Übergänge in der klassischen deutschen Philosophie 9783846764022, 9783770564026, 3846764027


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Übergänge in der klassischen deutschen Philosophie
 9783846764022, 9783770564026, 3846764027

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Übergänge in der klassischen deutschen Philosophie

Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

jena-sophia Studien und Editionen zum deutschen Idealismus und zur Frühromantik

Herausgegeben von Christoph Jamme und Klaus Vieweg Wissenschaftlicher Beirat Stephen Houlgate (Warwick) Francesca Iannelli (Rom) Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Taiju Okochi (Tokyo) Robert B. Pippin (Chicago) Allen Speight (Boston)

Abteilung II – Studien Band 18

2019 Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

Jindřich Karásek, Lukáš Kollert, Tereza Matějčková (Hg.)

Übergänge in der klassischen deutschen Philosophie

Wilhelm Fink Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

Die Herausgeber danken der Tschechischen Agentur zur Unterstützung der Wissenschaft (GAČR P401/16/11880S) für die freundliche Unterstützung des vorliegenden Bandes. Umschlagabbildung: Jena – Blick vom Philosophengang (um 1800) kolorierte Radierung von F. W., Stadtmuseum Jena

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2019 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6402-6 (paperback) ISBN 978-3-8467-6402-2 (e-book)

Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

Inhalt Jindřich Karásek Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii

I. Kant und Fichte Rocco Porcheddu Der kategorische Imperativ als regulatives Prinzip. Eine Versuchsskizze  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Silvan Imhof Von der Aufforderung zur Sprache in Fichtes Wissenschaftslehre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Lukáš Kollert Das Ich und die Welt. Die transzendentalkritische Auffassung des Dinges an sich in Fichtes Jenaer Wissenschaftslehre  . . . . . 47 Jürgen Stolzenberg „Ein neues, bis jetzt noch ganz unbekanntes Prinzip muß aufgestellt werden.“ Der Übergang zur Erscheinungslehre in Fichtes Wissenschaftslehre von 1804  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

II. Schelling und Hegel Lars-Thade Ulrichs Die Entwickelungen des Ich. Evolutionäre Naturphilosophie und explikative Subjekttheorie bei Schelling  . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Jindřich Karásek Subjekt als Geist. Zum Übergang von der Transzendentalphilosophie zur Phänomenologie des Geistes in Schellings Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Inhalt

Andreas Arndt „Das Wesen des Geistes ist ..., daß er ... als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt“. Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Tereza Matějčková Hegels Zeittilgung: Ein Übergang in die Ewigkeit  . . . . . . . . . . . . 149 Holger Gutschmidt Hegel gegen Spinoza … und gegen Hegel. Hegels späte Kritik an der Substanzphilosophie und sein eigener Übergang von der „Substanz“ zum „Subjekt“  . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Stefan Lang Hegels Deduktion des Erwachens der Seele in der Anthropologie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Siglen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Hinweise zu den Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

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Jindřich Karásek

Vorwort Die klassische deutsche Philosophie, die, wie allgemein angenommen wird, 1781 mit dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft begann und mit dem Tod Hegels 1831 endete, ist bestimmt nicht die einzige Formation in der Geschichte der Philosophie, die über eine ausgearbeitete Theorie des Geistes und über eine genauso ausgearbeitete Naturlehre verfügte. Theorien beider Art lagen bereits bei den Gründungsvätern der Philosophie, Platon und Aristoteles, vor. Womit sich die klassische deutsche Philosophie allerdings von allen anderen konkreten Formationen der Geschichte der Philosophie unterscheidet, ist der Umstand, dass in ihr, und zwar insbesondere bei Schelling und Hegel, der Versuch unternommen wurde, die Theorie des Geistes und die Lehre von der Natur nicht als zwei voneinander unabhängige philosophische Disziplinen zu entfalten, sondern ihre immanente systematische Verbindung aufzuzeigen, die so verfasst sein muss, dass damit auch ihr notwendiger Zusammenhang klar wird. In dieser Formation der Geschichte der Philosophie kann nicht einfach gesagt werden: „Liebe Leser! Nachdem wir etwas von der Natur, ihrem Wesen, ihren wesentlichen Bestimmungen und den einzelnen Naturdingen gesagt haben, gehen wird jetzt zu der Behandlung des Geistes, seines Wesens und seiner wesentlichen Bestimmungen und Tätigkeiten über.“ Eine solche methodologische Leichtigkeit und Plattheit ist in der klassischen deutschen Philosophie genauso unzulässig wie die Verwendung des Lineals zum Messen in der Euklidischen Geometrie. Nun hat bereits Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von drei Übergängen, oder in der Kritik der reinen Vernunft von dem Übergang von der rationalen Psychologie zur Kosmologie gesprochen. Insbesondere im zweiten Zusammenhang hat sich Kant die aus dem Gesichtspunkt der weiteren Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie fruchtbare Frage gestellt, auf welche Weise eine immanente notwendige Verbindung der einzelnen

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Jindřich Karásek

Teildisziplinen der von ihm kritisierten Metaphysik hergestellt werden kann. Weil er diese Disziplinen aus den transzendentalen Ideen herleiten zu können meinte, so muss es sich bei ihm um einen notwendigen systematischen Zusammenhang dieser Ideen handeln. Und in der Tat bemerkt Kant, dass der Übergang von der Erkenntnis seiner selbst zur Welterkenntnis und von da zum Urwesen ein natürlicher Fortschritt sei, der dem logischen Fortgang im Syllogismus ähnlich sei.1 Es war jedoch erst Fichte, der eine Methodik der Defizitenfest­ stellung als Grundoperator einer philosophischen Theorie in seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre in die klassische deutsche Philosophie paradigmatisch eingeführt hat. So stellte Fichte am Ende des theoretischen Teils dieser Schrift fest, dass das Ich sich zu einer solchen Gestalt der Selbstbestimmung bzw. Wechselwirkung mit sich selbst emporgearbeitet hat, die nur in dem nachfolgenden praktischen Teil der Wissenschaftslehre angemessen behandelt werden kann.2 Der theoretische Teil der Wissenschaftslehre war also in der Hinsicht defizitär, dass er es nicht möglich machte, bestimmte Typen der Selbstbeziehung des Ich zu erfassen. Dabei hat Fichte Überlegungen ausgeführt, die es nahegelegt haben, dass es sich um solche Typen der Selbstbeziehung handeln muss, die als Implikationen des Satzes „Das Ich setzt sich als bestimmend das Nicht-Ich“ hergeleitet werden müssen, weil alle Implikationen des Satzes „Das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich“ im theoretischen Teil der Wissenschaftslehre entfaltet worden sind. Denselben methodologischen Weg der Defizitenfeststellung gehen dann Schelling im System des transzendentalen Idealismus und Hegel in der Phänomenologie des Geistes nach, und zwar mit kleineren oder größeren Modifikationen, die jetzt nicht erwähnt werden müssen. Was jedoch erwähnt werden muss, sind die Modifikationen, die mit dieser von Fichte erfundenen Methodik Hegel gewissermaßen im Anschluss an Schelling unternommen hat. Die eine ist eher kleinerer Art und Hegel hat sie bereits in der Phänomenologie des Geistes geltend gemacht. Sie besteht in dem methodischen Bewusstsein, 1  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 394/A 337. 2  Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2, S. 384. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

Vorwort

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dass die vorhergehende Entwicklungsstufe in der darauffolgenden in einer neuen verbesserten Gestalt erhalten bleibt und deswegen mit dem Übergang zu dieser neuen Stufe nicht verschwindet. Dieses methodische Bewusstsein wird bekanntlich mit dem Begriff der Aufhebung zum Ausdruck gebracht. Ihm entspricht allerdings auch eine eigentümlich hegelsche Verwendung des Terminus „Wahrheit“ in den Aussagen der Form „x ist die Wahrheit von y“. So behauptet Hegel z. B., das Selbstbewusstsein sei die Wahrheit des Bewusstseins, d. h. das Bewusstsein sei in dem Selbstbewusstsein auf einem höheren Niveau erhalten, oder die Wahrheit des Seins sei das Wesen, d. h. das Wesen sei aufgehobenes Sein. Die zweite Modifikation ist allerdings recht gravierend. Zwar hat sie bereits Schelling nach 1800 eingeführt, zu ihrer vollendeten Gestalt gelangte sie jedoch erst in Hegels Wissenschaft der Logik und Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Um sie zu beschreiben, muss man zwei Gesichtspunkte berücksichtigen. Nach 1800 machte sich Schelling Gedanken darüber, auf welche Weise ein immanenter Zusammenhang seiner bisher entfalteten und nach 1800 auf der spinozanischen Grundlage stark modifizierten Naturlehre mit seiner in Ansätzen in der Allgemeinen Übersicht über die neueste philosophische Literatur entwickelten Theorie des Geistes aufzuzeigen ist. Die erste Gestalt der auf diese Weise komponierten philosophischen Theorie hat Schelling wohl in seinen privaten Würzburger Vorlesungen von 1804 vorgelegt. So begründet er dort den Übergang von der Naturlehre oder der realen Welt zu der Lehre von der Vernunft oder der idealen Welt damit, dass die Zuhörer sich bei diesem Übergang keinen Hiatus, sondern vielmehr eine vollkommene Stetigkeit zu denken haben.3 Genauer genommen ist diese Kontinuität der zwei philosophischen Theorien durch den spinozanisch orientierten Substanzbegriff gesichert: Die reale und ideale Welt sind nicht zwei Welten, sondern nur zwei verschiedene Erscheinungsweisen der unendlichen bzw. absoluten Substanz4 und deswegen sind die sie behandelnden philosophischen Theorien 3  Vgl. Friedrich W. J. Schelling, Ausgewählte Schriften, hg. von M. Frank, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 504. 4  Ebd. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Jindřich Karásek

nicht voneinander unabhängige disparate Disziplinen, sondern sie bilden eine notwendige systematische Einheit. Damit kommen wir zu dem zweiten zu berücksichtigenden Gesichtspunkt. Er hängt mit zwei Bedeutungen des Begriffs des Übergangs zusammen. Die kantische Verwendung dieses Begriffs in der Grundlegungsschrift ist rein methodologischer Natur und die Übergänge sind daher nur einzelne Schritte einer Methode, deren Ziel darin besteht, den Leser von seiner unreflektierten Sittlichkeit zu dem Grundgesetz dieser Sittlichkeit und den Bedingungen seiner Möglichkeit zu führen. Es wurde bereits angedeutet, dass Kant in seiner Lehre von dem System der transzendentalen Ideen diese rein methodologische Verwendung des Übergangsbegriffs in Richtung einer anderen Bedeutung dieses Begriffs überschritten hat, die als sachliche bezeichnet werden kann, weil der Übergang in der behandelten Sache selbst gegründet ist. Fichte hat nun seit der Begriffsschrift daran festgehalten, dass die Wissenschaftslehre eine systematische Darstellung des ursprünglichen von der Wissenschaftslehre unabhängig vorhandenen Systems des menschlichen Geistes ist, in dem die Wissenschaftslehre daher ihre Wahrheitsgrundlage findet. So ist der Übergang von dem theoretischen zu dem praktischen Teil der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre in dem behandelten Ich selbst gegründet, denn es ist das theoretische Ich selber, das sich so weit entwickelt hat, dass es seine weiteren Selbstbezugsmöglichkeiten nur als praktisches Ich vollziehen kann. Die zweite Modifikation des Übergangsbegriffs ist jedoch noch nicht hinreichend zur Sprache gebracht. Zu ihrer vollendeten Gestalt gelangte sie in der Eigentümlichkeit der hegelschen Systemkonzeption. Diese Eigentümlichkeit besteht darin, dass sowohl die Wissenschaft der Logik als auch die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften eine triadische Gliederung aufweisen, so dass es zwei sachlich bzw. objektiv motivierte Übergänge gibt, wobei das zweite Glied eine vermittelnde Funktion hat. So ist das Wesen eine Vermittlung zwischen dem Sein und dem Begriff. Es steht in der Mitte zwischen Sein und Begriff und macht daher den Übergang vom Sein in den Begriff aus.5 Und Hegel betont, dass die Entwicklung, 5  Hegel, Wissenschaft der Logik, GW 11, S. 245. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

Vorwort

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die von dem Sein zu dem Wesen führt, die Entwicklung bzw. der Gang des Seins selbst ist, oder dass die ganze objektive Logik, d.h. die Seinslehre und die Wesenslehre, eine genetische Exposition des Begriffs ist, wobei das Sein und das Wesen nur Momente des Werdens des Begriffs sind. In diesen hegelschen Gedanken rückt die Einheit der philosophischen Theorie mit dem von ihr behandelten Gegenstand viel stärker in den Vordergrund als bei Schelling. Dies wird z. B. in der Aussage zum Ausdruck gebracht, dass die Logik die Darstellung des Reichs des Gedankens in seiner immanenten Tätigkeit ist.6 Für diese Darstellung verwendet Hegel den Terminus „Rekonstruktion“.7 Das Ziel der hegelschen Rekonstruktion ist es, die logische Natur zum Bewusstsein zu bringen.8 Der Terminus der Rekonstruktion drückt angemessener als der schellingsche Terminus der Konstruktion aus, dass die Logik das Denken oder die logische Natur zum Leitfaden hat, an dem sie sich stets zu orientieren hat. Und es ist auch Hegel, der für eine philosophische Theorie, innerhalb deren die Übergänge zwischen ihren einzelnen Teilen nur als methodische, allein von dem Philosophen vollzogene Schritte vorkommen, den Ausdruck „äußere Reflexion“ verwendet. Die Evidenz, mit der die Einführung dieser Einheit gerechtfertigt wird, wird in der Wissenschaft der Logik mit dem Hinweis auf die Phänomenologie des Geistes begründet. Sie ist das Resultat der Phänomenologie als Wissenschaft von dem erscheinenden Geist.9 Dabei ist die Phänomenologie des Geistes ein Beispiel der Methode, die in der Wissenschaft der Logik nicht nur angewendet, sondern auch begründet wird.10 In dieser Methode hat der Begriff des Übergangs eine Schlüsselfunktion, denn eine Gestalt des Bewusstseins geht aufgrund ihrer immanenten Entfaltung in eine höhere Gestalt über. Die Methode ist daher nichts anderes als das Bewusstsein von der Form dieser inneren Bewegung des behandelten Gegenstandes, die rekonstruiert wird. Im Unterschied zu allen anderen Wissenschaften gilt für die Logik, aber auch für die Phänomenologie, dass der 6  Georg W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), hg. von H.-J. Gawoll, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1990, S. 9. 7  A. a. O., S. 19. 8  A. a. O., S. 16. 9  A. a. O., S. 32; 57. 10  A. a. O., S. 38. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Jindřich Karásek

behandelte Gegenstand und die Methode seiner Behandlung nicht voneinander unterschieden sind. Die Logik ist die Wissenschaft des Denkens, sagt Hegel zunächst ganz traditionsgemäß. Weil sich jedoch das Denken in Begriffen bewegt, das Resultat der Phänomenologie aber darin besteht, dass die Gestalten des Bewusstseins auf die in ihnen waltenden Begriffe zurückgeführt sind, so ist die Logik als Wissenschaft des Denkens eine philosophische Theorie, in der das Denken sich selbst denkt. Die Logik ist daher als das System der reinen Vernunft oder als das Reich des reinen Gedankens zu fassen.11 Zwar war die Selbstbeziehung der reinen Vernunft bereits im Titel des kantischen epochalen Buchs aus dem Jahre 1781 impliziert. Dass sie jedoch als Resultat der vorhergehenden philosophischen Theorie aufgefasst werden muss, von der zu ihr übergegangen worden ist, ist erst bei Hegel gedacht worden. Damit kommen wir zu einer weiteren Modifikation, die der Gedanke des Übergangs bei Hegel durchgemacht hat. Sie besteht darin, dass die Entwicklung einer philosophischen Theorie nicht linear ist, sondern die Gestalt einer kreisförmigen Bewegung hat. Das Ganze der Wissenschaft der Logik ist ein Kreislauf in sich selbst, so Hegel. Die Eigentümlichkeit der Kreisbewegung besteht darin, dass der Anfang zugleich das Ziel ist, oder, wie Hegel es ausdrückt, das Erste ist auch das Letzte und das Letzte auch das Erste.12 Das Ziel des Übergehens ist in dem Kreislauf daher die Rückkehr des Übergehenden zu sich selbst. Die Bewegung scheint damit allerdings überflüssig zu sein. In Wirklichkeit ist dem jedoch nicht so, weil, wie in Bezug auf den Begriff der Aufhebung angedeutet, der Punkt, von dem ausgegangen worden ist, nicht derselbe ist, wie derjenige, zu dem die Kreisbewegung gelangt. So ist die Wahrheit der Unmittelbarkeit der ersten Gestalt des Bewusstseins das absolute Wissen, also der zu sich selbst gekommene Geist, wobei das Letzte der Grund ist, aus dem das Erste hervorgeht. Zwar geht das Bewusstsein von der sinnlichen Gewissheit aus. Diese ist jedoch in dem Geist gegründet, zu dem die Kreisbewegung hinführt. Diesem Modell folgt auch die 11  A. a. O., S. 33. 12  A. a. O., S. 60.

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Vorwort

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hegelsche Enzyklopädie. Das Sein als unbestimmtes unmittelbares entwickelt sich zu der Idee, die sich als Freiheit selbst entlässt in die ohne Subjektivität seiende Äußerlichkeit des Raumes und der Zeit. Das ist der erste Übergang. Im zweiten Übergang kehrt die Idee aus dieser ihrer Entäußerung zu sich selbst zurück und entwickelt sich wieder aus der zunächst vorhandenen Unmittelbarkeit der biologischen Existenz des Lebendigen zum Geist, der rein sich selbst denkt. Deswegen beschließt Hegel die Enzyklopädie mit dem Zitat aus der Metaphysik des Aristoteles, in dem der Begriff der noesis noeseos exponiert wird. Nun ist es nicht möglich, in einem Band alle die angesprochenen Themen zu behandeln. Trotzdem kann er zu dem in der Literatur zur klassischen deutschen Philosophie vernachlässigten Thema der systematischen Einheit der verschiedenen philosophischen Disziplinen, die sich, wie angedeutet, bei Schelling und Hegel aus der Einheit des behandelten Gegenstandes herleitet, und des Übergangs zwischen ihnen, einiges beitragen. Der Beitrag von Rocco Porcheddu beschäftigt sich mit dem Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft im dritten Abschnitt von Kants Grundlegungsschrift. Porcheddu geht von der Feststellung aus, dass bisher ein Verständnis dieses Übergangs sowie der nach ihm entfalteten Kritik der reinen praktischen Vernunft aussteht. Er führt daher eine Analyse aus, die zu diesem Verständnis beitragen soll. Erstens wird darauf hingewiesen, dass Kant die transzendentale Freiheit dem Willen überhaupt zuschreibt. Zweitens wird das Verständnis von Kants Äußerung in der vierten Sektion des dritten Teils der Grundlage der Metaphysik der Sitten, in der die Handlungen des Menschen als Erscheinungen der Kausalität des Willens aufgefasst sind, durch einen Rekurs auf die Charakterlehre der Kritik der reinen Vernunft erreicht. Silvan Imhofs Beitrag untersucht die Bedeutung der Sprache innerhalb der fichteschen Intersubjektivitätstheorie, die aus dem Gesichtspunkt der in diesem Band leitenden Fragestellung als ein Übergang vom Ich zum anderen Ich zu verstehen ist. Dieser Übergang geschieht bei Fichte bekanntlich aufgrund der Aufforderung zur Selbstbestimmung. Das Ergebnis dieses Übergangs stellt die

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Jindřich Karásek

Anerkennung des anderen Ich als vernünftiges Wesen dar. Im einzelnen versucht Imhof nun nachzuweisen, dass es sich bei Fichtes Theorie der Sprache nicht bloß um eine fakultative Ergänzung zur Intersubjektivitätstheorie handelt, sondern um ein begründungstheoretisch wesentliches Element. Seine These lautet, dass Fichte die Sprache als eine auf Absichten beruhende Form der Interaktion zwischen Subjekten begreift, die vorausgesetzt werden muss, damit Intersubjektivität möglich wird. Wenn man den Beitrag von Lukáš Kollert aus dem in diesem Sammelband thematisierten systematischen Gesichtspunkt betrachtet, so ist er dem Übergang gewidmet, der bei Fichte zwischen dem Ich und der Welt stattfindet. Der Bezug des Ich auf die Welt ist bei Fichte bekanntlich eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Selbstbestimmung des Ich. Kollert untersucht also zunächst den Zusammenhang des Ich und der Welt. Dann stellt er die Frage nach dem Charakter der Welt, was zur Untersuchung des berühmten Problems führt, welchen Status nun das Ding an sich seinerseits in Fichtes Wissenschaftslehre hat. In dem letzten der fichteschen Philosophie gewidmeten Beitrag von Jürgen Stolzenberg kehrt gewissermaßen der Bezug zur kantischen Philosophie zurück. Laut Stolzenbergs These greift Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 auf das Verfahren der Vernunft zurück, von dem Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft gesprochen hatte. Es ist das in der Natur der Vernunft gelegene Verfahren des Aufstiegs vom Bedingten zu einem Unbedingten. Dieses Unbedingte sah Fichte in einem Prinzip gegeben, das er als Einheit von „Sein und Leben“ bezeichnete, das der Sache nach indessen dem Begriff des reinen Ich der frühen Wissenschaftslehre entspricht und von Fichte u. a. auch als ein „in sich geschlossenes Ich“ bezeichnet wird. Das Thema der Wissenschaftslehre von 1804 ist die Sicherung der Wirklichkeit dieses Prinzips und der Nachweis, dass es eben dasjenige Prinzip ist, aus dem alle anderen Formen unseres wissenden Weltbezugs begründet werden können. Diese Begründung erfolgt im Übergang vom ersten Teil der Wissenschaftslehre, der von Fichte sogenannten Wahrheitslehre, zum zweiten Teil, der „Erscheinungslehre“. Das Ziel des Beitrags ist es, das Argument zu analysieren, mit dem Fichte diesen Übergang zu begründen sucht. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

Vorwort

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Lars-Thade Ulrichs stellt in seinem Beitrag die Frage, auf welche Weise der schellingsche Versuch verstanden werden kann, die „Natur als Subjekt“ zu bestimmen, und begrenzt diese Fragestellung auf den transzendentalphilosophischen Schelling. Von Schellings transzendentalphilosophischem Subjektbegriff ausgehend formuliert er die These, dass genauso wie das Subjekt auch die Natur als Prozess, genauer als Ausfaltung bzw. Explikation einer von vornherein vorhandenen impliziten Struktur begriffen werden muss, d. h. gerade nicht als Evolution von etwas ganz Neuem. Es handelt sich also, anders gesagt, um eine Entwicklung eines apriorischen Prinzips. Indem dieses apriorische Prinzip vom transzendentalphilosophischen Subjektbegriff her ausgelegt wird, thematisiert Ulrichs Beitrag einen Übergang von der transzendentalphilosophischen Subjektivitätstheorie zur Naturlehre in Schellings Denken vor 1800. Dieser Phase des schellingschen Denkens wird auch der Beitrag von Jindřich Karásek gewidmet. In diesem Beitrag wird versucht, die Thesen zum Begriff des Geistes, die Schelling in seinen Abhandlung­ en zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre systematisch entfaltet, als Ansätze zu einer Phänomenologie des Geistes zu verstehen. Der Begriff der Phänomenologie wird in dem Beitrag allerdings nicht im spezifisch hegelschen Sinn verwendet, obwohl er andererseits in mehreren Punkten als Vorwegnahme des hegelschen Begriffs interpretiert werden kann. Damit wird in den schelling­ schen Abhandlungen, die eine von Schelling selber gekürzte Fassung seiner für Niethammers Zeitschrift verfassten Allgemeinen Übersicht über die neueste philosophische Literatur sind, ein Übergang von der transzendentalphilosophischen Subjektivitätstheorie zu einer Subjektivitätstheorie als Theorie des Geistes vorbereitet, der von Schelling zugunsten des transzendentalphilosophischen Subjektbegriffs wieder revidiert und erst von Hegel in der Phänomenologie des Geistes explizit herausgearbeitet worden ist. Dem Übergang von der Natur zum Geist und damit auf der theoretischen Ebene dem Übergang von der Naturlehre zur der Theorie des Geistes ist der Beitrag von Andreas Arndt gewidmet. Von Hegels Diktum aus dem Jenaer Vorlesungsfragment Über das Wesen des Geistes ausgehend versucht Arndt zu zeigen, dass es bei Hegel keineswegs darum gehen kann, die Natur zu depotenzieren und als Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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eine tote Grundlage des Geistes aufzufassen. Arndts These besagt dabei, dass man im Ausgang von der Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Geist als Daseinsweisen der Idee zeigen kann, dass der Geist nur zu sich selbst kommen kann, wenn er die Natur in ihrer konstitutiven Äußerlichkeit erkennt und anerkennt. Das Modell hierfür liefert für Arndt die Arbeit, die als gesellschaftliche zugleich Vernünftigkeit repräsentiert und damit die Bedingungen eines als vernünftig anzusprechenden, durch Freiheit und nicht durch Herrschaft geprägten Naturverhältnisses erkennen lässt. In ihrem Beitrag „Hegels Zeitvertilgung: Zeit und Ewigkeit in der Phänomenologie des Geistes“ beschäftigt sich Tereza Matějčková mit Hegels Interpretation eines, aus der Perspektive der Geschichte der Metaphysik, traditionellen Übergangsproblems, des Übergangs von Zeit und Ewigkeit. Die Verfasserin rekonstruiert die Zeitauffassung so, wie in der Phänomenologie dargelegt, und beschäftigt sich vornehmlich mit dem Übergang von Zeit und Ewigkeit auf der Ebene des absoluten Wissens. Es zeigt sich, dass Hegel im Begriff der Ewigkeit die Zeit nicht entwertet, also nicht, auf metaphysische Art, wie ein „stehendes Abbild“ darlegt. Stattdessen ist Ewigkeit eine in der Gegenwart nachvollzogene und begrifflich erfasste Vergangenheit. Damit knüpft Hegel die Ewigkeit engstens an den Begriff der Erinnerung, die wiederum mit dem praktischen Nachdruck auf das Werk, an dem sich das einzelne Bewusstsein zu bewähren sucht, einhergeht. Die geistige Subjektivität, die als tätige und auf ihre Taten reflektierende die Strukturen der Zeit erfasst, vergegenwärtigt denjenigen Seinsmodus, den Hegel als einen „ewigen“ bezeichnet. Der Beitrag von Holger Gutschmidt ist dem bereits angesprochenen Problem der dreiteiligen Gliederung des hegelschen Systems gewidmet. Es ist Gutschmidt zufolge festzustellen, dass diese Gliederung bei keinem der unmittelbaren Vorgänger Hegels ein Vorbild findet. Gutschmidts These lautet, dass man eine gewisse Vorwegnahme dieser Gliederung in Spinozas Theorie der Erkenntnis von „Mens“, „Corpus“ und „Deus“ sehen kann. In diesem Zusammenhang bietet sich Gutschmidt zufolge eine Reihe von Parallelen an, die in dem Beitrag untersucht werden. Das Ziel dieser Untersuchung besteht darin zu zeigen, dass diese Parallelen das Verständnis von Hegels System und seiner Organisation zu erhellen vermögen. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Vorwort

Dieses System wird in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften umgesetzt. Eine detaillierte Untersuchung eines in der Enzyklopädie vollzogenen Übergangs widmet sich Stefan Lang; konkret befasst er sich mit dem Übergang von den natürlichen Qualitäten und Veränderungen hin zum wachen Zustand und der Empfindung, den Hegel im 3. Teil rekonstruiert. Somit fasst Lang den Übergang von natürlichen, biologischen Aspekten des Lebendigen hin zum ersten Auftreten von Mentalem ins Auge. Mit dem Auftreten des wachen Zustandes ereignet sich nun etwas Entscheidendes: Es eröffnet sich der Bewusstseinsraum bzw. der Erlebnisraum des Lebendigen. Auf diese Weise vollzieht sich im Einzelnen der Übergang von der Natur zum Geist in statu nascendi bzw. von der Naturlehre zur Theorie der Subjektivität, und zwar innerhalb des einzelnen Individuums, das von seinen natürlichen, noch unbewussten Zuständen zu den mentalen, mit Bewusstsein begleiteten Zuständen übergehen muss, um sich als ein geistiges Individuum entfalten zu können. Bibliographie Kant, Kritik der reinen Vernunft, zitiert nach Originalpaginierung A/B. Fichte, Johann G., Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2. Hegel, Wissenschaft der Logik, GW 11. Hegel, Georg W. F., Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), hg. von Hans-Jürgen Gawoll, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1990. Schelling, Friedrich W. J., Ausgewählte Schriften, hg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985.

Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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I. Kant und Fichte

Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Rocco Porcheddu

Der kategorische Imperativ als regulatives Prinzip Eine Versuchsskizze

Der dieser Untersuchung zugrundeliegende Vortrag trug, um dem Titel der Tagung gerecht zu werden, den „Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft“ in der Überschrift. Diesen „Übergang“ schafft Kant bekanntlich in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und er wird eine zentrale Rolle auch im Gedankengang dieses Aufsatzes spielen. Das Nachgehen der vielfältig verzweigten und weit in Kants theoretische Philosophie hineinreichenden Verweisungszusammenhänge, in welche der „Übergang“ gestellt ist, ermöglichte allerdings bemerkenswerte Einsichten in Kants gesamte reife Philosophie – Einsichten, denen der ursprüngliche Titel nicht angemessen gewesen wäre. Die neue Überschrift soll zudem signalisieren, dass allein aufgrund der großen Fülle der anzusprechenden Themen vieles im Rahmen eines noch so dichten Aufsatzes nur skizziert werden kann, weswegen die präsentierten Ergebnisse vorläufig, in jedem Fall aber nicht hinreichend gesichert sind. So möge dieser Aufsatz denn auch vorwiegend als Einladung zu einer wenn nicht neuen, so doch nicht ganz gewöhnlichen Perspektive auf Kants praktische Philosophie im Kontext seiner gesamten Transzendentalphilosophie gelesen werden. Zwischen den Zeilen soll er aber gleichermaßen dazu einladen, die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes wieder und verstärkt als ernst zu nehmende Interpretation des reifen Kant zu lesen. Denn auf nicht wenige der hier diskutierten Probleme, die sich einzig aus der Analyse der Kantischen Texte ergeben, antwortet Fichte – wie auch immer diese Antworten selbst zu bewerten sind. Letzterer Aspekt legt in der Konsequenz gleichsam einen weiteren Übergang frei, den nämlich von Kants Transzendentalphilosophie zu derjenigen Fichtes. Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova © wilhelmJindrich fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764022_002

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Rocco Porcheddu

Nimmt man die Textgrundlage der GMSIII konsequent ernst, präsentiert Kant in ihrer vierten Sektion den kategorischen Imperativ nämlich als eine Art ‚Darstellung‘ der Freiheit, die selbstreflexive Repräsentation der menschlichen Vernunftspontaneität innerhalb der Grenzen eben dieser menschlichen Vernunft. Insofern ist der kategorische Imperativ tatsächlich bereits in der Grundlegung die ratio cognoscendi der Freiheit, die sich in Form der Achtung auch bereits als Faktum der und für die menschliche Vernunft präsentiert – jedoch ohne deswegen bereits diejenige argumentative Funktion zu übernehmen, die viele Interpreten der Faktum-These in der KpV zuschreiben.1 Fichtes Sittenlehre von 1798 argumentiert ebenfalls dafür, dass das Prinzip der Sittlichkeit eine solche Darstellung einer im menschlichen Denken uneinholbaren ursprünglichen, absoluten Spontaneität und Vernunftsubjektivität ist. Bereits die schiere Menge und Komplexität der anzusprechenden Aspekte der Philosophie Kants ermöglichen allerdings kein näheres Eingehen auf Fichtes Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit in der Sittenlehre. Künftige Untersuchungen werden das nachholen. Zum Vorgehen: Zunächst sollen durch eine kurze Analyse der zweiten Sektion des Deduktionskapitels einige Evidenzen für die These gesammelt werden, dass Kant in dieser Sektion dem Willen simpliciter transzendentale Freiheit zuspricht, also demjenigen Willen, den er an verschiedenen Stellen der GMS definiert.2 Im nächsten Schritt muss zumindest plausibilisiert werden, dass diese transzendentale Freiheit des Willens überhaupt keinen Widerspruch zur Analytizitätsthese von Freiheit und Sittlichkeit impliziert, nach welcher These Willensfreiheit und Sittlichkeit analytisch-begrifflich verknüpft sind. Weil der menschliche Wille auch nicht sittlich bestimmt und sogar böse sein kann, vertreten nicht wenige Interpreten 1  Vgl. Dieter Schönecker, „Das gefühlte Faktum der Vernunft. Skizze einer Interpretation und Verteidigung“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 61 (1), 2013, S. 91–107. Rocco Porcheddu, „Nagels Standpunkt der Entscheidung und Kants Faktum. Überlegungen und Beobachtungen zur Begründung des kategorischen Imperativs in der KpV“, in: Violetta L. Waibel, Margit Ruffing und David Wagner (Hrsg.), Natur und Freiheit: Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin/New York: De Gruyter 2018, S. 2093‒2105. 2  Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 414, 427, 446. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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die Ansicht, Kant reserviere die Analytizitätsthese für einen rein vernünftig bestimmten, heiligen und/oder den sittlich bestimmten Willen des Menschen.3 Dieser Schluss missversteht die Analytizitätsthese meines Erachtens. Die Explikation der Alternative zu dieser m. E. fehlgehenden Lesart kommt jedoch nicht ohne weitere Analysen der Sektionen drei und vier der GMSIII sowie einen zumindest überfliegenden Blick auf Theoriestücke der KrV aus. So werden wir einen Blick auf die Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter in der KrV und auch einen ganz kurzen Blick auf den Begriff einer Vernunftidee als eines regulativen Prinzips werfen müssen. I. Die Freiheitsimplikation der Sektion 2 des Deduktionskapitels4 Kant argumentiert in der ersten Sektion der GMSIII bekanntlich für die analytische Verbindung der Begriffe der (praktisch-transzendentalen) Freiheit und der Sittlichkeit.5 Weil das Sittengesetz ein Gesetz im strengen Sinne ist, also für alle vernünftigen Wesen a priori gilt, und weil Freiheit und Sittlichkeit der ersten Sektion nach analytisch miteinander verknüpft sind, muss auch die Freiheit des Willens a priori jedem vernünftigen und wollenden Wesen zukommen. Zu fragen ist, welchem Willen Kant hier Freiheit zuspricht: dem Willen überhaupt und damit auch dem bösen Willen oder einzig dem rein vernünftig bzw. sittlich bestimmten Willen. Ich möchte in dem, was nun folgt, Indizien für die These sammeln, dass Kant in Sektion 2 3  Vgl. Heiko Puls, Sittliches Bewusstsein und Kategorischer Imperativ in Kants Grundlegung: Ein Kommentar zum dritten Abschnitt, Berlin/New York: De Gruyter, 2016, S. 52 f., 178 f. Dieter Schönecker, Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs, Freiburg/München: Karl Alber, 1999, S. 147‒195. 4  Vgl. zu den Ausführungen zur Sektion 2: Rocco Porcheddu, „Kants Freiheitsargument. Diskussion von Heiko Puls: ‚Sittliches Bewusstsein und Kategorischer Imperativ in Kants Grundlegung: Ein Kommentar zum dritten Abschnitt‘, in: Kantian Journal/Kantovsky Sbornik, Bd. 37, Nr. 2, 2018, S. 68–72. 5  Vgl. Rocco Porcheddu, Der Begriff des Zwecks an sich selbst in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, Kant-Studien ‒ Ergänzungshefte, Bd. 186, Berlin/New York: De Gruyter, 2016, S. 94–102. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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jeglichem Willen, gleich welcher Bestimmung, transzendentale Freiheit zuspricht. An den folgenden Stellen der zweiten Sektion schreibt Kant dem Willen Freiheit zu: 1. Es ist nicht genug, daß wir unserem Willen […] Freiheit zuschreiben, wenn wir nicht ebendieselbe auch allen vernünftigen Wesen beizulegen hinreichenden Grund haben. 2. […] so muß auch Freiheit als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen bewiesen werden […] 3. […] sondern man muß sie [die Freiheit] als zur Thätigkeit vernünftiger und mit einem Willen begabter Wesen überhaupt gehörig beweisen. 4. Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, nothwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. 5. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist […]. 6. Sie [die Vernunft] muß sich selbst als Urheberin ihrer Principien ansehen […] folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein […]6 Keine dieser sechs expliziten Freiheitszuschreibungen schränkt Kant auf einen heiligen, reinen oder sittlich bestimmten Willen ein. Auch ein näherer Blick auf den Gehalt der Sätze spricht m. E. eine klare Sprache. Freiheit müsse „[…] als zur Thätigkeit vernünftiger und mit einem Willen begabter Wesen überhaupt gehörig“7 bewiesen werden. Ist Freiheit als Eigenschaft der Tätigkeit vernünftiger Wesen beweisbar, gehört sie notwendig zu dieser. Konsequenterweise behauptet Satz 4 auch, wir müssten einem vernünftigen Wesen die Idee der Freiheit „leihen […] unter der es allein handle“. Allen Handlungen („allein“) muss Freiheit zugesprochen werden. Im fünften zitierten Satz führt Kant die Freiheitsimplikation des vierten Satzes sogar auf die Identifikation des Willens als praktische Vernunft zurück. („Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, 6  Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 447 f. 7  Meine Hervorhebung. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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die praktisch ist […].“)8 In der prominentesten Thematisierung des Begriffs des Willens überhaupt in der GMS definiert Kant den Willen explizit als praktische Vernunft.9 Nach Maßgabe dieser Befunde gehört Freiheit somit zur Definition des Willens überhaupt und zur Definition willentlichen Handelns als solchem. Schreibt Kant dem Willen per se, also auch dem empirisch bestimmten und sogar bösen Willen transzendentale Freiheit zu, drängt sich allerdings sofort die Frage auf, wie dies zur Analytizitätsthese steht. II. Die Freiheit des Willens überhaupt und die Analytizität von Freiheit und Sittlichkeit Bekanntlich argumentiert Kant in der ersten Sektion des dritten Abschnitts der GMS für eine analytische Verbindung der Begriffe der Freiheit und Sittlichkeit, oder wie Kant es ausdrückt: Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs.10

Wie erwähnt, meinen nicht wenige Interpreten, diese analytische Verbindung reserviere Kant für einen rein vernünftig bestimmten Willen, worunter auch der sittlich bestimmte Wille des Menschen fällt. Nach Maßgabe der obigen Interpretation der zweiten Sektion kann dies klarerweise nicht zutreffen. Wie aber sieht die Alternative aus? Ich möchte meine Ausführungen zu dieser Frage mit einer textuellen Beobachtung beginnen. Im letzten Absatz der Sektion 4 thematisiert Kant einen ‚ärgsten Bösewicht‘,11 der, wenn ihm ein Beispiel moralischer „Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit im Befolgen guter Maximen“12 gegeben würde, wünsche, auch

8  Meine Hervorhebung. 9  Vgl. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 412. 10  A. a. O., S. 447. 11  Vgl. a. a. O., S. 454. 12  Vgl. ebd. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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moralisch gut zu sein. Dieser Bösewicht empfindet offenkundig Achtung, wie der folgende Passus aus der GMS I verdeutlicht: Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz […] wovon jene das Beispiel gibt. Weil wir Erweiterung unserer Talente auch als Pflicht ansehen, so stellen wir uns an einer Person von Talenten auch gleichsam das Beispiel eines Gesetzes vor […] und das macht unsere Achtung aus.13

Nun kann man bereits mit Bezug auf die GMS Achtung als Anzeiger der Willensfreiheit beschreiben, denn sie ist „die subjektive Wirkung, die das Gesetz auf den Willen ausübt […] wozu Vernunft allein die objektiven Gründe hergibt“.14 Wenig später präzisiert Kant Achtung als „Kausalität“ der Vernunft und als Hervorbringung der „Empfindung der Lust und Unlust“15 durch einen ‚bloßen Gedanken‘16. Achtung ist demnach die subjektive Seite reiner praktischer Vernunft und also der Willensfreiheit. Empfindet der „ärgste Bösewicht“ Achtung, muss er folglich, als dieser Bösewicht, frei sein. Ganz gemäß der Analytizitätsthese weist damit auch der böse Wille – als Wille – eine Form sittlicher Bestimmtheit auf (Achtung), die bei ihm freilich nur dispositional ist, im Sinne eines motivational-kognitiven Zustandes, der noch nicht handlungsverursachend ist. Dieser Befund droht jedoch seinerseits in einen Konflikt zum Heteronomiebegriff in der ersten Sektion der GMSII zu geraten. Denn Naturnotwendigkeit ist dort „die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen“17 und wenig später heißt es, bezogen auf den menschlichen Willen: „Die Naturnotwendigkeit war eine Heteronomie der wirkenden Ursache […].“18 Damit scheint die Heteronomie des Willens gänzlich naturkausal zu sein. Dieser Schluss sollte aber nicht voreilig gezogen werden. Um das zu sehen, ist es zunächst hilfreich, Heteronomie ganz allgemein (und nicht ganz korrekt) mit 13  A. a. O., S. 402. 14  A. a. O., S. 460. 15  Ebd. 16  Vgl. ebd. 17  A. a. O., S. 446. 18  Ebd. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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„Fremdbestimmtsein“ zu übersetzen. Naturgesetzliche Kausalitäten zeichnen sich bekanntlich durch heteronome Ursachen und Wirkungen dergestalt aus, dass „etwas anderes die wirkende Ursache zur Kausalität“19 bestimmt. Den obigen Heteronomiebegriff zugrunde legend kann der Wille aber auch heteronom sein, wenn er „über sich selbst hinausgeht, in der Beschaffenheit irgendeines seiner Objekte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll“20 und damit „praktische Vernunft (Wille) […] fremdes Interesse bloß administriere“21. Anders formuliert: Heteronom ist praktische Vernunft dann, wenn sie sich in den Dienst der Neigungsbefriedigung stellt und hierin in den Dienst naturkausaler Prozesse. Diese Form der Heteronomie schließt indes keineswegs aus, dass der sich solchermaßen in den Dienst stellende Wille selbst frei ist. Mit Blick auf die Analytizitätsthese bedeutet das: Sind Sittlichkeit und Willensfreiheit in begrifflicher Hinsicht analytisch verbunden und folglich in der Sache ein und dasselbe, muss sittliches Bewusstsein alle Willensvollzüge begleiten können. Im Lichte dieser Überlegung ist die Achtung des ‚ärgsten Bösewichts‘ nichts weniger als zwingend. Konnte plausibilisiert werden, dass in der GMS der Wille überhaupt frei und (dispositional) sittlich bestimmt ist, blieben bisher dennoch zwei zentrale Fragen unbeantwortet: Weshalb soll man erstens moralisch sein und somit dem kategorischen Imperativ Folge leisten, selbst wenn der Wille tatsächlich per se frei und immer (dispositional) sittlich bestimmt ist? Weshalb sollten wir nicht vielmehr unsere praktische Vernunft gänzlich in den Dienst unserer Neigungsbefriedigung stellen? Kant antwortet in der GMSIII m. E. in Form eines antiskeptischen Arguments, nach welchem wir bei Strafe fundamentalster Widersprüche den kategorischen Imperativ als oberstes praktisches Prinzip anerkennen müssen.22 Weshalb ist zweitens Freiheit eigentlich mit Sittlichkeit zu identifizieren, wenn der Wille eh immer schon frei ist? In einer Hinsicht hält Kant diese Frage prinzipiell für unbeantwortbar. Weshalb 19  Ebd. 20  A. a. O., S. 441. 21  Ebd. 22  Für diese These wird die Analyse der Sektion drei und vier Evidenzen liefern. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Vernunft als noumenale Ursache zu den spezifischen Äußerungen im empirischen und sittlichen Willen führt, würde nämlich die Einsicht in das kausale Verhältnis einer noumenalen Ursache zu ihrer sinnlichen Wirkung erfordern, was im transzendentalen System Kants prinzipiell ausgeschlossen ist.23 Die Konsequenzen dieser notwendigen Unkenntnis sind jedoch aufs engste mit der Antwort auf die erste Frage verknüpft: Warum moralisch sein? III. Das Freiheitsargument der zweiten Sektion Kehren wir vorerst zur zweiten Sektion zurück und werfen einen Blick auf ihr eigentliches Freiheitsargument und die es flankierenden Sätze. Die Analyse des Freiheitsarguments hat dabei das Ziel, für die folgende Interpretationsthesen zu argumentieren: Kant intendiert im Freiheitsargument sowie der gesamten zweiten Sektion keinen gültigen Beweis der menschlichen Willensfreiheit, präsentiert allerdings die Skizze einer Rechtfertigung der Autonomie der epistemisch-theoretischen Vernunft und deutet voraus, dass die Freiheit der praktischen Vernunft aus ersterer folgt.24 Der unmittelbare Kontext des Freiheitsbeweises sei zunächst zitiert: 1. Nun behaupte ich: dass wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, nothwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. 2. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Causalität in Ansehung ihrer Objecte hat. 3. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urtheile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Subject nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urtheilskraft zuschreiben. 23  Vgl. a. a. O., S. 458 f. 24  Vgl. Puls, Sittliches Bewusstsein und Kategorischer Imperativ, S. 56 f.; Oliver Sensens, „Die Begründung des kategorischen Imperativs“, in: Dieter Schönecker (Hrsg.), Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III. Neue Interpretationen, Münster: Mentis Verlag, 2015, S. 236 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Principien ansehen unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.25 Eine, wenn auch sehr vage gehaltene, Begründung von Vernunftautonomie liefert eigentlich nur Satz drei, wobei ihm, stark komprimiert, der folgende Gedanke zugrunde liegt: Vernunft muss sich in ihren Urteilen als ein autonomes Vermögen denken. Denn ein Urteil der Vernunft kann dem ihm inhärenten Wahrheits- bzw. Geltungsanspruch nur genügen, wenn es als ein Vollzug gedacht wird, dessen motivierende Gründe und Geltungsprinzipien aus ihr selbst stammen. Schauen wir uns nun den engeren Kontext dieses Arguments in Form der Sätze 1–4 an: In Satz 1 gilt die Freiheitsimplikation für ein vernünftiges, wollendes Wesen, unter welcher Voraussetzung dieses Wesen ‚allein handelt‘. Im zweiten Satz wird die Aussage aus dem ersten durch die Definition des Willens als praktische Vernunft begründet. Satz 3 thematisiert die Vernunft „in Ansehung ihrer Urtheile“.26 In Ansehung ihrer Urteile kann sich Vernunft unmöglich als ein Vermögen denken, das von „anderwärts her eine Lenkung empfinge“. Dem entspricht die unmögliche „Bestimmung der Urtheilskraft“ durch „Antriebe“. Die unmögliche äußere Lenkung bzw. der Bestimmung durch sinnliche Antriebe bezieht Kant also eindeutig auf die Vernunft im Urteilen bzw. auf ihre Urteilskraft. Satz 4 thematisiert wieder praktische Vernunft oder den Willen, wobei sich der erste Teilsatz („Sie […] Einflüsse […]“) sehr wahrscheinlich zumindest auch auf Satz 3 und damit auf die Vernunft im Urteilen bezieht. Das legt Kants Rede von den „fremden Einflüssen“ nahe, die ihre Entsprechung in der „äußeren Lenkung“ bzw. dem ‚Antrieb‘ aus Satz 3 hat. Der mögliche Einwand, Urteile seien auch für Handlungen konstitutiv, und Kant meine in Satz 4 folglich auch die 25  Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, S. 448. 26  Meine Hervorhebung. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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praktische Vernunft, trägt nicht. Denn auch in diesem Fall muss analytisch zwischen dem Urteil selbst und seiner Funktion z. B. als Willensbestimmung unterschieden werden. Akzeptiert man den grundsätzlichen Unterschied zwischen einem Urteil und dem Vollzug einer Kausalität, ist Freiheit zu urteilen folglich nicht per se kausale Freiheit. Kant beginnt die erste Sektion der GMSIII aber mit der Definition des Willens als einer „Art von Causalität lebender Wesen“.27 Die Wiederaufnahme der praktischen Vernunft wird im vierten Satz durch ein „folglich“ eingeleitet. Betrachtet man nur Satz 4, ist der so eingeleitete Schluss auf die Freiheit der praktischen Vernunft auch durchaus konsistent: Wenn sich Vernunft ganz allgemein („Sie“) als Ursprung ihrer Prinzipien ansehen muss, muss sie dies klarerweise auch als praktische Vernunft. Mit Blick auf Satz 3 erscheint Satz 4 jedoch inkonsistent. Denn entweder die zu Anfang des vierten Satzes angesprochene Vernunft („Sie“) ist die Vernunft im Urteilen. Dann ist der Schluss auf die praktische Vernunft unzulässig. Oder aber Kant meint zu Beginn des vierten Satzes die Vernunft überhaupt. Dann ist der Schluss von der Vernunft als Urteilsvermögen auf die Vernunft überhaupt unzulässig. Diese Inkonsistenz wird sich als eine nur scheinbare erweisen, spricht jedoch deutlich gegen die These eines von Kant intendierten echten Beweises der Willensfreiheit in Sektion 2. Kant selbst bestätigt das in aller Klarheit, wenn er gleich im ersten Satz der Sektion 3 betont, dass bisher, also auch in der Sektion 2, Willensfreiheit „als etwas Wirkliches nicht […] beweisen“28 werden konnte. Für das Verständnis der gesamten Deduktion viel wichtiger ist jedoch die Einsicht, dass Kant dort, wo er in Sektion 2 eine eigentliche Begründung der Freiheitszuschreibung liefert, er dies einzig für die Vernunft als Urteilsvermögen tut. Die Analyse der Sektion 2 legt im Resultat dennoch die Vermutung nahe, dass Kant in der zweiten Sektion den eigentlichen Begründungsgang bloß andeutet, den er ab der dritten Sektion durchführt. Dieser müsste in einem Schluss von der epistemischtheoretischen Vernunftfreiheit auf die praktische bestehen. 27  A. a. O., S. 446, meine Hervorhebung. 28  A. a. O., S. 448 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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IV. Der Zirkel und der Beweis der menschlichen Willensfreiheit Statt einer hier nicht möglichen genauen Rekonstruktion des komplexen Argumentationsgangs zu Anfang der Sektion 3 sei es erlaubt, meine Lesart der Passage bis zur ersten Zirkelformulierung komprimiert vorzustellen.29 Gleich zu Beginn der Sektion betont Kant, dass Sittlichkeit zwar Freiheit impliziere und letztere Implikation im Begriff des Willens sei, dass bisher jedoch Freiheit „in der menschlichen Natur“ noch nicht bewiesen sei. Aus der Zuschreibung von Willen und Freiheit „floß“ zwar die Forderung nach Universalisierbarkeit der Maxime. Weshalb wir uns als vernünftige und zugleich sinnliche Wesen dem sittlichen Prinzip, folglich dem kategorischen Imperativ unterwerfen sollen, blieb bisher aber unbeantwortet. Diese Unterwerfung würde ein objektiv notwendiges moralisches Interesse und Wollen voraussetzen.30 Notwendigkeit kann hier nicht moralisch verstanden werden, weil sie die Geltung des kategorischen Imperativs allererst begründen soll. Selbst wenn wir uns also per Willenszuschreibung notwendig Freiheit zusprechen müssen, wie Sektion 2 behauptet, und diese notwendig mit Sittlichkeit verbunden ist, beweist das immer noch nicht die Geltung des kategorischen Imperativs. M. E. liefert der eigentliche Freiheitsbeweis der dritten Sektion jedoch sehr wohl die entscheidende Voraussetzung für die Rechtfertigung des kategorischen Imperativs. Will man den Beweis nachzeichnen, ist es hilfreich, in einem ersten Schritt bestimmte Aspekte der ersten Zirkelformulierung zu betonen. Sie lautet: 29  Vgl. Porcheddu, Der Begriff des Zwecks an sich selbst in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 102‒110; zu einer sehr ausführlichen Diskussion des Zirkels nebst Forschungsbericht: Larissa Berger, „Der ‚Zirkel‘ im dritten Abschnitt der Grundlegung – Eine neue Interpretation und ein Literaturbericht“, in: Dieter Schönecker (Hrsg.), Kants Begründung von Freiheit und Moral in „Grundlegung“ III. Neue Interpretationen, Münster: Mentis Verlag 2015, S. 9–82. 30  Vgl.: „Warum aber soll ich mich denn diesem Princip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt […]? Ich will einräumen, daß mich hiezu kein Interesse treibt, denn das würde keinen kategorischen Imperativ geben; aber ich muß doch hieran nothwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht; denn dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen […].“ Kant, Grundlegung der Metaphysik zur Sitten, AA IV, S. 449. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Rocco Porcheddu Es zeigt sich hier […] eine Art von Cirkel […]. Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben; denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe, davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund anzugeben […].31

M. E. sollte die Betonung auf dem Verdacht liegen, dass Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen angenommen wird und folglich diese Freiheit bisher unausgewiesen blieb.32 Bevor dieser Ausweis der Freiheit Thema wird, ist jetzt die Gelegenheit gekommen, den „Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft“ in den Blick zu nehmen: Eine Metaphysik der Sitten definiert Kant in der Grundlegungsschrift als „bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit“33; und es scheint Kants Überzeugung zu sein, dass bisher nichts anderes geschehen ist als eine solche Explikation begrifflicher Implikationen, wie die Implikation der Sittlichkeit in der Freiheit und der Freiheit im Willen. Auf diesem Wege wurden seines Erachtens jedoch weder die menschliche Willensfreiheit noch die Geltung des kategorischen Imperativs erwiesen. In diesem Sinne ist Kants obige Rede von der Wechselbegrifflichkeit von ‚Freiheit und eigener Gesetzgebung des Willens‘ zu verstehen, die nicht zur Begründung weder der einen noch der anderen tauge. Was zum eigentlichen Geltungsbeweis fehlt, ist eine „Kritik der reinen praktischen Vernunft“.34 In einem Passus auf S. 441 identifiziert Kant eine „Kritik der reinen praktischen Vernunft“ mit 31  A. a. O., S. 450. 32  Vgl. Rocco Porcheddu, „Das Verhältnis von theoretischer und praktischer Freiheit in der Deduktion des kategorischen Imperativs“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 9, Berlin/New York: De Gruyter, 2013, S. 85; Rocco Porcheddu, Der Begriff des Zwecks an sich selbst in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 108. Rocco Porcheddu, „Wie argumentiert Kant in den Sektionen 2 und 3 des Deduktionskapitels der Grundlegung?“, in: Con-Textos Kantianos, Bd. 3, 2016, S. 238‒240. 33  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 440. 34  Vgl. Reinhard Brandt, „Der Zirkel im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, in: Hariolf Oberer und Gerhard Seel (Hrsg.), Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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einer „Kritik des Subjekts“, die für einen Geltungsbeweis des kategorischen Imperativs notwendig sei. In Anlehnung an die berühmte Definition des Begriffs der Kritik in der A-Vorrede der KrV könnte man eine Kritik der reinen praktischen Vernunft als die Rechtfertigung des kategorischen Imperativs als eines synthetischen Satzes über „die Bestimmung [..] der Quellen“ desselben in der reinen Vernunft beschreiben. In der dritten und vierten Sektion der GMSIII findet sich auch tatsächlich der Abriss einer „Kritik des Subjekts“, nämlich der Beweis der menschlichen Willensfreiheit und Geltung des kategorischen Imperativs im Rückgang auf die Konstitution der menschlichen Subjektivität und reinen Vernunft. Befinden wir uns nach dem Zirkel in der Metaphysik der Sitten, sollte uns nun also ein Beweis der Willensfreiheit aus der ursprünglichen Verfassung der reinen Vernunft-Subjektivität erwarten. Die Beweisschritte seien im Folgenden in groben Zügen nachgezeichnet: Zunächst erinnert Kant an die Unterscheidung von phänomenaler und noumenaler Ordnung und bindet beide an die jeweils zuständigen Vermögen von Sinnlichkeit und Spontaneität des Verstandes und der Vernunft.35 Im nächsten Schritt werden diese Ordnungen und zugeordneten epistemischen Vermögen auf die menschliche Subjektivität angewendet. Der Mensch ist in Kants Sicht sich selbst empirischer Gegenstand „durch innere Empfindung“ und es müsse ihm „sein Ich, wie es an sich selbst beschaffen sein mag“36, zugrunde gelegt werden. Das Zuschreiben einer solchen noumenalen Subjektivität, die zur intelligiblen Welt zählt, setzt voraus, dass der Mensch tatsächlich über rein spontan-apperzeptive Vorstellungen verfügt. Der Nachweis solcher rein spontanen Vorstellungen im Menschen läuft über die Ideen der Vernunft. Diese sind, noch mehr als die Vorstellungen des Verstandes, rein spontan, weil der Verstand durch die Ideen „weit über alles, was ihm [dem Verstand] Sinnlichkeit nur

