISER, Hegel, New York 2005, 272. 3 PAUL RICOEUR, Le mal, un défi à la philosophie et à la théologie, Genf 1996, 32. 1
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seines Handelns auf der Welt bestimmen. Wir würden also von einer Theodizee, die im Falle Leibniz’ darin besteht, zu zeigen, dass Gott in gewisser Weise machtlos gegenüber dem Übel ist, zu einer Theodizee übergehen, die dazu neigen würde, zu zeigen, dass das Übel von Gott bewusst gewählt wird. Schließlich ist es gerade der Unterschied zwischen Gut und Böse, der in Frage gestellt würde, da der Hegelianismus alles zu legitimieren scheint, was ist. Es ist jedoch nicht sicher, ob diese Lesarten den Texten gerecht werden, da sie die Originalität des Begriffs der Negativität nicht berücksichtigen. Meine Hypothese lautet wie folgt: a) Für Hegel ist das Übel nicht die positive Ursache, sondern das, was dem Guten entgegensteht. Es ist ein Mittel nur als Material oder als Gelegenheit und nicht als Ursache. b) Hegel beruft sich nicht auf eine Optimierungsrechnung, sondern argumentiert, dass das Übel – z. B. die Kontingenz oder die Endlichkeit – unfähig ist, dem Guten – Freiheit, Versöhnung – zu widerstehen. Darüber hinaus ist jede Phase der Geschichte, unabhängig von ihrem Mangel und den damit verbundenen Unglücksfällen, das Werk der Freiheit des Geistes. Die Philosophie hat daher die Aufgabe, in der Geschichte neben den relativen Ursachen auch die Souveränität des freien Geistes zu erkennen. c) Für Hegel verschwindet das Übel jedoch nicht, denn der Sieg des Guten ist „ideal“ und nicht „real“.
1. Das Übel ernst nehmen Hat Hegels Philosophie einen Platz für das Übel? Auf diese Frage ist zu antworten, dass das Übel in dem enzyklopädischen Gang allgegenwärtig ist. Tatsächlich ist jede Figur der systematischen Entwicklung als eine bestimmte Phase des Fortschritts zur Versöhnung durch eine gewisse Abstraktion und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Während jeder der Schritte eine Lösung für den Mangel des vorherigen Schrittes ist, ist er auch eine neue Form der Unvollkommenheit. Selbst der allerletzte Schritt, nämlich die spekulative Philosophie, beinhaltet ein Moment der Unvollständigkeit, indem sie ein Prozess ist. Über den strukturellen Charakter des Mangels im systematischen Fortschritt hinaus gibt es zahlreiche Texte, die die Ungerechtigkeit der Menschen und das Unglück zeigen, das sie erleiden. So prangert Hegel beispielsweise die Brutalität des römischen Staates und die Korruption der mittelalterlichen Kirche sehr deutlich an. Ein bekannter Text aus der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erinnert in einem Durcheinander an die Unvollkommenheiten und Laster der Menschen, an das Unglück der Besten unter ihnen und an die Schicksalsschläge, die die brillantesten Reiche treffen. Das beunruhigendste Element ist letztendlich das Missverhältnis zwischen der Summe der Anstrengungen der Völker und den schlechten Ergebnissen, die sie erzielen:
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Wenn wir dieses Schauspiel der Leidenschaften betrachten und die Folgen ihrer Gewalttätigkeit, des Unverstandes erblicken, der sich nicht nur zu ihnen, sondern selbst auch und sogar vornehmlich zu dem, was gute Absichten, rechtliche Zwecke sind, gesellt, wenn wir daraus das Übel, das Böse, den Untergang der blühendsten Reiche, die der Menschengeist hervorgebracht hat, sehen, so können wir nur mit Trauer über diese Vergänglichkeit überhaupt erfüllt werden und, indem dieses Untergehen nicht nur ein Werk der Natur, sondern des Willens der Menschen ist, mit einer moralischen Betrübnis, mit einer Empörung des guten Geistes.4 Man kann jene Erfolge ohne rednerische Übertreibung, bloß mit richtiger Zusammenstellung des Unglücks, das das Herrlichste an Völker- und Staatengestaltungen wie an Privattugenden erlitten hat, zu dem furchtbarsten Gemälde erheben.5
Vergleicht man die hegelsche Auffassung vom Übel mit der von Leibniz, so zeigt sich, dass hier eine neue Art des Übels entsteht: Jenseits des physischen, moralischen und metaphysischen Übels berücksichtigt Hegel das Leiden und den Tod von ausgezeichneten und sittlich hochstehenden Individuen und Staaten. Es ist, wenn man so will, ein moralisches Übel, nur dass es nicht im Blick auf die Person betrachtet wird, die es begeht, nämlich den Täter, sondern in der Person, die es erleidet, nämlich das Opfer. Ist das eine Ungerechtigkeit? Das Wort wird nicht ausgesprochen, und wir werden uns fragen müssen, warum das so ist. Dennoch wird der Kontrast zwischen dem Verdienst der historischen Agenten und ihrem traurigen Schicksal intensiv betont. Das Interesse an diesem Text liegt auch in der Bedeutung, die er den Gefühlen der Zuschauer beimisst. Zugegebenermaßen stellen diese Gefühle für Hegel kein Wissen im strengen Sinne des Wortes dar. Der Philosoph muss sich weigern, „den Weg der Reflexion einzuschlagen, von jenem Bilde des Besonderen zum Allgemeinen aufzusteigen“.6 Dennoch ist ein solches Gefühl keine Illusion, und in den Augen Hegels ist die Kluft zwischen Tugend und erlittenem Unglück so groß, wie es sich anfühlt. Daher wird die Spekulation, wie wir sehen werden, nicht darin bestehen, die „Reflexion“ abzulehnen, sondern sie in einen umfassenderen Standpunkt zu integrieren. Das Übel ist laut Hegel wesentlich mit der Endlichkeit verbunden, d. h. mit der Tatsache, dass ein Seiendes durch das Anderssein begrenzt ist. Ein Seiendes ist endlich, wenn es sich in einem besonderen Modus auf das Andere bezieht und nicht in einem allgemeinen Modus. Mit anderen Worten: Die Endlichkeit entspricht dem Mangel an Versöhnung mit dem Anderen, sie führt zu einer Veränderung, die für beide der betroffenen Gestalten – Subjekt und Objekt – nicht angemessen ist. Das Seiende ist dann von äußeren Umständen abhängig und daher verwundbar, anstatt das aktive Subjekt seiner Veränderungen zu sein und seine Integrität selbst zu garantieren. HEGEL, Philosophie der Weltgeschichte, GW 18, 156. Ebd. 6 Ebd., 157. 4 5
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Warum, könnte man fragen, ist etwas endlich und nicht unendlich? In Hegels Werk kann die Unendlichkeit im Sinne dessen, was im Anderen bei sich ist – kurz gesagt, im Sinne konkreter Subjektivität – nur das Resultat eines Prozesses sein. Im Gegensatz dazu steht die Endlichkeit im Sinne dessen, was nicht versöhnt ist; entweder zu Beginn eines systematischen Zyklus (Moment der Unmittelbarkeit) oder in der ersten Negation dieses Anfangs (Moment der Besonderheit, der Spaltung), und Unmittelbarkeit ist wie die Spaltung per definitionem ohne jede immanente Rechtfertigung. So ist beispielsweise im Willensprozess, wie er in der Anmerkung zu § 139 der Rechtsphilosophie dargestellt ist, die erste Gestalt die des „natürlichen“ Willens des ungebildeten Menschen. Die zweite Gestalt ist diejenige, bei der der Wille nicht durch die innere Vernunft, sondern durch das äußere Objekt bestimmt wird. Hegel schreibt: „Der Mensch ist daher zugleich sowohl an sich oder von Natur als durch seine Reflexion […] böse.“7 Nun hat die Natürlichkeit, als Unmittelbarkeit, keine Erklärung, sie ist nur eine sachliche Tatsache. Und der heteronome Wille, als erste Negation der Unmittelbarkeit, als Spaltung, hat keine Rechtfertigung. Die Vermittlung in diesem letzten Fall ist kein internes Prinzip, sondern eine äußere Ursache, die Aufregung durch das Objekt. Weder Unmittelbarkeit noch Spaltung haben einen immanenten Grund. Aber gibt es in Hegel eine Instrumentalisierung des Übels? Können wir zum Beispiel sagen: Wenn es keine römische (repressive) Welt gegeben hätte, dann gäbe es keine germanische (befreiende) Welt, also ist die römische Welt die Bedingung für die germanische Welt, und sie wird durch das Absolute produziert, gerade um das Aufkommen der christlich-germanischen Welt zu ermöglichen? In Wirklichkeit kann diese Argumentation nur scheinbar auf Hegel zurückgeführt werden. Die Momente haben nämlich nach seiner Ansicht keinen kausalen Zusammenhang miteinander, weder im Sinne einer mechanischen Wirkung noch teleologisch, sondern eine Oppositionsbeziehung. Die germanische Welt kann die römische Welt nicht positiv erklären, weil sie nur im Widerspruch zu ihr entsteht. Auf der einen Seite ist nämlich die römische Welt selbstständig. Es kann daher nicht behauptet werden, dass sie im Hinblick auf die germanische Welt existieren würde. Andererseits drängt sich die letztere nur auf Kosten des Untergangs Roms auf die Weltbühne. Man darf zwar sagen, dass die germanische Welt das Moment vor ihr zur Bedingung hat, aber es muss dann präzisiert werden, dass diese Bedingung negativ ist. Sie ist nur ein Material. Sie wirkt nicht von selbst, ihre Rolle im Auftreten des germanischen Reiches ist nur, ein Hindernis zu sein. Das Hindernis ist nützlich, in dem Sinne, dass es die Selbstbestätigung des Siegers erlaubt. Dennoch ist das Üble, hier als römische Welt, nicht durch das Gute (als Wirkung) oder für das Gute, hier als die germanische Welt (als Mittel), 7 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 139, Zusatz, in: TWA 7, 261.
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gesetzt, denn während das Übel regiert, ist kein Gutes am Horizont. Das Gute hingegen hat seine vermittelnde Grundlage in sich selbst und entwickelt sich gegen das Übel bzw. das Böse.
2. Der Sieg des Unendlichen über das Endliche Hegels Philosophie hat jedoch die Originalität, zu behaupten, dass es dem Ganzen gelingt, sich in jeder seiner Figuren selbst zu bestätigen und über das Bruchstückhafte und das Fehlen der inneren Vernunft zu triumphieren. Hegels Philosophie ist eine Theodizee in dem Sinne, dass sie begreift, dass die Endlichkeit nicht das letzte Wort im systematischen Prozess hat, sondern sich der Unendlichkeit – im Sinne dessen, was im anderen bei sich ist – unterordnet. Hegels Theodizee bedeutet weder, dass das Übel nicht existiert, noch dass es im Vergleich zu dem Guten, das es begleitet, zu vernachlässigen ist, und sie bedeutet auch nicht, dass das Übel zu einem größeren Gut beiträgt, sondern vielmehr, dass es besiegt wird. Dies ist die Bedeutung der Aufhebung, d. h. der prozessualen Überwindung von Unmittelbarkeit und Teilung. Hegels These ist nicht, dass es keine Ungerechtigkeit gibt, sondern dass Ungerechtigkeit dazu verdammt ist, negiert zu werden: Diese Aussöhnung kann nur durch die Erkenntnis des Affirmativen erreicht werden, in welchem jenes Negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet.8 Die Gerechtigkeit ist die Manifestation der Nichtigkeit, der Idealität des Endlichen, dass dieses Sein keine wahrhafte Selbständigkeit hat.9
Das Ergebnis der Geschichte ist also zweierlei: Einerseits verlieren unbegründete Regime ihre Vorrangstellung und Vitalität, andererseits erscheint ein selbst begründetes Regime, d. h. ein Regime, das auf einem immanenten und konkret allgemeinen Willen beruht. Übrigens gehören die beiden Elemente zusammen: Die Aufhebung ungerechter Staaten, weil sie das Tun eines gerechten Staates ist, ist selbst gerecht. Aber warum wird das Übel besiegt? Wie kann man die Möglichkeit der Aufhebung ergründen? Aufhebung, so meine Lesart von Hegel, besteht darin, die einzelnen Daten in eine Gesamtheit zu bringen – aber auf ideale Weise. Sie besteht darin, eine Gesamtbedeutung zu erzeugen, in die die einzelnen Elemente integriert sind. Sie beruht auf der Entscheidung des Subjekts, sich zu verallgemeinern und sich im anderen zu erkennen. So basiert beispielsweise der Übergang von der geteilten griechisch-römischen Welt zur vereinigten germanischen HEGEL, Philosophie der Weltgeschichte, GW 18, 150. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 2, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1985, 567. 8 9
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Welt auf dem Willen der Bürger der germanischen Staaten, jeden Menschen als frei zu erachten. Nichts kann, so Hegel, einem solchen Willen entgegengesetzt werden. Aufhebung ist in der Tat ein rein idealer Akt. Es geht nicht darum, das gegebene Objekt real zu transformieren, sondern darum, ihm eine neue Bedeutung zu geben. Das Verständnis der hegelschen Theodizee erfordert das Verständnis dessen, was Aufhebung bedeutet. Meines Erachtens geht es bei der Aufhebung darum, die (theoretische) Bedeutung oder die (praktische) Regel der Dinge zu ändern. Genauer gesagt: darum, eine allgemeine Bedeutung oder eine allgemeine Regel an einem Ort festzulegen, an dem keine der beiden ursprünglich vorhanden war. Nun können die realen Daten ihrer idealen Formgebung nicht widerstehen. Es gibt hier kein Wunder: „Der Gedanke ist […] die innerste Negativität, worin alle Bestimmtheit aufgelöst wird, [worin] das Gegenständliche, Seiende sich aufhebt.“10 Betrachten wir zum Beispiel den Sieg Griechenlands über Persien, also den Sieg der „schönen Freiheit“ über den Despotismus. Dieser Sieg erklärt sich, so meine Lesart von Hegel, durch einen Unterschied in der Geistesveranlagung. Laut Hegel sind die Perser als Orientalen ohne Reflexion in sich selbst und lassen sich von einem Monarchen führen, der selbst von seinen unmittelbaren Wünschen getrieben wird. Im Gegensatz dazu zeichnen sich die Griechen durch ihre Vortrefflichkeit und ihr Streben nach objektiver Freiheit aus. Das Ergebnis von Marathon und Salamis ist keineswegs unerklärlich, sondern basiert auf der Fähigkeit eines autonomen Willens, einen entfremdeten Willen zu unterwerfen. Das Allgemeine hat Vorrang vor dem Besonderen, weil es per definitionem darin besteht, das Besondere zu regieren, während das Besondere nur abhängig sein kann. Gehen wir weiter: Für den Einzelnen ist die allgemeine Regel keine Einschränkung, sondern eine Befreiung. Es gibt einen sicheren Sieg der Regel über die Anomie, sobald die erste versucht, sich durchzusetzen. Sicherlich kann eine Regel einer anderen Regel gleichen Ranges widerstehen. Aber was desorganisiert ist, widersetzt sich als solches nicht einem Organisationsprinzip. Die Aufhebung besteht also in einem Verallgemeinerungsvorgang. Aber diese Verallgemeinerung ist selbst mehr oder weniger ausgeprägt. Zum Beispiel betreibt das sittliche Leben die Aufhebung der Moralität – aber als Moment des nur objektiven Geistes bleibt es von Widersprüchen geprägt. Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Auch wenn die germanische Welt die Aufhebung der griechisch-römischen Welt betreibt, bleibt sie von den Schranken der Geschichte im Allgemeinen abhängig.
10 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1822–23), hg. von Karl Brehmer/Karl-Heinz Ilting/Hoo Nam Seelmann, Hamburg 1996, 51.
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Aber mehr noch: Die Aufhebung verwandelt das Übel nicht auf reelle Weise, sondern auf ideelle Weise in das Gute. Man kann sich daher fragen, ob das Übel selbst von der Versöhnung betroffen ist. Nehmen wir das Beispiel des Übergangs von der bürgerlichen Gesellschaft (eine fragmentierte, von egoistischen Interessen getriebene Institution) zum Staat (eine Institution, die ihre Mitglieder vereint, indem sie in ihnen ein gemeinsames Bürgerbewusstsein erweckt). Aus hegelscher Sicht schafft der Staat soziale Ungleichheiten nicht ab. Er bringt die Bourgeoisie auch nicht dazu, die Verteidigung ihrer eigenen Interessen aufzugeben. Nun ist der Staat eine spezifische Sphäre, die Sphäre der politischen Tätigkeit, in der die ethische Forderung darin besteht, den eigenen Willen dem Gemeinwohl anzupassen. Der Sieg über das Übel (in diesem Fall als soziale Ungleichheit), besteht nicht darin, das Übel in das Gute zu verwandeln, sondern darin, eine spezifische Sphäre entstehen zu lassen, die das Übel in eine übergeordnete Einheit integriert. Das Übel ist besiegt. Es wird jedoch nicht in sich selbst vernichtet. Nur entsteht ihm gegenüber ein Moment, das versöhnt ist. Das ist was der berühmte Satz der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes besagt: „Indem […] das Resultat, wie es in Wahrheit ist, aufgefaßt wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmittelbar eine neue Form entsprungen“.11 Nehmen wir ein weiteres Beispiel. Die protestantische europäische Welt besiegt die griechisch-römische Welt, indem sie den unendlichen Wert jedes Einzelnen anerkennt. Aber natürlich wird die griechisch-römische Welt dadurch nicht in sich selbst verändert. Das Übel wird daher nur äußerlich besiegt. Das Übel dient als Material, als nützliches Hindernis für die Selbstoffenbarung des Guten, aber es bleibt sich selbst überlassen. Hegels Optimismus ist in diesem Sinne sehr relativ. Aber sollten wir annehmen, für Hegel sei jedes Übel ein metaphysisches Übel, so dass der Einzelne nicht dafür verantwortlich sei? In Wirklichkeit, zumindest im Falle des Geistes, ist die Endlichkeit auch eine frei angenommene Bestimmung. Zwar kann ein Römer seine Zeit nicht überspringen und es wäre anachronistisch, ihm Vorwürfe zu machen, dass er gemäß der seinem Volk eigenen Geisteshaltung denkt und handelt. Nichtsdestoweniger ist er mehr als nur in seinem anthropologisch-historischen Umfeld geboren. Denn er produziert sich als römischer Bürger und beschließt, die Gesetze seines Staates zu befolgen. Mit anderen Worten: Wie jedes geistige Subjekt hebt er seinen ursprünglichen Zustand auf, indem er ihn zu einer für sich selbst bestimmten Identität erhebt. Deshalb können wir nicht davon ausgehen, seine Endlichkeit sei für ihn eine einfache Tatsache, die sich ihm gegen sein Selbst aufzwinge. Sicherlich kann der Römer seine Position nicht aus der Sicht der späteren Form des Geistes, und zwar des germanisch-christlichen Geistes, betrachten. Dennoch ist er nicht blind 11
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für die Mängel seiner Zeit, da er notwendigerweise ein Opfer ihrer Gewalt ist. Wir können also sagen, dass er seine Endlichkeit kennt und will, kurz gesagt, dass er dafür verantwortlich ist: Wenn man nun aber sagen wollte, daß, weil das Böse im Begriffe liegt und notwendig ist, der Mensch ohne Schuld wäre […]: so muß erwidert werden, daß die Entschließung des Menschen eigenes Tun, das Tun seiner Freiheit und seiner Schuld ist.12
Betrachten wir zum Beispiel den Tod eines persischen Soldaten während der Eroberung Asiens durch Alexander. Sollte dieser Tod als gerecht oder ungerecht angesehen werden? Aus hegelscher Sicht ist dieser Tod insofern begründet, als er die Niederlage des orientalischen Despotismus angesichts der „schönen Freiheit“ zum Ausdruck bringt. Deshalb gilt: Man muss also nicht das gewöhnliche Gesagte nachsprechen, wie ein Geschichtsschreiber sagt: Wenn es nichts gibt als Blutvergießen, so sei Alexander groß. Mit Blut und Krieg soll man fertig sein, wenn man an die Weltgeschichte geht, denn das sind die Mittel, durch die der Weltgeist sich forttreibt.13
Hegel setzt sich hier nicht für Gewalt um ihrer selbst willen ein, sondern als Instrument der Gerechtigkeit. Man kann als Analogie an Hegels Analyse der tragischen Schuld denken. Tragödienhelden sind nicht unschuldig, indem ihr Leiden nicht einfach das Ergebnis eines Schicksals ist, das sie von außen treffen würde. Ihr Unglück wird durch ihren eigenen Willen verursacht. Gehen wir weiter: Helden sind schuldig, gerade weil ihr Handeln sittlich notwendig ist: „Im wahrhaft Tragischen müssen berechtigte, sittliche Mächte von beiden Seiten es sein, die in Kollision kommen.“14 Helden handeln nicht unter Zwang oder Unwissenheit, sondern im Namen gerechter Gesetze – die aber ebenso ungerecht sind: „Sie haben etwas gethan, wozu hohe Berechtigung – Orest bestraft die Vatermörderin – aber [sie] ist [seine] Mutter – ungeheure Verletzung von etwas ebenso unendlich Berechtigtem ungetrennt“.15 Deshalb gibt es für einen solchen Helden keine größere Beleidigung, als ihm zu sagen, dass er ohne Schuld gehandelt hat: „Es ist die Ehre der großen Charaktere, schuldig zu sein.“16 Das Handeln tragischer Helden ist in höchstem Maße ernst und gleichzeitig objektiv verurteilbar: Aus diesem Grund ist ihre Strafe gerecht. Eine klassische Kritik an Theodizeen ist ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern. Tatsächlich scheint Hegel eine solche Haltung einzunehmen: „Dabei, daß einzelne Individuen gekränkt worden sind, kann die Vernunft nicht stehen HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 139 Zusatz, TWA 7, 264. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1822–23), 386. 14 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, TWA 18, 447. 15 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Randbemerkung zu § 118, GW 14, 2, 593. 16 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Ästhetik, TWA 15, 546. 12 13
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bleiben; besondere Zwecke verlieren sich in dem Allgemeinen.“17 Es sind jedoch zwei Punkte zu beachten. (a) Die oben erwähnte Textstelle betrifft nur die Methode und den Gegenstand der Philosophie. Hegel argumentiert nicht, dass es absurd wäre, individuelle Unglücke zu beklagen, sondern, dass die Aufgabe der Philosophie eine andere ist. Die Philosophie ist, so sagt er, weder sentimental noch an einzelnen Situationen interessiert, weil sie theoretisch ist und sich auf das Allgemeine bezieht. (b) Dennoch ist das, was sie denkt, tatsächlich das Übel, und zwar das Übel im Allgemeinen. Spekulation besteht darin, bestimmte Gefühle zu verallgemeinern und sie in eine Gesamttheorie zu integrieren. Sie verdeutlicht damit die Verwundbarkeit und Korrumpierbarkeit von Individuen und Völkern und damit die Mühe des Fortschritts zur Freiheit. Man kann Hegel nicht vorwerfen, dass er sich gegen die Frage nach dem Unglück im Allgemeinen immunisiert. Um auf die Frage des Todes zurückzukommen, müssen wir unterscheiden zwischen dem Tod, der alle trifft, weil sie Menschen sind – unbestreitbares Unglück, aber banal, unabhängig von der Art des Todes, an dem sie sterben – und dem, der sich aus rein historischen Gründen erklären lässt. Mitleid mit einem historischen Menschen zu haben, nur weil er tot ist, bedeutet, den letzten auf den ersten zu reduzieren. Zum Beispiel zu bedauern, dass Cäsar ermordet wurde, würde bedeuten, seine Größe zu verleugnen: Mit solchem Bedauern sind besonders die kleinstädtischen Weiber gleich bei der Hand. Bemitleidet und bedauert will aber der edle und große Mensch auf diese Weise nicht sein. Denn insofern nur die nichtige Seite, das Negative des Unglücks herausgehoben wird, liegt eine Herabsetzung des Unglücklichen darin.18
Das bedeutet nicht, dass für Hegel der „gewöhnliche“ Tod kein Unglück wäre, sondern dass der „historische“ Tod eine andere Ebene der Analyse erfordert. Denn letzteres bezieht sich auf einen Legitimationskonflikt. Der persische Soldat stirbt, weil er sich der Solidarität mit dem Despotismus schuldig gemacht hat. Das welthistorische Individuum stirbt für sein politisches Projekt. In diesem Maße, so Hegel, hat Mitleid seinen Platz, aber nicht als Bedauern über den Tod, sondern als Anerkennung des Wertes des vom Unglück getroffenen Menschen: „Das wahrhafte Mitleiden ist […] die Sympathie mit der zugleich sittlichen Berechtigung des Leidenden, mit dem Affirmativen und Substantiellen, das in ihm vorhanden sein muss.“19 Der Adel des Betrachters wird an dem Gegenstand seines Interesses gemessen: Aus hegelscher Sicht erschüttert nur der wahre Inhalt ein edles Herz, während der gewöhnliche Mensch, so sagt Hegel (oder genauer:
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GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955, HEGEL, Vorlesungen über die Ästhetik, TWA 15, 525. Ebd.
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Hotho in seiner Ausgabe der Vorlesungen über die Ästhetik), für „Lumpen“ und „Schufte“ bewegt wird. Dennoch ist in beiden Fällen der Tod nur der Preis der Endlichkeit. Und das nicht, weil die Endlichkeit eine Bestrafung erfordern würde, sondern weil sie ein Samen des Todes ist. Die Zerstörung vollbringt nur den ursprünglichen Mangel des Endlichen. Es ist daher weniger der Tod als die Endlichkeit im Allgemeinen die zu beklagen ist. In gewisser Weise müssen wir nicht mehr Tränen über den Tod als über die Geburt vergießen: Denn letztere ist ein Eintrittspunkt in die Endlichkeit, die das wahre Unglück ist. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese tragische Vision der Endlichkeit sind die Texte der Vorlesungen über die Religionsphilosophie, die Jesus von Nazareth zum Thema haben. In diesen Texten, die deutlich vom Brief des Paulus an die Philipper beeinflusst sind, ist das Kreuz nur die Radikalisierung der Inkarnation, die das größte Unglück ist: „Es ist Gott, der leidet, insofern er Mensch ist, in dieser bestimmten Schranke ist.“20 Es gibt nach Hegel Ungerechtigkeit, wenn der Einzelne durch ein Prinzip von geringerem Wert besiegt wird; zum Beispiel, wenn die Natur Denken oder Wollen regiert, wenn „bürgerliche“ Interessen Vorrang vor Patriotismus haben, wenn die Perser die Griechen besiegen, wenn die Philosophie eine literarische Form annimmt etc. Diese Art von Ungerechtigkeit ist unbestreitbar in der Welt vorhanden. Der Geist muss nur wollen, durch sich selbst zu handeln, um seine eigene Endlichkeit unterzuordnen: Gäbe es so etwas, das der Begriff nicht verdauen, nicht auflösen, nicht ideell machen könnte, so stände dies ihm entgegen, entzweite ihn, so läge dies als die höchste Zerrissenheit, Unseligkeit da. Alles also löst der Begriff auf und kann es fort und fort.21
3. Philosophischer Trost Das Gute ist also nur ein Resultat. Es gibt jedoch ein Moment im enzyklopädischen System, das schlicht und einfach darin besteht, als Resultat zu erscheinen, nämlich der Geist. Deshalb ist der Geist in der allgemeinen Ökonomie des Systems im Wesentlichen von Freiheit und Wahrheit geprägt, während die Natur, als „unaufgelöster Widerspruch“, als „Abfall der Idee“, „der Unvernunft der Äußerlichkeit hingegeben“ ist. Hegel kritisiert jede Wertschätzung der Natur und lobt im Gegenteil den Geist, indem er betont, dass der Geist selbst in seinen törichtesten und verabscheuungswürdigsten Werken der Urheber von sich selbst und als solcher der Wertschätzung würdig ist:
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Ebd.; TWA 14, 50. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1822–23), 56.
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Wenn aber die geistige Zufälligkeit, die Willkühr, bis zum Bösen fortgeht, so ist diß selbst noch ein unendlich höheres, als das gesetzmäßige Wandeln der Gestirne oder als die Unschuld der Pflanze; denn was sich so verirrt, ist noch Geist.22
Dies ist eine Aussage mit schwerwiegenden Konsequenzen: Für Hegel ist der Geist, da er an und für sich ist, im Wesentlichen legitim. Aber, so kann man fragen, führt eine solche Vorstellung nicht dazu, die Anwesenheit allen Übels im Geiste zu leugnen? Diese Position stünde offensichtlich im Widerspruch zu der vorhin geäußerten Hypothese, wonach es für Hegel kein reines und einfaches Gutes gibt, da das Gute nur durch den Kampf und die Integration eines früheren Übels hergestellt werden kann. In der Tat kann, wie oben erwähnt, jedes Moment, je nachdem, von welchem Prozess aus es beobachtet wird, als gut oder schlecht angesehen werden. So lässt sich beispielsweise nach Hegels Worten sowohl argumentieren, dass die politische Form eines jeden Staates auf dem Willen seines Volkes beruht – wodurch die politische Form im Wesentlichen legitimiert ist – als auch, dass die verschiedenen Regime nicht gleich sind, da einige repressiv und andere befreiend sind. So findet innerhalb einer grundlegenden politischen Legitimität (der politischen Institutionalisierung des Volkes) ein Übergang von einem illegitimen, weil instinktiven Willen, zu einem legitimen Willen statt, der auf der Reflexion in sich selbst basiert. Daher kann die Philosophie des Geistes sowohl als konservativ als auch als progressiv gelesen werden. Auf der einen Seite ist der Geist, da er als Resultat auftritt, im Wesentlichen gut und entkommt der Verurteilung. Andererseits erreicht er, soweit sich jedes Moment des Geistes in sich selbst gliedert und mit einer Phase der Unmittelbarkeit beginnt, erst am Ende seine Wahrheit. Während also im Geist alles gut ist, ist der Geist dennoch nicht sofort völlig gut. Heben sich diese beiden Aussagen gegenseitig auf ? Nein, denn die Stufen sind hierarchisch aufgebaut. Der Geist ist hauptsächlich gut und nebenbei schlecht (während das Gegenteil in der Natur zutrifft, die grundsätzlich mannigfaltig ist, auch wenn sie im organischen Bereich eine Skizze der konkreten Subjektivität erreicht). Diese Priorität des Guten vor dem Übel kommt regelmäßig in den Texten zum Ausdruck. Zum Beispiel lesen wir, dass die Kirche des Mittelalters, auch wenn sie korrupt ist, dennoch die Wahrheit lehrt: Man kann sie [die mittelalterliche Kirche] des Vergehens, des Missbrauchs, des Lasters, Verbrechens beschuldigen; doch dies sind nur einzelne Mängel. Der Inhalt ist die Lehre des Christentums; die der höchsten Wahrheit und der Verwirklichung dieser Lehre, und die Kirche ist die ununterbrochene Ausstellung, Ausspendung, aller Schätze des Geistes.23
22 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, 238, § 248, Erläuterung. 23 HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1822–23), 478.