Kant. Analysen – Probleme – Kritik, Würzburg: Königshausen und Neumann, 1988, S. 181. 35  Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 451. 36  Ebd. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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liefern kann, hinausgeht“.37 Die Ideen stellen ja nichts anderes als unzulässige Erweiterungen der Kategorien über das Empirische hinaus dar. Es ist jedoch eminent wichtig zu sehen, dass dieser Spontaneitätsnachweis über die Ideen ausschließlich der Vernunft als epistemischem Vermögen gilt; ihre Kausalität hingegen bleibt auch hier noch unausgewiesen. Da auch jüngste Forschungsbeiträge eine andere Position vertreten, sei für meine Interpretation kurz argumentiert. Der neunte Absatz lautet: Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen andern Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstände afficirt wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese, als reine Selbstthätigkeit, ist sogar darin noch über den Verstand erhoben: daß, obgleich dieser auch Selbstthätigkeit ist und nicht wie der Sinn bloß Vorstellungen enthält, die nur entspringen, wenn man von Dingen afficirt (mithin leidend) ist, er dennoch aus seiner Thätigkeit keine anderen Begriffe hervorbringen kann als die, so bloß dazu dienen, um die sinnlichen Vorstellungen unter Regeln zu bringen und sie dadurch in einem Bewußtsein zu vereinigen, ohne welchen Gebrauch der Sinnlichkeit er gar nichts denken würde, da hingegen die Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, daß sie dadurch weit über alles, was ihr Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht und ihr vornehmstes Geschäfte darin beweiset, Sinnenwelt und Verstandeswelt von einander zu unterscheiden, dadurch aber dem Verstande selbst seine Schranken vorzuzeichnen.38

Kants Thematisierung des Verstandes in diesem Passus entspricht einer zentralen Definition des Verstandesbegriffs in der A-Deduktion der ersten Kritik.39 Auch gemäß der Stelle der KrV ist der Verstand „Spontaneität der Erkenntniß […] im Gegensatz der Receptivität der Sinnlichkeit“, außerdem „ein Vermögen zu denken“ bzw. „ein Vermögen der Begriffe oder auch der Urtheile“.40 Diese Eigenschaften laufen in Kants Sicht auf die Bestimmung des Verstandes als Vermögen 37  Vgl. Rocco Porcheddu, Der Begriff des Zwecks an sich selbst in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 120 f. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 452. 38  Ebd. 39  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A125‒A129. 40  A. a. O., A 126. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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der Regeln bzw. Gesetze für die Sinnlichkeit hinaus. Schließlich findet sich in der Passage der KrV auch die im neunten Absatz der Sektion 3 angesprochene ‚Einheit des Bewusstseins‘ in Form der Einheit der Apperzeption wieder. Wie der Verstand des neunten Absatzes der Sektion 3 die „sinnlichen Vorstellungen“ durch seine Organisation ‚in einem Bewusstsein vereinigt‘, ist die Erscheinung „als Gegenstand der Erkenntniß in einer Erfahrung mit allem, was sie enthalten mag, […] nur in der Einheit der Apperception möglich“41. Im neunten Absatz Sektion 3 der GMSIII lesen wir also alle Merkmale der expressis verbis von Kant im Passus der ersten Kritik als umfassend vorgestellten Definition des Verstandes.42 Die Passage der KrV gehört noch zur Deduktion der Verstandesbegriffe, folglich in einen theoretisch-epistemologischen Kontext. Behandelt Kant in Absatz 9 den Verstand also als epistemisch-theoretisches Vermögen, ist es unwahrscheinlich, dass er in Absatz 9 die Vernunft als praktisches Vermögen anspricht. Wir sahen oben, dass es der Verstand ist, der durch die „Vernunft unter dem Namen der Ideen“ weit über die Sinnlichkeit hinausgeht. Ist der Verstand hier ein theoretisches Vermögen, muss es die den Verstand ‚hinaustreibende‘ Vernunft in dieser Funktion ebenfalls sein – zumindest liegt das sehr nahe.43 Den eigentlichen Schluss von der Freiheit der epistemischen zur Freiheit der praktischen Vernunft ermöglicht m. E. die Rede von der Vernunft, die „ihr vornehmstes Geschäft darin beweiset, Sinnenwelt und Verstandeswelt voneinander zu unterscheiden, dadurch aber dem Verstande selbst seine Schranken vorzuzeichnen“44. Die Vernunft, die in den Ideen den Verstand über die Erfahrungsgrenzen hinaustreibt, ist zugleich diejenige, die ihm seine Schranken vorzeichnet, und zwar durch die Unterscheidung von Sinnen- und Verstandeswelt. Der transzendentale Idealismus als Instrument zur Überwindung der dritten Antinomie trennt Sinnen- und Verstandeswelt und weist so dem Verstandesgesetz der Naturkausalität seinen Geltungsbereich zu. Aus Gründen, die seit langem in der 41  A. a. O., A 127. 42  Vgl. A. a. O., A 126. 43  Vgl. Porcheddu, „Kants Freiheitsargument“, S. 83. 44  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 452. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Forschung bekannt sind, hier jedoch nicht vertieft werden können, versteht Kant die Antinomienlehre als Herzstück dieses ‚vornehmsten Geschäfts‘ der Vernunft – was bedeutet, als das Herzstück der Kritik der reinen Vernunft.45 Es ist ebendieses kritische Geschäft, das selbst den Weg von der epistemischen zur praktischen Vernunftfreiheit weist. Der Anfang der Einführung der Zwei-Welten-Lehre ist ebenfalls noch Teil des Schlusses von der theoretischen zur praktischen Vernunftfreiheit: Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst, als Intelligenz […] zur Verstandeswelt gehörig […] ansehen; mithin hat es zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, einmal, sofern er zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, […] bloß in der Vernunft gegründet sind.46

Von entscheidender Bedeutung ist es zu verstehen, worauf genau sich die Wendung „[u]m deswillen“ bezieht. Grundsätzlich kommen hier mehrere Kandidaten infrage. In der m. E. konsistentesten Lesart bezieht sich „um deswillen“ auf das ‚vornehmste Geschäft‘ der Vernunft und muss zudem im Sinne von „zu diesem Zwecke“ gelesen werden.47 Zum Zweck des kritischen Geschäfts der Metaphysik- und Selbstkritik und damit der Einschränkung des Verstandes auf seinen Geltungsbereich über den transzendentalen Idealismus muss die Vernunft eine noumenale und phänomenale Ordnung annehmen und zugleich eine Kausalität und ontologische Fundierung des Noumenalen auf das Phänomenale. Wie in der „Auskunft“ gezeigt, darf 45  Vgl. Lothar Kreimendahl, „Die Antinomie der reinen Vernunft: Textkommentar zu KrV A 405/B meine Hervorhebung 432‒A, 461/B 489“, in: Georg Mohr und Marcus Willaschek (Hrsg.), Klassiker auslegen. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Berlin: Akademie Verlag, 1998, S. 413–446. Porcheddu, „Kants Freiheitsargument. Diskussion von Heiko Puls: „Sittliches Bewusstsein und Kategorischer Imperativ in Kants Grundlegung: Ein Kommentar zum dritten Abschnitt“. 46  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 452. 47  Vgl. Porcheddu, Der Begriff des Zwecks an sich selbst in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 121‒123. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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der Mensch sich selbst eine noumenale und phänomenale Subjektivität zuschreiben, damit eine Kausalität der ersten auf die zweite. Die noumenale Subjektivität ist nun nichts anderes als die reine Vernunft. Somit müssen wir um der konsistenten Selbstsicht der epistemischen Vernunft willen eine Kausalität der reinen Vernunft, also eine reine praktische Vernunft des Menschen annehmen. Hiermit ist der Beweis der menschlichen Willensfreiheit abgeschlossen. Die Interpretation des Ergebnisses aus der Analyse der zweiten Sektion findet sich im Ergebnis bestätigt: Wie in Sektion 2 angedeutet, führt Kant den Beweis der menschlichen Willensfreiheit in Form eines Schlusses von der epistemisch-theoretischen Vernunft auf die praktische. Dieser Freiheitsbeweis ist noch nicht der Geltungsausweis des kategorischen Imperativs, bildet allerdings die entscheidende Voraussetzung, wie gleich deutlich wird. V. Das geltungsbegründende Argument des kategorischen Imperativs in der vierten Sektion In der 4. Sektion des Deduktionskapitels mit der Überschrift „Wie sind kategorische Imperative möglich?“ formuliert Kant das abschließende Deduktionsargument. Der hier entscheidende Passus lautet: Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz zur Verstandeswelt, und bloß als eine zu dieser gehörige wirkende Ursache nennt es seine Causalität einen Willen. Von der anderen Seite ist es sich seiner doch auch als eines Stücks der Sinnenwelt bewußt, in welcher seine Handlungen, als bloße Erscheinungen jener Causalität, angetroffen werden, deren Möglichkeit aber aus dieser, die wir nicht kennen, nicht eingesehen werden kann, sondern an deren Statt jene Handlungen als bestimmt durch andere Erscheinungen, nämlich Begierden und Neigungen, als zur Sinnenwelt gehörig eingesehen werden müssen. Als bloßen Gliedes der Verstandeswelt würden also alle meine Handlungen dem Princip der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäß sein; als bloßen Stücks der Sinnenwelt würden sie gänzlich dem Naturgesetz der Begierden und Neigungen […] gemäß genommen werden müssen. […] Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört)

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Rocco Porcheddu unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, […] und also der Autonomie des Willens unterworfen […] ansehen müssen.48

Weil der Wille zwar „ganz zur Verstandeswelt gehört“, seine Vollzüge beim Menschen jedoch immer auch eine sinnliche Seite haben, müssen Willensvollzüge das von der Vernunft geforderte ontologische Fundierungsverhältnis der noumenalen Ordnung für die phänomenale ebenfalls aufweisen. Handeln nach dem kategorischen Imperativ träg exakt dieser Vernunftforderung Rechnung: Er organisiert und selektiert das immer auch empirisch-sinnlich konstituierte Handeln des Menschen nach einem reinen Vernunftgesetz, einem Gesetz der noumenalen Ordnung. Sich einen Willen, sich praktische Vernunft zuzuschreiben, bedeutet also notwendig, den kategorischen Imperativ anzuerkennen. Eine in der Forschung meines Wissens bisher gänzlich unbeachtete Eigentümlichkeit des Geltungsbegründungsarguments betrifft Kants Rede von den Handlungen als ‚bloße Erscheinungen jener Kausalität‘. Statt der eigentlich notwendigen mikroskopischen Analyse, die ich anderorts durchgeführt habe49, sei es gestattet, meine Interpretation in Form der folgenden Paraphrase wiederzugeben: Das vernünftige Wesen nennt nur seine Kausalität als Intelligenz einen Willen. Die Handlungen des vernünftigen Wesen ‚als eines Stücks der Sinnenwelt‘ sind Erscheinungen der Kausalität seiner Selbst als Intelligenz, also Erscheinungen seines Willens. Seine Handlungen als Teil der Sinnenwelt können als diese Erscheinungen aus der noumenalen Kausalität nicht eingesehen werden. Stattdessen müssen wir die sinnlich bedingten Handlungen naturkausal erklären, was bedeutet, durch Neigungen und Begierden.

48  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 453, meine Hervorhebung. 49  Vgl. Porcheddu, Der Begriff des Zwecks an sich selbst in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 126‒130. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Es sei wiederholt: Der Wille ist gänzlich noumenal und zugleich die unbegreifliche transzendentale Ursache empirischen Handelns, welches folglich Erscheinung des Willens ist. Es gestaltet sich einigermaßen schwierig, diesen Gedanken von den sinnlich bedingten Handlungen als Erscheinungen des Willens mit der Analytizitätsthese in Einklang zu bringen. Eine auch nur vage Einsicht in die zugrundeliegenden systematischen Zusammenhänge kommt jedoch in keinem Fall ohne Einblicke in die Charakterlehre des Antinomienkapitels der ersten Kritik aus – welche Einblicke hier angebahnt werden sollen. VI. Kants Charakterlehre in der ersten Kritik In einer der Charakterlehre vorhergehenden Passage spricht Kant der freien Willkür bereits praktisch-transzendentale Freiheit zu50 und ich werde davon ausgehen, dass die freie bzw. menschliche Willkür in den für diese Untersuchung relevanten Passagen der KrV weitestgehend identisch mit dem Willen überhaupt in der GMS ist. Bei der Charakterlehre handelt es sich um ein dunkles Theoriestück und weder ihr Zusammenhang mit anderen Theoremen der KrV, noch seine interne Konsistenz sind unzweifelhaft.51 Ihre Untersuchung soll denn auch nur bis zu dem Punkt gehen, an welchem wir durch sie Kants Rede von „Handlungen als bloße[n] Erscheinungen“52 des Willens in der GMSIII verstehen. 50  „Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit […] Die menschliche Willkür ist […] arbitrium […] liberum, weil […] dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen. [Absatz] Man sieht leicht, dass, wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre […] so würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen […]“. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 534 f./B 562 f. 51  Vgl. Wolfgang Ertl, Kants Auflösung der „dritten Antinomie“. Zur Bedeutung des Schöpferkonzepts für die Freiheitslehre, München: Karl Alber, 1998, S. 38‒86 und 176‒201. 52  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 453. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Kant definiert Charakter im neunten Abschnitt der Antinomienlehre53 als „Gesetz der Kausalität“ einer „wirkenden Ursache“54 und unterscheidet zwischen einem empirischen und einem intelligiblen Charakter. Zwar untersteht der empirische Charakter für sich genommen notwendig dem Prinzip der Naturkausalität. Er ist mit diesem aber nicht einfachhin gleichzusetzen, sondern vielmehr eine Art zu erschließendes Prinzip des systematischen Zusammenhangs beobachtbarer Handlungen, denen wir Willkür unterstellen. Den intelligiblen Charakter versteht Kant als dasjenige Prinzip, nach welchem eine nichtsinnliche Ursache, hier der Mensch als noumenales Subjekt, „zwar Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist, […] aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht, und selbst nicht Erscheinung ist“55, wobei ‚jene Handlungen‘ die beobachtbaren Handlungen sind, die auch den empirischen Charakter ausdrücken. Werfen wir nun einen näheren Blick auf das Verhältnis des intelligiblen zum empirischen Charakter: So hat denn jeder Mensch einen empirischen Charakter seiner Willkür, welcher nichts anders ist, als eine gewisse Causalität seiner Vernunft, so fern diese an ihren Wirkungen in der Erscheinung eine Regel zeigt, darnach man die Vernunftgründe und die Handlungen derselben nach ihrer Art und ihren Graden abnehmen und die subjectiven Principien seiner Willkür beurtheilen kann.56

Ich schlage vor, „die Wirkungen in der Erscheinung“ der Vernunftkausalität als beobachtbare Handlungen zu interpretieren. Diese Handlungen zeigen demnach eine Regel, von welcher man auf Vernunftgründe schließen kann und darüber hinaus auch Art und Grad der Vernünftigkeit ersichtlich wird. Nach letzteren können die Prinzipien der Willkür des Menschen beurteilt werden, d. h. welcher Art von Rationalität, empirisch bedingt oder sittlich, und entsprechend ihr Grad – bedingte oder unbedingte Rationalität – 53  Vgl.: „Vom empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der Vernunft, in Ansehung der kosmologischen Ideen“, Kritik der reinen Vernunft, A 551/B 544‒A 558/B 586. 54  A. a. O., A 539/B 567. 55  Ebd. 56  A. a. O., A 549/B 577. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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angenommen werden kann. Das genauere Verhältnis von empirischem und intelligiblem Charakter müssen wir uns dabei folgendermaßen denken: Ist der empirische Charakter ein naturkausales Prinzip des Zusammenhangs beobachtbarer Handlungen und unterstellen wir ihnen, wie wir dies beim Menschen dürfen, auch einen intelligiblen Charakter, muss der empirische Charakter zugleich als „Erscheinung“ des intelligiblen gedacht werden. In diesem Fall werden dieselben beobachtbaren Handlungen als Ausdruck eines naturkausalen und eines rational-noumenalen Prinzips gedacht. Der folgende Passus bestätigt diese Lesart: Dieser [der empirische Charakter] ist […] im intelligiblen Charakter (der Denkungsart) bestimmt. Die letztere [Denkungsart] kennen wir aber nicht, sondern bezeichnen sie durch Erscheinungen, welche eigentlich nur die Sinnenwelt (empirischer Charakter) unmittelbar zu erkennen geben. Die Handlung nun, sofern sie der Denkungsart, als ihrer Ursache, beizumessen ist, erfolgt dennoch […] nicht nach empirischen Gesetzen […].57

Wir kennen also den intelligiblen Charakter (die Denkungsart) nicht, sondern „bezeichnen“ ihn durch den empirischen Charakter. Wir führen den systematischen Zusammenhang beobachtbarer Handlungen also nicht, wie wir dies auch tun müssen, auf naturkausale Determination zurück, sondern auf Vernunft, welche zugleich unbekannte Ursache und Prinzip der Handlungen ist. Es konnte nun zwar ein wenig Licht in das Verhältnis von intelligiblem und empirischem Charakter gebracht werden. Die Frage nach dem genauen Zusammenhang zwischen intelligiblem Charakter und Moralität blieb bisher aber noch unbeantwortet. Gegen Ende der Charakterlehre gibt Kant jedoch ein Beispiel, das den intelligiblen Charakter und die moralische Zurechenbarkeit deutlicher als bisher einander zuordnet: Um das regulative Prinzip der Vernunft durch ein Beispiel aus dem empirischen Gebrauch desselben zu erläutern […] nehme man eine willkürliche Handlung, z. E. eine boshafte Lüge, durch die ein Mensch eine gewisse Verwirrung in eine Gesellschaft gebracht hat. 57  A. a. O., A 551/B 579. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Rocco Porcheddu In der ersten Absicht geht man seinen empirischen Charakter bis zu den Quellen desselben durch, die man in der schlechten Erziehung […], zum Teil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells, aufsucht […]. Ob man nun gleich die Handlung dadurch bestimmt zu sein glaubt: so tadelt man nichts desto weniger den Täter […]. Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen […] anders habe bestimmen können und sollen. […] die Handlung wird seinem intelligiblen Charakter beigemessen, er hat jetzt, […] da er lügt, gänzlich Schuld, mithin war die Vernunft […] völlig frei, und ihre Unterlassung ist dieser ganz beizumessen. […] sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar […] in Ansehung desselben. Daher kann man nicht fragen: warum hat sich nicht die Vernunft anders bestimmt? Sondern nur: warum hat sie die Erscheinung durch ihre Kausalität nicht anders bestimmt? Darauf aber ist keine Antwort möglich.58

Hier tritt Vernunft also einmal als Ursache und dann als ‚regulatives Prinzip‘ und schließlich als Charakter selbst auf. Außerdem hätten Handlungen aus Vernunft „anders sein können und sollen“, sind also nicht determiniert und unterstehen einem normativen Prinzip. Nun schreibt Kant im Zitat der bösen Handlung eindeutig einen intelligiblen Charakter zu, der ja die Grundlage ihrer moralischen Zurechenbarkeit bildet. Weil die böse Handlung diesen auch hat, kann sie nach Vernunftmaßstäben gemessen werden. Diejenige Rationalität, welcher wir sozusagen in beschreibender Perspektive Handlungen beilegen (Vernunft als Ursache der Handlungen), bewertet sie zugleich. Gehen wir davon aus, dass der kategorische Imperativ letztlich nichts anderes fordert als unbedingte praktische Rationalität,59 dann ist die in der ‚Intelligibilitätsunterstellung‘ implizierte Rationalitätsforderung zugleich eine Moralitätsforderung – zumindest unter der Voraussetzung einer, wie ich sie nennen möchte, ‚Kontinuitätsthese‘ zur praktischen Vernunft, der Ansicht also, dass kein Hiat zwischen Zweckrationalität und moralischer Rationalität besteht.60 Die obigen Ausführungen zur Analytizitätsthese 58  A. a. O., A554 f./B582 f. 59  Vgl. Porcheddu, Der Begriff des Zwecks an sich selbst in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 36‒41. 60  Vgl. Porcheddu, „Nagels Standpunkt der Entscheidung und Kants Faktum“. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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konnten diese ‚Kontinuitätsthese‘ bereits ein wenig plausibilisieren, indem dafür argumentiert wurde, dass dem Willen überhaupt aufgrund seiner transzendentalen Freiheit und der mit dieser notwendig verknüpften Moralität (Analytizitätsthese) per se eine Moralitätsforderung eigen sein muss, die in der Achtung für das praktische Gesetz ihren Ausdruck findet. Aber auch Kants Thematisierung des Imperativs in der Charakterlehre kann m. E. im Sinne der Kontinuitätsthese gelesen werden.61 Zu klären ist noch, weshalb Kant Vernunft im Zitat als regulatives Prinzip anspricht. Im ersten Abschnitt des Anhangs zur transzendentalen Dialektik („Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft“) finden wir u. a. die folgende Beschreibung der Vernunftideen in ihrer regulativen Funktion: Übersehen wir unsere Verstandeserkenntnisse […], so finden wir, daß dasjenige, was Vernunft ganz eigenthümlich darüber […] zu Stande zu bringen sucht, das Systematische der Erkenntniß sei, d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Princip. Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntniß, welches […] die Bedingungen enthält, jedem Theile seine Stelle und Verhältniß zu den übrigen a priori zu bestimmen. Diese Idee postulirt demnach vollständige Einheit der Verstandeserkenntniß, wodurch diese […] ein nach nothwendigen Gesetzen zusammenhängendes System wird.62

Es wird schnell deutlich, dass der kategorische Imperativ den im Zitat formulierten Kriterien der regulativen Funktion einer Vernunftidee genügt. Er stellt einen ‚Gegenstand‘ (Vernunft als noumenale Ursache) einzig in systematisierender Funktion vor, nämlich als Prinzip eines Systems von Handlungen und Handlungsgrundsätzen. Soll die Idee auch als regulatives Prinzip Vernunftkausalität vorstellen, also Freiheit, muss sie freilich auch den sie definierenden Aspekten genügen. Sie muss Vernunft als Ursache einer empirischen Reihe vorstellen (die beobachtbaren Handlungen) und die Form eines praktischen Satzes annehmen. Sittlichkeit muss als Idee 61  Vgl. Porcheddu, Der Begriff des Zwecks an sich selbst in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 133‒135. 62  Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 644 f./B 672 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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transzendentaler Freiheit zudem die im transzendentalen Idealismus vorgegebene Struktur einer Fundierung des Empirischen durch das Intelligible ausdrücken.63 Handeln nach dem kategorischen Imperativ weist, wie gesehen, exakt diese Struktur auf: Der Mensch ‚fundiert‘ sein empirisches Handeln durch die Idee einer Kausalität seiner selbst als Noumenon. Der Umstand, dass es sich beim regulativen Prinzip um die Idee der Freiheit handelt, macht folglich die deskriptiv-normative Doppelfunktion einsichtig. Sittlichkeit kann also als Selbstreflexivität der praktischen Vernunft beschrieben werden: Sie wiederholt ihre eigene Kausalität, deren Ursprung ihr selbst innerhalb menschlicher Grenzen unbekannt ist, innerhalb ebendieser Grenzen – als regulatives, praktisches Prinzip. Bibliographie Berger, Larissa, „Der ‚Zirkel‘ im dritten Abschnitt der Grundlegung – Eine neue Interpretation und ein Literaturbericht“, in: Dieter Schönecker (Hrsg.), Kants Begründung von Freiheit und Moral in „Grundlegung“ III. Neue Interpretationen, Münster: Mentis Verlag, 2015, S. 9–82. Brandt, Reinhard, „Der Zirkel im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, in: H. Oberer und G. Seel (Hrsg.), Kant. Analysen – Probleme – Kritik, Würzburg: Königshausen und Neumann 1988, S. 169–191. Ertl, Wolfgang, Kants Auflösung der „dritten Antinomie“. Zur Bedeutung des Schöpferkonzepts für die Freiheitslehre, München: Karl Alber, 1998. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV. –: Kritik der praktischen Vernunft, AA V. –: Kritik der reinen Vernunft, zitiert nach Originalpaginierung A/B. Kreimendahl, Lothar, „Die Antinomie der reinen Vernunft: Textkommentar zu KrV A 405/B 432‒A, 461/B 489“, in: Georg Mohr und Markus Willaschek (Hrsg.), Klassiker auslegen. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Berlin: Akademie Verlag, 1998, S. 413–446. 63  Vgl. a. a. O., A 537/B 565. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Porcheddu, Rocco, „Das Verhältnis von theoretischer und praktischer Freiheit in der Deduktion des kategorischen Imperativs“, in: Interna­tionales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 9, Berlin/New York: De Gruyter, 2013, S. 79‒99. –: Der Begriff des Zwecks an sich selbst in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, Kant-Studien ‒ Ergänzungshefte, Bd. 186, Berlin/New York: De Gruyter, 2016. –: „Wie argumentiert Kant in den Sektionen 2 und 3 des Deduktionskapitels der Grundlegung?“, in: Con-Textos Kantianos, Bd. 3, 2016, S. 231‒252. –: „Nagels Standpunkt der Entscheidung und Kants Faktum. Überlegungen und Beobachtungen zur Begründung des kategorischen Imperativs in der KpV“, in: Violetta L. Waibel, Margit Ruffing und David Wagner (Hrsg.), Natur und Freiheit: Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin/New York: De Gruyter, 2018, S. 2093‒2105. –: „Kants Freiheitsargument. Diskussion von Heiko Puls: „Sittliches Bewusstsein und Kategorischer Imperativ in Kants Grundlegung: Ein Kommentar zum dritten Abschnitt“ in: Kantian Journal / Kantovsky Sbornik, 2018, S. 64–89. Puls, Heiko, Sittliches Bewusstsein und Kategorischer Imperativ in Kants Grundlegung: Ein Kommentar zum dritten Abschnitt, Berlin/New York: De Gruyter, 2016. Schönecker, Dieter, Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs, Freiburg/München: Karl Alber, 1999, S. 147‒195. –: „Das gefühlte Faktum der Vernunft. Skizze einer Interpretation und Verteidigung“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 61 (1), 2013, S. 91‒107. –: (Hrsg.), Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III. Neue Interpretatione, Münster: Mentis Verlag, 2015. Sensens, Oliver, „Die Begründung des kategorischen Imperativs“, in: Dieter Schönecker (Hrsg.), Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III. Neue Interpretationen. Münster: Mentis Verlag, 2015, 23‒256.

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Von der Aufforderung zur Sprache in Fichtes Wissenschaftslehre 1. Der Übergang vom Ich zur Sprache in der Wissenschaftslehre In § 18 des Systems der Sittenlehre von 1798 gibt Fichte eine „Systematische Aufstellung der Bedingungen der Ichheit, in ihrer Beziehung auf den Trieb nach absoluter Selbstständigkeit“.1 Es werden insgesamt drei Bedingungen genannt, die erfüllt sein müssen, damit die absolute Selbstständigkeit des Ich möglich ist: Erstens muss das Ich über einen materiellen Leib verfügen, um in der empirischen Welt, der Natur, wirksam sein zu können. Zweitens muss das Ich als Intelligenz verstanden werden, d. h. es muss mit Erkenntnisvermögen ausgestattet sein. Und drittens muss das Ich sich als Individuum setzen. Diese dritte These wird folgendermaßen weiter begründet: Das Ich kann sich seiner eigenen Freiheit oder Selbsttätigkeit nur bewusst sein, wenn es auf sich selbst als auf ein Objekt reflektieren kann. Das ist aber nur dann möglich, wenn es sich als ein Objekt gegeben ist, was, wie bei jedem anderen Objekt, voraussetzt, dass ein Anstoß von außen erfolgt. Im Fall des Ich muss der Anstoß jedoch eine spezifische Form aufweisen: Er muss in einer Aufforderung bestehen, die als solche nur durch ein anderes vernünftiges, freies Wesen vorgenommen werden kann: Ich kann diese Auffoderung zur Selbstthätigkeit nicht begreifen, ohne sie einem wirklichen Wesen außer mir zuzuschreiben, das mir einen Begriff, eben von der gefoderten Handlung, mittheilen wollte; das sonach des Begriffs vom Begriffe fähig ist; ein solches aber ist ein vernünftiges, ein sich selbst als Ich setzendes Wesen, also ein Ich. […]

1  So lautet die Paragraphenüberschrift in Fichte, Das System der Sittenlehre, GA I/5, S. 194. Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova © wilhelmJindrich fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764022_003

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silvan imhof Es ist Bedingung des Selbstbewußtseyns, der Ichheit, ein wirkliches vernünftiges Wesen außer sich anzunehmen.2

Was Fichte hier – wie zuvor bereits in der Grundlage des Naturrechts und in der Wissenschaftslehre nova methodo – vollzieht, ist ein systematischer Übergang von der abstrakten Ichheit zu einer Gemeinschaft vernünftiger, freier Individuen. Es wird a priori nachgewiesen, „daß ein vernünftiges Wesen nicht im isolirten Zustande vernünftig wird, sondern daß wenigstens Ein Individuum außer ihm angenommen werden muß, welches dasselbe zur Freiheit erhebe“.3 Es gehört somit zu den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit der Ichheit, dass ein interpersonales Verhältnis vernünftiger, freier Individuen besteht. Dass Fichte mit seiner Interpersonalitätslehre eine theoretische Pionierleistung vollbringt, ist allgemein anerkannt. Kaum in Betracht gezogen wurde hingegen, dass bei diesem Übergang der Sprache eine systematisch wesentliche Rolle zukommt. In der Tat ist dies in Fichtes Texten nicht ohne weiteres erkennbar. So ist in der erwähnten Passage aus der Sittenlehre keine Rede von der Sprache. Immerhin deutet Fichtes Feststellung, die Aufforderung bestehe darin, dass mir ein anderes Wesen „einen Begriff, eben von der gefoderten Handlung, mittheilen wollte“,4 darauf hin, dass die Aufforderung als kommunikative Handlung zu verstehen ist. Und in seinen Vorlesungen über Platners Aphorismen von 1796 stellt Fichte ausdrücklich einen systematischen Zusammenhang von Mitteilung (Kommunikation) und Zeichengebrauch (Sprache) her: „Aber ich kann auf ein freies Wesen ausser mir schliessen nur durch Mittheilung einer Erkenntniß. […] Aber eine Erkenntniß läßt sich nur mittheilen durch ein Zeichen[.] […] Diese Wechselwirkung durch Zeichen ist Bedingung der Menschheit.“5 So formuliert, erscheint Sprache als eine transzendental notwendige Bedingung der Möglichkeit der Anerkennung anderer vernünftiger, freier Wesen und damit mittelbar der Ichheit. 2  A. a. O., S. 201. 3  Ebd. 4  Ebd., meine Hervorhebung. 5  Fichte, Vorlesungen über Platners Aphorismen, GA II/4, S. 159. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Eine Deduktion der Sprache ist dementsprechend als ein integraler Bestandteil des Systems der Wissenschaftslehre anzusehen. In meinem Beitrag werde ich den hier von Fichte nahegelegten systematischen Zusammenhang zwischen Aufforderung und Sprache rekonstruieren. Dabei werde ich zeigen, dass Sprache zum Vollzug der Aufforderung notwendig ist, genauer, dass die Aufforderung per se eine sprachliche Handlung sein muss. Zu diesem Zweck werde ich in Abschnitt 2 Fichtes Deduktion der interpersonalen Anerkennung im ersten Hauptstück der Grundlage des Naturrechts skizzieren, um auf dieser Grundlage in Abschnitt 3 die Bedingungen der Aufforderung zu formulieren. Im 4. Abschnitt werde ich dann zeigen, dass die Bedingungen der Aufforderung nur durch sprachliche Handlungen erfüllt werden, und zwar auf der Basis von Fichtes eigener Konzeption von Sprache, die er vor allem in seinem Aufsatz „Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache“ von 1795 präsentiert. Insgesamt geht es mir, wie gesagt, um eine systematische Rekonstruktion des Bedingungszusammenhangs von Sprache, Mitteilung, Aufforderung und freier Selbstbestimmung. 2. Die Deduktion der interpersonalen Anerkennung in der Grundlage des Naturrechts Wie Fichtes Bemerkung aus den Vorlesungen über Platners Aphorismen nahelegt, kommt der Begriff der Sprache im Kontext der Theorie der gegenseitigen Anerkennung freier Vernunftwesen, also der Interpersonalitätslehre ins Spiel. Im Gesamtsystem der Wissenschaftslehre steht diese in einem direkten Begründungs- und Bedingungszusammenhang mit der These der Selbstsetzung des Ich. Sofern Sprache unter den Bedingungen der Möglichkeit interpersonaler Anerkennung figuriert, besteht daher ebenfalls ein Begründungs- und Bedingungszusammenhang zwischen Selbstsetzung und Sprache, das heißt: Selbstsetzung ist nicht möglich ohne Sprache. Die Interpersonalitätslehre gehört zur praktischen Wissenschaftslehre, die es mit der Ermittlung der Bedingungen zu tun hat, unter denen die Bestimmung des Objekts durch das Subjekt möglich ist. An diesem Punkt setzt das erste Hauptstück der Grundlage des Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Naturrechts ein, das die Ableitung des Begriffs des Rechts zum Ziel hat. Der Weg zu diesem Ziel führt über die Interpersonalitätslehre (§§ 1–3). Fichtes Deduktion beginnt in § 1 mit einem ersten Lehrsatz, der besagt, dass die Zuschreibung einer freien Wirksamkeit Bedingung der Selbstsetzung eines Ich ist: „Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben.“6 Die Notwendigkeit der Zuschreibung einer freien Wirksamkeit ergibt sich aus folgender Überlegung: Wenn Selbstsetzung möglich sein soll, muss eine Bestimmung des Objekts durch das Subjekt möglich sein. Dies folgt direkt aus der durch die drei Fundamentalsätze der Wissenschaftslehre entfalteten Konstellation der wechselseitigen Bestimmung von Subjekt und Objekt. Bei der Bestimmung des Objekts durch das Subjekt kann es sich aber nicht um eine ide­ ale Bestimmung des Objekts durch das Subjekt handeln, die bloß in einer begrifflichen Bestimmung des Objekts einer Vorstellung bestehen würde. Gefordert ist vielmehr die reale Bestimmung des Objekts, dessen wirkliche Veränderung durch das Subjekt. Eine solche findet dann statt, wenn eine Veränderung des Objekts deshalb erfolgt, weil das Subjekt eine Veränderung beabsichtigt hat. Dabei hat das Subjekt eine Vorstellung von einer bestimmten Veränderung des Objekts, verbunden mit der Absicht, die Veränderung zu realisieren. Wenn aber die Absicht des Subjekts, die Veränderung zu realisieren, der Grund für die wirkliche Veränderung sein soll, muss sich das Subjekt eine reale Wirksamkeit in Bezug auf das intendierte Objekt zuschreiben können. Nur wenn das Subjekt sich als reale Ursache der Veränderung des Objekts begreifen kann, kann es die Absicht haben, das Objekt zu verändern. Diese Wirksamkeit ist insofern frei, als ihr Bestimmungsgrund im Subjekt selbst liegt. Im Gegensatz zur Erkenntnis, bei der die Bestimmung der Vorstellung des Objekts von der Beschaffenheit des Objekts abhängt, hängt bei der freien Wirksamkeit die Beschaffenheit des Objekts von der Bestimmung 6  Fichte, Grundlage des Naturrechts, GA I/3, S. 329. Zum Folgenden vgl. die Beiträge von Frederick Neuhouser, Claude Piché und Axel Honneth in Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts, hg. von Jean-Christophe Merle, Berlin: Akademie, 2001. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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der Absicht des Subjekts durch das Subjekt selbst ab. Die veränderte reale Beschaffenheit des Objekts ist die Folge der Realisierung einer frei gefassten Absicht bzw. eines frei gefassten Zweckbegriffs durch das Subjekt. Soll das Subjekt sich freie Wirksamkeit zuschreiben, folgt unmittelbar, dass auch die Objekte, auf die es einwirken können soll, vorausgesetzt, das heißt, als reale Objekte gesetzt werden müssen. Objekte, auf die sich die Wirksamkeit des Subjekts richten kann, können nicht Objekte sein, die es bloß vorstellt, sondern sie müssen als unabhängig vom Subjekt existierende, reale Objekte gesetzt sein. Objekte in diesem Sinn sind die empirischen Objekte, die insgesamt die natürliche Welt der dem Subjekt in der sinnlichen Erkenntnis gegebenen, jedoch unabhängig von ihrer Erkenntnis existierenden Dinge ausmachen. Dementsprechend formuliert Fichte in § 2 den Folgesatz: „Durch dieses Setzen seines Vermögens zur freien Wirksamkeit sezt, und bestimmt das Vernunftwesen eine Sinnenwelt ausser sich.“7 In § 3 muss Fichte feststellen, dass das bis zu diesem Punkt Erreichte in einen Zirkel führt. Denn das Subjekt kann sich freie Wirksamkeit nur dann zuschreiben, wenn es über den Begriff seiner freien Wirksamkeit verfügt, diesen Begriff kann es aber nur durch einen Akt der Reflexion erhalten. Ein solcher muss sich auf ein Objekt beziehen, durch das die freie Wirksamkeit gegeben ist. Da nur ein Subjekt über freie Wirksamkeit verfügen kann, müsste das frei wirksame Subjekt als Objekt erscheinen. Das bedeutet, dass das Subjekt sich nur dann freie Wirksamkeit zuschreiben kann, wenn es sich, indem es auf sich selbst als Objekt reflektiert, als frei wirksam erkennen kann. Als frei wirksam kann es sich aber nur erkennen, wenn es sich freie Wirksamkeit bereits zugeschrieben hat. Die Möglichkeit, sich selbst freie Wirksamkeit zuzuschreiben, hängt also offenbar davon ab, dass das Ich über einen Begriff der freien Wirksamkeit verfügt; diesen kann es aber nur dann erhalten, wenn es sich selbst als frei wirksam gegeben ist und sich folglich bereits freie Wirksamkeit zugeschrieben hat. 7  Fichte, Grundlage des Naturrechts, GA I/3, S. 335. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Die Auflösung dieses Zirkels – bei dem es sich offensichtlich um einen für die Wissenschaftslehre typischen produktiven Zirkel handelt – bildet den eigentlichen Kern von Fichtes Beweis für die Notwendigkeit des Setzens anderer Subjekte. Gefordert ist nämlich, dass die freie Wirksamkeit des Subjekts dem reflektierenden Subjekt als Objekt gegeben ist. Dies führt dann zu einem Zirkel, wenn die gegebene Wirksamkeit mit der Wirksamkeit des reflektierenden Subjekts identisch ist: Das Subjekt müsste dann immer schon frei wirksam sein, um sich als frei wirksam setzen zu können. Der Zirkel verschwindet jedoch, wenn die als Objekt gegebene Wirksamkeit nicht die Wirksamkeit des reflektierenden Subjekts, sondern die freie Wirksamkeit eines vom reflektierenden Subjekt verschiedenen Subjekts ist. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit der Selbstzuschreibung der freien Wirksamkeit setzt die Existenz eines anderen Subjekts voraus, das dem reflektierenden Subjekt als äußeres Objekt, in dem die freie Wirksamkeit erkennbar ist, erscheint. Diese Folgerung wird im zweiten Lehrsatz in § 3 festgehalten: „Das endliche Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt sich selbst nicht zuschreiben, ohne sie auch andern zuzuschreiben, mithin, auch andere endliche Vernunftwesen ausser sich anzunehmen.“8 Andere endliche Vernunftwesen oder individuelle Subjekte müssen also angenommen werden, weil andernfalls die Selbstzuschreibung einer freien Tätigkeit und somit mittelbar die Möglichkeit der Selbstsetzung nicht erklärt werden kann. Damit ein Subjekt sich selbst als Individuum begreifen kann, bedarf es eines äußeren Anstoßes: Es muss durch ein anderes Subjekt aufgefordert werden, seine eigene Tätigkeit zu bestimmen. Auf diese Weise ist der Erklärungszirkel zwar aufgelöst, doch es entsteht sogleich ein neues Problem: Ein anderes Subjekt kann nur insofern gegeben sein, als es in der Sinnenwelt erscheint, und kann daher zunächst nur als empirisches Objekt erscheinen. Wenn aber das andere Subjekt nur als empirisches Objekt erkannt werden könnte, könnte seine Wirkung auf ein Subjekt bloß empirisch-kausaler Natur sein, und darin wäre nicht die freie Wirksamkeit eines Subjekts erkennbar. Die Frage ist daher, wie es möglich ist, dass ein 8  A. a. O., S. 340. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Subjekt in einigen empirischen Objekten andere Subjekte bzw. deren Wirksamkeit erkennen kann. Fichtes Antwort lautet, dass dies möglich ist, wenn einem Subjekt durch ein Objekt ein Begriff, und zwar ein Begriff der freien Wirksamkeit gegeben wird.9 In diesem Fall ist für das Subjekt erkennbar, dass dem erscheinenden Objekt ein Handeln nach Begriffen zugrunde liegt, und zwar nach Begriffen, die auf das Handeln des Subjekts selbst Bezug nehmen: Indem dem Subjekt ein Begriff gegeben wird, wird darauf gerechnet, dass sich das Subjekt durch Begriffe selbst bestimmen kann und dass das Subjekt gemäß den ihm gegebenen Begriffen seine Wirkungsweise verändern kann. Das Subjekt sieht sich also dadurch, dass ihm ein Begriff gegeben wird, dazu aufgefordert, seine Wirksamkeit gemäß diesem Begriff zu verändern. Bezieht es den ihm durch das andere Subjekt gegebenen Begriff in die Bestimmung seiner Handlungsweise mit ein, anerkennt es damit ein anderes Wesen als vernünftiges Individuum. Umgekehrt kann sich das Subjekt durch dieses andere Wesen gleichfalls als vernünftiges Individuum anerkannt sehen. Denn damit, dass ihm ein Begriff gegeben wird, aufgrund dessen es seine Tätigkeit verändern soll, wird auf eine autonome, rationale Reaktion gerechnet, das heißt, das aufgeforderte Subjekt wird dadurch, dass es aufgefordert wird, als selbstbestimmtes, vernünftiges Wesen behandelt. Die Aufforderung ist also sowohl Grundlage der Anerkennung anderer vernünftiger Individuen, wie auch ursprünglicher Grund für die Selbstbestimmung eines Subjekts. 3. Die Bedingungen der Aufforderung Bis hierhin ist gezeigt worden, dass die Aufforderung innerhalb des Systems der Wissenschaftslehre eine notwendige Bedingung der Anerkennung anderer Subjekte ist, die ihrerseits notwendig ist, damit die Selbstzuschreibung einer freien Wirksamkeit und somit einer selbstbestimmten Tätigkeit des Ich möglich ist. Noch nicht geklärt ist aber, wie die Aufforderungshandlung selbst möglich ist. Denn es stellt sich immer noch die Frage, wie ein objektiv gegebener Vorgang 9  Vgl. a. a. O., S. 342. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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als Handlung eines anderen Subjekts erkennbar sein soll, d. h. unter welchen Bedingungen die Aufforderung erfolgreich vollzogen werden kann. Eine erste Bedingung findet man in Fichtes Äußerung, in der er in § 3 die Auflösung des Erklärungszirkels formuliert: Der Grund der Unmöglichkeit, das Selbstbewußtseyn zu erklären, ohne es immer, als schon vorhanden, vorauszusetzen, […] ist aber nur so zu heben, daß angenommen werde, die Wirksamkeit des Subjekts sey mit dem Objekte in einem und eben demselben Momente synthetisch vereinigt; die Wirksamkeit des Subjekts sey selbst das wahrgenommene und begriffene Objekt, das Objekt sey kein anderes, als diese Wirksamkeit des Subjekts, und so seyn beide dasselbe.10

Die erste Bedingung der Aufforderung ist demzufolge, dass es ein empirisches Objekt geben muss, in dem sich die Wirksamkeit eines Subjekts zeigt, das heißt, ein Objekt, dessen empirische Beschaffenheit das Resultat einer reellen Handlung eines Subjekts ist. Damit ist in Bezug auf das fragliche Objekt ein erster Unterschied markiert, der es von all jenen Objekten abhebt, deren Beschaffenheit ausschließlich durch natürliche, empirisch-kausale Prozesse zustande kommt und nicht durch die als solche nicht-natürliche freie Wirksamkeit eines Subjekts. Nun ist es aber gerade die Frage, wie dieser Unterschied für ein anderes Subjekt erkennbar sein kann. Die zweite Bedingung spezifiziert die Absicht der Handlung, die in dem fraglichen empirischen Objekt realisiert wird: Die Frage war: wie vermag das Subjekt sich selbst zu finden als ein Objekt? […] Es konnte, um sich als Objekt (seiner Reflexion) zu finden, sich nicht finden, als sich bestimmend zur Selbstthätigkeit, […] sondern als bestimmt dazu durch einen äussern Anstoß, der ihm jedoch seine völlige Freiheit zur Selbstbestimmung lassen muß […].11

Durch das gegebene empirische Objekt erhält das Subjekt also einen Anstoß, seine Tätigkeit frei zu bestimmen. Es soll ihm ein Anlass gegeben werden, eine freie, selbstbestimmte Reaktion zu zeigen. Damit ist eine weitere wichtige Differenz markiert: Die Aufforderung 10  A. a. O., S. 341 f. 11  A. a. O., S. 343. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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darf nicht durch empirisch-kausale Einwirkung eines Subjekts auf das andere erfolgen, denn dabei handelte es sich erstens um physischen Zwang, wobei dem Subjekt nicht die Freiheit gelassen wird, seine Reaktion selbst zu bestimmen; zweitens wäre in einer derartigen Einwirkung nicht die freie Wirksamkeit eines anderen vernünftigen Wesens zu erkennen. Wenn eine rein empirisch-kausale Einwirkung ausgeschlossen werden muss, wie es die zweite Bedingung verlangt, muss die Aufforderung durch eine andere Art der Einwirkung erfolgen. Dies kann als dritte Bedingung festgehalten werden: „Die Ursache der Einwirkung auf uns hat gar keinen Zweck, wenn sie nicht zuförderst den hat, daß wir sie als solche erkennen sollen […].“12 Das heißt, der primäre Zweck der Aufforderung muss der sein, das aufgeforderte Subjekt dadurch zu einer selbstbestimmten Reaktion zu veranlassen, dass es erkennt, dass das ihm gegebene empirische Objekt das Resultat der freien Wirksamkeit eines anderen Subjekts ist. Nur wenn die Reaktion alleine aufgrund dieser Erkenntnis erfolgen kann, handelt es sich um eine nicht empirisch-kausale Einwirkung. Fichte sagt darüber hinaus, dass die Aufforderung mit der Absicht vollzogen werden muss, dem aufgeforderten Subjekt mittels des ihm gegebenen Objekts zu erkennen zu geben, dass dieses Objekt das Resultat der freien Wirksamkeit eines anderen Subjekts ist.13 Mit dieser Erkenntnis erhält das aufgeforderte Subjekt einen Begriff, und zwar wird ihm der Begriff der freien Wirksamkeit mitgeteilt, dadurch, dass es diese in dem ihm gegebenen Objekt erkennt. Die Erkenntnis der freien Wirksamkeit des anderen Subjekts soll dem aufgeforderten Subjekt vor allem auch einen Grund geben, eine autonome Reaktion zu zeigen, also seine eigene Wirksamkeit frei zu bestimmen. Deshalb muss noch eine vierte Bedingung hinzukommen: Das aufgeforderte Subjekt muss nicht nur die freie Wirksamkeit erkennen, es muss auch erkennen, dass ihm mit dieser Erkenntnis ein Grund zu einer freien Reaktion gegeben werden soll. Wenn die Aufforderung alleine dadurch gelingen soll, dass das aufgeforderte Subjekt durch das ihm gegebene Objekt erkennt, dass es 12  A. a. O., S. 347. 13  Vgl. a. a. O., S. 346 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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seine Tätigkeit frei bestimmen soll, muss das aufgeforderte Subjekt durch dieses Objekt auch die Absicht des auffordernden Subjekts erkennen, ihm einen Grund zu einer autonomen Reaktion zu geben: Aber dasselbe [sc. Objekt] wird nicht anders begriffen, und kann nicht anders begriffen werden, denn als eine blosse Aufforderung des Subjekts zum Handeln. So gewiß daher das Subjekt dasselbe begreift, so gewiß hat es den Begriff von seiner eignen Freiheit, und Selbstthätigkeit, und zwar als einer von aussen gegebenen.14

Das aufgeforderte Subjekt muss demzufolge die Aufforderung als Aufforderung verstehen, es muss in dem ihm gegebenen Objekt die Absicht des auffordernden Subjekts erkennen, ihm einen Anlass zu einer autonomen Reaktion zu geben. Daraus folgt, dass es wesentlich zur Handlungsabsicht des auffordernden Subjekts gehört, das aufgeforderte Subjekt die Absicht erkennen zu lassen, ihm einen Grund zu einer autonomen Reaktion zu geben. Die Aufforderung muss also mit einer Absicht zweiter Ordnung vollzogen werden, der Absicht nämlich, dem aufgeforderten Subjekt die Absicht zu erkennen zu geben, mit der die Aufforderung vollzogen wird, d. h. den ihr zugrundeliegenden Zweckbegriff. Das auffordernde Subjekt verfolgt demnach erstens den Zweck, sich selbst dem aufgeforderten Subjekt als frei wirksames Subjekt zu erkennen zu geben, und zweitens, ihm dadurch, dass es diesen ersten Zweck erkennt, zu erkennen zu geben, dass es seine Wirksamkeit frei bestimmen soll. Fasst man diese Bedingungen des Vollzugs der Aufforderung zusammen, sieht man, dass es dabei um eine komplexe Handlung geht, die mitunter Absichten zweiter Ordnung einschließt: Eine Aufforderung wird genau dann vollzogen, wenn 1.) dem aufgeforderten Subjekt ein empirisches Objekt gegeben wird, das das Resultat der freien Wirksamkeit eines Subjekts ist; wenn ihm 2.) dieses Objekt mit der Absicht gegeben wird, ihm einen Grund zu einer autonomen Reaktion zu geben; wenn es ihm 3.) mit der Absicht gegeben wird, ihm dadurch einen Grund zu einer autonomen Reaktion zu geben, dass es erkennt, dass das gegebene Objekt das Resultat der freien 14  A. a. O., S. 342. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Wirksamkeit eines Subjekts ist; und wenn das Objekt ihm 4.) mit der Absicht gegeben wird, ihm dadurch einen Grund zu einer autonomen Reaktion zu geben, dass es die Absicht erkennt, ihm einen Grund zu einer autonomen Reaktion zu geben. 4. Der Vollzug der Aufforderung durch Sprache Nachdem im vorangehenden Abschnitt die Bedingungen rekonstruiert worden sind, die erfüllt sein müssen, damit die Aufforderung erfolgreich vollzogen werden kann, wird es nun darum gehen zu zeigen, dass diese Bedingungen nur von einem einzigen Handlungstyp, nämlich von sprachlichen Handlungen erfüllt sein können. Wenn dies der Fall ist, dann ist Sprache innerhalb des Systems der Wissenschaftslehre eine notwendige Bedingung interpersonaler Anerkennung und indirekt der Selbstsetzung eines Ich. Fichtes allgemeine Definition der Sprache im Aufsatz „Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache“ orientiert sich zunächst an der bis in die Antike zurückzuverfolgenden und auch bei Zeitgenossen Fichtes häufig zu findenden Auffassung, dass sprachliche Zeichen nicht etwa Dinge oder Sachverhalte bezeichnen, sondern Begriffe oder Gedanken, die sich ihrerseits auf Dinge oder Sachverhalte beziehen. Sprachliche Ausdrücke beziehen sich also bloß mittelbar auf Dinge oder Sachverhalte, unmittelbar aber auf Geistiges wie Begriffe, Gedanken, Absichten usw.: „Sprache, im weitesten Sinne des Worts, ist der Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen.“15 Sprache ist für Fichte in erster Linie Ausdruck 15  Fichte, Von der Sprachfähigkeit, GA I/3, S. 97; vgl. a. a. O., S. 98: „Sprachfähigkeit ist das Vermögen, seine Gedanken willkürlich zu bezeichnen.“ Fichtes Sprachkonzeption habe ich bereits genauer behandelt in: „‚Kann der Mensch ohne Sprache gedacht werden?‘ Zur transzendentalen Rolle der Sprache bei Fichte“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 55:2, 2008, S. 356–378. Dort finden sich auch Hinweise auf die Forschungsliteratur, die ich um folgende ergänzen möchte: Thomas Sören Hoffmann, „Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und das Problem der Sprache bei Fichte“, in: Fichte-Studien, 10, 1997, S. 17–33; Kaoru Hoshiba, „Das Problem der Sprache bei Fichte“, in: Fichte-Studien, 32, 2009, S. 57–65; Wolfgang Janke, Vom Bilde Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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von Gedanken durch den Gebrauch von Zeichen. Unter Zeichen versteht er empirische, sinnlich wahrnehmbare Objekte. Charakteristisch für Fichtes Verständnis von Sprache ist, dass er den Aspekt der Willkür des Zeichengebrauchs betont: Erstens ist die Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem willkürlich. Sprachliche Zeichen sind arbiträr, sofern es alleine von der Willkür der Sprecher abhängt, welche Objekte als Zeichen für welche Dinge verwendet werden. Zweitens ist der Gebrauch von Zeichen insofern willkürlich, als ihm das Vermögen zugrunde liegt, Zeichen mit Absicht zu verwenden, und zwar mit der Absicht, seine Gedanken auszudrücken. Dass der Sprachgebrauch in beiden Hinsichten durch die Absichten der Sprecher konstituiert ist, ist für Fichtes Sprachkonzeption zentral. Sprachgebrauch wird damit als eine Form des Handelns begriffen, die wesentlich durch die Absichten der Sprecher bestimmt wird, und zwar durch die primäre Absicht, Gedanken auszudrücken. Paradigmatisch für Zeichenverwendung sind für Fichte Zeigegesten: Er [sc. der andere] kann nur verfahren wie die Natur; mir ein Objekt geben: wobei aber die Aufforderung an meine freie Thätigkeit ergeht, daß ich erkennen solle. Meine freie Reflexion wird geleitet. – u. das ist eben der Charakter des Zeichens. –. Ein Wink, ein Hindeuten, u. s. f. versteht jeder[.]16

Es ist klar, dass mit einer Zeigegeste nicht direkt auf dasjenige hingewiesen werden kann, was eigentlich ausgedrückt werden soll, nämlich Gedanken des Sprechers – man kann nicht auf Gedanken zeigen. Die Ausdrucksfunktion von Zeigegesten ist deshalb eine des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin/New York: De Gruyter, 1993, S. 137–171; Klaus Kahnert, „Sprache und Sprachursprung bei Fichte“, in: Sein – Reflexion – Freiheit. Aspekte der Philosophie J. G. Fichtes, hg. von Christoph Asmuth, Amsterdam/Philadelphia: Grüner, 1997, S. 191–220. Da es mir hier um den systematischen Zusammenhang von Aufforderung und Sprache geht, werde ich verschiedene Aspekte von Fichtes Sprachauffassung ausblenden, die diesbezüglich nebensächlich sind, so etwa das Problem von Ursprung und Entwicklung der Sprache sowie die Deduktion der Grammatik. 16  Fichte, Vorlesungen über Platners Aphorismen, GA II/4, S. 159. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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mittelbare: Gedanken werden ausgedrückt, indem auf empirische Dinge oder Sachverhalte hingewiesen wird. Sprachliche Zeichen in ihrer hinweisenden Funktion bezeichnen dadurch, dass sie die Aufmerksamkeit des Adressaten auf einen vom Sprecher intendierten Sachverhalt lenken. Gelingt dies, so erkennt der Adressat den Sachverhalt und fasst den entsprechenden Gedanken. Damit hat der Sprecher seinen Gedanken dem Adressaten mitgeteilt.17 Entscheidend ist dabei, dass der Adressat den vom Sprecher gemeinten Gedanken nur dann fassen kann, wenn er die Zeigehandlung des Sprechers als solche versteht, d. h. er muss nicht nur den vom Sprecher intendierten Sachverhalt erkennen, sondern ihn deshalb erkennen, weil er die Absicht des Sprechers erkennt, ihn durch den Gebrauch eines Zeichens auf diesen Sachverhalt hinzuweisen. Bereits an diesem Punkt ist erkennbar, dass sprachliche Handlungen, wie sie Fichte versteht, dazu geeignet sind, die Bedingungen der Aufforderung zu erfüllen. Denn 1.) sind Zeichen empirische Objekte und der Zeichengebrauch ist eine reelle Handlung. Letztere zielt 2.) auf eine autonome Reaktion des Adressaten: Mit dem Zeichen soll ihm ein Anlass gegeben werden, seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Sachverhalt zu lenken. Dabei wird die Lenkung der Aufmerksamkeit nicht kausal erzwungen, dem Adressaten wird vielmehr die Möglichkeit gegeben, seine Aufmerksamkeit frei auf den intendierten Sachverhalt zu richten. Dies soll 3.) dadurch erreicht werden, dass der Adressat aufgrund des Zeichens erkennt, dass ihm etwas mitgeteilt werden soll. Diese Erkenntnis soll ihm einen hinreichenden Anlass geben, seine Aufmerksamkeit auf den intendierten Sachverhalt zu richten. Und 4.) soll der Adressat dadurch zu dieser autonomen Reaktion veranlasst werden, dass er im Gebrauch des Zeichens die Absicht des Sprechers erkennt, seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Sachverhalt zu lenken. Der Adressat muss also das ihm gegebene Zeichen als solches erkennen, damit die sprachliche Zeigehandlung zielführend ist.

17  Sprachliche Zeichen sind für Fichte also nicht primär Bedeutungsträger, sondern veranlassen durch ihre hinweisende Funktion den Adressaten, den gleichen Gedanken wie der Sprecher zu fassen. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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In diesem Punkt unterscheiden sich genuin sprachliche Handlungen von nicht-sprachlichen oder nicht rein sprachlichen Handlungen. Denn jede beliebige Handlung beruht auf den Absichten des Handelnden, und jede realisierte Handlung kann als Ausdruck eines Gedankens verstanden werden, nämlich als Ausdruck genau jener Absicht, die der Handelnde mit der Handlung realisieren wollte: Ein vernünftiges Wesen kann aus diesen meinen Handlungen auf das, was ich gedacht habe, schließen. Dies heißt aber nicht Sprache. Bei allem, was Sprache heißen soll, wird schlechterdings nichts weiter beabsichtet, als die Bezeichnung des Gedankens; und die Sprache hat außer dieser Bezeichnung ganz und gar keinen Zweck.18

Wenn auch in jeder beliebigen Handlung eine Absicht zum Ausdruck kommen und erkannt werden kann, so ist es doch für beliebige Handlungen nicht wesentlich, dass sie zum Ausdruck kommt und erkannt wird. Anders verhält es sich bei genuin sprachlichen Handlungen: Für diese ist es wesentlich, dass eine Absicht ausgedrückt und dass diese erkannt wird. Eine sprachliche Handlung ist also wesentlich darauf ausgerichtet, dass sie vom Adressaten als sprachliche Handlung erkannt und verstanden wird. Das bedeutet, dass mit einer sprachlichen Handlung zwei Absichten verfolgt werden: Einerseits hat der Sprecher die Absicht, mit dem Gebrauch eines Zeichens die Aufmerksamkeit des Adressaten auf einen bestimmten Sachverhalt zu lenken. Andererseits hat er die Absicht, die Aufmerksamkeit des Adressaten dadurch auf den Sachverhalt zu lenken, dass dieser die Absicht erkennt, ihn mit dem Gebrauch des Zeichens auf diesen Sachverhalt aufmerksam zu machen. Demzufolge hat der Sprecher beim Zeichengebrauch wesentlich eine Absicht zweiter Ordnung, die nämlich, dem Adressaten seine Handlungsabsicht zu erkennen zu geben. Entsprechend gelingt eine sprachliche Handlung nur dann, wenn der Sprecher diese Absicht erkennt. Dies macht den wesentlich kommunikativen Charakter sprachlicher Handlungen aus: Gedanken werden durch den Zeichengebrauch nicht bloß ausgedrückt, sondern sie werden ausgedrückt, um sie mitzuteilen. In 18  Fichte, Von der Sprachfähigkeit, GA I/3, S. 97 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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diesem Sinn heißt es bei Fichte: „Bei der Sprache aber ist lediglich die Bezeichnung Absicht, nicht als Ausdruck der Leidenschaft, sondern zum Behufe einer gegenseitigen Wechselwirkung unserer Gedanken […].“19 Wenn Sprache wesentlich im Ausdrücken und Mitteilen von Gedanken besteht, ist sie offensichtlich das ideale Mittel zum Zweck einer „gegenseitigen Wechselwirkung unserer Gedanken“. Eine Wechselwirkung der Gedanken ist aber nichts anderes als jene Wechselwirkung zwischen vernünftigen Individuen, die das interpersonale Verhältnis ausmacht, das von Fichte in der Grundlage des Naturrechts deduziert wird. Sprachliche Handlungen sind denn auch so beschaffen, dass sie die Bedingungen der Aufforderung erfüllen: Sprache ist als solche Mittel einer rationalen Beeinflussung, die wesentlich darauf basiert, dass der Adressat aufgrund eines ihm gegebenen Objekts – des Zeichens – einen bestimmten Gedanken fasst, und dass er diesen Gedanken deshalb fasst, weil er erkennt, dass der Sprecher ihm einen Gedanken mitteilen will. Der Vollzug einer sprachlichen Handlung kommt somit einer Aufforderung gleich, mit der dem Adressaten ein äußerer Grund zu einer selbstbestimmten Reaktion gegeben wird und damit zugleich ein Grund zur Annahme eines anderen Vernunftwesens. Aufgrund ihrer wesentlichen Eigenschaften sind sprachliche Handlungen somit hinreichend, um die Möglichkeit der Aufforderung zu garantieren. Gemäß dieser Rekonstruktion von Fichtes Konzeption sprachlicher Handlungen wird mit jeder sprachlichen Handlung eine Aufforderung vollzogen. Jede sprachliche Handlung ist also eo ipso eine Aufforderung. Daraus folgt aber natürlich noch nicht, dass auch jede Aufforderung eine sprachliche Handlung ist, dass also eine Aufforderung nur mittels Sprache vollzogen werden kann. Wenn dem nicht so ist und Sprache nicht notwendig ist zum Vollzug der Aufforderung, kann Sprache auch nicht als transzendental notwendige Bedingung derselben sowie der interpersonalen Anerkennung und der Selbstsetzung des Ich deduziert werden. Man kann jedoch zeigen, dass der Erfolg einer Aufforderung nur dann hinreichend gesichert ist, wenn sie mittels Sprache vollzogen wird. Nur in diesem 19  A. a. O., S. 103. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Fall kann kategorisch auf ein anderes Vernunftwesen geschlossen werden, wie es die Deduktion der interpersonalen Wechselwirkung verlangt, während in allen anderen Fällen die Anerkennung anderer Vernunftwesen bloß hypothetisch bleiben muss. Wie schon erwähnt, stellt Fichte zu Recht fest, dass grundsätzlich jede Handlung Ausdruck eines Gedankens ist. Da jede Handlung auf einer Handlungsabsicht beruht, drückt sich in jeder realisierten Handlung die Absicht aus, die mit der Handlung realisiert werden soll. Somit kann grundsätzlich jede beliebige Handlung auch mit der zusätzlichen Absicht vollzogen werden, damit einen Gedanken auszudrücken und mitzuteilen. Zu der primären Handlungsabsicht jeder beliebigen Handlung kann eine Aufforderungsabsicht hinzukommen, die Absicht, einem anderen Subjekt einen Anlass zu einer autonomen Reaktion zu geben, indem ihm die Absicht zu erkennen gegeben wird, ihm einen solchen Anlass zu geben. Nun ist in diesem Fall die Aufforderungsabsicht jedoch logisch unabhängig von der primären Absicht: Die primäre Absicht kann erreicht werden, ohne dass auch die Aufforderungsabsicht erreicht wird. Es ist deshalb zwar möglich, das Vorhandensein einer Aufforderungsabsicht hypothetisch zu unterstellen, wenn die primäre Absicht erkannt wird, diese Unterstellung ist aber willkürlich und kann auch in jedem einzelnen Fall unterbleiben. Demzufolge ist es möglich, dass die Aufforderung systematisch fehlschlägt, wenn sie mit beliebigen Handlungen vollzogen wird. Eine Aufforderung, die auf diese Weise vollzogen wird, ist also schon von vornherein aufgrund der Beschaffenheit der sie konstituierenden Absichten nicht dazu geeignet, jene kategorische Anerkennung anderer Vernunftwesen zu begründen, die Fichtes Interpersonalitätstheorie fordert. Dass die Anerkennung prinzipiell ungesichert bleibt, wenn die Aufforderung in der dargestellten Weise mit beliebigen Handlungen vollzogen wird, liegt daran, dass in diesem Fall die vierte Bedingung der Aufforderung nicht optimal erfüllt wird. Dieser Bedingung zufolge muss mit der Absicht, dem aufgeforderten Subjekt einen Anlass zu einer selbstbestimmten Reaktion zu geben, zusätzlich die Absicht verbunden sein, dem aufgeforderten Subjekt diese Absicht auch zu erkennen zu geben, ihm also zu erkennen zu geben, dass ihm ein Anlass zu einer selbstbestimmten Reaktion gegeben werden Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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soll. Wenn diese Absicht von der primären Handlungsabsicht verschieden ist, wie es bei einer Aufforderung mittels einer beliebigen Handlung zwangsläufig der Fall ist, ist die Möglichkeit eines systematischen Fehlschlagens der Aufforderung gegeben. Das heißt, die Erkenntnis der Aufforderungsabsicht ist seitens des auffordernden Subjekts nicht so gut gesichert, wie es nötig wäre, damit eine kategorische Anerkennung erfolgen könnte. Es ist aber für das auffordernde Subjekt möglich, die Aufforderung so zu konzipieren, dass ein systematisches Fehlschlagen – ein Fehlschlagen, dessen Möglichkeit in den handlungskonstitutiven Absichten angelegt ist – grundsätzlich ausgeschlossen wird, dann nämlich, wenn es die Aufforderungsabsicht zur primären Handlungsabsicht macht. In diesem Fall ist die Erkenntnis der Aufforderungsabsicht garantiert, wenn die primäre Handlungsabsicht erkannt wird. So konzipiert wird die Aufforderung auf optimale Weise vollzogen, da sie eine weitere, fünfte Bedingung erfüllt: Das auffordernde Subjekt beabsichtigt mit seiner Handlung nichts weiter, als einem anderen Subjekt einen Grund zu einer autonomen Reaktion zu geben, dadurch, dass es ihm diese Absicht zu erkennen gibt. Erst wenn diese letzte Bedingung erfüllt ist, ist der Erfolg der Aufforderung auf optimale Weise gesichert, da ihr Zweck genau dann erreicht ist, wenn der Aufgeforderte darin die Absicht erkennt, ihm einen Grund zu einer selbstbestimmten Reaktion zu geben. Und diese Bedingung wird nur von genuin sprachlichen Handlungen erfüllt, denn bei diesen „ist lediglich die Bezeichnung Absicht […] zum Behufe einer gegenseitigen Wechselwirkung unserer Gedanken“.20 Damit wird zwar nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Aufforderung auch auf andere, nicht-sprachliche Weise vollzogen werden kann, jedoch kann nur ihr optimaler Vollzug, der sprachliche Vollzug, die kategorische Anerkennung anderer Vernunftwesen sichern. Sprache, wie sie Fichte versteht, ist daher eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Aufforderung, der interpersonalen Anerkennung und mittelbar der Selbstsetzung des Ich.

20  A. a. O., S. 103. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Bibliographie Fichte, Johann Gottlieb, Grundlage des Naturrechts, GA I/3. –: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache, GA I/3. –: Vorlesungen über Platners Aphorismen, GA II/4. –: Das System der Sittenlehre, GA I/5. Hoffmann, Thomas Sören, „Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und das Problem der Sprache bei Fichte“, in: Fichte-Studien, 10, 1997, S. 17–33. Hoshiba, Kaoru, „Das Problem der Sprache bei Fichte“, in: Fichte-Studien, 32, 2009, S. 57–65. Imhof, Silvan, „‚Kann der Mensch ohne Sprache gedacht werden?‘ Zur transzendentalen Rolle der Sprache bei Fichte“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 55:2, 2008, S. 356–378. Janke, Wolfgang, Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin/New York: De Gruyter, 1993. Kahnert, Klaus, „Sprache und Sprachursprung bei Fichte“, in: Sein – Reflexion – Freiheit. Aspekte der Philosophie J. G. Fichtes, hg. von Christoph Asmuth, Amsterdam/Philadelphia: Grüner, 1997, S. 191–220. Merle, Jean-Christophe (Hrsg.), Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts, Berlin: Akademie, 2001.

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Lukáš Kollert

Das Ich und die Welt

Die transzendentalkritische Auffassung des Dinges an sich in Fichtes Jenaer Wissenschaftslehre Die Wissenschaftslehre ist schwer zu verstehen und leicht zu missverstehen. Der Grund dafür liegt sowohl in der dialektischen Form der Wissenschaftslehre als auch darin, dass Fichtes Aussagen und Konzepte ohne gründlichere Interpretation dem Leser als widersprüchlich erscheinen können. Dies gilt nicht nur für das Ding an sich oder für das Verhältnis von Realismus und Idealismus, sondern auch für die Darstellung der Beziehung von Ich und Welt und für den Übergang zwischen ihnen. Einmal erweckt Fichte z. B. den Eindruck, dass er ein eifriger Befürworter des Idealismus und ein eingeschworener Feind von Realismus und Ding an sich ist, ein anderes Mal macht er jedoch das Ding an sich zum integralen Teil seiner Philosophie und zögert nicht, die Wissenschaftslehre als realistisch zu bezeichnen. Das Hauptziel dieses Beitrags ist es, eine komplexe Interpretation des Idealismus der Wissenschaftslehre vorzulegen und die oben angesprochenen Mehrdeutigkeiten zu klären. Bei diesen Bemühungen werden wir uns nicht nur auf eine grammatische, logische und systematische Analyse von Fichtes Werken verlassen, sondern auch auf einen kurz skizzierten philosophischen Kontext, in dem Fichte seine Ideen formulierte. In diesem Zusammenhang sind vor allem die mehrdeutige Auffassung des Dinges an sich bei Kant und ihre Kritik in den Werken seiner Zeitgenossen grundlegend. Strukturell ist der vorliegende Text in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden einige der Hauptmotive untersucht, die Fichte zur Formulierung des für die Jenaer Wissenschaftslehre charakteristischen Idealismus geführt haben. Im zweiten Teil werden einige Aspekte von Fichtes kritischem Idealismus wie auch seiner Methode untersucht. Der dritte Teil ist der Problematik des Realismus und

Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova © wilhelmJindrich fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764022_004

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Idealismus und der Erklärung von Fichtes „Realidealismus“, bzw. „Idealrealismus“ gewidmet sowie den Begriffen, die für das richtige Verständnis dieser Position grundlegend sind, nämlich den Konzepten des Anstoßes und des Dinges an sich. 1. Der philosophische Kontext: Kants Ding an sich und seine Kritik Kant zufolge entsteht die Erfahrung durch die Synthese der in der sinnlichen Anschauung gegebenen Mannigfaltigkeit in der transzendentalen Einheit der Apperzeption, die vermittelst der Kategorien erfolgt. Während die Materie der Erfahrung aufgrund der Affektion der Sinnlichkeit durch das Ding an sich gegeben ist, haben die formalen Aspekte der Gegenstände der Erfahrung ihren Ursprung im Subjekt und bilden die transzendentale Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung. Die Materie der Erfahrung geht also nicht aus der Spontaneität des Verstandes hervor, sondern aus der Fähigkeit des Gemüts, Vorstellungen passiv zu erhalten. Die explanative Rolle der Dinge an sich in Kants Erkenntnistheorie besteht also darin, dass durch das Ding an sich die Gegebenheit der zufälligen Mannigfaltigkeit der Erfahrung erklärt ist. In Bezug auf die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Subjekt und den Dingen an sich legen viele Stellen der Kritik der reinen Vernunft nahe, dass Kant die Empfindung als Folge einer kausalen Einwirkung des Dinges an sich auf das Subjekt versteht. Weil aber in der transzendentalen Deduktion der Kategorien gezeigt wird, dass reine Verstandesbegriffe mit Anspruch auf Erkenntnis nur im Feld der Gegenstände der möglichen Erfahrung angewendet werden dürfen, und weil das Ding an sich außerhalb dieses Bereichs liegt, kann es nicht als ein möglicher Gegenstand unserer Erkenntnis bezeichnet werden. Kant behauptet auf der einen Seite, dass die Dinge an sich existieren und dass sich ohne die Annahme ihrer Existenz unsere Erfahrung nicht erklären lässt. Auf der anderen Seite betont er aber, dass wir keine Erkenntnisse über diese Dinge haben können. Diese Darstellung von Kants Position entspricht der klassischen Interpretation, laut der Kant den epistemologischen Idealismus (unsere Erkenntnis ist auf den Bereich Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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der Erscheinungen beschränkt) und den ontologischen Dualismus (neben den denkenden Wesen existieren auch extramentale unabhängige Dinge) vertritt. Kants Begriff des Dinges an sich ist allerdings ambivalent und noch heute der sprichwörtliche Apfel der Zwietracht der Kantforschung. Für unsere Untersuchung ist jedoch von größerer Tragweite die Diskussion, die über Kants Begriff des Dinges an sich am Ende des 18. Jahrhunderts geführt worden ist. Eine der ersten Kritiken des Dinges an sich, die für die weitere Entwicklung von großer Bedeutung war, hat F. H. Jacobi vorgelegt.1 In seiner Kritik konfrontiert Jacobi einzelne Doktrinalelemente von Kants Philosophie und versucht ihre gegenseitige Unvereinbarkeit zu demonstrieren. Nach Jacobi behauptet Kant, dass das Subjekt durch eine kausale Einwirkung der Dinge an sich – die Kant nicht selten auch als Objekte bezeichnet – affiziert ist und dass die Dinge dadurch im Subjekt Vorstellungen hervorbringen. Diese These widerspricht jedoch Jacobi zufolge anderen Elementen der kantischen Lehre. Jacobi behauptet: 1. Sind die Gegenstände nichts als bloße durch das Subjekt geformte Erscheinungen, können sie nicht zugleich Dinge sein, die vom Subjekt unabhängig sind und Vorstellungen in ihm hervorbringen. 2. Die These von der kausalen Affektion durch Dinge an sich ist eine illegitime Anwendung von Kategorien außerhalb des Bereichs der Gegenstände der möglichen Erfahrung. Darüber hinaus widerspricht sie der Ansicht, dass die Dinge an sich unerkennbar sind. Obwohl man legitim behaupten kann, dass die Gegenstände auf unsere Sinne wirken, gilt dies nur für die Gegenstände innerhalb des Bereichs der empirischen Realität. Nach der Darstellung dieser Widersprüche spricht Jacobi ein Verdikt aus, das berühmt wurde und seine Zeitgenossen tief beeinflusste. In Bezug auf die Annahme der Dinge an sich behauptet Jacobi, dass er 1  Friedrich Heinrich Jacobi, David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch, Breslau: Löwe, 1787, S. 209 ff. Jacobi war jedoch definitiv nicht allein. Das Ding an sich wurde zum Angriffsziel auch anderer bedeutender Zeitgenossen von Kant, z. B. Maimon oder Schulze. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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„ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darin nicht bleiben konnte.“2 Am Ende seiner Kritik will er die Unhaltbarkeit des transzendentalen Idealismus dadurch beweisen, dass er die Anhänger dieser philosophischen Position vor zwei Alternativen stellt, die seiner Meinung nach inakzeptabel sind. Entweder kann der transzendentale Idealist auf seiner Position beharren, dann ist er aber inkonsequent, oder er muss den Mut haben, „den kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist, zu behaupten, und selbst vor dem Vorwurfe des spekulativen Egoismus sich nicht zu fürchten“.3 Gerade Fichte war derjenige, der diese provokative Herausforderung ergriffen hat und versuchte, den transzendentalen Idealismus neu zu formulieren, um ihn gegen solche Einwände zu verteidigen. In der Zweiten Einleitung wird klar, dass Fichte Jacobis Kritik geschätzt hat und dass er sich mit ihr identifizierte. Fichte hat jedoch aus dieser Kritik andere Konsequenzen gezogen. Die oben genannte Herausforderung hat Fichte weder zum spekulativen Egoismus, noch zum ontologischen idealistischen Monismus geführt.4 Man kann zwar sagen, dass Fichte den „kräftigsten Idealismus“ vorgelegt hat, aber in einem anderen Sinne. In den folgenden Teilen dieses Kapitels werde ich versuchen, die Wesensmerkmale dieses Idealismus allmählich zu verdeutlichen. 2. Die Methode der Wissenschaftslehre und der Status der Tätigkeiten des transzendentalen Ich Gleich zu Beginn muss bemerkt werden, dass „Idealismus“ wie auch „Realismus“ mehrdeutige Begriffe sind. Man kann z. B. zwischen dem Idealismus als einer erkenntnistheoretischen und ontologischen 2  A. a. O., S. 223. 3  A. a. O., S. 229. 4  Zum Einfluss von Schulzes Aenesidemus vgl. folgende Briefe und Skizzen der Briefe: Fichte an Wloemar, November 1793, GA III/2, S. 14–17, Fichte an Flatt, November oder Dezember 1793, GA III/2, S. 17–19, Fichte an Stephani, Mitte Dezember 1793, GA III/2, S. 27–29, Fichte an Reinhard, 15. Januar 1794, GA III/2, S. 39–41. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Position unterscheiden und ihre gegenseitigen Beziehungen untersuchen. Die grundlegende Frage ist also, was für einen Idealismus Fichte formuliert hat. Die Interpreten der postkantischen Philosophie hatten für lange Zeit eine ganz klare und relativ einfache Antwort auf diese Frage. Fichte hat unter dem Eindruck von Jacobis Kritik das Ding an sich abgelehnt und den kräftigsten Idealismus ausgearbeitet, der in nichts anderem als in der Abweisung der extramentalen Wirklichkeit und der Lokalisierung aller Realität in das absolute Ich bestehen konnte. Dieses Missverständnis ist so alt wie die Wissenschaftslehre selbst. Es tauchte nämlich fast zugleich mit der ersten Auflage der Grundlage auf, deren erste Teile zu einer solchen Lesart verleiten und zu der Annahme führen können, Fichte habe einen ontologischen idealistischen Monismus präsentiert. Diese Interpretation kann zwar auf eine Reihe von Fichtes Aussagen zurückgreifen, insgesamt bietet sie jedoch ein völlig schiefes Bild von der Wissenschaftslehre. Wäre sie richtig, wäre die Wissenschaftslehre kaum etwas mehr als eine der Positionen im Panoptikum sonderbarer philosophischer Theorien, die in Einzelheiten zwar inspirierend sein können, aber als Ganzes abgelehnt werden müssen. Am Anfang unseres Versuchs, dem Wesen von Fichtes Idealismus näherzukommen, werden wir unsere Aufmerksamkeit der Unterscheidung zwischen dem Standpunkt des Lebens und der Spekulation widmen. Der erste bezeichnet die Position des üblichen natürlichen Bewusstseins, das als praktisch handelnd immer schon in die Welt eingetaucht ist und die Gegenstände als von ihm unabhängig erfährt. Dieses Bewusstsein, das auch dem idealistischen Philosophen im alltäglichen Leben eigen ist, vertritt die Position des naiven Realismus.5 Laut Fichte ist für dieses Bewusstsein kennzeichnend, dass es seiner selbst und der Handlungen, durch die die Gegenstände und ihr Bewusstsein konstituiert sind, nicht innewird, und deshalb die Welt notwendigerweise als eine von ihm unabhängige Sinneinheit erfährt.6 5  Fichte, Vorlesungen über Logik und Metaphysik, GA IV/1, S. 212 f. 6  Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo. Nachschrift Halle, GA IV/2, S. 29. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Die Spekulation ist dagegen eine Haltung des Philosophen, zu der man sich durch einen Akt der Freiheit erhebt, wenn er das natürliche Bewusstsein reflektiert. Auf diesem Standpunkt erhebt sich der Philosoph über die Erfahrung hinaus und befragt sie nach ihren Gründen. Seine Aufgabe ist es, die Erfahrung des natürlichen Bewusstseins oder das System der vom Gefühl der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen zu explizieren, einschließlich der Überzeugung, dass es Dinge gibt, die unabhängig von unserem Bewusstsein existieren.7 Fichte hat vor, die Konstituierung unseres Bewusstseins von einer unabhängigen Welt zu explizieren, oder genauer gesagt das Bewusstsein einer Welt, die als von unserem Bewusstsein unabhängig bewusst ist.8 Dabei beabsichtigt der Philosoph nicht, die Überzeugung des natürlichen Bewusstseins über die Unabhängigkeit der Welt als irrig zu demaskieren und auf dem Standpunkt des Lebens zu ersetzen, sondern die transzendentalen Tätigkeiten des Ich zu identifizieren, aufgrund deren diese Überzeugung notwendigerweise entsteht. Obwohl der Philosoph es ablehnt, positiv zu behaupten, dass es eine von dem Ich völlig unabhängige Welt gibt, widersprechen sich beide Standpunkte nicht, weil sie auf verschiedenen Ebenen des Denkens formuliert sind.9 Während das natürliche Bewusstsein eine Denkart ist, ist die Philosophie eine Spekulation und Reflexion dieser Denkart. Man kann sagen, dass die Erfahrung in verschiedenen Hinsichten sowohl der Ausgangspunkt als auch das Ziel der Wissenschaftslehre ist.10 Die Motivation, die zur Spekulationen führt, ist das in der 7  Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4, S. 211 f. 8  Fichte, Neue Bearbeitung der W.L. 1800, GA II/5, S. 366 f.; Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4, S. 210; Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, GA I/3, S. 335; Fichte, Vergleichung des von Herrn Prof. Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre, GA I/3, S. 252; Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 265. Vgl. Fichte an Jacobi, 30. August 1795, GA III/2, S. 391–393, Fichte an Lavater, 7. März 1799, GA III/3, S. 208 f., Fichte an Reinhold, 22. April 1799, GA III/3, S. 325–334. 9  Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 27. 10  Fichte, Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen, GA I/7, S. 194. Vgl. auch Günter Zöller, Fichte’s Transcendental Philosophy. The Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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menschlichen Vernunft verankerte Bedürfnis unsere Erfahrung zu klären.11 Die unreflektierte Erfahrung ist zwar unmittelbar gewiss, nicht aber begriffen. Das Ziel der Wissenschaftslehre ist es, zu der Erfahrung zu gelangen, von der man ursprünglich ausgeht, die aber nicht mehr nur unmittelbar gewiss, sondern auch ihrer Bedingungen nach expliziert ist, und zwar durch ein System von Sätzen, die gewiss sind und ihre Gewissheit aus der Evidenz des Prinzips der Wissenschaftslehre und eines komplexen methodischen Fortgangs entnehmen. Obwohl jedoch die Erfahrung den Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre im Sinne des Motives bildet, ist ihr spekulativer Ausgangspunkt das absolute Ich, zu dem der Philosoph durch den Akt der freien abstrahierenden Reflexion gelangt.12 Abstrahieren wir davon, wovon sich abstrahieren lässt, und reflektieren darauf, wovon sich nicht abstrahieren lässt, finden wir nach Fichte, dass es schlechthin unmöglich ist, von dem absoluten Ich zu abstrahieren. Gerade in diesem Sinne muss man auch die These von dem absoluten Sich-selbst-Setzen des reinen Ich auslegen. Das absolute Ich setzt sich selbst absolut, weil es völlig unmöglich ist, von ihm zu abstrahieren: Eine solche Wissenschaft kann keine andere Regel geben als die: man abstrahiere von allem, wovon man abstrahieren kann, bis etwas übrig bleibe, wovon völlig unmöglich ist zu abstrahieren: dies Übrigbleibende ist das reine Ich … es ist dasjenige, von dem man schlechterdings nicht abstrahieren kann, weil es das Abstrahierende selbst ist, oder – was gerade das heißt – dasjenige, welches sich selbst schlechthin setzt.13

Mittels der Abstraktion und Reflexion findet der Philosoph einen evidenten Grundsatz. Weiterhin versucht er, auch zu anderen Sätzen zu gelangen, denen durch einen bestimmten Fortgang die Evidenz Original Duplicity of Intelligence and Will, Cambridge University Press: Cambridge, 1998, S. 21. 11  Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4, S. 205. 12  Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 19. 13  Fichte, Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie, GA II/3, S. 329. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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des ersten Grundsatzes verliehen wird. Sein Vorhaben ist es, wie angedeutet, ein System gewisser und evidenter Sätze zu formulieren. Dieses Ziel wird erreicht, indem gezeigt wird, dass das Sich-selbstSetzen des absoluten Ich nur unter der Bedingung anderer Handlungen möglich ist, die ihrerseits nur unter der Bedingung weiterer Tätigkeiten möglich sind.14 Die Gewissheit der ursprünglichen Tätigkeit wird auf die anderen Handlungen gerade aufgrund dieser Bedingtheit übertragen. Nach Fichte zeigt der Philosoph, dass das zuerst als Grundsatz aufgestellte und unmittelbar im Bewusstseyn nachgewiesene nicht möglich ist, ohne dass zugleich noch etwas anderes geschehe, und dieses andere nicht, ohne dass zugleich etwas drittes geschehe; so lange, bis die Bedingungen des zuerst aufgewiesenen vollständig erschöpft, und dasselbe, seiner Möglichkeit nach, völlig begreiflich ist. Sein Gang ist ein ununterbrochenes Fortschreiten vom Bedingten zur Bedingung. Die Bedingung wird wieder ein Bedingtes, und es ist ihre Bedingung aufzusuchen.15

Fichte fährt nicht so fort, dass er am Anfang der Wissenschaftslehre Definitionen und Axiome vorlegen würde, aus denen er mittels logischen Schlussregeln andere Sätze deduziere, sondern formuliert im Rahmen eines dialektischen Fortgangs verschiedene Positionen, entdeckt die in ihnen beinhaltenen Widersprüche (im analytischen Teil) und sucht kreativ Begriffe, die eine neue Synthese ermöglichen (im synthetischen Teil). Seine Aufgabe ist es, zu einer finalen Synthese zu gelangen, die das natürliche gegenständliche Bewusstsein erklärt.16 Dabei verwendet der Philosoph keinen festgelegten Algorithmus, sondern führt ein Experiment durch, in dem er sich auf die Einbildungskraft stützt, die als ein kreatives und kultivierbares philosophisches Talent zur Problemlösung zu verstehen ist.

14  Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, GA I/5, S. 41. Vgl. auch Christoph Binkelmann, Theorie der praktischen Freiheit: Fichte – Hegel, Berlin/New York: De Gruyter, 2007, S. 36. 15  Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4, S. 205; Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 25. 16  Vgl. Werner Hartkopf, „Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialektik“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 21, 1967, S. 173–207. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Die Problematik der abstrahierenden Reflexion und des dialektischen Fortgangs bringt uns zu einer der grundlegendsten Fragen der Fichteforschung, nämlich der Frage nach dem Status der Tätigkeiten, die in den Sätzen und Prinzipien der Wissenschaftslehre zum Ausdruck kommen. Wir haben bereits angemerkt, dass sich der Philosoph auf die Ebene der Spekulation durch Abstraktion erhebt und dadurch einen evidenten Punkt findet, auf dem er die Erklärung unserer Erfahrung gründen will. Der Status der so gefundenen Tätigkeit entspricht der Art und Weise, wie der Philosoph zur Vorstellung dieser Handlung kam: Das isolierte, reine, absolute Ich ist eine Abstraktion, die nur der Philosoph auf der Ebene der Spekulation vorlegt und die dazu dient, das gewöhnliche gegenständliche Bewusstsein zu klären. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es sich um eine bloße Erfindung oder ein Gespenst handeln würde. Es handelt sich im Gegenteil um einen notwendigen Gedanken der philosophischen Reflexion, den wir notwendigerweise formulieren, wenn wir sie systematisch zu erklären versuchen. Weil das Gefühl des Zwanges nach Fichte ein Zeichen der Realität ist, kann man über das Sich-selbst-Setzen des transzendentalen Ich und auch über die anderen Tätigkeiten sagen, sie haben Realität. Insofern wir genötigt sind, philosophische Reflexion zu betreiben, insofern haben diese Tätigkeiten die Realität notwendiger Gedanken.17 Während das Sich-selbst-Denken, dass der Student der Wissenschaftslehre in Reaktion auf die Aufforderung realisiert, eine wirkliche Handlung ist, mittels deren es möglich ist, sich über die Existenz von sich selbst im Sinne eines Subjekts überhaupt zu vergewissern, ist das absolute Ich die reine Form dieser Handlung und das Grundelement ihres philosophischen Bildes, in dem wir die oben genannte Tätigkeit als analysiert, erklärt und begründet begreifen wollen. Es muss ferner betont werden, dass alle Handlungen, die in der Wissenschaftslehre allmählich als diskrete Tätigkeiten dargestellt 17  Fichte, Grundlage des Naturrechts, GA I/3, S. 335; Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 26. Vgl. auch Daniel Breazeale, „Die synthetische(n) Methode(n) des Philosophierens. Kantische Fragen, Fichtesche Antworten“, in: Kant und der Frühidealismus. System der Vernunft, hg. von Jürgen Stolzenberg, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2007, S. 81–102. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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werden, in der Tat als eine Gesamthandlung der Intelligenz zu verstehen sind, die nur der Philosoph als ein endliches Wesen zerlegt darstellen muss, weil er sonst nicht in der Lage wäre, sie zu begreifen.18 Fichte bezeichnet die in der Wissenschaftslehre dargestellten Handlungen stellenweise sogar als Fiktionen. Man kann also behaupten, dass die Wissenschaftslehre in keinem seiner isolierten Teile wahr ist, sondern nur als ein Ganzes. Es ist nötig, diesen Umstand auch bei der Auslegung des reinen Ich und der intellektuellen Anschauung vor Augen zu haben, weil das gesagte auch für das Sich-selbst-Setzen des absoluten Ich gilt. Auch an anderen Stellen wird klar, dass die Wissenschaftslehre keine metaphysische Theorie über das vergöttlichte Ich ist, sondern eine Theorie des endlichen Subjekts: Das Wesen der Vernunft besteht darin, dass ich mich selbst setze, aber das kann ich nicht, ohne mir eine Welt, und zwar eine bestimmte Welt entgegenzusetzen … Dies alles geschieht in einem ungeteilten Moment; da Eins geschieht, geschieht zugleich alles Übrige … Aber die Philosophie, und besonders die WissenschaftsLehre will diesen Einen Act genau kennen lernen, nun aber lernt man nichts genau kennen, wenn man es nicht zerlegt, und zergliedert. So macht es also auch die WissenschaftsLehre, mit dieser Einen Handlung des Ich; und wir bekommen eine Reihe miteinander verbundner Handlungen des Ich; darum weil wir Eine Handlung nicht auf einmal faßen können, weil der Philosoph ein Wesen ist, das in der Zeit denken muß.19

Die durch die philosophische Reflexion geschaffene Vorstellung des Bewusstseins sollte als eine Darstellung oder ein Modell des natürlichen Bewusstseins verstanden werden. Der Philosoph betrachtet die systematisch dargestellten Handlungen als eine Rekonstruktion der ursprünglichen Selbstkonstruktion des Ich, die mit dieser Selbstkonstruktion zusammenfällt.

18  Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV /2, S. 68. 19  Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99, hg. von Erich Fuchs, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1994, S. 8 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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3. Realismus, Idealismus und die Materie unserer Vorstellungen Die Präsentation des Gegensatzes zwischen Realismus und Idealismus in der frühen Wissenschaftslehre ist mindestens auf den ersten Blick verwirrend. Diese Tatsache hat ihre Ursache vor allem darin, dass Fichte zum Thema Realismus und Idealismus in der Grundlage und in den Schriften für das breitere Publikum eine andere Haltung einzunehmen scheint. Zum Beispiel unterscheidet Rockmore aus diesem Grunde zwischen Fichtes „exoterischer“ und „esoterischer“ Position.20 Fichte verwendet das Wort „Idealismus“ oft als ein Synonym für den „kritischen transzendentalen Idealismus“ und präsentiert ihn in einer strengen Opposition zum Dogmatismus im Sinne einer Position, die von der Existenz der Dinge an sich ausgeht. An anderer Stellen spricht er aber vom „dogmatischen Idealismus“ und gibt zu, dass auch der Idealismus dogmatisch sein kann. Während an einer Stelle Idealismus und Realismus als unversöhnliche Gegenteile dargestellt werden, wird an anderer Stelle hervorgehoben, dass die Wissenschaftslehre nicht einfach als „Idealismus“ verstanden werden darf, sondern als eine Synthese von Realismus und Idealismus, die Fichte als „Idealrealismus“ oder „Realidealismus“ bezeichnet. Das Gleiche gilt auch für das Konzept des Dinges an sich. Einmal ist das Ding an sich als ein notwendiger Begriff der philosophischen Reflexion in die Wissenschaftslehre eingegliedert, ein andermal lehnt Fichte es wütend ab. Wie lassen sich also Fichtes (scheinbar) widersprüchliche Aussagen über das Ding an sich und das Thema des Idealismus und Realismus vereinbaren? Bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage muss man jedenfalls sowohl das Genre der Texte berücksichtigen, als auch das Publikum, auf das sie ausgerichtet sind. Die Lösung des Problems besteht jedoch unseres Erachtens letztendlich darin, dass Fichte, wenn er das Ding an sich kritisiert, einen spezifischen Begriff des Dinges an sich vor Augen hat, vor allem den, mit dem die 20  Vgl. Tom Rockmore, „Fichte, German Idealism and the Thing in Itself“, in: Fichte, German Idealism, and Early Romanticism, hg. von Daniel Breazeale und Tom Rockmore, Amsterdam/New York: Rodopi, 2010, S. 9–20. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Kantianer und die Dogmatiker operieren. Fichte kritisiert eine solche Auffassung des Dinges an sich, der den „notwendigen Cirkel“ der menschlichen Vernunft nicht berücksichtigt (dazu siehe unten) und versucht, die Theorie der menschlichen Erkenntnis (einschließlich der Objektivität unserer Erkenntnisse) auf einem Begriff des Dinges an sich zu gründen, das angeblich vom Ich völlig unabhängig bestehen sollte. Kehren wir zum Unterschied zwischen Idealismus und Realismus zurück. Das Ziel beider Standpunkte ist es Fichte zufolge, unsere Erfahrung zu erklären. Da aber der Grund außerhalb des Begründeten zu suchen ist,21 müssen beide Positionen über unsere Erfahrung hinaus und sind genötigt, die Ebene der Spekulation zu betreten. Dieser Schritt kann nur durch die Reflexion unserer Erfahrung und Abstraktion von einem der zwei Elemente, denen wir in der Erfahrung als vereinigt begegnen, realisiert werden.22 Während der Idealismus auf das Ich reflektiert und von den Dingen abstrahiert, reflektiert der Dogmatismus auf das Objekt und abstrahiert vom Ich. Der Ausgangspunkt des Idealismus ist also das reine Ich und der Ausgangspunkt des Dogmatismus ist das durch die Abstraktion gewonnene Ding an sich. Fichte formuliert mindestens vier Hauptargumente gegen die Position, die von dem durch die Abstraktion gewonnenen Ding an sich ausgeht. Erstens muss der Dogmatismus das Ich als ein Ding unter anderen Dingen oder als ein Resultat ihrer Wechselwirkung betrachten. Daher kann er aber nicht erklären, wie eine Bestimmung des Ich zur Bestimmung des Ich für das Ich wird. Mit anderen Worten kann er nicht erklären, wie eine reale Bestimmung des Ich zu einer idealen Bestimmung wird.23 Zweitens muss man auch die ethische Perspektive erwähnen und Fichtes Argument, dass, während der Dogmatismus zum Fatalismus führt, die Wissenschaftslehre die einzige Philosophie ist, die mit der Idee der Freiheit vereinbar ist. Drittens wirft Fichte dem Dogmatiker vor, dass die Annahme 21  Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4, S. 186 f.; Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 19. 22  Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 20. 23  Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4, S. 197 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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des Dinges an sich und die damit verbundene Erkenntnistheorie notwendig zum Skeptizismus führen. Fichte begrüßt zwar die Argumente der Skeptiker gegen die Dogmatiker, folgert aus ihnen jedoch ganz andere Konsequenzen. Fichte zufolge ist der Skeptiker im völligen Einklang mit dem Dogmatiker in Bezug auf die Frage, worin unsere Erkenntnis besteht, und versucht lediglich zu zeigen, dass es unmöglich sei, zu einem Wissen zu gelangen, das den festgelegten Kriterien der Erkenntnis entsprechen würde.24 Fichte kommt im Gegenteil zum Schluss, dass sich beide grundsätzlich irren, wenn es auf die Antwort auf die Frage nach dem Wesen unserer Erkenntnis ankommt. Viertens wendet Fichte ein, dass der Dogmatiker einen performativen Widerspruch begeht, wenn er das Ding an sich als seinen Ausgangspunkt wählt, denn um sein Prinzip begreifen zu können, muss er versuchen, vom Ich zu abstrahieren. Dazu ist aber gerade die Aktivität des Ich, von dem er zu abstrahieren versucht, logischerweise immer notwendig.25 Es wurde bereits betont, dass es wenig hilfreich ist, wenn man aufgrund von Fichtes Abweisung des realistischen Dogmatismus einfach und ohne weiteres behauptet, er habe den idealistischen Standpunkt vertreten. Möchten wir den Idealismus der Wissenschaftslehre verstehen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Grundlage richten, die aus mehreren Gründen für das richtige Verständnis des Idealismus der Wissenschaftslehre grundlegend ist. Wenn nämlich Fichte den dritten Grundsatz der Wissenschaftslehre analysiert, formuliert er in Reaktion auf die entdeckten Widersprüche eine Reihe von Synthesen, denen verschiedene Arten von Realismus und Idealismus entsprechen. Fichte zeigt dabei, welche Formen von Realismus und Idealismus er nicht vertritt und aus welchen Gründen er sie als unzureichend ablehnt. Fichte weist schrittweise qualitative, quantitative und auch andere Formen von Realismus und Idealismus zurück. Am Ende dieses Fortgangs legt er eine endgültige Synthese vor, die seine eigene Position ausdrückt. 24  Fichte, Vorlesungen, GA IV/1, S. 213. 25  Fichte, Recension des Aenesidemus, GA I/2, S. 60 f.; Fichte, Das System der Sittenlehre, GA I/5, S. 46; Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 56. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Im Zusammenhang mit ihr formuliert er auch einige Schlüsselkonzepte, deren Interpretation für das Verständnis des Idealismus der Wissenschaftslehre wesentlich ist. Zu diesen Begriffen gehören neben „Streben“ und „Einbildungskraft“ insbesondere „Anstoß“ und „Ding an sich“. Da es im Hinblick auf unser Ziel nicht nötig ist, die ganze Abfolge von Fichtes Schritten in der Grundlage zu verfolgen, konzentrieren wir uns direkt auf Fichtes Schlüsselbegriffe und das Ergebnis, zu dem er gekommen ist. Im Zusammenhang mit dem Anstoß muss man bemerken, dass dieser Begriff im figurativen Sinn zu verstehen ist und dass dieses Wort im zeitgenössischen Deutsch als auch im Deutsch des 18. Jahrhunderts nicht nur einen Stoß, sondern auch einen Anlass bezeichnet. Man darf den Anstoß nicht als einen kausalen mechanischen Einschlag zweier selbständig existierender Entitäten verstehen, sondern eher als Ausdruck eines nicht weiter ableitbaren Faktums, dass das Ich seine Tätigkeit aus irgendwelchem Grunde nicht fortsetzen kann und sich gehindert fühlt. Folglich erzeugt das Ich die Vorstellung einer von sich selbst unabhängigen Welt, die den Gesetzen unterliegt, die in der Tat als eine Spiegelung der Gesetze des endlichen vernünftigen Wesens zu verstehen sind.26 Man kann den Anstoß als abstrakteste Form eines vom Ich unabhängigen Etwas auslegen, zu der Fichte gelangt, nachdem er den qualitativen und quantitativen Realismus als unzureichend ausgewiesen hatte.27 Einer der Schlüsselaspekte des Anstoßes ist es, dass er sich seiner Faktizität nach nicht aus der Tätigkeit des Ich ableiten lässt. Obgleich das Ich den Anstoß dem Nicht-Ich zuschreibt, ist das NichtIch in der Tat eher das Produkt des Ich, das das Ich in Reaktion auf den Anstoß als Erklärungsgrund seiner Begrenztheit setzt. Obwohl 26  Vgl. Günter Zöller, „German Realism. The Self-Limitation of Idealist Thinking in Fichte, Schelling, and Schopenhauer“, in: The Cambridge Companion to German Idealism, hg. von Karl Ameriks, Cambridge: Cambridge University Press, 2000, S. 200–218. 27  Zum Begriff des Anstoßes vgl. Alois K. Soller, „Fichtes Lehre vom Anstoß, Nicht-Ich und Ding an sich in der GWL. Eine kritische Erörterung“, in: Fichte Studien, 10, hg. von Wolfgang H. Schrader, Amsterdam/Atlanta: Rodopi, 1997, S. 175–189. Vgl. auch Heinz Eidam, „Fichtes Anstoß. Anmerkungen zu einem Begriff der Wissenschaftslehre von 1794“, in: a. a. O., S. 191–208. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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aber die Philosophie fähig ist zu demonstrieren, dass der Anstoß eine transzendentale Bedingung des Bewusstseins bildet, kann sie nicht sein wirkliches Vorkommen erklären. Wenn sich das Ich seiner Beschränkung bewusst sein soll, darf es nicht bloß endlich sein, denn es muss seine begrenzte Tätigkeit an der Totalität der Tätigkeit abmessen.28 Es muss also zugleich endlich und unendlich sein. Dies bedeutet, dass die Tätigkeit des Ich durch den Anstoß nicht völlig abgestoßen werden darf. Das Ich muss die Überschreitung der Grenze anstreben und sich selbst jenseits der Grenze als sich selbst nicht setzend setzen. Das wirkliche Ich ist somit immer ein endliches Ich, das sich selbst ein Nicht-Ich entgegensetzt und zugleich sich selbst als unendlich in die Sphäre des Sollens setzt. Es ist also ein gespaltenes Ich, für das eine dynamische Spannung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit charakteristisch ist, die sich dem konkreten Ich in dem Bewusstsein des kategorischen Imperatives offenbart. Man muss auch hervorheben, dass das Setzen der Grenze keine Folge der Entscheidung des Ich ist, sondern der Unmöglichkeit, das unendliche Sich-selbst-Setzen zu realisieren, die in einem Etwas gründet, das sich seiner Faktizität nach aus der Tätigkeit des Ich nicht ableiten lässt. Obwohl dieses realistische Element in der Wissenschaftslehre vorhanden ist, macht Fichte keinen Schritt über die Grenze des kritischen Idealismus hinaus, da das realistische Element durch die idealistische Perspektive ergänzt wird. Als „Realidealismus“ weist die Wissenschaftslehre auf ein Etwas hin, das sich nicht aus der Tätigkeit des Ich deduzieren lässt. Als „Idealrealismus“ betont sie aber zugleich, dass sich dieses Etwas jenseits der Grenze der möglichen Erkenntnis befindet und dass der entsprechende Gedanke nichts anderes als ein Erzeugnis des Ich ist, das nach den Gesetzen der Vernunft produziert wird. Mit dieser Bemerkung kommen wir zu der Idee des notwendigen Zirkels, aus dem der endliche Geist Fichte zufolge nicht hinausgehen kann. Zugleich haben wir zur Hand auch die Komponenten, die für die Auslegung von Fichtes Verständnis des Dinges an sich grundlegend sind. 28  Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2, S. 358 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Fichte selbst bemerkt zutreffend, dass das Bemühen, das Ding an sich zu fassen, dem Bemühen um die Ergreifung eines unendlichen Raumes ähnelt. Sobald wir ihn ergreifen, machen wir ihn notwendigerweise endlich, obwohl wir versuchen, ihn als unendlich zu begreifen.29 Auch das Ding an sich zerrinnt uns unter den Fingern: Wenn wir es als unabhängig setzen, setzen wir es als unabhängig. Es handelt sich um einen unbegreiflichen Begriff, der „aber dennoch als Gegenstand einer nothwendigen Idee allem unseren Philosophiren zum Grunde gelegt werden muss.“30 Die Doppelnatur des Anstoßes und des Dinges an sich spiegelt eigentlich die Doppelstruktur des Ich selbst. Während für das praktische Ich der Anstoß und die Dinge unabhängig sind, sind beide vom Standpunkt des theoretischen Ich bloß ideal. Aber genauso wie sich das praktische und das theoretische Ich gegenseitig bedingen, bedingen sich auch beide Dimensionen des Anstoßes und des Dinges an sich. Der Anstoß ist real, sofern er ideal ist, und ist ideal, sofern er real ist.31 Fichte fasst seinen eigenen Standpunkt in einem wichtigen Teil der Grundlage wie folgt zusammen: Dies, dass der endliche Geist nothwendig etwas absolutes ausser sich setzen muss (ein Ding an sich) und dennoch von der anderen Seite anerkennen muss, dass dasselbe nur für ihn da sey (ein nothwendiges Noumen sey), ist derjenige Cirkel, den er in das unendliche erweitern, aus welchem er aber nie herausgehen kann. Ein System, das auf diesen Cirkel gar nicht Rücksicht nimmt, ist ein dogmatischer Idealismus; denn eigentlich ist es nur der angezeigte Cirkel, der uns begrenzt und zu endlichen Wesen macht: ein System, das aus

29  Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 68. Vgl. auch Wolfgang Janke, Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin: de Gruyter, 1970, S. 185. 30  Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2, S. 414. 31  Vgl. Daniel Breazeale, „The Spirit of the Wissenschaftslehre“, in: The Reception of Kant’s Critical Philosophy. Fichte, Schelling, and Hegel, hg. von Sally Sedgwick, Cambridge: Cambridge University Press, 2000, S. 171–199. Zum Thema Realismus und Idealismus in der Wissenschaftslehre vgl. auch Valentin Pluder, Die Vermittlung von Idealismus und Realismus in der Klassischen Deutschen Philosophie. Eine Studie zu Jacobi, Kant, Fichte, Schelling und Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2013, S. 238. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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demselben herausgegangen zu seyn wähnt, ist ein transcendenter realistischer Dogmatismus.32

Der Anstoß und das Ding an sich sind für Fichte negative Grenzbegriffe, die die Grenzen unserer Erkenntnis markieren. Über diesen Grenzcharakter des Dinges an sich schreibt Fichte z. B. in dem Brief an Mehmel, dass der Satz der Wissenschaftslehre ‚Es gibt kein Ding an sich‘, mit Kant zu reden, gar kein negativer, sondern ein unendlicher Satz ist; der nur aussagt, dass da unsere Erkenntnis ganz zu Ende ist und dass wir ohne offenbaren Widerspruch über jene Grenze hinaus mit unserem Denken weder positiv noch negativ dogmatisch noch skeptisch gehen können[.]33

Unsere Erkenntnis hat ihr Ende in der Tatsache, dass es einen Anstoß gibt und dass wir begrenzt sind. Wer diese Grenze zu überschreiten versucht, ist zwangsläufig einem Dogmatismus ausgesetzt, der sowohl idealistisch als auch realistisch sein kann: Über die Erfahrung hinaus, kann gefragt werden, und dies geschieht; aber über die Philosophie kann mit Vernunft nicht gefragt werden; z. B. was der Grund der Beschränktheit, an sich sei, dies widerspricht sich selbst und wäre eine Absurditaet. Es wäre eine Anwendung der Vernunft, die von aller Vernunft abstrahirt wäre.34 [F]ragt man, welches das Beschränkende ist, so wäre man transzendent; ich bin beschränkt, ist das Letzte.35 [Der kritische Idealismus erklärt die] Entstehung der Materie […] aus einer absoluten Beschränkung: und dass es Unsinn sei, nach dem Grunde dieser weiter zu fragen, wird gezeigt.36

Anders gesagt, im Falle der ursprünglichen Begrenztheit des Ich „ist die Vernunft zu Ende“.37 Dieser Standpunkt ist auch in der Zweiten Einleitung konzise ausgesprochen: „Wird denn sonach überhaupt 32  Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2, S. 412. 33  Vgl. Fichte an Mehmel, 22. November 1800, GA III/4, S. 365–372. 34  Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 26. 35  Fichte, Vorlesungen, GA IV/1, S. 212. 36  Fichte, Fichtes Aufzeichnungen zu Platners Aphorismen, GA II/4, S. 249. 37  Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 124. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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keine Rührung, keine Affection zur Erklärung der Erkenntnis angenommen? … [A]llerdings geht alle unsere Erkenntnis aus von einer Affection; aber nicht durch einen Gegenstand.“38 Fichte will mit diesem Satz nicht sagen, wie aus dem vorhergehenden ersichtlich, dass das absolute Ich ohne weiteres sich selbst affiziert oder dass es selbst spontan die zufälligen Inhalte unserer Erfahrung erzeugt, sondern dass es unmöglich ist, die Affektion innerhalb der kritischen Philosophie weiter zu erklären. Es ist ein Zeichen der dogmatischen Philosophie, dass sie von der Existenz eines Etwas ausgeht, das angeblich unabhängig vom reinen Bewusstsein des endlichen Subjekts existiert und eine Rolle in der Erklärung unserer Erfahrung hat. Es ist dabei gleichgültig, ob diese angenommene Entität geistiger oder materieller Natur ist. Einer der fundamentalen Aspekte der Wissenschaftslehre ist es, dass sie sich im Gegensatz zum Dogmatismus nicht anmaßt „zu sagen, wie die Dinge an sich, das ist unabhängig von einem vernünftigen Wesen, sind, da sie weiß, dass eine solche Frage und eine solche Behauptung ohne Sinn sind, sondern wie sie für uns, für ein mögliches Ich, notwendig sein müssen.“39 Die Wissenschaftslehre ist in anderen Worten eine kritische transzendentale Philosophie, deren Ziel es ist, sinnlose Fragen zu identifizieren und die Grenzen der möglichen Erkenntnis festzulegen.40 Was die Frage des Idealismus und Realismus der Wissenschaftslehre angeht, lässt sich zusammenfassen, dass, wenn das Wesen des Realismus im Zugestehen eines vom Ich unabhängigen Etwas besteht, man Fichte legitim als einen Realisten bezeichnen kann, weil der Idealismus der Wissenschaftslehre im Anstoß seine realistische Grenze hat. Der Realismus der Wissenschaftslehre ist aber auf der anderen Seite durch die kritische Natur der Wissenschaftslehre klar begrenzt und qualifiziert, denn Fichte möchte sicherlich nicht mit einem Wissensanspruch behaupten, dass es eine vom Ich unabhängige Welt der Dinge an sich gibt, die auf das Ich kausal einwirken und die zufälligen Inhalte der Erfahrung generieren. Die 38  Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4, S. 241. 39  Fichte, Fichtes Aufzeichnungen zu Platners Aphorismen, GA II/4, S. 72. 40  A. a. O., S. 249. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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idealistische Erklärung des gegenständlichen Bewusstseins erreicht somit zwar notwendigerweise einen Punkt, an dem sie die Existenz eines vom Ich unabhängigen Etwas zugeben muss. Es wird aber zugleich erkannt, dass die Annahme der Existenz von diesem Etwas lediglich auf den Gesetzen der vernünftigen Reflexion der Erfahrung ruht. Es wäre daher irreführend, einfach zu behaupten, dass Fichte das Ding an sich ablehnt. Vielmehr unternimmt er den Versuch, diesen Begriff in ein richtig entwickeltes kritisches System einzuordnen und seinen Status wie auch seine Genesis zu klären und dadurch das dogmatische Element zu eliminieren, das das kritische Projekt von Kant (oder besser gesagt die Philosophie der Kantianer) kontaminierte. Das Konzept des Dinges an sich ist für ihn ein notwendiges Produkt der Reflexion, das das Ich nach den Gesetzen des Denkens produziert, wenn es mit seiner Beschränktheit konfrontiert ist. Die Wissenschaftslehre ist weder „materialistisch“, weil sie nicht von dem Ding an sich ausgeht, noch „idealistisch“, weil sie nicht vom Geist als Substanz ausgeht. Sie ist auch nicht „dualistisch“, denn sie geht auch nicht aus von dem Geist und den Dingen an sich als getrennten Substanzen.41 Als transzendentalkritisches Projekt führt sie vielmehr die Mängel verschiedener theoretischer Positionen vor und zeigt, dass selbst der in der Wissenschaftslehre gefundene Mittelweg zwischen Realismus und Idealismus, der die größte Anzahl der identifizierten Widersprüche lösen kann, Grenzen gegenübersteht, die die menschliche Vernunft prinzipiell nicht überschreiten kann. Zum Schluss wird noch eine wichtige These hinzugefügt: So wie es in der kritischen Philosophie unmöglich ist, die Tatsächlichkeit der ursprünglichen Beschränktheit des Ich zu klären, ist es auch nicht möglich, die Quelle der zufälligen Inhalte unserer Erfahrung mit Wissensanspruch zu identifizieren. Hier treffen wir also auf eine weitere prinzipiell unüberschreitbare Grenze der menschlichen Erkenntnis. „Ich bin ursprünglich beschränkt, auch ist in mir ursprünglich ein Mannigfaltiges von Gefühlen, dies kann ich nicht

41  Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, GA IV/2, S. 55. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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ändern, es ist die Bedingung alles meines Seins, darüber kann ich nicht hinaus.“42 Fichte geht es darum, die Formen und notwendigen Merkmale der materiellen Dimension der Erfahrung zu erklären. Jeglicher Versuch, die Quelle der zufälligen Inhalte der Erfahrung zu identifizieren oder zu erklären, warum sie so gegeben sind, wie sie gegeben sind, würde bedeuten, das Feld des Dogmatismus zu betreten. Die Vielfalt von zufälligen Gegebenheiten ist laut Fichte eine nicht weiter ableitbare „irrationale“ Tatsache, die wir nur feststellen können.43 Wenn Fichte behauptet, dass alle Gegenstände unserer Erfahrung durch die Einbildungskraft produziert sind, will er damit nicht sagen, dass die Einbildungskraft konkrete Inhalte unserer Erfahrung erzeugt, sondern eher das Bewusstsein dieser Inhalte. Obwohl der Anstoß nichts in das Ich hineinbringt,44 wäre es irrig, zu behaupten, dass die zufälligen Inhalte der Erfahrung in der Wissenschaftslehre aus der Tätigkeit des Ich restlos deduziert sind. Abschließend kann man also sagen, dass Fichte eine Position vertritt, die dem Standpunkt von Husserl ähnelt, demzufolge die „stoffliche Unterlage“ des Bewusstseins aus „letzten primitiven Urgegenständen“ besteht,45 die durch die Tätigkeit des Ich nicht konstituiert sind.