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Im Allgemeinen besagt eine Passage aus den Vorlesungen über die Religionsphilosophie, dass die Religionen, wie sie sich in der Geschichte entwickeln, trotz ihrer bizarren und sogar barbarischen Aspekte die Wahrheit ausdrücken. Der Philosoph muss nicht rechtfertigen, was in ihnen absurd ist, sondern die Legitimität ihrer Prinzipien anerkennen: Sich mit dem zugleich auch versöhnen, was Schauderhaftes, Abgeschmacktes [in der Geschichte der Religionen] vorkommt, rechtfertigen, richtig, wahr finden, wie es in seiner ganzen Gestalt ist (Menschen, Kinder opfern), davon ist nicht die Rede; aber wenigstens den Anfang, die Quelle als ein Menschliches erkennen, aus dem es hervorgegangen – dies ist die höhere Versöhnung.24
Eine bemerkenswerte Ergänzung aus der Logik der Enzyklopädie besagt, dass spekulative Geschichte der Standpunkt des Trostes ist, in dem Sinne, dass sie nach dem Sprichwort urteilt, dass „ein jeder […] seines eigenen Glückes Schmied“ ist.25 Für Hegel bedeutet dieses Sprichwort gewiss nicht, dass der Mensch sich von äußeren Umständen unabhängig machen könne, denn es ist wahr, dass „in dem, was uns geschieht, allerdings auch viel Zufälliges“ ist.26 Andererseits bedeutet dies, dass dieses Element der Zufälligkeit zweitrangig ist, da der Mensch in der Lage ist, die Aufhebung seiner äußeren Neigung zu betreiben, indem er sie seinem autonomen Willen unterordnet und sich so in Einklang mit sich selbst bringt: „So wird durch das Mißliebige, was ihm begegnet, die Harmonie seiner Seele, der Friede seines Gemüts nicht zerstört.“27 Mit dieser etwas sentenziösen Formulierung argumentiert Hegel, dass der Geist vor allem Freiheit und Selbstbestimmung ist. Aus diesem Grund ist er gerechtfertigt, auch wenn es Endlichkeit und Übel in ihm gibt. Wahre Versöhnung geschieht jedoch nur in der Philosophie, dem letzten Moment der systematischen Fortbewegung. Dass sie die Aufhebung ihres Objekts betreibt, bedeutet, dass es im Widerspruch steht, aber dass die Philosophie ihrerseits vollständig mit sich selbst versöhnt ist: [Die Philosophie] bringt zwar eine Versöhnung hervor, aber eine Versöhnung nicht in der Wirklichkeit als solcher, sondern nur in der Gedankenwelt.28 Dadurch entsteht der erscheinenden Welt gegenüber ein neues Reich, das wohl die Wahrheit des Wirklichen, aber eine Wahrheit ist, die nicht wieder im Wirklichen selbst […] offenbar wird. Das Denken ist nur eine Versöhnung des Wahren und der Realität im Denken.29 HEGEL, GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 1, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1983, 108. 25 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Bd. 1, TWA 8, 292, § 147, Zusatz. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 1, hg. von Pierre Garniron/Walter Jaeschke, Hamburg 1986, 239. 29 HEGEL, Vorlesungen über die Ästhetik, TWA 15, 244. 24
Hegel und das Übel in der Geschichte
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Nehmen wir das Beispiel der Philosophie der Geschichte. Wie bereits erwähnt, begreift sie die Geschichte auf eine einheitliche Weise, während die Geschichte selbst objektiv mannigfaltig ist. So wie die Naturphilosophie nach Hegel zum „Weg der Rückkehr“ gehört, betreibt die Geschichtsphilosophie die Einschreibung des einseitig Objektiven und Geteilten in die denkende Subjektivität als Ganzes. Die Philosophie verwandelt jede Endlichkeit in ein unendliches Denken. Philosophie ist eine Theodizee, indem sie, wie jedes Moment des Geistes, aber auf ihre eigene Weise, mit ihrem Objekt versöhnt wird und so Frieden mit sich selbst findet: „Die Philosophie ist die wahrhafte Theodizee, – diese Versöhnung des Geistes, und zwar des Geistes, der sich in seiner Freiheit und in dem Reichtum seiner Wirklichkeit erfaßt hat.“30 Hier finden wir die klassische Idee, dass Philosophie nicht darin besteht, die Unvollkommenheit des Objekts zu leugnen, sondern Verwirrung und Unzufriedenheit zu entgehen, indem sie diese Unvollkommenheit versteht. *** Die Hypothesen, die ich zu verteidigen versucht habe, lauten wie folgt: Nach Hegels Auffassung wäre es absurd, zu argumentieren, dass das Übel nicht existiert. Aber im systematischen Fortgang ist das Übel nicht die positive Ursache des Guten, sondern das, was das Gute negieren muss, um sich zu verwirklichen. Das ist, wenn man will, eine Bedingung, aber eine negative Bedingung. Die allgemeine Form des Übels ist die Endlichkeit als Unmittelbarkeit oder Widerspruch. Es kann als solches überwunden werden, da das Unendliche immer das Endliche aufheben kann. Diese Überwindung ist jedoch nur „ideal“. Das Übel wird nämlich nicht in etwas Gutes verwandelt, indem es nur als Material der Versöhnung des Unendlichen mit sich selbst dient. Wie soll man in Kürze den Unterschied zwischen Leibniz‘ und Hegels Theodizee darstellen? (a) Für Hegel wird das Übel nicht statisch betrachtet, wie in einem Bild, das Gott betrachtet, vor der Schöpfung in Form einer möglichen Welt, nach der Schöpfung in Form der realen Welt. Für ihn ist das Übel immer prozedural und relativ, es entspricht in jedem systematischen Zyklus den Phasen der Unmittelbarkeit und der Spaltung. (b) Um die Prävalenz des Guten festzustellen, ist es nach Hegels Auffassung nicht notwendig, zu Gott zurückzukehren, sondern im Gegenteil zu den in der Welt tätigen Subjekten und ihren Werken hinunterzugehen. Die Priorität des Guten ergibt sich nicht aus einer abstrakten Betrachtung des Ursprungs der Dinge, sondern wird in der Erfahrung erkannt. Hegels Theodizee besteht nicht darin, Gott durch einige Argumente wie z. B. in der metaphysischen Abhandlung zu rechtfertigen, sondern darin, über die 30
HEGEL, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, TWA 20, 255.
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konkreten Prozesse nachzudenken, in denen sich das Gute auf Kosten des Übels durchsetzt. (c) Hegel argumentiert schließlich nicht, dass das Böse gerechtfertigt ist, auch nicht indirekt. Für ihn kann das Böse – gerade weil es keinen Grund hat – nichts gegen das Gute tun. Die Endlichkeit ist wirklich schlecht. Aber es gibt etwas Größeres als sie, nämlich die Versöhnung.
Der „umgekehrte Gott“ Schellings identitätsphilosophisches Verständnis des Bösen in der Freiheitsabhandlung von 1809 CHRISTIAN DANZ Schellings Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, erschienen 1809 in dem ersten und einzigen Band seiner Philosophischen Schriften, gehören nicht zu den Texten, denen er selbst eine größere Bedeutung für die werkgeschichtliche Entwicklung seines Denkens beigemessen hat. Anders hat die Forschungsgeschichte die Schrift von 1809 beurteilt. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr der Text, er gehört bekanntlich mit zu den letzten von Schelling selbst in den Druck gegebenen, besondere Aufmerksamkeit. K. F. A. Schelling, der die Abhandlung über die Freiheit 1860 in den siebenten Band der von ihm verantworteten Ausgabe der Werke seines Vaters aufnahm, schreibt in seinem Vorwort zu diesem Band: Im Jahr 1809 aber erschien die Abhandlung über die Freiheit. Mit dieser war Schelling zu einer Philosophie fortgegangen, die zwar materiell (als ‚Darstellung des ideellen Theils der Philosophie‘) an die Naturphilosophie angrenzte, formell aber, nämlich durch Weiterbildung der Principien, sowie durch die ganze Richtung, die sie nahm, über die Naturphilosophie und das Identitätssystem hinausging; die Principien des letzteren wurde zwar nicht ausdrücklich verlassen, aber sie wurden bereits in ein Verhältniß zu einer Personalität, einem Willen gesetzt, und nicht aus ihnen allein, sondern zugleich aus ihrem Bezug zum göttlichen und in zweiter Linie zum menschlichen Willen wurde die Welt etc. erklärt. Es hatte nun schon die entschiedene Hinwendung zu dem stattgefunden, was Schelling hernach geschichtliche Philosophie nannte.1
Im 20. Jahrhundert wurde K. F. A. Schellings eben zitierte werkgeschichtliche Einordnung der Freiheitsabhandlung als Übergang und Auftakt zum Spätwerk vielfach von verschiedenen Interpreten seit Paul Tillichs philosophischer 1 KARL FRIEDRICH AUGUST SCHELLING, Vorwort des Herausgebers, in: FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Sämmtliche Werke, Bd. 7, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1860, Vf. Die Werke Schellings werden, sofern nichts anderes vermerkt ist, nach folgenden Ausgaben und Siglen zitiert: Historisch-Kritische Ausgabe, hg. von der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. (= SAA, Reihen-, Band- und Seitenangabe); Sämmtliche Werke, 14 Bde., hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–1861 (= SW, Band- und Seitenangabe).
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Dissertation von 1910 aufgegriffen.2 In der Freiheitsschrift, so verstand man es vor dem Hintergrund der angedeuteten werkgeschichtlichen Einordnung des Textes, setze sich Schelling von der identitätsphilosophischen Systemkonzeption ab, die er seit 1801 in rascher Folge in verschiedenen Entwürfen, hauptsächlich naturphilosophischen Zuschnitts, ausarbeitete. Insbesondere die Schwierigkeiten, die man in dieser Konzeption diagnostizieren zu können meinte, wie das Verständnis des Absoluten als Identität sowie die damit verbundene Frage nach der Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten, haben Schelling veranlasst, sein Verständnis eines philosophischen Systems umzubauen.3 In der Abhandlung von 1809 liege das Resultat dieser Neuausrichtung vor.4 Wenn es im Folgenden unter dem Titel der „umgekehrte Gott“ um Schellings Verständnis des Bösen gehen wird, möchte ich einer solchen Deutung der werkgeschichtlichen Entwicklung des Philosophen zwischen 1800 und 1810 widersprechen und die Abhandlung über die menschliche Freiheit in den Horizont der identitätsphilosophischen Systemkonzeption einordnen. Freilich soll damit nicht bestritten werden, dass Schelling in den diversen identitätsphilosophischen Entwürfen, die er im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts publizierte, Veränderungen vorgenommen hat. Weiterentwicklungen sind in der Tat zu konstatieren. Aber diese resultieren selbst aus der Identitätsphilosophie, überschreiten oder korrigieren diese also nicht. Das betrifft, wie zu zeigen sein wird, auch das Verständnis des Bösen sowie das der Freiheit des Menschen, die beide im Fokus der Schrift von 1809 stehen. Schon die zahllosen Rückverweise auf die Identitätsphilosophie, allen voran auf die 1801 erschienene Schrift Darstellung meines Systems der Philosophie, unterstreichen den engen systematischen Zusammenhang, in dem die Abhandlung von 1809 mit den vorangegangenen Schriften steht – und zwar selbst dann, wenn man Schellings Interesse in Rechnung stellt, eine kontinuierliche Entwicklung seines eigenen Denkens zu konstruieren. Die vorgeschlagene Lesart von Schellings Verständnis des Bösen in den Philosophischen Untersuchungen von 1809 im Horizont der Identitätsphilosophie möchte ich in drei Abschnitten erläutern und zur Diskussion stellen. Einzusetzen Vgl. PAUL TILLICH, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien (1910), in: Ders., Frühe Werke, hg. von Gert Hummel/Doris Lax, Berlin/New York 1998, 154–272. Tillich selbst folgt mit seiner Unterscheidung EDUARD VON HARTMANN, Schellings positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer, Berlin 1869. Vgl. weiterhin MARTIN HEIDEGGER, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Tübingen 1971; WALTER SCHULZ, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Stuttgart 1986. Zuletzt: LISA EGLOFF, Das Böse als Vollzug menschlicher Freiheit. Die Neuausrichtung idealistischer Systemphilosophie in Schellings Freiheitsschrift, Berlin/Boston 2016. 3 Vgl. HANS MICHAEL BAUMGARTEN/HARALD KORTEN, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, München 1996, 88. 4 So der Untertitel der Untersuchung von EGLOFF, Das Böse als Vollzug menschlicher Freiheit. 2
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ist mit den systematischen Grundlagen der identitätsphilosophischen Konzeption sowie dem sich daraus ergebenden Verständnis von Individualität. Es liegt, wie sich zeigen wird, in modifizierter Form noch dem Text von 1809 zugrunde. Im zweiten Abschnitt geht es mit dem Seelenverständnis um eine zentrale Konzeption der Identitätsphilosophie, die in der einschlägigen Forschung bislang kaum Beachtung gefunden hat. Vor diesem Hintergrund können wir uns dann im abschließenden dritten Abschnitt dem Verständnis des Bösen in der Abhandlung über die menschliche Freiheit selbst zuwenden.
1. Individuelle Totalität, oder: System und Individuum in Schellings Identitätsphilosophie Schellings Identitätsphilosophie, die er seit 1801 sukzessive ausgearbeitet hat, wird in der Forschung zumeist entweder als ein bloßes Durchgangsstadium auf dem Weg hin zu seinem Spätwerk oder vor dem Hintergrund von Hegels Philosophie des Geistes, wie sie dieser ab seiner Jenaer Zeit entwickelte, gelesen. Nur selten hingegen wird die Philosophie der Identität als ein eigenes Systemprogramm gewürdigt. Dabei verbindet Schelling, das unterstreichen nicht nur die zahlreichen Bezugnahmen auf die Darstellung von 1801 im gesamten Werk, mit dieser Systemkonzeption einen hohen wissenschaftlichen Anspruch. Im Anschluss an Immanuel Kant geht es um ein System des Wissens, dem geradezu apodiktische Evidenz und Objektivität zukommen sollen. Zugleich – und das ist das Markante von Schellings Konzeption – werden traditionelle Verfahren der Systemkonstruktion wie Ableitung oder Erklärung zurückgewiesen. Solche methodischen Verfahren, die Freiheitsabhandlung von 1809 fasst sie in der Metapher des Mechanismus und seiner Derivate zusammen, unterzieht er einer harschen Kritik. Wie kommt also das Identitätssystem zustande? Nicht durch traditionelle Verfahren, die, wie eben angedeutet, abgelehnt werden. Auch Spinozas Methode, also das Procedere more geometrico, lehnt Schelling ab, obwohl er sich seit der Darstellung meines Systems von 1801 auf ihn beruft.5 Grundlegend für das Verständnis der Identitätsphilosophie sowie das mit ihr verbundene Programm eines objektiven Systems des Wissens ist die Methode der Konstruktion. Ihr hat Schelling 1802 einen eigenen Aufsatz gewidmet.6 Worum Vgl. hierzu PAUL ZICHE, Das System als Medium. Mediales Aufweisen und deduktives Ableiten bei Schelling, in: Christian Danz/Jürgen Stolzenberg (Hg.), System und Systemkritik um 1800 Hamburg 2011, 147–168; CHRISTIAN DANZ, Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809, in: Violetta L. Waibel/Ders./Jürgen Stolzenberg (Hg.), Systembegriffe nach 1800–1809. Systeme in Bewegung (= System der Vernunft. Kant und der Deutsche Idealismus, Bd. 4), Hamburg 2018, 97–116. 6 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Ueber die Contruktion in der Philosophie, SW 5, 125–151. 5
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geht es in dieser Methode? Nicht nur in den Texten um 1802, auch in späteren, wie den Stuttgarter Privatvorlesungen, erklärt er seine Methode in Analogie zum Verfahren der Geometrie. Wie der Geometer Figuren im Raum konstruiert, so der Philosoph im Absoluten.7 Entscheidend ist, dass es sich um ein einheitliches und universal anwendbares Verfahren handelt, nämlich die Handlung des Eintragens. Durch sie wird das Besondere in einen als Medium fungierenden Raum eingetragen, so dass das Besondere nicht als solches, sondern als Darstellung fungiert. Dieses Verhältnis nennt Schelling Idee. Gemeint ist das Besondere, welches im System als Repräsentant des Absoluten dient. Es sind vor allem zwei mit diesem methodischen Verfahren verbundene Aspekte, die für das Verständnis der identitätsphilosophischen Systemkonzeption grundlegend sind. Der erste betrifft den medialen Status des Absoluten. Schellings Begriff des Absoluten stellt kein Deduktionsprinzip dar, aus dem die Philosophie das Besondere ableitet. Ein solches Procedere wird, wie wir bereits gesehen haben, abgelehnt. Mehrfach erklärt Schelling, dass es in der Identitätsphilosophie nicht um eine Ableitung oder Erklärung des Endlichen aus dem Absoluten geht.8 Philosophie erklärt nicht, sie konstruiert. Das Absolute selbst wird in der Identitätsphilosophie weder begründet noch dargestellt. Es ist das Medium, in dem dargestellt wird. Als Voraussetzung der Konstruktion entsteht es erst in ihr selbst, eben in dem das Besondere durch die Konstruktionshandlung in das Medium eigetragen wird. Damit kommt das Absolute nur indirekt zur Darstellung. Das ist der erste Aspekt, der sich aus dem methodischen Verfahren für das Systemverständnis ergibt. Der andere besteht in der Fassung des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem, also dem, was Schelling Idee nennt. In der identitätsphilosophischen Systemkonzeption wird das Besondere in das Medium des Absoluten eingetragen. Dadurch fungiert es, das Besondere, als Repräsentation des Allgemeinen bzw. des Absoluten. Wichtig ist, dass das Besondere weder das Allgemeine bedeutet, es also auf Letzteres verweist, noch eine Synthesis von beiden ist. Das Besondere wird nicht durch Subsumtion unter eine Regel erkannt. Vielmehr werden durch die Methode der Konstruktion Besonderes und Allgemeines zusammengestellt, so dass das Besondere das Allgemeine ist.9 Schelling bestimmt Vgl. ebd., 134: „Es ist nur Ein Princip der Construktion, Eines, womit construirt wird, in der Mathematik wie in der Philosophie. Dem Geometer ist es die in allen Construktionen gleiche und absolute Einheit des Raums, dem Philosophen die des Absoluten. Es ist, wie schon gesagt, nur Eines, was construirt wird, nämlich Ideen, und alles Abgeleitete wird nicht als Abgeleitetes, sondern in seiner Idee construirt.“ Vgl. auch DERS., Stuttgarter Privatvorlesungen, SAA II, 8, 74. 8 Vgl. FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW 4, 333–510, hier: 341. 9 Vgl. FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Philosophie der Kunst, SAA II, 6, 1, 145– 151. Vgl. FRANCESCO MOISO, Geometrische Notwendigkeit, Naturgesetz und Wirklichkeit. Ein Weg zur Freiheitsschrift, in: Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. 7
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diese selbstbezügliche Struktur als Symbol und unterscheidet sie von der Allegorie und dem Schema.10 Darstellbar ist das mediale Absolute allein in der Form, von der es zwar unabhängig, die aber gleichursprünglich mit ihm ist.11 Entfaltet wird die Form als Darstellungsverhältnis, demzufolge das Besondere das Allgemeine ist, durch die triadische Potenzenstruktur, die Schelling seit 1800 ausgearbeitet hat. Aufgegangen ist ihm diese Struktur im Kontext der Konstruktion des naturphilosophischen Materiebegriffs.12 Im Zuge der Ausarbeitung der Identitätsphilosophie hat er diese Struktur aufgenommen und auf die Systemkonstruktion übertragen. Wie wir gesehen haben, wird das Besondere als Darstellung des Absoluten konstruiert. Die Potenzentrias expliziert und strukturiert das symbolische Darstellungsverhältnis der Idee. Das Allgemeine soll das Besondere sein. Schelling bezeichnet dieses Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem als Position bzw. erste Potenz. Aber das Allgemeine ist das Besondere nur als Repräsentation. Folglich muss das Besondere seinen Charakter als Darstellung des Allgemeinen selbst zum Ausdruck bringen. Schelling nennt diese Dimension Position der Position und identifiziert sie mit der zweiten Potenz. Das besagt jedoch: das Allgemeine ist das Besondere und vice versa oder das Besondere als Darstellung des Absoluten bzw. der absoluten Identität, wofür die dritte Potenz steht. Es ist die Form, die durch die Potenzenstruktur als Darstellungs- bzw. Repräsentationsverhältnis entfaltet wird, nicht das mediale Absolute, welches selbst nicht darstellbar ist. Zur Darstellung kommt das Absolute allein in den endlichen Formen, die dessen Erscheinungen sind. Sie sind folglich nichts für sich selbst, sondern ausschließlich Repräsentationen des Absoluten. Entsprechend besteht die Aufgabe der Philosophie in der „Darstellung der Selbstaffirmation Gottes in der unendlichen Fruchtbarkeit ihrer Folgen, also Darstellung des Einen als des Alls“.13 Mit der Identitätsphilosophie ist eine fundamentale Kritik an dem transzendentalphilosophischen Subjekt-Verständnis ebenso verbunden wie an der Vorstellung der Person als einer für-sich-seienden Entität. Der Gedanke eines Akten der Fachtagung der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1992, hg. von Hans Michael Baumgartner/Wilhelm G. Jacobs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 132–186, bes. 167 f. 10 Vgl. CHRISTIAN DANZ, „Endlich die Philosophie ist unter diesen Wissenschaften die symbolische.“ Anmerkungen zu Schellings Würzburger Symbolbegriff, in: Schelling in Würzburg, hg. v. Christian Danz, Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, 55–77; DANIEL WHISTLER, Schelling’s Theory of Symbolic Language. Forming the System of Identity, Oxford 2013. 11 Vgl. FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Darstellung meines Systems der Philosophie, SAA I, 10, 109–211, hier: 121 f. 12 Vgl. FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Allgemeine Deduction des dynamischen Proceßes oder der Categorien der Physik vom Herausgeber, SAA I, 8, 297–366, bes. 330–333. 13 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804), SW 6, 131–576, hier: 176 f.
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für-sich-seienden Subjekts und seiner apriorischen Vermögensstruktur als Ausgangspunkt des Systems des Wissens wird ebenso abgelehnt, wie der eines für sich seienden Objekts.14 Beides – Subjekt und Objekt – sind Erscheinungsweisen des Absoluten bzw. der absoluten Identität. Aus der Ablehnung von Subjekt- und Personvorstellungen folgt jedoch nicht die von Individualität. Schellings Identitätssystem ist eine Philosophie der Individualität, in dem die Formen als individuelle Totalitäten verstanden werden.15 Jede Form ist eine in sich selbst unendliche individuelle Darstellung des Absoluten, Besonderes und Allgemeines sind in ihr auf eine individuelle Weise zusammengefügt. Aber Darstellung des Absoluten – und damit Individuum – ist das Besondere nur dann, wenn es nichts für sich, sondern ausschließlich Repräsentation des Allgemeinen ist. „Denn der Begriff des Individuums ist eben der: nicht, daß zwei verschiedene verbunden, sondern daß ein und dasselbe Ding als ein und dasselbe, das eine und das andere sey. Da nun eben dieß das Verhältniß des Realen und Idealen, des Leibes und der Seele ist, so ist Individuum die notwendige Form aller Existenz.“16 Das identitätsphilosophische System des Wissens konstruiert die besonderen Formen als individuelle Darstellungen des Absoluten in diesem selbst. Schon hier gilt: wahre Individualität, damit aber auch Freiheit, ist nur in Gott bzw. dem Absoluten möglich. Gegen Kants Persönlichkeitskonzept, die Unterstellung des individuellen Willens unter das allgemeine Sittengesetz, setzt Schelling ein Individualitätsmodell, in dem Individualität und Allgemeingeltung bereits verbunden sind. Für das Verständnis des identitätsphilosophischen Individualitäts- und Tugendverständnisses, vor allem auch ihrer Weiterführung in der Freiheitsabhandlung von 1809, ist noch ein weiterer Begriff grundlegend, der in der bisherigen Forschung zur Identitätsphilosophie nur am Rande gewürdigt wurde. Gemeint ist das Seelenverständnis Schellings. Dem müssen wir uns nun zuwenden.
2. „Die Seele ist also im Menschen nicht das Princip der Individualität“, oder: Schellings identitätsphilosophisches Seelenverständnis Schon bei einem flüchtigen Blick in Schellings Texte aus dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts fällt die zentrale Bedeutung des Seelenbegriffs auf. Um so überraschender ist es, dass diesem Begriff in der bisherigen Forschung zur Identitätsphilosophie und ihrer Weiterentwicklung bislang nur wenig Aufmerksamkeit Ebd., 137. 140. Vgl. ebd., 502: „Die nothwendige Form aller Existenz ist Individuum, d. h. daß der Leib als Leib unmittelbar auch Seele, die Seele als Seele unmittelbar auch Leib ist.“ 16 Ebd., 502. 14 15
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zuteilwurde. Auch für unsere Frage nach dem Bösen bei Schelling ist, wie die Abhandlung über die menschliche Freiheit deutlich macht, das Seelenverständnis grundlegend. Doch was versteht er unter der Seele und wie ordnet er sie in seine identitätsphilosophische Systemkonzeption und das mit dieser verbundene Individualitätsverständnis ein? In seiner Rede Ueber das Verhältniß der bildenden Kunst zu der Natur, die Schelling im Oktober 1807 anlässlich des Namenstags des Bayerischen Königs hielt, heißt es an zentraler Stelle: Die Seele ist also im Menschen nicht das Princip der Individualität, sondern das, wodurch er sich über alle Selbstheit erhebt, wodurch er der Aufopferung seiner selbst, uneigennütziger Liebe, und, was das Höchste ist, der Betrachtung und Erkenntniß des Wesens der Dinge, eben damit der Kunst, fähig wird.“ Die Seele, so fährt der Redner fort, sei „keine Eigenschaft, kein Vermögen, oder irgendetwas der Art insbesondere; sie weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft, sie ist nicht gut, sondern sie ist die Güte, sie ist nicht schön, wie es auch der Körper sein kann, sondern sie ist die Schönheit selber.17
Die zitierte Stelle ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Einmal fasst sie das identitätsphilosophische Seelenverständnis, wie es sich in Schellings Texten seit 1800 findet, prägnant zusammen. Andererseits repräsentiert das hier formulierte Verständnis der Seele eine Fassung, die von ihm in seiner weiteren werkgeschichtlichen Entwicklung beibehalten wird.18 Signifikant für den identitätsphilosophischen Seelenbegriff ist, dass die Seele etwas Allgemeines und Unpersönliches ist. Folglich weiß sie auch nichts, sie ist also von konkreten Wissensbeständen unterschieden. Vielmehr soll sie – das entspricht ihrem Allgemeinheitscharakter – die Wissenschaft selbst sein. In diesem Seelenverständnis sind grundlegende Aspekte des identitätsphilosophischen Systemprogramms zusammengefasst, die im ersten Abschnitt diskutiert wurden. Zunächst ist die strikt allgemeingültige Seele eine Art Medium, welches, da sie keine Eigenschaft oder Vermögen sein soll, erst entsteht. Auch das resultiert aus der identitätsphilosophischen Systemkonzeption. Durch die Eintragung des Besonderen in das mediale Absolute wird jenes zur Darstellung von diesem. Die verschiedenen Perspektiven, unter denen die Form als Darstellung der absoluten Identität von Allgemeinem und Besonderem betrachtet werden kann, beschreibt, wie bereits erwähnt, die Potenzenstruktur. Als Darstellung des Allgemeinen im Besonderen entspricht die Form der ersten Potenz. Schelling identifiziert sie mit dem Leib. Der Seelenbegriff zielt gleichsam auf die andere Seite dieser Identität des Darstellungsphänomens, nämlich die Aufnahme des Besonderen ins Allgemeine, 17 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Ueber das Verhältniß der bildenden Kunst zu der Natur, SW 7, 312. 18 Vgl. hierzu PAUL ZICHE, „Die Seele weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft.“ Zum Zusammenhang von Wissenschafts- und Personbegriff bei Schelling, in: „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, hg. von Thomas Buchheim/Friedrich Hermanni, Berlin 2004, 199–213.
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die die zweite Potenz bezeichnet, die Position der Position. Schelling bezeichnet denn auch die Seele immer wieder als das Auflösende des Endlichen ins Unendliche.19 Erst dadurch ist das Darstellungsphänomen vollständig expliziert, also die dritte Potenz erreicht: die absolute Identität stellt sich als mediale Voraussetzung der Konstruktion dar. In dem genannten Sinne ist die Seele kein Vermögen, sondern sie bezeichnet die Totalitätsdimension des Besonderen, die dann entsteht, wenn das Besondere Darstellung des Allgemeinen ist. Das Besondere wird nicht als solches, als isoliertes Einzelnes, in den Blick genommen, sondern als Repräsentation des Absoluten. Schellings Seelenbegriff repräsentiert die absolute Identität in den Dimensionen der Natur und des Geistes. Strukturiert ist der Naturprozess durch die drei Potenzen. Sie bezeichnen in ihrer Abfolge unterschiedliche Niveaus der Seele. Folglich ist alles in der Natur beseelt,20 aber im Menschen, dem Endpunkt des Naturprozesses, kommt zur Seele eine weitere Dimension hinzu. „Erst die Seele der vollkommensten Organisation, welche die ganze Möglichkeit durch die Wirklichkeit darstellt, ist nicht ein Modus der unendlichen Affirmation, sondern die unendliche Affirmation selbst. Diese vollkommenste Organisation ist der Mensch – die gelungenste Darstellung des Unendlichen im Unendlichen.“21 Der Mensch ist Darstellung der absoluten Identität auf der Ebene der Ichheit bzw. des Bewusstseins.22 Er repräsentiert mit der dritten Potenz die vollständige Potenzenstruktur. Besonderes und Allgemeines sind in ihm verbunden, und zwar so, dass das Besondere als Grundlage oder Basis des Allgemeinen fungiert. Für dieses Gleichgewicht steht der Seelenbegriff. Es ist jedoch im Menschen im Unterschied zu den vorangehenden Stufen der Natur weder vorgegeben noch determiniert.23 Der Mensch muss Besonderes und Allgemeines selbst in ein solches harmonisches Gleichgewicht bringen, in dem seine individuelle Besonderheit Grundlage des Allgemeinen ist. Individualität, damit aber auch der Eintritt der Seele, wird als Selbstbildung verstanden, die an den unableitbaren Selbstvollzug 19 Vgl. FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Aphorismen über die Naturphilosophie, SW 7, 198–244, hier: 218: „Eben darum ist die Seele das allein Bewegende jedes Dings nach dem Maß seiner Verhältnisse und das stets Auflösende des Endlichen in das Unendliche, ein Werkzeug der Ewigkeit in jedem einzelnen Ding.“ Vgl. auch ebd., 215. 20 Vgl. hierzu THOMAS KISSER, „Omnia animata sunt – Alles ist beseelt“. Eine kritische Betrachtung zum Verhältnis von Geist und Materie bei Spinoza, in Schellings Identitätsphilosophie und im gegenwärtigen Panpsychismus, in: Fichte im Streit. Festschrift für Wolfgang Janke, hg. von Hartmut Traub/Alexander Schnell/Christoph Asmuth, Würzburg 2018, 185–219, bes. 197–214. 21 SCHELLING, System der gesammten Philosophie, SW 6, 506. 22 Vgl. ebd., 510: „Das objektiv gesetzte unendliche Erkennen bezogen auf das Princip des Bewußtseyns oder den Begriff dieses Erkennens ist die Ichheit.“ 23 Vgl. ebd., 462. Vgl. hierzu ULRICH BARTH, Annäherungen an das Böse. Naturphilosophische Aspekte von Schellings Freiheitsschrift, in: Gott, Natur, Kunst und Geschichte. Schelling zwischen Identitätsphilosophie und Freiheitsschrift, hg. von Christian Danz/Jörg Jantzen, Göttingen 2011, 169–184, bes. 178.
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des Menschen gebunden ist.24 Genau das bezeichnet Schelling als Tugend, nämlich eine allgemeingültige Individualität,25 die gerade nicht durch die Unterstellung des individuellen Willens unter das Sittengesetz zustande kommt, aber dadurch als Individualität aufgelöst wird, wie für Kant. Der identitätsphilosophische Seelenbegriff bezeichnet die Erscheinung der absoluten Identität im Individuum hinsichtlich ihrer Allgemeinheitsdimension. Das qualifiziert die unpersönliche Seele zur Grundlage eines allgemeingültigen Wissenschaftsprogramms in der Nachfolge Kants ebenso wie zu einem Gegenmodell zu dessen und Fichtes Autonomieethik. Schelling kann die Seele auch mit dem Göttlichen im Menschen und der Vernunft identifizieren. Da sie als Erscheinung der absoluten Identität kein Vermögen ist, kann der Seele auch kein Freiheitsvermögen zugeschrieben werden. Vielmehr ist sie als Erscheinung der absoluten Identität Freiheit und Notwendigkeit zugleich. „Der Mensch ist nicht für sich selbst frei; nur das Handeln, was aus Gott stammt, ist frei, wie nur ein gleiches Wissen wahr ist.“26 Frei ist der Mensch allein in Gott, aber nicht für sich, in Absonderung von dem Absoluten. Was bedeutet das für das Böse? Wird es von der Identitätsphilosophie aufgelöst in die Harmonie und Heiterkeit des Universums?27 Schon Philosophie und Religion, das Würzburger System und andere identitätsphilosophische Texte verstehen die Seele nicht nur als Medium des Absoluten im Menschen. „Bedingung der Philosophie“ sei, wie es in dem Journal-Aufsatz Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt aus dem Jahre 1802 heißt, eine „Reinigung der Seele“,28 die sie, die Seele, erst zur Teilnahme am Urwissen läutere. Im Menschen ist das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem nicht festgestellt. Er muss es selbst in ein harmonisches Gleichgewicht bringen, damit die Seele als das Göttliche im Menschen eintreten kann. Isoliert der Mensch seine Besonderheit und Individualität von dem Allgemeinen und macht dieses zur Grundlage von jenem, dann konstituiert sich die endliche Welt der fürsich-seienden Subjekte. Diese Perspektive auf die Welt identifiziert bereits das Würzburger System mit dem Bösen. „Das ursprüngliche Böse liegt also gerade darin, daß der Mensch etwas für sich selbst und aus sich selbst seyn will“.29 Das Böse der Identitätsphilosophie besteht in einer Abstraktion bzw. Loslösung des 24 Vgl. FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft. Fragment, SW 8, 3–18, hier: 12: „Alles Große und Göttliche aber geschieht immer durch Wunder, d. h. es erfolgt nicht nach allgemeinen Gesetzen der Natur, sondern nur durch das Gesetz und die Natur des Individuums.“ 25 Vgl. SCHELLING, System der gesammten Philosophie, SW 6, 558; DERS., Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft, SW 8, 16. 26 SCHELLING, System der gesammten Philosophie, SW 6, 542 27 So FRIEDRICH HERMANNI, Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie, Wien 1994. 28 SW 5, 122. 29 SCHELLING, System der gesammten Philosophie, SW 6, 561.
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Individuums vom Allgemeinen und damit in der Aufrichtung des Subjekts als Grundlegungsinstanz des Wissens und Handelns. Die allgemeingültige Seele, die durch die Anbindung des Besonderen an das Allgemeine entsteht, verkehrt sich hier zur Besonderheit des Allgemeinen, zu egoistischer Selbstsucht.30 Schon das Identitätssystem versteht das Böse weder als Privation noch als Negation oder ein Zurückbleiben des Menschen hinter seinen Möglichkeiten, sondern als eine Vertauschung der Prinzipien durch das Individuum. Das Besondere, statt Grundlage des Allgemeinen zu sein, wird selbst als allgemeingültig angesetzt. Darin verfehlt sich jedoch das Individuum als individuelle Totalität. Es wird zu einer abstrakten Person, die unter allgemeinen Begriffen und Gesetzen der Moral steht, die nichts anderes als Ausdruck „absoluter Egoität“31 sind. Dem Zusammenleben derart atomisierter Individuen korrespondiert der Staat als Maschine, der aus der „trüben Quelle schnödester Selbstsucht und Feindseligkeit aller gegen alle entstand“.32
3. Die Seele als Band der Kräfte, oder: Das Böse in der Freiheitsabhandlung Liest man Schellings Abhandlung über die menschliche Freiheit und das in ihr entfaltete Verständnis des Bösen vor dem Hintergrund der Ausführungen zur Identitätsphilosophie, dann wird schnell deutlich, dass deren Grundkonzeption weitergeführt und eben nicht aufgegeben wird. Auch die Schrift von 1809 versteht ebenso wie die Identitätsphilosophie das Böse als eine Vertauschung der Prinzipien. Allein das, nämlich eine „positive[ ] Verkehrtheit oder Umkehrung der Prinzipien“, sei, wie Schelling in der Freiheitsschrift ausdrücklich erklärt, der „allein richtige[ ] Begriff des Bösen“.33 Aber führt er in den Philosophischen Untersuchungen wirklich das Identitätssystem weiter? Stellen nicht der Gottesgedanke und das Persönlichkeitsverständnis, wie K. F. A. Schelling in seinem eingangs zitierten Vorwort zu dem Band Sieben der Sämmtlichen Werke bereits hervorhob, neue Aspekte dar, die auch auf eine veränderte Systemkonzeption schließen lassen? Dem ist nun abschließend noch nachzugehen. Was zunächst die Systemkonzeption betrifft, die der Schrift von 1809 zugrunde liegt, so lässt sich diese wohl am einfachsten im Horizont der identitätsphilosophischen Konzeption rekonstruieren. Nicht nur die Einleitung, die den Begriff des Pantheismus klärt, auch die zur Systementfaltung benutzten Potenzen greifen, Vgl. FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Philosophie und Religion, SW 6, 44. SCHELLING, Über das Wesen deutscher Wissenschaft, SW 8, 10. 32 Ebd., 10 f. 33 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, SAA I, 17, 137. 30 31
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worauf Schelling allerdings selbst bereits hinweist, auf die Identitätsphilosophie, und zwar insbesondere die Systemdarstellung von 1801 zurück. Allein in Gott, so der Tenor der Ausführungen, lasse sich die menschliche Freiheit verstehen. Das setzt jedoch, worauf der Autor eigens hinweist, ein Verständnis des „Gesetzes der Identität“34 voraus, wie es in den identitätsphilosophischen Texten ausgeführt wurde. Auch in der Freiheitsabhandlung fungiert das Absolute als Medium, welches selbst nicht darstellbar ist. Repräsentierbar sind lediglich die mit dem Absoluten bzw. dem Wesen gleichursprünglichen Formen, die wiederum durch die Potenzentrias entfaltet werden. So verwundert es auch nicht, wenn Schelling in seiner Konstruktion der menschlichen Freiheit, die – wie obendrein auch noch erklärt wird – „nur aus den Grundsätzen einer wahren Naturphilosophie“35 erfolgen könne, unter Verweis auf die „Naturphilosophie unserer Zeit“36 mit der Unterscheidung von erster und zweiter Potenz einsetzt. Nichts anderes als diese beiden Potenzen bezeichnet die in der Forschungsliteratur ausgiebig diskutierte Unterscheidung von Grund und Existenz.37 Dass die Unterscheidung in diesem Sinne zu verstehen sei, sagt Schelling übrigens selbst, wenn er auf das Verhältnis von Schwerkraft und Licht in der Natur als Analogie hinweist. Anders scheint es mit dem Begriff der Persönlichkeit zu sein, dem in der Abhandlung von 1809 eine prominente Rolle zukommt. Genau darauf hatte Schellings Sohn in seinem Vorwort hingewiesen. In den identitätsphilosophischen Texten seit 1801 ist, wie oben ausgeführt, von der Person und Persönlichkeit nicht die Rede. Beides wird ebenso wie ein für-sich-seiendes Subjekt als Proton Pseudos der Philosophie zurückgewiesen. Grundbegriff der Identitätsphilosophie ist hingegen das Individuum. Es fungiert gleichsam als Gegenkonzept zur Person und zum Subjekt. Allerdings markiert Schellings Persönlichkeitsverständnis in der Freiheitsabhandlung keinen Gegensatz zum identitätsphilosophischen Individualitätsverständnis, sondern dessen Weiterentwicklung. Das Individuum, so hatten wir oben gesehen, versteht Schelling als individuelle Totalität, als besondere Darstellung des Allgemeinen. Diese Konzeption des Individuums überträgt die im selben Jahr wie die Abhandlung über die menschliche Freiheit publizierte Rezension von Friedrich Immanuel Niethammers Schrift Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit auf den Persönlichkeitsbegriff. Schelling unterscheidet nun Ebd., 115. Ebd., 128. 36 Ebd., 129. 37 Vgl. THOMAS BUCHHEIM, Das Prinzip des Grundes und Schellings Weg zur Freiheitsschrift, in: Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. Akten der Fachtagung der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1992, hg. von Hans Michael Baumgartner/Wilhelm G. Jacobs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 223–239; DERS., „… eine sehr reelle Unterscheidung“. Zur Differenz der Freiheitsschrift, in: Kritische und absolute Transzendenz. Religionsphilosophie und Philosophische Theologie bei Kant und Schelling, hg. von Christian Danz/Rudolf Langthaler, Freiburg i. Br./München 2006, 182–199. 34 35
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zwischen Individuum und Persönlichkeit. Während jenes gleichsam den Ausgangspunkt der Persönlichkeitsbildung markiert, nimmt diese den identitätsphilosophischen Tugendbegriff auf und fungiert nun als Telos der Selbstbildung.38 An diese Unterscheidung, die eine Weiterführung des identitätsphilosophischen Individualitätskonzepts darstellt, knüpft die Freiheitsabhandlung von 1809 an. Auch in ihr ist es das identitätsphilosophische Seelenverständnis, das als Grundlage der Konzeption des Bösen fungiert. Wie in den naturphilosophischen Schriften zuvor, so versteht die Abhandlung über die menschliche Freiheit den Menschen als Resultat des Naturprozesses, also als Darstellung der absoluten Identität bzw. als dritte Potenz, in der erste und zweite Potenz, also Grund und Existenz bzw. Schwerkraft und Licht, identisch sind. Dafür steht die Seele, die im Indifferenzpunkt als individuelle Allgemeinheit erscheint. Aber in dem ausgesprochenen Wort offenbart sich der Geist, d. h. Gott als actu existirend. Indem nun die Seele lebendige Identität beyder Prinzipien [sc. von erster und zweiter Potenz] ist, ist sie Geist [sc. individuelle Totalität bzw. dritte Potenz]; und Geist ist in Gott [sc. dem medialen Absoluten].39
Dadurch ist der Mensch sowohl in als auch über der Natur und mithin frei, aber so, dass seine Besonderheit und weder ein Allgemeinbegriff noch ein universales Sittengesetz seine Bestimmung ist. Ebenso wie in den vorangehenden Texten ist hier das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem, Schelling spricht von Eigen- und Universalwillen, im Menschen im Unterschied zur Natur und zu Gott nicht fixiert, so dass der Mensch selbst seine Besonderheit in ein harmonisches Verhältnis mit dem Allgemeinen bringen muss, um sich selbst als Persönlichkeit zu bilden. Das aber bedeutet, wie wir gesehen haben, dass das Besondere oder die Selbstheit Medium des Allgemeinen sein soll. Nur so ist der Mensch eine individuelle Totalität, stellt er auf seine besondere Weise das Ganze dar. Das Böse ist dementsprechend das Heraustreten des Menschen aus der absoluten Identität durch eine von ihm vorgenommene Verkehrung des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem. Der Wille, der aus seiner Uebernatürlichkeit heraustritt, um sich als allgemeinen Willen zugleich partikular und kreatürlich zu machen, strebt das Verhältniß der Prinzipien umzukehren, den Grund über die Ursache zu erheben, den Geist, den er nur für das Centrum Vgl. FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Rezension: Friedrich Immanuel Niethammer, Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des ErziehungsUnterrichts unserer Zeit, SAA I, 18, 31–51, bes. 46: „Die Individualität ist zwar nicht die Persönlichkeit selbst, aber doch ihre Basis und gleichsam Organ. Das mögliche Ideal der Bildung in einem Individuum ist erreicht, wenn es mit herzhafter Weltansicht (auf welche Art es nun dazu gelangt sey) und aufgehellter, sicherer Vernunft die entschiedene Ausbildung desjenigen besonderen Talents, derjenigen bestimmten geistigen oder materiellen Anlagen verbindet, die in seiner Individualität liegt.“ 39 SCHELLING: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, SAA I, 17, 134. 38
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erhalten, außer demselben und gegen die Kreatur zu gebrauchen, woraus Zerüttung in ihm selbst und außer ihm erfolgt.40
Aus dem Menschen wird durch diesen Akt, indem er aus der absoluten Identität heraustritt und sich als eine für-sich-seiende Person konstituiert, der „umgekehrte Gott“41 Denn allein durch den Eintritt der Seele in ihm, dem Göttlichen im Menschen, ist er in Gott. Ableiten oder begründen lässt sich dieser Abfall auch in der Freiheitsabhandlung nicht. Er bezeichnet jedoch wie zuvor eine Verfehlung des Individuums in seiner Selbstbildung zu einer individuellen Totalität. Es liegt ganz auf der Linie der identitätsphilosophischen Systemkonzeption, wenn die Freiheitsschrift die Rückkehr des Menschen zu Gott, also die Bildung der Persönlichkeit als ein Absterben der Eigenheit des Menschen versteht. Illustriert wird das wie bereits in der Methodenvorlesung von 1802 mit einer kreuzestheologischen Deutung der Christologie. Nur indem Christus sich als besondere Person negiert, seine Besonderheit also zur Basis des Allgemeinen macht, stellt er die absolute Identität dar, den Geist, wie es in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums heißt, „das ideale Princip, welches vielmehr das Endliche zum Unendlichen zurückführt und als solches das Licht der neuen Welt ist“.42 Schelling konstruiert das Böse in seiner Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit als eine Verkehrung von Besonderem und Allgemeinem bzw. von Eigen- und Universalwillen. Dadurch verfehlt sich der Mensch als Persönlichkeit, als besondere Darstellung des Allgemeinen. Das Böse ist damit weder eine Privation noch eine Negation oder ein Zurückbleiben des Menschen hinter seinen Möglichkeiten. Er verfällt auch nicht der Sinnlichkeit. Vielmehr fußt das Böse auf einem Akt des Menschen. Grundlage dieser Konzeption des Bösen ist ein gegenüber Kant verändertes Verständnis der Persönlichkeit, nämlich die identitätsphilosophische Konzeption des Individuums als eine individuelle Totalität. Schelling verbindet mit ihm ein ambitioniertes Gemeinwohlkonzept, welches der um 1800 einsetzenden Modernisierung und Atomisierung der Gesellschaft entgegengesetzt wird. Das einzig wahre System der Religion und Wissenschaft würde, wenn das Verständniß jener ungeschriebenen Offenbarung [s. der Natur] eröffnet wäre, nicht in dem dürftig zusammengebrachten Staat einiger philosophischen und kritischen Begriffe, sondern zugleich in dem vollen Glanze der Wahrheit und der Natur erscheinen. Es ist nicht die Zeit, alte Gegensätze wieder zu erwecken, sondern das außer und über allem Gegensatz liegende zu suchen.“43 Ebd., 136. Ebd., 156. 42 SW 5, 292. 43 SCHELLING: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, SAA I, 17, 178 f. 40 41
Das Böse ist Ansichtssache – aber auch Realität Über einen vernachlässigten Aspekt in Schellings Freiheitsschrift CHRISTOPH BINKELMANN
1. Das Böse zwischen Religion und Politik Man kann von einem Faszinosum des Bösen in der Menschheitsgeschichte reden. Wie alles in dieser hat auch das Böse seine Konjunktur, seine Aufs und Abs – in unserer hysterischen Zeit vielleicht in noch schnellerer und sensiblerer Folge als früher. Dabei ist das Böse mehr noch ein Thema der Religion gewesen als der Ethik. Auch von Schelling können wir lernen, dass das Böse immer dann zum Gegenstand von Diskursen gemacht wird, wenn die Religion an Bedeutung gewinnt. Oder anders gesagt: wenn die Religion in die Öffentlichkeit drängt und politisch wird. Es ist daher kein Zufall, dass sich Schelling in einer Zeit dem Bösen zu widmen beginnt, in welcher für ihn Religion und Staat zu den zentralen Bestimmungsgründen der Wirklichkeit werden.1 Man kann die These äußern: Wenn sich Religion und Staat auf emphatische Weise durchdringen, gleichermaßen in einer Religion spielenden Politik wie in einer Politik spielenden Religion, tritt das Böse auf den Plan. Doch Schelling wäre nicht Schelling, wenn das Böse bei ihm nicht auch eine genuin philosophische Bedeutung genösse. Wie in keiner anderen Schrift wird in der Freiheitsschrift von 1809 klar, dass das Böse nicht nur eine praktische – religiöse oder politische – Dimension besitzt, sondern ebenso eine theoretische, ja methodische Problematik aufwirft. Für die Philosophie kann das Böse nicht nur Gegenstand sein, vielmehr trifft es ins Herz der Philosophie selbst, oder besser: des philosophierenden Subjekts. Unter der Voraussetzung, dass der Mensch böse ist, wie kann er dann philosophierend die Wahrheit erkennen? Wie bestimmt das Böse die Methode der Philosophie? Und wohin führt das alles? Genau 1 So schreibt Schelling 1806 an Windischmann: „In meiner Abgeschiedenheit zu Jena wurde ich weniger an das Leben und nur stets lebhaft an die Natur erinnert, auf die sich fast mein ganzes Sinnen einschränkte. Seitdem habe ich einsehen lernen, daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Leben im Staat der Punct sind, um welchen sich Alles bewegt und an den der Hebel angesetzt werden muß, der diese todte Menschenmasse erschüttern soll.“ (FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Briefe und Dokumente, hg. von Horst Fuhrmanns, Bd. 3, Bonn 1975, 294.)
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diese Fragen bestimmen auf zentrale Weise Schellings Denkweg ab 1809 bis zum Tode – auf der Suche nach einer positiven Philosophie, die eine solche des guten Menschen sein soll, eine nur diesem zugängliche „philosophische Religion“, in welcher das Böse überwunden ist. Um diese Suche in ihren Anfängen zu schildern, wird im Folgenden das Böse in der Freiheitsschrift sowohl als methodisches konstituierendes Prinzip als auch als Gegenstand thematisiert. Die methodische Bedeutung der Frage sowie deren Verquickung mit der Gegenstandsfrage fordert eine Herangehensweise, die in der Forschung bislang vernachlässigt worden ist.
2. Das Böse hat Methode. Über die Form der Freiheitsschrift Um die Frage nach dem methodisch Bösen in der Freiheitsschrift angehen zu können, bedarf es zunächst einmal einer Auseinandersetzung mit der Struktur dieser Schrift. Dort fällt ein Defizit auf, nämlich das Fehlen einer Gliederung in Kapitel oder Paragraphen. Eine genaue Analyse der Schrift – und mehr noch: ihrer Entstehung, wie sie Schelling in seinem Tagebuch darstellt – ist nötig, um der verborgenen Gliederung auf die Spur zu kommen. Im sogenannten Jahreskalender von 1809, also dem Tagebuch dieser Zeit, unterscheidet Schelling nicht nur explizit mehrere Kapitel bzw. „Abschnitte“, sondern gibt sogar an, wie er zu dieser Unterteilung gelangt.2 Es fällt auf, dass die Freiheitsschrift eine in Eile verfasste Gelegenheitsarbeit Schellings ist, deren Struktur er erst im letzten Drittel eines nur dreimonatigen Schaffensprozesses entwirft. Im letzten Monat seiner von Januar bis Ende März 1809 andauernden Arbeit verwirft Schelling den ursprünglichen Plan, sortiert frühere Teile um und verbindet diese neu. Dennoch ist die dabei entstehende Gliederung so neu nicht, wie sie scheint: Nach einem ersten einleitenden Abschnitt über den Pantheismus (1) folgt eine naturphilosophische Deduktion (2), daraufhin eine Deduktion der Möglichkeit des Bösen (3), eine Deduktion der Wirklichkeit des Bösen (4), Ausführungen zur Freiheit Gottes (5) und zuletzt abschließende Betrachtungen (6). Diese auch in der Forschungsliteratur unterschiedenen sechs Abschnitte oder Kapitel3 geben eine allgemeine Gliederung an die Hand, die noch klarer und vertrauter wird, wenn wir sie mit Schellings identitätsphilosophischen Entwürfen vergleichen: Im einzig vollständig überlieferten, nämlich dem sogenannten Würzburger System von 1805, 2 Vgl. auch für das Folgende ausführlich CHRISTOPH BINKELMANN, Editorischer Bericht, in: SAA I, 17, 63–70. 3 Vgl. THOMAS BUCHHEIM, Gliederung und Analyse des Argumentationsganges, in: FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Hamburg 2011, 169– 188.
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aber in Ansätzen auch schon früher besteht Schellings System stets aus einem allgemeinen Teil über das Absolute und dessen Erkenntnisweise, der hier der Einleitung (1) entspricht. Es folgt die Naturphilosophie (2), dann die Ideal- oder Geistphilosophie, die in der Freiheitsschrift die Abschnitte drei bis sechs umfasst. Weshalb Schelling diese starke Gewichtung auf den ideellen Teil vornimmt, dürfte nicht verwundern. Bereits in der Anzeige zu den Philosophischen Schriften, worin die Freiheitsschrift zum ersten Mal erscheint, weist er letztere als erste „vollständige Begründung des ideellen Theils der Philosophie“4 aus, die nach den bereits publizierten und umfangreichen Beiträgen zur Naturphilosophie noch Desiderat war. Diese „Begründung“ qua Grundlegung des ideellen Teils verlangt jedoch, dass man eine kurze Hinführung über die Darstellung des Absoluten zur Natur bis an diese Stelle gibt, an welcher die Natur in den Geist übergeht, mithin der Mensch die Bühne der Schöpfung betritt. Der Geist zergliedert sich für die Identitätsphilosophie in drei Potenzen, nämlich Wissen, Handeln und Kunst – gleichsam den drei geistigen Kompetenzen, um letztlich in die potenzlose, da selbst absolute Philosophie, die „göttliche Wissenschaft“, einzugehen.5 Die vier Abschnitte des ideellen Teils der Freiheitsschrift (drei bis sechs) entsprechen nun eben diesen drei Potenzen mit potenzlosem Abschluss: Die Möglichkeit des Bösen gründet im menschlichen Bewusstsein oder Wissen, wodurch sich eben die Trennung von der Natur vollzieht – mit dem Baum der Erkenntnis bzw. der gleich zu klärenden formellen Freiheit fängt bekanntlich alles Übel an. Doch erst im Handeln wird der Mensch wirklich böse (hier haben wir die Wirklichkeit des Bösen), um in der Kunst die Einheit mit dem Absoluten und damit die Freiheit Gottes wieder objektiv zu erfahren – doch erst in der Philosophie lernt er, diese Einheit angemessen zu begreifen. Dennoch wäre es einseitig und sogar falsch, in der Freiheitsschrift bloß die Ausführung der Identitätsphilosophie Schellings mit Schwerpunkt auf der Idealphilosophie zu sehen. Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Die eigentliche Idealphilosophie in den Abschnitten drei bis sechs unterliegt im Ganzen einer eigentümlichen Perspektive; sie deckt sich nicht mit den Themen des Wissens, Handelns, der Kunst und der Philosophie, vielmehr geht es von Anfang an um das Böse und die menschliche Freiheit zum Bösen. Damit befindet man sich eindeutigerweise in der oben genannten Potenz des Handelns. Aufgrund dessen werden das Bewusstsein, das schöpferische Vermögen Gottes und des Menschen (Kunst) und auch die Einsicht in die Identität (Philosophie) aus der Perspektive des Praktischen aufgefasst und gedeutet. In allen diesen Abschnitten
Zitiert nach BINKELMANN, Editorischer Bericht, 10. Vgl. FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (aus dem handschriftlichen Nachlaß), SW 6, 495–576. 4 5
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ist die Freiheitsschrift eine Ethik oder ethische Handlungstheorie, die aus der Position der menschlichen Freiheit heraus konzipiert ist.6 Mehr noch: Bereits die ersten Abschnitte, also die Einleitung und die naturphilosophische Deduktion unterliegen dieser Perspektive. Dies ist der Grund für den Gebrauch zahlreicher Anthropomorphismen. Die Freiheitsschrift betrachtet das Absolute und die Natur durch Begriffe, die dem menschlichen Phänomenbereich der Praxis entstammen (etwa Sehnsucht und Verstand, Wille, aber auch Persönlichkeit). Hier wird klar, warum die Freiheitsschrift zuerst von Jürgen Habermas7 und Michael Theunissen8 als „anthropologischer Ansatz“ aufgefasst wurde und werden kann: Sie ist aus der Perspektive des Menschen und seiner Freiheit geschrieben. Oder kurz: Die Freiheitsschrift kann als Darstellung des Identitätssystems unter der Potenz des Handelns gelesen werden. Sie intendiert von Beginn an, ein „System der Freiheit“ zu etablieren, wobei der menschlichen Freiheit gewissermaßen eine Doppelrolle zukommt: Im Sinne des spekulativen Genitivs heißt „System der Freiheit“ zum einen ein System, in welchem Freiheit zum Hauptgegenstand (Objekt) avanciert, zum zweiten ein System, das aus und durch Freiheit (Subjekt) als leitender Perspektive konstituiert ist: Alles Wissen, das in diesem System generiert wird, ist – nach Siegbert Peetz – ein „praktisches Wissen“, d. h. ein an der Praxis orientiertes und für sowie durch Praxis bestimmtes Wissen. In diesem System nimmt der Begriff der Freiheit den „herrschenden Mittelpunkt“9 ein. Dies kennzeichnet die speziell menschliche und eben nicht absolute Perspektive der Schrift. Der Primat der Idealphilosophie und – wer es so nennen möchte – der Anthropologie vor der Ontotheologie und Naturphilosophie impliziert nun zugleich einen Primat des Praktischen, der bereits in Schellings frühesten Schriften angelegt ist. So hat er die Differenz zwischen Natur- und Idealphilosophie durch die Kategorien der Notwendigkeit und Freiheit ausgedrückt: Während in der Naturphilosophie die objektive Perspektive überwiegt, worin die Natur als Objekt (lat.: res) in ihrer Notwendigkeit betrachtet wird und die daher Realismus ist, gründet die Idealphilosophie auf der subjektiven Perspektive der Freiheit, die in allen Phänomenen Tätigkeiten oder Vorstellung (ideae) des Subjekts entdeckt und daher Idealismus genannt werden kann. Diejenige Einstellung, welche zu einer objektiven Naturbetrachtung erforderlich ist, nennt Schelling die theoretische, für den Idealismus aber die praktische. Daher setzt Schelling von Anfang Vgl. dazu ausführlich SIEGBERT PEETZ, Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität, Frankfurt/M 1995. 7 JÜRGEN HABERMAS, Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken, Bonn 1954, 275–284. 8 MICHAEL THEUNISSEN, Schellings anthropologischer Ansatz, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 47/2 (1965), 174–189. 9 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, SAA 17, 111. 6
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an die Naturphilosophie mit der theoretischen Philosophie, die Idealphilosophie mit der praktischen Philosophie gleich. In der Freiheitsschrift werden unter diesem praktischen Primat die Natur, aber vor allem Gott insbesondere in ihrer ideellen Existenz betrachtet: als Wille und Freiheit. Daneben besitzt aber ebenso die reelle Ansicht Relevanz, welche Gott als Natur und Notwendigkeit deutet. Pate für diese Ansicht ist offensichtlich Spinoza, dessen Pantheismus Jacobi in Schellings Philosophie vertreten sieht und zum Anlass dient, Schelling vorzuwerfen, die Identitätsphilosophie unterstütze den Spinozischen Determinismus und Fatalismus, woraus insbesondere die Unmöglichkeit menschlicher Freiheit folge. Für Schelling bedeutet dieser Vorwurf einen Affront, versteht er sich schließlich als Fortführer der von Kant begonnenen und von Fichte fortgeführten Freiheitsphilosophie des (kritischen) Idealismus. In einer kurzen philosophiehistorischen Darlegung zeigt Schelling, dass der Mangel an Spinozas Philosophie im einseitigen Realismus bestand, der alles zu einer Sache oder einem Objekt (res) erklärt, wodurch zugleich rein subjektive Phänomene wie der Wille und die Freiheit des Menschen verworfen werden mussten.10 Stattdessen hat laut Schelling der einseitige Realismus durch den Idealismus ergänzt zu werden; das Sein muss ebenso als Wollen, mehr noch: Wollen als Ursein aufgefasst werden. Allein in dieser „Wechseldurchdringung des Realismus und Idealismus“11 ist ein System der Freiheit möglich. Dafür muss jedoch im Umkehrschluss ebenso der einseitige Idealismus von Kant und Fichte überwunden werden, indem Phänomene wie Tätigkeit und Freiheit nicht allein für das menschliche Subjekt reserviert, sondern auch auf die natürlichen Objekte ausgedehnt werden: Nicht (nur) das Ich ist alles, sondern alles ist Ich.12 Im Identitätssystem werden folglich auch Idealismus und Realismus vereinigt, nicht im Sinne der Einerleiheit, sondern als lebendiges Ganzes, wobei zum einen in der Naturphilosophie der Realismus vorherrscht, ohne den Idealismus zu vernichten, in der Idealphilosophie ein Primat des Idealismus betrieben wird unter Beachtung der realistischen Elemente. Mit dieser Wechseldurchdringung gelangt man zum methodischen Schlüssel der gesamten Freiheitsschrift, womit sowohl das „Wesen menschlicher Freiheit“ als auch insonderheit das Wesen des Bösen erschlossen werden können. Wenden wir uns daher dem Gegenstand zu.