42  A. a. O., S. 68. 43  Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4, S. 241. Zu diesem Thema vgl. Matthew C. Altman, „Fichte’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense“, in: The Palgrave Handbook of German Idealism, hg. von ders., Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan, 2014, S. 320–344. 44  Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2, S. 411. 45  Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, in: Husserliana, IV, hg. von Marly Biemel, The Hague: Martinus Nijhoff, 1952, S. 214.

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Bibliographie Altman, Matthew C., „Fichte’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense“, in: The Palgrave Handbook of German Idealism, hg. von ders., Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan, 2014, S. 320–344. Binkelmann, Christoph, Theorie der praktischen Freiheit: Fichte – Hegel, Berlin/New York: De Gruyter, 2007. Breazeale, Daniel, „The Spirit of the Wissenschaftslehre“, in: The Reception of Kant’s Critical Philosophy. Fichte, Schelling, and Hegel, hg. von Sally Sedgwick, Cambridge: Cambridge University Press, 2000, S. 171–199. –: „Die synthetische(n) Methode(n) des Philosophierens. Kantische Fragen, Fichtesche Antworten“, in: Kant und der Frühidealismus. System der Vernunft, hg. von Jürgen Stolzenberg, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2007, S. 81–102. Eidam, Heinz, „Fichtes Anstoß. Anmerkungen zu einem Begriff der Wissenschaftslehre von 1794“, in: Fichte-Studien, 10, hg. von Wolfgang H. Schrader, Amsterdam/Atlanta: Rodopi, 1997, S. 191–208. Fichte, Johann G., Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2. –: Recension des Aenesidemus, GA I/2. –: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, GA I/3. –: Vergleichung des von Herrn Prof. Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre, GA I/3. –: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4. –: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I/4. –: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, GA I/5. –: Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen, GA I/7. –: Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie, GA II/3. –: Fichtes Aufzeichnungen zu Platners Aphorismen, GA II/4. –: Neue Bearbeitung der W.L. 1800, GA II/5. –: Briefe 1793–1795, GA III/2. –: Briefe 1796–1799, GA III/3.

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–: Briefe 1799–1800, GA III/4. –: Vorlesungen über Logik und Metaphysik, GA IV/1. –: Wissenschaftslehre nova methodo. Nachschrift Halle, GA IV/2. –: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99, hg. von Erich Fuchs, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1994. Hartkopf, Werner, „Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialektik“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 21, 1967, S. 173–207. Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, in: Husserliana, IV, hg. von Marly Biemel, The Hague: Martinus Nijhoff, 1952. Jacobi, Friedrich Heinrich, David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch, Breslau: Löwe, 1787. Janke, Wolfgang, Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin/New York: De Gruyter, 1993. Pluder, Valentin, Die Vermittlung von Idealismus und Realismus in der Klassischen Deutschen Philosophie. Eine Studie zu Jacobi, Kant, Fichte, Schelling und Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2013. Rockmore, Tom, „Fichte, German Idealism and the Thing in Itself“, in: Fichte, German Idealism, and Early Romanticism, hg. von Daniel Breazeale und Tom Rockmore, Amsterdam/New York: Rodopi, 2010, S. 9–20. Soller, Alois K., „Fichtes Lehre vom Anstoß, Nicht-Ich und Ding an sich in der GWL. Eine kritische Erörterung“, in: Fichte-Studien, 10, hg. von Wolfgang H. Schrader, Amsterdam/Atlanta: Rodopi, 1997, S. 175–189. Zöller, Günter, Fichte’s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will, Cambridge University Press: Cambridge, 1998. –: „German Realism. The Self-Limitation of Idealist Thinking in Fichte, Schelling, and Schopenhauer“, in: The Cambridge Companion to German Idealism, hg. von Karl Ameriks, Cambridge: Cambridge University Press, 2000, S. 200–218.

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„Ein neues, bis jetzt noch ganz unbekanntes Prinzip muß aufgestellt werden.“ Der Übergang zur Erscheinungslehre in Fichtes Wissenschaftslehre von 1804

Es ist eine zufällige, gleichwohl bedenkenswerte Koinzidenz der Daten: Im Jahre 1804, dem Todesjahr Immanuel Kants, trug Fichte in Berlin in drei Vorlesungszyklen die neue Fassung seiner Wissen­ schaftslehre vor. Insbesondere der zweite Zyklus wurde zur Grund­ lage seines Spätwerks.1 Wenige Jahre zuvor hatte der alte Kant die Philosophie Fichtes als ein „gänzlich unhaltbares System“2 zurückge­ wiesen. Und in der Tat, vergleicht man die Anlage und die Intention der kritischen Philosophie Kants mit dem Unternehmen der Fichte­ schen Wissenschaftslehre, dann kann man den alten Kant wohl ver­ stehen. Von der Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, und selbst von der Autonomie des Willens, deren Verteidigung sich Kant von seinen Schülern erhofft und gewünscht hatte, ist hier nicht mehr die Rede. Die Rede ist vielmehr von einem Ich, das Kant in­ dessen als ein Gespenst erschien, das man vergeblich zu haschen sucht und am Ende doch nur die eigene Hand, die danach hascht, *  Eine frühere Fassung dieses Beitrags ist erschienen in: L’être et le phénomène. Sein und Erscheinung. La Doctrine de la Science de 1804 de J. G. Fichte. Die Wissenschaftslehre 1804 J. G. Fichtes, hg. von Jean-Christophe Goddard und Alexander Schnell, Paris: Vrin, 2009, S. 365‒377. 1  Johann Gottlieb Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni, hg. von Reinhard Lauth und Joachim Widmann unter Mit­ arbeit von Peter Schneider, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1986. Im Folgenden abgekürzt als Wissenschaftslehre 1804 und zitiert nach dieser Ausgabe unter Angabe der Seiten- und Zeilenzahl. Das im Titel genannte Zitat findet sich auf S. 17024 f. 2  Intelligenzblatt der Allgem. Literatur-Zeitung, Nr. 109 vom 28. August 1799, Col. 876‒878; zit. nach Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2, S. 211. Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova © wilhelmJindrich fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764022_005

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vor sich hat.3 Daß mit der Fichteschen Wissenschaftslehre indessen ein gänzlich neuer Typ philosophischer Theoriebildung in die Welt gekommen war, das vermochte Kant nicht mehr wahrzunehmen und zu würdigen. Und so vermochte er auch nicht wahrzunehmen, daß die Fichtesche Wissenschaftslehre sich durchaus noch in dem von ihm eröffneten Denkraum hielt. Hatte Kant den Ursprung und die Grenzen der Reichweite der menschlichen Vernunft zum Gegen­ stand seiner Untersuchungen gemacht, so sah es Fichte als das ihm übertragene Erbe der Kritischen Philosophie an, entschiedener als Kant nach der Einheit der Vernunft in ihren Leistungen zu fra­ gen und von dieser Frage aus die philosophische Theorie als eine Theorie der Bedingungen menschlichen Wissens gänzlich neu zu organisieren. Diesem Programm ist nicht nur die frühe Wissenschaftslehre, sondern auch noch die Wissenschaftslehre von 1804 verpflichtet. Sie nimmt nicht nur auf Kants kritische Hauptschriften unter eben die­ ser Perspektive explizit Bezug, sondern greift auch auf das Verfahren der Vernunft zurück, von dem Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft gesprochen hatte. Es ist das in der Na­ tur der Vernunft gelegene Verfahren des Aufstiegs vom Bedingten zu einem Unbedingten. Dieses Unbedingte sah Fichte in dem Prinzip gegeben, aus dem er die Einheit der Vernunft zu begreifen suchte und das er wie in der frühen Wissenschaftslehre u. a. noch einmal als „absolutes Ich“ bezeichnete.4 Das Thema der Wissenschaftslehre von 1804 ist die Sicherung der Wirklichkeit dieses Prinzips, die Auf­ klärung seiner Struktur und der Nachweis, dass es eben dasjenige

3  Vgl. Kants Brief an Johann Heinrich Tieftrunk vom 5. April 1798, in: AA XII, Brief Nr. 805, S. 240 f. 4  Fichte, Wissenschaftslehre 1804, S. 159,20. Zur Frage der Bedeutung der Rede vom „Ich“ als Prinzip der Wissenschaftslehre von 1804 und der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 vgl. v. Vf., „Fichtes Deduktionen des Ich 1804 und 1794“, in: Fichtes Spätwerk im Vergleich, Akten des Kongresses der Internationalen J. G. Fichte-Gesellschaft, 14. bis 18. Oktober 2003 in München „J. G. Fichte: Das Spätwerk (1810–14) und das Lebenswerk“, hg. von Günter Zöller und Hans Georg von Manz; Fichte-Studien, 30, Amsterdam/New York 2006, S. 1–13. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Prinzip ist, aus dem alle anderen Formen des Wissens begründet werden können. Im Folgenden möchte ich mich nicht dem in der Fichte-Forschung relativ oft und ausführlich untersuchten ersten Teil der Wissen­ schaftslehre von 1804, dem Aufstieg zu diesem Prinzip zuwen­ den, sondern dem daran anschließenden zweiten Teil, der sog. Erscheinungslehre. Sie hat erst in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit gefunden.5 Mit ihr, so muss man sagen, steht und fällt die Wissen­ schaftslehre von 1804, sofern sie sich als eine philosophische Theorie versteht, die in letztbegründender Absicht den Ursprung unse­ rer wissenden Weltbezüge darzustellen sucht. Ein solches Projekt kann offenkundig erst dann als gelungen gelten, wenn es nicht nur den Begriff jener höchsten Vernunfteinheit aufstellt und erläutert, sondern auch die ihm zuzuschreibende logische Funktion, letzter Grund des Wissens und aller wissenden Weltbezüge zu sein, darzu­ stellen in der Lage ist. Genau das ist das Thema des zweiten Teils der Wissenschaftslehre von 1804; ja, man muss sagen, dass dies auch sein einziges Thema ist. Überblickt man den Gang der Argumenta­ tion, dann geht es gar nicht darum, konkrete Formen des Wissens bzw. materiale Bereiche der Wissenschaften zu begründen; es geht vielmehr darum, den Übergang von jener höchsten Einheit zu der­ jenigen Sphäre zu begründen, in der alles bestimmte Wissen erst sei­ nen logischen Ort hat. In diesem Sinne ist das Zitat zu verstehen, das ich meinen Überlegungen vorangestellt habe und das das Programm des zweiten Teils der Wissenschaftslehre von 1804 zusammenfasst: „Ein neues, bis jetzt noch ganz unbekanntes Prinzip muß aufgestellt werden.“ Dieses Prinzip ist das Prinzip, aus dem der genannte Über­ gang begriffen werden soll. Man muß fragen, worin dieses Prinzip besteht, wie dieser Übergang geschieht und wie es auf eine rationale 5  Vgl. u. a. Christoph Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800‒1806, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1999; vgl. ferner Roderich Barth, Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewußtsein. Das Verhältnis von logischem und theologischem Wahrheitsbegriff – Thomas von Aquin, Kant, Fichte und Frege, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004 und Ulrich Schlösser, Das Erfassen des Einleuchtens, Fichtes Wissenschaftslehre von 1804, Berlin: Philo Verlagsgesellschaft, 2001. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Weise, die sich nicht in der hermetischen Sprache Fichtes verfängt, sie aber auch nicht aus dem Blick verliert, zu verstehen ist. Im Blick auf die Komplexität des Sachzusammenhangs ist es an­ geraten, sich zu beschränken. Ich konzentriere mich daher auf den ersten Schritt derjenigen Argumentation, mit der Fichte am Beginn der Erscheinungslehre das Problem der Aufstellung jenes Prinzips entfaltet hat. Auf die Frage nach dem Verhältnis dieser Argumenta­ tion zu Kants Vernunftbegriff des Unbedingten wird am Ende kurz einzugehen sein. I. Thema und Gegenstand der Wissenschaftslehre von 1804 ist das, was Fichte als „reines Wissen“ oder „Wissen an sich“6 bezeichnet. Was da­ mit gemeint ist, soll zunächst mit wenigen Worten skizziert werden. „Reines Wissen“ ist ein epistemischer Sachverhalt, der dann in den Blick kommt, wenn der intentionale Bezug auf Gegenstände, von denen etwas gewusst wird, sozusagen in Epoché gesetzt wird und allein die für alle Fälle von Wissen von etwas invariante Grundform des Wissens als solchen zur Darstellung gebracht wird. Das reine Wissen ist somit das, was man das Eidos ‚Wissen‘ nennen kann: eine invariante allgemeine Form, die allem Wissen von etwas zugrunde liegt. Mehrere Charaktere dieses reinen Wissens sind zu nennen. Da ‚Wissen‘ kein Sachverhalt ist, auf den man sich wie auf etwas Ge­ gebenes beziehen kann und der auch nicht als Wirkung einer exter­ nen Ursache beschrieben werden kann, ist auch der Gedanke ‚reines Wissen‘ als eine spontan sich vollziehende, unbedingte Aktivität zu denken. Das ist das Erste. Damit ist ein zweiter Gedanke verbunden. Sofern jedes wirkliche Wissen von etwas ein sachhaltig bestimmtes Wissen darstellt, ist das reine Wissen auch als oberstes Prinzip von Sachhaltigkeit oder Realität zu bestimmen. Das meint der von Fich­ te in diesem Kontext verwendete Begriff des Seins.7 Sein unbeding­ 6  Fichte, Wissenschaftslehre 1804, S. 10,34/11,1. 7  A. a. O., S. 151,8 u. ö. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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ter Aktivitätssinn wird durch den des Lebens beschrieben. So ist das reine Wissen Einheit von Sein und Leben. Diese Einheit wird durch die Konjunktion der Ausdrücke „von sich, in sich, durch sich“8 beschrie­ ben. Und schließlich muß gesagt werden, dass das reine Wissen kei­ ne Vollzugsform sein kann, die ein objektiver und anonymer Prozess wäre, für den ein Subjekt vorauszusetzen wäre, das ihn seinerseits zum Gegenstand seines Wissens macht. Reines Wissen ist vielmehr als eine unmittelbare selbstbezügliche Wissensform zu denken. Das erklärt, warum Fichte am Ende des ersten Teils der Wissenschafts­ lehre von 1804 auch von einem „in sich geschlossenen Ich“9 sprechen kann, mit dem die Autarkie und äußere Relationslosigkeit sowie die inhaltliche Leere und schließlich die unmittelbare Reflexivität, die auch mit der Metapher des „reinen Lichts“10 beschrieben wird, zum Ausdruck gebracht werden soll. Zur Bezeichnung dieser unbeding­ ten aktuosen Wirklichkeit, die in einer unmittelbaren, präreflexiven, nicht-propositionalen und nicht-relationalen Wissensform präsent ist, verwendet Fichte den Ausdruck einer Einheit von „Sein und Le­ ben“11 bzw. in der Folge auch den isolierten, auf eben diesen Ein­ heitssinn bezogenen Ausdruck „Sein“.12 Im Folgenden werde ich mich dieser Terminologie weitgehend anschließen. Mit Bezug auf diesen vielfältig charakterisierten Einheitssinn der Form eines absoluten bzw. reinen Wissens ergibt sich nun die für al­ les Folgende entscheidende Frage, wie von ihm aus jenes ‚neue und ganz unbekannte Prinzip‘ aufgestellt und gewonnen werden kann, das erklären soll, wie die Sphäre des konkreten Wissens und seine Weltbezüge möglich sind. Es scheint nun aber gar nicht absehbar, wie das gehen soll. Nicht nur die Selbstgenügsamkeit jener reinen Wissensform lässt den Gedanken von einem von ihm aus zu begrün­ denden Übergang zu einer unterschiedenen Sphäre konkreten Wis­ sens als aussichtslos erscheinen; auch die deskriptive Leere, die, un­ beschadet der vielfältigen Charakterisierung seines Einheitssinnes, 8  A. a. O., S. 151,14 f.. 9  A. a. O., S. 153,6. 10  A. a. O., S. 37,12 u.ö. 11  A. a. O., S.151,20. 12  A. a. O., S. 159,14. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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mit dem Charakter seiner logischen Einfachheit gegeben ist, erlaubt es nicht, einen seinem Inhalte nach bestimmten Grund anzugeben, aus dem jener Übergang begriffen werden könnte. In der Forderung, die begründende Funktion jenes absoluten Wissens als höchsten Prinzips aus ihm selbst verständlich zu machen, und der logischen Unmöglichkeit, dieser Forderung gerecht zu werden, scheint eine unüberwindliche Aporie zu bestehen. II. Es überrascht nun nicht wenig, wenn Fichte hierzu das Folgende ausführt: Kann das Sein schlechthin nicht aus sich selber herausgehen, und Nichts außer ihm sein, so ist es das Sein selber, welches sich also konstruiert, inwieferne diese Konstruktion sein soll.13

Wie ist das zu verstehen? Was heißt es, daß das Sein sich selber kons­ truiert? Dass diese Konstruktion sein soll, ist klar, wie sie sein soll, nicht. Es empfiehlt sich, zunächst Fichtes Erklärung logisch korrekt dar­ zustellen. Sie ist offensichtlich ein hypothetischer Vernunftschluss, der leicht in die folgende Form gebracht werden kann: Maior: Wenn die Konstruktion des Seins sein soll, dann ist es das Sein selber, das sich konstruiert. Minor: Nun soll die Konstruktion des Seins sein. Konklusion: Also konstruiert das Sein sich selbst.

Nun wird deutlich, wo die Probleme liegen. Fraglich ist zuerst, was „Konstruktion des Seins“ hier heißt. Sodann ist zu klären, warum diese Konstruktion sein soll, und schließlich ist fraglich, auf welche Weise sie erfolgen soll, wenn doch als Prämisse gilt, dass das Sein nicht aus sich selber herausgehen kann. Die beiden ersten Fragen sind leicht zu beantworten. Unter der Konstruktion des Seins ist hier 13  A. a. O., S. 161,29–32. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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der Übergang vom reinen Wissen zur Sphäre konkreten Wissens zu verstehen. Er muss deswegen stattfinden, weil nur so die behauptete universale begründungslogische Funktion des höchsten Prinzips der Wissenschaftslehre als einer Theorie der Bedingungen des Wissens eingesehen werden kann. Die Frage, wie der Übergang stattfindet, ist indessen weniger leicht zu beantworten. Sie und ihre Beantwor­ tung sind das Thema der folgenden Überlegung Fichtes. Sie operiert zunächst mit einer methodologischen Reflexion, die nicht übergangen oder unterschlagen werden darf. Durch sie wird sichergestellt, daß das mit dem Ende des ersten Teils erreichte Re­ flexionsniveau nicht unterschritten wird. Hierbei ist die aus dem ersten Teil bekannte Unterscheidung zwischen einer idealistischen und einer realistischen Betrachtungsweise leitend. Sie erfährt hier jedoch eine neue Interpretation. Mit Bezug auf die in Frage stehen­ de Selbstkonstruktion des Seins ist zu sagen, dass sie hier unter einer realistischen Perspektive thematisiert wird, und zwar deswegen, weil sie vom Sein selber ausgesagt wird. Zugleich ist aber in Rechnung zu stellen, dass diese Selbstkonstruktion doch mittels eines Vernunft­ schlusses erschlossen wird. Damit ist eine idealistische Perspektive eingenommen: „Wir sind es“, so lautet denn auch der Fichtesche Kommentar, „die diese Konstruktion vollziehen“14 – und, so ist zu ergänzen, nicht das Sein selber. Mit dieser an sich trivialen Feststellung verbindet sich eine be­ sondere systematische Pointe. Sie ergibt sich aus der Rolle, die der idealistischen Perspektive seit dem Ende des ersten Teils zukommt. Dort war schon die Einsicht erreicht worden, dass das Sein nicht mehr als Relat einer epistemischen Relation thematisiert werden kann, in der es von Seiten eines epistemischen Subjekts zum Objekt einer Beschreibung gemacht würde. Vielmehr musste es als unmit­ telbare Einheit einer aktuosen Wirklichkeit und eines präreflexi­ ven Wissens von dieser Wirklichkeit gefasst werden. Hierfür steht der erwähnte Begriff der Einheit von Sein und Leben bzw. der des in sich geschlossenen Ich. Davon ist auszugehen. Daraus folgt, dass der Sachverhalt, von dem in dem hypothetischen Vernunftschluss unter einer idealistischen Perspektive die Rede ist – und dies ist die 14  Fichte, Wissenschaftslehre 1804, S. 161,31. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Selbstkonstruktion des Seins – so begriffen werden muss, dass er in der strukturellen Verfassung dieses Seins selber begründet ist und daher als Ausdruck seines Wesens begriffen werden muss. Doch wie ist das zu begreifen? Diese Frage zu beantworten heißt, das eben namhaft gemachte Dilemma aufzulösen, das nun noch einmal be­ stätigt und bekräftigt worden ist. Fichtes Strategie, dieses Dilemma aufzulösen, geht weiterhin davon aus, dass es einen inhaltlich bestimmten Grund, der aus der internen Verfassung jenes Seins erhoben werden könnte, gar nicht gibt und auch nicht geben kann. Damit findet sich der obige Hin­ weis auf die Grundlosigkeit bzw. Unbedingtheit des Seins erneut be­ stätigt. Das diesbezügliche Argument beruft sich denn auch auf den Absolutheitsstatus des Seins. Aus ihm folgt analytisch, dass es einen höheren „inneren Grund“15, aus dem diese Konstruktion begriffen werden könnte, nicht gibt. Es kann, so lautet hier die Fichtesche Er­ klärung, „dem absoluten Wesen nicht wieder zugesehen werden, wie es sich idealiter konstruiere, noch der innere Grund dieser Konstruk­ tion wieder konstruiert werden.“16 Der zweite Schritt ist der entscheidende. Er wendet diese Einsicht ins Positive. Soll nämlich von einer notwendigen Selbstkonstruktion des Seins die Rede sein können und kann hierfür schlechterdings gar kein inhaltlich bestimmter innerer Grund angegeben werden, dann muss eine solche Konstruktion als ein grundloses Faktum gedacht werden. Das bedeutet, dass die Konstruktion als eine eigenständige, frei bzw. absolut sich vollziehende Aktivität gedacht werden muss, der die Funktion eines Prinzips zukommt, das zugleich die Qualität eines Faktums hat. Da diese Aktivität bzw. dieser Akt als Akt eine ideale Selbstkonstruktion darstellt, kann gesagt werden, dass durch ihn das Sein sich im Modus der Idealität darstellt. Dem Modus der Idealität entspricht nun aber kein reines, für sich bestehendes und auf sich beruhendes Sein, sondern ein Sein im Modus einer ur­ sprünglichen Erscheinung, die nur eine Erscheinung des Seins selbst

15  A. a. O., S. 163,32. 16  A. a. O., S. 163,30/31, meine Hervorhebung. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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sein kann, weil etwas anderes gar nicht zur Verfügung steht.17 Darauf wird zurückzukommen sein. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass mit diesem Schritt genau je­ nes ‚neue und bisher noch ganz unbekannte Prinzip‘ des Übergangs zur Erscheinungslehre in einer ersten und noch vorläufigen Fassung aufgestellt wird. Dieses Prinzip lässt sich als Einheit von Prinzip und Faktum bezeichnen. Die Logik dieses Prinzip lässt sich mit Fichte in der Form eines zweiten hypothetischen Vernunftschlusses for­ mulieren und an den ersten anschließen. War es die Konklusion des ersten Schlusses, dass das Sein sich selbst konstruiere, so lautet nun der zweite Vernunftschluss, der darauf Bezug nimmt, wie folgt: Maior: Soll es zu der absoluten Einsicht kommen, dass die ideale Sich-Konstruktion im absoluten Wesen selber begründet sein müsse, so muss eine solche ideale Selbstkonstruktion absolut faktisch gesetzt werden. Minor: Nun soll es zu der absoluten Einsicht kommen. Konklusion: Also muss die ideale Selbstkonstruktion absolut fak­ tisch gesetzt werden.

Damit, so ließe sich mit Fichte sagen, ist „in der Tat etwas Neues und Großes gewonnen“18. Es ist, um ein Bild Friedrich Heinrich Jacobis aufzunehmen, jene elastische Stelle gefunden, von der aus zwar nicht ein Salto mortale, aber doch ein Sprung, und auch nicht ein Sprung in das Absolute, sondern vielmehr in die Sphäre der Erscheinung möglich ist. Dass es ein Sprung und kein Schritt ist, dafür kommt die Absolutheit und inhaltliche Leere des Seins selber auf. Der Gehalt dieses Schritts ist daher die absolut faktisch sich vollziehende ideale Selbstkonstruktion des Seins, die aufgrund ihres idealen Charakters als Erscheinung eben dieses Seins verstanden werden muss.

17  Vgl. hierzu die Erklärung Fichtes: „Oben wollten wir das reine Sein in sich selber […]; hier wollen wir dieses reine Sein nicht mehr in sich […], sondern in seiner ursprünglichen Erscheinung fassen“ (A. a. O., S. 171,23–27). 18  A. a. O., S. 163,21/22. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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III. „Nun lassen Sie nicht außer acht, daß hier alles nur problematisch bleibt.“19 Dieser einschränkende und gleichsam warnende Hin­ weis Fichtes ist nicht nur für das Verständnis des bisher Erreichten, sondern auch für den weiteren Fortgang von Bedeutung. Er relati­ viert den Status des vorgestellten Prinzips dahingehend, dass es seinerseits nur als problematisch gelten kann.20 Der sachliche Be­ zug liegt offenkundig in der Formulierung des Antecedens: „Wenn es zu der absoluten Einsicht kommen soll, dann muss die ideale Sich-Konstruktion im absoluten Wesen selber begründet sein“. Der problematische Charakter dieser Aussage und die idealistische Per­ spektive haben ihren Grund wiederum nur in der Absolutheit des Seins. Denn es ist klar, daß von diesem Sein selber aus gar kein in­ haltlich bestimmter Grund angegeben werden kann, aus dem die Notwendigkeit jener Einsicht begriffen werden könnte. Dies ist des­ wegen klar, weil mit der Exposition des absoluten Seins, das am Ende des ersten Teils erreicht worden ist, die regressive Reihe der Angabe von Bedingungen zu einem Bedingten mit eben diesem absoluten, unbedingten Sein abgeschlossen ist. Und dies ist daher der Grund, warum jene Einsicht auch nur problematisch und nicht kategorisch im Rekurs auf einen höheren Grund behauptet werden kann. Genau darin liegt aber nun das neue systematische Problem und Dilemma. Kann nämlich jenes neue Prinzip selber nur in der Form einer problematischen Aussage formuliert werden, dann droht der Übergang zur Erscheinungslehre zu etwas Zufälligem, bloß Fakti­ schem zu werden. Und so ist er bisher dargestellt worden. Nun muß aber der Anspruch der Wissenschaftslehre, eine letztbegründende Theorie zu sein, aufrechterhalten und gerechtfertigt werden. Wie das im gegenwärtigen Zusammenhang geschehen soll, ist eben­ falls nicht ohne weiteres einzusehen, und genau darin besteht das Dilemma: Es scheint zu der unerwünschten Annahme gleichsam zweier Absoluten zu führen, des absoluten Seins und seiner Erschei­ nung. Die Auflösung dieses Dilemmas kann nur darin bestehen, dass 19  A. a. O., S. 167,3/4. 20  A. a. O., vgl. S. 173,29 ff.. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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gezeigt wird, dass und wie das Prinzip des Übergangs zur Erschei­ nungslehre aus sich selbst gerechtfertigt werden kann. Daher muss es möglich sein, mit Bezug auf dieses Prinzip eine Kategorizität auf­ zuweisen, ohne den Charakter der Absolutheit aufzugeben. Und wieder muss man fragen, wie das möglich sein soll. Fichtes Vorschlag zur Lösung dieses neuen Dilemmas besteht überraschenderweise in nichts anderem als der Analyse der Logik der Problematizität bzw., wie Fichte es ausdrückt, des problematischen Soll, das dem hypothetischen Vernunftschluss zugrunde liegt. Sagt man nämlich – so lässt sich das diesbezügliche Argument zusammenfassen –, dass etwas sein soll, und sagt man dies – das ist entscheidend – im Bewusstsein der Tatsache, dass es für diese Aussage schlechterdings keinen äußeren Grund gibt, dann erhebt man in Wahrheit einen unbedingten Geltungsanspruch; das heißt, man erhebt einen Geltungsanspruch, der lediglich durch sich selbst begründet ist. Genauer ist zu sagen, dass auf diese Weise das, was gefordert wird, durch den Akt des Forderns selber begründet ist. Genau darin, in dem Umstand also, dass der unbedingte Akt der For­ derung die Rechtfertigung dieser Forderung durch sich selbst leistet, liegt das gesuchte kategorische Moment. In dem so beschriebenen, gleichsam performativ geäußerten Soll, so drückt es Fichte aus, „ist selber ein Kategorisches und Absolutes“21. Daraus lässt sich nun eine weitere und entscheidende Einsicht ableiten. Sie besteht darin, dass nunmehr eine strukturelle Ähnlich­ keit bzw. eine Isomorphie zwischen diesem Soll, das heißt, der idea­ len Selbstkonstruktion des Seins auf der einen Seite, und dem Sein, von dem der Argumentationsgang seinen Ausgang genommen hat, auf der anderen Seite, in den Blick kommt. Im Blick auf den Sta­ tus der Unbedingtheit, der beide Momente auszeichnet, lässt sich nämlich sagen, dass in beiden die Charaktere der Absolutheit, die Fichte, wie erwähnt, unter den Formeln des ‚von sich‘, ‚aus sich‘ und ‚durch sich‘ fasst, instantiiert sind. Da in beiden Fällen aber derselbe Gehalt vorhanden ist – denn ein differenter Gehalt steht hier nicht zur Verfügung –, kann man sagen, dass das absolute Sein sich in der und nach Maßgabe der Form des problematisch-unbedingten Soll 21  A. a. O., S. 168,23. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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darstellt, und das heißt, dass es sich auf eine unbedingt-faktische Weise darstellt oder, wie sich nun ohne Schwierigkeit auch sagen ließe, erscheint. Das ist am gegenwärtigen Ort der Argumentation die einzig mögliche Weise, in der der Übergang von jenem absolu­ ten Sein zur Sphäre der Erscheinung, die seine eigene Erscheinung ist, begriffen werden kann. Es ist offenbar genau die Weise, die in der Konklusion des Vernunftschlusses als ein absolut faktisches Gesetztwerden der idealen Selbstkonstruktion bezeichnet wird. Deren faktischer Charakter ist nun als Ausdruck der Problematizität ge­ rechtfertigt, die unter der Bedingung der Absolutheit des Seins un­ aufhebbar ist.22 IV. Damit nicht genug. Es ist nämlich genau dieser Status eines fakti­ schen Gesetztwerdens, der zu einem neuen Analysegang auffordert. Er lässt sich als Auflösung eines dritten Dilemmas beschreiben. Es er­ gibt sich aus dem Umstand, dass die bisherige Argumentation doch immer noch unter einer idealistischen Perspektive unternommen worden ist, denn sie folgte ja der Überlegung des Vernunftschlusses. Unter dieser Perspektive kann jedoch die im Vernunftschluss formu­ lierte Tatsache, dass die ideale Selbstkonstruktion im absoluten We­ sen selber begründet sein müsse, gar nicht angemessen dargestellt werden. Das, was bisher dargestellt und beschrieben worden ist, ist vielmehr nur der Inhalt einer Einsicht, eines Sehens, so Fichte, aber nicht der Vollzug der Sache selbst, ein Tun. Andererseits konnte der Sachverhalt einer idealen Selbstkonstruktion zunächst auch nur aus einer idealistischen Perspektive expliziert werden. Das ist das dritte Dilemma. 22  Vgl. hierzu Fichtes Kommentar: „Sonach dürfte wohl dieses Soll […] die unmittelbare, d.h. durchaus nicht weiter nachzuconstruierende, sondern unmittelbar in der Construction der Sache selber gebende ideale Sichcons­ truction des Seins selber sein […], daß wir daher die Aussicht hätten, an diesem Soll endlich ein Princip gefunden zu haben, welches in sich selber Construction und Sache, Ideal und Real ist, und Eins nicht sein kann ohne das Andere.“ A. a. O., S. 1697‒18. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Die Auflösung dieses Dilemmas ergibt sich nun aus dem Rekurs auf dasjenige Moment des absoluten Seins, das am Ende des ersten Teils zwar genannt, aber in seiner eigentümlichen Bedeutung noch nicht berücksichtigt worden ist. Das ist dasjenige Moment, das Fich­ te als „Von sich“23 bezeichnet. Damit ist gar nichts anderes als die Eigenschaft des absoluten Seins gemeint, unbedingter Grund seiner selbst zu sein. Diese Eigenschaft ist bisher aber noch nicht aus der Perspektive des Seins selber, und das heißt eben, aus einer realistischen Perspektive, thematisiert worden; vielmehr ist sie gleichsam nur erst stellvertretend, indirekt, aus der idealistischen Perspektive dargestellt worden. Daher besteht der entscheidende Schritt nun da­ rin, diese Perspektivendifferenz einzuziehen und die Vollzugsform, die in der Formel des „Von sich“ gedacht ist, als ein integrales Struk­ turmoment des absoluten Seins selber darzustellen. Das bedeutet, daß die Eigenschaft des absoluten Seins, Grund seiner selbst zu sein, als solche realisiert wird, und das heißt, dass sie als Grundlage einer realen absoluten Selbstkonstruktion begriffen wird. Das ist dann möglich, wenn das faktische Gesetztwerden als Charakter des ab­ soluten Seins selber begriffen wird. Wie dies zu begreifen ist, lässt sich nun wie folgt beschreiben: Es ist so zu begreifen, dass das absolute Sein seine Qualität, unbe­ dingter Grund seiner selbst zu sein, als solche, das heißt, als Realität setzt; und das wiederum lässt sich so ausdrücken, dass es sich sel­ ber als das, was es ist, in einem eigenständigen Akt zur Darstellung bringt. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass es sich eben darin als das, was es ist, als Bestimmtheit, darstellt und als solche erscheint. Darin erst besteht die reale Selbstkonstruktion des absoluten Seins. Sie ist real, weil sie aus dem Sein selbst erklärt wird. Sie ist zugleich ideal, weil ihr Resultat als Erscheinung beschrieben werden kann bzw. muß. Mit diesem Schritt, der hier freilich nur im Umriss skiz­ ziert werden kann, ist die Aufgabe, das ‚neue und bis dahin noch ganz unbekannte Prinzip‘ aufzustellen, der Sache nach gelöst.

23  A. a. O., S. 191,31/192,1; vgl. 194,3,26,32, 195,24 u. ö. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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V. Versucht man abschließend, einen Blick zurück zum Kantischen Vernunftbegriff des Unbedingten und zu der eingangs aufgestellten These, dass auch die Fichtesche Wissenschaftslehre von 1804 sich in dem von Kant eröffneten Denkraum hält, zu werfen, dann lässt sich in der gebotenen Kürze das Folgende sagen. Geht man, wie es nahe­ liegend ist, von dem hier leitenden Begriff des Soll aus, dann ist es in der Tat zutreffend, wie Christoph Asmuth ausführt, dass Fichtes Begriff des Soll, vergleicht man ihn mit dem Kantischen Begriff des Sollens, „vor aller Sinnlichkeit, vor einem mit Sinnlichkeit verunrei­ nigten Willen“ liegt, und dass er so etwas wie ein „Anfangen der Frei­ heit“ bezeichnet.24 Das bedeutet nicht, daß er in Kants Konzeption der Freiheit keinen Anhalt hätte. Bei aller systematischen Differenz, die sich aus dem Letztbegründungsprogramm der Wissenschafts­ lehre von 1804 ergibt und bei allen begrifflich-deskriptiven Unter­ schieden lässt sich doch von einer strukturellen Analogie insofern sprechen, als der Kantische Begriff der intelligiblen Freiheit seine Darstellung in der Form des Sittengesetzes hat, das als solches nicht auf einen mit Sinnlichkeit ‚verunreinigten Willen‘ bezogen ist. Es ist somit die Freiheit selber, die sich in Form einer universalen Gesetz­ lichkeit realisiert und auf diese Weise für das sittliche Bewusstsein erscheint. Diese Gesetzlichkeit, das kantische Sittengesetz, kann somit durchaus im Fichteschen Sinne als ein ‚absolutes Soll‘ aufge­ fasst werden, das selber ‚etwas Kategorisches‘ ist. Dieses Verhältnis, demzufolge der intelligible Begriff der Freiheit sich für das Bewusst­ sein in der Form einer unbedingten Gesetzlichkeit realisiert, hat Kant bekanntlich als ein absolutes, nicht aus dem Begriff der intel­ ligiblen Freiheit ‚herauszuklaubendes‘ Verhältnis begriffen. Dafür steht das Konzept eines unbedingten Faktums des Bewusstseins des Sittengesetzes. Dieses Verhältnis von Freiheit und Gesetz bzw. der Form von Ge­ setzlichkeit hat Kant an einer immer noch wenig beachteten Stelle als Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft bezeichnet.25 24  Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen, S. 266. 25  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, § 6 Anm. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Von ihm gilt, so führt Kant dort in einer hypothetisch formulierten Überlegung aus, dass die Freiheit und das unbedingte Gesetz in Wahrheit „einerlei“ seien und dass das unbedingte Gesetz nur der Ausdruck eines ursprünglichen Selbstbewusstseins der reinen prak­ tischen Vernunft ist.26 Dem entspricht im vorliegenden Zusammen­ hang strukturell die Tatsache, dass das absolute Sein und seine Er­ scheinung inhaltlich „einerlei“ sind und das absolute Sein am Ort der Erscheinung, der zugleich der Ort konkreten Wissens ist, eben nur sich selbst darstellt. So ist Kants Theorie des Verhältnisses von Freiheit, sittlichem Bewusstsein und unbedingter Gesetzlichkeit die sachliche und strukturelle Evidenz für die Fichtesche Theorie eines absoluten Seins und seiner Erscheinung. Hier ist der Schlüssel zu finden, mit dem Kant den Denkraum eröffnet hat, in dem auch noch Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 und das Prinzip der Erschei­ nungslehre ihren Ort haben. Bibliographie Asmuth, Christoph, Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800‒1806, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1999. Barth, Roderich, Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewußtsein. Das Verhältnis von logischem und theologischem Wahrheitsbegriff – Thomas von Aquin, Kant, Fichte und Frege, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004. Fichte, Johann G., Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni, hg. von Reinhard Lauth und Joachim Widmann unter Mitarbeit von Peter Schneider, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1986. –: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2. Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, AA V. 26  Es lässt sich mit Blick auf den Kontext und Kants Konzept von Freiheit als Autonomie relativ leicht zeigen, dass Kants hypothetische Formulierung positiv zu verstehen ist. Vgl. hierzu v. Vf. „Das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft. Zu den Grundlagen von Kants und Fichtes Theorien des sittlichen Bewußtseins“, in: Metaphysik nach Kant? Stuttgarter HegelKongreß 1987, hg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart: Klett-Cotta, 1988, S. 181–208. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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–: „Brief an Johann Heinrich Tieftrunk vom 5. April 1798“, AA XII, Brief Nr. 805, S. 240 f. Schlösser, Ulrich, Das Erfassen des Einleuchtens, Fichtes Wissenschaftslehre von 1804, Berlin: Philo Verlagsgesellschaft, 2001. Stolzenberg, Jürgen, „Das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft. Zu den Grundlagen von Kants und Fichtes Theorien des sittli­ chen Bewußtseins“, in: Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegelkongreß 1987, hg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart: Klett-Cotta, 1988, S. 181–208. –: „Fichtes Deduktionen des Ich 1804 und 1794“, in: Fichtes Spätwerk im Vergleich, Akten des Kongresses der Internationalen  J. G. Fichte-Gesellschaft, 14. bis 18. Oktober 2003 in München „J. G. Fichte: Das Spätwerk (1810–14) und das Lebenswerk“, hg. von Günter Zöller und Hans Georg von Manz, Fichte-Studien, 30, Amsterdam/New York 2006, S. 1–13.

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II. Schelling und Hegel

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Die Entwickelungen des Ich

Evolutionäre Naturphilosophie und explikative Subjekttheorie bei Schelling 1. Einleitung Schon Hegels Urteil war vernichtend. Bezüglich der Naturphilosophie der Schelling-Schule, namentlich der identitätsphilosophisch inspirierten Potenzenlehre sprach er von „vernunftlosen Analogien und besoffenen Gedankenblitzen“.1 Auch unter den empirisch orientierten Naturwissenschaftlern stand Schellings Naturphilosophie im Ruch bloßer Spekulation: Sie sei eine empirisch unhaltbare Metaphysik, die den Bezug zum wissenschaftlich Erfassbaren vollständig verloren habe. Entgegen diesen Einschätzungen war Schelling der Überzeugung, dass sich nach Kant Metaphysik berechtigterweise nur mehr in permanenter Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der positiven Wissenschaften betreiben lasse. Dies aber meinte er mit seiner Naturphilosophie gerade zu leisten – und Wissenschaft hieß für ihn dabei vor allem Naturwissenschaft: Wir wissen nicht nur dies oder jenes, sondern wir wissen ursprünglich überhaupt nichts als durch Erfahrung, und mittelst der Erfahrung, und insofern besteht unser ganzes Wissen aus Erfahrungssätzen.2

In ihrem Selbstverständnis handelt es sich bei Schellings Naturphilosophie demnach um eine „Metaphysik der Erfahrung“. Das freilich in einem anderen Sinne als bei Kant. Ihr geht es nicht um die 1  So wurde es von Karl Rosenkranz der Nachwelt überliefert (vgl. Karl Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin: Duncker und Humblot, 1844, S. 537 ff.). Zwar nennt Hegel Schelling hier nicht mit Namen, doch war der Adressat seiner Polemik den Eingeweihten klar. 2  Schelling, Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, AA I/8, S. 35. Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova © wilhelmJindrich fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764022_006

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Untersuchung der Frage, ob und wie synthetische Urteile a priori möglich, was also die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind. Vielmehr geht es in der Naturphilosophie um eine Deutung des „Ganzen der Erfahrung“. Diese Deutung trete nicht in Konkurrenz zur empirischen Wissenschaft, da sie nicht nach kausalen Erklärungen suche. Die metaphysisch verfasste Naturphilosophie frage vielmehr nach dem, was die empirischen Wissenschaften an Unerklärtem übriglassen. Sie habe die Resultate der positiven Wissenschaften zu interpretieren und auf sie beständig zurückzugreifen. Physik und Metaphysik seien also keine Konkurrenzunternehmen, sie sollen sich wechselseitig ergänzen. Man kann folglich im Blick auf Schellings Naturphilosophie Kants bekanntes Diktum variieren: Naturwissenschaft ohne Naturphilosophie ist blind; Naturphilosophie ohne Naturwissenschaft leer. Allerdings ist für Schelling die Naturwissenschaft keineswegs bloß empirisch – und zwar in dem Sinne, dass auch sie einen theoretischen Zugang zu ihren Objekten habe. „Theoretisch“ heißt für Schelling aber „konstruktiv“ – und „konstruktiv“ bedeutet für ihn: „das Objekt im Werden und als ein erst zu Stande zu Bringendes“ zu betrachten: Was reine Empirie ist, ist nicht Wissenschaft, und umgekehrt, was Wissenschaft ist, ist nicht Empirie. […] Reine Empirie, ihr Object sey welches es wolle, ist Geschichte (das absolut entgegengesetzte der Theorie). […] Der Gegensatz zwischen Empirie und Wissenschaft beruht nun eben darauf, daß jene ihr Object im Seyn als etwas fertiges und zu Stande gebrachtes; die Wissenschaft dagegen das Object im Werden und als ein erst zu Stande zu bringendes betrachtet.3

Somit trägt laut Schelling erst die Naturphilosophie einen wahrhaft wissenschaftlichen Charakter. Denn sie allein fasse die Natur „im Werden“ und als dynamischen Prozess auf. Das jedoch könne sie nur, wenn sie in Orientierung an der Subjektivitäts- resp. Trans­ zendentalphilosophie entwickelt werde. Entgegen mancher seiner programmatischen Verlautbarungen hat somit bei Schelling die Trans­ zendentalphilosophie vor der Naturphilosophie das Primat inne. 3  A. a. O., S. 39 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Die Bezeichnung seines „Systems“ als eines „objektiven Idealismus“ ist insofern konsequent – sein System selbst ist es allerdings nicht. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, wie er, in der Einleitung zum System des transscendentalen Idealismus, Natur- und Transzendentalphilosophie als zwei „gleichberechtigte Grundwissenschaften“ bezeichnen konnte oder gar, in der Allgemeinen Deduktion des dynamischen Prozesses oder der Kategorien der Physik (1800), behaupten konnte, die Naturphilosophie könne den Vorrang beanspruchen: So können wir […] nach ganz entgegengesetzten Richtungen – von der Natur zu uns, von uns zu der Natur gehen, aber die wahre Richtung für den, dem Wissen über alles gilt, ist die, welche die Natur selbst genommen hat.4

2. Das naturphilosophische Programm Unabhängig von der Berechtigung dieser kritischen Diagnose liegt, philosophiegeschichtlich betrachtet, die theoretische Motivation des naturphilosophischen Programms in Schellings Überzeugung, dass Fichtes Modell einen reinen Subjektivismus darstellt. Die Naturphilosophie Schellings ist insofern Folge des Ungenügens an Fichtes Modell eines bloß „subjektiven Idealismus“, in dem das Ich zum obersten Prinzip erhoben wird. Dagegen stellt Schelling sein Konzept eines „objektiven Idealismus“, in dem eine umfassende Kontextualisierung des Subjekts vorgenommen wird. Man könnte dies auch folgendermaßen beschreiben: Die Differenz zwischen Fichte und Schelling begründet sich daraus, dass die Subjektgenese bzw. Ich-Konstitution bei Schelling nach Maßgabe der Bildung der personalen Identität bzw. Selbst-Konstitution, bei Fichte dagegen aus den eigenen Mitteln des Subjekts, also intrasubjektiv gedeutet wird. Wenn Subjektivität aber nach dem Modell der Personalität beschrieben wird, dann wird Subjektives von etwas Objektivem her, d. h. aus einem Weltbestand heraus verstanden oder sogar erklärt. Dies ist dann der „Kontext“ des Subjekts. Mit einer 4  Schelling, Allgemeine Deduction des dynamischen Processes, AA I/8, S. 366. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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solchen Kontextualisierung wird freilich das transzendentale Theorieprogramm verlassen: Im strengen Sinn handelt es sich gar nicht um eine Kontextualisierung des (transzendentalen) Subjekts oder des Ich, sondern um eine Kontextualisierung der (empirischen) Person oder des Selbst. Nun gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Kontextualisierung des Subjekts5 in etwas Objektivem, nämlich seine Situierung: 1. in humanen Beständen, d. h. durch Integration des Subjekts in Gesellschaft, Kultur und Geschichte – der Mensch wird dann als Person, in interpersonalen Beziehungen, als soziales Wesen, als Teil der Kultur und Tradition, d. h. aus einem geschichtlichen, kulturellen und/oder sozialen Kontext heraus verstanden; 2. in Naturbeständen, d. h. durch Einordnung des Subjekts in den natürlichen Kontext – der Mensch wird dann als Leib, als Organismus, als Teil der Natur verstanden, woraus sich wiederum folgende Ansätze entwickeln lassen: a) ein evolutionäres Modell; b) eine ökologische Theorie; c) ein biologischer Kontextualismus (z. B. in Form einer Verhaltensbiologie). Die Naturphilosophie Schellings verfolgt die zweite Variante der Kontextualisierung; im System des transscendentalen Idealismus finden sich aber auch Ansätze zur ersten Form einer Kontextualisierung des Subjekts.6 Jedes Denken, das das Ich von etwas Anderem her denkt, ist grundsätzlich „objektivistisch“; jedes, das es aus eigenen Mitteln 5  Der Begriff des Subjekts ist im Folgenden immer unter der Kautele zu verstehen, dass eigentlich die empirische Person gemeint sei. 6  Auch die Lehre vom „Primat des Willens vor dem Intellekt“, die sich explizit zwar erst bei Schopenhauer, der Sache nach aber schon bei Schelling findet, stellt eine Variante der Subjekt-Kontextualisierung (2) dar: Das Ich steht im Dienst des Affektiven und Biologischen: der Selbst- und Arterhaltung. Es gibt daneben auch einen theologischen Kontextualismus der Subjekt-Genealogie, der das Subjekt ausschließlich oder vorwiegend von Gott her zu begreifen versucht. Diesen Versuch unternimmt Schelling in seinen späteren Schriften, etwa in seiner Freiheitsschrift. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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begründen will, „subjektivistisch“. Das erste führt immer zu irgendeiner Form von Determinismus: Das Ich wird bestimmt von etwas Anderem: dem Kontext, in dem es steht; das zweite impliziert dagegen stets einen Libertinismus. Fichte ist insofern – das entspricht auch seinem Selbstverständnis – der große Theoretiker der Freiheit i. S. einer Selbstermächtigung: Das Subjekt stellt sich allein auf sich selbst. Kritisch ließe sich sagen – und es ist bereits von Zeitgenossen wie Jacobi oder Jean Paul gesagt worden: Fichtes Modell ist nicht nur von einem ungeheuren Ich-Pathos, sondern sogar von einer gewissen Hybris getragen. Ihr Emblem ist der an seinem eigenen Schopf hängende Münchhausen. Freilich hat Fichte diesen Ansatz selbst vielfach relativiert: durch seine Naturrechtslehre und sein System der Sittenlehre, aber auch schon durch seinen Begriff des „artikulierten Leibes“, der bereits eine naturphilosophische Deutung verstattet. Schellings Naturphilosophie gründet dagegen das Subjekt im Natürlichen – sie entwickelt entsprechend eine „Naturgeschichte des Ich“. Insofern begründet diese „romantische Naturphilosophie“ die „Kehre“ im Deutschen Idealismus, wonach die Naturphilosophie eine „Ergänzung“ der Transzendentalphilosophie ist oder sein soll. Allerdings driftet das bei Schelling und seinen Nachfolgern oft in kabbalistisch anmutende Naturspekulationen ab – z. B. bei der „Deduktion“ der Raumdimensionen aus den Naturkräften. Für Schelling gilt folglich die einfache Gleichung: Gründung des Subjekts (in der Natur) = Begründung der Subjektivität. Schelling geht dabei von der Annahme aus, dass das Subjekt immer auch Teil der Natur ist, und zwar ein solcher Teil, der ein besonderes Merkmal besitzt: es hat Selbstbewusstsein. In der Struktur dieses Selbstbewusstseins lasse sich somit – dies die kühne Folgerung – auch die Struktur der Natur erfassen; in der inneren liege der „Schlüssel“ zur Deutung der äußeren Erfahrung. Grundlage der Naturphilosophie Schellings ist also die Feststellung, dass das Subjekt dadurch, dass es zugleich selbst Teil der Natur ist, im Selbstbewusstsein einen privilegierten Zugang zum „inneren Wesen“ dieser Natur besitze.7 7  Mit Hilfe von Schopenhauer kann man diesen Ansatz folgendermaßen spezifizieren: Aus der Perspektive des erkennenden Subjekts betrachtet, stellt der Realismus bzw. Materialismus der Naturphilosophie eine Explikation dessen Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Schelling fasst entsprechend die Natur selbst als (produktives) Subjekt auf. Daraus wird verständlich, warum Schelling in seiner Darstellung meines Systems der Philosophie die beiden Formen des Idealismus dergestalt unterscheidet, dass 1) demjenigen in subjektiver Bedeutung (Fichte) der Grundsatz: Ich ist = Alles und 2) demjenigen in objektiver Bedeutung (Schelling) der Grundsatz: Alles ist = Ich zugrunde läge.8 Schelling ist dabei der Überzeugung, dass der subjektivitätsphilosophische Ansatz in der Naturphilosophie nicht nur maßgebliches Vorbild ist, sondern zugleich überschritten wird, insofern mit einer als produktivem Subjekt verstandenen Natur, die sich selbst organisiert, das Subjekt hin zu einem diesem unverfügbaren Grund transzendiert werde: Die Aufgabe ist: das Subject-Object so objectiv zu machen, und bis zu dem Punkte aus sich herauszubringen, wo es mit der Natur (als Product) in Eines zusammenfällt; der Punct wo es Natur wird, ist auch der, wo das Unbegränzbare in ihm sich zum Ich erhebt, und wo der Gegensatz zwischen Ich und Natur, der im gemeinen Bewußtseyn gemacht wird, völlig verschwindet, die Natur = Ich, das Ich = Natur ist.9