3. Das Böse als Inhalt der Freiheitsschrift Die methodologische Charakterisierung der Freiheitsschrift als Idealphilosophie unter dem Primat des Praktischen, die zugleich ein neues Licht auf die Prinzipien, d. h. das Absolute und die Natur wirft, verweist bereits auf den eigentlichen Ebd., 22. Ebd., 123. 12 Ebd., 124. 10 11
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Gegenstand derselben, nämlich die menschliche Freiheit. Erst durch eine Erörterung des Wesens menschlicher Freiheit können Gott und seine Freiheit verstanden werden. Als methodisches Prinzip dient dabei die Wechseldurchdringung von Realismus und Idealismus, Spinozas Pantheismus und der Idealismus nach Kant, Fichte und Schelling, die im Zuge der gesamtideellen Darstellung ein Übergewicht des Idealismus aufweist. Diese Vorherrschaft erklärt sich – neben allen methodischen Gründen – aus der Sache selbst: Denn bis zur Entdeckung des Idealismus fehlt der eigentliche Begriff der Freyheit in allen neuern Systemen, im Leibnitzischen so gut wie im Spinozischen; und eine Freyheit, wie sie viele unter uns gedacht haben, die sich noch dazu des lebendigsten Gefühls derselben rühmen, wonach sie nämlich in der bloßen Herrschaft des intelligenten Princips über das sinnliche und die Begierden besteht, eine solche Freyheit ließe sich, nicht zur Noth, sondern ganz leicht und sogar bestimmter auch aus dem Spinoza noch herleiten.13
Die radikal neue Freiheitsvorstellung des Idealismus ist es, auf welche Schelling in seiner Schrift abzielt, die er hervorheben und weiter bestimmen möchte. Sie leistet etwas, das die vorherigen Theorien nicht vermocht haben, nämlich Freiheit nicht lediglich als Dominanz der Vernunft über die Sinnlichkeit zu betrachten. Von Platon bis zu Jacobi, in gut über 2000 Jahren Denkgeschichte, übernimmt diese Konzeption eine Monopolstellung. Dass Freiheit nun nicht länger bloße Herrschaft der Vernunft ist, bedeutet zunächst nur, dass sie dies auch beinhalten könnte, allerdings wesentlich mehr ist. Doch worin besteht dieser Mehrwert? Darin, dass wir dem Idealismus „den ersten vollkommnen Begriff der formellen Freyheit verdanken“.14 Den Begriff einer formellen (oder auch idealen) Freiheit findet man als erstes bei Fichte, der im System der Sittenlehre (1798) schreibt: „Es ist mir nicht bekannt, daß jemand den Begriff der Freiheit in dieser [formalen; C. B.] Rücksicht, in welcher sie doch die Wurzel aller Freiheit ist, sorgfältig behandelt hätte.“15 Ihre Bezeichnung als Wurzel der Freiheit verdient die formale Freiheit bei Fichte dadurch, dass sie gewissermaßen den Boden bereitet, kraft dessen der Mensch den Fängen der determinierenden Naturkausalität auf prinzipielle Weise entzogen ist und bleibt: Die Kausalität der Natur hat ihre Grenze; über diese Grenze hinaus liegt, wenn doch auch da Kausalität seyn soll, nothwendig einer andern Kraft Kausalität. Was auf den Trieb folgt, wirkt nicht die Natur, denn sie ist mit Erzeugung des Triebes erschöpft; ich wirke es, zwar mit einer Kraft, die von der Natur abstammt, die aber doch nicht mehr ihre, sondern meine Kraft ist, weil sie unter die Botmäßigkeit eines über alle Natur hinausliegenden Princips, unter die des Begriffs, gefallen ist. Wir wollen die Freiheit in dieser Rücksicht nennen die formale Freiheit. Was ich nur mit Bewußtseyn thue, thue ich mit dieser Freiheit. Es könnte demnach jemand dem Naturtriebe ohne Ausnahme folgen, und er wäre, wenn er nur Ebd., 118 f. Ebd., 123. 15 JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Das System der Sittenlehre, GA I, 5, 129. 13 14
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mit Bewußtseyn, und nicht mechanisch handelte, dennoch frei in dieser Bedeutung des Worts; denn nicht der Naturtrieb, sondern sein Bewußtseyn des Naturtriebes wäre der letzte Grund seines Handelns.16
Im Falle des Menschen sollizitieren die sogenannten Naturtriebe nur, ohne zu nezessitieren. Der Mensch verfügt – wenn überhaupt – nur über sehr wenige Instinkte, die ein mechanisches Handeln, das diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdient, provozieren; der Rest an Natürlichkeit macht sich lediglich durch Impulse bemerkbar, denen der Mensch nachgeben kann oder nicht, die aber nicht durch sich selbst unmittelbar zur Handlung führen. Erst das Bewusstsein dieser Triebe ist Vermittler oder Auslöser der Handlungen, indem es die Triebe aber nicht nur passiv-annehmend bejaht, sondern durch aktiv-bildendes begriffliches Denken in konkrete Ziele transformiert. Der Mensch muss die natürlichen Impulse durch freie Zwecksetzung zusätzlich konkretisieren, um sie in Handlungen überführen zu können. Infolgedessen erfüllt Fichtes Begriff der formalen Freiheit genau Schellings Erwartungen angesichts des Idealismus. Statt eines Kampfes der Vernunft gegen die Sinnlichkeit ist der Mensch von Vornherein zur freien, bewussten Wahl „verdammt“. Er vermag niemals von seinem Bewusstsein zu abstrahieren, weshalb selbst eine Entscheidung für die Sinnlichkeit keine Entscheidung der Sinnlichkeit sein kann. Der Mensch überragt aufgrund seiner Subjektivität oder sein Ich die Naturnotwendigkeit. Allerdings beruht es nach Schelling auf einem Fehlschluss Fichtes, dass dieser die Subjektivität allein dem Menschen und nicht auch der ganzen Natur zugesprochen hat. Die Naturphilosophie Schellings lässt sich als einen Versuch darstellen zu zeigen, dass bereits in niederen Naturprodukten Subjektivität, mithin Freiheit, waltet und der formale Freiheitsbegriff des Idealismus daher auf die gesamte Natur zu beziehen sei. An dieser Stelle finden wir die im Methodenteil vorgestellte Analogiebildung, den Schluss von der formalen Freiheit des Menschen auf dieselbe in der Natur, ebenso wie die Wechseldurchdringung von Idealismus und Realismus. Damit scheint der Idealismus indes das genuin Menschliche der Freiheit aus den Augen zu verlieren: „Der Idealismus giebt nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andrerseits den bloß formellen Begriff der Freyheit.“17 Im Hinblick auf den Titel der Schrift, der das „Wesen der menschlichen Freyheit“ in Frage stellt, bietet der Idealismus lediglich den Gattungsbegriff, nicht jedoch die spezifische Differenz menschlicher Freiheit. Alles natürliche Seiende verfügt über eine formale Freiheit, auch wenn sich diese graduell voneinander unterscheidet: Der Mensch verfügt über mehr Subjektivität und formelle Freiheit als das Tier, dieses über mehr als die Pflanze. Zusätzlich zu diesem quantitativen bedarf es noch eines qualitativen Unterschieds von Mensch und den anderen natürlichen 16 17
Ebd., 129. SCHELLING, Philosophische Untersuchungen, SAA 17, 125.
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Dingen. Schellings Lösung ist wohl bekannt: „Der reale und lebendige Begriff [der Freiheit; C.B.] aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey.“18 Auch oder gerade für die Freiheit liefert der Realidealismus das methodische Prinzip; folglich verlangt der Idealismus eine Ergänzung durch den Realismus in Beantwortung der Frage. Allerdings darf darunter nicht ein Rekurs auf realistische Theorien vor Kant (etwa zu Spinoza) verstanden werden; vielmehr muss der reale Begriff auf der Grundlage der idealen (d. h. formellen) Freiheit entwickelt werden – ist folglich zu Schellings Zeit noch Desiderat. Als Indiz dafür nimmt Schelling, dass alle bisherigen Versuche einer Erklärung des Bösen gescheitert sind. Diesem komplexen Verhältnis der beiden Freiheitsformen trägt Schelling in der Folge der Schrift dadurch Rechnung, dass er die reale Freiheit durch Rückgang auf deren reale Voraussetzungen in Gott und Natur konzipiert, indem er sie aber immer schon auf der Grundlage der idealen Freiheit auffasst. Wegweisend dafür ist bekanntlich die Unterscheidung im Absoluten zwischen dem „Wesen, sofern es existiert“ (das Existierende) und dem „Wesen, sofern es Grund von Existenz ist“. Dabei handelt es sich um Aspekte oder „Wirkungsweisen“ im Absoluten, mithin um einen „internen Dualismus“,19 worin die göttliche Substanz als causa sui (Grund ihrer selbst) besteht. Anders als Spinoza muss zwischen dem Grund Gottes, der in ihm selbst liegt, und Gott allerdings ein qualitativer Unterschied angenommen werden, der sich darin bemerkbar macht, dass der Grund etwas Reales und nicht (bloß) Logisches ist, dass er die ideelle Existenz Gottes begründet und daher als „Natur – in Gott“20 bezeichnet werden kann. Realismus und Idealismus unterhalten auf diese Weise bereits im Begriff des Absoluten eine wechselseitige, gleichberechtigte Durchdringung, worin weder zeitlicher noch logischer Vorrang einer Seite vorherrscht, vielmehr beides sich zugleich begründet. „Analogisch“ kann das Verhältnis von Grund und Existierendem sowohl in der Natur als auch im Menschen betrachtet und weiter erläutert werden. Grund und Existierendes erscheinen in der Natur als Schwerkraft und Licht, deren Verhältnis Schelling in seinen früheren naturphilosophischen Schriften dargetan hat, im Menschen als Sehnsucht und Verstand. Im Ausgang von diesem Begriffspaar – aus dem menschlichen Phänomenbereich – deutet Schelling nun sowohl natürliche Phänomene als auch Gott selbst. Danach kann zunächst im Absoluten der Grund als blinder Trieb oder Wille nach Einheit (so die Vorstellung von Sehnsucht) erläutert werden, der sich erst im und als Verstand, dem eigentlichen, bewussten Einheitswillen, realisiert. Gott konstituiert diese Einheit in einer inneren Selbstoffenbarung, worin dasjenige, wonach die Sehnsucht, ohne den Ebd., 125. Vgl. FRIEDRICH HERMANNI, Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie, Wien 1994, 17 f. 20 SCHELLING, Philosophische Untersuchungen, SAA 17, 129. 18 19
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Namen zu kennen, aus ist, zum Wort wird. Erst daraufhin spricht Gott „von der Liebe bewogen“21 das Wort aus, d. h. es kommt zur Schöpfung der Natur, worin Sehnsucht und Verstand als zwei Prinzipien freigesetzt werden. Die natürlichen Dinge, unter ihnen der Mensch, haben ihren Grund anders als Gott nicht in sich, zudem gründen sie nicht in Gott selbst, sondern in demjenigen von Gott, was nicht er selbst ist, dem Grund. Der Naturprozess muss im Sinne einer zunehmenden Entfaltung („Evolution“) und Scheidung von Kräften in der Materie, dem Grund, aufgefasst werden, wodurch die Einheit (idea) stufenweise verwirklicht wird, d. h. zum Existieren gelangt. Trotz Erhebung in die ideale Einheit bleibt in der Natur „die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest“22 als der chaotische, verstandlose Grund der Sehnsucht erhalten. Diese zeigt sich in den natürlichen Dingen als „Eigenwille“, dem gegenüber sich der „Universalwille“ des Verstandes befindet. Während das Tier, indem es seinen Eigenwillen verfolgt, bewusstlos dem Allgemeinen (d. h. seiner Gattung oder der Natur schlechthin) dient, ist erst im Menschen die Möglichkeit einer bewussten Einheit, aber damit auch eines Konflikts beider Willen gegeben. Dadurch wird die noch unbewusste Einheit qua Seele zum Geist. Anders als Gott, in welchem die Einheit von Sehnsucht und Verstand unzertrennlich ist – sonst wäre der Grund Gottes nicht in ihm –, ist im Menschen, der seinen Grund in etwas Anderem, dem Grund Gottes, hat, die Einheit zertrennlich. Damit gelangt Schelling zur Begründung der Möglichkeit des Bösen im Menschen und der realen Freiheit als Vermögen des Guten und Bösen. Die Zertrennlichkeit der Prinzipien als Möglichkeit des Bösen ist dem Menschen nur dadurch anheimgestellt, dass er im Unterschied zu niederen Lebewesen deren bewusste Einheit ist. Diese Einheit von realem Eigenwillen („Selbstheit“) und idealem Universalwillen heißt Geist. Als Selbst ist der Mensch Geist – er hat Selbst-Bewusstsein –, als Geist ist er ein Selbst, da von Gott geschieden, selbst-ständig (wenn auch abhängig); diese Einheit nennt Schelling auch Persönlichkeit. Kraft seines Geistes überragt der Mensch die Natur und vermag ein bewusstes Verhältnis zu Eigen- und Universalwillen einzunehmen: Entweder fügt er sich in das göttliche, hierarchische Verhältnis einer Unterordnung des Eigen- unter den Universalwillen, die so auch unbewusst im Reich der Natur gilt, oder er kehrt es um, indem er den Eigen- über den Universalwillen stellt. Das aus dieser Umkehrung hervorgehende Böse gründet mithin ebenso wie das Gute auf einer Einheit beider Prinzipien, aber einer „falschen“. Allein auf diese Weise gelangt Schelling, im Unterschied zur Privationstheorie des Bösen etwa bei Leibniz, zu einem positiven, reellen Begriff des Bösen, das eine wirkliche, lebendige Einheit darstellt.
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Um von der Möglichkeit zur Wirklichkeit des Bösen übergehen zu können, bedarf es einer weiteren Explizierung des formalen Freiheitsbegriffs des Idealismus. Im Abschnitt 4 über die Wirklichkeit des Bösen, welcher in systematisch-methodischer Hinsicht die Potenz des Handelns darstellt, mithin das Handeln im Handeln – da ja die gesamte Schrift unter dieser Potenz firmiert –, kehrt Schelling zur Wurzel der Freiheit zurück. Allerdings verschränken sich an dieser Stelle der reale und ideale Freiheitsbegriff auf interessante Weise: Während zunächst (etwa bei Fichte) die formelle Freiheit als Bewusstseinsfreiheit verstanden wurde, im Sinne einer Freiheit, welche die natürlichen Impulse durch freie Zwecksetzung überformt und in die Macht des Subjekts rückt; gilt es jetzt, dieselbe im Hinblick auf die reale Freiheit, d. h. das Vermögen des Guten und Bösen, zu deuten. Danach ist sie eine bewusste Zwecksetzung im Hinblick auf die Impulse (Sollizitationen) von Eigen- und Universalwillen, die sich für ein festes Gefüge (Einheit) gleichsam entscheidet und damit das menschliche Wesen bestimmt. Fichtes Diktum der Tathandlung: das Ich setzt sein eigenes Sein, deutet Schelling hier als den ursprünglichen Gebrauch der formalen Freiheit (das Setzen), die sich für das Gute oder das Böse entscheidet und damit das Wesen des Menschen noch vor aller Zeit festlegt.23 Während in der Natur lediglich eine denkbare, reine Möglichkeit des Bösen als Zertrennbarkeit der Prinzipien zum Vorschein kam, geht es nun zunächst um die wirkliche Möglichkeit oder die „universelle Wirksamkeit“ des Bösen,24 später dann um die eigentliche Wirklichkeit des Bösen. Die Wirksamkeit des Bösen ist sowohl für die Offenbarung Gottes als auch die Bewusstwerdung des Menschen notwendig. Sich zu offenbaren, bedeutet nach Schelling, sich im Anderen zu erscheinen; dafür bedarf es eines Unterschiedes zwischen Gott und der Schöpfung, speziell: dem Menschen, wozu die Zertrennbarkeit der Prinzipien, mithin die reine Möglichkeit des Bösen, notwendige Bedingung ist. Diese stellt den Menschen vor die Wahl, die jedoch nicht unentschieden bleiben darf, sondern sich verwirklichen muss, um Gott zu offenbaren – dies erst ist die hinreichende Bedingung der Offenbarung Gottes. Um zu einer Entschiedenheit zu gelangen, bedarf es einer Erregung (Sollizitation), einer Versuchung zum Bösen (wie auch zum Guten). Ohne diesen Anreiz, die Wirksamkeit des Bösen, könnte der Mensch seiner beiden Prinzipien nicht bewusst werden. Sie hätten ansonsten keine Realität im Bewusstsein; erst auf dieser Grundlage ist aber eine Entscheidung möglich. Das Böse darf folglich nicht auf eine bloß logische Möglichkeit reduziert werden, vielmehr muss es im Sinne einer Erregung zum Bösen im Bewusstsein des Menschen wirklich da sein. An dieser Stelle folgt Schellings zentrale Lehre von der intelligiblen Tat; vgl. LORE HÜHN, Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit Schellings und Schopenhauers, in: Selbstbesinnung der philosophischen Moderne. Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe, hg. von Christian Iber/Romano Pocai, Cuxhaven/Dartford 1998, 55–94. 24 SCHELLING, Philosophische Untersuchungen, SAA 17, 143. 23
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Die Darstellung, wie die Erregung als Wirksamkeit des Bösen im menschlichen Bewusstsein präsent wird, verweist Schelling von der Natur – woraus nur die reine Möglichkeit dargetan wurde – auf die Geschichte. Dabei besteht auch eine Analogie in beiden Offenbarungsgeschehen: Wie sich in der anfangs finsteren Natur erst im Menschen als Naturprodukt das göttliche Licht erhebt und verwirklicht, so muss sich nun erneut das göttliche Prinzip diesmal innerhalb der Geschichte offenbaren, nämlich im „urbildliche[n] und göttliche[n] Mensch[en]“25, d. h. in Jesus Christus. Nach der Naturoffenbarung folgt für Schelling notwendigerweise eine Offenbarung in der Geschichte der Menschheit, die von einem „goldenen Weltalter“, einer Zeit der Unschuld, bis zum vollständigen Bewusstsein der Schuld und Sünde voranschreitet – in der Historie ereignet sich dieser Schritt im Übergang von der antiken, heidnischen zur christlichen Zeit, der wohl durch ein age of anxiety geprägt war.26 Denn die allgemeine Wirksamkeit des Bösen zeigt sich im Menschen u. a. in der „Angst des Lebens“27, die ihn dazu treibt, seine Eigenheit hervorzuheben und gegen die Allgemeinheit – verstanden als Absterben der Eigenheit – zu verteidigen. Um indes erklären zu können, wie und warum der einzelne Mensch das Böse in seinem eigenen Leben realisiert, bedarf es des formalen Freiheitsbegriffs des Idealismus. Anstelle der gewöhnlichen Entgegensetzung von Freiheit und Notwendigkeit, von Willkür und Determinismus, haben Kant und Fichte aufgezeigt, wie in einem höheren Sinne beide im Menschen identisch sind. Bereits Spinoza hat Freiheit im Sinne der Wesensnotwendigkeit gedeutet, wonach nur dasjenige frei ist, das gemäß seinem eigenen Wesen handelt; Kant hat dieses Wesen als intelligible, außerhalb der Zeit stehende Bestimmung weiter erklärt, aus welcher alle Handlungen des Menschen notwendigerweise folgen. Mit Fichte konnte das intelligible Wesen schließlich als eigene Tat des Menschen verstanden werden: Kraft der Tathandlung als Selbst-Setzung des eigenen Wesens können Freiheit und Notwendigkeit, Handeln und Sein, in ihrer Identität aufgefasst werden. Dabei ist das Wesen keineswegs als Resultat zu verstehen und unterschieden von der Handlung, sondern eben diese selbst, die das „Ur- und Grundwollen“28 des Menschen bezeichnet. Diese Erklärung stimmt sowohl mit dem biblischen Mythos, wonach der Mensch aus paradiesischer Unentschiedenheit die Entscheidung für das Böse getroffen hat, als auch mit dem alltäglichen Gefühl, angesichts des eigenen Bösen Schuld zu empfinden, überein. Die Menschheitsgeschichte kann als Bewusstseinsfortschritt der im frei gewählten Bösen (der Ursünde) geborenen Menschen betrachtet werden, die schließlich zum Bewusstsein des „radikal Bösen“ in ihnen Ebd., 146. Vgl. ERIC ROBERTSON DODDS, Pagan and Christian in an Age of Anxiety. Some Aspects of Religious Experience from Marcus Aurelius to Constantine, Cambridge 1990. 27 SCHELLING, Philosophische Untersuchungen, SAA 17, 149. 28 Ebd., 152. 25 26
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gelangen. Auch eine mögliche Umwendung zum Guten muss der ursprünglichen Tat zugerechnet werden, worin sich der Mensch für das „In-sich-handeln-Lassen des guten oder bösen Princips“, für Gott oder den „umgekehrten Gott“29 entschieden hat. Für Schelling ist das Böse bereits (bittere) Realität, die Tathandlung erklärt wie schon in der früheren Schrift Philosophie und Religion (1804) die Entschiedenheit des Menschen für das Böse. Doch die Möglichkeit des Guten, einer Transformation ins Gute, soll dadurch nicht vernichtet werden. Gegen die Zertrennbarkeit und faktische Zertrennung von Eigen- und Universalwillen in Gestalt des Bösen, mithin gegen die Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen hilft allein „göttliche Magie“,30 das Wunder der Gnade, um zu einer festen, göttlichen „Gebundenheit“31 zu führen, welche Schelling der Wortbedeutung nach als „Religiosität“ (von religare: binden) bestimmt. Eigen- und Universalwille sind dann durch ein göttliches Band geeint. In dieser „höchsten Entschiedenheit für das Rechte“32 hat der Mensch auch keine Wahl mehr: Aus seiner idealen Erkenntnis folgt unmittelbar – ohne Reflexion und Selbstbestimmung vermittelt – das gute Handeln, aus dem Denken folgt das Sein; er ist damit wie Gott bzw. die Substanz in der Bestimmung von Spinoza. Denn die Essenz kann nicht anders als existierend gedacht werden. Im Aufgehen in der „heiligen Notwendigkeit“ besteht daher zugleich die höchste Freiheit des Menschen, der dann in und wie Gott ist. Da nun der gute Mensch unmöglich gegen seine wahre Einsicht handeln kann, ist nur allzu klar, dass er auch nicht mehr das Vermögen des Guten und des Bösen hat; die Zertrennbarkeit der Prinzipien ist ebenso wie ihre falsche Einheit vernichtet, die Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen sind passé. Damit verliert der Mensch mit seiner realen Freiheit aber doch seine spezifische Differenz – von der Natur und vor allem von Gott. Deutlicher ausgedrückt: der Mensch ist nicht mehr von Gott unterschieden. Der endliche ist in einen unendlichen Standpunkt überführt. Das mag man nun nicht als schlimm empfinden – es gibt Schlimmeres als Gott zu werden. Allerdings offenbart es neben dem praktischen, das hier nicht weiter ausgeführt werden kann, auch ein theoretisches Problem – so gelangt man an dieser Stelle über den Gegenstand zurück zur Methode. Denn die menschliche Freiheit ist nicht nur im Hinblick auf das Böse von Relevanz. Die (in Aussicht gestellte) Apotheose des Menschen macht deutlich, warum die praktische Perspektive der Idealphilosophie so zentral ist für Schellings Philosophie als ganzer: Deren Vorgabe, dass erst aus der Erkenntnis Gottes heraus das gute Handeln unmittelbar folgt, zeigt sich auch für die Theorie. Nicht nur für die Praxis muss der Mensch zurück zu Gott finden, auch für die Theorie: eine vollständige Erkenntnis Gottes ist allein auf diesem Wege möglich. Wie schon im Praktischen der Ebd., 156. Ebd., 158. 31 Ebd., 158. 32 Ebd., 159. 29 30
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gute Mensch den Tod des Menschen bedeutet, der noch mit und in seiner spezifischen Differenz lebende Mensch aber böse ist, bleibt auch im Theoretischen die Unerkennbarkeit Gottes für den Menschen bestehen, sobald er ihn erkennt, ist er nicht mehr. Kraft des Bösen im Menschen hat die spezifische Differenz eine feste Form gewonnen. Diese gründet im Bewusstsein, das auch Schelling als Reflexion und damit Distanz (Differenz) vom Sein deutet. Die spezifische Differenz des Menschen ist allgemein gesprochen dessen Differenzierung vom Sein – sei es im Praktischen oder Theoretischen. Auf letzterer Ebene impliziert dies die spezifisch menschlichen Wissens-, d. h. Bewusstseinsformen, d. h. die Methode: Solange der Mensch böse ist, kann er wissen; solange er böse ist, kann er aber nicht das Absolute als solches wissen. Denn er ist von einer Form geprägt, die nicht diejenige des Absoluten ist. Letztlich fordert das wahre, absolute Wissen, dass der Mensch das Böse überwindet, indem er es durchläuft. Diese Überwindung der realen Freiheit bedeutet zugleich eine Einkehr in die rein ideale Freiheit; mithin eine Überwindung des Realismus im Idealismus, die analog zu Gottes Idealisierung zu verstehen ist – aber im Bösen verläuft. Der Zielpunkt dieses Ansatzes bedeutet zugleich dessen Überwindung und Vernichtung. Ebenso wie es schwer fällt, hier – am Ziel – noch von Wissen zu reden, kann man sich den guten Menschen nicht mehr als Menschen vorstellen.
4. Homo malefaciens oder der ewige Tantalos Schelling, dem vor der Freiheitsschrift häufig vorgeworfen worden war, dass seine Philosophie den „Unterschied zwischen Gut und Böse“33 aufhebe, dessen theoretische Grundlage lange Zeit die intellektuelle Anschauung war, die Hegel mit der Nacht verglich, in der alle Kühe schwarz seien,34 schickte sich 1809 an, die Differenz besonders hervorzukehren; so weit, dass diese schließlich zum auszeichnenden Merkmal des Menschen, zu dessen spezifischer Differenz, wurde. Eine Philosophie des Absoluten, die dieses „menschlich näher bringen“35 will, muss dann an ihrer Aufgabe aber notwendigerweise scheitern. Möglicherweise war dies sogar der Hauptgrund, weshalb Schelling in der Folge, so in seiner Weltalterphilosophie, aber mehr noch später, auf der Suche nach der positiven Philosophie, von der Ambivalenz getrieben, zu Güte und Wahrheit zu gelangen, aber dies nicht selbst erreichen zu können, ständig scheiterte: Er schaffte es nicht, seine philosophischen Gedanken in einer Monographie zu veröffentlichen. FRIEDRICH SCHLEGEL, Über die Sprache und Weisheit der Indier, in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Bd. 8, hg. von Ernst Behler/Ursula Struc-Oppenberg, München u. a. 1975, 201. 34 Vgl. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Phänomenologie des Geistes, GW 9, 17. 35 SCHELLING, Philosophische Untersuchungen, SAA 17, 130. 33
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Darin gleicht er der mythischen Gestalt des Tantalos, dessen Qualen bekannt sind: Sobald er vom Durst getrieben nach dem Teich greift, versiegt dieser, sobald er vom Hunger geplagt nach den Obstbäumen greift, rücken diese in weite Ferne. Schuld daran trägt der Griff, für Schelling der Be-Griff, der das Wesen des Menschen bezeichnet, die spezifische Differenz. Lediglich Gnade und passive Vernunft könnten dem Abhilfe schaffen, doch beides wollte er nicht – Tantalos/Schelling – oder wenn er es wollte, bekam er es gerade deshalb nicht.
Das Böse als Nichts: Schelling und Augustinus VINCENT GIRAUD Wenn es einen Denker gibt, der die Frage nach der Natur und dem Ursprung des Bösen mit geradezu bemerkenswerter Beharrlichkeit gestellt hat, dann ist es Augustinus. Seit seiner Jugend sah sich der zukünftige Bischof von Hippo mit diesem Rätsel – oder gar diesem Skandal – der Präsenz des Bösen in der Welt konfrontiert: „Woher stammt also das Böse, da Gott in seiner Güte die ganze Schöpfung gut erschaffen hat? […] Schöpfer und Geschaffenes sind beide gut. Woher dann das Böse?“ (conf., VII, 5, 7). Wie wir in diesen Zeilen erkennen können, wird die Frage unde malum? nur für einen Schöpfungsgedanken zum Rätsel, der die Güte Gottes und seines Werkes postuliert. Der Manichäismus, zu dem sich Augustinus lange Zeit bekannte – er war zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr tatsächlich Manichäer gewesen –, stellte eine verführerische Lösung bereit, um diese Präsenz des Bösen in der Welt zu erklären: Das Böse sei das Werk eines finsteren, durch und durch schlechten Prinzips, das sich dem guten Gott entgegenstelle. Nachdem er seinen manichäischen Irrtum überwunden hatte, argumentierte Augustinus stets vehement gegen diese Lehre. Die These, die er den Mani-Jüngern entgegenstellte und die die gesamte westliche philosophische Tradition geprägt hat, ist allgemein bekannt: Das Böse ist kein Prinzip, es ist keine Substanz; es besteht in einer einfachen Privation des Guten, einem Mangel; daher ist das Böse nichts Seiendes – es ist reines Nichts. Ich möchte auf diese berühmte These zurückkommen, um ihr Ausmaß und ihre Relevanz zu erfassen und somit ihre genaue Bedeutung zu ermitteln. Diese Untersuchung wird im Lichte des 1809 von Schelling veröffentlichten Werkes Über das Wesen der menschlichen Freiheit durchgeführt. Können wir, was das Böse angeht, Augustinus mit Schelling verstehen? Abgesehen davon, dass dies von Grund auf ein schwerwiegendes methodisches Problem darstellt (Wird man nicht versucht sein, dem Verfasser der Bekenntnisse Positionen zuzuweisen, die denen des deutschen Denkers entsprechen? Oder umgekehrt, einen augustinischen Schelling vorzufinden?), scheint der Fall klar: Das gesamte Vorhaben Schellings richtet sich gegen die These des als Privation konzipierten Bösen, und er bezieht sich ausdrücklich auf Augustinus. In der Freiheitsschrift lesen wir Folgendes: „Denn schon die einfache Überlegung, daß der Mensch, die vollkommenste aller sichtbaren Kreaturen ist, der des Bösen allein fähig ist, zeigt, daß der Grund desselben keineswegs in Mangel oder Beraubung liegen
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könne.“1 Und Schelling fügt diesen Worten eine Bemerkung hinzu: „Es ist in dieser Beziehung auffallend, daß nicht erst die Scholastiker, sondern schon unter den früheren Kirchenvätern mehrere, vorzüglich Augustinus, das Böse in eine bloße Privation setzen.“ Dass das Zitat aus Contra Iulianum, das diese Position veranschaulicht, selbst fehlerhaft ist (Schelling hat eine Paraphrase aus einer Leibniz-Ausgabe abgeschrieben2), ändert nichts an dem Problem an sich. Die These von Augustinus wird im Namen dieses „Positive[n] […], welches dennoch im Bösen angenommen werden muß“ verurteilt.3 Die folgenden Überlegungen zielen darauf ab, festzustellen, ob die These vom Bösen als Privation Augustinus zwangsläufig dazu führt, nicht in der Lage zu sein, sich eine wie auch immer geartete Positivität des Bösen vorzustellen. 1 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hg. von Thomas Buchheim, Hamburg 1997. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Sabine Mehnert für die Übersetzung meines Beitrags aus dem Französischen bedanken. 2 Hier sind einige Anmerkungen angebracht: In der Ausgabe von Schellings Freiheitsschrift, die von Thomas Buchheim ediert wurde, hebt dieser zurecht hervor, dass es sich „nur [um] ein ungefähres Zitat von Augustinus, Contra Julianum Pelagianum I 8“ handelt und dass „Schelling […] das Zitat wohl einem anderen Werk entnommen“ (ebd., 135) hat. Er schließt mit folgenden Worten: „Die Quelle Schellings konnte nicht ermittelt werden.“ (Ebd.) Es war uns dennoch möglich, das Original des Textes zu finden, der von Schelling zitiert wurde. Als wesentlicher Hinweis hat die Tatsache gedient, dass der Anlass des Pseudozitats aus Augustinus’ Contra Iulianum eine Debatte mit Leibniz ist, in der Schelling die Position des Autors der Theodizee widerlegt, der im Bösen eine bloße Privation sieht. In der Edition der Theodizee von 1771 (vgl. GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ, Tentamina Theodicaeae De Bonitate Dei Libertate Homines Et Origine Mali, Tübingen), die die Adnotationes in Kingii, also die Bemerkungen Leibniz’ zu dem Buch De Origine mali des anglikanischen Bischofs William King enthält, gibt eine Notiz genau den Text des Pseudozitats wieder (vgl. ebd., 764). Diese Notiz wurde nicht von Leibniz, sondern von dessen Herausgeber angefertigt. In der Edition der Theodizee von Berger von 1739, in der die Adnotationes in Kingii noch nicht enthalten sind, hat diese Notiz noch gefehlt. Aber in der Zwischenzeit sind 1768 in Genf die Opera omnia von Leibniz in sechs Bänden, von Louis Dutens ediert, erschienen. Das augustinische Pseudozitat befindet sich im ersten Band dieses Gesamtwerks (vgl. Tomus primus quo Theologica continentur 441). Dutens zitiert hier ausgiebig Johann Conrad Creiling und innerhalb dieses Zitats lässt sich der Verweis auf Augustinus finden: „Eleganter Augustinus L. I contra Julianum c. III scribit: Quaerunt ex nobis … usw.“ Creiling ist der Autor einer kommentierten Ausgabe des Textes, den Heinrich Kröler in seiner deutschen Übersetzung, die 1720 erschienen ist, unter dem Namen „Monadologie“ berühmt gemacht hat (vgl. die Präsentation von Michel Fichant „L’invention métaphysique“ in: G. W. LEIBNIZ, Discours de métaphysique – Monadologie, Paris 2004, 8 f.), die hier aber, der lateinischen Übersetzung von Hansche (vgl. Acta eruditorum (1721), Supplementa, Bd. 7, 1721, 500–514) folgend Principia philosophiae Autore G. G. Leibnitio genannt wird (vgl. JOHANNES CREILING, Principia philosophiae Autore G. G. Leibnitio, hg. von Johannes Creiling, Tübingen 1722). Auf Seite zwei des zweiten Bands dieser Edititon, wo der 42. Paragraph der Principia kommentiert wird, in dem es um die Frage nach der Perfektion oder Imperfektion der Kreaturen geht, findet sich diese freie Glosse von Creiling zum Worte Augustinus’, zusammen mit dem falschen Verweis auf Kapitel drei (anstatt richtigerweise auf Kapitel acht) des ersten Buchs von Contra Iulianum. In der Notiz auf Seite 368 der Freiheitsschrift gibt Schelling, der glaubt, Augustinus zu zitieren, in Wirklichkeit die ambivalenten Worte Creilings wieder, die ohne Abänderung oder Kritik in den diversen Editionen von Leibniz übernommen wurden, auf die Schelling Zugriff hatte. 3 SCHELLING, Freiheitsschrift, 370.