Natur und Geist seien also im tiefsten Grunde „absolut identisch“: Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich seye, auflösen.10 dar, was man das ‚Selbstanwendungstheorem‘ nennen könnte: Wenn das Subjekt seine eigenen Erkenntniskategorien (Raum, Zeit und Kausalität) auf sich selbst anwendet – und dazu ist es in seiner ‚natürlichen‘ Explikationstätigkeit genötigt –, dann gelangt es, will es die Existenz und Genese des Gehirns, als das es sich in dieser objektiven Hinsicht gegeben ist, erklären, zwangsläufig zu einer Betrachtungsweise, in der es die gesamte (erkenntnislose) Natur als zeitlich vorausliegend und für das eigene Vorhandensein kausal notwendig ansetzen muss. Eine einseitige Analyse des eigenen (materiell gegebenen) ‚Personseins‘ führe also das erkennende Subjekt notwendig auf eine materialistische Theorie – und zwar auf eine evolutionistisch verfasste. 8  Vgl. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I/10, S. 111. 9  A. a. O., S. 95 f. 10  Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, AA I/5, S. 107. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Diese These von der Natur als Subjekt scheint rational jedoch nicht gerechtfertigt. Man muss Schelling nämlich kritisch fragen, was in einem naturphilosophischen Kontext ‚Subjektivität‘ überhaupt heißen solle. Es geht ihm innerhalb des „objektiven Idealismus“, also einer Naturphilosophie nach Maßgabe der Subjektivitätsphilosophie offenbar um eine Art von ‚performativer Selbstreferenz‘, welche die Selbstorganisationsprozesse vor allem der organischen Natur deuten helfen soll und die mit einem selbstbewussten Subjekt nur mehr sehr bedingt etwas zu tun hat. Dahinter steht dieselbe Denkfigur, die sich auch bei Schellings Bestimmung der „absoluten Vernunft“ als einer subjektlosen „intellektuellen Anschauung“11 oder der Deutung des Organismus als eines materialisierten „Subjekt-Objekts“ findet: Die (vermeintliche) Objektivierung des Subjektiven, die die Spontaneität und Autonomie des Ich auf kaum legitimierbare Weise in die Produktivität der Natur verwandelt. Und wenn schließlich die Natur als ganze von Schelling in Analogie zum einzelnen Organismus als ein produktiver, polar und kausal zirkulär strukturierter Gesamtorganismus bestimmt wird, dann erfolgt auch dies in Orientierung an dem Begriff des Subjekts als einer tätigen, in einem Spiel antagonistischer Kräfte sich entfaltenden, selbstreflexiven Einheit. Vor diesem Hintergrund ist die von Schelling immer wieder beanspruchte Eigenständigkeit der Naturphilosophie eine bloße Prätention – die Naturphilosophie bleibt gegenüber der Subjektivitätsphilosophie methodisch und systematisch nachrangig. Ob sie nun als „dynamische Physik“, als Polaritätskonzept oder als Selbstorganisationstheorie auftritt – all ihre Konzepte sind nach dem Muster der Subjektivität entworfen. In summa: Die Naturphilosophie Schellings ist eine Unterfütterung der reinen Ich-Lehre – und damit eine Überwindung des „subjektiven Idealismus“ Fichtes in Richtung eines objektiven Idealismus – durch Integration des Subjekts in den Kontext des Natürlichen. Diese natürliche Kontextualisierung der Naturphilosophie heißt vor allem: 11  Schelling bestimmt die absolute Vernunft als „totale Indifferenz des Subjectiven und Objectiven“, in der so „vom Denkenden abstrahirt“ wird, dass die Vernunft als wahres „An-Sich“ erscheint (vgl. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I/10, S. 116 f.). Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Berücksichtigung der Leiblichkeit des Menschen. Der Leib oder Organismus wird zum Verankerungspunkt des zuvor frei flottierenden Ich und damit des „Ideellen“ im „Reellen“. Damit dient die Naturphilosophie der ‚Rückeroberung‘ der Realität und wendet sich gegen deren (vorgebliche) Auflösung durch Fichte. Sie steht damit allerdings außerhalb des transzendentalen Theorieprogramms – sie beschreibt nicht das Subjekt, sondern die empirische Person. Und sie kann aufgrund ihrer methodischen und systematischen Abhängigkeit von der Subjektivitätsphilosophie nicht den Status einer gleichberechtigten „Grundwissenschaft“ beanspruchen. 3. Die geschichtliche Dimension der Naturphilosophie und die explikative Subjekttheorie Bekannt ist, dass Schellings Subjektivitätstheorie „genetisch“ sein will und die Form einer „Geschichte des Selbstbewußtseyns“ annimmt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass auch die Naturphilosophie, die nach deren Vorbild entwickelt wird, einen geschichtlichen Charakter hat. Und zwar in einem doppelten Sinn: Einerseits wird, wie das Subjekt selbst, auch die Kontextualisierung des Subjekts in der Natur genetisch aufgefasst – sie erscheint somit als eine „Naturgeschichte des Ich“. Andererseits wird die Natur selbst ebenfalls geschichtlich, d. h. als ein dynamischer Prozess und als natura naturans in ihrer Produktivität verstanden. Darüber haben viele Interpreten frohlockt und in Schelling einen Vorläufer, wenn nicht gleich den Begründer der Evolutionstheorie und sogar einer Selbstorganisationstheorie der Natur gesehen. Für letzteres lassen sich in der Tat einige Gründe vorbringen, das erste beruht dagegen auf einem Missverständnis. Und beides hängt aufs Engste zusammen. Denn Schelling legt in seiner Naturphilosophie den eigentümlichen Geschichtsbegriff seiner Subjekttheorie zugrunde und versteht Geschichte entsprechend als Entfaltung einer a priori vorhandenen Struktur und damit als einen autoreflexiven Prozess. Daraus ergibt sich jedoch ein Modell, das man als „Explikationismus“ bezeichnen kann, sicher jedoch kein Evolutionismus. Wenn Schelling Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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die Natur als etwas „zwischen absoluter Evolution und Involution Schwebendes“12 bezeichnet, dann ist damit keine natürliche Evolution in einem darwinistischen oder post-darwinistischen Sinn gemeint, sondern die „Ausfaltung“ oder „Entwickelung“ der einzelnen Naturprodukte aus einer absolut-identischen Struktur. Diese „Entwickelung“ denkt Schelling ganz nach dem Vorbild des synthetischen, sich in intellektueller Anschauung realisierenden Selbstbewusstseins, wie er es am Anfang der „Geschichte des Selbstbewußtseyns“ beschreibt: Die dynamische Organisation des Universums […] setzt eine Evolution des Universums aus Einem ursprünglichen Product, ein Zerfallen dieses Products in immer neue Producte voraus. Der Grund dieses unendlichen Zerfallens soll in die Natur durch Eine ursprüngliche Dualität gelegt worden seyn, und diese Entzweiung muß angesehen werden als entstanden in einem ursprünglichen Identischen […]. […] Diese unendliche Tendenz wird für die Anschauung eine Tendenz zur Evolution mit unendlicher Geschwindigkeit seyn.13

In Schellings Modell der Entstehung des Organischen und der Entwicklung der einzelnen Lebensformen aus dem Anorganischen und Mechanischen geht es also keineswegs um die allmähliche Evolution der Arten in einem „survival of the fittest“, sondern um die schrittweise Entfaltung derselben Organisationsstruktur der Natur auf verschiedenen Ebenen, die eine – nicht evolutionär, sondern nach einem Schichtenmodell gedachte – „Stufenfolge“ bilden: Es wäre wenigstens Ein Schritt zu jener Erklärung [von „Organisation und Leben aus Naturprincipien“] gethan, wenn man zeigen könnte, daß die Stufenfolge aller organischen Wesen durch allmählige Entwicklung Einer und derselben Organisation sich gebildet habe.14

Diese „allgemeine Organisation“ grenzt sich auf den verschiedenen Stufen der Natur jeweils dergestalt ab, dass sich in den einzelnen Naturprodukten die lineare Abfolge der Ursachen und Wirkungen zu 12  Schelling, Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, AA I/7, S. 266. 13  A. a. O., S. 265 f. 14  Schelling, Von der Weltseele, AA I/6, S. 68. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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einem Kreis und damit zu einem System schließt – auch dies nach Analogie der Subjektivität, die sich in einem selbstreflexiven Prozess konstituiere. Für Schelling sind insofern alle Naturprodukte grundsätzlich organisch: Die Natur existirt als Product nirgends, alle einzelnen Producte in der Natur sind nur Scheinproducte, nicht das absolute Product, in welchem die absolute Thätigkeit sich erschöpft, und das immer wird und nie ist.15

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wie Schelling der Meinung sein konnte, dass der Mechanismus bloß „das Negative des Organismus“ sei und die Naturphilosophie entsprechend „vom Organismus (als dem Positiven) ausgehen“ und hieraus auch den Mechanismus erklären müsse.16 Eine echte Höherentwicklung ist in solch einem Explikationsmodell nicht möglich; vielmehr artikuliert sich die a priori vorhandene Struktur der Natur von Stufe zu Stufe nur mit größerer oder geringerer Deutlichkeit. Was nun näher die „Naturgeschichte des Ich“17 anbelangt, so liegt deren Berechtigung für Schelling darin begründet, dass eine Geschichte von etwas Subjektivem nur entworfen werden kann, wenn sie von etwas Objektivem ausgeht und von etwas her konzipiert wird, was dem Subjekt vorausliegt und es in dieser Weise begründet. Eine Genese hingegen, die vom Subjekt aus eigenen Mitteln bestritten wird, ergebe immer nur einen autoreflexiven Prozess, der sich notwendig in Zirkeln verstricke und den man nur mit dem fragwürdigen Konzept der Performativität begrifflich fassen könne.18 Eine von etwas Objektivem ausgehende „Geschichte des Selbstbewußtseyns“ kann nun, wie schon die Kontextualisierung des Subjekts im Allgemeinen, zwei Formen annehmen: Entweder werden 15  Schelling, Entwurf eines Systems, AA I/7, S. 81. 16  Schelling, Von der Weltseele, AA I/6, S. 69. 17  Dieser Begriff findet sich nicht bei Schelling selbst – verwendet wurde er von Nicholas Humphrey, Die Naturgeschichte des Ich, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1995. 18  Das ist der generelle Vorwurf Schellings – ob berechtigt oder nicht – gegen Fichtes Subjektmodell. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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das Subjekt und sein Bewusstsein aus einer Naturgeschichte heraus betrachtet, oder es wird in seinem kulturellen und sozialen Kontext realgeschichtlich gedeutet. Geschichtlichkeit in der zweiten Bedeutung hat das Besondere, dass die Objektivität dieser Kontexte, aus denen heraus das Subjekt verstanden wird, ihrerseits wiederum von bewussten Subjekten in Auseinandersetzung mit der natürlichen Lebensgrundlage geschaffen worden ist. Geschichtlichkeit in der ersten Bedeutung kann das Subjekt entweder phylogenetisch als Gattungswesen oder ontogenetisch in seiner individuellen Genese meinen, wobei beide Ansätze miteinander verknüpft werden können und vielleicht müssen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es, anders als im System des transscendentalen Idealismus suggeriert, kein zugleich transzendentales und geschichtliches Modell geben kann und dass stattdessen nur solche Modelle, die Subjektivität als konkrete Personalität vorführen, Geschichtlichkeit angemessen erfassen.19 Nun findet bei Schelling dieser Entwurf der Naturgeschichte gleichfalls nach Maßgabe der Subjektgenese statt. Deshalb ist seine „Naturgeschichte des Ich“ auch kein „Evolutionismus“, sondern vielmehr, wie schon erörtert, ein „Explikationismus“: In der Natur drückt sich eine subjekthafte Kraft oder Produktivität aus, die sich in einzelnen Naturprodukten nur in dem Sinn „evolviert“, dass sie sich in ihnen ausfaltet: Das dynamische System läugnet die absolute Evolution der Natur, und geht von der Natur als Synthesis (= der Natur als Subject) zu der Natur als Evolution ( = der Natur als Object), das atomistische System geht von der Evolution als dem ursprünglichen zu der Natur als Synthesis; jenes vom Standpunkt der Anschauung zu dem der Reflexion, dieses vom Standpunkt der Reflexion zu dem der Anschauung. Beyde Richtungen sind gleich möglich.20

19  Vgl. Lars-Thade Ulrichs, „Vollständige Entfaltung des Bewusstseins. Zum Geschichtsbegriff in Schellings genetischer Subjektivitätstheorie“, in: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus, 10, 2014, S. 102–122. 20  Schelling, Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, AA I/8, S. 52. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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„Gleich möglich“ heißt es – aber Schelling gibt dem dynamischen System klar den Vorzug. Danach ist am Anfang des dynamischen Prozesses der Natur die gesamte organisierte Struktur bereits vorhanden; sie wird innerhalb dieses dynamischen Prozesses nur expliziert – in strenger Analogie zur Subjektivität, die in dem synthetischen, sich in intellektueller Anschauung realisierenden Selbstbewusstsein zu Beginn schon vollständig da ist und in der „Geschichte des Selbstbewußtseyns“ bloß reflexiv resp. begrifflich entfaltet wird.21 Vom „Standpunct des Bewußtseyns“ aus betrachtet trägt diese „Naturgeschichte des Ich“ einen teleologischen Grundcharakter. Bei Schelling ist die „Naturgeschichte des Ich“ nämlich = Genealogie des Bewusstseins. Auf der höchsten Objektivationsstufe wird der Mensch mit einem Bewusstsein ausgestattet, in dem die Natur sich selbst zu erkennen gibt: Auf dem Standpunct des Bewußtseyns erscheint mir daher die Natur als das Objective, das Ich dagegen als das Subjective; von diesem Standpunkt aus kann ich daher das Problem der Naturphilosophie nicht anders ausdrücken als so […]: aus dem Objectiven das Subjective entstehen zu lassen […], aus dem reinen Subject-Object das Subject=Object des Bewustseyns entstehen zu lassen.22

Innerhalb dieses teleologischen Prozesses wird der Intellekt zu einer Art von ‚Selbstbespiegelungsinstanz‘ der Natur. Am Ende steht die gesamte Welt noch einmal im Modus des Bewusstseins da, d. h. das Materielle und Reelle spiegelt sich im Mentalen und Ideellen: Das höchste Ziel, sich selbst ganz Object zu werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte Reflexion, welche nichts anders als der Mensch, oder, allgemeiner, das ist, was wir Vernunft nennen, durch welche zuerst die Natur vollständig in sich selbst zurückkehrt,

21  Lars-Thade Ulrichs, „Autonome Subjektivität. Begriffsexplikation in Fichtes, Schellings und Hegels genetischer Subjektivitätstheorie“, in: Héctor Ferreiro und Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.), Metaphysik – Metaphysikkritik – Neubegründung der Erkenntnis. Der Ertrag der Denkbewegung von Kant bis Hegel, Berlin: Duncker und Humblot, 2017, S. 285–298. 22  Schelling, Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer, AA I/10, S. 91. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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und wodurch offenbar wird, daß die Natur ursprünglich identisch ist mit dem, was in uns als Intelligentes und Bewußtes erkannt wird.23

Indem sich somit der Kreis der Entwicklung der Natur im „Bewusstsein“ bzw. in der „Vernunft“24 schließt, ermöglicht die in sich zurücklaufende Struktur der Naturphilosophie eine Gesamtansicht des Universums. Schelling war der Überzeugung, dass auf diese Weise ein Naturbegriff gewonnen ist, in dem der Mensch als integraler Teil der Natur aufgefasst wird.25 Mehr noch: Schelling meinte mit der 23  Schelling, System des transscendentalen Idealismus, AA I/9,1, S. 31. Die Hypothese von der Selbstbespiegelung des Universums im menschlichen Bewusstsein wird bis heute diskutiert – und zwar nicht allein von spekulativen Denkern wie Teilhard de Chardin. So schreibt Jay Rosenberg: „We can under­ stand our representational activities […] only by redescribing them in terms of the concepts of a total theory of the universe as a physical system which, of natural necessity, evolves subsystems which in turn necessarily project increasingly adequate representations of the whole. To put it crudely, we must come to see the physical universe as an integrated physical system which necessarily ‚grows knowers‘ and which thereby comes to mirror itself within itself.“ (Zit. nach: Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Oxford: Basil Blackwell, 1980, S. 297.) 24  Bei Schelling wird der Begriff des Bewusstseins später durch denjenigen der Vernunft ersetzt, die er als „heiligen Sabbath der Natur“ bezeichnet, „wo sie, ruhend über ihren vergänglichen Werken, sich selbst als sich selbst erkennt und deutet“. Schelling, Von der Weltseele, SW 1, S. 446. 25  Den hiervon völlig verschiedenen Naturbegriff Fichtes, wonach die Natur nichts anderes als das Material zur Verwirklichung des sittlichen Menschseins zu sein scheint, traf die harsche Kritik Schellings. So schreibt er in seiner Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre (1806): Die „Essenz seiner [Fichtes] ganzen Meinung von der Natur“ ist, „daß die Natur gebraucht, benutzt werden soll, und daß sie zu nichts weiter da ist, als gebraucht zu werden; sein Princip, wonach er die Natur ansieht, ist das ökonomisch-teleologische Princip“. (Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses, SW 3, S. 611) Einschränkend ist allerdings zu sagen, dass Fichte an anderer Stelle darlegt, dass ohne einen Begriff der Natur als eines organischen Ganzen keine Auffassung des Menschen weder als eines sinnlich-leiblichen Naturwesens noch als eines frei handelnden Wesens möglich sei: „Die Natur überhaupt ist sonach ein organisches Ganzes und wird als solches gesetzt. […] [S]o gewiß ich bin, so gewiß muß ich der Natur Kausalität zuschreiben; denn ich kann mich selbst nur als ihr Produkt setzen.“ Fichte, Das System der Sittenlehre, GA I/1, S. 112, 118. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Naturphilosophie, innerhalb derer die Natur als mit dem Menschen wesensgleich konstruiert wird, ein System entwickelt zu haben, in dem die Idee von der Einheit und Totalität der Natur empirisch gesättigt wäre. Die „Naturgeschichte des Ich“ i. S. eines Explikationismus mit dem Subjekt als letztem Zweck der natürlichen Entwicklung erfolgt dabei in Orientierung am Begrifflichen: Wie schon im Fall der Subjektivitätstheorie, die den Begriff des Subjekts vollständig explizieren soll und dieser Explikation unberechtigterweise den Namen der „Geschichte“ gibt, geht es in der Naturphilosophie um eine vollständige Explikation des Begriffs der Natur – dies jedoch im Realen: Ich fordere zum Behuf der Naturphilosophie die intellectuelle Anschauung […]; ich fordere aber außerdem noch die Abstraction von dem Anschauenden in dieser Anschauung […]. Der Idealismus wird bleiben; er wird nur weiter zurück und in seinen ersten Anfängen aus der Natur selbst, welche bisher der lauteste Widerspruch gegen ihn zu seyn schien, abgeleitet.26

Man darf dabei nicht verkennen, dass eine vollständige Explikation der Natur erst im (menschlichen) Bewusstsein, d. h. in der selbstreflexiven Subjektivität erfolgt. Dieser teleologisch verfasste Prozess erweckt den Anschein einer evolutionären Höherentwicklung. Er ist aber tatsächlich gar kein biologischer Prozess. Es fehlen ihm dafür die inhärenten Naturgesetzmäßigkeiten, die die Natur aus sich selbst heraus erklärten.27 Namentlich mangelt es diesem Modell – anders als den klassischen evolutionären Theorien – an allen agonalen Elementen, die einen realen Widerstreit in der Natur beschreiben: kein Kampf ums Dasein, kein Kampf um begrenzte Ressourcen, kein Kampf um die Materie. Schelling entwirft vielmehr das Bild einer lebendigen Natur als eines harmonischen Ganzen, getragen und belebt von einer „Weltseele“. Die vereinzelt bei Schelling auftretenden

26  Schelling, Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer, AA I/10, S. 92 f. 27  Dieser Mangel ist auch nicht mit einem idealistischen Begriff des Naturgesetzes, wie er sich im System des transscendentalen Idealismus findet, zu beheben.

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düsteren Diagnosen über die innere „Entzweiung in der Natur“ tragen eher den Charakter romantischer Beschwörungen. Statt einer echten evolutionären Theorie entwickelt Schelling also den Begriff der Natur als des „rein=Objektive[n] der intellektuellen Anschauung“. Das wiederum verknüpft er mit spinozistischem Gedankengut. Die Natur bestimmt er entsprechend als die Produktivität, die noch hinter der Unterscheidung zwischen natura naturans und natura naturata liegt (ebd.). In diesem Sinn ist Schellings Naturphilosophie in der Tat eine Theorie der Selbstorganisation der Natur als eines autoreflexiven Prozesses – im Sinne nämlich eines Pendants der Explikation eines vollständigen Begriffs vom Ich als dem Ergebnis eines performativen Prozesses. Dabei erfolgt die Explikation sowohl des Subjekts als auch der Natur nach dem Muster der Begriffsexplikation. In beiden Fällen findet also eine Übertragung der Begriffslogik auf die empirische Realität statt. Dass dabei einige Antizipationen bezüglich der modernen Selbstorganisationstheorie bzw. der Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik vorkommen, scheint da eher zufällig. 4. Resultate Was, nach all dieser Kritik, als bewahrenswertes Erbe des naturphilosophischen Ansatzes übrigbleibt, ist, dass Schellings Naturphilosophie die Idee von der Einheit der Natur mit Inhalt gefüllt hat. Das aber lässt sich nur behaupten, wenn man die Naturphilosophie als eine hermeneutische Wissenschaft auffasst, wonach es in ihr um eine Deutung und ein Verstehen der Natur geht. Nicht aber wäre es möglich, wenn man sie als eine Erklärung der Natur und ihrer Entwicklung auffasste. Sie steht deshalb auch in keiner Konkurrenz zur empirischen Naturwissenschaft. Schelling plädiert somit für ein Verständnis der Naturphilosophie als einer hermeneutischen Theorie, die sich zugleich aus empirischen Erkenntnisquellen speist: Mein Zweck ist [..], die Naturwissenschaft selbst erst philosophisch entstehen zu lassen, und meine Philosophie ist selbst nichts anders als Naturwissenschaft. Es ist wahr, daß uns Chemie die Elemente, Physik Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Lars-Thade Ulrichs die Sylben, Mathematik die Natur lesen lehrt; aber man darf nicht vergessen, daß es der Philosophie zusteht, das Gelesene auszulegen.28

Auslegung aber erfordert Deutung; es ist daher kein Zufall, dass bei Schelling die alte Metapher vom „Buch der Natur“ Verwendung findet, dessen „Chiffrenschrift“ es in der Philosophie zu entziffern gelte.29 Eine derartige metaphysische Deutung des Naturganzen ist aber vor allem eine Deutung unserer eigenen Rolle in der Natur und besteht in dem Nachweis, dass wir selbst ein Teil der Natur sind. Das angestrebte Gesamtbild der Natur bringt also allenfalls ein existentielles Orientierungswissen hervor. Überhaupt kann man einem solchen Programm einer „romantischen Ökologie“, die die verlorengegangene Einheit von Mensch und Natur wiederherstellen will, den Vorwurf machen, eine bloße Illusion zu sein. Die Entzweiung von Mensch und Natur ist – so ließe sich dagegen sagen – schlichtweg unaufhebbar. Schelling war sich dessen zuweilen auch bewusst: Für ihn tritt die naturphilosophische Betrachtungsweise, die er auch als eine ‚vertikal‘ ausgerichtete „absolute Erkenntnisart“ bezeichnet, niemals in Konkurrenz zur ‚horizontal‘ vorgehenden Betrachtungsart der positiven Wissenschaften.30 Empirische Naturwissenschaft und spekulative Naturphilosophie sollen einander ergänzen: Während die Naturwissenschaft die Natur als Objekt in ihren endlichen Produkten, die sich in Raum und Zeit in eine extensionale Unendlichkeit auseinanderlegen, d. h. als natura naturata untersuche, schreite die Naturphilosophie „theoretisch“ voran und fasse die Natur als Subjekt in ihrer Produktivität, d. h. als natura naturans in der intensionalen Unendlichkeit ihrer dynamischen Kräfte:

28  Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, AA I/5, S. 64. 29  Vgl. Lars-Thade Ulrichs, „Das Ganze der Erfahrung. Metaphysik und Wissenschaften bei Schopenhauer und Schelling“, in: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus, 8, 2012, S. 251‒281. 30  Vgl. Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW Erg. Bd. 2, S. 124. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Die Natur als bloßes Product (natura naturata) nennen wir Natur als Object (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Productivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subject (auf diese allein geht alle Theorie).31

Das Grundprinzip der empirischen Wissenschaften beschreibt Schelling dagegen folgendermaßen: Jedes einzelne Seyn ist bestimmt durch ein anderes einzelnes Seyn, welches gleichfalls wieder durch anderes einzelnes Seyn bestimmt ist, u.s.f. ins Endlose.32

Dies führt laut Schelling auf den Begriff der „empirischen Unendlichkeit“, wobei das Kausalgesetz als „der höchste Ausdruck der Negation, des Nichtseyns der einzelnen Dinge“ bestimmt wird.33 Diese empirische Unendlichkeit ist deshalb für Schelling nur „das falsche Scheinbild der wahren oder der aktuellen Unendlichkeit und ein bloßes Produkt der Imagination“.34 Gleichwohl ist in den Augen Schellings die Naturphilosophie auf die Resultate der empirischen Wissenschaften angewiesen.35 Entsprechend soll Schellings hermeneutische Naturphilosophie, die das kritische Unternehmen Kants zwar 31  Schelling, Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, AA I/8, S. 41. Vgl. auch a. a. O., S. 39 f. Für Schelling ist jedoch jede Erfahrung theoriegeleitet und -gesättigt. Dies wird deutlich in seinem Begriff vom Experiment, das er als eine ein „verstecktes Apriori“ enthaltende Frage an die Natur bestimmt (vgl. ebd. S. 36 f.). 32  Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW Erg. Bd. 2, S. 124. 33  Vgl. Schelling, Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW Erg. Bd. 1, S. 392 ff. Die Nähe dieser Bestimmung zu Fichtes sogenanntem „Reflexionsgesetz“ ist offenkundig. 34  Vgl. Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW Erg. Bd. 2, S. 162. 35  Wie für Schopenhauer ist auch noch für den späten Schelling die „Anschauung“ die Basis aller Erkenntnis – so Schelling in den Münchener Vorlesungen, in denen er sich v. a. gegen die Auszeichnung des Begriffs durch Hegel stellt (vgl. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, SW 5, S. 209 ff.). Das ändert freilich nichts daran, dass sowohl seine Subjektivitäts- als auch seine Naturphilosophie, wie gezeigt, am Modell der Begriffsexplikation orientiert sind. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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in vielerlei Hinsicht voraussetzt, gleichzeitig aber die Kantischen Restriktionen überschreiten will, keine bloß formale Metaphysik aus Begriffen a priori sein, sondern die Kantische Vernunftidee von der Einheit der Natur in einer Weise realisieren, die über deren bloß regulativen Gebrauch hinausgeht. Als eine „Wissenschaft von der Erfahrung überhaupt“36 bemüht sie sich um eine Auslegung dessen, was die empirischen Wissenschaften an Daten zur Verfügung stellen. Sie bleibt also trotz ihrer empirischen Orientierung eine hermeneutische Wissenschaft, die es nicht mit Einzelproblemen zu tun hat, sondern auf das Ganze einer umfassenden Weltinterpretation geht. Eine Deutung und ein Verstehen der Natur ist aber nach Schellings Überzeugung nur nach Maßgabe der eigenen Subjektivität möglich: Die Natur ist nur aus uns heraus verständlich. Dagegen ist die Natur – so müsste man ergänzen – nur aus sich selbst heraus erklärbar – nach Maßgabe der Kausalität und mit Hilfe von Gesetzesaussagen. Somit hilft Schellings Explikationismus der empirischen Naturwissenschaft in ihrer Forschungsarbeit nicht weiter und übernimmt dort bestenfalls eine philosophische Orientierungsfunktion – und zwar in derjenigen Variante des Objektivismus, der das Subjekt in einen (natürlichen) Kontext stellt.37 Die Naturwissenschaft ist dagegen echter Objektivismus: sie zielt auf objektives Erklärungswissen – ohne jeden nicht-reduktionistischen Bezug auf den Menschen und entsprechend ohne existentielle Relevanz. Schellings Naturphilosophie will aber darüber hinaus in eigentümlicher Weise dialektisch verfasst sein und in den beiden Betrachtungsrichtungen vom Subjekt zur Natur und von der Natur zum Subjekt vorgehen. Schelling ordnet beiden Deutungsrichtungen, wie schon erwähnt, zwei sich ergänzende „Grundwissenschaften“ zu: Wenn es nun Aufgabe der Transcendentalphilosophie ist, das Reelle dem Ideellen unterzuordnen, so ist es dagegen Aufgabe der Naturphilosophie, das Ideelle aus dem Reellen zu erklären: beyde

36  Vgl. Arthur Schopenhauer, Werke in 5 Bänden, Bd. 2, nach den Ausgaben letzter Hand hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich: Haffmanns, 1988, S. 210. 37  Insofern ist dieser Objektivismus eigentlich immer noch subjektbezogen. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Wissenschaften sind also Eine, nur durch die entgegengesetzten Richtungen ihrer Aufgaben sich unterscheidende Wissenschaft […].38

Diesen „realdialektischen“ Ansatz verknüpft er zu Beginn des Systems des transscendentalen Idealismus auf eine wenig erhellende Weise mit einem korrespondenztheoretischen Begriff von Wahrheit als einer Übereinstimmung des Objektiven („Gegenstände“ bzw. die bewusstlose Natur) mit dem Subjektiven („Vorstellungen“, das bewusste Ich oder die Intelligenz). Dadurch aber wird letztlich nur verdeckt, dass die gesamte Grundwissenschaft der Naturphilosophie nach dem Vorbild der Subjektivitätstheorie entwickelt wird. Somit ist sie jedoch gar keine eigenständige und erst recht keine gleichberechtigte Grundwissenschaft. Mit ihr mögen wir die Natur insofern besser verstehen, als wir uns selbst als einen Teil dieser Natur verstehen und dadurch eine existentielle Orientierung im Weltganzen erhalten. Ob wir mit dieser Deutung aber auch ein sachhaltiges Wissen über die Natur bekommen, ist dagegen fraglich. Der Grundfehler in Schellings Naturphilosophie ist allerdings nicht dies. Ihr Hauptübel liegt vielmehr in der Verwechslung oder Vermischung des Begrifflichen oder „Ideellen“ mit dem Wirklichen oder „Reellen“: Die Natur und das Subjekt explizieren sich danach auf dieselbe Weise wie wir einen Begriff explizieren. Das aber kann nie zu einem evolutionären Naturkonzept führen. Eine so verstandene Naturgeschichte ist überhaupt keine Geschichte, kein realer und schon gar kein evolutionärer Prozess: In ihr gibt es Stufen (Potenzen), aber keine kontinuierliche Entwicklung zwischen ihnen, auch keine stufenweise Höherentwicklung. Letztlich handelt es sich um ein statisches Modell, innerhalb dessen sich dieselbe „Organisation“ der Natur auf verschiedenen Ebenen nur immer deutlicher expliziert – und zwar in Analogie zur Begriffsexplikation. Wenn Schelling in seinem Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie daher eine gänzlich neue Theorie einer Geschichte der Natur ankündigt, in der, so Schelling, „der Name Naturgeschichte 38  Schelling, Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, AA I/8, S. 30. Vgl. auch § 1 des Systems des transscendentalen Idealismus und §§ 1‒4 der Einleitung zu einem ersten Entwurf der Naturphilosophie. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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eine viel höhere Bedeutung bekommen“39 würde, dann ist dem die Diagnose entgegenzuhalten, dass seinem Modell der Naturgeschichte überhaupt keine Bedeutung zukommt, da hier gar keine Geschichte beschrieben wird. Das Programm einer „Naturgeschichte des Ich“ muss demnach als ebenso gescheitert angesehen werden wie zuvor schon das Programm einer „Geschichte des Selbstbewußtseyns“. Dieses Resümee ist nicht etwa erst dann zu ziehen, wenn man Schellings Naturphilosophie am Maßstab der modernen Evolutionstheorie misst. Das wäre in der Tat sehr ungerecht. Es ging in den vorangehenden Überlegungen vielmehr um zweierlei: zum einen darum, die Behauptung, Schelling sei ein Gründungsvater der Evolutionstheorie, als Missverständnis zu erweisen, und zum andern darum, die Naturphilosophie an Schellings eigenem Anspruch zu messen. In beiden Hinsichten ist das Resultat vernichtend. So weit ihr Grundansatz in seiner Verfehltheit instruktiv ist, gehört Schellings Naturphilosophie zweifellos auf die „Schädelstätte des Geistes“. Ob es sich freilich um die „Schädelstätte des absoluten Geistes“ handelt, mag mit Fug bezweifelt werden. Bibliographie Fichte, Johann G., Das System der Sittenlehre, GA I/1. Humphrey, Nicholas, Die Naturgeschichte des Ich, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1995. Rorty, Richard, Philosophy and the Mirror of Nature, Oxford: Basil Blackwell, 1980. Rosenkranz, Karl, Hegels Leben, Berlin: Duncker und Humblot, 1844. Schelling, Friedrich W. J., Ideen zu einer Philosophie der Natur, AA I/5. –: Von der Weltseele, AA I/6. –: Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, AA I/7. –: Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, AA I/8. –: Allgemeine Deduction des dynamischen Processes, AA I/8. –: System des transscendentalen Idealismus, AA I/9. –: Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer, AA I/10. 39  Vgl. Schelling, Entwurf eines Systems, AA I/7, S. 80 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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–: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I/10. –: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW Erg. Bd. 1. –: System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW Erg. Bd. 2. –: Darlegung des wahren Verhältnisses, SW 3. –: Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, SW 5. Schopenhauer, Arthur, Werke in 5 Bänden, Bd. 2, nach den Ausgaben letzter Hand hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich: Haffmans, 1988. Ulrichs, Lars-Thade, „Das Ganze der Erfahrung. Metaphysik und Wissenschaften bei Schopenhauer und Schelling“, in: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus, 8, 2012, S. 251‒281. –: „Vollständige Entfaltung des Bewusstseins. Zum Geschichtsbegriff in Schellings genetischer Subjektivitätstheorie“, in: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus, 10, 2014, S. 102–122. –: „Autonome Subjektivität. Begriffsexplikation in Fichtes, Schellings und Hegels genetischer Subjektivitätstheorie“, in: Héctor Ferreiro und Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.), Metaphysik – Metaphysikkritik – Neubegründung der Erkenntnis. Der Ertrag der Denkbewegung von Kant bis Hegel, Berlin: Duncker und Humblot, 2017, S. 285–298.

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Jindřich Karásek

Subjekt als Geist

Zum Übergang von der Transzendentalphilosophie zur Phänomenologie des Geistes in Schellings Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre Die Philosophie des deutschen Idealismus lässt sich in zwei Entwicklungsstadien teilen. In dem ersten wird noch das Kantische Programm verfolgt und vertieft, die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis bzw. des Wissens eines endlichen Vernunftwesens zu identifizieren. Die Realisierung dieses Programms führte zur Festlegung der Grenzen, über die hinaus nichts erkannt bzw. gewusst werden kann. Und weil diese Grenzen als Implikationen der Endlichkeit des erkennenden bzw. wissenden Vernunftwesens verstanden worden sind, so ist als das, was nicht erkannt bzw. nicht gewusst werden kann, das Unendliche selbst angesehen worden. Dieser Einsicht zufolge ist es für das endliche Vernunftwesen geradezu per definitionem unmöglich, seine eigene Endlichkeit auf eine erkennende bzw. wissende Weise so zu überschreiten, dass in seinen Erkenntnis- bzw. Wissensakten das Unendliche erfasst werden könnte. Das Unendliche kann höchstens in Ideen gedacht werden, die jedoch keinen erkenntniskonstitutiven Status haben und in denen man sich dem Unendlichen nur unendlich annähern kann. Es waren bestimmt mehrere Motive, die dafür verantwortlich waren, dass die junge Generation der Denker aus dem Tübinger Stift sich mit dieser Lage nicht zufrieden stellen konnte. Der Briefwechsel zwischen Schelling und Hegel weist nach, dass es in der Philosophie nunmehr gerade darum gehen muss – und das betont zunächst eher Schelling als Hegel –, das Unendliche oder das Absolute zu erfassen. Denn wenn von dem Absoluten auch nur ausgegangen werden soll, so muss es auf irgendeine Weise bereits erfasst worden sein. So ist das zweite Entwicklungsstadium des deutschen Idealismus auf den Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova © wilhelmJindrich fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764022_007

- 978-3-8467-6402-2

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Weg gebracht worden. In ihm soll gerade über die in dem ersten Stadium gesetzten Grenzen hinausgegangen werden, und zwar so, dass das wichtigste Resultat des ersten Stadiums aufrechterhalten bleibt, nämlich die Einsicht in die grundlegende Dimension der Subjektivität. Dieses scheinbare Dilemma war nur so zu lösen, dass eine neue Auffassung der Subjektivität herausgearbeitet werden musste, in der sie nicht mehr als eine transzendentallogische Bedingung aller Erkenntnis- bzw. Wissensakte des endlichen Vernunftwesens verstanden wird, sondern ebenso sehr als eine Entität, für die gilt, dass es „in seinem Andersseyn bei sich selbst ist“ und damit die Kraft beweist, „in seiner Entäußerung sich selbst gleich zu bleiben“1, wie Hegel dies in der Phänomenologie des Geistes formulierte. Die Entität, die dessen fähig ist, ist der Geist. Der Geist ist also eine Entität, die in allem, worauf sie sich in ihren Akten bezieht und von sich selbst unterscheidet, nur sich selbst erkennt und damit alle Wirklichkeit als ihre Wirklichkeit erkennt.2 Das zweite Entwicklungsstadium des deutschen Idealismus kommt also als ein Versuch zustande, von der transzendentallogisch interpretierten Subjektivität zur Subjektivität als Geist zu übergehen.3 Im Folgenden soll gezeigt 1  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 428. 2  Hierzu vgl. Jürgen Stolzenberg, „Geschichten des Selbstbewusstseins. Fichte – Schelling – Hegel“, in: Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, hg. von Birgit Sandkaulen, Volker Gerhardt und Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner Verlag, 2009, S. 27–49. Im Anschluss an Reinholds Satz des Bewusstseins hat Hegel einen Satz formuliert, der von Konrad Cramer Hegels Satz des Bewusstseins genannt worden ist. Im Anschluss daran formuliert Stolzenberg Hegels Satz des Geistes: „Das Bewusstsein unterscheidet etwas von sich, auf das es sich so bezieht, dass es sich darin zugleich auf sich selbst bezieht.“ Vgl. a. a. O., S. 41. Das scheint mir unterbestimmt, denn dass Selbstbeziehung in der Beziehung auf etwas Anderes mit enthalten ist, ist bereits von Kant herausgestellt worden. Mit diesem Satz kann also der Eigentümlichkeit der Hegelschen Theorie des Geistes nicht Rechnung getragen werden. 3  Mit Bezug auf Hegels Theorie des Geistes redet Pippin von einer neuen Theorie der Subjektivität. Seine Bestimmung dieser neuen Theorie ist jedoch unterbestimmt. Sie solle folgendes zeigen: „was es heißt, ein erkennendes und handelndes Subjekt zu sein, sich eine Meinung zu Fakten und Ereignissen zu bilden und sich zum Handeln zu entschließen.“ Vgl. Robert Pippin, „Eine Logik der Erfahrung? Über Hegels Phänomenologie des Geistes“, in: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, hg. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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werden, dass dieses Programm bereits in Schellings Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre ansatzweise verfolgt wird, obzwar es nicht in der Form eines explizit gemachten Programms geschieht.4 I. In der ersten Abhandlung setzt sich Schelling mit der – seiner Meinung nach falschen – Interpretation der Kantischen Philosophie bei den „Kantianern“ auseinander.5 In diesem Zusammenhang wird von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008, S. 15. Dasselbe lässt sich durchaus auch z. B. von der Philosophie Kants sagen. 4  Auf die Unterschiede zwischen Schellings System des transzendentalen Idealismus und Hegels Phänomenologie des Geistes hat Werner Marx aufmerksam gemacht. Vgl. Werner Marx, „Aufgabe und Methode der Philosophie in Schellings System des transzendentalen Idealismus und Hegels Phänomenologie des Geistes“, in: Werner Marx, Schelling: Geschichte, System, Freiheit, Freiburg/ München: Karl Alber, 1977, S. 63–99. Auf die Abhandlungen geht er allerdings nicht ein. Der Hauptunterschied zum System scheint mir darin zu liegen, dass der Begriff des Geistes zugunsten des Begriffs des Ich zurückgetreten und damit die Perspektive von Fichtes Transzendentalphilosophie wieder stark in den Vordergrund geraten ist. Detailliert mit den Abhandlungen beschäftigen sich Sandkaulen (Birgit Sandkaulen-Bock, Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990) und Kuhlmann (Schellings früher Idealismus. Ein kritischer Versuch, Stuttgart/ Weimar: J. B. Metzler, 1993). 5  Mit diesem Titel hat Fichte in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre die ersten Anhänger der Kantischen Philosophie bezeichnet. Sie haben nach Fichte den Grundfehler begangen, Kants Rede von der Affektion naturalistisch interpretiert und damit die Frage nach dem Ursprung von Vorstellungen falsch beantwortet zu haben. Ihr Fehler war Fichte zufolge textexegetischer Art, weil sie ihre Interpretation nur von den Stellen der Kritik der reinen Vernunft entwickelt haben, an denen Kant davon redet, dass extramentale Gegenstände unser Gemüt affizieren und auf diese Weise die Vorstellungen in uns hervorrufen. Dieser Desinterpretation zufolge hat Kant eine naturalistisch gefasste Theorie des „infuxus physicus“ vertreten. Aus der Sicht der heutigen Kant-Interpretation hat Fichte zu Recht darauf hingewiesen, dass die Kant angemessenere Interpretation dieses Problems von der Lektüre des Kapitels von der Unterscheidung aller Gegenstände in Phaenomena und Noumena entfaltet werden muss, wo Kant das Ding an sich als Noumenon „im negativen Verstande“ bezeichnet. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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der Begriff des Geistes eingeführt.6 Schelling verfährt in seiner Kritik ähnlich wie Fichte in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre: Kant spreche zwar von den Dingen an sich, aber man müsse nur „einige Blätter weiter lesen, um zu sehen, daß nach Kants Philosophie alles, was für uns Objekt, Ding, Gegenstand ist, nur in einer ursprünglichen Synthesis der Anschauung, Objekt u.s.w. geworden ist“7, denn, so Schellings Argument, die Bedingungen der Anschauung sind Raum und Zeit als „ursprüngliche Formen der Anschauung“8. Raum und Zeit sind daher die ursprünglichen Formen der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, kraft deren erst etwas ein Objekt für uns wird. Und weil diese Synthesis eine Handlung des Gemüts ist, so sind Raum und Zeit die „HandlungsWeisen des Gemüts […] im Zustand der Anschauung“9. So ist die Zeit nach Kant eine Form, die angibt, auf welche Weise das Mannigfaltige der Anschauung in dem inneren Sinn vereinigt werden kann. Wenn Schelling allerdings auf den materiellen Charakter der Erkenntnisobjekte zu sprechen kommt, so macht er einen Schritt über Kant hinaus. Denn aus dem, 6  Leinkauf meint, dass Schelling in den Abhandlungen „[…] kalkuliert die Rede vom ‚Ich‘ in eine Rede vom ‚Geist‘[modifiziert]“. Vgl. Thomas Leinkauf, „Schelling, Einheit und Totalität. Zur Struktur des idealistischen Systems mit Blick auf die frühe Naturphilosophie“, in: Schelling-Studien, 3, 2015, S. 8, Anm. 7. Damit wird allerdings Schellings Motivation zu dieser Modifikation nicht erklärt. Schelling muss die Rede vom Ich als unzureichend angesehen haben mit Bezug auf das, was er in den Jahren 1796/1797 theoretisch zu erfassen suchte. Der Begriff des Ich musste, und das soll gezeigt werden, durch den Begriff des Geistes deshalb ersetzt werden, weil mit dem Begriff des Ich die Gleichursprünglichkeit der Subjektivität und der Welt bzw. der Natur nicht angemessen verstanden werden kann. Loock meint, die terminologische Abgrenzung gegen das Ich indiziere eine neue Konzeption. Vgl. Reinhard Loock, Schwebende Einbildungskraft. Konzeptionen theoretischer Freiheit in der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings, Würzburg: Königshausen und Neumann, 2007, S. 338. Loock sieht eine „massive Umgestaltung der Transzendentalphilosophie gegenüber ihrer Fichteschen Gestalt“ darin, dass Schelling den Geist „als ursprünglich bewusstlose Produktivität“ auffasst, die der Geist als produktive Einbildungskraft ausführt. Vgl. a. a. O., S. 342. 7  Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, AA I/4, S. 73. 8  Ebd. 9  A. a. O., S. 74. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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was zum formalen Charakter gesagt worden ist, folgt nach Schelling, dass „Anschauung überhaupt nur durch zwei absolut entgegengesetzte Tätigkeiten möglich ist“10, wobei die eine positiver, während die andere negativer Art ist.11 Schelling meint zwar, die negative Tätigkeit mit dem identifizieren zu können, was Kant „als die von Außen auf uns einwirkende Tätigkeit“12 bezeichnet habe. Weil Schelling jedoch die von den Kantianern vertretene realistische bzw. naturalistische Interpretation der Kantischen Affektionstheorie ablehnt, so muss er meinen, dass die von außen auf uns wirkende Tätigkeit unsere eigene Tätigkeit ist, die nur scheinbar von außen auf uns einwirkt. Im Hintergrund steht also die von Fichte entwickelte Theorie der Übertragung der eigenen Tätigkeit des Ich auf das Nicht-Ich und die anschließende Interpretation des Nicht-Ich als etwas Aktives. Hieraus ist auch die Bezeichnung dieser Tätigkeit als negativer zu verstehen. Sie ist deswegen negativ, weil sie die ursprüngliche Tätigkeit des Ich, die nach außen gerichtet ist, beschränkt und damit den reflexiven Selbsterfassungsprozess des in sich Zurückgehens des Ich in Gang setzt. Schelling bezeichnet sie als „die ursprüngliche geistige Tätigkeit“13 und meint, sie mit der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft identifizieren zu können.14 Es ist also festzuhalten, dass Schelling bei der Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre von Anfang an mit Kant über Kant hinausgeht, und zwar zunächst in Richtung Fichtes. Dies deswegen nur „zunächst“, weil Schelling im weiteren Verlauf Leibniz ins Spiel bringt. Die aus dem transzendentalphilosophischen Zusammenhang gewonnene These (i), das Objekt sei uns nicht von aussen gegeben, sondern „ein Product der ursprünglichen geistigen Selbstthätigkeit“15, soll im Lichte der Leibnizschen Monadologie neu interpretiert werden. Dann ist ihre Bedeutung die (ii), dass ein Ding erst dann wirklich ist, wenn es von einem Geist erkannt wird.16 Die Formulierung (ii) sagt 10  A. a. O., S. 75. 11  Ebd. 12  Ebd. 13  Ebd. 14  Ebd. 15  Ebd. 16  A. a. O., S. 76. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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allerdings wesentlich mehr aus als das, was mit der These (i) nahegelegt wird. Denn dass ein Objekt uns nicht von außen gegeben ist, sondern von dem erkennenden Subjekt durch seine geistige Spontaneität hervorgebracht wird, ist etwas anderes als die These, dass die Wirklichkeit der Dinge von dem erkennenden Geist hervorgebracht wird. Denn während die erste Formulierung noch als Interpretation der Kantischen Objektdefinition angesehen werden kann, wird in der zweiten Formulierung die Wirklichkeit der Dinge selbst von den Erkenntnisakten des Geistes abhängig gemacht. Das Objekt ist deswegen nicht von außen gegeben, weil es dasjenige ist, in dessen Begriff das Mannigfaltige der Anschauung vereinigt ist. Das Sein des Objekts ist daher von den Synthesisakten des „Ich denke“ abhängig. Die zweite These besagt dagegen, dass ein Ding erst dann vorliegt, wenn der Erkenntnisakt des Geistes vollzogen wird. Dinge sind nicht eo ipso Objekte. Was also von Objekten gilt, muss nicht eo ipso von den Dingen gelten. Zwar sind Dinge als Objekte von den Erkenntnisakten des Ich nicht unabhängig. Kant hat jedoch auch die Möglichkeit erwogen, dass die Dinge in der Anschauung auch dann gegeben sein könnten, wenn das erkennende Subjekt keinen Verstand hätte und daher keine Erkenntnisakte vollziehen könnte. Diese Annahme beruhte auf dem Dualismus der Erkenntnisstämme, der sich mit der zweiten These erübrigt hat. Es bleibt nur ein einziges Erkenntnisprinzip, nämlich dasjenige, das sich selbst erkennt. Dieses Etwas ist allerdings nicht allein ein Erkenntnisprinzip, sondern auch das Seins- bzw. Wirklichkeitsprinzip. So antwortet Schelling auf das Problem des Dings an sich mit Leibniz: Das Ding an sich ist bei Leibniz eben ein Dasein, das sich selbst erkennt, nämlich die Monade. Anders gesagt: Die sich selbst erkennende Monade ist auch das einzige, was wirklich wirklich ist.17 Systematisch wichtig ist, dass Schelling mit dieser These die Weltfrage zum Thema macht. Im Zusammenhang mit dieser Frage formuliert Schelling eine weitere wichtige These, in der die Weltfrage mit dem Begriff des Geistes eigentümlicherweise verbunden ist. In 17  In der Einleitung zu Ideen zu einer Philosophie der Natur formuliert Schelling diese These viel expliziter: „Was Leibniz allein für ursprünglich real und an sich wirklich hielt, waren vorstellende Wesen.“ Vgl. AA I/5, S. 91. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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ihr wird zunächst das Wesen der geistigen Natur, wie Schelling es nennt, zum Ausdruck gebracht und im Anschluss daran die wechselseitige Angewiesenheit des Geistes und der Welt formuliert. Das Wesen der geistigen Natur besteht nun darin, „dass in ihrem Selbstbewusstsein ein ursprünglicher Streit ist“18. Mit dem „ursprünglichen Streit“ ist offensichtlich wieder die von Fichte entfaltete und bereits erwähnte Theorie gemeint, der zufolge das wirkliche Selbstbewusstsein als eine wechselseitige Relation der positiven oder ursprünglichen und der sie beschränkenden negativen Tätigkeit zustande kommt. Daran knüpft Schelling jedoch eine These an, die nicht nur bei Kant, sondern auch bei Fichte so nicht zu finden ist. Diese These besagt (iii), dass aus dem ursprünglichen Streit im Selbstbewusstsein eine wirkliche Welt außer der geistigen Natur in der Anschauung hervorgeht.19 Damit explizit wird, was er meint, bezeichnet Schelling diesen Akt als „eine Schöpfung aus Nichts“20, als creatio ex nihilo. Vorher war es also die Wirklichkeit der Dinge, die von den Erkenntnisakten des Geistes abhängig war. Jetzt ist es die Wirklichkeit der Welt selbst, deren Sein von der inneren Verfassung der geistigen Subjektivität abhängig gemacht wird.21 Und im Anschluss an diese 18  Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, AA I/4, S. 76. 19  Ebd. 20  Ebd. 21  Nach Ewertowski wollte Schelling erklärtermaßen über Fichtes Wissenschaftslehre hinausgehen, indem er versuchte zu zeigen, dass nicht nur die Vorstellungen von der Welt als notwendige Bewusstseinsinhalte des Ich begründet, sondern vielmehr die wirkliche Genese dieser Inhalte nachvollzogen werden soll. Es sei Schelling also nicht um die Erklärung unserer Vorstellungen von der Welt als unverzichtbarer Mittel zum Zweck unseres Selbstbewusstseins, sondern um die Erweiterung unseres Selbstbewusstseins über die ihm zunächst gezogenen Grenzen hinaus zur Weltwirklichkeit gegangen. Vgl. Jörg Ewertowski, Die Freiheit des Anfangs und das Gesetz des Werdens. Zur Metaphorik von Mangel und Fülle in F. W. J. Schellings Prinzip des Schöpferischen, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1999, S. 133 f. Die Erweiterungsthese habe ich eingangs formuliert, insofern stimme ich Ewertowskis Interpretation zu. Ich würde nur hinzufügen, dass die Weltwirklichkeit zugleich als des Geistes eigene Wirklichkeit von dem Geist erkennt werden soll. Das scheint mir aus Schellings Ausführungen in der ersten Abhandlung deutlich hervorzugehen. Darauf weist jedoch Ewertowski selber Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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These formuliert Schelling nun die These (iv) von der wechselseitigen Angewiesenheit des Geistes und der Welt: „Und darum ist keine Welt da, es sey denn, dass sie ein Geist erkenne, und umgekehrt kein Geist, ohne dass eine Welt ausser ihm da sey.“22 Zwar ist diese These in dem bisher von Schelling entfalteten Argumentationsgang nicht begründet. Denn Schelling ist noch nicht berechtigt, die zweite Hälfte der These zu behaupten, dass der Geist ohne Welt außer ihm nicht vorkommen könne. Zwar ist ohne Erkenntnisakten des Geistes keine Welt vorhanden. Aber ohne das Sein der Welt gibt es nicht nur keine Erkenntnisakte des Geistes, sondern vielmehr gar keinen Geist. In dem hier verfolgten systematischen Kontext ist jedoch wichtig, dass Schelling auf die analysierte Weise in der ersten „Abhandlung“ einen ersten Schritt zum Übergang von dem transzendental gefassten epistemischen Subjekt, das in den synthetischen Akten der produktiven Einbildungskraft die Objekte der Anschauung aus dem gegebenen Mannigfaltigen der Erscheinung konstituiert, zu der geistigen Natur, die in der Relation der wechselseitigen Angewiesenheit mit der Welt steht, vollzieht. Die Fichtesche These: „Ohne Subjekt kein Objekt und ohne Objekt kein Subjekt“ wird in der ontologischen Perspektive in die These umgewandelt: „Ohne Geist keine Welt und ohne Welt kein Geist.“ Dementsprechend besteht der zweite Grundfehler der Kantianer Schelling zufolge darin, dass sie den Geist der Welt und der ganzen Wirklichkeit entfremdet haben.23 Diese Entfremdung muss also in einer neuen Theorie überwunden werden, die eben von der formulierten wechselseitigen Angewiesenheit des Geistes und der Welt ihren Ausgang nimmt.