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Nehmen wir als Ausgangspunkt die schellingsche Definition der Freiheit, sofern sie mit Augustinus’ Position in Einklang gebracht werden kann: „Der reale und lebendige Begriff (der Freiheit) aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sei.“4 Das Böse existiert also nur als Wirken einer Freiheit. Augustinus spricht von Menschen und Engeln, geistigen Geschöpfen, die des Denkens fähig sind, und schreibt seinerseits, dass es sich in beiden Fällen um eine „Natur“ handelt und dass diese menschliche oder engelhafte Natur „eine Substanz [ist], die sowohl für die Gutheit wie für die Bosheit aufnahmefähig ist (natura est ipsa substantia et bonitatis et malitiae capax)“ (c. Iul.., I, 8, 37). Wenn man sich auf die Aussagen über den Menschen konzentriert, kann man sagen, dass „sein Wesen ursprünglich so geschaffen wurde, dass es zum Guten und zum Bösen fähig ist (hominis naturam capacem boni und pravi prius factam)“ (c. Iul.imp., V, 48).5 Was genau bezeichnet Augustinus also als „böse“? Nicht die Gesamtheit dessen, was uns schaden oder missfallen kann (was wir gemeinhin als „schlecht“ bezeichnen), sondern einzig das Ergebnis einer Fähigkeit zum Guten und Bösen, die ihren Sitz im Willen hat. Was in der Schöpfung nur ein minderwertiges Gut ist, ist an sich kein Übel – und hier kommt die Definition des Bösen als Privation voll zum Tragen: Dass der Stein nicht sehen kann, heißt nicht, dass er nicht gut ist, sondern nur ein weniger perfektes Gut als das Auge. Außerdem werden uns die Übel, die wir erleiden, von Gott als Strafe für unsere Sünden auferlegt und sind in diesem Sinne somit etwas Gutes. Kurz gesagt, das Böse im eigentlichen und wahren Sinne besteht in einer Willensbewegung, die als Sünde (peccatum) bezeichnet wird: „Das Böse kommt von der willkürlichen Sünde der Seele (mala est voluntario peccato animae)“6 (c. Fort. 20) Das Böse als Sünde zu denken, macht es allerdings noch keineswegs möglich, seinen Ursprung zu bestimmen. Und der Skandal der Präsenz des Bösen in der Schöpfung wird nur noch spürbarer, wenn dieses das Werk eines vernunftbegabten Geschöpfes ist. Woher kommt das Böse? Nicht von Gott, das ist tatsächlich unmöglich, weil es dem göttlichen Wesen und seiner Perfektion widerspricht. Auch nicht von einem gegnerischen Prinzip (das Böse als Substanz): Denn als Substanzielles wäre es notwendigerweise das Werk Gottes, der alles schuf, was nicht er selbst ist. Aber das ist unmöglich, denn ein vollkommener und allmächtiger Gott kann nichts Schlechtes erschaffen. Es ist daher notwendig, dass die Fähigkeit oder das Vermögen zum Bösen einer Quelle außerhalb Gottes entstammt, ohne jedoch selbst ein substantielles Prinzip zu sein. Schelling seinerseits drückt dies folgendermaßen aus: „Denn ist die Freiheit ein Vermögen zum Bösen, so muß sie eine von Gott unabhängige Wurzel haben“.7 Hier hört jedoch die Parallele zwischen den beiden Denkern auf, insofern diese von Gott Ebd., 353. Nach eigener Übersetzung. 6 Nach eigener Übersetzung. 7 Ebd., 354. 4 5
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unabhängige „Wurzel“ des Bösen für Augustinus nicht der von Schelling identifizierte Grund ist, das, „was in Gott selbst nicht Er selbst ist“,8 sondern das Nichts. Wenn alles, was ein Sein hat, entweder Gott ist oder von Gott erschaffen wurde, bleibt für den Bischof von Hippo nur das Nichts übrig, das innerhalb des Geschaffenen die Wurzel des Bösen darstellen kann. Insoweit als das, was nicht Gott ist, nicht die Substanz Gottes ist, findet das Böse seine Möglichkeit als etwas, das aus dem Nichts gemacht wurde, so daß, die Wurzel des Bösen weder anderswoher ihren Ursprung haben noch anderswo zu finden sein kann als aus, beziehungsweise in der vernunftbegabten Natur (nec aliunde oriri, nec alicubi esse posse dicit radicem mali, nisi ex natura et in natura rationali). Vernunftbegabte Natur sein bedeutet für sie nichts anders als ein Geschenk Gottes. Doch weil sie [die Natur] von dem höchsten und veränderlichen Guten aus dem Nichts zum Dasein geschaffen wurde (de nihilo facta est), [ist sie,] wenn auch etwas Veränderliches, dennoch ein Gutes. Abfallen vom Guten, von dem sie geschaffen wurde, das bedeutet, [dass] die Wurzel des Bösen (radix mali) aus jener [stammt] oder in jener [zu finden ist] (ex illa, vel in illa); denn das Böse ist nichts anderes als Beseitigung des Guten (quia nihil est aliud malum, nisi privatio boni).9 (c. Iul., I, 9, 42)
Die These über das Wesen des Bösen (das Böse als Privation des Guten) eröffnet so ein Verständnis für den Ursprung des Bösen. Weil das Böse nichts ist, kann es in dem Geschaffenen entstehen, das heißt im Herzen dessen, was ist, ohne Gott zu sein. Die Möglichkeit der Sünde geht von der Kreatur selbst aus, sofern sie vom Nichts begrenzt wird und in sich das Nichts als ihren Ursprung trägt. Es gilt an dieser Stelle jedoch zu bedenken, dass diese Prägung des Geschöpfes durch das Nichts nur dann zur Ursache des Bösen wird, wenn sie eine Bewegung des Willens verursacht, durch die sich die vernunftbegabte Kreatur von Gott trennt. Somit ist das Nichts als Ursprung des Geschöpfes keine hinreichende Ursache des Bösen, und Letzteres hat nichts Notwendiges an sich. An diesem entscheidenden Punkt sollten einige Paragraphen des Contra Iulianum opus imperfectum VI zitiert werden: 32. Ich meinerseits habe dem Nichts keinerlei Gewalt unterstellt; da es nicht etwas ist und deshalb nicht gewalttätig sein kann. (Ego non dixi violentum nihil: non enim est aliquid, quod possit esse violentum.) Weder der Engel noch der Mensch haben beim Sündigen Gewalt erlitten. Sie hätten nicht gesündigt, wenn sie nicht hätten sündigen wollen, und sie hatten das Vermögen, es nicht zu wollen. Aber diese Macht der Sünde wäre nicht in ihnen gewesen, wenn sie von Gottes eigener Natur gewesen wären. (Nec angelus, nec homo vi aliqua peccare compulsus est; nec peccassent, si peccare noluissent, qui etiam nolle potuissent; verum et posse peccare non in his esset, si natura Dei essent.) 35. Keine Kondition eines Wesens, das aus dem Nichts geschaffen wurde, hat das Böse zum Entstehen gezwungen (exegit), denn das Entstehen zu erzwingen bedeutet, die Notwendigkeit (compellitur) aufzuerlegen, sich zu zeigen oder zu sein. Nichts hat die Sünde 8 9
Ebd., 359. Nach eigener Übersetzung.
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erzwungen (peccare nulla res compulit), weder beim Menschen noch beim Engel, die die ersten Sünder darstellen. Ihre Sünde entspringt einem freien Willen (libera voluntate peccarunt). Sie hatten das Vermögen, nicht sündigen zu wollen, da ihnen dieser Willen von Nichts auferlegt wurde (nec cogebantur ut vellent). Und doch hätten sie gar nicht wollen können, wenn sie Gottes Natur gehabt hätten und nicht aus Nichts geschaffen worden wären. 38. Dieses Geschöpf konnte weder das Böse gar wollen noch das Böse tun, das es nicht wollte, wenn es nicht aus Nichts geschaffen sein würde, das heißt, wenn es von der Natur Gottes wäre. (male aliquid velle, vel mali aliquid etiam nolens facere, omnino non posset, nisi de nihilo facta esset, id est, si Dei natura esset.)10
Das Nichts ist nur Ursache des Bösen für einen Willen, den es befähigt, das Böse zu wollen, ohne ihn jedoch jemals zu zwingen, schlecht zu handeln. Aus einer Analyse, die das Nichts als Ursprung des Bösen in dem mit einem Willen ausgestatteten Geschöpf identifiziert hat, muss daher das Verständnis desselben Ursprungs als Wille folgen, und zwar als freier Wille. Die engelhafte oder menschliche Freiheit wird in dieser Hinsicht definiert als ein Vermögen, welches sich zwischen der Alternative Gut und Böse entscheiden muss: Die Fähigkeit zu sündigen (posse peccare) und die Fähigkeit nicht zu sündigen (posse non peccare), gehören beide zur relativen Vollkommenheit der vernunftbegabten Kreatur. Nur relative Vollkommenheit, weil das Nichts, aus dem sie hervorgegangen ist, ihr die Möglichkeit gibt, zu fallen, das Gute abzulehnen. Diese Wahlmöglichkeit ist die Grundlage der Freiheit als freier Wille (liberum arbitrium). Und Gott hat dem Menschen den freien Willen gegeben, damit dieser gut handeln kann. Es ist in der Tat eine wesentliche Voraussetzung für ein gutes Handeln, das Ergebnis eines Willens zu sein. Was nicht freiwillig geschieht, kann in keiner Weise als gerecht oder ungerecht bezeichnet werden. Ohne Freiheit gibt es daher keine Verantwortung und Freiheit ist als Voraussetzung für ein moralisch bestimmtes Handeln erforderlich. Aber die Möglichkeit, Gutes zu tun, eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit zum Bösen. Die eine existiert nicht ohne die andere, und das des Guten fähige Geschöpf ist es nur insofern, als dass es auch des Bösen fähig ist: Denn wenn der Mensch ein Gut ist und nicht rechtschaffen handeln könnte, wenn er es nicht wollte, muß er einen freien Willen haben, ohne den er nicht rechtschaffen handeln könnte. […] Wie könnte es jenes Gut geben, durch das die Gerechtigkeit selbst im Verurteilen der Sünden und im Belohnen der rechtschaffenen Taten gepriesen wird, wenn der Mensch die freie Entscheidung des Willens nicht hätte? (lib. arb., II, 1, 3).
Das Böse hat also keinen anderen Ursprung als den, dass es die Möglichkeit zum moralischen Handeln eröffnet, dessen mangelnde Notwendigkeit seinen ganzen Wert ausmacht. In diesem Sinne, und um es mit den Worten Schellings zu sagen, ist, „wer keinen Stoff noch Kräfte zum Bösen in sich hat, auch zum 10
Nach eigener Übersetzung.
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Guten untüchtig“.11 Die gemeinsame Wurzel alles Guten und Bösen lässt sich in der Freiheit als Vermögen der vernunftbegabten Kreatur (das heißt, de nihilo facta) verorten. Nun gilt es, sich dem Verständnis dieses Vermögens selbst zuzuwenden. Wir haben festgestellt, dass das Böse seinen Ursprung als Nichts und als Freiheit hat. Die Bestimmung durch die Freiheit hat gezeigt, dass das Böse nicht nur eine mechanische und notwendige Wirkung des Nichts ist, sondern dass jede schlechte Tat im Gegenteil einer menschlichen Freiheit entspringt, die sich für dieses Nichts entscheidet. Was also ist der Grund, aus dem sich der geschaffene Wille dem Nichts zuwendet? Wie ist es möglich, das Böse zu wollen? Dies ist genau die Schwierigkeit, die Evodius in Vom freien Willen aufwirft: Wenn man annimmt, dass Gott den Menschen den freien Willen gegeben hat, und wenn dieser uns gegeben wurde, um gut zu handeln, hätte sich derselbe Wille nicht der Sünde zuwenden können (ad peccandum convertere). Als aus dem Nichts entstandenes Geschöpf hat der Mensch ebenso die Fähigkeit zu sündigen (posse pecare) wie nicht zu sündigen (posse non pecare) – aber was hat selbst den ersten als rechtschaffen geschaffenen Menschen („Gott hat den Menschen […] recht erschaffen und daher guten Willens. Er wäre nämlich nicht recht, wenn er keinen guten Willen hätte. Der gute Wille ist also das Werk Gottes, mit ihm ist der Mensch geschaffen worden von Gott.“ (civ., XIV, 11, 1)), der das Vermögen hatte, im Guten zu beharren, dazu bewegt, die Sünde zu wählen? Wenn das Böse nur freiwillig geschehen kann, dann bedeutet, den Ursprung des Bösen zu suchen, das zu suchen, was einen bösen Willen hervorbringen kann: den Ursprung der Sünde. Diese Frage stellt sich mit besonderem Nachdruck in der anti-manichäischen Polemik: Aber woher nun stammt die böse Tat, die Sünde genannt wird, wenn es keine Natur des Bösen gibt? […] Woher stammt jene böse Zustimmung in dieser Natur? […] Woher hat sie besagte böse Zustimmung, wenn keine ihr entgegengesetzte Natur sie ihr aufzwingt? […] Woher das Vermögen in jener Natur, irregeführt zu werden, wenn sie eben irregeführt wird? […] Woher kommt es, dass diese Natur des Guten das Vermögen hat zu dulden, was sie eben duldet, und dadurch dem Bösen zuzustimmen? (c. Sec., 19)
Zu diesem Problem bieten die bisher formulierten Antworten nicht mehr als einen Lösungsansatz. In der Tat gibt es keinen Grund dafür, dass das Nichts, aus dem sie hervorgegangen ist, die direkte Ursache des Bösen in der vernunftbegabten Kreatur ist – denn dann wäre jedes Geschöpf per definitionem schlecht. Dabei ist es auf seine Weise gut und wurde mit der Fähigkeit zum Guten geschaffen. Der freie Wille kann das Entstehen des Bösen als solches ebenfalls nicht erklären. Denn wenn der Wille sich tatsächlich dem zuwenden kann, das weniger Sein hat, und somit das Böse wählen kann, dann liefert der freie Wille als Wahlvermögen noch in keiner Weise den Grund, das Motiv und das Entstehen dieser Wahl. Diese zwei Dimensionen (Nichts, freier Wille) sind durchaus 11
Ebd., 400.
Das Böse als Nichts: Schelling und Augustinus
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notwendig, aber keinesfalls hinreichend, um den Ursprung schlechten Handelns darzulegen, denn das Böse ist weder eine unmittelbare Folge des Nichts, aus dem das Geschöpf hervorgegangen ist, noch eine unerwartete Wendung des Willens, denn das, was diesen Willen selbst bestimmt, würde so unverständlich bleiben. Wir kommen also auf diesem Weg zum Ziel dieser bisher nur skizzierten Konfrontation mit dem Denken Schellings von 1809. Wie wir wissen, basiert die These der Freiheitsschrift auf der „Unterscheidung […] zwischen dem Wesen, sofern es existiert und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“.12 An dieser Stelle kann auf diese These, die uns allen bekannt ist, in ihrer ganzen Komplexität nicht weiter eingegangen werden. Es genügt daran zu erinnern, dass für Schelling die Möglichkeit des Bösen in der Trennung von Existenz und Grund besteht, wobei letzterer sich als unabhängiges Prinzip innerhalb der Existenz behauptet: Wäre nun im Geist des Menschen die Identität beider Prinzipien ebenso unauflöslich als in Gott, so wäre kein Unterschied13 […]. Diejenige Einheit, die in Gott unzertrennlich ist, muß also im Menschen zertrennlich sein, – und dieses ist die Möglichkeit des Guten und des Bösen.14
Der Grund, gedacht als „die Sehnsucht, die das ewige Eine empfindet, sich selbst zu gebären“,15 behauptet sich im Menschen als „der Eigenwille der Kreatur“, „bloße Sucht oder Begierde“.16 Das Böse ist dann nur eine „Erhebung des Eigenwillens“, der Wille des Grundes wird „partikular und kreatürlich“.17 Um es diesmal mit den Worten von Heidegger zu sagen, der diese Seiten erklärt: Diese zum Wesen des Menschseins gehörige Zertrennlichkeit der beiden Prinzipien ist aber nichts anderes als die Bedingung der Möglichkeit des Bösen. Inwiefern? Weil hier der Eigenwille ein selbstisch geistiger ist, kann dieser Wille in der Einheit des menschlichen Willens sich an die Stelle des Universalwillens setzen. […] [Der Eigenwille] kann als die gesonderte Selbstheit der Grund des Ganzen sein wollen. […] Dieses Können ist das Vermögen zum Bösen.18
Diese einfache Erinnerung genügt für unseren gegenwärtigen Zweck. Es geht nicht um die simple Feststellung, dass Schellings Überlegungen viel von der christlichen Auffassung von Sünde entlehnt. Das ist klar und eindeutig. Es ist vielmehr die entgegengesetzte Bewegung, die uns hier interessiert: Wie ermöglicht uns dieses Verständnis von Sünde als Aufstand, Aufruhr, Unfug, Erhebung …, die augustinische Position mit all ihren Implikationen zu verstehen? Ebd., 357. Das heißt „kein Unterschied“ zwischen Mensch und Gott. 14 Ebd., 364. 15 Ebd., 359. 16 Ebd., 363. 17 Ebd., 365. 18 MARTIN HEIDEGGER, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit, Tübingen 1971, 171. 12 13
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Augustinus letztes Wort für die Erklärung der Sünde ist in einem Zitat aus der Bibel zu finden. „Der Anfang aller Sünde ist Hochmut.“ (Pred 10, 15) Der Hochmut (superbia, manchmal elatio) ist der Endpunkt, an den Augustinus hinsichtlich des Ursprungs des Bösen gelangt. Das Böse als freie Wahl, die sich aus dem Willen einer vernunftbegabten Kreatur ergibt, die aus dem Nichts hervorgegangen ist, findet seinen Ursprung und seine Erklärung im Hochmut, der sie ergreift, wenn sie sich selbst über Gott wählt. Von allen Texten, die Augustinus diesem Problem gewidmet hat (und diese sind zahlreich), ist es wahrscheinlich die folgende Passage aus dem Buch XIV des Gottesstaats, die dies am umfassendsten wiedergibt: Im geheimen aber begann sie böse zu sein, um schließlich in offenen Ungehorsam zu stürzen. Es wäre ja nicht zur bösen Tat gekommen, wenn kein böser Wille vorangegangen wäre. Aber was konnte der Anfang des bösen Willens (malae voluntatis initium) sein, wenn nicht der Hochmut! […] Ist Hochmut nicht das Streben nach verkehrter Hoheit (perversae celsitudinis appetitus)? Verkehrte Hoheit ist, den Urgrund aufzugeben, mit dem der Geist Zusammehang haben soll, und gewissermaßen sich selbst zum Urgrund zu werden, selbst Urgrund zu sein (sibi quodam modo fieri atque esse principium). Dazu kommt es, sobald der Geist sich selbst zu sehr gefällt (cum sibi nimis placet), und das tut er, wenn er von jenem unwandelbaren Gut abfällt (deficit), das ihm mehr als er selbst gefallen soll. Freiwillig ist solch Abfall (spontaneus est autem iste defectus) […]. (civ, XIV, 13, 1)
Inwiefern sind diese Zeilen essentiell? Erstens sagt Augustinus ausdrücklich, dass der Sünder derjenige ist, der sich selbst für sich selbst zum „Prinzip“ macht, und dass der Hochmut in einem Aufruhr des Willens besteht, der sich gegen das göttliche Prinzip auflehnt. Sich als sein eigenes Prinzip zu erschaffen, bedeutet, sich selbst über Gott zu wählen. Wenn auch der freie Wille in diese Wahl hineinspielt, so ist er jedoch nur zweitrangig, an erster Stelle steht das „Sich-selbstGefallen“ (sibi placere). Diese Selbstzufriedenheit wiederum ist die Verkündung der denkenden Kreatur ihrer eigenen Größe. Sie will für sich selbst existieren und fällt damit ab (deficere) von dem Zusammenhang mit dem Urgrund ihres Wesens: Das sibi placere ist somit das absolute Gegenteil des Deo inhaerere (durch eine rechtschaffene Liebe an Gott gebunden zu sein). Deshalb ist diese Hochmütigkeit der Kreatur notwendigerweise verkehrt (perversa). Auf diese Weise wird eine falsche Selbstheit konstituiert, in der sich die Kreatur durch Umkehrung und Unterwerfung der Ordnung des Geschaffenen selbst setzt. Schließlich – und dies ist ein absolut entscheidender Punkt – geht diese Trennung von Gott, die den Hochmut ausmacht, spontan von der Kreatur aus: spontaneus est iste defectus. Alle diese Bestimmungen finden sich auf die eine oder andere Weise, wenn auch durch seine eigenen Spekulationen abgewandelt, in Schellings Schrift wieder. Aber etwas Tieferes, das eine solche Interpretation von Augustinus im Lichte von Schelling möglich macht, ist die Entdeckung in Augustinus’ Denken einer Spontaneität des Bösen, die von dem vernunftbegabten Geschöpf selbst
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ausgeht – und das obwohl es als gut geschaffen wurde. Eine Spontaneität, die sich weder durch das Nichts als Ursprung des Geschöpfes noch durch den freien Willen als Wahlvermögen allein erklären lässt. Die Eigensucht bewohnt das vernunftbegabte Geschöpf – menschlich oder engelhaft – als latente Spontaneität, die von seinem Geschöpfeszustand nicht zu trennen ist. Die fundamentale Bedeutung der Augustinischen superbia ist also in keiner Weise moralisch, und das „Sichselbst-Gefallen“ (sibi placere) beschreibt im Gegenteil ein Wesensmerkmal der Kreatur. Was beinhaltet dieses Wesen? Die Tatsache, dass sein ohne Gott zu sein immer durch die latente Spontaneität eines Verlangens nach dem Eigenen untergraben wird. Diese grundlegende Sehnsucht bringt das geschaffene Wesen dazu, über die bloße Selbstheit, die es als Für-Gott-Seiendes hat, hinauszugehen, um sein In-sich-Stehen zu bestätigen und sich somit als verkehrte Selbstheit zu konstituieren. Wenn, wie Schelling schreibt, „die Selbstheit in ihrer Lossagung […] das Prinzip des Bösen [ist]“,19 so verortet der Augustinismus diese Lossagung im Innersten des Kreaturwesens. Das Nicht-Gott-Sein wird als Tendenz gedacht, die immer zum Erwachen bereit ist und die sich nur in der vernunftbegabten Kreatur verwirklicht – das Für-sich-selbst-sein-Wollen. Diese Tendenz ist daher Ausdruck einer Macht: das „Vermögen des Guten und des Bösen“. Und ein solches Vermögen – wenn wir hier für einen Moment Engel ausnehmen – besitzt nur der Mensch. Dieses Vermögen (potestas), mittels dessen Gott dem Menschen erlaubt, über die niederen Schöpfungsgrade zu herrschen, ist auch das, was sich im Hochmut (superbia) gegen Gott erhebt. Dieses Vermögen hat nun seinen Ursprung im Menschen, sagt Augustinus, indem er sich auf Gen 1: 26 beruft, da dieser nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde: „Der Mensch hat als Ergebnis seine Macht dass er nach dem Bild Gottes geschaffen wurde (Quia homo ex eo habet potestatem, ex quo factus ist ad imaginem Dei)h. Was bedeutet hier „Bild“? „Inwiefern wurde er nach dem Bilde Gottes geschaffen? In seiner Intelligenz, in seinem Geist, seinem Innenleben (in intellectu, in mente, in interiore homine)“ (ep.Io.tr., VIII, 6).20 Das Vermögen (potestas) zum Guten und zum Bösen bedeutet im Menschen Geist und Verstand (mens, intellectus). Der Mensch ist das geschaffene Wesen, dem das Vermögen gegeben wurde, das Böse tun zu können, aus dem Grund, dass er Geist ist. Er ist nicht nur von Gott (per Deum), schreibt Augustinus in Über die wahre Religion (44, 82), er ist auch für Gott (ad Deum), das heißt fähig, sich seiner Bestimmung in Gott bewusst zu werden und sie in Wissen und in Liebe zu verwirklichen. Die Behandlung dieses theologischen Themas ist hier wichtig, da es das Bild selbst ist, das zwar den höchsten Rang in der Schöpfung einnimmt und doch – gerade deshalb – den Geburtsort des Hochmuts darstellt:
19 20
SCHELLING, Freiheitsschrift, 401. Nach eigener Übersetzung.
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In seinem Hochmut hat er sich aufgerichtet, er, welcher nach dem Bilde Gottes geschaffen worden war, und sich an seiner eigenen Macht erfreut (erexit in superbiam eum, qui factus ad imaginem Dei […] et sua potestate frueretur). […] Er wurde als Mensch geschaffen und wollte Gott sein (Homo factus erat, deus esse voluit).21 (Serm. Guelf. 32 (340 A), 1)
Wir wissen, das Böse ist nur für eine Macht offen: Es ist das Korrelat einer Macht, das Böse zu tun. Aber diese Kraft ist der Mensch selbst, da er nach dem Bilde Gottes gemacht wurde. Man muss daher notwendigerweise zu dem Schluss kommen, dass die Kreatur dort, wo sie zum Ausdruck ihrer höchsten Güte gelangt, das heißt als Geist, die Möglichkeit des Bösen identisch in sich birgt. Der Mensch ist die Kreatur, in der das Nichts, das sich geistig als superbia in dem Wunsch verortet, für sich selbst zu sein – das heißt in der Verabsolutierung der eigenen Endlichkeit – das Vermögen zum Bösen darstellt. Ich möchte nun zu folgendem Schluss kommen: Schellings Beitrag von 1809 bestand darin, die Möglichkeit des Bösen inmitten des Seins selbst zu entdecken, als etwas, das aus der Struktur an sich des in Grund und Existenz gespaltenen Wesens hervorgeht. Und doch hat Schelling selbst nicht davon abgesehen, das Böse als Unwesen zu bezeichnen: „Das Böse aber ist kein Wesen, sondern ein Unwesen, das nur im Gegensatz eine Realität hat, nicht an sich.“22. Es verhält sich nun so, dass ein Ansatz, der die Positivität des Bösen anerkennt, schlussendlich absolut kompatibel ist mit der These, die das Böse mit dem Nichts identifiziert. Aller Substantialisierung des Bösen zuwider läuft das darauf hinaus, das Böse als eine Möglichkeit zu sehen, die den innersten Regungen des Seins entspringt. Schelling konzeptualisiert somit die Macht des Bösen, wobei die Anerkennung dieser Macht zu jedem konsequenten Schöpfungsgedanken gehört. Eine ähnliche Radikalität lässt sich bei Augustinus beobachten, wie eine von Schelling ausgehende Lesart gezeigt hat. Unter der Bezeichnung „superbia“ hat Augustinus das Böse als Selbstbestimmtheit der Kreatur in ihrem eigenen Sein gedacht. Das Paradox besteht darin, dass Augustinus, während er einerseits die grundlegende Güte der Schöpfung proklamiert, doch dazu kommt, das Böse als untrennbare Dimension des Geschöpfes anzuerkennen. Da die Kreatur sich nur durch ihr Sein verwirklicht, beinhaltet das Nicht-Gott-Sein (das die Schöpfung ausmacht) immer identisch in sich selbst ein Für-sich-selbst-sein-Wollen, welches seinerseits Gefahr läuft, sich in ein Nicht-mit-Gott-Sein zu verwandeln. So muss das Böse, eben weil es nichts ist, als ein essentieller Wesenszug der geschaffenen Kreatur gedacht werden. Gerade indem das Böse nichts ist, kann es als dieses konstitutive Vermögen eines vernunftbegabten geschaffenen Wesens begriffen werden – ein Vermögen, das als „Freiheit“ bekannt ist.
21 22
Nach eigener Übersetzung. SCHELLING, Freiheitsschrift, 409.
Fichte über da
„Es ist eine abgeschmakte Verläumdung der menschlichen Natur, daß der Mensch als Sünder gebohren werde“. Fichte über das Böse1 CHRISTOPH ASMUTH Willst du den bösen Geist seh’n so schau Dich um in Schönbrunn recht gut; Sein Rock ist heut grün und morgen blau Und corsicanisch sein Hut. Der böse, bösere, böseste Geist, Von dem jetzt die Wiener besessen, Und der jetzt Alles französisch verspeist, Was man deutsch sonst in Wien gegessen! Der böse Geist von Wien laßt sich nicht Durch Belzebub vertreiben: Dagegen muß man in großem Gewicht Kanonenpulver verschreiben. Verschreibt es unser Hofkriegsrath nicht bald, Wird’s Carl, der Held, ordinieren,2 Um, weil es schon Noth thut, mit aller Gewalt Den bösen Geist zu purgieren. Was hast Du heut’ in der Schul gelernt? Sag an, mein lieber Sohn! – Herr Vater, der böse Geist wird entfernt, Und der heißt – Napoleon.3
Das Böse hat bewegte Zeiten hinter sich. Während der Französischen Revolution und vollends als Napoleon die europäischen Geschicke von Grund auf umwälzte, Titelzitat: JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Reden an die deutsche Nation, GA I, 10, 234. „Carl, der Held“, bezieht sich auf Erzherzog Carl Ludwig Johann Joseph Laurentius von Österreich, Herzog von Teschen, (* 5. September 1771 in Florenz; † 30. April 1847 in Wien) aus dem Haus Habsburg-Lothringen, war ein österreichischer Feldherr. Er fügte Napoleon in der Schlacht bei Aspern am 21./22. Mai 1809 die erste Niederlage auf dem Schlachtfeld zu. 3 KARL JOHANN BRAUN VON BRAUNTHAL, Napoleon in Wien. Historischer Roman, Bd. 2, Wien 1860, 97. 1 2
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bildete das Böse nicht nur den wesentlichen Bestandteil eines metaphysischen oder ethischen Theorierahmens, sondern erhielt auch eine politische Funktion. Das charakterisiert eine heute wieder aktuelle Vermischung politischer und theologischer Vorstellungen und Debatten. Das Ethische lässt sich vom Politischen nicht absondern – und beides nicht von religiösen Überzeugungen. Und irgendwie emergiert aus dieser Gemengelage ein anthropologischer Grundlagenstreit darüber, ob der Mensch nun gut und vernünftig oder böse und irrational sei.
1. Augustin und das Böse oder: der böse Augustin. Johann Baptist Schads Kritik des Christentums In der Napoleonischen Zeit begann sich die praktische Philosophie dem Zugriff der christlichen Religion vollständig zu entwinden. Und diese Emanzipation war weder leicht noch schmerzfrei. Johann Baptist Schad, ein aus der Benediktinerabtei Banz4 entflohener Mönch und späterer Schüler Fichtes und Schellings, entwickelte sich noch in seiner Klosterzeit zu einem erbitterten Gegner der monastischen Lebensweise.5 Ja, man kann mit Recht zu der Auffassung gelangen, dass sich Schad zu einem grundlegenden philosophischen Kritiker des Christentums wandelte – und das knapp hundert Jahre vor Nietzsche. Schad war scharfzüngig, gebildet und trinkfest. So markiert er im klaren Wissen um die Theologie- und Philosophiegeschichte den Kirchenlehrer Augustin als Quelle jener repressiven Lehre des Christentums, die noch bis in Schads Zeiten und darüber hinaus wirksam war: Dieses Kirchenlicht, dessen Glanz die stiere Rechtgläubigkeit nicht genug bewundern konnte, und das man für die ewig heitere Sonne der Kirche selbst ansah, verbreitete über die ganze christliche Kirche eine bis jetzt andauernde ägyptische Finsterniß, die selbst in die Reformation mit einbrach, stürzte die blinden Führer sammt dem blinden Volke in Zum Hintergrund vgl. VLADIMIR ALEKSEEVIC ABASCHNIK, Katholische Aufklärung im Benediktinerkloster Banz. „Harmonie und schwesterliche Eintracht zwischen Bibel und Vernunft“, in: Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika, hg. von Jürgen Overhoff/Andreas Oberdorf, Göttingen 2019, 219–236. 5 Vgl. zu Johann Baptist Schad VLADIMIR ALEKSEEVIC ABASCHNIK, Kant und der Deutsche Idealismus in der Ukraine im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Schwerpunkt: Johann Baptist Schad (1758–1834), Phil. Diss. Univ. Jena 2002; ders., Johann Baptist Schad (1758–1834), Professor der Philosophie an den Universitäten Jena und Charkov, in: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, hg. von Erich Donnert, Köln u. a. 2002, 349–380; ders., Lebensgeschichte des vormaligen Banzer Konventualen Roman Schad, in: Bamberg wird bayerisch. Die Säkularisation des Hochstifts Bamberg 1802/03, hg. von Renate BaumgärtelFleischmann, Bamberg 2003, 94–98, ders., Johann Baptist Schad, in: Naturphilosophie nach Schelling, hg. von Thomas Bach/Olaf Breidbach (Schellingiana 17), Stuttgart-Bad Cannstatt 2005, 563–593. 4
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die tiefsten Abgründe gottloser und unmenschlicher Irrthümer, und verleitete zu allen den Satansauftritten, welche das Christenthum zum Fluche der Welt machten.6
Schad geißelt nicht nur die Katholische Kirche für ihre Verehrung des Heiligen Augustin, sondern ebenso die protestantische Kirche und kritisiert die Anhängerschaft an Augustinus bei der „Partei, die sich den Titel reformiert ausschließlich beilegte“. Mit dieser Aussage nimmt er vorweg, was später Nietzsche über Augustinus sagen sollte. So schreibt Nietzsche in einem Brief an seinen Freund Overbeck: Ich las jetzt, zur Erholung, die Confessionen des h[eiligen] Augustin […] Oh dieser alte Rhetor! Wie falsch und augenverdreherisch! Wie habe ich gelacht! […] Philosophischer Werth gleich Null. Verpöbelter Platonismus […]. Übrigens sieht man, bei diesem Buche, dem Christenthum in den Bauch.7
Schad jedenfalls entwirft das psychologische Bild eines Manichäers, der, zum Christentum bekehrt, größter Grausamkeiten fähig war. Er habe sich, obwohl Rhetor, nicht weiter um die Sprache gekümmert, habe es abgelehnt Griechisch zu lernen und sei ohne nennenswerte Bildung geblieben: Entblößt von Philosophie, von Sprachkunde, von Geschichte, von Kritik, von Kenntniß der menschlichen Natur, deren Nachtseite er nur, die Würde derselben gänzlich verleugnend, ins Auge faßte, hat er in der Unwissenheit und Barbarei seinen Glanz erschlichen durch schneidende Gegensätze, die seine Sophistik ausgrübelte, an deren dornigen Spitzen er hängen blieb, und wobei er sich immer für den schlimmsten entschied, durch blendenden, gehaltlosen Witz, durch eine hin und her schwankende und lahme Dialektik, durch vernunftlosen und in sofern unverständigen Verstand, durch stolze und herrschsüchtige Demuth, durch blinde Weisheit, durch rhetorisches Wetterleuchten.8
Der ‚Augustin‘ Schads verwandelt sich unter der Hand in den Antichristen: „ein wüster und herzloser Geist“.9 Mit seiner ‚Pestlehre‘ habe Augustin das Christentum infiziert, wie es kein Manichäismus und kein ausschweifendes 6 JOHANN BAPTIST SCHAD, Johann Baptist Schad’s, Russisch-Kaiserlichen Collegienrathes und Professors der Philosophie in Jena, ehemals Benedictiners zu Kloster Banz, Lebensgeschichte, von ihm selbst beschrieben. Dritter Band. Neue, durchaus umgearbeitete, mit Reflexionen über die, in unsern Tagen besonders interessanten, Gegenstände begleitete Auflage, Altenburg 1828, 250 f. – ‚Ägyptische Finsterniß‘ bezieht sich auf Ex 10, 21–23, an der es um die zehn über Ägypten verhängten Plagen geht: „Da sprach der HERR zu Mose: Streck deine Hand zum Himmel aus; dann wird eine Finsternis über das Land Ägypten kommen und es wird stockdunkel werden. Mose streckte seine Hand zum Himmel aus und schon breitete sich tiefe Finsternis über das ganze Land Ägypten aus, drei Tage lang. Man konnte einander nicht sehen und sich nicht von der Stelle rühren, drei Tage lang. Wo aber die Israeliten wohnten, blieb es hell.“ Gemeint in Ex. 10, 21–23 ist offenbar ein Sandsturm. 7 Nietzsche an Overbeck, 31. 3. 1885, in: FRIEDRICH NIETZSCHE, Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1975–2004, III, 3, 33–35, Nr. 589. 8 SCHAD, Lebensgeschichte, Bd. 3, 252 f. 9 Ebd., 251.
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Leben je vermocht hätte. Damit berührt Schad eine für Augustin bedeutsame Wandlung, die Augustin selbst als ‚Bekehrung‘ auffasste. Der Manichäismus, dem Augustin vor seiner Bekehrung anhing, berief sich auf einen im 3. nachchristlichen Jahrhundert auftretenden Religionsgründer Mani und vertrat eine Zwei-Prinzipien-Lehre. Das eine Prinzip war lichtvoll und gut, während das andere in Finsternis bestand und böse war. Eine in drei Epochen sich vollziehende Heilsgeschichte sieht am Anfang die absolute Trennung der Prinzipien vor; dann folgt eine Epoche, in der beide Prinzipien miteinander vermischt sind, die Epoche der Gegenwart, in der es darum geht, an der Entmischung der Prinzipien teilzuhaben; in der kommenden Epoche werden dann beide Prinzipien wieder und für immer getrennt sein, eine Epoche des immerwährenden Heils. Die Entmischung geschieht durch die Befreiung des in der Finsternis eingeschlossenen Lichts. Dieser Prozess sollte ganz irdisch vor sich gehen, indem auserwählte Lehrer und Priester, die sich auf Geschlechtsverkehr verzichteten und weder Pflanzen noch Tieren Schaden zufügten, die ihnen gebrachte Nahrung verzehrten und durch ihre Verdauung sowie durch Beten und Singen die Lichtbefreiung vollzogen. Die Finsternis, die Dunkelheit des Bösen, hat im Manichäismus, absolute Realität, die allerdings heilsgeschichtlich abgemildert ist. In der Zukunft wird die Macht des Bösen für immer gebrochen sein.10 Die Behauptung Schads läuft darauf hinaus, Augustin habe die Realität des Bösen, wie sie im Manichäismus vorgestellt wurde, dem Christentum eingeimpft. Augustin, so Schad, „amalgamierte das böse Princip mit dem göttlichen Wesen“,11 entgegen der Lehre Jesu: Neben einem gütig grausamen und grausam gütigen Gott stellte Augustin noch einen ewig bösen und unseligen Satan im Gefolge von unzähligen andern bösen Geistern auf, der, obschon nach Gott der vollkommenste Geist, dennoch sogleich nach dem ersten Augenblicke, als er sich seiner Herrlichkeit bewußt wurde, von Gott abfiel, und dann mit Schlangenwindungen im Staube kriechend, das erste Menschenpaar verführte, wodurch es ihm gelang, die Herrschaft über die ganze Erde und über das Menschengeschlecht, als eine massa damnata, an sich zu reißen, und damit das Höllenreich bis an das Ende der Welt zu bevölkern, ausgenommen einen äußerst kleinen Teil, den die launenhafte Gnade Gottes aus dem Ocean des Verderbens herausfischt und zur ewigen Seligkeit bestimmt, um auf der einen Seite seine beschränkte Barmherzigkeit und auf der anderen seine unendliche Rache zu zeigen.12
Schad spielt auf die Gnaden- und Prädestinationslehre Augustins an, die in der Tat eine sowohl merkwürdige wie auch weitreichende geschichtliche Konstruktion ausbildete. Hierin ganz der Philosophie des Neuplatonismus folgend 10 Vgl. JOHN KEVIN COYLE, Manichaeism and Its Legacy, Leiden 2009; JOHANNES VAN OORT, Augustin und der Manichäismus, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 46 (1994), 126–142; Augustin und der Manichäismus, hg. von Volker Henning Drecoll/Mirjam Kudella, Tübingen 2011. 11 SCHAD, Lebensgeschichte, Bd. 3, 254. 12 Ebd.
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bestimmte Augustin Gott als den einen, unwandelbaren. Von ihm her denkt er die Welt und die Menschen. Der Lauf der Welt und die Handlungen des Menschen sind daher durch Gott vorherbestimmt, prädestiniert. Dieser Lehre liegt in einem grundsätzlichen Konflikt mit der menschlichen Freiheit. Ist alles, was der Mensch auf Erden tut, bereits vorherbestimmt, dann kann es Freiheit nur in einem uneigentlichen Sinne geben. Der Mensch kann sich für frei halten, die Welt kann kontingent, alles innerweltliche Dasein mag zufällig erscheinen – aus einer göttlichen Perspektive stellt sich das umgekehrt dar: der Mensch ist von Anfang an durch Gottes Willen bestimmt auf bestimmte Art zu leben und zu wollen. Dieser Konflikt ist kulturgeschichtlich überaus bedeutsam. In den Jahren 1524/25, das sei hier nur kurz erinnert, stritten Erasmus von Rotterdam und Martin Luther über den freien Willen. Sie bezogen sich dabei auf die Prädestinations- und Gnadenlehre Augustins.13 Das bestätigt zugleich Schads These vom Einfluss Augustins auf die Reformation und die Entwicklung der protestantischen Theologie. Augustin bezieht sich jedenfalls auf Paulus, der sich im Römerbrief wiederum auf die Prophetenworte beruft, in denen Gott sagt: „Und ich habe Jakob geliebt; Esau aber habe ich gehasst.“14 Die Zwillinge aus Rebekkas Schoß werden grundsätzlich verschiedene Karrieren einschlagen. Beide werden eine große Nachkommenschaft haben, Jakob wird zum Vater des Volkes Israel werden, während Esau das benachteiligte Volk Edom zeugte. Augustinus wie Paulus deuten dieses Wort im Sinne einer unergründlichen Gnadenwahl Gottes. Es ist vorherbestimmt, wen Gott liebt, wem er seine Gnade zuteil werden lässt, und wen er verwirft. Diese theologische Grundsituation bestimmt nach Schad die Prädestinationsund Gnadenlehre Augustins. Schad weiß, dass es für Augustin nur wenige Auserwählte gibt; die große Mehrheit der Menschen ist zu ewiger Verdammnis vorbestimmt. Und das nicht, weil sie aus Freiheit gesündigt oder gegen den Willen Gottes verstoßen hätten, sondern weil Gott das so in seinem unergründlichen Ratschlag von Ewigkeit her beschlossen hat. Schad wehrt sich im Namen eines anderen Menschenbildes gegen diesen dunklen und erbarmungslosen Gott, den er in der Lehre Augustins vorgezeichnet findet. Hier ist nur immer die Rede von willkührlicher Gnade Gottes einerseits, von unbegreiflicher, aber gerechter Rache andererseits, von unerforschlichen Rathschlüssen und Gerichten, welche einmal Böses mit Bösem, dann Böses mit Gutem, und endlich auch Gutes mit Bösem vergelten.15 13 Vgl. MARJORIE O’ROURKE BOYLE, Rhetoric and Reform. Erasmus’ Civil Dispute with Luther, Cambridge/Mass 1983; PETER HEINRICH, Mensch und freier Wille bei Luther und Erasmus – Ein Brennpunkt reformatorischer Auseinandersetzung – unter besonderer Berücksichtigung der Anthropologie, Nordhausen 2003; KURT FLASCH, Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt/M 2008, 243–273. 14 Mal 1, 2–3. 15 SCHAD, Lebensgeschichte, Bd. 3, 257.
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Damit steht Schad nicht allein. In philosophischer Hinsicht verläuft hier eine Demarkationslinie. Die Freiheit des Menschen ernst genommen, bleibt von der Prädestinationslehre nicht viel übrig. Ist der Mensch frei, dann traut Gott dem Menschen zu, aus sich heraus Gutes zu tun und zu bewirken. Im umgekehrten Fall ist der Mensch nicht nur von Gott grundlos verworfen, sondern auch im Kern verdorben. Augustinus verbindet die Prädestination mit der Erbsündenlehre, nach der das Menschengeschlecht durch den Sündenfall Adams und Evas der Sünde anheim gefallen ist. Die Errettung der verworfenen Menschheit liegt in der unerforschlichen Vorherbestimmung Gottes, nicht in Verdienst und im sündenlosen Lebenswandel, ja nicht einmal in Aufopferung des Lebens für die Christenheit und im Namen Gottes. Johann Baptist Schad jedenfalls plädiert für den Sieg des Guten aus vernünftigen Gründen. Die Vernunft empört sich bey allen den Erscheinungen, wo entweder die mit Verstande ausgerüstete, oder die blinde Natur über den Tugendfreund sieget. Nach ihr soll es schlechthin nicht so seyn, so gewiß sie selbst ist. Das Gute soll absolut gelingen und das Böse mißlingen. Das ist das göttliche Machtgebot, das sie giebt, an dessen Realisierung sie nicht im geringsten zweifeln kann, ohne sich selbst aufzugeben.16
2. Religion, Revolution, Napoleon – das Böse bei Fichte Der Vernunftoptimismus Schads geht mit dem Bewusstsein einher, dass das Gute endlich über das Böse triumphieren wird, und beides speist sich aus der Gewissheit, dass die Entwicklung der Menschheit dem Fortschritt verpflichtet sei. Diese Grundüberzeugung teilt Schad mit Johann Gottlieb Fichte. Dessen prima philosophia, die er mit dem Neologismus einer Wissenschaftslehre belegte und erstmals 1794/95 in Jena vortrug, sollte – der Absicht ihres Erfinders nach – eine Demonstration dieser Auffassung sein. Die Wissenschaftslehre ist ein philosophisches Gegenprojekt zur klassischen Metaphysik. In der radikalen Fortführung der kritischen Philosophie Kants hebt die Wissenschaftslehre die Ontologie auf. Sie macht unbeschränkten Gebrauch von der transzendentalen Reduktion der Dinge an sich auf Erscheinungen. Sie ist keine bloß theoretische Erwägung über die Möglichkeit und die Grenzen der Erfahrung und des Wissens. Sie ist im Kern praktische Philosophie, Philosophie unter dem Primat des Sittengesetzes. Das hat Folgen für ihr Prinzip. Fichte setzt es in das Ich. Das mag man aus historischer Distanz waghalsig finden: Tatsächlich provozierte Fichte damit Widerstände, die bis heute nachwirken. Fichte hatte freilich gute Gründe für die Benennung seines Prinzips. Er schloss sich damit an Kant an, der den höchsten Punkt des Vernunftgebrauchs in der transzendentalen Apperzeption fand, jenem Ich denke, das alle meine 16
SCHAD, Gemeinfaßliche Darstellung, 435.
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Vorstellungen begleiten können müsse. Fichte begriff das Ich als Tathandlung, also als etwas Aktives, Prozesshaftes, Genetisches. Damit schlug er eine Brücke zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie. Er entwickelte aus dem Ich das Grundgerüst der Vorstellung. Er zeigte auf, wie sich die Kategorien aus seinem Prinzip heraus begründen ließen. Er entwickelte einen Weg, wie sich das Sittengesetz als ein Ausdruck für das grundsätzliche Ich begreifen ließ. Allerdings vergaß er ausreichend zu erwähnen, dass das Ich, auf dessen Demonstrationskraft er vertraute, nicht jedermanns alltägliches Ich sei, sondern etwas gänzlich Abstraktes. Der interessierte Zeitgenosse konnte in der ersten Wissenschaftslehre Fichtes lesen, eines jeden Ich selbst sei die einzige höchste Substanz.17 Damit meinte Fichte, sein Ich sei der legitime Erbe der Philosophie Spinozas, die dieser in seiner Ethica niedergelegt hatte, eine Schrift, die zunächst verboten, dann verpönt, schließlich von Friedrich Heinrich Jacobi unfreiwillig salonfähig und dann zum Mittelpunkt der philosophischen Debatten gemacht worden war. Fichte meinte, sein Ich könne den empfundenen Dualismus der Vermögen bei Kant lösen und den Riss zwischen der Sinnlichkeit auf der einen und Verstand und Vernunft auf der anderen Seite systematisch kitten.18 Fichte meinte aber auch, sein Ich sei ein Ausdruck der ethischen Autonomie des endlichen Vernunftwesens. Er meinte, sein Ich sei der Inbegriff des Bürgers, der nun als Volk Souveränität besitzen sein müsse. Das Ich als einzige höchste Substanz machte daher dem König Konkurrenz. Aber auch Gott, wenn man unter Gott den über oder vor der Welt existierenden Schöpfer und Weltenregierer verstehen will. Hier besagt Fichtes Ich, dieses Ich sei selbst Gott, zwar nicht das jemeinige menschliche Ich, aber doch das Ich, das Sittengesetz ist. Fichtes Wissenschaftslehre ist damit revolutionär; es ist Ausdruck der bürgerlichen Revolution, die den König entmachten und durch eine Verfassung für geregelte bürgerliche Verhältnisse am besten in einer Republik eintritt. Es ist Ausdruck einer religiösen Revolution, die nicht mehr einen jenseits des Menschen und seiner Welt von Ewigkeit her seienden Schöpfergott anbetet, sondern der sich zu einem inneren Gott verhält, der in der Sittlichkeit und Moralität, letztlich in der Vernunft zu finden sei. Das Gottesverhältnis wird in Sittlichkeit und die Sittlichkeit in ein Selbstverhältnis überführt.19 JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95), GA I, 2, 282. 18 Vgl. CHRISTOPH ASMUTH, Wissen im Aufbruch. Die Philosophie der deutschen Klassik am Beginn der Moderne, Würzburg 2018. 19 Fichtes Verbindung von Revolution und Religion hat eine gewisse Nähe zum Culte de l’Être suprême. Besonders deutlich wird diese Nähe in einem Fragment, das den Titel „Die Republik der Deutschen zu Anfange des zwei und zwanzigsten Jahrhunderts unter ihrem fünften Reichsvogte“ tragen sollte. Es handelt sich um einen utopischen Entwurf einer – in Fichtes Augen – gelungenen Zukunft für Deutschland. Neben der vollendeten Republik sieht Fichte auch ein Aufleben der Olympischen Spiele vor, einen ständisch organisierten Staat 17
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Das substantiell Böse hat in einer solchen Philosophie keinen Platz. In der Welt soll die Vernunft herrschen. Das ist ein unbedingter Imperativ. Es gibt Unvernunft, einen Mangel an Vernunft, Abwesenheit der Vernunft. Das endliche Vernunftwesen, das seine eigene Vernünftigkeit verachtet und fortwirft, ist böse – aber nicht das Böse. Gegen die Substantialität des Bösen spricht für Fichte schon der Grund aller Sittlichkeit. Das Ich seiner Wissenschaftslehre ist absolut. Es setzt sich selbst und auch all das, was anders ist als das Ich, das Nicht-Ich ist, wird durch das Ich gesetzt. Fichte behauptet nicht nur die Autonomie, sei sie sittlicher oder politischer Art, sondern begründet sie in der Immanenz des absoluten Ich, die Fichte auch als Subjekt-Objekt kennzeichnet. Dieses Ich ist weder ein Ding noch eine Person. Es ist ein transzendentalphilosophisches Konstrukt, das einzig dem Zweck dient, die Befugnis zur Anwendung von normativen und kategorialen Begriffen zu begründen. Das Ich und mit ihm die Wissenschaftslehre setzt wirkliches Handeln und Wissen voraus und fragt nach dem Grund der Gewissheit dieses Handelns und Wissens. Fichte entwickelt dazu eine rekonstruktive Deduktion des handelnden endlichen Ich. Zu jenen Bedingungen, unter denen handelnde Freiheit überhaupt möglich ist, gehören Individualität, Natürlichkeit und Leiblichkeit. Fichte denkt, anders als die meisten Philosophen heute, dass wir nicht mit diesen Eigenschaften in der Natur vorkommen, sondern dass sie Bedingungen der Möglichkeit wirklicher Freiheit sind. Individualität, Natürlichkeit und Leiblichkeit werden nicht in ontologischer, sondern in ihrer praktischen Dimension und Funktion begründet. Anders als häufig angenommen wird, misst Fichte gerade der Leiblichkeit eine große praktische Bedeutung zu. Das Sittengesetz ist kein bloß formaler Imperativ; das endliche Ich besitzt nicht zufälligerweise einen Leib und ist ein organisiertes Lebewesen mit Gliedern. Nach Fichte handelt es sich um einen notwendigen, argumentativen Zusammenhang: Damit Freiheit Realität besitzt, muss der Mensch in der Realität auf Materie wirken können, wozu ein artikulierter organischer Leib notwendig ist.20 Der argumentative Clou besteht für Fichte darin, dass eines jeden Ich zugleich absolutes Ich ist, die praktische Aufgabe damit darin, als empirisches Ich, das absolute Ich in sich zu verwirklichen.
sowie die Aufteilung der Polen zwischen Deutschen und Russen, die Wahl der Assimilation oder Auswanderung für Juden, die Einführung von Lehrerinnen und einer neue Religion, die er die Christianer nennt. Diese Mischung von teils repressiven, teils progressiven Momenten ist von einer autoritären Position her konzipiert, die direktiv von der Staatsspitze nach unten regiert. – Vgl. zur Verbindung von Revolution und Religion CHRISTOPH ASMUTH, Religion, Revolution und transzendentale Reflexion. J. G. Fichtes Berliner Religionsphilosophie, in: Fichte in Berlin. Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis, hg. von Ursula Baumann, Hannover-Laatzen 2006, 73–91. 20 Vgl. ANTJE STACHE, Der Körper als Mitte. Zur Dynamisierung des Körperbegriffs unter praktischem Anspruch, Würzburg 2010; BENEDETTA BISOL, Körper, Freiheit und Wille. Die Transzendentalphilosophische Leiblehre J. G. Fichtes, Würzburg 2011.
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Das Ich ist insofern Wir, Fichtes Übersetzung der Revolutionsparole: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ins Philosophische. Was auch immer unter dem Bösen genau verstanden werden muss, für Fichte ist es etwas im Ich. Damit ist jeder substantiellen Betrachtung des Bösen der Boden entzogen. Da das Ich aber eine Immanenz ausdrückt, eine außenlose innere Abstraktion alles Wissens und Handelns, kann Fichte nicht klar – wie Kant – zwischen dem Bösen und dem Übel unterscheiden. Für Kant bedeutet nämlich bekanntlich das Übel eine Beziehung auf die Sinnlichkeit und dadurch auf das Gefühl der Lust und Unlust, während das Böse sich auf den Willen bezieht, „so fern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objecte zu machen“.21 Das Böse bezieht sich bei Kant auf Handlungen, das Übel auf Empfindungszustände.22 Weil Fichte aber das Ich und durch das Ich alles im Ich bestimmt sein lässt, ist auch Alles, das heißt auch das Übel, in letzter Instanz ein Handeln des Ich. Der Grund für diese Konfundierung zweier getrennt vorliegender Begriffe liegt für Fichte letztlich in der Absicht, die Trennung von Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft niederzureißen. Das Böse kann daher nur im Ich und durch das Ich sein. Dementsprechend beantwortet Fichte die Frage nach der ‚Ursache des Bösen im endlichen vernünftigen Wesen‘ im System der Sittenlehre:23 Eine böse Maxime, so Fichte, sei nur aus der Freiheit zu erklären. Damit fällt die Idee einer Schuld, die ihren Grund außerhalb des Menschen hätte, fort. Aber die böse Maxime sei nicht das Prinzip, nicht grundsätzliches Ich, nicht Sittengesetz, sondern setze die Freiheit des empirischen Subjekts voraus.24 Die böse Maxime stamme folglich aus dem Naturtrieb, der ausschließlich auf Genuss gerichtet sei. Die Triebfeder sei die Lust. In aller Kürze: „die Maxime der eignen Glückseligkeit.“25 Diese Antwort ist der Sache nach weder neu noch aufregend: Die Kandidaten für den Grund des Bösen sind Genuss, Lust und Egoismus. Das hörte man Land auf, Land ab seit mehr als zweitausend Jahren. Die philosophisch-theologischen Folgerungen werfen später ein anders Licht auf das Böse, etwa in der Anweisung zum seeligen Leben, einer religionsphilosophischen Schrift aus dem Jahr 1806.26 In der Terminologie von Sein und Vgl. IMMANUEL KANT, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5, 60. Vgl. zum Verhältnis Kants zum Bösen neuerdings AUGUSTIN DUMONT, Fichte et le lal radical kantien. Une Auseinandersetzung inachevée, in: Archives de philosophie 82 (2019), 313–334. 23 Zur Sittenlehre vgl. CHRISTOPH ASMUTH, Der Staat und die Sittlichkeit. Fichtes Verhältnisbestimmung von Recht und Moral, in: Der Staat als Mittel zum Zweck. Fichte über Freiheit, Recht und Gesetz, hg. von Günter Zöller, Mannheim 2011, 91–109; DERS., Die Unfreiheit einer Stahlfeder. Fichtes Sittenlehre von 1798, in: Fichte-Studien 40 (2012) 199–223; GÜNTER ZÖLLER, Fichte’s Transcendental Philosophy: The Original Duplicity of Intelligence and Will, Cambridge 1998. 24 Vgl.: JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Das System der Sittenlehre, GA I, 5, 167. 25 Ebd. 26 Vgl. JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Sein, Bewußtsein und Liebe. Johann Gottlieb Fichtes „Anweisung zum seligen Leben“, hg. von Christoph Asmuth (excerpta classica), Mainz 2000. 21 22
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Dasein kehrt das Verhältnis von absolutem und empirischem Ich wieder. Fichte denkt das Sein als „ein in sich geschlossenes Singulum des Lebens und Seins, das nie aus sich heraus kann“.27 Das Dasein ist Bild, Repräsentant, Bewusstsein des Seins, religiös gesprochen: Offenbarung, Öffnung des Seins und damit der Geschlossenheit des Seins selbst entgegengesetzt.28 Dieses transzendentale Verhältnis wird von Fichte auf das Christentum übertragen. Um es mit Nachdruck zu formulieren: Fichte sieht seine Philosophie nicht an als aus dem Christentum stammend und in seiner Tradition stehend. Er sieht seine Philosophie nicht als eine Fortführung und Kontinuität der christlichen Philosophie. Sondern umgekehrt: Das Christentum dient ihm als ein zusätzlicher Beleg für Richtigkeit und Rechtmäßigkeit seiner Wissenschaftslehre. Rigoros schneidet Fichte aus den überlieferten Schriften heraus, was Beweiskraft besitzt, und das ist – dezidiert nicht Paulus, sondern Johannes, insbesondere der Prolog des Johannes-Evangeliums.29 Dort verankert er die Ablehnung der Augustinischen Prädestinationsund Erbsündenlehre. Im Stile eines Predigers30 heißt es in der Anweisung zum seeligen Leben: Jesus ist bei Johannes zwar ein Lamm Gottes, das der Welt Sünde wegträgt, keinesweges aber ein solches, das sie mit seinem Blute einem erzürnten Gotte abbüßt. Er trägt sie weg: Nach seiner Lehre existirt der Mensch, außer Gott und Ihm gar nicht, sondern er ist todt, und begraben; er tritt gar nicht ein in das geistige Reich Gottes; wie könnte doch der arme, nichtseyende, in diesem Reiche etwas verwirren, und die göttlichen Plane stören? Wer aber in Jesum, und dadurch in Gott, sich verwandelt, der lebet nun gar nicht mehr, sondern in ihm lebet Gott: aber wie könnte Gott gegen sich selbst sündigen. Den ganzen Wahn demnach von Sünde, und die Scheu vor einer Gottheit, die durch Menschen sich beleidigt finden könnte, hat er weggetragen und ausgetilgt.31
Sündenlosigkeit, Sündenfall, Entsündigung, Tilgung der Sünden, Sündenlosigkeit – das Verhältnis des Menschen zum Bösen markierten Stationen eines geschichtlichen Prozesses, der eine nicht-geschichtliche Seite hat. Die Geschichte als Historie ist für Fichte nur empirisches Geschehen. Hinter diesen Geschicken und Weltläuften liegt aber eine transzendentalphilosophische Konzeption, nicht der Wille eines Schöpfergottes, dessen Welt- und Heilsplan zu entschlüsseln Vgl. JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Wissenschaftslehre 1804/2, GA II, 8, 242 f. Vgl. JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Anweisung zum seeligen Leben, GA I, 9, 86 f. 29 Vgl. zur Anweisung zum seeligen Leben CHRISTOPH ASMUTH, Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte. 1800–1806 (Spekulation und Erfahrung, Reihe II, Band 41), Stuttgart-Bad Cannstatt 1999; HARTMUT TRAUB, Johann Gottlieb Fichtes Populärphilosophie 1804–1806, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992; vgl. zur theologischen Bildung Fichtes HARTMUT TRAUB, Der Denker und sein Glaube. Fichte und der Pietismus oder: Über die theologischen Grundlagen der Wissenschaftslehre. Mit einer Übersetzung von Fichtes ‚Theologia dogmatica secundum theses D. Pezoldi‘ von Christian Reindl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2020. 30 Vgl. zur Rhetorizität bei Fichte: PETER L. OESTERREICH, Das gelehrte Absolute. Metaphysik und Rhetorik bei Kant, Fichte und Schelling, Darmstadt 1997. 31 FICHTE, Anweisung, GA, I, 9, 126. 27 28
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wäre, sondern ein durch Perfektibilität orientierter Vektor der Geschichte. Am Anfang steht eine Epoche, in der die Vernunft instinktiv herrscht, ein Zeitalter der Unschuld; es folgt eine Epoche, in der die Vernunft sich autoritär durchsetzt, blinden Gehorsam einfordernder Dogmatismus, der „Stand der anhebenden Sünde“; dann folgt eine Epoche der Befreiung, der Loslösung. Nicht nur der autoritäre Dogmatismus, auch der Vernunftinstinkt, ja die Vernunft insgesamt wird ausgelöscht: „völlige Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit.“ Unschwer zu erkennen: dies ist der Zustand der Gegenwart. Verbesserung verspricht die Zukunft, und zwar durch die Vernunftwissenschaft, das heißt durch die Wissenschaftslehre. Die Wahrheit tritt wieder in ihr Recht ein und wird als das „Höchste anerkannt, und am höchsten geliebt“, der Stand der anhebenden Rechtfertigung. Vollendet wird die Geschichte in einem Zustand, in der die Menschheit selbst Ausdruck der Vernunft wird, die Vernunft kehrt zu sich zurück, das vielfältige Wir der empirischen Iche wird zum einen Ich der Vernunft, nach Fichte das ‚Zeitalter der Vernunftkunst‘, eine Epoche der ‚Heiligung‘.32 Fichte haderte mit seiner Gegenwart. Sein Verhältnis zu den politischen Vorgängen war ambivalent. Das spricht sich in der Etikettierung seiner Gegenwart aus: ‚Vollendete Sündhaftigkeit‘, Zeitalter der ‚unendlichen Leerheit und Plattheit‘ und der ‚formalen Wissenschaften‘. Es ist sicher nicht falsch, Fichte politische Depressionen zu attestieren. Sicher war Fichte kein kühler, beobachtender und analysierender Denker. Seine Parteinahme für die Französische Revolution, die er im blutigen Jahr 1793 veröffentlichte, zeigt, dass Fichte durchaus die radikalen Ziele der Revolution mitzutragen gewillt war. Zwar rechtfertigte er nicht jene zehntausenden Hinrichtungen, aber er trat für die umfassende Neuordnung der monarchischen Staaten ein, beginnend mit der Absetzung der Fürsten, der Abschaffung des Erbadels sowie der Säkularisierung kirchlichen Eigentums. Er stand damit sicherlich in den deutschen Ländern nicht allein da. Ebenso wenig wie in seinem Entsetzen, als Napoleon sich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts zum Alleinherrscher über Frankreich aufschwang und sich 1804 selbst zum Kaiser krönte. 1806, als nach der Schlacht von Jena und Auerstedt Preußen geschlagen war und Napoleon in Berlin einmarschierte, fühlte sich Fichte gezwungen, mit einigen wichtigen Beamten aus Berlin zu fliehen. Seine Abwesenheit dauerte rund zehn Monate. Nach der Schlacht bei Friedland kam es zu einem für Preußen äußerst nachteiligen Friedensschluss zwischen Frankreich, Russland und Preußen in Tilsit. Die Rückkehr nach Berlin 1807 führte im Winter zu den Reden an die deutsche Nation. Fichte hielt die Reden jeweils sonntags und ließ bereits in den darauffolgenden Wochen einzeln drucken, wohl um, einerseits, die Zensur vor allem durch die französische Besatzung 32 Alle Zitate: JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, GA II, 8, 201.