hin: Schelling habe im Transzendentalsystem durchgeführt, was er in den Abhandlungen als Aufgabe formuliert hatte, nämlich die These, dass Welterkenntnis zugleich Selbsterkenntnis ist. Vgl. a. a. O., S. 195. In den Abhandlungen handelt es sich jedoch explizit um die Selbsterkenntnis des Geistes, während im Transzendentalsystem Schelling die Rede vom Geist zugunsten des Ich zurücknimmt. Und in dem Transzendentalsystem ist auch die Angewiesenheitsthese des Geistes und der Welt nicht zu finden. 22  Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, AA I/4, S. 76, meine Hervorhebung. 23  A. a. O., S. 78. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Im Anschluss an diese Kritik verbindet Schelling am Ende der ersten „Abhandlung“ die Kantische Theorie der von der transzendentalen Apperzeption gestifteten Gesetzmäßigkeit der Natur mit Fichtes Konzeption einer Geschichte des Selbstbewusstseins, und dies wiederum so, dass er damit über Kant aber auch über Fichte hinausgeht. Die Natur, so Schelling, sei von den Gesetzen der Natur als Handlungsweisen unseres Geistes nichts Verschiedenes, sondern „sie ist selbst nur eine fortgehende Handlung des unendlichen Geistes, in welcher er erst zum Selbstbewußtseyn kömmt, und durch welche er diesem Selbstbewußtseyn Ausdehnung, Fortdauer, Continuität und Nothwendigkeit giebt“24. Zunächst ist zu bemerken, dass Kant und Fichte die These, dass die Subjektivität sich das Prädikat der Ausdehnung soll zuschreiben können, hätten sinnlos finden müssen. Es ist nun anzunehmen, dass Schelling die Begriffe der Natur und der Welt koextensiv verwendet. Dann ist zu sagen: Ohne Natur kein Geist und ohne Geist keine Natur. Was hier allerdings neu hinzutritt, ist der Gedanke, dass die oben besprochene wechselseitige Angewiesenheit des Geistes und der Natur bzw. der Welt nichts Gegebenes ist, sondern in einer fortgehenden Reihe von Handlungen erst hervorgebracht wird. Das lässt sich folgendermaßen denken: Der Geist ist zunächst unendlich, genauso wie das Fichtesche Ich zunächst unendlich ist, solange es sich in die Relation zu einem Nicht-Ich nicht setzt. Seine Unendlichkeit wird mit der Relation zum NichtIch allerdings nicht aufgehoben, sondern nur beschränkt. Sie kann nicht aufgehoben werden, so argumentieren Fichte und Schelling, weil der Geist bzw. das Ich in dem Fall die einmal gesetzte Grenze nicht überschreiten könnte. Die Grenze überschreiten, so Fichte und Schelling, heißt über sie bereits hinaus zu sein. Die Grenze und ihre Überschreitung können also als Affirmation der Unendlichkeit des Geistes bzw. des Ich verstanden werden.25 Insofern die Grenze als Beschränkung des potentiell unendlichen Ich fungiert, kann sie 24  A. a. O., S. 79 f. 25  „Durch die Tendenz zur SelbstAnschauung begränzt der Geist sich selbst. Diese Tendenz aber ist unendlich, reproducirt ins Unendliche fort sich selbst. (Nur in dieser unendlichen Reproduction seiner selbst dauert der Geist fort …)“ A. a. O., S. 107. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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als Endlichkeit verstanden werden. Ist diese Grenze von dem Ich selbst gesetzt – was Fichte und Schelling angenommen haben –, kann sie als die von dem Ich selbst gesetzte Endlichkeit seiner selbst verstanden werden. Die Überschreitung der Grenze kann also als Überschreitung der von dem Ich selber gesetzten Endlichkeit und als Rückkehr zur Unendlichkeit oder als Erneuerung oder Affirmation der Unendlichkeit verstanden werden. Und nun entfaltet der Geist eine sukzessive Reihe von Handlungen, in welcher zweierlei erreicht wird: (i) der Geist erreicht Selbstbewusstsein, und zwar so, dass seinem Selbstbewusstsein in diesen Handlungen „Ausdehnung, Fortdauer, Continuität und Nothwendigkeit“ zukommen. Was besagen diese Prädikate? Mit „Ausdehnung“ ist wohl nichts Räumliches gemeint.26 Was damit gemeint ist, lässt sich m. E. mit dem Begriff der Komplexität beschreiben: Das Selbstbewusstsein des Geistes gewinnt mit den bereits realisierten Handlungen einen anwachsenden Umfang an Inhalt, d. h. seine einmal realisierten Handlungen gehen nicht verloren, sondern werden in seinem Selbstbewusstsein aufrechterhalten oder aufgehoben. Zugleich dauert der Geist in den realisierten Handlungen als Geist fort, d. h. er bewahrt in den realisierten Handlungen seine Identität. Man kann sagen, er kontinuiert sich in ihnen als Geist. Das Prädikat der Notwendigkeit ist wohl so zu verstehen, dass der Geist in einem reflexiven Rückblick zu der Erkenntnis gelangt, dass seine Handlungen so und nicht anders hatten realisiert werden können. Die Notwendigkeit ist also immer nur post factum zu konstatieren. Denn nur so ist sie mit Gewissheit gewusste Notwendigkeit. 26  Das Prädikat der Ausdehnung verwendet auch Hegel, indem er in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes von dem Geist sagt: er sei „das aus der Succzeßion wie aus seiner Ausdehnung in sich zurückgegangene Ganze …“ Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 15. Und auch Hegel meint damit nicht, dass der Geist eine räumlich ausgedehnte Entität sei. Die Prädikate der Fortdauer und Kontinuität werden von Hegel eingeführt, wenn erklärt wird, wann Substanz als Subjekt aufzufassen ist. Es ist nur dann möglich, wenn Substanz „die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist.“ A. a. O., S. 18. Substanz ist also nur dann als Subjekt aufzufassen, wenn sie sich selbst setzt, indem sie ihre eigene von ihr selbst realisierte Andersheit vermittelt, d. h. überwindet und damit ihre eigene Identität, d. h. Fortdauer und Kontinuität wiederherstellt. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Interpretiert man die genannten Prädikate so, dann wird man sagen können, dass der von Schelling gemeinte Begriff des Geistes seine Substantialisierung nach sich zieht, allerdings nur unter der Bedingung, dass die Substanz in einem von ihr selbst initiierten Prozess des Werdens ihrer selbst aufgefasst wird. Der Geist soll also als Substanz erfasst werden, oder genauer: Der Geist soll sich selbst als Substanz erfassen, und zwar in einem Prozess der Selbsterfassung mit Bezug auf die Welt bzw. Natur, die gemäß der Angewiesenheitsthese als sein eigenes Anderes angesehen werden kann. Deswegen muss er aber in dieser Theorie nicht in seinem Sein, sondern vielmehr in seinem Werden erfasst werden können. Zweitens (ii) wird damit Folgendes erreicht: Mit der anwachsenden Komplexität des inneren Inhalts des Geistes wächst zugleich und proportional auch die Komplexität seines komplementären Korrelats, d. h. der Natur bzw. der Welt an, weil die Natur eben nichts anderes ist als eine fortgehende Handlung des Geistes. Daraus folgt, dass die wechselseitige Angewiesenheit des Geistes und der Welt mehr und mehr den Charakter ihrer wechselseitigen Durchdringung hat. Deswegen kann der gemeinte Prozess als allmähliche Überwindung ihrer gegenseitigen Entfremdung verstanden werden. In der zweiten Abhandlung muss nun Schelling zumindest zweierlei erläutern. Erstens muss entwickelt werden, wie das Verhältnis des Geistes und des Selbstbewusstseins genauer zu verstehen ist, denn es ist gesagt worden, dass der Geist in einer Reihe von Handlungen seinem Selbstbewusstsein Prädikate zuschreibt. Das legt nahe, dass er über Selbstbewusstsein bereits verfügt. Das ist aber bis jetzt noch nicht geklärt worden. Zweitens muss das Verhältnis des Geistes und der Natur bzw. der Welt noch präziser gefasst werden. II. In der zweiten Abhandlung geht Schelling von der erkenntnistheoretischen Fragestellung nach der Wahrheit unserer Vorstellungen aus. Das Ergebnis, zu dem Schelling gelangt, ist folgendermaßen zusammenzufassen: Weil unsere Vorstellungen erst dann wahr sind, wenn die Übereinstimmung zwischen ihnen und den in ihnen erfassten Gegenständen erreicht wird, so ist das erste und paradigmatische Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Beispiel der Wahrheit das Selbstbewusstsein selbst, und zwar deswegen, weil in ihm ursprünglich und unmittelbar die Identität der Vorstellung und des Gegenstandes gegeben ist. Nun ist das Selbstbewusstsein das einzige Beispiel der absoluten Übereinstimmung der Vorstellung und des Gegenstandes, weil nur in ihm die absolute Identität der Vorstellung und des Gegenstandes vorliegt. Schelling muss offensichtlich meinen, dass die Identität des Gegenstandes und der Vorstellung im Selbstbewusstsein deswegen absolut ist, weil (i) sowohl Vorstellung als auch Gegenstand das eine identische Ich ist, und weil (ii) seine Selbstbeziehung nicht durch etwas anderes vermittelt ist. Insofern lässt sich sagen, dass das Selbstbewusstsein absolute Wahrheit ist und das es zu Beginn als reine Unmittelbarkeit auftritt. Alle anderen Arten der Erkenntnis stellen nur eine relative Wahrheit dar, weil die Übereinstimmung der Vorstellung und des Gegenstandes in ihnen nur eine relative ist, d. h. sie ist zugleich auch ihre relative Nicht-Übereinstimmung. Das impliziert, dass ihre Wahrheit aus dem Selbstbewusstsein hergeleitet werden muss.27 Es sei das Ich in uns, führt Schelling aus, was sich allein unmittelbar und dadurch erst alles andere erkennt und versteht28, und dies deswegen, weil das Ich die absolute Identität des Subjekts und des Objekts ist, des Erkennens und des Seins. Damit ist tatsächlich der Geist der Wissenschaftslehre auf den Punkt gebracht: Das absolute Ich war in der Tat für Fichte die absolute Identität des Subjekts und des Objekts, die zugleich als Identität des Erkennens bzw. des Wissens und des Seins aufgefasst wird. Denn das Ich setzt sein eigenes Sein, und es weiß dies auch, weil es sein eigenes Sein so setzt, dass dieses Sein für es ist. Das Ich ist eben nur dasjenige, das für sich ist. Was für sich nicht ist, ist kein Ich oder es ist ein Nicht-Ich. Dieses ursprüngliche und unmittelbare Wissen hat die Form der intellektuellen Anschauung, die als absolute Identität des Subjektiven und 27  Später in der Freiheitsschrift wird Schelling ausführen, dass alle kategorischen Propositionen von der Form „S ist P“ nur eine partielle Identität aussagen, d. h. S ist nur in einer spezifischen Hinsicht dem P gleich. Vgl. Friedrich W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1997, S. 14. 28  Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, AA I/4, S. 84. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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des Objektiven strukturiert ist. Das Ich ist also von Anfang an als Selbstbewusstsein zu fassen. Oder wie Schelling dies ausdrückt, das Ich kann kein anderes Prädikat haben als das Selbstbewusstsein29. Aus diesem Grund muss die Theorie, die versucht, alle Arten unseres Wissens zu begründen, von dem Ich ihren Ausgang nehmen. Die Implikation der absoluten Identität des Subjektiven und Objektiven im Selbstbewusstsein als dem Grund aller anderen Erkenntnis besteht Schelling zufolge darin, dass, indem der Geist Objekte erkennt (anschaut), dieser nur sich selbst erkennt (anschaut). Jede Erkenntnis ist also Selbsterkenntnis des Geistes.30 Nun tut Schelling allerdings noch einen weiteren Schritt über Fichte hinaus, indem er einen Begriff des Geistes einführt, der über den Sprachgebrauch, mit dem z. B. von dem Geist der Wissenschaftslehre die Rede ist, hinausreicht. Denn nach dem Satz, in dem als das einzige Prädikat des Ich das Selbstbewusstsein eingeführt wird, fährt Schelling mit dem Satz fort, der besagt, dass das Wesen des Geistes eben darin bestehe, „dass er für sich kein anderes Prädikat hat als sich selbst“31. Soll das mehr als eine Tautologie sein, dass der Geist eben Geist ist, dann muss gemeint sein, dass der Geist kein anderes Prädikat hat als das des Selbstbewusstseins. Das bedeutet aber, dass diejenige Bestimmung, die bei Kant und Fichte für die Charakterisierung der ursprünglichen Apperzeption bzw. des reinen Ich verwendet worden ist, jetzt zur Charakterisierung der grundsätzlichen Dimension des Geistes in Anschlag gebracht wird. Das impliziert jedoch, dass der Geist nicht erst durch seine Handlungen zum Selbstbewusstsein kommt, so dass er ursprünglich ohne 29  A. a. O., S. 85. 30  Rolf-Peter Horstmann zeigt, dass Hegel in der Phänomenologie des Geistes „die extrem extravagante“ These vertritt, dass Erkenntnis immer nur als Selbsterkenntnis möglich ist. Vgl. Rolf-Peter Horstmann, „Hegels Phänomenologie des Geistes als Argument für eine monistische Ontologie“, in: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, S. 72. Auf der anderen Seite zeigt Horstmann, dass Hegels Argument zugunsten einer monistischen Erkenntnistheorie und Ontologie transzendentallogisch aufgebaut ist. Vgl. a. a. O., S. 69–71. 31  Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, AA I/4, S. 85. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Selbstbewusstsein gedacht werden müsste, sondern er ist allein dasjenige, das von Anfang an für sich selbst ist, oder anders gesagt, das von Anfang an Selbstbewusstsein als auszeichnendes Prädikat hat. Bereits in dem ersten Teil ist auf die These hingewiesen worden, die Schelling erst in der zweiten Abhandlung zum Thema macht, auf die These nämlich, dass der Geist nicht in seinem Sein, sondern vielmehr in seinem Werden aufzufassen ist, wobei dieses Werden als eine Reihe von Handlungen herausgestellt worden ist, in denen der Geist seinem Selbstbewusstsein „Ausdehnung, Fortdauer, Continuität und Notwendigkeit“ gebe. Diese Reihe von Handlungen fasst Schelling nun als Prozess der Objektivierung des Geistes auf. Daher lässt sich sagen, dass der Geist seinem Selbstbewusstsein die genannten Prädikate zuschreibt, indem er sich selbst in einem Prozess der Selbstobjektivierung erfasst. Wegen der wechselseitigen Angewiesenheit des Geistes und der Welt ist dieser Prozess näher so zu verstehen, dass die Selbstbeziehung des Geistes über die Beziehung zur Welt vermittelt wird, wobei die Komplexität des Weltbildes eine Funktion der Komplexität in der Selbsterfassung des Geistes ist. Deswegen ist mit Schelling erneut zu sagen, dass „der Geist, indem er überhaupt Objekte anschaut, nur sich selbst anschaut“32, dies aber so, dass ohne Welt diese Selbstanschauung nicht möglich wäre. Zwar stellt den Kontext wieder Fichtes Wissenschaftslehre dar. Die Philosophie, die sich dem Vorwurf des Dogmatismus nicht ausgesetzt sehen will, darf nicht von dem Sein, sondern sie muss von dem Ich ausgehen, das anschließend im Prozess des Werdens beschrieben wird, das darin besteht, dass das Ich eine Reihe von Handlungen entwickelt, in denen es jeweils angemessener sich selbst erfasst und versteht. Dass aber die damit nahegelegte anwachsende Komplexität in der Selbsterfassung des Ich zugleich die anwachsende Komplexität seines komplementären objektiven Korrelats, nämlich der Welt bzw. der Natur nach sich zieht, geht über den Fichteschen Kontext hinaus. Zwar ist das Fichtesche Ich natürlich nicht weltlos. Dass jedoch der Prozess seiner Selbsterfassung den Charakter der beschriebenen wechselseitigen Angewiesenheit des Ich und der Welt hat, ist bei Fichte nicht 32  Ebd. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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gedacht worden.33 Das Ich wird zum Geist, wenn es so gefasst wird, dass die jeweils neue Ebene seiner Selbsterfassung zugleich eine neue Gestalt der Welt nach sich zieht, und dies deswegen, weil die anwachsende Komplexität in der Selbsterfassung des Ich mit der anwachsenden Komplexität in der Erfassung der Welt korreliert.34 Solange diese Einsicht in der Theorie nicht berücksichtigt wird, kann gegen sie derjenige Entfremdungsvorwurf geltend gemacht werden, den Schelling gegen Kantianer erhoben hat. Ein weiterer Schritt im Rahmen des Übergangs vom Subjekt als Apperzeption zum Subjekt als Geist wird vollzogen, indem Schelling am Ende der zweiten Abhandlung von dem Charakter des Geistes, ursprünglich als einziges Prädikat das des Selbstbewusstseins zu haben, die Interpretation der Materie als etwas, das an sich und ursprünglich nicht wirklich ist, herleitet. Bereits mit dieser Fragestellung geht Schelling über den Kontext der Wissenschaftslehre hinaus, denn in ihr wird die Frage nach dem ontologischen Status der Materie gar nicht gestellt. Es ist allerdings auch noch etwas anderes im Spiel. Schelling formuliert nämlich sein negatives Argument wie folgt: Wäre die Materie etwas an sich selbst, müsste sie auch etwas für sich selbst sein35, d. h. sie müsste über Selbstbewusstsein verfügen. Das ist aber offenbar nicht der Fall. Deswegen kann die Materie auch nicht als etwas an sich Seiendes verstanden werden. Die negative Implikation dieses Arguments besagt natürlich, dass der Geist als etwas Materielles nicht gedacht werden kann. Hinter 33  Stolzenberg ist der Auffassung, dass es bereits in Fichtes Theorie einer Geschichte des Selbstbewusstseins darum geht, die Einheit des Selbstbewusstseins und des Weltbewusstseins herzustellen. Vgl. Stolzenberg, „Geschichten des Selbstbewusstseins. Fichte – Schelling – Hegel“, S. 32. Diese These lässt sich allerdings am Text der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre nicht bewahrheiten. Und Stolzenberg tut es auch nicht. 34  Hegel formuliert diesen Gedanken in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes mit diesen Worten: „Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Uebergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseyns und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung.“ Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 14. 35  Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, I/4, S. 92. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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diesem Argument steckt die oben im Zusammenhang mit Leibniz formulierte These, dass nur dasjenige wirklich wirklich ist, was den Charakter der Substanz hat und an sich existiert. Diese Substanz ist jedoch die (geistige) Monade. Deswegen existiert sie nicht nur an sich, sondern zugleich auch für sich. Schelling fügt daher konsequent hinzu, dass nur dasjenige den Charakter der Substanz hat, was an und für sich selbst ist. Es reicht also nicht, die Substanz als etwas an sich Seiendes, d. h. selbstständig und unabhängig von anderem Existierendes aufzufassen, sondern sie muss vielmehr als etwas aufgefasst werden, das über Selbstbewusstsein verfügt. Schelling war bekanntlich von Anfang an darauf aus, das Ich als Substanz aufzufassen,36 wozu Kant und Fichte eher eine ablehnende Stellung eingenommen hatten. Nun erlaubte der Rekurs auf die Leibnizsche Monadologie es Schelling, das Ich als Substanz aufzufassen, ohne damit die von ihm an Descartes und Spinoza kritisierte Reifizierung des Geistigen in Kauf nehmen zu müssen.

36  Vgl. § 12 der Ichschrift (AA I/2, S. 119). Schelling verwendet in der Ichschrift den Ausdruck „das Ich als das Absolute“, der diese seine Tendenz zur Substantialisierung des Ich verrät und von Fichte nicht verwendet worden ist. Vgl. a. a. O. S. 94. In den Abhandlungen kommt der Begriff der Substanz zwar nicht vor. Schelling führt jedoch in der dritten Abhandlung den Begriff der Seele ein, von der es heißt, sie sei „nach nichts so sehr bestrebt […] als nach Erhaltung ihrer selbst; ‒ woraus folgt, daß die Seele in sich selbst ihre Fortdauer und die Gewissheit ihrer Existenz trägt, dass sie also ununterdrückbare, sich selbst in’s Unendliche wiederherstellende Thätigkeit ist“ (Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, I/4, S. 112). Schelling versucht also, wie später Hegel, den von Kant mit dem Begriff der Apperzeption ersetzten Begriff der Seele in die Philosophie wieder einzuführen. Ihre auszeichnende Bestimmung ist der Selbsterhaltungstrieb. Diese Bestimmung hat Spinoza zur Charakterisierung der Substanz verwendet. Der Ausdruck „Thätigkeit“ verweist eher auf Leibniz’ Kraftbegriff als auf Fichte, was deutlich daraus hervorgeht, dass einige Absätze weiter Schelling Folgendes sagt: „Ist der menschliche Geist eine sich selbst organisierende Natur, so kommt nichts von außen, mechanisch, in ihn hinein; was in ihm ist, das hat er von innen heraus, nach einem innern Princip sich angebildet“ (a. a. O, 113). Eine explizite Unterscheidung des Geistes und der Seele trifft Schelling in seiner späten Philosophie. Hierzu vgl. Ewertowski, Die Freiheit des Anfangs, S. 310 ff. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Dass die Termini „an sich“ und „für sich“ keineswegs Hegels Erfindung sind, dürfte unumstritten sein. Jetzt zeigt sich allerdings, dass sie in dem genuin Hegelschen Kontext einer Theorie des Geistes, in der es grundsätzlich darum geht, den Geist nicht nur als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen, d. h. nicht nur als etwas, das an sich ist, sondern auch als etwas, das, indem es etwas an sich ist, zugleich auch etwas für sich ist, d. h. als etwas, das an und für sich ist, zum ersten Mal von Schelling in der zweiten Abhandlung verwendet worden sind.37 Es ist oben über diejenige Selbstbeziehung des Geistes die Rede gewesen, die durch die Beziehung zur Welt und daher durch die Beziehung zu etwas anderem vermittelt ist. Diese vermittelte Selbstbeziehung des Geistes und die in ihm zustande gekommene Art oder Gestalt des Selbstbewusstseins muss von dem ursprünglichen und absolut zu nennenden Selbstbewusstsein unterschieden werden, denn diese Art der Selbstbeziehung ist deswegen absolut zu nennen, weil sie unmittelbar ist. Es ist daher zwischen dem unmittelbaren und dem vermittelten Selbstbewusstsein zu unterscheiden. Die erste steht am Anfang der ganzen Entwicklung. Die erste vermittelte Gestalt des Selbstbewusstseins muss nun offensichtlich das Ergebnis des Aktes sein, mit dem von der ersten Unmittelbarkeit der absoluten Selbstbeziehung weitergegangen wird. Der Sinn dieses Aktes besteht in Folgendem: Der Geist ist ursprünglich kein Objekt, sondern „absolutes Subject“. Schellings Definition des Geistes zufolge ist allerdings nur dasjenige als Geist zu fassen, „was nur sein eignes Object ist“.38 Würde daher der Geist im Zustand der absoluten Selbstbeziehung beharren, könnte er sich selbst noch nicht als Geist erfassen, denn „indem er sich selbst anschaut, kann [er] sich nicht

37  Es ist darauf hinzuweisen, dass Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes den Begriff des An-und-für-sich-Seins als Charakterisierung der geistigen Substanz anhand der Explikation der These, das Geistige sei allein das Wirkliche, einführt, also im selben Kontext, in dem dieser Begriff auch von Schelling eingeführt worden ist. Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 22. 38  Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, AA I/4, S. 85. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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zugleich von sich selbst unterscheiden“39. Der Schritt über die ursprüngliche Unmittelbarkeit der absoluten Selbstbeziehung hinaus muss daher deswegen gemacht werden, damit der Geist sich selbst als Geist erfassen kann, was impliziert, dass er sich von sich selbst unterscheidet. Zwar verlässt mit ihm der Geist den Zustand des absoluten Subjekts. Er muss ihn jedoch tun, denn erst so kann er den Weg antreten, auf dem er seinem Selbstbewusstsein „Ausdehnung, Fortdauer, Continuität und Notwendigkeit“ zuschreiben kann. Dieser Weg der Selbstobjektivierung ist daher als Prozess der allmählichen Substanzialisierung der absoluten Subjektivität zu verstehen. Mit ihm gibt der Geist seine Unendlichkeit preis und wird endlich, indem er sein eigenes Objekt wird, dies jedoch so, dass die jeweils gesetzte Endlichkeit als Grenze aufgehoben wird und damit die Unendlichkeit restituiert wird. Der Geist ist also „weder unendlich noch endlich, allein, sondern in ihm ist die ursprünglichste Vereinigung von Unendlichkeit und Endlichkeit“40. Schelling bezeichnet diesen Umstand als „eine neue Bestimmung des geistigen Charakters“41. In der dritten Abhandlung interpretiert Schelling im Anschluss an diese neue Bestimmung den Prozess der Selbstobjektivierung mit Hilfe des Begriffs der Bestimmung, die erwartungsgemäß als Selbstbestimmung und folglich als Wollen aufgefasst wird.42 Der erste Schritt von der absoluten Subjektivität zum Geist als Geist hat auch die Bedeutung, dass mit ihm der absolute Zustand der Unbestimmtheit oder der Zustand der absoluten Unbestimmtheit verlassen und der Weg angetreten wird, auf dem der Geist die genannten Bestimmungen „Ausdehnung, Fortdauer, Continuität und Notwendigkeit“ sich zuschreiben kann. Das müssen diejenigen Prädikate sein, die der Geist über das Prädikat des Selbstbewusstseins hinaus erwerben soll. Weil nun dieser Prozess der fortgehenden Selbstobjektivierung die Struktur hat, dass die anwachsende Komplexität der Selbsterfassung die anwachsende Komplexität des objektiven komplementären Korrelats, das zugleich als vermittelnde Instanz des ganzen 39  A. a. O., S. 88. 40  A. a. O., S. 86. 41  Ebd. 42  A. a. O., S. 121. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Prozesses interpretiert werden muss, nämlich der Welt, nach sich zieht, so kann gesagt werden, dass der Geist zugleich mit der Welt „wird und wächst“43. III. Wenn man nun den Zielzustand der ganzen Entwicklung des Geistes allerdings in Betracht nimmt, so stellt sich ein besonderes Problem der Schellingschen Ausführungen heraus. Denn Schelling scheint der Auffassung zu sein, dass die Funktion des Zielzustandes der Begriff des Wollens übernehmen kann. Das Wollen wird von Schelling am Ende der dritten Abhandlung nämlich als „die Quelle des Selbstbewußtseyns“44 herausgestellt. Der Akt des Wollens ist daher als die höchste Bedingung45 desjenigen einzigen Prädikats angegeben, das der Geist zu Beginn seiner Entwicklung sich zuschreiben konnte. Mit ihm ist der Zustand erreicht, in dem der Geist sich von allem Objektiven wieder losgerissen und eine neue Unmittelbarkeit der intellektuellen Selbstanschauung hergestellt habe. Das bedeutet, dass der Geist im Wollen wieder weltlos geworden und daher zum Anfang der ganzen Bewegung zurückgekehrt ist. Denn „Jenseits aller Objekte […] findet der Geist nichts mehr, als sich selbst“46. Diesen Zustand des Geistes würde Hegel als defizitär bezeichnen. Denn in ihm ist der Geist in einem solchen Zustand, von dem gerade nicht gesagt werden kann, dass der Geist etwas an und für sich Seiendes ist. Der Geist „vernichtet“ „alles objektive“47 und schaut intellektuell nur „die reine Form seines Wollens“, „das ewige Gesetz seines Handelns“ an48. Aus der Sicht Hegels wäre deshalb zu sagen, dass der Geist am Ende seiner Entwicklung etwas geworden ist, was rein für sich ist. Dann kann aber nicht mehr gesagt werden, dass der Geist zugleich 43  A. a. O., S. 130. 44  A. a. O., S. 128. 45  A. a. O., S. 122. 46  A. a. O., S. 121. 47  Ebd. 48  Ebd. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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mit der Welt „wird und wächst“. Denn die Welt ist jetzt nichts „an sich wirkliches“ und hat nur Bestand in der „Expansion und Contraktion“ des Geistes.49 Ist jedoch die Welt auf diese Weise zu einer bloß inneren Angelegenheit des Geistes geworden, dann muss auch die These von der wechselseitigen Angewiesenheit des Geistes und der Welt zurückgenommen werden, weil allein ihre erste Hälfte gelten kann: „Ohne Geist keine Welt“. Für ihre zweite Hälfte: „Ohne Welt kein Geist“ hat Schelling nicht nur, wie herausgestellt, keine Begründung geliefert, sondern stellt diesen als Mangel anzusehenden Umstand in der dritten Abhandlung sogar als systematische Pointe dar. Dieses Problem war allerdings bereits in der zweiten Abhandlung präsent, denn einerseits sollte die wirkliche Welt außer der geistigen Natur aus dem ursprünglichen Streit in ihrem Selbstbewusstsein hervorgehen, andererseits sollte die wechselseitige Angewiesenheit des Geistes und der Welt gelten, die in ihrer zweiten Hälfte voraussetzt, dass die wirkliche Welt – zumindest zunächst – unabhängig von der geistigen Natur vorkommt. Schellings Ausführungen leiden also an einer gewissen Unbestimmtheit, die darin besteht, dass er zwischen der transzendentalphilosophischen Ableitung der Bedingungen der Möglichkeit des Selbstbewusstseins und einer neuen Theorie des Geistes schwankt, in der es darum geht, den Geist in einer wechselseitigen Relation mit der Welt so zu denken, dass er kraft dieser Relation eine Entwicklung durchmacht, die dazu führt, dass er sich als an und für sich seiende Entität herstellt, als Substanz, die zugleich Subjekt ist. Dann müsste auch der Begriff des An-und-für-sich-Seins die für Hegel mangelhafte Bedeutung haben, dass der Geist an und für sich ist, wenn er sich kraft des Aktes des Wollens in seine reine Innerlichkeit zurückgezogen hat. Man muss allerdings berücksichtigen, dass die Phänomenologie des Geistes als Prozess seiner fortgehenden Selbstobjektivierung oder Selbstoffenbarung hier in statu nascendi gedacht wird. Schelling geht es ja hauptsächlich um die Erläuterung des Geistes der Wissenschaftslehre. Dass er bei diesem Erläuterungsversuch über die Prämissen von Fichtes Wissenschaftslehre in Richtung einer 49  A. a. O., S. 123. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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nicht transzendentalphilosophisch gefassten Theorie des Geistes hinausgeht, wird ihm selber vermutlich nicht genug deutlich geworden sein. Bibliographie Ewertowski, Jörg, Die Freiheit des Anfangs und das Gesetz des Werdens. Zur Metaphorik von Mangel und Fülle in F. W. J. Schellings Prinzip des Schöpferischen, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1999. Hegel, Georg W. F., Phänomenologie des Geistes, GW 9. Hoffmann, Thomas Sören, „Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und das Problem der Sprache bei Fichte“, in: Fichte-Studien, 10, 1997, S. 17–33. Horstmann, Rolf-Peter, „Hegels Phänomenologie des Geistes als Argument für eine monistische Ontologie“, in: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, hg. von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008, S. 58‒78. Kuhlmann, Hartmut, Schellings früher Idealismus. Ein kritischer Versuch, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 1993. Leinkauf, Thomas, „Schelling, Einheit und Totalität. Zur Struktur des idealistischen Systems mit Blick auf die frühe Naturphilosophie“, in: Schelling-Studien, 3, 2015, S. 3‒24. Loock, Reinhard, Schwebende Einbildungskraft. Konzeptionen theoretischer Freiheit in der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings, Würzburg: Königshausen und Neumann, 2007. Marx, Werner, „Aufgabe und Methode der Philosophie in Schellings System des transzendentalen Idealismus und Hegels Phänomenologie des Geistes“, in: ders., Schelling: Geschichte, System, Freiheit, Freiburg/ München: Karl Alber, 1977, S. 63–99. Pippin, Robert, „Eine Logik der Erfahrung? Über Hegels Phänomenologie des Geistes“, in: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, hg. von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008, S. 13‒36. Sandkaulen-Bock, Birgit, Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Schelling, Friedrich W. J., Vom Ich als Prinzip der Philosophie, AA I/2. –: Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, AA I/4. –: Einleitung zu Ideen zu einer Philosophie der Natur, AA I/5. –: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1997. Stolzenberg, Jürgen, „Geschichten des Selbstbewusstseins. Fichte – Schelling – Hegel“, in: Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, hg. von Birgit Sandkaulen, Volker Gerhardt und Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner Verlag, 2009, S. 27–49.

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„Das Wesen des Geistes ist …, daß er … als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt“ Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel

Der Titel meines Vortrags zitiert den Beginn von Hegels Jenaer Vorlesungsfragment „Das Wesen des Geistes …“ (1803); vollständig lautet der Satz: „Das Wesen des Geistes ist diß, daß er sich einer Natur entgegengesetzt findet, diesen Gegensatz bekämpft, und als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt.“1 Es besteht kein Zweifel, dass hiermit der Begriff des Geistes erstmals in einer Weise formuliert wird, die auch für das spätere System weitgehend Bestand hat.2 Zu verweisen ist auf das Berliner Fragment zur Philosophie des Geistes, entstanden im Zusammenhang mit dem Plan, eine Psychologie bzw. Philosophie des subjektiven Geistes zu publizieren; dort heißt es in ganz ähnlicher Formulierung: Die Frage, was der Geist ist, schließt […] zwey Fragen in sich, wo der Geist herkommt, und wo der Geist hingeht. […] Wo er herkommt, – es ist von der Natur; wo er hingeht, – es ist zu seiner Freyheit. Was er ist, ist eben diese Bewegung selbst von der Natur sich zu befreyen.3

Die Formulierung von 1803 ist aber auch so verstanden worden, dass sie eine Depotenzierung der Natur anzeige, denn während sie hier als „Andersseyn“ des Geistes verstanden werde,4 habe Hegel die Natur kurz zuvor, in einem Vorlesungsfragment (Introductio in philosophiam, 1801/02) noch als „entfalteten Leib“ des absoluten

1  Hegel, Das Wesen des Geistes, GW 5, S. 370. 2  Vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, 3. Auflage, Stuttgart: Metzler, 2016, S. 146. 3  Hegel, Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes, GW 15, S. 249. 4  Hegel, Das Wesen des Geistes, GW 5, S. 370. Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova © wilhelmJindrich fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764022_008

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Wesens verstehen wollen.5 Heinz Kimmerle hat (freilich aufgrund einer anderen Editionslage) davon gesprochen, dass zum Beginn der Jenaer Zeit die „Einheit des Allgemeinen und Besonderen […] in der Natur […] beispielhaft und für die menschliche Welt vorbildhaft zum Ausdruck“ komme.6 Die Formulierung von 1803 lässt sich in der Tat kaum in diesem Sinne interpretieren; sie scheint vielmehr den Geist von der Natur abzukoppeln, die nur noch als tote Grundlage seiner Herrschaft über die Natur dient und deren Eigenbedeutung darin aufgehoben ist, nur noch das Anderssein des Geistes und damit den Geist selbst zu repräsentieren. Eine solche Interpretation wäre jedoch kurzschlüssig. Sowohl das Fragment von 1803 als auch das spätere System kann nicht nur, sondern muss m. E. anders verstanden werden. Vielmehr entfaltet sich im Verhältnis zwischen Natur und Geist ein komplexes Naturverhältnis, das, da der Geist seinem Wesen nach überindividuell und nicht auf den subjektiven Geist reduzierbar ist, durchaus als gesellschaftliches Naturverhältnis angesehen werden kann, zumal es vor allem auch als Arbeit verstanden werden muss. Ich werde dieser Problematik in drei Schritten nachgehen. Zuerst gebe ich eine ausführlichere Interpretation des Fragments von 1803 (1), gehe dann auf das Naturverhältnis des Geistes qua Arbeit ein (2) und frage schließlich danach, wie sich dieses Verhältnis im Blick auf den absoluten Geist darstellt, also im Spannungsfeld von absoluter Idee, Natur und Geist (3). 1. Das Fragment von 1803 steht im Zusammenhang der Jenaer Systemkonzeptionen, die entwicklungsgeschichtlich vor dem späteren Systementwurf der Enzyklopädie liegen und sich, trotz vieler 5  Vgl. Andreas Arndt, „Natur und Geist. Hegels Naturphilosophie im Zusammenhang seiner systematischen Konzeptionen“, in: Hegel: Natur und Geist, Bochum: Germinal, 1988, S. 11–34; hier 18 ff. 6  Heinz Kimmerle, Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels ‚System der Philosophie‘ in den Jahren 1800–1804, Bonn: Bouvier, 1982, S. 162. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Übereinstimmungen im Einzelnen, nicht darauf abbilden lassen. Es kann im Folgenden also nicht darum gehen, das Fragment im Lichte der späteren Entwürfe zu lesen, aber es soll auch nicht umfassend in die komplexe Entwicklung der Jenaer Zeit eingeordnet werden. Hier interessiert allein die Frage, wie das Verhältnis von Natur und Geist in diesem Fragment verstanden wird. Walter Jaeschke hat zurecht darauf hingewiesen, dass das eigentliche Thema des Fragments nicht der Geist, sondern der Naturbegriff sei.7 Dies hängt damit zusammen, dass das Naturverhältnis für den Geist konstitutiv ist, und zwar in einem sehr prägnanten Sinne: Der Geist ist nämlich nicht, sondern er wird erst in der Entwicklung des Naturverhältnisses. Der Geist im vollen Sinne ist Resultat dieser Entwicklung. Der Geist, so betont Hegel, „ist nicht, oder er ist nicht ein Seyn, sondern ein gewordenseyn“: Der Geist hebt die Natur, oder sein Andersseyn auf, indem er erkennt, daß diß sein Andersseyn er selbst ist, daß sie nichts anderes ist, als er selbst, gesetzt als ein entgegengesetztes. Durch diese Erkenntniß wird der Geist frey, oder durch diese Befreyung ist erst der Geist.8

Die Natur, so ist festzuhalten, ist konstitutiv für das Werden des Geistes. Ohne Naturverhältnis kein Geist. Aber nicht nur für das Werden des Geistes ist die Natur konstitutiv, sondern auch für den als Geist konstituierten Geist selbst bleibt das Naturverhältnis wesentlich. Der Geist, so Hegel, kommt „aus dem vernichten“ her, aber dieses Vernichten ist nicht, wie es scheinen könnte, das Vernichten der Natur, sondern das Vernichten des Gegensatzes zur Natur. Anders gesagt: der Geist tritt nicht in einen Monolog mit sich selbst ein, sondern das Naturverhältnis ändert sich dahingehend, dass der Geist sich in der Natur (die also keineswegs getilgt wird) findet und erkennt: „Indem der Geist die Natur als sich erkennt, und ihren Gegensatz aufhebt, findet er in ihr sich selbst, kommt zu sich selbst.“9 7  Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 146. 8  Hegel, Das Wesen des Geistes, GW 5, S. 370. 9  Ebd. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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In diesem Zusammenhang setzt Hegel sich ausdrücklich mit der These auseinander, dass der Geist im Ergebnis dieses Zu-sich-selbst-Kommens sich selbst genügen könne: „es scheint unnöthig zu seyn, [daß er] ausserdem, daß er selbst ist, auch noch sein Abbild erblickt.“10 Hegel stimmt zunächst zu, dass der Geist auch als subjektiver, als „der einzelne Geist“, wie es hier heißt, sich negativ gegen die Natur verhält und, „ob sie schon etwas anderes sey als er selbst“, ihre Gewalt verachte.11 Bestimmte Individualität ist der Geist aber nur, indem er sich in dieser Weise auf die Natur bezieht: Er ist, was er ist, nur, indem er nicht die ihm entgegengesetzte Natur ist. In dieser Beziehung behauptet sich der Geist gegen die Natur in seiner individuellen Bestimmtheit, und dieses Sich-Behaupten ist ein permanenter Prozess des Sich-Beziehens auf Anderes. Hegel beschreibt dieses Verhältnis mit dem Außer-sich-Kommen und Bei-sich-selbst-Sein des Geistes. In der späteren Terminologie der Phänomenologie des Geistes ist dies nichts anderes als die Arbeit des Geistes: seine Entäußerung (das Außer-sich-Kommen) und die Rücknahme der Entäußerung, eine Figur, auf die bekanntlich Karl Marx in seinen Pariser Manuskripten von 1844 größten Wert gelegt hat. Ich komme darauf zurück. Für Hegel ist zunächst wichtig, dass dieser Prozess an der Bestimmtheit und damit an der Entgegensetzung festhält. Der so bestimmte Geist sei aber „nicht wahrhaffter Geist; denn der Geist ist nicht ein besonderes sondern das absolut allgemeine. Die Befreyung von der Natur ist die Befreyung von der Bestimmtheit überhaupt“. Wenn also der Geist als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt, dann nicht, indem er die Naturbestimmtheit in bestimmten Naturverhältnissen – z. B. in Arbeitsprozessen – vergleichgültigt, sondern indem er sich „von der Bestimmtheit überhaupt“ befreit. Unschwer ist zu erkennen, dass hierin das präfiguriert ist, was Hegel später den absoluten Geist nennen wird, der sich nur auf sich selbst bezieht (und insofern absolut ist) und in dieser reinen Selbstbezüglichkeit erst da vollständig realisiert ist, wo der Begriff sich im reinen Denken (das von aller Gegenständlichkeit und Intentionalität abstrahiert) als Begriff erfasst. Die Befreiung von der 10  Ebd. 11  A. a. O., S. 371; auch das Folgende. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Natur als Befreiung von aller Bestimmtheit entspricht der Befreiung vom Gegensatz des Bewusstseins: Wie später in der Phänomenologie des Geistes das Ding Ich und das Ich Ding ist, so ist hier die Natur Geist und der Geist Natur. Der Geist, so resümiert Hegel, „ist frey, indem er das leere wird, das die ganze Natur gegen sich hat“ – und, so ist zu präzisieren, nicht eine bestimmte Natürlichkeit –, „und er ist lebendig, indem er dieses Ganze als ihm selbst gleichsetzt“. Die Negativität des Naturverhältnisses, durch die der Geist sich als Geist findet und in sich selbst bleibt, ist also zunächst nichts weiter als die Abstraktion von aller Bestimmtheit. An dieser Stelle darf wohl daran erinnert werden, dass diese Abstraktion später den Anfang der Wissenschaft der Logik bildet: „Seyn, reines Seyn –, ohne alle weitere Bestimmung“,12 ein Anakoluth, der sich schon sprachlich der Urteilsform und damit dem Bestimmen verweigert. Was diese Bestimmungslosigkeit bzw. Leere näherhin bedeutet, kann hier zunächst unerörtert bleiben. Wichtig ist, dass der Geist auch in dieser Form des In-sich-selbst-Bleibens als Resultat seines Werdens zu sich relational auf die Natur bezogen bleibt, wenn auch nicht in der Weise, dass die Natur ein äußerliches, vom Geist unterschiedenes und damit entgegengesetztes Relat wäre: „Nicht diß ist das Gebundenseyn des Geistes, daß er eine Entgegensetzung hat, sondern daß das Ganze ihm entgegengesetzt sey.“13 Dieses Ganze, so Hegel, ist der „gemeinen Anschauung“ nicht zugänglich, denn sie sieht nur „geistlos“ eine „Vielheit vereinzelter, und in ihrer Einzelheit für sich seyender. Die Natur selbst als die Einheit, als das wahrhaffte Ganze derselben bleibt ein unbekanntes, ein Jenseits, das gleichgültig ist, Gott oder Natur zu nennen“.14 Aber auch die „Poësie“ verfehle die Natur als Ganze – eine deutliche Distanzierung von Schellings Versuch, durch die ästhetische Anschauung zum Absoluten zurückzukehren. Die Poesie könne zwar die Lebendigkeit der Natur gestalten, bleibe dabei aber an die Individualität als die vereinzelte Lebendigkeit gebunden. Dies gelte selbst dann, wenn die Poesie über die Natur hinausgehe, um das Unendliche 12  Hegel, Wissenschaft der Logik, GW 21, S. 68. 13  Hegel, Das Wesen des Geistes, GW 5, S. 371. 14  A. a. O., S. 372. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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darzustellen: „Die Götter der Poësie, oder das rein poëtische sind ebenso beschränkte Gestalten, und der absolute Geist, das absolute Leben, weil es die Gleichgültigkeit aller Gestalten ist, […] entflieht der Poësie selbst; er ist allein in der Philosophie auszusprechen und darzustellen; es sey daß er als absoluter Geist, oder daß er als Geist, wie er Natur ist, betrachtet werde.“15 Die philosophische Erkenntnis der Natur erfasst die Allgemeinheit als Gleichgültigkeit der bestimmten Gestalten oder der Bestimmtheiten überhaupt; dem Individuum bleibe dabei nur „die Leerheit oder Allgemeinheit; es ist frey von allem; und indem seine Einzelheiten selbst ausser ihm seyend gesetzt sind, sind sie selbst frey und allgemein“. So sehr das Absolute hier noch als Vergleichgültigung bzw. Indifferenz aller Bestimmtheiten gefasst ist und Hegel insoweit noch im Bann des Schellingschen Identitätssystems steht, wird in der Rede von der Allgemeinheit der Einzelheiten, d. h. der Bestimmtheiten, doch schon deutlich, dass er eine Vermittlungsfigur sucht, in der das Allgemeine die Besonderheiten in sich schließt, auch wenn er hier noch weit entfernt von dem Konzept des Absoluten als in sich konkreter Totalität ist. Für die Bestimmung des Naturverhältnisses ist wichtig, dass Hegel die Natur durchgängig als Relat des Geistes behandelt, in welchem Verhältnis der Geist sich erst als Geist konstituiert. Dass Hegel sich damit insbesondre von Fichte und der in der Differenzschrift (1801) konstatierten „Mishandlungen“ der Natur bei Kant und Fichte distanziert, ist offenkundig.16 Auch wenn die Vergleichgültigung der Bestimmtheiten überhaupt – sowohl der Natur als auch des Geistes – hier im Mittelpunkt steht, so ist doch klar, dass über die Natur als Voraussetzung des Geistes ebenso wenig ein Zweifel bestehen kann wie darüber, dass sie in den bestimmten Verhältnissen zu den bestimmten geistigen Gestaltungen mehr ist als bloß eine tote Grundlage des geistigen Bestimmens. Vielmehr ist die Naturbestimmtheit konstitutives Moment der Entwicklung des Geistes zu sich. Die grundlegende Form dieses Prozesses ist die Arbeit, die keineswegs 15  A. a. O., S. 373, auch das Folgende. 16  Ebd., vgl. Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, S. 8. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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nur metaphorisch oder als intellektuelle Tätigkeit zu fassen ist. Dem wende ich mich jetzt zu. 2. Die Befreiung des Geistes zu sich als Aufhebung der Entgegensetzung zur Natur durch die Vergleichgültigung aller Bestimmtheiten, diese Negativität kennzeichnet auch Hegels Charakteristik der Arbeit in einem Jenaer Notizbuch: „Arbeiten heißt die Welt vernichten oder fluchen“.17 Arbeit ist nicht, wie in der Geschichte vom Sündenfall, der über die Menschen verhängte Fluch, sondern sie ist selbst ein Fluchen, das sich gegen die von Gott verfluchte Erde richtet, auf der Disteln und Dornen wachsen sollen, damit der Mensch im Schweiße seines Angesichts sein Brot erwerbe. Sie ist gewissermaßen Negation der Negation, Verfluchen des Fluchs, und darin Befreiung von der unmittelbaren Naturabhängigkeit. Diese Befreiung ist jedoch nicht individuell herbeizuführen, sondern nur gesellschaftlich, wie Hegel bereits in einem ebenfalls auf 1803 zu datierenden Fragment zur Geistesphilosophie (ist auf das Allgemeine …) betont. Das „reine Ich“ im Sinne Fichtes, „das in seiner absoluten Freyheit alle Beziehung auf sein Entgegengesetztes aufhebt“, bleibe dennoch negativ auf das Entgegengesetzte fixiert und täusche sich damit über sich selbst.18 Dies betont noch einmal, dass die Natur in ihrer Bestimmtheit als Voraussetzung der Konstitution des Geistes ernst zu nehmen ist. Der Einzelne sei und bleibe immer von der Natur abhängig; es sei, so betont Hegel, kein entgegengesetztes Verhältniß der Einzelnen zu Natur und zur objectiven Welt möglich […], und das Individuum kann sich nur eine Art von gemeinschafftlichem Thun ersinnen, in welchem die Natur ihren Weg der Nothwendigkeit für sich fortgeht und der Einzelne gleichsam auf sie lauert, wo sie mit seinen Zwecken übereinstimme,

17  Hegel, Jenaer Notizenbuch, GW 5, S. 493. 18  Hegel, Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten, GW 5, S. 367. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Andreas Arndt und hier sich zu ihr hält, und sie betrügt, daß indem sie für sich sich zu bewegen scheint, es doch eigentlich für das Subject geschieht.19

Weit entfernt davon, die Natürlichkeit abstrakt negieren zu können, müssen sich die Menschen ihren Gesetzen unterordnen, um sie beherrschen, d. h. sich aus der unmittelbaren Naturabhängigkeit befreien zu können. Dass dies nur als ein gemeinschaftliches Tun möglich ist, liegt darin begründet, dass Hegel über die Rolle des Werkzeuges, auf die ich gleich noch eingehen werde, die Gesellschaftlichkeit der Arbeit in den Blick bekommt. Das Naturverhältnis, von dem bei ‚Arbeit‘ die Rede ist, ist daher immer schon ein gesellschaftliches Naturverhältnis, oder, was dasselbe ist, es fällt in der Terminologie des späteren Systems gesprochen in den objektiven Geist. Hegel denkt die Arbeit als Einheit von Bestimmtwerden durch die Natur und Bestimmen der Natur. In seinem Entwurf eines Systems der Sittlichkeit (1802/03) geht er von den noch „ganz der Natur“ angehörenden,20 überlebensnotwendigen Bedürfnissen der Menschen aus, die durch das Aufzehren der aufgefundenen Nahrung befriedigt werden. Innerhalb dieses rein natürlichen Verhältnisses, das nur mit der unmittelbaren Einverleibung von Essbarem zu tun hat, deutet sich nach Hegel aber bereits eine Reflexivität an. Das Verzehren, die Vernichtung des eßbaren Naturgegenstandes, macht eine praktische Differenz des Subjekts zur natürlichen „Welt“ sichtbar. Im Genuss sei, so Hegel, „ein Bewußtseyn der Negativität des Objects“21 vorhanden. Wenn das Vernichten des Gegenstandes für sich genommen und vom Genuss abgekoppelt, der Genuss also „gehemmt“ und 19  Ebd. – Zur Thematisierung der Arbeit beim Jenaer Hegel vgl. Georg Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973; Hans-Christoph Schmidt am Busch, Hegels Begriff der Arbeit, Berlin: De Gruyter, 2002; Andreas Arndt, Die Arbeit der Philosophie, Berlin: Parerga, 2003; Steffen Schmidt, Hegels ‚System der Sittlichkeit‘, Berlin: De Gruyter, 2007, S. 186 ff.; Maxi Berger, Arbeit, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bei Hegel, Berlin: De Gruyter, 2012; Hans-Peter Krüger, Heroismus und Arbeit in der Entstehung der Hegelschen Philosophie, Berlin: De Gruyter, 2014. 20  Hegel, System der Sittlichkeit, GW 5, S. 283. 21  Ebd. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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„aufgeschoben“22 werde, dann könne auch das Vernichten, die Negation des Gegenstandes, eine andere Form annehmen. Auch das Vernichten sei dann gehemmt: Das Objekt werde nicht umstandslos verzehrt, sondern nur in der Form seines natürlichen So-seins vernichtet. In Hegels späterer Terminologie: Es wird nicht abstrakt negiert, sondern an ihm vollzieht sich eine bestimmte Negation. Es wird bearbeitet und tritt damit dem Subjekt zunächst als Produkt seiner Tätigkeit entgegen. In seinen späteren Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes nimmt Hegel dies auf, fügt aber noch ein vermittelndes Zwischenglied ein, das insofern von Bedeutung ist, als Hegel hier positiv auf das Prinzip des Eudaimonismus rekurriert (das Kant bekanntlich in seiner Morallehre verworfen hatte). Findet das Bedürfnis nämlich wenigstens zwei konsumierbare Gegenstände vor, so kommt der Wille ins Spiel, der also davon abhängt, dass überhaupt verschiedene objektive Möglichkeiten vorhanden sind, elementare Bedürfnisse zu befriedigen. Der Mensch ist so auf dem Standpunkt, zwischen Neigungen zu wählen zu haben, und ist Willkühr. Die begirde der Triebe ist angewiesen vor seiner befriedigung auch auf das Andre zu sehen, und zwar auf das Ganze – zwischen das Gefühl der begirde und ihrer befriedigung tritt das Hemmende ein, welches der Gesichtspunkt des Allgemeinen ist.23

Nach Hegel entsteht hier ein Widerspruch zwischen der Besonderheit (die Begierde richtet sich auf bestimmte Naturgegenstände) und der Allgemeinheit, dem Streben nach Glückseligkeit. Hierin wiederholt sich offenkundig die Konstellation des eingangs vorgestellten Fragments aus der Geistesphilosophie von 1803. Hegel geht hier den Weg, die materiellen Bedürfnisse und Interessen geradezu zum Motor der Entwicklung des Geistes zu machen; eine Abstraktion hiervon, von den Trieben und Leidenschaften, ist schon deshalb unmöglich, weil jedes Handeln von (endlichen) Subjekten vollzogen wird, die solche Interessen mitbringen: 22  A. a. O., S. 284. 23  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes, GW 25, 2, S. 911 f. (Nachschrift Stolzenberg 1827/28). Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Andreas Arndt Den Trieben und Leidenschaften setzt man einerseits die schaale Träumerei eines Naturglücks gegenüber, durch welches die Bedürfnisse ohne die Thätigkeit des Subjects […] ihre Befriedigung finden sollen. Andererseits wird ihnen ganz überhaupt, die Pflicht um der Pflicht willen, die Moralität entgegengesetzt. Aber Trieb und Leidenschaft ist nichts anderes als die Lebendigkeit des Subjects, nach welcher es selbst in seinem Zwecke und dessen Ausführung ist.24

Die eigentliche Hemmung der Begierde, die zu einer bleibenden Allgemeinheit führt, tritt aber dort ein, wo gearbeitet wird, d. h. wo der Genuß hinausgeschoben wird, um Produktionsmittel herzustellen, die dann in diejenigen Produktionen eingehen, welche auf die Bedürfnisbefriedigung zielen. Dies geschieht, indem sich das Werkzeug als Mitte zwischen Subjekt und Objekt schiebt. Es ist einerseits, wie das Objekt, ein Naturgegenstand, der, wie Hegel sagt, „der Natur entrissen“25 wurde. Es ist andererseits Produkt von Arbeit, also durch das Subjekt verändert oder bestimmt. Das Werkzeug ist somit Einheit von Subjekt und Objekt, von Naturgesetzlichkeit und Bestimmtwerden der Natur durch das Subjekt. Mit ihm „lauert“ der Mensch, um Hegels Bild noch einmal zu bemühen, der Natur auf, um sie zu überlisten. Indem ein natürlicher Gegenstand so bearbeitet wird, dass er zu einer weiteren Bearbeitung von natürlichen Gegenständen benutzt werden kann, die ohne diesen Werkzeuggebrauch nicht möglich wäre, vergrößert sich die Differenz zur unmittelbar vorfindlichen Natur und damit die Brechung des unmittelbaren Naturzwanges. Aber es bleibt gleichwohl ein Verhältnis, in dem die Natur mit Hilfe der natürlichen Eigenschaften der Werkzeuge überlistet wird. Insoweit und insofern Arbeit aus der Notwendigkeit zur Reproduktion des menschlichen Lebens folgt, ist für Hegel das Zwangsmoment der Arbeit für die Menschen nicht zu tilgen. Zugleich aber ist für Hegel die Arbeit durch eine Selbstreflexivität charakterisiert, die ihm den Ansatzpunkt bietet, diesen Zwangscharakter auf einer höheren Stufe geistiger Allgemeinheit aufzuheben. Durch das Arbeitsmittel, also das Werkzeug, bezieht sich 24  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, § 475, Erläuterung, S. 473. 25  Hegel, System der Sittlichkeit, GW 5, S. 291. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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die Arbeit auf sich selbst, denn im Herstellen des Werkzeuges wird gearbeitet, um Arbeit zu ermöglichen, und im Werkzeuggebrauch wird das Resultat vergangener Arbeit als Mittel eingesetzt. Diese Selbstbezüglichkeit der Arbeit ist nicht mehr an die einzelne Subjektivität gebunden, sondern allgemein, sofern das Werkzeug den einzelnen Arbeitsprozess überdauert und übertragbar ist. Es ist nach Hegel die „reale Vernünftigkeit der Arbeit“,26 und diese elementare Vernünftigkeit ruft Hegel auch im Teleologiekapitel der Lehre vom Begriff noch einmal in Erinnerung: „Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden. An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äusserliche Natur, wenn er auch nach seinen Zwecken ihr vielmehr unterworfen ist.“27 Dabei hängt auch die spezifische Funktion des Geistigen im Arbeitsprozess – das intellektuelle Moment der Arbeit – gerade mit der Naturbestimmtheit der Arbeit zusammen. Wenn die Natur überhaupt als Äußerlichkeit bestimmt ist, die sich darum in ihren Bestimmtheiten nicht selbst zu erfassen und festzuhalten vermag, dann kommt dem Geist die Funktion zu, die gleichsam auseinandergeworfenen Eigenschaften der Natur jenseits ihrer natürlichen Vorkommensweisen zusammenzubringen und sich aneinander abarbeiten zu lassen. Das, was Hegel als Überlistung der Natur beschreibt, hat hierin seinen Grund. Und nur in diesem Sinne ist Arbeit auch das „disseitige sich zum Dinge machen“.28 Dabei überlistet der Mensch die Natur, indem er deren Gesetze für seine Zwecke ausnutzt. Die Befreiung des Geistes beginnt mit der Befreiung des Menschen aus unmittelbaren Naturabhängigkeiten durch die Arbeit. In der Befreiung von der unmittelbaren Abhängigkeit von der Natur erfolgt demnach die eigentliche Konstitution des Geistigen zu einer ersten Form der Vernünftigkeit. Diese ist, das muss nachdrücklich unterstrichen werden, nicht Gedanke oder Idee, sondern ein materieller Gegenstand: das Werkzeug. Hierin kommt auch zum Ausdruck, dass Hegel größten Wert darauf legt, dass dies nicht 26  Ebd. 27  Hegel, Wissenschaft der Logik, GW 12, S. 166. 28  Hegel, Philosophie des Geistes (1805/06), GW 8, S. 205. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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eine abstrakte Herrschaft über die Natur bedeute, sondern dass der Widerspruch zwischen Natur und Geist vermittelt und aufgelöst werde. Eindringlich macht dies eine Passage aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik deutlich: „einerseits sehen wir den Menschen in der gemeinen Wirklichkeit und irdischen Zeitlichkeit befangen, von dem Bedürfnis und der Not bedrückt, von der Natur bedrängt, in die Materie, sinnlichen Zwecke und deren Genuß verstrickt, von Naturtrieben und Leidenschaften beherrscht und fortgerissen; andererseits erhebt er sich zu ewigen Ideen, zu einem Reiche des Gedankens und der Freiheit, gibt sich als Wille allgemeine Gesetze und Bestimmungen, entkleidet die Welt von ihrer belebten, blühenden Wirklichkeit und löst sie zu Abstraktionen auf, indem der Geist sein Recht und seine Würde nun allein in der Rechtlosigkeit und Mißhandlung der Natur behauptet, der er die Not und Gewalt heimgibt, welche er von ihr erfahren hat. Mit dieser Zwiespältigkeit des Lebens und Bewußtseins ist nun aber für die moderne Bildung und ihren Verstand die Forderung vorhanden, daß solch ein Widerspruch sich auflöse.“29 3. Dies lenkt zum Schluss den Blick auf die Frage, wie sich Natur und Geist überhaupt zueinander verhalten. Zunächst: Die Auffassung, Arbeit repräsentiere eine elementare Struktur von Vernünftigkeit, ist Voraussetzung dafür, dass Hegel schließlich den geschichtlichen Bildungsgang des Geistes als Arbeit des Geistes verstehen kann, in der am Ende das intellektuelle und vernünftige Moment des Arbeitsprozesses selbstbezüglich wird. Dies beruht jedoch, wie betont werden muss, nicht auf einer Entnaturalisierung, sondern auf einer bewussten Abstraktion. Natur und Geist sind nach Hegel „unterschiedene Weisen“, das „Daseyn“ der Idee darzustellen;30 die absolute Idee hat ein Dasein nur in der Natur und im Geist und nicht in 29  Georg W. F. Hegel, Ästhetik, Bd. 1, hg. von Friedrich Bassenge, Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, 1965, S. 62 f. 30  Hegel, Wissenschaft der Logik, GW 12, S. 236. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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einer metaphysischen Hinterwelt, und demzufolge sind auch Natur und Geist als Relate notwendig aufeinander bezogen. Der Geist ist „Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist“.31 Diese reale Vermittlung von Natur und Geist ist unhintergehbar. Die absolute Form – die Form des sich als Begriff erfassenden Begriffs in der absoluten Idee – ist eben darum auch nur formell, wie es in der Logik heißt.32 Sie beruht auf der Möglichkeit des Geistes, „von allem Aeußerlichen und seiner eigenen Aeußerlichkeit, seinem Daseyn selbst [zu] abstrahiren“.33 Dies geschieht, wie bereits erwähnt, am Anfang der Logik mit dem Entschluss, rein denken zu wollen. Wir abstrahieren dabei sowohl von allem bestimmten Inhalt des Denkens, also von aller Intentionalität auf Gegenstände, als auch von aller Vor-Bestimmtheit, die das Denken für mich hat, also von dem, was ich vom Denken schon immer weiß oder zu wissen meine. Da das reine Denken eine Form der philosophischen Selbstvergewisserung, die Philosophie nach Hegel aber eine Gestalt des absoluten Geistes und als solche ihrem Wesen nach geschichtlich ist, hat diese Abstraktion des reinen Denkens selbstverständlich historische Voraussetzungen: Sie setzt voraus, dass die Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung auf das Problem reiner Denkbestimmungen gestoßen ist, was nach Hegel erst mit Kant und der Wendung zur Transzendentalphilosophie erfolgt ist. Hier werden Denkbestimmungen thematisiert – etwa in den Kantischen Kategorien und der Urteilstafel –, die als Bedingung der Möglichkeit intentionalen, also objektbezogenen Erkennens gelten, ohne selbst in diesem Sinne intentional zu sein: Sie sind wohl objektiv gültig, aber nicht selbst objektiv. Um vom reinen Denken der Logik wieder zu dem Äußerlichen der Natur und auch dem Dasein des Geistes zu kommen, also zur Realphilosophie, bedarf es im Gegenzug der Rücknahme der 31  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, GW 20, § 384, S. 382. 32  Hegel, Wissenschaft der Logik, GW 12, S. 25. 33  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, GW 20, § 382, S. 382. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Abstraktion. Tatsächlich heißt es am Schluss der Wissenschaft der Logik in dem Abschnitt über die absolute Idee, diese Idee sei „noch logisch“ und „in den reinen Gedanken“ und „in die Subjectivität eingeschlossen“.34 Anders gesagt: Die Vernunft oder der Begriff vollendet sich in sich, aber in dieser Vollendung ist der Begriff wieder in sich eingeschlossen, d. h. er setzt sich – als Begriff – eine Grenze. So heißt es im Zusatz zum § 379 der Enzyklopädie, der Begriff selber setze „seinem Sichentwickeln dadurch eine Grenze, daß er sich eine ihm völlig entsprechende Wirklichkeit gibt“.35 Diese Wirklichkeit und Wahrheit aber hat er allein in der absoluten Idee als Selbstbeziehung des Begriffs. Sofern Hegel die traditionelle Auffassung der Wahrheit als Entsprechung von Begriff und Gegenstand teilt, gibt es eine vollständige Entsprechung und damit Wahrheit in einem emphatischen Sinne allein auf der Ebene der absoluten Idee, denn in der Realität hat der Begriff immer schon die Beziehung auf eine Äußerlichkeit an sich. Indem der Begriff (die logische oder absolute Idee) sich der Realität der Natur und des Geistes zuwendet, d. h. die Abstraktion des reinen Denkens von aller Bestimmtheit und Intentionalität in Bezug auf realphilosophische Gegenstände zurückzunehmen, tritt er in das Reich des Endlichen ein, das sich per se in einer wesentlichen Differenz zur logischen Idee befindet: Der subjektive und objektive Geist können gar nicht in der Weise selbstbezüglich sein, wie der sich selbst als Begriff erfassende Begriff. Mit anderen Worten: Hier gibt es konstitutiv und unhintergehbar eine Nichtidentität gegenüber dem Begriff als solchem: „Die endlichen Dinge sind darum endlich, indem sie die Realität ihres Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen; – oder umgekehrt, insofern sie als Objecte vorausgesetzt sind, somit den Begriff als eine äusserliche Bestimmung an ihnen haben.“36 Anders gesagt: Der reale Gegenstand ist nicht a limine mit dem Begriff identisch. Wie aber kommt der Begriff zu dieser Äußerlichkeit? 34  Hegel, Wissenschaft der Logik, GW 12, S. 253. 35  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, TWA 10, S. 14 f. 36  Hegel, Wissenschaft der Logik, GW 12, S. 175. – Diese grundlegende Differenz von logischer Idee und Realphilosophie übersieht z. B. Marx völlig, woraus sich seine Hegelkritik durchgängig speist. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Hier stoßen wir in der Logik in der Tat auf nebulöse Metaphern. Indem die Idee, so lesen wir, sich „in die Unmittelbarkeit des Seyns zusammennimmt“,37 also die anfängliche Unmittelbarkeit als vermittelte wiederherstellt, sei sie Natur, aber: „Diese Bestimmung ist […] nicht ein Gewordenseyn und Uebergang“, sondern geschehe so, „daß die Idee sich selbst frey entläßt“, wobei es sich sogar um einen „Entschluß der reinen Idee“ handeln soll, „sich als äusserliche Idee zu bestimmen“. Das ist immer wieder im Sinne eines Schöpfungsaktes interpretiert worden. Indessen wäre genau dies ein Gewordensein oder Übergang, was Hegel kategorisch ausschließt. Was aber ist dann gemeint? Ich möchte den Vorschlag machen, das „Sich-frei-Entlassen“ und das „Sich-Entschließen“ im Sinne einer Rücknahme der anfänglichen Abstraktion zu verstehen, also der Abstraktion von aller Bestimmtheit. Der Akt der Rücknahme der Abstraktion kann nicht nur deshalb als frei bezeichnet werden, weil die absolute Idee nichts anderes ist als der Begriff der Freiheit überhaupt, sondern auch deshalb, weil die reinen Denkbestimmungen keine Intentionalität auf reale Gegenstände haben. Das Sich-Entschließen ist demnach ein Sich-Aufschließen für das Reale, mithin die Rücknahme der Abstraktion von den Voraussetzungen des reinen Denkens. Hierbei darf man sich nicht täuschen lassen: Die Idee ist kein Subjekt, das sich entschließen könnte, denn sie hat kein eigenes Dasein außerhalb des Denkprozesses, der von uns als den Trägern des reinen Denkens vollzogen wird. Im Überschritt zur Natur am Ende der Logik beziehen wir daher die Idee durch die Rücknahme der Abstraktion auf eine schon immer vorhandene Gegenständlichkeit. Die Natur ist konstitutiv äußerlich zur Idee, aber – so Hegel – „schlechthin frey – die absolut für sich selbst ohne Subjectivität seyende Aeusserlichkeit des Raums und der Zeit“. Dass die Natur absolut für sich selbst und schlechthin frei sei, bedeutet, dass sie in ihrem Dasein absolut und gerade nicht abhängig von der Idee und also keineswegs aus ihr auf mystische Weise hervorgegangen ist. Hegel kennt als Aristoteliker keinen Schöpfungsakt; was ihn interessiert, ist die Erkennbarkeit der ‚Welt‘, also der Natur und des Geistes. Die reale Vermittlung von Natur und Geist ist daher unhintergehbar. Die absolute Form – 37  A. a. O., S. 253, auch das Folgende. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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die Form des sich als Begriff erfassenden Begriffs in der absoluten Idee – ist eben darum auch nur formell, wie es in der Logik heißt.38 Keineswegs ist es so, dass die Natur in den Geist und der Geist in die Idee verdampft, welche dann ein Eigenleben zu führen beginnt. Von solchen Vorstellungen sollte eine angemessene Interpretation und Diskussion der Hegelschen Philosophie sich endgültig frei machen. Bibliographie Arndt, Andreas, „Natur und Geist. Hegels Naturphilosophie im Zusammenhang seiner systematischen Konzeptionen“, in: Hegel: Natur und Geist, Bochum: Germinal, 1988. –: Die Arbeit der Philosophie, Berlin: Parerga, 2003. Berger, Maxi, Arbeit, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bei Hegel, Berlin: De Gruyter, 2012. Hegel, Georg W. F., Ästhetik, Bd. 1, hg. von Friedrich Bassenge, Berlin/ Weimar: Aufbau-Verlag, 1965. –: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4. –: Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten, GW 5. –: Jenaer Notizenbuch, GW 5. –: System der Sittlichkeit, GW 5. –: Philosophie des Geistes, GW 8. –: Wissenschaft der Logik, GW 11, GW 12, GW 21. –: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, GW 20. –: Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes, GW 25. Jaeschke, Walter, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, 3. Auflage, Stuttgart: J. B. Metzler, 2016. Kimmerle, Heinz, Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels ‚System der Philosophie‘ in den Jahren 1800–1804, Bonn: Bouvier, 1982. Krüger, Hans-Peter, Heroismus und Arbeit in der Entstehung der Hegelschen Philosophie, Berlin: De Gruyter, 2014.