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auszuhebeln, andererseits aber auch weil er hoffte, die Situation Preußens durch seine Reden ändern zu können. Die Reden sind in kürzester Zeit entstanden und – wie kaum ein anderes Werk Fichtes – eine unmittelbare Reaktion auf die politische Situation. Seine Vorschläge waren weitreichend und nicht unbedingt militärischer Natur. Es ging ihm um eine grundlegende und radikale Nationalerziehung. In der Zeit danach erkrankte Fichte. Eine Änderung der politischen Situation verzögerte sich. Erst 1813 änderte sich die politische Großwetterlage mit den sog. Befreiungskriegen. Am 4. Februar verlassen die Franzosen Berlin, am 9. Februar ergeht in den Berliner Zeitungen ein Aufruf an die Studenten, sich dem Militärdienst anzuschließen. Auch hier zögert Fichte nicht. Er unterbricht – inzwischen war er 1811 erster gewählter Rektor der Berliner Universität geworden und 1812 gleich wegen studentischer Auseinandersetzungen wieder zurückgetreten33 – er bricht am 19. Februar als allseits bekannter und anerkannter Professor mit einer öffentlichen Rede zur politischen Situation seine Vorlesungen über die Wissenschaftslehre ab.34 Er ist sich sicher, dass dem Reiche des alten Erbfeindes der Menschheit, dem bösen überhaupt, welcher Feind in verschiedenen Zeitaltern in den verschiedensten Gestaltungen erscheint, durch nichts so sicherer und größerer Abbruch geschieht, als durch die Wissenschaft im Menschengeschlechte.35
Fichte ist wieder ganz der Alte. Die religiöse Rhetorik zeigt Fichte als Redner. Napoleon, nicht als Person, aber als Prinzip, ist eine Erscheinungsform des Bösen. Das Böse ist für Fichte keine substantielle Größe, sondern bezeichnet die sittliche Verdorbenheit. Diese ist nicht beschränkt auf die Moralität von Personen, sondern unmittelbar verknüpft mit der Politik, ja, mit der Geschichte insgesamt. Das Heilmittel gegen das Böse überhaupt ist die Wissenschaft. Der moderne Klang des Wortes Wissenschaft sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Fichte nicht von den Wissenschaften spricht, sondern von der Wissenschaft. Er meint nicht die Wissenschaften, insbesondere nicht die exakten oder historischen Wissenschaften, sondern die „Verwandlung des Wissens, der Vernunft, der Weißheit in das Leben.“36 Mit einem Wort: Er meint die Wissenschaftslehre, deren Vorlesung er gerade abbricht. Fichte spricht von einem geistigen Krieg gegen das Böse. Eine Bedingung für diesen Krieg sei die äußere Ruhe, geregelte äußere Verhältnisse. Fichtes Rechnung ist simpel: Im Prinzip ist er Pazifist, denn nur der Frieden garantiert jene Art der Bildung, die eine Verbesserung der Welt eintreten lässt und 33 Vgl. zum Brogi-Streitfall: ERICH FUCHS, Fichtes Stellung zum Judentum, in: FichteStudien 2 (1990), 160–177. 34 Vgl. ERICH FUCHS, Johann Gottlieb Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, 7 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1978–2012, I, 5, 380 f. 35 JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Rede beim Abbruch der Vorlesungen der Wissenschaftslehre [1813], GA II, 15, 178. 36 Ebd.
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sittlich-politischem Verfall entgegenwirken kann. Sollte aber die notwendige Ruhe für die geistige Entfaltung grundlegend gestört werden, etwa durch Verhinderung der akademischen Freiheit, soll und muss zu den Waffen gerufen werden. Fichte ist überzeugt, dass das Böse, d. h. Napoleon als Prinzip des geistigen Feindes, letztlich unterliegen wird. Denn das Böse kann niemals consequent seyn bis ans Ende, weil sein Gesichtskreis selbst nicht bis ans Ende, u. bis in die Wurzel hineingeht. Uebel es meinen mit GeistesBildung, u. scheel zu derselben sehen, wird es immer. Immer aber ist es viel zu kurzsichtig, das wahrhaft für sich gefährliche in derselben zu entdecken; dieses gerade verachtet es, u. sieht vornehm herab auf dasselbe.37
Nach Fichte ist die Freiheit aber gar nicht in dieser Weise bedroht. Fichte könnte seine Wissenschaftslehre auch weiter ungehindert fortsetzen. Warum dann aber zu den Waffen greifen? Die Rhetorik Fichtes entgrenzt das Böse. Er gipfelt den Kampf auf. Die Inhaber ungerechtfertigter Staatsgewalt setzt Fichte insgesamt, Napoleon ist nur ein Beispiel, in Kontrast gegen die Geistesbildung – und die Wissenschaftslehre ist dabei mehr als nur ein Beispiel. Politisch handelt es sich um den Kampf zwischen der Monarchie und dem aufbegehrenden Bürgertum. Fichte hatte zum Zeitpunkt seiner Rede längst aus Breslau, wohin sich der preußische König samt seiner wichtigen Beamten zurückgezogen hatte, gehört, dass es zum Krieg gegen Frankreich kommen sollte. Preußen hatte begonnen ein Volksheer auszuheben. Am 17. März 1813 erklärte Preußen schließlich Frankreich den Krieg. Der König wandte sich drei Tage später das erste Mal in der Geschichte Preußens direkt an die Bürger: An mein Volk. Die Schwägerin des Königs, Prinzessin Marianne von Preußen, gründete mit einem zeitgleichen Aufruf eine neuartige Initiative, die unter dem Titel Gold gab ich für Eisen 6,5 Millionen Taler für den Krieg einsammelte: Die Frauen sollten ihren Goldschmuck verkaufen, um das Geld für Waffenkäufe zu spenden. Das politische Kalkül Fichtes zielte darauf, auch Preußen durch den Krieg zu verändern. Er war eben so wenig Freund der preußischen wie irgendeiner anderen Monarchie. Auch auf Preußens Thron saß eine Erscheinungsform des Bösen, vielleicht nicht ganz so böse wie Napoleon, den er einmal den ‚Namenlosen‘, den Usurpator, genannt hatte.38 Jetzt spricht er nebulös von ‚wirklichen und lebendigen Weltkräften‘, deren Beherrschung und Lenkung der Zweck der Geistesbildung sei. Diese Kräfte seien von den Ungebildeten gekapert worden. „Solche Kräfte“, ruft Fichte seinen Studenten zu, müssen dem, der gar nicht weiß, und niemals davon etwas vernommen hat, daß es auch ein Gesicht gebe, erscheinen als rohe u. ungebundne Massen u Kräfte. Diesen glaubt nun Ebd., 179. 1806 verfasste Fichte ein kurzes Manuskript In Beziehung auf den Namenlosen, in dem er sich gegen Napoleon ausspricht. Der Sohn Fichtes hat dieses Manuskript den Reden an die deutsche Nation als Anhang beigegeben. Vgl. GA II, 10, 83–85. 37 38
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ein solcher […] durch seinen verkehrten Eigendünkel, durch seine aus thörichter Ansicht der Geschichte entstandene Sucht, auch einer ihrer Heroen zu werden, durch seine aus gereizter Eitelkeit entstandene Rachsucht, und wie die verkehrten Leidenschaften noch alle heissen mögen, […] Einheit und Richtung geben zu müssen: und entzieht dadurch diese Kraft allerdings der Bildung durch das Gesicht, welche letztere auf ihr Fortbestehen in dieser Bestimmbarkeit, und auf die ruhige Fortentwiklung der Zeit in ihrem gleichmäßigen Gange rechnet.39
Die Bildung durch das Gesicht! Gesicht ist Fichtes späte Formel für den Begriff der Idee.40 Die Weltkräfte sind das innere Getriebe der Gesellschaften, der politischen Welt. Fichte benutzt tatsächlich den relativ neuen Begriff der Gesellschaft! Er bezeichnet damit die bürgerliche Welt im Gegensatz zum Staat. Die Gesellschaft ist das Subjekt der Veränderung. Wollte „die Gesellschaft“, sagt Fichte, diese Unterjochung ihrer Kräfte für fremde Zwecke nicht mehr dulden, sondern diese Kräfte frei machen […] für selbst zu wählende Zwecke […]“, so „wird der Kampf begonnen im letzten Grunde für ihr Interesse. […] Denn die gebundenen u, gemisbrauchten Kräfte sollen befreit werden, und es kann gar nicht fehlen, daß nach der Befreiung auch der Geist […] auf die Bestimmung derselben einfließen werde.41
Fichtes Botschaft ist unmissverständlich: Der Kampf gegen das Böse ist politischer Natur. Der in der Wissenschaftslehre geschulte Geist erkennt die Idee im Ablauf der Weltgeschichte. Durch die Wissenschaftslehre wird der ‚Stand der vollendeten Sündhaftigkeit‘ beendet, das Zeitalter der Vernunftkunst dämmert herauf. Die Gesellschaft befreit sich aus den bevormundenden Strukturen der Fremdherrschaft, sei diese repräsentiert durch Napoleon oder Friedrich Wilhelm III. Der Wille des freien Bürgers bestimmt seine Geschicke autonom. Die neue Zeit kann das Böse bannen, indem sie sich für die freie Geistesbildung ausspricht. Fichtes Rede spiegelt die Stimmung einer sich erhebenden Gesellschaft; Volksheer und Opferbereitschaft der Bürger für ihre eigenen Zwecke sind für ihn ermutigende Zeichen. Fichte sollte zwar das Ende der Napoleonischen Herrschaft über Preußen noch erleben; die Abkehr von den Zielen der Französischen Revolution und die gesellschaftliche Stagnation in der Restauration blieb ihm jedoch durch seinen Tod 1814 erspart. Es war nicht zuletzt Fichtes Sohn, Immanuel Hermann, der die Entpolitisierung des Bösen heraufbeschwor und damit auch das Werk seines Vaters in ein neues Licht rücken wollte. Immanuel Hermann wurde in seinen späteren Jahren selbst ein wichtiger Repräsentant des Spätidealismus, einer heute fast vergessenen philosophischen Strömung. Immanuel Hermann verfasste eine FICHTE, Rede beim Abbruch der Vorlesungen, GA II, 15, 179 f. Vgl. CHRISTOPH ASMUTH, Eine implizite Platon-Rezeption bei Fichte: Die Theorie des Gesichts, in: Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie, hg. von Burkhard Mojsisch/Orrin F. Summerell, München/Leipzig 2003, 59–76. 41 FICHTE, Rede beim Abbruch der Vorlesungen, GA II, 15, 180 f. 39 40
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einflussreiche Schrift, welche Sätze zur Vorschule der Theologie geben sollten. Er arbeitet sich darin an der Moderne ab, deren Rationalismus und Szientifismus er als Zumutung empfindet. Es geht ihm weniger um die Säkularsierung theologischer Vorstellungen als vielmehr um die Retheologisierung säkularer Einsichten. Das Paradies ist ihm ein Zustand der Unschuld und des Einklangs von Vernunft und Natur und durch Unmittelbarkeit geprägt – darin unterscheidet er sich wenig von der Geschichtskonstruktion seines Vaters: der Mensch der Urzeit war unmittelbar sittlich und gläubig.42 Einige Passagen könnten fast aus der Anweisung zum seeligen Leben entnommen sein. Dann aber kommt Immanuel Hermann auf den Sündenfall zu sprechen: Was vom Anfange her im Verborgenen lag, was nur zurückgehalten, nicht besiegt war, mußte in jeder Entwicklung hervorbrechen: der Keim des Bösen, der schon vor aller Erscheinung allem Leben sich eingesenkt hatte, entwickelte sich in Natur, wie in Bewußtseyn. Das Ich, ursprünglich bloße Grundanlage, die Basis und umschließende Form für die göttliche Offenbarung konnte der Versuchung nicht entgehen, trennend sich in sich selbst zu isoliren, und die Form der Selbstheit zum Gefühl der Selbstigkeit zu steigern.43
Damit versucht Immanuel Hermann Fichte die alte Schwierigkeit der Theodizee zu beseitigen, die darin besteht, Gott nicht als Urheber und Schöpfer des Bösen ansehen zu können, gleichzeitig aber dennoch, den Menschen als Sünder begreifen zu müssen. Seine Lösung verrät einen gewissen Einfluss der Freiheitsschrift Schellings. Je tiefer die Sünde in den Menschen hineingelegt wird, um so weniger politisch kann der Mensch in Geschichte und Gesellschaft betrachtet werden. Stattdessen überwiegen mystische Gedanken der Heilung: Es geht darum, jene ursprüngliche Sünde zu tilgen, die gehemmte Einheit mit Gott herzustellen, und so die wahre und eigentliche Gestalt des Menschen (seine Idee aus Gott) im Einzelnen und Ganzen wiederzugewinnen, welcher Zustand als goldenes Alter, als Paradies […] jedem Volke vorschwebt.44
Eine entsprechende Bewegung kann man auch zeitgleich in der katholischen Theologie erkennen, die beginnt, sich wieder auf Augustinus (und nicht auf Thomas) zu berufen. Das lässt sich sehr schön bei Anton Günther und dessen Vorschule zur speculativen Theologie des positiven Christenthums beobachten,45 die sich auch vom Titel her an Immanuel Hermann Fichte anschließt.
42 Vgl. IMMANUEL HERMANN FICHTE, Sätze zur Vorschule der Theologie, Stuttgart/Tübingen 1826, 194. 43 Ebd., 196. 44 Ebd., 198. 45 ANTON GÜNTHER, Vorschule zur speculativen Theologie des positiven Christenthums, 2 Bde, Wien 1828/29.
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Um ein weiteres prominentes Beispiel zu nennen, könnte man an den Erweckungstheologen August Tholuck erinnern,46 der 1823 sein wohl bekanntestes Werk verfasste, Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder Die wahre Weihe des Zweiflers, einen Dialog zwischen Guido, einem Pantheisten, und Julius, der durch ein Erweckungserlebnis zur Wahrheit bekehrt wird. Im Zentrum steht die Lehre vom Bösen47 und die Frage der Erlösung. Guido wird der Vorwurf des Pelagianismus gemacht, ein Vorwurf, der sowohl Fichte als Hegel treffen könnte. Die existentielle Suche des Einzelnen nach erweckter Spiritualität steht dabei im Gegensatz zum politischen Wir des revolutionären Fichte. Die Annahme der sittlichen Verderbtheit der menschlichen Natur stellt sich der Philosophie Hegels entgegen, der von der dynamischen wechselseitigen Bewegung des endlichen in den absoluten Geist spricht. Es geht dieser Bewegung um die Abwehr der Philosophie Hegels, und das sowohl in ihrer spekulativen als auch in ihrer politischen Form. Es sind Versuche, das Böse wieder in den Bereich des Religiösen einzuhegen. Dort ist es nur noch theologisch oder moralisch gefährlich. Die politische Dimension des Bösen, welche die Moderne entdeckte, wird – zumindest vorübergehend – suspendiert. Die gesellschaftliche Seite des Bösen soll zum Schweigen gebracht werden. Dazu wird das Böse im Menschen versenkt und alle Auffassungen von der Sündlosigkeit des Menschen, seiner Göttlichkeit, seiner in ihm wirkenden absoluten oder zumindest absolut sein sollenden Vernunft werden als Pelagianismus gebrandmarkt. Das ist angesichts der politischen Lage nach 1813 selbst zutiefst politisch.
46 Vgl. CHRISTINE AXT-PISCALAR, Ohne die Höllenfarth der Sündenerkenntnis ist die Himmelfahrt der Gotteserkenntnis nicht möglich. Die Spiritualität Friedrich August Tholucks (1799–1877), in: Handbuch Evangelische Spiritualität, Bd. 1: Geschichte, Göttingen 2017, 588– 605; FRIEDRICH WILHELM KANTZENBACH, Die Erweckungsbewegung. Studien zur Geschichte ihrer Entstehung und ersten Ausbreitung in Deutschland. Neuendettelsau 1957. 47 AUGUST THOLUCK, Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder Die wahre Weihe des Zweiflers, Hamburg 1832, 45 ff.
„… das Böse ist nur außer dem Werden des höchsten Gutes“. Die Relativität des Bösen bei Schleiermacher ANDREAS ARNDT Schleiermachers Auffassung des Bösen irritiert, weil das Böse zwar benannt wird, aber kaum greifbar ist. Der Gegensatz von ‚gut‘ und ‚böse‘ – wie überhaupt alle Gegensätze – sei, so Schleiermacher, nur relativ. Das Böse erscheint als nichts anderes, als das nicht bzw. noch nicht gewordene Gute. Es bezeichnet, so möchte ich eine zentrale These Schleiermachers vorwegnehmen, ein notwendiges, aber im Prinzip schon immer überwundenes Element im Prozess der Realisierung des höchsten Gutes, das erst vor diesem Hintergrund sichtbar wird. Das Schleiermacher-Zitat im Titel meines Beitrags – es stammt aus dem Manuskript zur Ethik von 1814/161 – besagt dann, dass das Böse im Werden des höchsten Gutes verschwindet und nur dort erscheint, wo von diesem Werden abgesehen wird. Daraus folgt, dass es – anders als bei Kant, den er deswegen auch scharf kritisiert – für Schleiermacher ausdrücklich kein radikal Böses gibt2 und auch, dass es – anders als in Schellings Freiheitsschrift (die Schleiermacher wohl nicht zur Kenntnis genommen hat3) – keine Wahl zwischen Gut und Böse als vorgegebenen Wertorientierungen und auch kein Theodizeeproblem gibt. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Philosophie, sondern auch für Schleiermachers theologische Auffassungen.
FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Werke, Bd. 2: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg. von Otto Braun, Leipzig 21927, 455 (im Folgenden zitiert als SL). 2 Vgl. ebd., 233; vgl. auch FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, Vorlesung über die Ethik, Halle 1805/06, Nachschrift Boeckh, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Schleiermacher 585/1, Bl. 78r: „Wenn man das Ursprüngliche als unsittlich und die Sittlichkeit als coercirend denkt, so daß Ienes als radicales Böse angesehen wird, wie von Kant, so entsteht daraus nie ein höchstes Gut.“ 3 Schleiermacher besaß den Band mit der Freiheitsschrift (F[RIEDRICH] W[ILHELM] J[OSEPH] SCHELLING, Philosophische Schriften, Bd. 1, Landshut 1809), jedoch sind bisher keine Äußerungen Schleiermachers dazu bekannt; vgl. KGA I, 15: Register zur I. Abteilung, erstellt von Lars Emersleben u. a., Anhang: Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, 810. (Katalog) und 457 (Register der von Schleiermacher benutzten Literatur). 1
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Ich möchte im Folgenden zunächst einen kurzen Überblick über Schleiermachers explizite Äußerungen zum Unterschied (denn von einem Gegensatz kann man eigentlich nicht sprechen) von Gut und Böse geben, wobei auch theologische Texte mit einbezogen werden (1); in einem zweiten Schritt werden diese Einlassungen dann vor allem im Blick auf die philosophische Ethik in den systematischen Kontext eingestellt (2).
1. Die Unterscheidung von Gut und Böse Theoretische Reflexionen zum Thema Gut und Böse finden wir bei Schleiermacher erst relativ spät. Zwar stehen bereits seit seiner Studentenzeit Probleme der Ethik im Zentrum seiner Bemühungen, indessen finden wir hier lange Zeit keine Spuren, die darauf hindeuten würden, dass ihm dieser Gegensatz wichtig gewesen wäre und er sich damit überhaupt beschäftigt hätte. Auch später sind Gut und Böse keine Grundthemen in Schleiermachers Denken, sondern werden zumeist in polemischen Kontexten behandelt. Warum das so ist, lässt sich wohl vor allem aus den für Schleiermachers Denken maßgebenden Diskursen beantworten, vor allem den Fortschrittstheorien der Aufklärung. Der Gedanke der Perfektibilität hatte offenbar bereits für den Herrnhutischen Zögling eine große Anziehungskraft. Damit verbindet sich jedoch auch, wie seine Einlassungen zum Abschied aus der Brüdergemeine deutlich machen, ein theologisches Motiv: die Ablehnung der Sühnopfertheologie, die bei den Brüdern besonders ausgeprägt war und zu einem regelrechten, teilweise nekrophil besetzten Kult in Bezug auf die Wunden Christi führte.4 In einem Brief vom 21. Januar 1787 schrieb Schleiermacher, er könne „nicht glauben, daß der wahrer ewiger Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte“, und auch nicht, dass der Tod Jesu eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nöthig gewesen, denn Gott könne die Menschen, die Er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind.5
Vgl. [NIKOLAUS LUDWIG GRAF VON ZINZENDORF], Sammlung Geist- und lieblicher Lieder, eine grosse Anzahl der Kern-vollesten alten und erwecklichsten neue Gesänge enthaltende, Dritte sehr vermehrte und gebesserte Auflage, nebst einer Vorrede des Editoris, worinnen die Ordnung der Titel und zugleich eine ziemlich deutliche Einleitung in das gantze Geschäfft der Seeligkeit zu befinden, Herrnhut und Görlitz o. J. [1731], 202, Nr. 196: „DIe seele Christi heilge mich, / sein geist versetze mich in sich, / sein leichnam, der für mich verwund, / der mach mir leib und seel gesund. […] O JEsu Christ, erhöre mich! / Nimm und verbirg mich gantz in dich; / schließ mich in deine wunden ein, / daß ich fürm feind kann sicher seyn.“ 5 KGA V, 1, 50. 4
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Im Grunde nimmt dies schon eine Grundposition seiner späteren Ethik vorweg: die fortschreitende Realisierung des höchsten Gutes, die aber nie vollständig ist und insofern die Welt prinzipiell unvollkommen lässt, auch wenn diese Unvollkommenheit progressiv abnimmt. Erst in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) finden wir dann einen ersten, sachhaltigen Hinweis auf das Problem des Verhältnisses von Gut und Böse. Schleiermacher setzt sich hier mit der Auffassung auseinander, wonach „ein scharfer und schneidender Unterschied […] zwischen dem Sittlichen und Widersittlichen“ bestehen müsse, weil ansonsten „das Böse nur verwandelt werde in einen Irrthum, und das Gute in eine Einsicht, wodurch denn die Ethik von der Würde einer Wissenschaft herabsinken müßte zu dem niedrigen Range einer technischen Anleitung“ – gemeint ist: einer Anleitung, wie Irrtum zu vermeiden sei.6 Schleiermacher hält dem entgegen, dass der Irrtum „durch die bloße Belehrung nicht verschwindet, und als inwohnende Ursach desselben, doch eine Handlungsweise oder Denkungsart angenommen werden muß, an welcher dann das Sittliche einen ihm ähnlichen reellen Gegensaz erhält.“7 Deutlich ist, dass Schleiermacher das Sittliche vom Unsittlichen (bzw. Bösen) nicht dadurch unterscheiden will, dass er beides als vollkommen gegensätzliche Zielvorstellungen menschlichen Handelns ansieht, für oder gegen die man sich grundsätzlich entscheiden müsse, sondern dass es ihm darauf ankommt, eine Handlungs- oder Denkungsart durchzusetzen, die auf die Realisierung des Guten – des ‚höchsten Gutes‘ – gerichtet ist. In diesem Sinne bringt er wenig später Spinoza ins Spiel, was insofern von besonderer Bedeutung ist, als Platon und Spinoza für Schleiermacher 1803 die einzig möglichen Kandidaten für eine wissenschaftliche Behandlung der Ethik sind. Spinoza behaupte, „daß das Fliehen des Bösen, das Vernichten eines etwa schon voran gedachten und angestrebten unsittlichen gar kein eignes Geschäft sei, sondern nur mittelbar, und von selbst erfolge, indem das Gute gesucht wird.“8 Schleiermacher bezieht sich hier auf das Corrolarium zum Lehrsatz 63 des vierten Teils der Ethik, wo es heißt: „Auf Grund der Begierde, die aus der Vernunft entspringt, gehen wir unmittelbar dem Guten nach und fliehen wir das Schlechte mittelbar.“9 Die Positionierung, die Schleiermacher in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre 1803 vornimmt, bleibt für sein weiteres Denken maßgebend. In Schleiermachers Brouillon zur Hallenser Ethik-Vorlesung 1805/06 wird zunächst die spinozistische Ansicht wiederholt: „Das Böse ist an sich nichts und kommt nur zum Vorschein mit dem Guten zugleich, inwiefern dies [also KGA I, 4, 82. Ebd., 83. 8 Ebd., 88. 9 BENEDICT DE SPINOZA, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Übersetzung von Otto Baensch, Hamburg 1963, 244 f. 6 7
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das Gute, A.] als ein Werdendes gesezt wird.“10 Dieses Werden ist der (unendliche) Prozess der Realisierung des höchsten Gutes. In ihm konvergieren Allgemeines und Besonderes. Als „böse“, so präzisiert Schleiermacher, erscheint etwas nur außerhalb dieser Identität des Allgemeinen und Einzelnen. Als „böse“ in diesem Sinne erscheint also das, was als Handlung oder in der Betrachtungsweise des ethischen Prozesses so isoliert ist oder wird, dass der Bezug auf die im höchsten Gut gesetzte Identität des Allgemeinen und Besonderen nicht mehr den Bezugspunkt bildet. Tatsächlich ist Schleiermacher offenbar der Auffassung, dass die Qualifikation von etwas als im ethischen Sinne „böse“ eine Sache der Betrachtung oder, mit anderen Worten: dass „böse“ nur Schein sei. Man kann einen Einzelnen als „böse“ ansehen, wenn man nicht anerkennt, dass die Einheit des Allgemeinen und Besonderen in ihm selbst sei: „Sieht man ihn nun bloß als einzelnes Organ an und kann die Handlung wirklich auf einen andern Mittelpunkt reduciren [nämlich auf das Identischwerden, A.], so hört sie auch auf böse zu erscheinen.“11 Gleiches gelte auch von Vernunftoperationen, wenn man sie isoliert betrachte; als Beispiele führt Schleiermacher an: „Bloßer Trieb auf Gemeinschaft der Organe, der sich noch nicht organisiert zur Individualität, ist böse. Staat, der nicht in Gemeinschaft treten will, Kirche, die nicht andere anerkennen will, alles böse, aber“ – so fügt er hinzu – „aber alles das ist auch eigentlich nicht.“ Um es deutlich zu sagen: Schleiermacher redet hier, an dieser Stelle, nicht davon – was ja durchaus Sinn machen würde – dass etwas Besonderes sich faktisch gegenüber dem Allgemeinen, dem Prozess der Realisierung des höchsten Gutes – isoliert und quasi seinem Eigensinn folgt; Schleiermacher redet vielmehr davon, dass man etwas so betrachtet bzw. dass etwas so erscheint. Das so angesehene Böse ist eigentlich nicht. Warum Schleiermacher dieser Auffassung ist, wird im zweiten Teil noch näher zu betrachten sein. Vorweggreifend sei hier nur bemerkt: Der Schein des Bösen ist ein transzendentaler Schein. Er entsteht dadurch, dass, wie Schleiermacher sagt, alles außer der ethischen Einheit Gesetzte „nur Fragment oder Element“ ist.12 Da die Identität des Allgemeinen und Besonderen immer, in einem unendlichen Progress, nur im Werden und nie vollendet ist, kann sie auch nicht angeschaut werden. Was angeschaut werden kann, ist immer nur das Besondere als Fragment, Element oder Moment des ethischen Prozesses. Da die Identität transzendentale Voraussetzung bleibt und empirisch nie vollendet ist, drängt sich die Besonderheit auf und kann dann, wenn nicht in ihr das Werden der Identität mit gesehen wird, als böse erscheinen. An anderer Stelle führt Schleiermacher aus, dass, wenn man „einen Augenblick den Gegensaz zwischen gut und böse […] gelten lassen“ wolle, „böse“ das SL, 83. SL, 102; auch das Folgende. 12 Ebd. 10 11
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„Heraustreten aus der Identität“ des Allgemeinen und Besonderen sei.13 Als Beispiel führt er an, dass „das subjective Erkennen auf Lust und Unlust“ beschränkt werde, was dann „das Böse“ sei, nämlich „die sinnliche Denkungsart, Egoismus und in der Reflexion eingestandenen Eudämonismus.“ Tatsächlich aber, so muss man Schleiermacher verstehen, ist diese Denkungsart nie ausschließlich herrschend, da der Bezug auf die Identität in jedem Erkennen und Handeln mitgesetzt ist. Aus dieser Perspektive wiederum ist, so heißt es ausdrücklich, „die Abwesenheit des sittlichen Gefühls […] nur Schein“;14 da aber das „subjective Erkennen als Selbstthätigkeit, als Streben“ immer auf Überwindung der Isolierung des Besonderen durch Bezug auf das Ganze ziele, „vernichtet sich nun wieder der Gegensaz von gut und böse“.15 Anders gesagt: das Handeln geht immer über jede Isolierung hinaus und selbst ein überwiegend aus der Sinnlichkeit hervorgehendes Handeln ist nicht ohne den Bezug auf die Identität der Vernunft und damit das Sittliche, nämlich auf das höchste Gut, zu verstehen. Zusammenfassend heißt es dann, dass das Böse „nur da stattfand, wo man fälschlich, was im Handeln das Ganze war und in dem Einzelnen nur Natur, dieses als sittlich in ihm setzte“, d. h.: ihm aus der Außenperspektive eine Einseitigkeit zuschrieb, die tatsächlich – jedenfalls nach Schleiermachers Auffassung – nie dem betrachteten Sachverhalt selbst entsprechen kann. Die Qualifizierung von Personen oder Handlungen als „böse“ erklärt sich also für ihn immer aus dem transzendentalen Schein, den der sittliche Prozess erzeugt. Dem entsprechend lehnt Schleiermacher, ohne hier Kant beim Namen zu nennen, auch die Annahme eines radikal Bösen eindeutig ab:16 „Absolut böse ist nichts, wenn man es nur auf seinen rechten Mittelpunkt zurückführt, nur relativ böse“.17 Es ist relativ, weil es im (nie abgeschlossenen) Prozess des Ethisierens, wie Schleiermacher ihn auch nennt, nur eine Einseitigkeit darstellt, die fortschreitend überwunden wird. Die späteren Vorlesungen über die philosophische Ethik, die Schleiermacher in Berlin gehalten hat, behalten diese Position im Kern bei. Ausdrücklich etwa wird in dem Manuskript zur Vorlesung 1812/13 festgehalten, dass das Böse kein „Widerstreit eines einzelnen Willens gegen einen allgemeinen“ sein könne, da „alle Fortschritte sittlicher Ganzen von einem Widerstreit Einzelner ausgehen müssen.“18 Auch hier gilt: das Böse ist „nur als Durchgangspunkt“.19 Es ist Durchgangspunkt in dem Sinne, dass der ethische Gesamtprozess – die Beseelung der Natur durch die Vernunft – notwendig von einer überwiegenden Natürlichkeit ausgeht und zum höchsten Gut, der Durchdringung der Natur durch die Ebd., 177; auch das Folgende. Ebd., 178. 15 Ebd., 179. 16 Ebd., 233. 17 Ebd., 153 f. 18 Ebd., 274. 19 Ebd., 312. 13 14