38  A. a. O., S. 25.

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Lukács, Georg, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. Schmidt, Steffen, Hegels ‚System der Sittlichkeit‘, Berlin: De Gruyter, 2007. Schmidt am Busch, Hans-Christoph, Hegels Begriff der Arbeit, Berlin: De Gruyter, 2002.

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Hegels Zeittilgung: Ein Übergang in die Ewigkeit 1. Einführung: Keine Übergänge bei Hegel Stellvertretend für Hegels Auseinandersetzungen mit der Zeit in der Phänomenologie sind zwei Aussagen: „unsre Zeit [ist] eine Zeit der Geburt und des Uebergangs zu einer neuen Periode“1 und die Zeit ist „der daseyende Begriff selbst“2. In diesen beiden Aussagen aus der Vorrede verwendet Hegel den Begriff „Zeit“ grundverschieden, dennoch stehen sie im engen Zusammenhang. Die eigene Epoche definiert Hegel als ein „Zeitalter der Freiheit“ u. a. deshalb, weil der Mensch nun einen angemessenen Zeitbegriff konzipiert; und das Bewusstsein des absoluten Wissens, das die Zeit als philosophisches Thema systematisch begreift, ist zugleich ein reflexives Wissen von Hegels eigener Epoche, eine philosophische Erfassung des Zeitalters von 1807. Somit stellt Hegel in der Phänomenologie Nachforschung­ en zum Wesen der Zeit an und begreift sein Werk selbst als ein Be­ wusstsein des eigenen Zeitalters, explizit also als eine Philosophie, die „ihre Zeit in Gedanken erfasst“3. In der Phänomenologie hält das Bewusstsein die Zeit durch die begriffliche Arbeit auf und lässt sie in eine Ewigkeit, die den Weg des Zweifels und der Verzweiflung ‚im Rücken‘ hat, münden. Daran ist zweierlei ersichtlich. Erstens handelt es sich um eine Ewigkeit, die über eine Vergangenheit verfügt; und zweitens kann Zeit nicht unabhängig von der Struktur des Geistes, genereller gesprochen von der Subjektivität betrachtet werden.

1  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 14. 2  A. a. O., S. 34. 3  Georg W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg: Felix Mei­ ner Verlag, 1995, S. 16. Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova © wilhelmJindrich fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764022_009

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Aus dieser Perspektive bietet die Phänomenologie Antwort auf eine Frage, die Schelling als die Schlüsselfrage der Philosophie überhaupt erfasst: Wie tritt das Unendliche, das Absolute aus sich selbst heraus? Und tut es dies denn überhaupt oder verbleibt es in sich selbst, wie Spinoza nahelegt?4 Hegel verneint die Möglichkeit eines Auszugs des Endlichen aus dem Unendlichen, des Zeitlichen aus dem Ewigen und hält explizit fest: Es gibt keine Übergänge und alle Brücken zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit, der noumenalen und der phänomenalen Sphäre sind abgebrochen.5 Gibt es auch keine Auszugsmöglichkeiten aus dem Unendlichen, so fügt Hegel hinzu, dass das Unendliche eine Struktur aufweist. Übergänge gibt es also doch, aber nur im Unendlichen selbst. Aus der Sicht Hegels steht also nicht zur Frage, wie wir als Endliche zum Unendlichen gelangen. Auf eine solche von einer Verkehrung gezeichneten Frage gibt es gar keine Antwort, nur die, aus Hegels Sicht, Verlegenheitslösung einer unendlichen Annäherung. Hegel hat eine dringlichere Frage parat: Sind wir denn überhaupt endlich und wenn ja, was bedeutet das? Das ist natürlich merkwürdig. Die Endlichkeit des Menschen und seiner Welt pflegen wir als Grundwissen aufzufassen und wenn wir noch Platz für eine Unendlichkeit oder ein Absolutes haben, so ver­ schreiben wir uns einer Zwei-Welten-Theorie, in der wir letztlich von einer Trennung des Absoluten, Transzendentalen, Noumenalen auf der einen Seite und des Empirischen, Endlichen und Zeitlichen auf der anderen ausgehen. Dass Hegel nun den Versuch unternimmt, eine Philosophie zu erschließen, in der er diese Gegensätze zwar begrifflich erfasst, aber eben als Momente der einen und durchaus 4  Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, AA I/3, S. 77 f. 5  Der Gedanke, vom Unendlichen gebe es keinen Übergang zum Endlichen, taucht zunächst in Jacobis „Spinoza-Buch“ auf. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, JWA 1/1, S. 3–325. Ebenso stellt Hegel fest, zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen gebe es „keine Brü­ cke“. Georg W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1: Ein­ leitung. Der Begriff der Religion, neu hg. von Walter Jaeschke, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1993, S. 317. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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menschlichen, aber dennoch unendlichen, ja letztlich absoluten Er­ fahrung, werfen Kritiker Hegel vor, da dieser der für den Menschen wesentlichen Endlichkeit nicht gerecht zu werden scheint. In meiner Interpretation ist Hegels Ausgangspunkt merkwürdig, aber eher natürlich als entfremdend. Zwar ist die Frage berechtigt, ob es denn richtig ist, dass Menschen generell und zumeist Wahr­ heit nicht suchen, weil sie sich in ihrem Besitz wähnen. Fakt ist aber, dass man nicht Dinge als bloße Erscheinungen eines Dinges an sich erfasst; auch erfahren wir die Freiheit nicht als eine Größe, die in der noumenalen Sphäre heimisch wäre, sondern wissen uns hier und jetzt frei. Mit dem Hegel-Kritiker William James können wir fest­ stellen, dass die Menschen „instinktive Absolutisten“ sind, und das nicht nur, was die letzten Fragen anbelangt, auf die sich James in sei­ nem Aufsatz bezieht. Der Anspruch auf Absolutheit mischt bereits bei den vorletzten sowie den allerersten mit: Menschen „sind dog­ matisch wie unfehlbare Päpste“, heißt es bei James.6 Das Hegelsche Gegenstück dazu lautet: Das Absolute ist bei uns und will bei uns sein.7 Hegels Philosophie will ich als einen Versuch werten, dieser Einsicht des gemeinen Menschenverstandes beizukommen. Aus­ gehend davon will ich dieses elementare Anliegen Hegels an einer genauso elementaren Frage, der Frage nach der Zeit, explizieren. 2. Dennoch Übergänge Wenn Menschen nun in der Tat instinktive Absolutisten sind, und das dazu noch aus gutem Grund, da das Absolute bei ihnen verbleibt, so wäre es folgerichtig zu schließen: Falls der gemeine Verstand die Zeit als eine absolute Größe erfährt und von Ewigkeit nicht viel Ah­ nung hat, bestenfalls eine Vorstellung der schlechten Unendlichkeit, 6  James hält fest: „The greatest empiricists among us are only empiricists on re­ flection: when left to their instincts, they dogmatize like infallible popes.“ William James, The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy. Talks to Teachers on Psychology and to Students on Some of Life’s Ideals. Selected Essays, Cam­ bridge, Mass.: Harvard University Press, 1984, S. 466. 7  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 53. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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so wird die Zeit wohl in der Tat eine absolute Größe sein, und von der Ewigkeit können wir uns höchstens eine mythische Vorstellung bilden. Ich will behaupten, dass Hegels eigenständigster Beitrag zur Philosophie der Zeit darin besteht, dass er entgegen den großen klassischen Denkern der Zeit, sei es Platon, Aristoteles oder Plotin, dies tatsächlich behauptet: Die Zeit ist absolut und eine außerzeit­ liche Ewigkeit, generell der metaphysische Begriff eines reinen ru­ henden Jenseits eine abkünftige, von der erlebten Zeit abstrahierte Größe. Zudem gebührt der Zeit eine höhere ontologische Dignität als einer solchen Ewigkeit: Nicht die Zeit ist „eine Art bewegliches Abbild der Ewigkeit“8, „bloße Erscheinung“ eines Äons, also der Überzeitlichkeit9; vielmehr ist die Ewigkeit in Gestalt eines außer­ zeitlichen nunc stans ein Bild eines aufgehaltenen Zeitstromes, so­ mit sekundär und dem Zeitstrom auch ontologisch unterlegen. Obgleich Hegel nicht den Weg der metaphysischen Nachfor­ schungen zum Wesen der Zeit antritt, ja dieses metaphysische Zeit­ verständnis kritisiert, verbindet er genauso wie Platon oder Plotin mit der eigenen Zeitkonzeption eine ethische Grundhaltung. Wäh­ rend die antiken Denker empfehlen, man solle in der Philosophie eine Art geistige Exerzitien sehen, dank der man sich eine geistige Trennung noch vor der realen Trennung der ewigen Seele vom zeit­ lichen Körper einübt, und sich also noch in der Zeit der Ewigkeit gemäß macht, stehen wir aus der Hegelschen Perspektive vor einer anderen Herausforderung: Das Bewusstsein soll sich in die Zeit einbilden, keineswegs aber ein Bild der Zeit, sondern eine Verkör­ perung der Zeit, also der qualitativen Entwicklung werden. Denn bloße gleichförmige, unendliche Dauer hat, wie Hegel in seiner Enzyklopädie feststellt, keinen Wert. Ganz im Gegenteil versetzt sich das Vortreffliche in die Zeit und vergeht deswegen auch so rasch; der Vortreffliche ist aus dieser Perspektive nicht etwa ewiger, sondern

8  Platon, Timaios, übersetzt, mit Anmerkungen und Nachwort versehen von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn, Stuttgart: Philipp Reclam, 2003, S. 55. 9  Plotin interpretiert den Äon als Zeitlosigkeit, Proklos als Ewigkeit. Plotin, Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7), übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Werner Beierwaltes, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 1981. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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‚endlicher‘: „alle Blüte, alle schöne Lebendigkeit hat einen frühen Tod.“10 3. Hegels Zeitkonzeption in der Phänomenologie 3.1. Die Zeit in der Vorrede Dass die Zeit in der Tat ein wichtiges Thema der Phänomenologie ist, bezeugt der Umstand, dass Hegel in der Vorrede und in den abschlie­ ßenden Passagen seines Werkes auf die Zeit zu sprechen kommt, wobei er bedacht die gleiche Definition der Zeit wählt. Die Zeit ist „der daseyende Begriff selbst“11 oder „Zeit ist der Begriff selbst, der da ist“12. Diese nahezu orakelhafte Definition schattet Hegel in der Vorrede sogleich gegen eine Newtonsche Zeitauffassung ab, die er aus phänomenologischer Perspektive hinterfragt.13 So lehnt er es ab, die Zeit als einen ebenmäßigen Strom darzustellen (laut Newton verfließt die Zeit gleichförmig)14, auch ist die Zeit kein Medium für die Aufnahme von Inhalten, vielmehr ist sie an sich selbst Unter­ schied, ja die Zeit sei „absolute Unterscheidung“, eine „reine Unruhe des Lebens“15. Daraus ist ersichtlich, dass Hegel es auch ablehnt, die Zeit einem absoluten Beobachter unterzuordnen, wie dies Newton tut, laut dem die Strukturierung auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus einer göttlichen Perspektive, die außerhalb des Stromes steht und den Strom als stehenden fixiert, erfolgt.

10  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, II, TWA 9, § 258, S. 51. „Das Dauernde wird höher geachtet als das bald Verge­ hende; aber alle Blüte, alle schöne Lebendigkeit hat einen frühen Tod.“ 11  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 34. 12  A. a. O., S. 429. 13  A. a. O., S. 34. 14  Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica (1726), hg. von Alexandre Koyré und Ierome Bernard Cohen, Harvard: Harvard University Press, 1972, S. 46. 15  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 34. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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3.2. Zeit in Kraft und Verstand In Hegels Werk sind der Zeit sozusagen Augen eingesetzt, die den Strom von innen heraus strukturieren. Dies wird gleich auf der ersten Bewusstseinsebene, auf der sich Hegel explizit mit der Zeit auseinandersetzt, deutlich. Im Kapitel „Krafft und Verstand. Erschei­ nung und übersinnliche Welt“ rekurriert Hegel abermals auf die Newtonsche Physik. An der physikalischen Zeitauffassung kritisiert er auch auf dieser Ebene, dass hier der Raum und die Zeit als sich selbst äußere Größen, „selbstständige Teile“ oder „Wesen an ihnen selbst“ erfasst werden: „Raum wird vorgestellt ohne die Zeit, die Zeit ohne den Raum“16. Die reale Bewegung aber ist ein Geflecht von Mo­ menten. Der Verstand nun hält die Bewegung auf und entwirft ein Modell von idealen Kategorien. Laut Hegel handelt es sich hierbei um eine „Hererzählung der Momente“ bzw. um eine „tautologische Bewegung“17. Aber daran wäre noch nichts auszusetzen. Problematisch wird es, wenn der Verstand anschließend der Illusion unterliegt, das Modell und die darin enthaltenen Kräfte wären die Wahrheit des Phänomens, denn in dem Falle wird das Mittel zur Erklärung des Phänomens fälschlicherweise für das Ziel selbst gehalten. Die Kritik dieser metaphysischen Zugangsweise, die sich noch in der naturwis­ senschaftlichen Auffassung durchsetzt, ist für Hegels Gang der Phänomenologie zentral. An dieser Stelle will ich mich aber dem Weg zuwenden, auf dem nun der Verstand diese falsche Konzeption und den daraus erwachsenden „Verlust der Wirklichkeit“18 überwindet. Zunächst kehrt das Bewusstsein zur Bewegung zurück und formu­ liert im Rahmen der Phänomenologie in einem ersten Anlauf das

16  A. a. O., S. 94. 17  A. a. O., S. 95. 18  A. a. O., S. 87. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

Hegels Zeittilgung

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Konzept der Unendlichkeit19 und Hegels Überlegungen kreisen nun um den Begriff des „inneren Unterschieds“20. Bezogen auf die Zeit bedeutet der innere Unterschied, dass sich das Wesen der Zeit im Raum offenbart und umgekehrt das Wesen des Raumes in der Zeit. Das Bewusstsein der Zeit „stößt sich von sich ab“, um die Zeit im Raum darzustellen, während sich das Bewusst­ sein des Raumes in der Zeit über sich selbst Rechenschaft gibt. Zeit und Raum sind somit kodependent und gleichuniversal. Hegel gibt darin der Zeittheorie Kants recht, der in der Auflage B seine Zeitauffassung aus der Auflage A modifiziert: Nicht länger schreibt er der Zeit Priorität vor dem Raum zu. Vielmehr gibt es im­ mer nur eine „einzige Erfahrung“, in der sich Raum und Zeit aufei­ nander beziehen. Hegel kann also Kant durchaus zustimmen, wenn dieser feststellt: Dieses Bewußtsein meines Daseins in der Zeit ist also mit dem Be­ wußtsein eines Verhältnisses zu etwas außer mir identisch verbun­ den, und es ist also Erfahrung und nicht Erdichtung, Sinn und nicht Einbildungskraft, welches das Äußere mit meinem inneren Sinn un­ zertrennlich verknüpft; denn der äußere Sinn ist schon an sich Be­ ziehung der Anschauung auf etwas Wirkliches außer mir, und die Realität desselben zum Unterschiede von der Einbildung beruht nur darauf, daß er mit der inneren Erfahrung selbst, als die Bedingung

19  Auch Einstein, der die Newtonsche Zeitauffassung aufbricht, formuliert sei­ ne Relativitätstheorie zunächst vor dem Hintergrund einer Auseinanderset­ zung mit der Voraussetzung der Unabhängigkeit von Raum- und Zeitzahlen. Stekeler hebt in diesem Kontext Hegels Einsicht hervor: „Die Notwendigkeit der Teilung ist also hier wohl vorhanden, aber nicht der Teile als solche fürei­ nander.“ Pirmin Stekeler, Hegels Phänomenologie des Geistes, Bd. I, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2014, S. 595. 20  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 99. „Durch den Begriff des in­ nern Unterschiedes aber ist diß ungleiche und gleichgültige, Raum und Zeit u.s.f. ein Unterschied, welcher kein Unterschied ist, oder nur ein Unterschied des Gleichnamigen, und sein Wesen die Einheit; sie sind als Positives und Negatives gegeneinander begeistet, und ihr Seyn ist dieses vielmehr, sich als Nichtseyn zu setzen, und in der Einheit aufzuheben. Es bestehen beyde un­ terschiedne, sie sind an sich, sie sind an sich als entgegengesetzte, d.h. das entgegengesetzte ihrer selbst, sie haben ihr Anderes an ihnen und sind nur Eine Einheit.“ Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Tereza Matějčková der Möglichkeit derselben, unzertrennlich verbunden werde, wel­ ches hier geschieht.21

Zeit ist also Korrelat von Raum, Raum von Zeit. Auch Hegel erfasst die Zeit aus ihrer wechselseitigen Spannung mit dem Raum, in He­ gels Begriffswelt also aus der Spannung von Entäußerung und Ver­ innerlichung. Ausgehend von dieser Grundlage versteht er auch den Begriff der Unendlichkeit, die das Bewusstsein zunächst am zykli­ schen Leben der Gattung veranschaulicht. Wie die Unendlichkeit und die Zeitlichkeit gibt sich auch das Leben als ein Spannungsver­ hältnis, als Bezug von Identität und Differenz, denn „[d]as beziehen auf sich selbst vielmehr das Entzweyen, oder eben jene Sichselbst­ gleichheit ist innerer Unterschied“22. Die Antwort auf das physika­ lische Zeitverständnis ist mit anderen Worten die erlebte Zeit des lebendigen Organismus. Daran ist zweierlei ersichtlich: Die französischen Interpreten Hegels, vornehmlich Alexandre Kojève23, die so nachdrücklich die eigentümliche Zeittheorie in Hegels Werk hervorheben, schreiben Hegel zu Recht ein phänomenologisches Zeitverständnis zu. Die Zeit geht dann in die subjektive Erfahrung ein, womit in sie auch Relativität eintritt24, was Forscher im zwanzigsten Jahrhundert auch in modernen physikalischen Theorien aufgreifen. Diese Subjektvie­ rung und Pluralisierung, die so bezeichnend ist für die Moderne mit ihrem akuten Zeitbewusstsein, hat ihren Preis. Ausgehend von sei­ ner Theorie kann Hegel keinen physikalischen Zeitbegriff begrün­ den. So kann er lediglich behaupten, dass die physikalische Zeit eben abkünftig sei, ein Abstraktum der erlebten Zeit. Mit anderen 21  Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA III, S. 23. 22  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 99. 23  Alexandre Kojève, „Ewigkeit, Zeit und Begriff“, in: Hegel, hg. von Iring Fetscher, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975, S. 121. „Hegel identifiziert als erster den Begriff und die Zeit. Und merkwürdigerweise sagt er das sogar wortwört­ lich, während man bei den anderen Philosophen vergebens nach den aus­ drücklichen Formulierungen suchen würde.“ 24  Zu Recht hält also Michael Theunissen fest, dass aus systematischer Perspek­ tive eine Subjektivierung der Zeit immer mit einer Pluralisierung einhergeht. Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, S. 38–45. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Worten kann Zeit bei Hegel unabhängig von der Philosophie des Geistes gar nicht entwickelt werden, denn die Zeit ist wesentliche Dynamik des Geistes und steht im gewissen Sinne unter der Herr­ schaft der Subjektivität.25 3.3. Zeit im lebendigen Selbstbewusstsein Was genau ist aber diese grundlegende, erlebte Zeit? Bezeich­ nenderweise klärt uns Hegel darüber in den ersten Passagen des Selbstbewusstseins-Kapitels, wo er sich seiner Konzeption des Le­ bens zuwendet, auf. Die Zeit erscheint hier in Gestalt einer kreis­ förmigen Bewegung, die zunächst symbolisch für die Unendlichkeit steht, da es sich um eine Struktur handelt, die in sich selbst Differen­ zen erschließt und die sich selbst eine Struktur verleiht. Unendlich ist dieses Bewusstsein also laut Hegel deshalb, weil es im gewissen Maße autopoietisch ist. Wenn sich aber das organische Selbstbe­ wusstsein selbst die Struktur verleiht, wobei Hegel diese Struktur auf die Zeitlichkeit bezieht, bedeutet es auch, dass sich das Bewusstsein selbst seine Zeit hervorbringt. Nicht in der Zeit ist das Organische, es selbst ist zeitlich und ist eben deshalb organisch, also selbstfühlend. Hegel bindet die organische Zeitlichkeit auf die Abfolge der Be­ dürfnisse, die der Organismus erlebt, zurück. Daraus können wir schließen, dass Zeitlichkeit wesentlich mit einer, wenn auch nur ru­ dimentären, Intentionalität verbunden ist. Diese Intentionalität be­ zeichnet Hegel auf dieser Ebene als „Begehren“. Weil hier erst eine animalische Form des Selbstbewusstseins vorliegt, hat die Zeit die „gediegene Gestalt des Raumes“ und ist explizit auf „Bewegung“ be­ zogen, wobei Hegel diese noch als „achsendrehende Bewegung“ spe­ zifiziert.26 Weil also das animalische Bewusstsein bereits über eine 25  Die allerwichtigste Frage, ob dies denn überzeugend ist, kann ich in diesem Aufsatz, in dem ich Hegels Zeitverständnis in der Phänomenologie rekonstru­ ieren will, nicht explizit verfolgen. 26  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 105. „Das Wesen ist die Unend­ lichkeit als das Aufgehobenseyn aller Unterschiede, die reine achsendrehen­ de Bewegung, die Ruhe ihrer selbst als absolutunruhigen Unendlichkeit; die Selbstständigkeit selbst, in welcher die Unterschiede der Bewegung aufgelöst sind; das einfache Wesen der Zeit, das in dieser Sichselbstgleichheit die ge­ diegene Gestalt des Raumes hat.“ Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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zeitliche Struktur verfügt, nicht aber über ein explizites Bewusstsein der Zeitlichkeit, handelt es sich erst um eine wesentlich ‚verräum­ lichte‘ Zeit. Was ist damit gemeint? In meiner Interpretation handelt es sich um eine Zeitlichkeit, die sich selbst ausschließlich im Medium des äußeren Vollzugs fühlend erfasst. In dem Falle müssen wir uns fra­ gen: Warum rekurriert Hegel überhaupt auf dieser relativ niedrigen, ja noch animalischen Stufe auf die Zeit? Hegel assoziiert Zeit wesent­ lich mit bewusster Selbstbewegung, einer bewussten Strukturierung des Lebensvollzugs. Zeit wäre bereits auf der Stufe dieser basalen Lebendigkeit die Tätigkeit des Selbstwillens, aber eben eines Wil­ lens, der im Vorgegebenen behaftet bleibt: Der Organismus genießt einen Freiraum, er vermag es, die Einwirkungen des Äußeren aufzu­ halten und selbst zu gestalten und ist somit nicht mechanischer Be­ standteil seiner Umgebung. Dennoch ist sein Lebensweg keine Bil­ dungsgeschichte. Das bedeutet, dass in seinem Leben nichts Neues geschieht und der Organismus ist somit kein Anfänger, sondern Teil eines Lebenszyklus.27 3.4. Zeit auf der Ebene der absoluten Religion Erst dem menschlichen Bewusstsein gebührt die Fähigkeit, Neues anzufangen und Unerwartetes zu vollbringen. Das Bewusstsein, das sich zu dieser Fähigkeit bildet, bezeichnet Hegel als das christliche. Auf die Zeit kommt er somit wieder im Kontext des Christentums zu sprechen. Dieses bildet eine Einbruchstelle in der Entwicklung des Geistes gerade deshalb, weil es eine neue Zeitauffassung for­ muliert. Aus kulturell-geschichtlicher Sicht lehrt es die Zeitknapp­ heit. Eine verwandelnde, ja apokalyptische, neue und unverhofft eintretende Wirklichkeit kann bekanntlich jeden Augenblick wie ein Dieb hereinbrechen. Damit trägt die christliche Zeitauffassung dem Rechnung, dass alles erwartet werden kann – vom Gott und vom Menschen. Damit bricht das Bewusstsein mit einer zyklischen

27  A. a. O., S. 165 f. „Aber die organische Natur hat keine Geschichte; sie fällt von ihrem Allgemeinen, dem Leben, unmittelbar in die Einzelheit des Daseyns herunter“. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Zeitauffassung,28 und gerade deshalb ist das Christentum die Angel, um die sich die Weltgeschichte dreht. Daran werden zwei Spezifika der Hegelschen Zeittheorie deut­ lich. Erstens ist diese Zeitauffassung mit einer Freiheitsauffassung engstens verbunden. Eine neue Zeitreihe initiieren zu können heißt frei zu sein. Zugleich aber wird an dem christlichen Bewusstsein ein Phänomen deutlich, das das Christentum selbst überschreitet. Das Bewusstsein bringt die Zeit nie nur durch die eigene Subjektivität hervor, sondern lebt immer auch in einer gesellschaftlichen Zeitauf­ fassung. Es erlebt die Zeit, die Zeit ist aber auch dasjenige, das es um­ fasst, ja sie ist das Umfassende selbst. Wenn ich also an früher Stelle darauf verwiesen habe, dass Hegel die Zeit ins Subjekt aufnimmt, so macht er nun einen Schritt zurück. Obwohl die Zeit wesentlich an die Subjektivität gebunden ist, herrscht das einzelne Subjekt nicht über sie, zumindest herrscht es nie ausschließlich über sie, da sich dieses immer auch in einer objektiven, es umgreifenden Zeit findet. Das Christentum hat die Zeit des Abendlandes entzweigebrochen und damit auch auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene eine neue Zeitreihe initiiert. Es hat somit nicht nur eine neue Subjekti­ vität, sondern auch Objektivität geschaffen. Daraus folgt also, dass dem Zeitstrom zwar Augen eingesetzt sind. Das heißt aber nicht, es handele sich ausschließlich um Augen eines Einzelnen. Vielmehr ist das subjektive Zeiterlebnis immer auch ein Kind der Zeit des objek­ tiven Geistes, der objektiven Subjektivität. Die Zeit ist im Subjekt, aber das Subjekt ist auch in der Zeit. Entschieden lehnt Hegel jedoch den Gemeinplatz ab, laut dem das Christentum eine Orientierung an die Zukunft eingeleitet hät­ te, während die antiken Konzeptionen ausschließlich am Vergange­ nen orientiert waren. Eine solche Konzeption, in der der Zukunft Oberhand gebührt, schreibt Hegel der christlichen Zeitauffassung überhaupt nicht zu. Eine Ausrichtung auf die Zukunft ist für ihn eine pathologische Zeitauffassung, die er in weltlichen Utopien

28  Das heißt natürlich nicht, dass das Bewusstsein als Organismus und Teil der Natur der zyklischen Zeit nicht länger unterliegen würde; nun hat es aber nocht einen anderen „Zeitmodus“ zur Verfügung. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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diagnostiziert, z. B. der Gestalt der absoluten Freiheit, die den Terror entfacht. Abermals kommt zum Vorschein, wie eng Hegel seinen Begriff der Zeit an seine Auffassung der Freiheit und Gesellschaftsstruktur bindet: Eine exzessive Gewichtung der Zukunft ist mit der Freiheit nicht vereinbar. Wenn wir die Zukunft als ein Fernes auffassen, das uns erst über die Gegenwart aufklärt, deklassieren wir die Gegen­ wart zu einem unwesentlichen Durchgangsort, der nicht ist, was er ist, sondern ist, was er erst wird. Die Wahrheit bleibt dann ein Aus­ stehendes und der Mensch erwartet sich von der Zukunft eine Of­ fenbarung. Das entfacht ein entmündigendes Streben nach poten­ tiell Erlösendem, wobei Hoffnungen und Erwartungen wachgerufen werden, die die Gegenwart nicht zu stabilisieren vermag. Aus den Bestrebungen, die Zukunft rascher eintreten zu lassen, entwickeln sich Pathologien der gesellschaftlichen und politischen Art, die die Gegenwart einer antizipierten Zukunft unterwirft und die gegen­ wärtige Welt in einer „Furie des Verschwindens“29 verheert. Die Hast begehrt gegen die Gegenwart auf. Sie ist eine falsche In­ tellektualisierung, die die Welt einem subjektiven Plan unterwirft.30 In Hegels Auffassung mündet dies in den Terror der absoluten Frei­ heit. Indirekt wird daran deutlich, dass sich Hegel sehr wohl bewusst ist, dass die Zeit nie nur subjektives Konstrukt ist, sondern immer auch etwas Umfassendes, dem das Subjekt gerecht werden soll. Des­ halb birgt die Zeit sehr wohl eine Herausforderung in sich, an der 29  A. a. O., S. 319. 30  Schön schreibt über die Hast als über eine pathologische Zeiterfahrung Ma­ tei Calinescu in seinen aus der Perspektive eines Bettlers verfassten Refle­ xionen The Life and Opinion of Zacharias Lichter: „the man in a hurry never attains his goals because he neglects the very paths that lead to them. The man in haste wanders through an endless desert for all eternity. Under his gaze everything turns to sand: thus, in his mad haste, lacking any landmarks, he actually runs in place.“ Diese Passage lässt sich leicht hegelianisch inter­ pretieren: Der von Hast getriebene Mensch sieht nicht ein, dass die einzel­ nen Stationen zum Weg selbst gehören, will direkt im Ziel ankommen, das es dann aber gar nicht als Ziel, sondern nur als Abbruch, gibt. Matei Calinescu, The Life and Opinions of Zacharias Lichter, übers. v. Adriana Calinescu, Breon Mitchell, New York: New York Review Books, 2018, S. 109 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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der Mensch generell leidet, wie Michael Theunissen hervorhebt, und an der man eben auch vollends scheitern kann.31 In Hegels Auffassung ist das Christentum die wahre Religion und damit auch die Religion der Freiheit, weil es nicht den Horizont der Zukunft, sondern der Gegenwart eröffnet und damit Hegels eigener Gewichtung des Gegenwärtigen entgegenkommt. Laut Hegel ver­ kündet der Gottessohn nicht etwa das in Zukunft heraufkommende Gottesreich, sondern seine Gegenwart hier und jetzt. Damit steht die christliche Religion auch am Ende des Religiösen und damit auch des Vorstellenden, das sich als Abbild einer eigentlicheren Wirk­ lichkeit versteht, die entweder in einer mythischen Zeit war oder in einer erhofften, apokalyptischen Zukunft eintrifft. Das Ende der Religion steht im engsten Zusammenhang mit dem Tod Gottes, mit einem Tod, der in die menschliche Zeit eintritt. In der christlichen Religion ist es dem Menschen erlaubt, den Gottes­ sohn, die Ewigkeit in persona, zu richten, sogar hinzurichten. Das ist die gute Nachricht des Christentums: Der Mensch ist frei zu tun, was er selbst für richtig hält, d. h. sich auch unabhängig von Gott zu be­ stimmen, also tätiger Anfänger zu werden, gegen Gott handeln und damit eine neue, eigene Zeitreihe zu initiieren. In der Phänomenologie setzt sich Hegel sogleich damit auseinan­ der, dass das Bewusstsein an dieser Einsicht generell scheitert. Es sieht nicht ein, dass der Gottessohn die Vollendung hier und jetzt verlautet, und setzt die Versöhnung irrtümlicherweise in ein „Fer­ nes der Zukunft“32. Damit verbleibt es in der religiösen Phase, die es für die Wahrheit hält. In meiner Interpretation ist Hegel bemüht, eben auch die religiöse Phase begrifflich zu explizieren und d. h. von ihrem Inneren heraus erkennen. Die Religion soll sich selbst auf eine begriffliche Sichtweise überwinden, sie soll ihrer eigenen Struktur gewahr werden. In Hegels Auffassung hat eben dies das Christentum geleistet. Das heißt aber nicht, dass dieses dann nicht mehr relevant wäre. Nicht dadurch gelangt das Religiöse an sein Ende, dass es im Denken auf­ gehoben werden würde. Im absoluten Denken wird die Religion 31  Theunissen, Negative Theologie der Zeit, S. 45–54. 32  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 420 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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begrifflich expliziert. Die Begriffe sind aber dadurch Begriffe, dass sie sich selbst entäußern, aber nicht nur auf einer bloß logischen, sondern ebenso auf einer sinnlichen Ebene: Somit hat das „Element des Denkens“ an sich „zum Daseyn oder der Einzelheit herunter zu steigen.“33 Die Christologie wird also im Kontext einer auf der Iden­ tität von Sein und Wissen begründeten Ontologie entfaltet: Das Ab­ solute, das höchste Sein, ist reiner, aber zugleich sich selbst entäu­ ßernder und je schon entäußerter Gedanke. Nach der Epoche der Aufklärung ist es nicht mehr die Theologie, sondern die Philosophie, die diese Einsicht in das Wesen der Reli­ gion expliziert, und der Philosophie kommt damit die besondere Position zu, das Göttliche, auch das Ewige aus seinem Jenseits zu ho­ len, in das es der zu Abstraktionen neigende Verstand verbannt hat. Das Religiöse soll aber nicht in die Welt versetzt werden, vielmehr soll es als je in der Welt seiend gewusst werden und dadurch soll die Welt selbst verklärt werden. Das Ende muss stets mitgedacht wer­ den, aber nicht, um zum Schluss zu kommen, sondern um das Ende als Prinzip zu fassen und von diesem aus zu leben und zu denken. Diejenigen Interpreten, die also beim Ende als bei einem Schluss verbleiben, verzichten darauf, den letzten Schritt zu wagen – vom Ende her zurück in die Mitte zu treten. Die Religion ist nur dann defizitär, wenn das Bewusstsein den Schritt zum absoluten Wissen nicht macht. In diesem Fall versäumt es, die religiöse Dynamik des Geistes begrifflich zu explizieren. Aber wenn einmal das absolute Wissen erreicht ist, entdeckt das Bewusstsein in der Religion das ab­ solute Wissen und umgekehrt entdeckt es im absoluten Wissen eine religiöse Dimension. Die religiöse Anschauung hat den Menschen also etwas gelehrt, dem nun die Philosophie nachdenkt: Die Zeit wurde zur Stätte der wichtigsten Geschichte überhaupt, nicht ein Jenseits, nicht das letz­ te Gericht. Stattdessen richtet die Geschichte über sich selbst und ist insofern autonom. Es gibt kein außerzeitliches Tribunal. Das Ewige verlässt das Ewige, oder die Idee entlässt sich, und wird veränder­ lich, stirbt in der Zeit. Die Zeit behält das letzte Wort, in der Zeit 33  A. a. O., S. 409. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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wird das Ewige gesprochen: Der Mensch ist sich selbst überlassen34, und deshalb ist die Zeit so wesentlich, weil sie immer eine Zeit der Entwicklung, der Bildung, der Taten ist. Während die organische Zeit die Spanne des Begehrens und seiner Befriedigung ist, ist die geistige, menschliche Zeit die Spanne des Werkes und als solche ist sie einmalig. 3.5. Zeit im absoluten Wissen Auf der Ebene der Religion verkündet das Bewusstsein den Tod Got­ tes, auf der des absoluten Wissens tilgt es die Zeit. Zunächst würde diese Wortwahl nahelegen, dass ein Bewusstsein, das das absolute Wissen erreicht, nicht länger in der Zeit lebt und in die Ewigkeit eingeht. Wenn wir Hegels Verweis hinzuziehen, dass nun der Prot­ agonist der Phänomenologie in eine neue Wissenschaft, die Wissen­ schaft der Logik, eintreten kann, wäre damit die Ansicht bekräftigt, dass das Bewusstsein nun eine Zeitlosigkeit erreicht. Aber anderer­ seits ist die Phänomenologie nicht nur Einleitung in die Wissen­ schaft der Logik, sondern ebenso in die Philosophie der Geschichte.35 Dies wiederum legt nahe, dass die Zeit nun keineswegs für das Be­ wusstsein irrelevant ist; vielmehr hat es die Zeit bzw. ihre Struktur erkannt, eingesehen und verstanden, ja gerade diese Einsicht her­ beizuführen ist die Absicht der Phänomenologie.

34  Auch dadurch wird die Theologie nicht obsolet. Hegel formuliert aber eben eine weltliche Gemeindetheologie, die sich einer Heiligung der Weltlichkeit verschreibt. Die Frage, ob überhaupt in Hegels Denken Platz für einen tran­ szendenten Gott ist, ist sehr wohl berechtigt, kann jedoch an dieser Stelle nicht behandelt werden. Offensichtlich ist aber, dass sich Hegel eines theo­ logischen Kerngedankens bedient, der Versöhnung, um auf diesem seine Philosophie zu gründen. Damit spricht er dem Theologischen einen breiten Raum zu, anderseits interpretiert er diese theologischen Motive anschlie­ ßend philosophisch. Zu Hegels Theologie als Gemeindetheologie siehe Lud­ wig Siep, Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, S. 134. 35  Hegel hält im letzten Satz der Phänomenologie fest, dass mit dem absoluten Wissen nicht nur der Standpunkt der Wissenschaft, sondern eben auch der der begriffenen Geschichte erreicht ist. Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 434. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Ich will mich dieser zweiten Möglichkeit anschließen und will diese Interpretation u. a. an Hegels expliziter Parallelisierung der Religion und der Philosophie stützen.36 Das Christentum ist absolu­ te Religion, weil sich hier die höchste Wirklichkeit offen, auch in der Zeit, zeigt und es somit keine jenseitigen, dem Menschen verborge­ nen Geheimnisse mehr gibt. Der Mensch muss vollends auf seine Geistigkeit bauen, ja erfasst sich selbst als Prinzip der Geistigkeit und damit auch als Prinzip der Freiheit, wobei Hegel das „Ich bin Ich“ auch explizit als Wesen der Freiheit und der Zeit auffasst. Das absolute Wissen ist seinerseits eine Offenlegung, eine Offen­ legung der logischen Strukturen der menschlichen Erfahrung, eben eine Logik der Phänomene. Auch hier kann sich das Bewusstsein, dem die Zeit durchsichtig wird, als Prinzip der Zeit auffassen. Nicht vergeht die Zeit deshalb anders. Mit der „Tilgung“ meint Hegel nicht, das Bewusstsein würde nun das Zeitliche oder Sinnliche vernichten. Es besagt, dass weder Zeit noch Sinnlichkeit selbstständige, also ih­ rerseits absolute Größen sind. Sie selbst hängen von einer begriffli­ chen Struktur ab und sind als solche abkünftig. Deshalb unterliegen sie aber keiner ihnen fremden Begrifflichkeit. Vielmehr sind sie ge­ rade aufgrund ihrer Begrifflichkeit abkünftig. Die Struktur der Be­ grifflichkeit fällt mit der Identität der Identität und Nichtidentität in eins. Indem also etwas als begrifflich ausgewiesen wird, wird es als Bezug gedeutet, der sich eben nie im Selbstbezug erschöpft, sondern wesentlicher Bezug auf Anderes ist: Etwas vermag deshalb identisch mit sich selbst zu sein, weil es anderes gibt. So hat auch ein jedes in der Zeit existierendes Seiendes sein Wesen im Anderen, und ein jeder Augenblick streckt sich in die Vergangenheit und in die Zu­ kunft aus: Indem er dieser Bezug ist, ist er Begriff, nämlich Bezug von Identität und Differenz an sich selbst. Insofern schließt Hegel an die ehrwürdige philosophische Tradition an: Das Wesen der Zeit ist Geist oder Logos – und das heißt an dieser Stelle: Bezug, aber eben Bezug in der Subjektivität. 36  In der Selbstanzeige der Phänomenologie bemerkt Hegel, dass sein Werk zwei Formen der letzten Wahrheit kennt: „Die letzte Wahrheit findet sich zu­ nächst in der Religion, und dann in der Wissenschaft, als dem Resultat des Ganzen.“ Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 446. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Von Tilgung der Zeit spricht Hegel aber noch in einem anderen, ethischen Sinne: Ein Bewusstsein, das das absolute Wissen erreicht, erkennt, dass seine Freiheit als das Im-Anderen-bei-sich-Selbstsein eben auch diese begriffliche Struktur nachzeichnet. Daran ist be­ zeichnend, dass Hegel die Zeitlichkeit deshalb mit dem Menschen verbindet, weil der Mensch wesentlich tätig ist und weil eine Tat eine Ausdehnung, eine Struktur hat. Bekanntlich bezeichnet auch Fich­ te die Philosophie als eine pragmatische Geschichtsschreibung des menschlichen Geistes, weil das Ich wesentlich spontan, ja wesent­ lich eine Tathandlung ist. Hierin kommt Hegels Auffassung der Zeit als Erinnerung zum Tragen. Das Wesen des Bewusstseins ist seine Tat, aber für Hegel eben nicht in Gestalt einer logischen, vorbewussten Dynamik, son­ dern in Gestalt einer wirklichen, empirischen Tat, in und an der sich das Bewusstsein bildet. Mit der Tat schreitet der Mensch in das Ele­ ment der Verwandlung und erst in der Tat weiß sich das Bewusstsein als wirkliches und damit eben auch als zeitliches und vergängliches. Indem das Wesen der Zeit in den Bezug zum vollbrachten Werk verlegt ist, kann auch dem beigekommen werden, dass unser Ver­ ständnis der Zeit, damit aber auch eben das Wesen der Geistigkeit, ja Rationalität retrospektiv ist. Denn retrospektiv suchen wir Sinn im Werk. Rationalität wäre demnach nicht die Fähigkeit, sich Grün­ de zu setzen, sondern diese retrospektiv, nach der vollbrachten Tat, also im Einverständnis mit dem praktischen Primat, zu suchen. Die Philosophie, oder die Reflexion oder Einsicht generell, ist die Eule, die erst nachdem alles vollbracht ist, anhebt. 4. Schluss In dieser Richtung will ich auch Hegels Auffassung des absoluten Wissens als Erinnerung verstehen. Nicht eine der Zeit enthobene Ewigkeit soll das Bewusstsein anstreben. Im Gegenteil soll es sich nicht scheuen, sich dem „Elemente der Verwandlung“37 preiszu­ geben, wie Hegel festhält. Das Wesen der Zeit liegt weder in der 37  Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 173. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Zukunft, wie Existentialisten meinen, noch ausschließlich in dem stehenden Jetzt der Gegenwart, sondern in der hier und jetzt erin­ nerten, nachvollzogenen und angeeigneten Vergangenheit. Dieser Vollzug im Jetzt ist ewig, insofern er die Wahrheit des Phänomens offenbart und insofern das, was war, bevor es eingetreten ist, zwar zufällig war, im Rückblick aber eben notwendigerweise so geschehen ist, wie es geschehen ist. Diese als Erinnerung ange­ strebte Ewigkeit wird der Zeit selbst abgerungen, ohne auf die Zwei-Welten-Metaphysik zurückzukommen. Stattdessen legt Hegel die Dimension der lebendigen Gegenwärtigkeit offen. Erst retrospektiv lernen wir verstehen und einzusehen und somit ist auch Hegels Konzept der Rationalität ein retrospektives. Deshalb ist das absolute Wissen immer ein erinnertes, das sich vom Ende her erfasst. Das Ich gibt sich Wirklichkeit, indem es vergeht und ein Ich zum Ende wird; dies Ende ist aber nicht der Tod, sondern das Werk, das sich von dem einzelnen Ich ablöst und seine Stelle einnimmt. Nur als Werk kann der Mensch erinnert werden, denn nur hier, in seiner Tätigkeit, die in Erscheinung tritt, ist er zeitlich. Deshalb kann er aber auch nur hier als erinnerter die eigene Zeit transzendieren und durch das erinnerte Werk in die Zeit der Anderen eintreten. Die Bereitschaft der Anderen dieses Werk aufzugreifen, ja sich von diesem Werk verwandeln zu lassen, ist die höchste Vollendung und Tilgung der eigenen Zeit. Bibliographie Calinescu, Matei, The Life and Opinions of Zacharias Lichter, übers. v. Adriana Calinescu und Breon Mitchell, New York: New York Review Books, 2018. Hegel, Georg W. F., Phänomenologie des Geistes, GW 9. –: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1: Einleitung. Der Be­ griff der Religion, neu hg. von Walter Jaeschke, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1993. –: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1995.

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Hegels Zeittilgung

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Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Holger Gutschmidt

Hegel gegen Spinoza … und gegen Hegel

Hegels späte Kritik an der Substanzphilosophie und sein eigener Übergang von der „Substanz“ zum „Subjekt“ I. Zwei der bekanntesten und am häufigsten zitierten Passagen Hegels entstammen der „Vorrede“ der Phänomenologie des Geistes. Sie bezeichnen programmatisch das Thema und die Aufgabe aller Philosophie nach Hegel. Darüber hinaus gelten sie für gewöhnlich auch als wichtige Belege für die Einordnung Hegels in die neuzeitliche Entwicklung der „Metaphysik“. Die erste lautet: Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.1

Die zweite Passage lautet: Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.2

Der Ausdruck „Substanz“ in diesem zweiten Zitat ist eine offenkundige Anspielung auf die zur Zeit Hegels am meisten diskutierte Substanztheorie, die im ersten Buch seiner Ethik entwickelte Gotteslehre von Baruch de Spinoza. Seit Friedrich Heinrich Jacobis Schrift 1  Georg W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1988, S. 15 [= GW 9, S. 19]. 2  A. a. O., S. 13 f. [S. 18]. Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova © wilhelmJindrich fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764022_010

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Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1. Auflage 1785), die eine Renaissance des damals fast vergessenen Spinoza herbeiführte, galt Spinozas Ethik als Muster einer rationalen Welterklärung – ihres Monismus, ihres Determinismus und ihrer strengen Argumentationsmethode wegen. So haben in den 1790er Jahren auch Fichte und Schelling noch Spinozas „System“ als eine völlig konsequente Philosophie gerühmt.3 Doch während diese dem „dogmatischen“ System des Spinoza zu jener Zeit eine Philosophie aus dem Ich als Grundlage eines Systems der Freiheit gegenüberstellten, legt Hegel den Akzent seiner Spinoza-Kritik anders. Sein Verständnis von Spinozas Substanztheorie und seine Kritik daran erhellt am besten aus einer Stelle seiner Erörterung der Philosophie Spinozas in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die auch die Terminologie der beiden oben zitierten Textstellen aus der „Vorrede“ der Phänomenologie des Geistes wiederaufnimmt. Die Stelle lautet wie folgt:4 Diese spinozistische Idee [sc. über die absolute Substanz] ist als wahrhaft, begründet zuzugeben. Die absolute Substanz ist das Wahre, aber sie ist noch nicht das ganze Wahre; sie muß auch als in sich tätig, lebendig gedacht werden und eben dadurch sich als Geist bestimmen. Die spinozistische Substanz ist die allgemeine und so die abstrakte Bestimmung; man kann sagen, es ist die Grundlage des Geistes, aber nicht als der absolut unten festbleibende Grund, 3  Vgl. hierzu etwa Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2, S. 264, 281 f. Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, AA I/3, S. 47 ff. Vgl. zu Schellings frühem „Spinozismus“ auch: Walter Jaeschke und Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik, München: C. H. Beck, 2012, S. 82–84. 4  Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, III, TWA 20, S. 166. – Umfangreichere Auseinandersetzungen Hegels mit Spinoza finden sich ferner in der Journal-Abhandlung Glauben und Wissen (1802); dem ersten Band der Wissenschaft der Logik (1813), v. a. in einer „Anmerkung“ zu dem Abschnitt 3, 1, C „Der Modus des Absoluten“; und der späten Jacobi-Rezension von 1817. Siehe dazu auch das Folgende. – Zur sachlichen Auseinandersetzung mit Spinozas Substanzbegriff durch den reifen Hegel siehe neuerdings: Birgit Sandkaulen, „Die Ontologie der Substanz, der Begriff der Subjektivität und die Faktizität des Einzelnen. Hegels reflexionslogische ‚Widerlegung‘ der Spinozanischen Metaphysik“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, 5 (2007), S. 235–275. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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sondern als die abstrakte Einheit, die der Geist in sich selbst ist. Wird nun bei dieser Substanz stehengeblieben, so kommt es zu keiner Entwicklung, zu keiner Geistigkeit, Tätigkeit. […] In die eine Substanz gehen alle Unterschiede und Bestimmungen der Dinge und des Bewußtseins nur zurück; so, kann man sagen, wird im Spinozistischen System alles nur in diesen Abgrund der Vernichtung hineingeworfen. Aber es kommt nichts heraus; und das Besondere, wovon er spricht, wird nur vorgefunden, aufgenommen aus der Vorstellung, ohne daß es gerechtfertigt wäre. Sollte es gerechtfertigt sein, so müßte Spinoza es deduzieren, ableiten aus seiner Substanz; sie schließt sich nicht auf, das wäre die Lebendigkeit, Geistigkeit.