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Vernunft, hinführt. Das Böse, so heißt es 1816, könne „nur ein negativer Ausdruck sein für das ursprüngliche Nichtvernunftsein der Natur“ und der Gegensatz von gut und böse decke sich mit den Ausgangs- und Endpunkten des ethischen Prozesses überhaupt.20 Im Blick auf diesen Prozess verschwindet der Gegensatz von Gut und Böse, wenn auch nur näherungsweise, in einem unendlichen Progress. In einem begrenzten ethischen Gebiet, das außerhalb dieses Gesamtprozesses und damit abstrahiert von der werdenden Identität betrachtet wird, lässt sich dagegen der Gegensatz so festhalten, dass das (noch) Aussereinandersein von Natur und Vernunft als böse, das (bereits) Ineinandersein als gut angesehen wird. Aber auch dies ist nur ein Schein, der im Werden des höchsten Gutes fortschreitend überwunden wird. In seinen Vorlesungen über die Dialektik 1811 – in den späteren dann nicht mehr – hat Schleiermacher Irrtum und Sünde parallel gesetzt,21 wobei er auch hier die Auffassung vertritt, dass es „keinen absoluten Irrthum giebt, nur eine Verwechslung der Action mit dem Sein. – Irrthum als Sünde. Dieselbe Gradation für das Erkennen wie für das Handeln.“22 Dies bezieht sich darauf, dass – so Schleiermacher – der Übergang vom Irrtum zur Erkenntnis dem „von der Sünde zur Tugend“ entspreche.23 Die Rede von der Sünde statt von dem Bösen dürfte darin begründet sein, dass im Zusammenhang mit dem werdenden Wissen – denn darum geht es in der Dialektik – gar nicht von einem Gegenprinzip zum Wissen die Rede sein kann, sondern nur von einem Verfehlen des Wissens. Deutlich wird aber, dass Schleiermacher den ethischen Prozess auf die gleiche Weise erklären und damit ebenso den Gegensatz von Gut und Böse relativieren will.24 Dabei greifen die Berliner Ethik-Vorlesungen, die an der neugegründeten Universität gehalten werden, auf die Dialektik gerade dann zurück, wenn es darum geht, die Relativität von Entgegensetzungen überhaupt deutlich zu machen. In der ersten Vorlesung 1812/13 stellt Schleiermacher eine „Deduction der Ethik aus der Dialektik“ voran, in der alles Wissen auf ein absolutes Wissen als „Ausdruck gar keines Gegensazes, sondern des mit ihm selbst identischen absoluten Seins“ bezogen wird.25 Für die Ethik bedeutet dies, dass sie „durch die Form des Gegensazes überhaupt“ mit dem Absoluten vermittelt ist, indem die beiden Seiten eines Gegensatzes in der ethischen Realität notwendig aufeinander bezogen sind, also eine relative Identität bilden, die zugleich aber auch „das Absolute Ebd., 502. KGA II 10, 1, 18 („Irrthum vorzüglich im Subsumiren ist Sünde“) 22 Ebd., 27. 23 Ebd., 60. 24 Dass diese Parallele in späteren Vorlesungen nicht mehr gezogen wird, dürfte darin begründet sein, dass die erste Vorlesung ausdrücklich auf den Standpunkt seiner Ethik hinführen sollte; die späteren Vorlesungen behandelten dann nur noch Quellen des Irrtums, ohne den Irrtum weiter zu qualifizieren. Vgl. KGA II 10, 1, XVIIff. 25 SL, 247. 20 21
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repräsentirt“.26 Mit diesem aus der Dialektik erborgten methodischen Verfahren sichert Schleiermacher auch die Relativität des Gegensatzes von Gut und Böse. In seiner Glaubenslehre – ich beziehe mich hier auf die erste Auflage 1821/22 – finden wir auf Seiten der Theologie eine entsprechende Position, die ich daher hier nur kurz skizzieren möchte, zumal es mir in diesem Beitrag nur um eine philosophische Interpretation und Würdigung geht. Dass das Böse nicht selbständiges Prinzip, sondern nur relativer Gegensatz ist, macht Schleiermacher bereits im § 58 deutlich, wo er sich dagegen verwahrt, das Böse dem Einfluss Satans zuzuschreiben und dadurch der Selbstentlastung der Menschen Vorschub zu leisten.27 Auch hier gilt, wie dann im § 62 ausgeführt wird, dass die Übel – worunter Schleiermacher hier auch ausdrücklich das Böse rechnet – nicht etwas für sich bestehendes sind; das Übel ist nicht als „in sich abgeschlossen“ zu denken, da es doch in der That überall ist und vom Guten unzertrennlich. […] Dies gilt selbst vom Bösen, sofern es in der äußeren That erscheint, nicht nur weil es zufällig und im einzelnen oder als großer geschichtlicher Hebel wohlthätig wirken kann, sondern auch weil es immer nur am an sich guten ist.28
Auch in dieser Hinsicht bestätigt sich, was Schleiermacher gegenüber seinen Studenten in der Hallenser Ethik-Vorlesung 1805/06 sehr deutlich formuliert hat: „Es giebt eigentlich kein Böses. Es ist nur ein Negatives entweder in den Handelnden oder in der Betrachtung, wo man etwas einseitig ansieht.“29
2. Die Relativität des Bösen Ich komme nun zu der Frage, warum eigentlich das Böse in der angegebenen Weise relativiert wird. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Schleiermacher sich sehr früh, noch in seiner Barbyer Zeit – welche Quellen er auch immer benutzt haben mag –, an dem Fortschrittsdenken der Aufklärung orientiert. Dieses Fortschrittsdenken wird dann im weiteren Verlauf der theoretischen Entwicklung metaphysisch untermauert.30 Das Böse – wenn denn überhaupt ein Böses ist, was Schleiermacher bestreitet – müsste mit dem Fortschrittsdenken in Einklang gebracht werden. Das ist nicht, wie es den Anschein haben mag, von vornherein ein sinnloses Unterfangen. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, wie Fortschritt definiert wird. Je umfassender der Fortschritt gedacht wird, Ebd., 253. KGA I, 7, 1, 166. 28 Ebd., 182 f. 29 FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, Vorlesung über die Ethik 1805/06, Nachschrift Anonymus, Evangelisch-reformierte Gemeinde Lübeck, Bibliothek K III 26, 14. 30 Vgl. ANDREAS ARNDT, Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in seiner Zeit, Berlin 2019, v. a. 158 ff. 26 27
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desto schwieriger wird es, einer harten Negativität, die nicht als im Prinzip schon immer überwundene gesetzt ist, im geschichtlichen Prozess einen Platz zu geben. Ein kurzer Seitenblick auf Hegel mag dies im Kontrast zu Schleiermacher verdeutlichen. Hegel hat, entgegen vielfach verbreiteten Meinungen, einen engen Fortschrittsbegriff: Geschichtlicher Fortschritt ist nur und ausschließlich der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit.31 Weder redet er von einem Fortschritt in der Realisierung der Freiheit, noch von einem umfassenden moralischen Fortschritt oder dergleichen. Da das Bewusstsein der Freiheit auch aus Erfahrungen der Unterdrückung und des Leids erwachsen und zum Widerstand gegen diese Zustände motivieren kann, steht die Annahme dieses Fortschritts auch nicht im Widerspruch zu der nach Hegel empirisch zutreffenden Auffassung, dass dasjenige, was wir Weltgeschichte nennen, im Wesentlichen als eine Schlachtbank angesehen werden könne. Könnte Schleiermacher dies auch sagen? Ich glaube, nein. Schleiermachers Theorie der Geschichte – und dies ist seine Ethik – operiert mit einem umfassenden Fortschrittsbegriff. Fortschritt ist kulturell-zivilisatorischer Fortschritt auf allen Gebieten, nämlich fortschreitendes Identischwerden von Natur und Vernunft und damit das progressive Aufheben aller Irrationalität. Wenigstens in the long run, unter dem Gesichtspunkt der Realisierung des höchsten Gutes, nämlich der Identität von Natur und Vernunft, kann daher eine Härte der Negativität, wie sie das Böse darstellt, nicht gedacht werden, ohne die Idee des Fortschritts aufzuheben. Nun behauptet Schleiermacher jedoch, dass seine Theorie der Geschichte eine empirisch gerichtete und empirisch überprüfbare Theorie sei. Die Ethik als „Wissenschaft der Geschichte“ – wie Schleiermacher sie in seinem ersten überlieferten Gesamtentwurf zur Philosophischen Ethik, dem Hallenser Brouillon von 1805/06 definiert – ist „Beschreibung der Geseze des menschlichen Handelns“, wobei diese Gesetze „als Naturgeseze“ aufzufassen seien.32 Diese Gesetze müssen, so Schleiermacher, in der wissenschaftlichen Anschauung mit der Erscheinung zur Einheit gebracht oder sogar „dasselbe“, d. h. empirisch aufweisbar sein; die ursprüngliche Anschauung, die demnach als ein empirisches Faktum zu nehmen ist, ist die „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“.33 Hieraus ergibt sich dann die Bestimmung des höchsten Gutes, welches, wie Schleiermacher betont, „als Totalität“ zu nehmen ist, d. h. als das Ganze des ethischen Prozesses; es sei „nur die Affirmation dessen, was in der Idee [also der ursprünglichen Anschauung, A.] liegt. Also die vollständige Beseelung.“34 Das höchste Gut ist keine Setzung in praktischer Absicht, sondern immanentes Ziel der Geschichte, die eben darum Fortschrittsgeschichte ist. Vgl. ANDREAS ARNDT, Philosophy of World-History, in: The Palgrave Hegel Handbook, hg. von Marina F. Bykova/Kenneth R. Westphal, Cham 2020, 453–466. 32 SL, 80. 33 Ebd., 87. 34 Ebd. 31
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Die vollständige Beseelung der Natur durch die Vernunft ist aber nur in einer unendlichen Annäherung zu realisieren, weshalb die Gesetze des Handelns immer auch unter relativen Gegensätzen stehen. Relativer Gegensatz heißt: in jedem der beiden entgegengesetzten Elemente ist das andere bereits, wenn auch nur als ein Minimum, mit enthalten. Die relativen Gegensätze streben daher aufgrund ihrer logischen Struktur zu einem Ausgleich, einer Indifferenz, nicht zu einer Zuspitzung der Gegensatzbeziehung etwa zu einem Widerspruch.35 An die Stelle des Widerspruchs und damit der Härte der Negativität, welche die Möglichkeit der Katastrophe einschließt, tritt der Widerstreit relativ entgegengesetzter Faktoren, welche im Grunde schon immer miteinander versöhnt sind.36 Hierauf beruht die Garantie des Fortschritts, der ja inhaltlich Fortschreiten hin zu einer immer größeren Einigung von Vernunft und Natur ist. Katastrophen, Scheitern, das Zerreißen der sittlichen Welt durch sich zuspitzende Widersprüche: all dies kommt in Schleiermachers ethischen Entwürfen nicht zur Sprache. Der Fortschrittsgedanke wird letztlich logisch-metaphysisch und nicht im Rückgang auf den Geschichtsverlauf selbst begründet. Bevor ich abschließend auf diese Begründung näher eingehe, die in der Dialektik erfolgt und in der Ethik nur vorausgesetzt wird, ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Schleiermachers Thematisierung des Bösen als relativer Gegensatz zum Guten insoweit nachvollziehbar ist, als er es vermeidet, in ein duales, manichäisches Weltbild zu verfallen, in dem gut und böse vorgegebene Prinzipien sind. Die Rede von der Härte der Negativität bedeutet daher auch nicht, dass ein Negatives bzw. Böses unvermittelt von außen in den Gang der Geschichte einbricht, sondern sie bedeutet, dass Negativität nicht mehr in ein Positives gewendet und aufgehoben werden kann. Gleichwohl muss diese Negativität ihren Grund in der Immanenz des Prozesses selbst haben, wenn sie nicht als Gegenprinzip gedacht werden soll. Sie ist dann eine Verkehrung in sich, ein Widerspruch, sofern sie dem immanent ist, wogegen sie sich kehrt. Ich möchte diese Annahme hier nicht weiter auseinandersetzen oder gar begründen – das wäre ein ganz anderes Thema. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es schwierig ist, ohne die Annahme eines immanenten, „harten“ Widerspruchs – denn genau das ist die Härte der Negativität – beides zu vermeiden: den Dualismus und die Relativierung des Gegensatzes. Schleiermacher ist dieser Ausweg aus genau dem Grund versperrt, der auch seinen umfassenden Fortschrittsbegriff begründet. Dazu ist in Erinnerung zu rufen, dass sich die Ethik auf eine ursprüngliche Einheit zurückbezieht, die 35 Vgl. dazu ANDREAS ARNDT, Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs, Hamburg 1994, 121–144 („Romantische Dialektik“). 36 Vgl. dazu grundsätzlich ANDREAS ARNDT, Widerstreit und Widerspruch. Gegensatzbeziehungen in frühromantischen Diskursen, in: Romantik/Romanticism. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism 2008, Berlin/New York 2009, 80–100.
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„Ausdruck gar keines Gegensazes, sondern des mit ihm selbst identischen absoluten Seins“ sein soll.37 Es handelt sich mithin um das Konstrukt einer reinen, relationslosen Identität, die wir begrifflich nicht vollziehen können. Damit ist dem Prozess der Annäherung an das höchste Gut zugleich eine Identität als Ziel vorgegeben, die alle Gegensätze, die im Verlauf des Prozesses auftreten – auch den von gut und böse – von vornherein relativieren. Diese Struktur prägt den Prozess des werdenden Wissens in Schleiermachers Dialektik und soll in ihr begründet werden. Der transzendentale Grund alles Wissens und Handelns ist hier die philosophische Gottesidee; sie bezeichnet das Unbedingte, von dem alles Bedingte abhängt und seinen Ausgang nimmt. Sie ist der terminus a quo alles Wissens und Handelns und die Idee der Gewissheit im Wissen und des Gewissens im Handeln.38 Wir „haben“ sie im Gefühl als der „relativen Identität des Denkens und Wollens“.39 Diese Idee lässt sich aber nicht als ein Wissen vollziehen, weil der Begriff Gottes an sich leer bleibt, da ihm keine organische Affektion entspricht, d. h. weil er – Kantisch gesprochen – kein möglicher Gegenstand von Erfahrung ist. Gleichwohl ist die Idee der Gottheit, Schleiermacher zufolge, „das charakteristische Element des menschlichen Bewußtseins überhaupt“, welches in jedem seiner Akte auf gleiche Weise – nämlich unmittelbar – präsent ist.40 Korrelat der Gottesidee als der Idee des Unbedingten ist die Idee der Welt als Idee der Totalität des Bedingten, in der alles „unter der Form des Gegensazes“ steht.41 Schon aufgrund der Endlichkeit unseres Erfahrungsbereichs aber liegt die „Idee (der problematische Gedanke) der Welt d. h. der Totalität des Seins als Vielheit gesezt, […] ebenfalls außerhalb unseres realen Wissens.“42 Daher ist die Idee der Welt auch „transcendental auf eigene Weise“;43 sie markiert die Grenze einer Totalität des Wissens, die nie erreicht wird, die aber dem Wissenwollen zugrunde liegt und vom werdenden Wissen angestrebt wird. Sie ist somit der „transcendentale terminus ad quem und das Princip der Wirklichkeit des Wissens in seinem Werden.“44 Die Idee Gottes ist Einheit ohne Gegensatz, die Idee der Welt Einheit der Gegensätze. Die Idee der Welt ist somit nicht Rückkehr in den Grund, sondern Realisierung der den Wissensprozeß begründenden SL, 247. Vgl. KGA II, 10, 1, 141 f. (§ 214) und 143 f. (§ 216). 39 Ebd., 142, § 215. 40 Ebd., 148, § 221. 41 Ebd., 49 (Aufzeichnungen zum Kolleg 1811, 28. Stunde). – Zu den Wandlungen in der Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt vgl. HEINZ KIMMERLE, Schleiermachers Dialektik als Grundlegung philosophisch-theologischer Systematik und als Ausgangspunkt offener Wechselseitigkeit, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. von Kurt-Victor Selge, Berlin/New York 1985, 39–59. 42 KGA II, 10, 1, 147, § 218. 43 Ebd., 148, § 221. 44 Ebd., 149, § 222. 37 38
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Identität unter den Bedingungen der Entgensetzung. Insofern ist auch sie die Projektion der ursprünglichen Identität in ein telos des Prozesses. Die Idee der Welt als Einheit der Gegensätze entspricht strukturell dem, was in der Ethik das höchste Gut genannt wird. Zu betonen ist, dass es sich hierbei, obwohl sich die Formulierung auf den ersten Blick so verstehen ließe, nicht um einen Widerspruch handelt. Gemeint ist nicht eine in sich widersprüchliche Einheit, sondern eine Indifferenz von Entgegensetzungen. Philosophie, so heißt es bereits in den vorbereitenden Notizen zur ersten Dialektik-Vorlesung 1811, ist „Zurükführung aller Verknüpfungen aus Gegensäzen zur Indifferenz.“45 Dies hat Folgen für die Auffassung des Gegensatzes überhaupt, denn deren Form muss ihre Überführung in Indifferenz ermöglichen. Deshalb gilt, wie es im technischen Teil der Dialektik 1811 heißt, „[f ]ür die Bildung des Gegensazes und Construction des Seins das demselben entspricht“ u. a. folgende Regel: „Kein Gegensaz darf so construirt sein daß er eine positive und eine negative Seite hat. Man ist dann aus dem Gebiet des Lebens heraus und keine relative Vereinigung ist möglich. Dies wird leere Abstraction“.46 Aus dieser Regel folgt nach Schleiermachers Auffassung weiter, dass es auch „keine absolut negativen Säze“ geben kann und auch keine negativen Urteile.47 Dahinter steht die Auffassung, dass im Negativen schon immer ein Positives mitgesetzt sein muss und umngekehrt, wodurch die Differenz, die den Gegensatz ausmacht, nur auf einem quantitativen Überwiegen des einen oder des anderen Faktors beruht. *** Schleiermachers durchgängige Relativierung des Bösen beruht auf seinen grundlegenden Annahmen über die Reflexionsbestimmungen Identität und Gegensatz. Sie lässt sich auf dem Boden seiner systematischen Prämissen gar nicht anders denken. Sie lässt sich aber meines Erachtens auch nicht affirmieren. Wenn die Ethik als Theorie der Geschichte nach einer von Schleiermacher gebrauchten Metapher das Formelbuch zum Bilderbuch der empirischen Geschichtskunde ist, dann können wir in dieser Ethik für die Bilder der Katastrophen des 20. und 21. Jahrhunderts, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben, keine Formeln mehr finden.
KGA II, 10, 1, 8. Ebd., 66. 47 Ebd., 23; KGA II, 10, 2, 173 (Anonymus, Nachschrift Kolleg 1818/19). 45 46
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–, Das System als Medium. Mediales Aufweisen und deduktives Ableiten bei Schelling, in: Christian Danz/Jürgen Stolzenberg (Hg.), System und Systemkritik um 1800, Hamburg 2011, 147–168. [ZINZENDORF, NIKOLAUS LUDWIG GRAF VON], Sammlung Geist- und lieblicher Lieder, eine grosse Anzahl der Kern-vollesten alten und erwecklichsten neue Gesänge enthaltende, Dritte sehr vermehrte und gebesserte Auflage, nebst einer Vorrede des Editoris, worinnen die Ordnung der Titel und zugleich eine ziemlich deutliche Einleitung in das gantze Geschäfft der Seeligkeit zu befinden, Herrnhut und Görlitz o. J. [1731]. ZÖLLER, GÜNTER, Fichte’s Transcendental Philosophy: The Original Duplicity of Intelligence and Will, Cambridge 1998. ZUPANČIČ, ALENKA, Das Reale einer Illusion. Kant und Lacan, Frankfurt/M 2001.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ARNDT, ANDREAS, Prof. (em.) Dr., zuletzt Lehrstuhl für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Letzte Buchveröffentlichungen: Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in seiner Zeit, Berlin 2019; Freiheit, Köln 2019. ASMUTH, CHRISTOPH, Prof. Dr. Dr. h.c., Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Letzte Buchveröffentlichungen: Wissen im Aufbruch. Die Philosophie der deutschen Klassik am Beginn der Moderne, Würzburg 2018; zus. mit P. Remmers et al.: Ethische und soziologische Aspekte der Mensch-Roboter-Interaktion, Dortmund 2019. BECKER, ANNE, promoviert an der Humboldt-Universität zum Begriff der Grenze in Hegels Wissenschaft der Logik. Sie hat Politikwissenschaft und Philosophie in Hannover und Berlin mit dem Schwerpunkt Klassische Deutsche Philosophie, Religions- und Moralphilosophie, sowie Politische Philosophie studiert. BENDER, THURID, Doktorandin (Philosophie) an der Humboldt-Universität zu Berlin und Lehrbeauftragte für Philosophie an der TU Braunschweig. BINKELMANN, CHRISTOPH, PD Dr. Wissenschaftlicher Sekretär des Projekts „Schelling – Edition und Archiv“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Letzte Veröffentlichungen: „Die Idee einer neuen Mythologie. Schellings ältestes Systemprogramm und seine Folgen“. In: Schelling-Studien 7 (2019), 117– 136; „Die Logik der Dialektik. Verstand und Wille in Schellings Freiheitsschrift“. In: Th. Buchheim, Th. Frisch, N. Wachsmann (Hg.): Schellings Freiheitsschrift – Methode, System, Kritik. Tübingen 2021, 35–52. BÖHM, SEBASTIAN, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie/Ethik am Institut für Philosophie der TU Dresden. Veröffentlichungen: Endlichkeit bei Kant. Zu Grund und Einheit der hegelschen KantKritik, Freiburg im Breisgau 2021; „Negativität und der Geist des Gesetzes“, in: Schweizerische Zeitschrift für Philosophie 78 (2019), S. 123–136. DANZ, CHRISTIAN, Prof. Dr., Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Letzte Buchveröffentlichungen: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019; Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum. Eine christlogische und religionstheologische Skizze, Tübingen 2020.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
GIRAUD, VINCENT, Dr. phil., Assistenzprofessur in Kyoto. Buchveröffentlichungen: Augustin, les signes et la manifestation, Paris 2013; L’ordre de la création, Paris 2019. LISSNER, ALEXANDRE, Doktorand an der École polytechnique zu Paris und Lehrer für Philosophie am Französischen Gymnasium in Berlin MARMASSE, GILLES, Prof. Dr., Université de Poitiers. Letzte Buchveröffentlichungen: Hegel, une philosophie de la réconciliation, Paris 2018; Le négatif au travail. Hegel et la raison en devenir, Paris 2018. NONNENMACHER, BURKHARD, apl. Prof. Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter (DFG-Projekt) am Lehrstuhl für Systematische Theologie III der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Tübingen. Buchveröffentlichung: Vernunft und Glaube bei Kant, Tübingen 2018. RINGLEBEN, JOACHIM, Prof. (em.) Dr. theol.; 1984–2010 Lehrstuhl für Systematische Theologie (Göttingen). Letzte Veröffentlichungen: Das philosophische Evangelium. Theologische Auslegung des Johannesevangeliums im Horizont des Sprachdenkens, Tübingen 2014; Der lebendige Gott. Gotteslehre als Arbeit am Begriff, Tübingen 2018.
Personenregister Das Register umfasst alle historischen Personen, die in den Texten und Anmerkungen genannt werden; nicht aufgeführt werden Personen in den Titeln von Literaturangaben sowie Herausgeber in bibliographischen Verweisen. Abaschnik, Vladimir Alekseevic 160 Alexander der Große 114 Alt, Peter André 18 Ameriks, Karl 45 Anaxagoras 65 Arndt, Andreas 96, 181 ff. Asmuth, Christoph 165–168, 172 Augustinus, Aurelius 11, 16, 20 f., 35, 149–152, 156 ff., 160–164, 168, 173 Axt-Piscalar, Christine 174 Barth, Ulrich 128 Baumgarten, Hans Michael 122 Beiser, Frederick 107 Berger, Christoph Heinrich 150 Berkeley, George 57, 63 Binkelmann, Christoph 76, 136 f. Bisol, Benedetta 166 Blöser, Claudia 35 Boyle, Marjorie O’Rourke 163 Brandom, Robert 44 Brauer, Oscar Daniel 88 Braunthal, Karl Johann Braun von 159 Brogi, Josef Leyser 170 Buchheim, Thomas 131, 136 Butler, Judith 39 Carl Ludwig Johann Joseph Laurentius von Österreich 159 Coyle, John Kevin 162 Creiling, Johann(es) Conrad 150 Danz, Christian 121, 123, 125 Descartes, René 57, 62–64 Dodds, Eric Robertson 145 Dumont, Augustin 167 Dutens, Louis 150
Egloff, Lisa 122 Epikur 9 Feder, Johann Georg Heinrich 62 Fichant, Michel 150 Fichte, Immanuel Hermann 171 ff. Fichte, Johann Gottlieb 2–5, 18, 76, 129, 139 ff., 144 f., 159 f., 164–172, 174 Flasch, Kurt 163 Forschner, Maximilian 26 Freud, Sigmund 18 Friedrich Wilhelm III von Preußen 171 f. Fuchs, Erich 170 Gardner, Sebastian 55 Garve, Christian 62 Gobsch, Wolfram 51 Gräb-Schmidt, Elisabeth 37 Günther, Anton 173 Habermas, Jürgen 138 Hamann, Johann Georg 10 Hansche, Michael Gottlob 150 Hartmann, Eduard von 122 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 3–7, 10 ff., 18, 20, 22, 55, 71–89, 91, 94–120, 123, 147, 174, 182 Heidegger, Martin 122, 155 Heinrich, Peter 163 Heit, Alexander 35 Henrich, Dieter 55 Heraklit 58 Herder, Johann Gottfried 13 Hermanni, Friedrich 24, 28 f., 31, 36 f., 129, 142 Hirsch, Emanuel 11, 72, 81, 83 Hölderlin, Friedrich 3
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Personenregister
Honrath, Klaus 11 Horn, Christoph 26 Hotho, Heinrich Gustav 116 Houlgate, Stephen 98 Hühn, Lore 144 Hume, David 63 Jacobi, Friedrich Heinrich 62, 139 f., 165 Jaeschke, Walter 96 Jesus 10, 22, 71 ff., 80–89, 116, 133, 145, 162, 168, 176 Johannes, Evangelist 11, 168 Kant, Immanuel 1, 4 f., 10, 12–20, 23–37, 39–59, 61–71, 73, 91–94, 97, 99, 104, 123, 126, 129, 133, 139 f., 142, 145, 164 f., 167, 175, 179 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 174 Khurana, Thomas 39, 45 Kierkegaard, Sören 18, 20 Kimmerle, Heinz 184 King, William 150 Kisser, Thomas 128 Kleffmann, Tom 20 Kleingeld, Pauline 39 Körner, Gottfried 13 Korten, Harald 122 Kröler, Heinrich 150 Kroner, Richard 43 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 1, 5, 29, 31, 37, 60 f., 107 ff., 119, 140, 143, 150 Luther, Martin 16, 19 f., 22, 29, 31, 37, 163 Mani, Manichaeus 149, 162 Marianne von Preußen 171 Menegoni, Francesca 74 Menke, Christoph 39 Metzger, Martin 12 Moiso, Francesco 124 Napoleon Bonaparte 159 f., 164, 169–172 Natorp, Paul 65 Niethammer, Friedrich Immanuel 131 Nietzsche, Friedrich 160 f. Nonnenmacher, Burkhard 24, 31, 37
Oesterreich, Peter L. 168 Overbeck, Franz 161 Pannenberg, Wolfhart 35 Parmenides 58 Pascal, Blaise 22 Paulus, Apostel 10 f., 20, 28, 116, 163, 168 Paulus, H.E.G. 12 Peetz, Siegbert 138 Peperzak, Adriaan T.B. 83 Pinkard, Terry 44 f. Platon 58, 61, 65 f., 68, 70, 140, 177 Ratzinger, Josef 11 Ricœur, Paul 107 Ringleben, Joachim 10, 13, 18, 20, 22, 74 Robespierre, Maximilien 71 ff., 77–81, 84 ff., 88 f. Rödl, Sebastian 39, 45 f. Schad, Johann Baptist 160–164 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 3 ff., 18, 24, 28, 55, 71, 121–133, 135–153, 155–158, 160, 173, 175 Schelling, Karl Friedrich August 121, 130, 131 f. Schiller, Friedrich 1, 4, 9, 12 f. Schlegel, Friedrich 147 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 3 f., 175–185 Schmidt, Werner Hugo 10 Schmitt, Arbogast 10 Schulz, Walter 122 Sirovátka, Jakub 25 Sokrates 58, 65, 72 Spinoza, Benedikt 57, 123, 128, 139 f., 142, 145 f., 165, 177 Stache, Antje 166 Teruel, Pedro Jesus 13 Theunissen, Michael 41, 96, 138 Tholuck, August 174 Thomas von Aquin 19, 173 Tillich, Paul 121 f. Traub, Hartmut 168 van Oort, Johannes 162 Vieweg, Klaus 96
Personenregister
Wenz, Gunther 37 Whistler, Daniel 125 Willaschek, Marcus 39 Windischmann, Karl Joseph Hieronymus 135
201
Ziche, Paul 123, 127 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 176 Zöller, Günter 167 Zupančič, Alenka 93