Das erste, das hier auffällt, ist Hegels Unterscheidung zwischen dem „Wahren“ und dem „ganzen Wahren“, die wie ein verzerrtes Echo von Hegels Aussage aus der Phänomenologie, dass das Wahre das Ganze sei, wirkt. In Hegels Spinoza-Darstellung aus den Vorlesungen dient sie dazu, der Substanztheorie ein relatives Recht einzuräumen, da diese zwar einen wichtigen Aspekt einer Theorie des „Wahren“ ausdrückt, es aber nicht vollständig bestimmt. Wie auch im zweiten Zitat aus der „Vorrede“ der Phänomenologie stellt Hegel Substanztheorie und Subjekttheorie hier also nicht einfach einander gegenüber, sondern betrachtet sie vielmehr als unterschiedliche Ausarbeitungsstufen der einen richtigen Theorie. Das zweite, das auffällt, ist die Weise, wie Hegel mit dem Ausdruck „Geist“ verfährt. Durch die parataktischen Attribuierungen als „Entwicklung“, „Lebendigkeit“, „Tätigkeit“ und – wenn man die letzte Bemerkung hinzunimmt – sogar als „Deduktion“ oder „Rechtfertigung“ werden untypische Prädikate mit dem Ausdruck „Geist“ verbunden. Zwar würde wohl niemand leugnen, dass der menschliche und vielleicht auch der göttliche Geist lebendig, aktiv (d. h. tätig) und in der einen oder anderen Weise auch sich selbst entwickelnd sind, aber dass sie die „Tätigkeit“ oder die „Lebendigkeit“ der Substanz sind, wäre eine einerseits merkwürdige und andererseits schwer verständliche Aussage. Ähnlich steht es mit Hegels letzter Bemerkung in diesem Textzitat: Die Lebendigkeit, die Geistigkeit der Substanz soll darin bestehen, dass das Besondere aus ihr deduziert oder abgeleitet werden kann. Vielleicht würden wir zur Verteidigung hier einwenden wollen, dass dies von Hegel nur als ein Anzeichen für die „Lebendigkeit“ Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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oder „Geistigkeit“ der Substanz gesehen werde. Doch wäre Hegels Bemerkung selbst in dieser Form noch reichlich interpretationsbedürftig. – Der Gegensatz von „Substanz“ und „Geist“ in Hegels Spinoza-Deutung verweist also auf eine grundlegendere Alternative als auf solche, die man für gewöhnlich im Zusammenhang mit dem Ausdruck „Geist“ erwartet, etwa „Körper und Geist“ oder „Natur und Geist“. Diese Alternative bewegt sich in der Opposition von „Starrheit, Leblosigkeit, Passivität“ zu „Veränderung, Leben, Aktivität“. Und so schließt Hegel seine allgemeine Charakterisierung der Spinozanischen Ontologie an dieser Stelle auch mit der Bemerkung ab, „daß es [sc. ihr Prinzip] die starre Bewegungslosigkeit [ist], deren einzige Tätigkeit ist, alles in den Abgrund der Substanz zu werfen, in dem alles nur dahinschwindet, alles Leben in sich selbst verkommt“.5 Unglücklicherweise meint Hegel, seiner Überlegung noch dadurch Plausibilität verleihen zu können, dass er anfügt, dass Spinoza ja schließlich auch an der „Schwindsucht“ gestorben sei! Doch wenn wir einmal von Spinozas Schwindsucht absehen, ist Hegels Position klar. Und sie wird auch in anderen Texten des reifen Hegel, wie etwa der Anmerkung am Schluss des ersten Kapitels der „Wesenslogik“6 (in der sich Hegel mit Spinozas und Leibniz’ Begriffen des „Absoluten“ befasst) und der Jacobi-Rezension von 18177 in z. T. ganz ähnlichen Ausdrücken vorgetragen. Spinozas Substanz-Theorie ist danach nur eine abstrakte Theorie des Ganzen, die wohl die Einheit und den Sachverhalt, dass ausgedehnte und denkende Wirklichkeit einen gemeinsamen Ursprung haben, der sie zugleich umfasst, aussagt, die aber nicht den Grund dafür angibt, weshalb sich dieser Ursprung, das „Absolute“, in die verschiedenen Bereiche des Wirklichen und die Einzeldinge „auslegt“ (wie Hegel sich an anderer Stelle der Logik8 ausdrückt) und der deshalb auch nicht angeben kann, wie dies geschieht. Das, was Hegel Spinoza vorwirft, ist dessen Ausgang von der vorfindlichen Wirklichkeit ausgedehnter und geistiger Dinge zum Zwecke ihrer Begründung, d. h. der Angabe, unter 5  Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, III, TWA 20, S. 167. 6  Hegel, Wissenschaft der Logik, II, TWA 6, S. 195–198. 7  Hegel, Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke, in: GW 15, S. 8 ff. 8  Hegel, Wissenschaft der Logik, II, TWA 6, S. 187 ff. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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welchen Voraussetzungen bzw. unter welcher letzten Voraussetzung solche Dinge möglich sind. Damit haftet aber der Substanz auch die Eigenschaft, bloße Voraussetzung bzw. bloßes Explanans zu sein, an. Ihre Bestimmtheit lässt nicht erkennen, weshalb und wie die Welt der geistigen und ausgedehnten Dinge aus der Substanz resultiert, und, da dieses Verhältnis ein begriffliches sein soll, zeigt sie auch nicht die Notwendigkeit dieses Resultates an. Was Hegel Spinoza also vorwirft, ist im Grunde, dass seine Theorie nicht mehr bietet als das, was wir seit Immanuel Kant ein „transzendentales Argument“ nennen. Es ist dadurch, dass Spinozas Substanz „unlebendig“, passiv (bzw. „untätig“) und „starr“ wirkt. Hegels Antwort hierauf ist sein Theorem vom „Subjekt-“ oder „Geist“-Charakter des Absoluten. Wie der Schluss von Hegels Überlegung in den Vorlesungen zeigt, hat diese Antwort nicht nur eine ontologische Facette, indem sie den Erklärungsanspruch, den Spinozas Theorie hat oder nach Hegel haben sollte, vollständig einlöst, sondern sie hat auch eine methodische Implikation. Erst durch den „Geist“-Charakter der Substanz wird es danach möglich, eine strenge, methodisch durchgängig begründete Verbindung zwischen dem Wesen der Substanz und den Einzeldingen auszusagen und damit die Forderung nach Wissenschaftlichkeit, die ja der Rationalismus in die neuzeitliche Philosophie einführte, zu erfüllen. Somit ist Spinozas Ontologie nur der Vorgänger einer Subjektoder Geistphilosophie, die einerseits eine Theorie des Ganzen und andererseits eine Theorie zum Ganzen, d. h. seiner Entwicklung und der notwendigen Beziehung des Ganzen und seiner Momente, darstellt. Die Geistphilosophie integriert nach dieser Darstellung Hegels die Substanztheorie, ohne an ihren Fehlern zu leiden. Zugleich zeigt sich, dass eine bloße Substanztheorie, mithin eine Theorie in der Form der klassischen Metaphysik des 17. Jahrhunderts, alleine nicht hinreicht, die von ihr beanspruchte Erklärungsleistung und methodische Sorgfalt zu erbringen. Sie muss somit auch von dieser Perspektive her in eine Subjektphilosophie überführt werden. Nun sind Hegels Interpretationen von philosophischen Vorgängern und Antipoden in der Regel mit einigem Misstrauen zu betrachten. Pauschalierungen, Unterstellungen, Einseitigkeiten und andere Probleme werden von Lesern oft bemängelt. Auch Hegels Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Spinoza-Interpretation ist vielfach widersprochen worden, zuletzt u. a. von Wolfgang Bartuschat in einem Aufsatz von 2007, der eine ganze Reihe von Hegels Spinoza-Deutungen angreift.9 Im Folgenden soll aber nicht Spinoza gegen Hegel in Schutz genommen werden, und es soll auch nicht gezeigt werden, wie sehr sich Spinozas Theorie von dem, was sich Hegel darunter vorstellt, unterscheidet. Vielmehr soll gezeigt werden, wie ähnlich Spinozas Denken in mancher Hinsicht dem ist, was Hegel als eine zulängliche Theorie des Ganzen ansieht. Darüber hinaus soll diese Darstellung mit einer – wenn auch nur skizzierten – These verknüpft werden, die anzeigt, wie „Subjektivität“ tatsächlich in Hegels Theorie vom Absoluten „eindringen“ musste, eine These, die zugleich verstehen lassen kann, inwiefern der frühe Hegel der Substanztheorie (Spinozas) noch wesentlich nähersteht als der späte. II. Das erste, das man bei der Betrachtung eines Textes wohl stets tun sollte, ist, eine hermeneutische Besinnung auf seine äußeren Merkmale durchzuführen (z. B. welchen Titel er trägt oder welcher Textsorte er angehört). Unsere entscheidende Quelle für Spinozas Substanztheorie ist nicht ein Werk der theoretischen Philosophie oder dessen, was René Descartes im Anschluss an Aristoteles „Prima Philosophia“ genannt hat. Es ist vielmehr eine „Ethik“. Dieser Ausdruck ist bei Spinoza nicht in modernem Sinn als „Theorie der Begründung intersubjektiv gültiger Verhaltensnormen“ zu verstehen, sondern eher in antikem Sinn als eine Lehre, die zu einem glücklichen oder zumindest zu einem zufriedenen Leben führen soll und die dazu Überlegungen sowohl zum Umgang des Einzelnen mit sich, 9  Wolfgang Bartuschat, „Nur hinein, nicht heraus“, in: ders., Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2017, S. 404–425 (Wiederabdruck). Vgl. auch Klaus Düsing, „Von der Substanz zum Subjekt. Hegels spekulative Spinoza-Deutung“, in: Manfred Walther (Hrsg.), Spinoza und der deutsche Idealismus, Würzburg: Königshausen und Neumann, 1992, S. 163–180, hier: S. 163. Beide Arbeiten sprechen auch maßgebliche Positionen der bis in die neunziger Jahre erschienenen Forschungsliteratur an. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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als auch zu seinem sozialen Verhalten einschließt. In Spinozas Ansatz geht es vor allem um die Befreiung des menschlichen Geistes von der Herrschaft der schädlichen Affekte durch eine vernünftige Liebe zu Gott, den amor Dei intellectualis, welcher nach Spinoza auch die einzige Möglichkeit der menschlichen Freiheit ist. Diesem Thema widmen sich vor allem die Bücher III bis V der Ethik. Nur die beiden ersten Bücher behandeln Themen der theoretischen Philosophie. Auffällig ist ferner, dass mehrfach Elemente der Gotteslehre, die eigentlich in Buch I („De Deo“) verhandelt wird, erst in Buch II („De Natura, & Origine Mentis“) vorkommen, so z. B. die Behauptung, dass Gott sowohl „res cogitans“ als auch „res extensa“ sei bzw. dass beide seine Attribute darstellen.10 Während nun aber dem Attribut der „geistigen Dinge“ das ganze Buch II gewidmet ist, wird das Attribut der „ausgedehnten Dinge“ nur in einem kurzen Exkurs nach Lehrsatz 13 von Ethik II abgehandelt. Ungewöhnlich ist an der Ethik ferner ihr Argumentationsmuster, der sog. mos geometricus. Jedes Buch der Ethik beginnt mit neuen Ausgangssätzen, d. h. Definitionen und Axiomen, selbst in Buch V der Ethik werden noch neue Axiome eingeführt. Damit hat jeder Teil dieses Werkes eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den anderen Teilen. Während aber die Themen und Gegenstände der anderen Teile der Ethik dem Menschen aus seiner Erfahrung bekannt sind, ist die Ableitung in Ethik I so lange hypothetisch, bis Spinoza in Lehrsatz 11 endgültig die Existenz Gottes beweist.11 So lange sind auch die berühmten Definitionen von „Causa sui“, „Substantia“ und „Deus“ am Anfang von Ethik I reine Nominaldefinitionen. Es ist dies deshalb bemerkenswert, weil Spinoza auch eine andere Form des Argumentierens kennt, die einer „Ersten Philosophie“ sehr viel eher entspricht, als die in der Ethik gewählte. In seinem unvollendeten Traktat über die Verbesserung des Verstandes (Tractatus 10  Spinoza, Ethik II, Prop. 1 und 2. (Bezugnahmen auf die bzw. Zitate aus der Ethik erfolgen nach der Ausgabe: Benedictus de Spinoza, Die Ethik. Lateinisch-Deutsch, rev. Übersetzung von Jakob Stern, Stuttgart: Reclam, 1984.) 11  Wobei das entscheidende Argument bereits in Lehrsatz 7 von Ethik I erfolgt: „Zur Natur der Substanz gehört das Existieren.“ („Ad naturam substantiae pertinet existere.“) Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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de Emendatione Intellectus, 1661/62) erörtert Spinoza verschiedene Formen des Erkennens.12 Die höchsten Formen des Erkennens sind entweder, bei erschaffenen Dingen, die Erkenntnis durch Rekurs auf die nächste Ursache („proxima causa“), oder, bei unerschaffenen Dingen, die Erkenntnis aus der Idee bzw. dem Begriff der Natur dieser Dinge.13 Diese nennt Spinoza im Traktat auch das „Wesen“ einer Sache („essentia“). Die Wahrheit einer solchen „Essenz“ oder „objektiven Essenz“ soll aus ihr selbst zu erkennen sein.14 Auch alle weiteren Einsichten, die die Sache betreffen, deren Essenz sie darstellt, sollen aus ihr abzuleiten sein.15 Dies gilt in gleichem Maße hinsichtlich der Frage nach der Ordnung und der Einheit der ganzen Natur. Selbst für die Beantwortung dieser Frage ist eine „objektive Essenz“ (d. h. die Idee von Gott) erforderlich, aus der die Ordnung und die Einheit der Natur vollständig abgeleitet werden können.16 Die Ableitung kann sich allerdings, wie Spinoza im Paragraphen 100 des Traktats einschränkt, nur auf die „festen und ewigen Dinge“ beziehen und nicht auf die „veränderlichen Einzeldinge“. Doch abgesehen davon ist deutlich, dass Spinoza die Auffassung vertritt, dass sich die Gesetze und Strukturen der natürlichen Welt als Resultate einer axiomatischen Deduktion aus einem einzigen Begriff bzw. einer einzigen Idee rechtfertigen lassen! Diese Darstellung aus dem Traktat entspricht natürlich nicht Spinozas Vorgehensweise in der Ethik. Allerdings entspräche sie genau der ontologischen Hierarchie, die Spinoza in der Ethik entwickelt. Die oberste „objektive Essenz“ wäre danach die Essenz Gottes bzw. der Substanz; aus ihr würden die Gesetze und Strukturen der wirklichen Welt abgeleitet, d. h. die Attribute; und diese würden wiederum die Vielzahl der einzelnen Dinge, d. h. die „Modi“, unter sich befassen. Da die Modi keine 12   Vgl. zum Folgenden auch: Holger Gutschmidt, Objektive Ideen. Untersuchungen zum Verhältnis von Idee, Begriff und Begründung bei René Descartes und in der nachkartesischen Philosophie des 17. Jahrhunderts, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014, S. 231 ff. 13  Benedictus de Spinoza, Tractatus de emendatione intellectus, § 19 ff. Vgl. auch § 71 f. 14  A. a. O., § 36. 15  A. a. O., § 95 f. 16  A. a. O., § 99. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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zusätzlichen sachhaltigen Merkmale zur Essenz der Substanz beitrügen, könnten sie selbst allerdings nicht mehr Gegenstand einer weiteren Ableitung sein. Man mag nun mancherlei Spekulationen darüber anstellen, weshalb Spinoza die Vorgehensweise des Traktats nicht seiner Argumentation in der Ethik zugrundelegt. Doch ob es ihm selbst, der ja verhältnismäßig jung starb, noch möglich gewesen wäre, eine solche Version der „Ersten Philosophie“ auszuarbeiten oder nicht – es deutet doch vieles darauf hin, dass dies zumindest nicht der primäre Zweck der Ethik war.17 In der Ethik exponieren die Bücher über Gott und die „Mens“ vielmehr wichtige ontologische und epistemologische Grundlagen, auf die in den anderen Teilen des Werkes Bezug genommen wird. Die stiefmütterliche Behandlung der Theorie des Körpers, d. h. der „res extensa“, wie auch die anderen bereits angesprochenen Auffälligkeiten legen den Schluss nahe, dass das Werk auch nicht mehr als nur diejenigen Elemente der theoretischen Philosophie enthält, die für seine Argumentationsabsicht erforderlich sind. Wenn aber die Ethik aus diesem Grund nicht auch noch die ganze „Erste Philosophie“ umfassen konnte, dann musste es für ihren Verfasser naheliegen, die Weise der Argumentation gegenüber dem im Traktat beschriebenen Modell abzuändern. Es scheint somit die Aufgabe des mos geometricus zu sein, die Rationalität einer Argumentation sicherzustellen, die nicht dem idealen Modell einer Ableitung aus der obersten „objektiven Essenz“ entsprechen kann (und sei dies auch nur aus pragmatischen Gründen). Wie indessen die einer „Ersten Philosophie“ entsprechende „ideale“ Form der Argumentation aussähe, darüber hat sich Spinoza weder im Traktat, noch in der Ethik hinreichend geäußert. Hegels Kritik an Spinozas Vorgehensweise in der Ethik übersieht also offensichtlich, dass Spinoza nicht nur ontologischer, sondern

17  Anders indessen Wolfgang Bartuschat, „Einleitung“, in: Baruch de Spinoza, Werke in drei Bänden, hg. von Wolfgang Bartuschat, Bd. 1, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2006, S. viii. Allerdings erwähnt Bartuschat dort auch Spinozas Brief Nr. 28 vom Juni 1665, der anzeigt, dass die Ethik ursprünglich nur der dritte Teil von Spinozas Philosophie sein sollte (a. a. O., S. xi). Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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auch methodischer Monist war (wie übrigens Hegel selbst).18 Zwar ist es wenig wahrscheinlich, dass Spinozas Modell der Ableitung aus der „objektiven Essenz“ spekulative Züge aufgewiesen hätte. Aber da Spinoza kein Beispiel einer solchen Ableitung bietet, bleibt es sowohl für uns als auch für Hegel offen, wie sie hätte verfasst sein können. Wichtiger ist indessen, dass Hegels Kritik, die Substanz sei in der Hinsicht starr oder unlebendig, dass sie keine Ableitung des „Besonderen“ erlaube (d. h. dass nichts „herauskomme“, wie sich Hegel ausdrückt), nicht Spinozas Modell einer Substanztheorie entspricht. Wenn sich nun auch Spinoza zum Modell der Substanztheorie in der Ethik nicht weiter geäußert hat, so hat er sich doch zur Erkenntnisart der Substanz geäußert, und zwar sowohl im Traktat als auch in der Ethik.19 Die Betrachtung von Spinozas Position hierzu kann uns darüber belehren, dass Spinoza nicht, wie es Hegel darstellt, etwas einfach nur aus der Vorstellung „aufnimmt“, um von dort aus rückzufragen nach dem „Grund“ des Vorgestellten. Um seine Position verstehen zu können, müssen wir aber noch einmal zurückgehen zu einigen grundlegenden Überlegungen Spinozas.20 In Spinozas Darstellung des Verhältnisses von Substanz und Attributen erscheint es so, als seien die Bereiche der denkenden und der ausgedehnten Dinge, der „Attribute“ von „res cogitans“ und „res extensa“, äquidistant zur Substanz. Von ihnen sagt Spinoza, sie seien „dasjenige an der Substanz, was der Verstand als zu ihrem 18  Hegels einseitige Bezugnahme auf die Ethik und den mos geometricus ist neuerdings auch Vance Maxwell aufgefallen: Ders., „Hegel’s Treatment of Spinoza: Its Scope and its Limits“, in: Hasana Sharp und Jason E. Smith (Hrsg.), Between Hegel and Spinoza, London: Bloomsbury, 2012, S. 98–117, z. B. S. 99, 108 f. Gunnar Hindrichs hingegen harmonisiert die beiden Ansätze Spinozas im Traktat und in der Ethik im Sinne Hegels, um zu zeigen, dass Hegels Spinoza-Kritik dessen „therapeutischem Inferentialismus“ mit seinen bloß aussagenlogischen Deduktionen eine andere Form des Schließens in der Metaphysik gegenüberstellt. Vgl. ders., „Two Models of Metaphysical Inferentialism: Spinoza and Hegel“, in: Eckart Förster, Yitzhak Y. Melamed (Hrsg.), Spinoza and German Idealism, Cambridge: Cambridge University Press, 2012, S. 214–231. 19  Vgl. Spinoza, Tractatus, § 19 ff.; Spinoza, Ethik II, Prop. 40, Schol. 2. 20  Vgl. zum Folgenden auch: Gutschmidt, Objektive Ideen, S. 247 ff. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Wesen gehörig erkennt“.21 Aber sie gehören nicht nur zum Wesen der Substanz, sondern sie drücken es nach Lehrsatz 1 und 2 von Ethik II selbst aus. Durch die Attribute begreift der Verstand also jeweils das Wesen der Substanz. Die Parallelität dieser Ausdrucksbeziehung wird dadurch unterstrichen, dass Spinoza einige Lehrsätze später in Ethik II sagt, dass „die Ordnung und Verknüpfung der Ideen dieselbe [ist] wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge“.22 Also scheint es so, als ob eine jeweils isolierte Betrachtung der ausgedehnten und der denkenden Dinge (i. e. der Ideen des Verstandes) gleichermaßen das Wesen der Substanz enthüllen könnte. Doch de facto ist die Repräsentationsweise der beiden Attribute der Substanz asymmetrisch. Wie Spinoza in den Lehrsätzen 11 bis 13 von Ethik II darlegt, ist das primäre Objekt der Ideen des menschlichen Geistes der Körper, und zwar zuerst der eigene Körper des jeweils betrachtenden Menschen als der diesem Menschen nächstliegende „Modus der Ausdehnung“. Deshalb erkennt der Mensch sich selbst nach Spinoza auch nur dadurch, dass er Ideen von seinem Körper bzw. von dessen „Affektionen“ (d. h. den Einwirkungen auf diesen Körper) hat; die Selbsterkenntnis bzw. das Selbstbewusstsein des Menschen ist mithin von der „idea Corporis“ direkt abhängig, es „begleitet“ diese nicht nur (wie z. B. bei Immanuel Kant).23 Es gibt also nach Spinoza keine unmittelbare oder gar isolierte Form des Selbstwissens des Menschen. Nur im Rückgang auf das Wissen von der ausgedehnten Welt, wie es primär (und unmittelbar) durch unsere eigenen Körpererlebnisse bestimmt ist, ist ein solches Selbstwissen möglich. Doch betrifft dies nicht nur das Verständnis des Menschen 21  Spinoza, Ethik I, Def. 4. 22  Spinoza, Ethik II, Prop. 7: „Ordo, & connexio idearum idem est, ac ordo, & connexio rerum.“ 23  Spinoza, Ethik II, Prop. 19, 22 f. – Vgl. dagegen Immanuel Kants berühmte These zu Beginn des Paragraphen 16 der „Transscendentalen Deduction der reinen Verstandesbegriffe“ in der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft (AA III, B 132, S. 108): „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können, denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“ (Meine Hervorhebung) Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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von sich. Selbst die „res cogitans“ als solche kann nur im Ausgang von ihrer Repräsentation der „res extensa“ als ein Attribut, d. h. als etwas, was das Wesen der Substanz erkennen lässt, fungieren. Demgegenüber ist die Welt des Ausgedehnten alleine, d. h. ohne eine intrinsische Beziehung auf ein anderes, bereits eine Repräsentation der Substanz!24 Bis hierhin scheint sich Hegels Darstellung von Spinozas Vorgehen in der Ontologie sogar zu bestätigen. Der Geist scheint demnach geradezu darauf angewiesen zu sein, das Besondere aus der Vorstellung aufzufinden und von dort aus nach seinem Grund zu fragen. Doch wenn wir genau hinsehen, entspricht das nicht der Vorgehensweise des Spinoza. Vielmehr ist Spinoza der Auffassung, dass die Erkenntnisbeziehung zur körperlichen Welt nicht einem bloßen „Auffinden“ oder „Aufnehmen“ von Vorstellungsinhalten entspricht. Diese Beziehung ist stattdessen von einer besonderen Erkenntnisart bestimmt, der von Spinoza so genannten „scientia intuitiva“ bzw. dem „intuitus“.25 Die Spinozanische „scientia intuitiva“ ist sicher eines der eher dunklen Theoriestücke der Ethik.26 Es ist auch bemerkenswert, dass eine so entscheidende Erkenntnisart erst in einer Anmerkung zu einem der letzten Lehrsätze von Ethik II behandelt wird, besonders wenn man sich vor Augen hält, dass Spinozas Auffassung vom „amor Dei intellectualis“ auf der Möglichkeit einer „scientia intuitiva“ beruht. Doch ist Spinozas Darstellung und den von ihm gebrauchten 24  Das hat u. a. Edwin M. Curley (irrigerweise) dazu geführt, anzunehmen, dass Spinozas Theorie eine Form des „Materialismus“ sei, vgl. ders., Behind the Geometrical Method. A Reading of Spinoza’s Ethics, Princeton: Princeton University Press, 1988, S. 74 ff. 25  Siehe die in Anmerkung 19 genannten Textstellen. 26  Vgl. zur Bedeutung der Spinozanischen „scientia intuitiva“ für den Deutschen Idealismus neuerdings: Eckart Förster, Die 25 Jahre der Philosophie: eine systematische Rekonstruktion, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann, 2012, besonders S. 253 ff., 361 ff.; und zur Diskussion von Försters Thesen: Johannes Haag und Markus Wild (Hrsg.), Übergänge – diskursiv oder intuitiv? Essays zu Eckart Försters „Die 25 Jahre der Philosophie“, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2013 (darin vor allem die Essays von Gunnar Hindrichs, Dalia Nassar und Rolf-Peter Horstmann). Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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mathematischen Beispielen genug zu entnehmen, um die Aufgabe der „intuitiven“ Erkenntnisart einzugrenzen. Für Spinoza ist es diese Erkenntnisart, die uns zu gegebenen Sachverhalten, etwa einer Zahlenreihe, die Gesetzmäßigkeiten entdecken lässt, denen diese Sachverhalte unterliegen. Was die Erkenntnis des Wesens Gottes betrifft, so geht die „scientia intuitiva“ von der wissenschaftlichen Beschreibung der Welt (und das heißt hier: der ausgedehnten Welt) als einem Ausgangspunkt aus. Die physikalische Beschreibung des Wirklichen ist das, was das „formale“ Wesen eines Attributes darstellt. Von dieser „schreitet“ der Geist fort zur „adäquaten Erkenntnis des Wesens der Dinge“, ohne irgendeine weitere, die Attribute betreffende, Einschränkung.27 Da Spinoza zuvor die Attribute als dasjenige darstellt, durch dessen Erkenntnis wir das Wesen Gottes begreifen, wird nun deutlich, dass es nicht eine bloß induktive oder empirisch-wissenschaftliche Beschreibung der körperlichen Welt ist, die die Basis des ontologischen Begründungsprojektes darstellt, sondern es ist eine Analyse der apriorischen begrifflichen Strukturen der Welt des Ausgedehnten, die die dahinter liegende Gesetzmäßigkeit erkennen lässt, aus der sie herrührt. Dieses Verhältnis, so lässt sich ergänzen, ist aber ein wechselseitiges: Wir können das Gesetz, die arithmetische Funktion zu einer gegebenen Zahlenreihe, als das ansehen, das dieser Reihe zugrundeliegt. Doch umgekehrt ist die arithmetische Formel allein dadurch bestimmt, diese Zahlenreihe hervorzubringen. Beide bestimmen somit einander. Daher führt die „scientia intuitiva“ nicht nur auf den Grund des Wirklichen, sondern sie lässt beides, diesen Grund und das von ihm Begründete, erst in dem Lichte ihres Verhältnisses angemessen („adäquat“, wie Spinoza sagen würde) verstehen. Die „scientia intuitiva“ hat also nicht die Aufgabe einer bloßen transzendentalen Rückfrage, die die Bedingungen der Möglichkeit von Ausdehnung und Geist darlegen soll, sondern sie erhellt allererst das Wirkliche in seinem „wahren“ Wesen. Heutzutage würden

27  Spinoza, Ethik II, Prop. 40, Schol. 2. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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wir wohl sagen, dass der „scientia intuitiva“ in der Ontologie eine grundlegende hermeneutische Funktion zukommt.28 Wir sehen, dass Hegel auch hier Spinozas Vorgehen weniger gut durchschaut hat, als er selbst meinte. Vor allem war ihm nicht klar, dass das Wirkliche „sub specie aeternitatis“ von Spinoza nicht auf die gleiche Weise wie in unserer urwüchsigen Welterfahrung verstanden wird. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, da Hegel in einer frühen Auseinandersetzung mit Jacobis Spinoza-Interpretation in Glauben und Wissen Jacobi gerade darin angreift, dass dieser in seiner Kritik an Spinozas Substanztheorie das Wirkliche, wie es in der „Vorstellung“ erscheint, verabsolutiere, anstatt es unter dem Gesichtspunkt seiner wahren Natur, d. h. in der intellektuellen Anschauung, zu erfassen.29 Und diese Stelle ist nicht der einzige Beleg dafür, dass der frühe Hegel der Substanztheorie Spinozas wesentlich näher stand, als der späte Hegel dies noch zugeben konnte oder mochte. Klaus Düsing hat in mehreren Veröffentlichungen, vor allem einem Aufsatz aus dem Jahre 1992, darauf hingewiesen, dass es einige Anzeichen dafür gibt, dass der Hegel der frühen Jenenser Zeit, d. h. der Jahre von 1801 bis 1803, noch eine Konzeption der Metaphysik vertritt, die derjenigen Spinozas nahe steht.30 So betont Hegel in der Differenzschrift den Charakter der Identität des „Absoluten“ in der berühmten Formel der „Identität der Identität und der 28  Vgl. auch Spinozas Angabe in Lehrsatz 45 von Ethik II, wonach die Ideen der Einzeldinge notwendig das „ewige und unendliche Wesen Gottes“ in sich schließen müssen, um verstanden werden zu können: „Unaquaeque cuiuscunque corporis, vel rei singularis, actu existentis, idea Dei aeternam, & infinitam essentiam necessario involvit.“ 29  Siehe hierzu Hegel, Glauben und Wissen, GW 4, S. 350 ff., 392. 30  Düsing, „Von der Substanz zum Subjekt“, S. 164–168; vgl. auch ders., Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, S. 161 ff.; sowie neuerdings ders., „Von der Substanzmetaphysik zur Philosophie der Subjektivität. Zum Paradigmenwechsel Hegels in Jena“, in: Heinz Kimmerle (Hrsg.), Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels, Berlin: Akademie-Verlag, 2004, S. 185–200. – Siehe zu einem instruktiven Vergleich Hegels und Spinozas, der auch noch in der reifen Philosophie Hegels die Spinozanischen Motive erkennt: Vittorio Hösle, „Hegel und Spinoza“, in: Tijdschrift voor Filosofie 59 (1997), S. 69–88. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Nichtidentität“.31 Zwar fordert er für das „Absolute“ zugleich, dass es in einer wissenden Selbstbeziehung stehe.32 Doch gelingt es ihm zu dieser Zeit nicht, die Identitätsbedingung des „Absoluten“ unter dieser Voraussetzung hinreichend zu klären. Ferner betont Hegel in mehreren Schriften, auch der Differenzschrift, den Substanzcharakter des spekulativen Denkens. Noch in einem Vorlesungsmanuskript von 1803/04 schreibt Hegel: „Der erste Teil der Philosophie [sc. die Metaphysik] konstruierte den Geist als Idee und gelangte zu der absoluten Sichselbstgleichheit, zur absoluten Substanz […]“.33 Als „Substanz“ wird von Hegel auch der Indifferenzpunkt der Philosophie charakterisiert (so im Naturrechtsaufsatz).34 – Schließlich sei noch auf einen Sachverhalt hingewiesen, der insbesondere vor dem Hintergrund der oben vorgetragenen Analyse der „scientia intuitiva“ bedeutsam erscheint. In der Differenzschrift entwickelt Hegel Ansätze einer Vernunfttheorie. Ein Aspekt dieser Theorie ist, dass die Vernunft z. B. in bestimmten Begriffen oder Theoremen (genannt wird etwa Immanuel Kants Ideenlehre) „Erscheinungen des Absoluten“ zu erkennen vermag, d. h. dass die Vernunft die Befähigung einschließt, das Absolute in seinen Erscheinungen zu erfassen und richtig zu deuten. Sie ist damit nicht nur das Vermögen, den höchsten Punkt der Philosophie zu erkennen, sondern ebensosehr die Fähigkeit, vermittelst dieser Erkenntnis auch anderes mit diesem höchsten Punkt zu verbinden bzw. es als Form seiner Repräsentation zu begreifen.35 Auch in Hegels früher Vernunfttheorie geht somit ein, wie es oben genannt wurde, „hermeneutisches“ Element ein, d. h. eine Form der „scientia intuitiva“. 31  Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, S. 64. – Vgl. zum Verständnis dieser Formel und dem identitätsphilosophischen Ausgangspunkt Hegels in dieser Zeit: Holger Gutschmidt, Vernunfteinsicht und Glaube. Hegels These zum Bewußtsein von etwas „Höherem“ zwischen 1794 und 1801, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 185 ff., S. 202 f. 32  Vgl. hierzu Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, S. 71 ff. 33  Hegel, Das System der speculativen Philosophie, GW 6, S. 268. 34  Düsing, „Von der Substanz zum Subjekt“, S. 166. 35  Vgl. hierzu auch Gutschmidt, Vernunfteinsicht und Glaube, S. 169 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Diese Belege, denen man wohl noch weitere beigesellen könnte, mögen als Indizien für Hegels frühen „Spinozismus“ reichen. Zwar ist in dieser Theorie der Geist bzw. die Vernunft eine „Erscheinung“ des Absoluten, d. h. eine ihrer Darstellungsformen. Doch kann jenes durch den frühen Hegel auch unabhängig von seinen Erscheinungen als Prinzip der Identität alles Wirklichen thematisiert werden. Wir können daher vermuten, dass Hegels später Angriff auf Spinoza auch gegen Hegels eigenen, früheren „Spinozismus“ gerichtet ist. III. Hegels Konzeption einer Theorie des „Absoluten“ oder des „Ganzen“, wie er dies in der Phänomenologie des Geistes nennt, hat sich im Laufe seiner Entwicklung in Jena geändert. Klaus Düsing hat in dem genannten Aufsatz die Vermutung geäußert, dass „sich die intellektuelle Selbsterkenntnis, die Hegel wie schon Spinoza der Einen göttlichen Substanz zuschreibt, und damit die göttliche Struktur geistiger Selbstbeziehung schwerlich aus der einfacheren Substanzbestimmung […] zureichend erklären“ lässt.36 Danach fordert vielmehr die Selbstbeziehung des „Absoluten“ in der intellektuellen Anschauung, dass sein Begriff nicht mehr der einer bloßen „Substanz“ sei. Ein überzeugendes systematisches Argument ist Düsings Bemerkung freilich nicht. Sie läuft vielmehr darauf hinaus, das Explanans zu verändern, weil der zu erklärende Sachverhalt komplexer geworden ist. Diese Art der Erklärung ist aber gerade das, was der reife Hegel an Spinoza kritisiert. Wie können wir aber den Übergang von der „Substanz“ zum „Subjekt“, den Hegel in der „Vorrede“ der Phänomenologie des Geistes fordert, auf andere Weise bzw. besser verstehen? Nun, im Gegensatz zu dem, was Düsing vermutet, zeigt sich, dass wir diesen Übergang durchaus aus der vermeintlich „einfacheren Substanzbestimmung“ entwickeln können. Wir sollten im vorhinein dazu feststellen, dass Ausdrücke wie „das Absolute“, „die Substanz“ oder „das Ganze“ bei Hegel Synonyme sind, die unterschiedliche Aspekte oder Merkmale des Begriffes, 36  Düsing, „Von der Substanz zum Subjekt“, S. 168. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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den sie bezeichnen, herausstellen. Mit dem Ausdruck „das Absolute“ wird der Sachverhalt angegeben, dass das dadurch Bezeichnete seinen Grund oder seine Bedingungen in nichts anderem als in sich selbst besitzt. Mit dem Ausdruck „Substanz“ wird wiederum angezeigt, dass es selbst der Grund von allem anderen ist. Und der Ausdruck „das Ganze“ zeigt an, dass es eine Totalität umfasst (was auch einschließt, dass es eine Einheit aufweist), die kein „Außen“ besitzt, weder begrifflich, noch extensional.37 Wir können den Ausdruck „die Substanz“ daher z. B. auch jederzeit durch den Ausdruck „das Ganze“ ersetzen und uns damit die Argumentation für unsere Zwecke erleichtern. Denn bei dem Ausdruck „das Ganze“ handelt es sich zum einen um einen Ausdruck aus der Alltagssprache, während „das Absolute“, „die Substanz“ usw. doch eher philosophische Kunstausdrücke sind und damit Unsicherheiten über ihre Definition provozieren (können); und zum anderen schließt, wie nun gezeigt werden soll, insbesondere eine Theorie des Ganzen notwendigerweise das Prinzip der Subjektivität ein! Das Argument, welches uns diese Einsicht zu vermitteln vermag (und sie wohl auch Hegel vermittelte), lässt sich folgendermaßen umreißen: [Schritt 1:] Eine Theorie vom Ganzen ist ein Sachverhalt. Entweder wird er von der Theorie vom Ganzen erfasst oder die Theorie erfasst nicht das Ganze, da es mindestens einen Sachverhalt gibt, den sie nicht erfasst. Wenn die Theorie des Ganzen, d. h. dieser Sachverhalt, von der Theorie des Ganzen erfasst wird, dann wird damit auch erfasst, dass das Ganze Gegenstand einer Theorie ist. Eine Theorie aber ist ein Fall oder Resultat von Erkenntnis bzw. Wissen. Also umfasst die Theorie vom Ganzen auch den Sachverhalt, dass das Ganze Inhalt von Wissen ist.38 Der Ausdruck „Wissen“ bezeichnet indessen 37  Um es mit Termini zu bezeichnen, die wohl auch Spinoza hätte gebrauchen können: Das „Absolute“ steht für Aseität, das „Ganze“ für Sibisuffizienz und die „Substanz“ schlicht für Substantialität. 38  Es ist eine wichtige Einsicht des Rationalismus, dass die Repräsentationen des Wirklichen zum Gegenstand einer metaphysischen Theorie genauso gehören wie das Wirkliche selbst. Insbesondere Leibniz hat diesen Sachverhalt energisch herausgearbeitet, indem er den „Gesichtspunkt“ („point de Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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eine intentionale Beziehung, die nicht nur durch einen Inhalt oder einen Gegenstand, sondern auch durch ein „Subjekt“ oder einen Urheber des Wissens bestimmt ist. In einer Theorie vom Ganzen steht also entweder das Ganze oder doch zumindest ein Teil dieses Ganzen in einer Wissensbeziehung zum Ganzen. – Selbst dann, wenn nur ein Teil des Ganzen das Ganze in einer Theorie erfassen würde, stünde dieser Teil hinsichtlich der Theorie bereits in einer Selbstbeziehung, d. h. in dem, was Hegel „Subjekt-Objekt-Identität“ nennt. Wenn aber eine Theorie des Ganzen nicht nur durch einen Teil des Ganzen, sondern durch das Ganze selbst möglich oder wirklich wäre, dann bedeutete dies, dass die „Subjektivität“ des Ganzen (d. h. seine Selbstbeziehung) ein konstitutiver Bestandteil des Ganzen wäre. Dass dem auch so ist, können die folgenden Schritte zeigen. [Schritt 2:] Das oben genannte Argument hat eine Implikation, die es zu beachten gilt. Wenn eine Theorie ein Fall oder ein Sachverhalt von Wissen ist, dann ist sie Form oder Resultat einer Handlung, denn Wissen ist nur möglich als Handlung oder als mehrere Handlungen. Handlungen sind Ereignisse. Also besteht Wissen aus einem oder mehreren Ereignissen. Für die Ereignisse, die Teil des Ganzen sind, ist das Ganze der (letzte) Grund. Fungiert das Ganze nicht nur als der „Raum“, der alles umfasst, sondern auch als Grund, dann sprechen wir von einer „(Spinozanischen) Substanz“. Das Ganze ist somit die Substanz aller seiner Ereignisse, damit auch aller Fälle von vue“), den eine jede individuelle Substanz hat bzw. darstellt, gleichermaßen (wie die einzelnen Substanzen) zum Universum rechnete. (Vgl. hierzu Holger Gutschmidt, „Notiones und notiones completae. Zur Identifikation individueller Substanzen durch ihre vollständigen Begriffe“, in: VIII. Internationaler Leibniz-Kongress. Einheit in der Vielfalt, hg. von Herbert Breger, Jürgen Herbst und Sven Erdner, Hannover: G.-W.-Leibniz-Gesellschaft, 2006, S. 275–279.) Aber auch für Spinoza gilt dies, wenn er zur Repräsentation des Ganzen in Gott nicht nur dessen unendliche Selbsterkenntnis zählt, sondern ebensosehr die endlichen Repräsentationen der Menschen. Auch sie gehören in gewissem Sinne zu den Ideen Gottes vom Ganzen (vgl. dazu besonders Spinoza, Ethik II, Prop. 11, Coroll.).

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Wissen. Damit gilt zugleich, dass die Substanz (das Ganze) auch der Grund des Wissens von der Substanz ist. [Schritt 3:] Zwar ist eine Handlung ein Ereignis, aber sie ist auch mehr als nur ein Ereignis. Handlungen sind, wie wir bemerkt haben, gerichtete Ereignisse, und sie setzen ein Subjekt oder einen Urheber voraus. Etwas, das kein Subjekt und kein Urheber ist, kann nicht handeln, und die Ereignisse, die von ihm ausgehen, können keine Handlungen sein. Also kann das, was weder ein Subjekt noch ein Urheber ist, nicht Grund von Handlungen sein. Es kann wohl eine Bedingung von Handlungen sein, doch nicht ihr Grund. Nun haben wir gesehen, dass das Ganze der Grund aller Ereignisse ist, d. h. eine Substanz. Damit ist es auch Grund aller Handlungen. Grund aller Handlungen kann es aber nur sein, wenn es auch Subjekt ist. Also ist das Ganze (letztes) Subjekt aller Handlungen. Also ist das Ganze oder die Substanz (letztes) Subjekt des Wissens von sich. [Schritt 4:] Das Ganze oder die Substanz ist damit in zweierlei Hinsicht absolut: in seiner Gestalt als Ganzes, inwiefern es, wie wir schon zu Anfang gesagt haben, kein Außen hat, damit auch nicht von einem anderen, als es selbst ist, ein Teil ist oder durch es bestimmt wird; und als Grund, da es nicht von einem anderen begründet wird, aber seinerseits alles andere begründet. Näher bestimmt ist es, wie wir gesehen haben, sogar absolutes Subjekt. Wie sich die absolute Subjektivität zur Subjektivität einzelner Personen, die Wissen vom Ganzen haben oder anstreben, verhält, bleibt offen (ähnlich offen wie z. B. in der christlichen Dogmatik die Frage, wie sich Adams Sünde zur Sünde eines jeden Einzelnen verhält). Nur so viel ist klar: Das Wissen des Ganzen ist in letzter Hinsicht die Handlung eines absoluten Subjektes. Da dieses Subjekt das Ganze ist, ist das Wissen vom Ganzen eine Handlung, die die Selbstbeziehung des absoluten Subjektes darstellt. Zwei Varianten sind hierbei möglich: Im Wissen vom Ganzen erkennt sich das Ganze, oder es erkennt sich nicht. Im ersten Fall handelt es sich um eine wissende Selbstbeziehung des Ganzen, im zweiten Fall nicht. (Eine wissende Selbstbeziehung, so können wir ergänzen, setzt zusätzlich Kriterien des Sich-Wissens

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voraus – gleichsam „Identifikationskriterien“ – eine nicht-wissende Selbstbeziehung des Ganzen bloßes intentionales Wissen vom Ganzen.) Eine Theorie vom Ganzen, in der es sich als solches behandelt, ist ohne Zweifel ein Fall der wissenden Selbstbeziehung des Ganzen bzw. von absoluter Subjektivität (im Wortsinne). Wenn wir eine „Theorie vom Ganzen“ genau dann so nennen, wenn das Ganze in ihr als Ganzes sich selbst thematisch wird, dann ist eine Theorie vom Ganzen die Form absoluter Subjektivität. Daraus folgt trivialerweise, dass eine Theorie vom Ganzen das Ganze als absolute Subjektivität (mithin als „Wissen von sich“) begreift bzw. begreifen muss. [Erläuterung:] Bei dieser Rekonstruktion des Argumentes ist die Voraussetzung zu machen, dass eine Theorie vom Ganzen überhaupt möglich ist, eine Voraussetzung, die Hegel offenkundig teilt. Diese Voraussetzung (von ihrer Möglichkeit) hat wieder zwei Aspekte, die sich in zwei Fragen formulieren lassen: Ist es möglich, das Ganze zu wissen? Und ist es möglich, das Ganze zu wissen? Hinsichtlich der zweiten Frage (ob es überhaupt möglich ist, das Ganze zum Gegenstand einer Theorie zu machen) war Hegel von Anbeginn seiner Forschungen an davon überzeugt.39 Das „Ganze“ war der Philosophie von jeher ein Problem, und daher war es natürlich möglich, es auch zur Zeit Hegels zum Theoriegegenstand werden zu lassen. Hinsichtlich der ersten Frage verhielt es sich aber bekanntermaßen so, dass Hegel während der Jenenser Zeit und noch darüber hinaus an einer geeigneten Form einer solchen Theorie laborierte. Beide Fragen mögen auch zusammenhängen: Nur die Beantwortung der zweiten Frage – ob eine Theorie (d. h. Wissen) vom Ganzen überhaupt möglich ist – mag einem Kritiker Hegels als zureichendes Argument für die Bejahung der ersten Frage erscheinen. Oder anders ausgedrückt: Wenn uns eine vernünftige Theorie vom Ganzen nicht möglich ist, dann können wir auch nicht überzeugend behaupten, dass wir uns wissend oder erkennend auf das Ganze beziehen oder auch nur beziehen können. 39  Vgl. hierzu Gutschmidt, Vernunfteinsicht und Glaube, S. 175 ff. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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IV. Auch wenn das gerade skizzierte Argument primär für die Erkenntnis oder das Wissen von der Substanz und nicht für andere Formen ihrer „Tätigkeit“ oder „Lebendigkeit“ gilt, zeigt es doch, inwiefern nach Hegel die „wissende Selbstbeziehung“ (absolute Subjektivität) der Substanz als ein notwendiges Element einer jeden Theorie der Substanz (Spinozanischen Typs) verstanden werden muss und dementsprechend aus dem Begriff der Substanz erschlossen werden kann. Sie zeigt einen möglichen und, wie es scheint, einen plausiblen Weg von Hegels eigenem (Jenenser) Übergang von der „Substanz zum Subjekt“ an.40 Es sind dabei gerade Hegels spinozakritische Analysen, die uns zu diesem Argument verhelfen können. Sie demonstrieren auch den Abstand, den Hegels eigene Theorie eines „absoluten Subjekts“ von den nachkantischen Theorien zu diesem Thema aufweist. Während Fichtes und des frühen Schelling Weg vom Subjekt, d. h. vom „Ich“, zum Wissen des Ganzen führen, führt Hegels Weg in gewissem Sinn vom Ausgangspunkt des Wissens des Ganzen erst zu dessen Subjektivität (als seiner wesentlichen Bestimmtheit). Doch konnte sich Hegel diese Einsicht offensichtlich nur schrittweise erarbeiten. Daher dürfte folgende schöne Bemerkung aus den Spinoza-Erörterungen der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie – mit der an dieser Stelle unsere Überlegungen schließen sollen – tief in Hegels eigener geistiger Erfahrungswelt verankert gewesen sein:41

40  Das hier Vorgetragene ist ein systematischer Rekonstruktionsversuch; er hat u.a. durch entsprechende Textbelege und Textanalysen weiter erhärtet zu werden. Vgl. dazu vorläufig: Holger Gutschmidt, „Figurationen der Selbstbeziehung“, in: Héctor Ferreiro und Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.), Metaphysik – Metaphysikkritik – Neubegründung der Erkenntnis. Der Ertrag der Denkbewegung von Kant bis Hegel, Berlin: Duncker & Humblot, 2017, S. 171–179; ders., „‚Ich‘ als Prinzip der Philosophie. Zu einem Entwicklungsschritt in Hegels Jenaer System-Denken“, in: Christian Danz, Jürgen Stolzenberg und Violetta Waibel (Hrsg.), System und Systemkritik um 1800– 1809, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2018, S. 283–298. 41  Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, III, TWA 20, S. 165. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Bibliographie Bartuschat, Wolfgang, „Einleitung“, in: Baruch de Spinoza, Werke in drei Bänden, hg. von Wolfgang Bartuschat, Bd. 1, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2006. –: „Nur hinein, nicht heraus“, in: ders., Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2017, S. 404–425 (Wiederabdruck). Curley, Edwin M., Behind the Geometrical Method. A Reading of Spinoza’s Ethics, Princeton: Princeton University Press, 1988. Düsing, Klaus, Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983. –: „Von der Substanz zum Subjekt. Hegels spekulative Spinoza-Deutung“, in: Manfred Walther (Hrsg.), Spinoza und der deutsche Idealismus, Würzburg: Königshausen und Neumann, 1992, S. 163–180. –: „Von der Substanzmetaphysik zur Philosophie der Subjektivität. Zum Paradigmenwechsel Hegels in Jena“, in: Heinz Kimmerle (Hrsg.), Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels, Berlin: Akademie-Verlag, 2004, S. 185–200. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2. Förster, Eckart, Die 25 Jahre der Philosophie: eine systematische Rekonstruktion, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann, 2012.

42  Die Ausarbeitung dieses Beitrages ist durch das Jan-Evangelista-PurkynĕStipendium der Tschechischen Akademie der Wissenschaften möglich geworden, welches der Verfasser seit September 2017 am Institut für Philosophie der Akademie in Prag wahrnimmt.

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Gutschmidt, Holger, „Notiones und notiones completae. Zur Identifikation individueller Substanzen durch ihre vollständigen Begriffe“, in: VIII. Internationaler Leibniz-Kongress. Einheit in der Vielfalt, hg. von Herbert Breger, Jürgen Herbst und Sven Erdner, Hannover: G.-W.-LeibnizGesellschaft, 2006, S. 275‒279. –: Vernunfteinsicht und Glaube. Hegels These zum Bewußtsein von etwas „Höherem“ zwischen 1794 und 1801, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007. –: Objektive Ideen. Untersuchungen zum Verhältnis von Idee, Begriff und Begründung bei René Descartes und in der nachkartesischen Philosophie des 17. Jahrhunderts, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014. –: „Figurationen der Selbstbeziehung“, in: Héctor Ferreiro und Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.), Metaphysik – Metaphysikkritik – Neubegründung der Erkenntnis. Der Ertrag der Denkbewegung von Kant bis Hegel, Berlin: Duncker & Humblot, 2017, S. 171–179. –: „‚Ich‘ als Prinzip der Philosophie. Zu einem Entwicklungsschritt in Hegels Jenaer System-Denken“, in: Christian Danz, Jürgen Stolzenberg und Violetta Waibel (Hrsg.), System und Systemkritik um 1800–1809, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2018, S. 283–298. Haag, Johannes und Wild, Markus (Hrsg.), Übergänge – diskursiv oder intuitiv? Essays zu Eckart Försters „Die 25 Jahre der Philosophie“, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2013. Hegel, Georg W. F., Phänomenologie des Geistes, hg. von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1988 [= GW 9]. –: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4. –: Glauben und Wissen, GW 4. –: Das System der speculativen Philosophie, GW 6. –: Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke, GW 15. –: Wissenschaft der Logik, II, TWA 6. –: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, III, TWA 20. Hindrichs, Gunnar, „Two Models of Metaphysical Inferentialism: Spinoza and Hegel“, in: Eckart Förster und Yitzhak Y. Melamed (Hrsg.), Spinoza and German Idealism, Cambridge: Cambridge University Press, 2012, S. 214–231.

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Hösle, Vittorio, „Hegel und Spinoza“, in: Tijdschrift voor Filosofie, 59 (1997), S. 69–88. Jaeschke, Walter und Arndt, Andreas, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik, München: C. H. Beck, 2012. Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA III. Maxwell, Vance, „Hegel’s Treatment of Spinoza: Its Scope and its Limits“, in: Hasana Sharp und Jason E. Smith (Hrsg.), Between Hegel and Spinoza, London: Bloomsbury, 2012, S. 98–117. Sandkaulen, Birgit, „Die Ontologie der Substanz, der Begriff der Subjektivität und die Faktizität des Einzelnen. Hegels reflexionslogische ‚Widerlegung‘ der Spinozanischen Metaphysik“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, 5, 2007, S. 235–275. Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, AA I/3. Spinoza, Benedictus de, Die Ethik. Lateinisch-Deutsch, rev. Übersetzung von Jakob Stern, Stuttgart: Reclam, 1984. –: Werke in drei Bänden, hg. von Wolfgang Bartuschat, Bd. 3, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2006.

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Stefan Lang

Hegels Deduktion des Erwachens der Seele in der Anthropologie Das Thema dieses Sammelbandes sind die Übergänge zwischen der Natur und dem Geist in der klassischen deutschen Philosophie. Der Untersuchungsgegenstand dieses Aufsatzes ist der Begriff des Erwachens der individuellen Seele bzw. des Zustands des Wachseins des Individuums in Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Anthropologie“ der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830).1 Der Begriff des Erwachens der individuellen Seele markiert den Übergang zwischen der Darstellung natürlicher Eigenschaften des Individuums sowie Beziehungen, in denen es sich befindet, die als solche kein Erleben und Bewusstsein miteinschließen, und der Beschreibung und Erklärung bewusster Empfindungszustände. Die Fragen, die untersucht werden, lauten: Wie begründet Hegel, dass das Erwachen der individuellen Seele in der Enzyklopädie notwendigerweise berücksichtigt werden muss? Ist der Übergang zum Zustand des Wachseins des Individuums notwendig? M. a. W. gesprochen: Wie deduziert Hegel den Begriff des Erwachens der Seele?2 *  Für hilfreiche Diskussionen danke ich Anton Kabeshkin und Ana Munte. 1  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 87 ff. Hegel hat seine Enzyklopädie mehrmals veröffentlicht und in Vorlesungen präsentiert. Es sind Kollegien-Hefte Hegels und von Zuhörern verfertigte Manuskripte dieser Vorlesungen erhalten geblieben, die z. T. offenkundig falsche Darstellungen von Hegels Lehre enthalten. Vgl. a. a. O., S. 429f. Jedoch werden im Folgenden diese ergänzenden Ausführungen, die in den Suhrkampbänden als „Zusätze“ angeführt werden, berücksichtigt. Hegel betont mehrmals, dass die Enzyklopädie der mündlichen Erläuterung bedarf, die in den „Zusätzen“ zu finden ist. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, I, TWA 8, S. 11, 14, 32. 2  Hegel verwendet den Begriff der Deduktion vergleichsweise selten. Gleichwohl entwickelt er eine historische Deduktion des wahren Begriffs der Kunst. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, I, TWA 10, S. 83. Ein Vergleich seines methodischen Verfahrens mit den methodischen Verfahren J.G. Fichtes oder Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova © wilhelmJindrich fink verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764022_011

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Diese Fragen sind in systematischer Hinsicht von großer Bedeutung. Hegel grenzt seine Philosophie des Geistes von der empirischen Psychologie, wie sie etwa Johannes Nikolaus Tetens entwickelt, u. a. dadurch ab, dass seine Theorie den „Beweis der Notwendigkeit“ liefert, „daß im Geiste gerade diese und keine anderen Vermögen sind“, und er betont in der Einleitung zur Enzyklopädie, dass die Philosophie die Notwendigkeit ihrer Inhalte zu zeigen hat.3 Der Anspruch der Notwendigkeit bedeutet somit, dass a) ein bestimmter Inhalt – und kein anderer an seiner Stelle – in der Enzyklopädie dargestellt sein muss, und dass b) in der Theorie der modalkategorische Status der Notwendigkeit begründet wird. Hegel erhebt den Anspruch der Notwendigkeit aber auch mit Blick auf die Übergänge zwischen den Inhalten, die dargestellt werden. Seine Deduktionen zeichnen sich auch dadurch aus, dass die Abfolge der untersuchten Inhalte notwendig sein soll und als notwendig ausgewiesen sein soll.4 Damit ist ausgeschlossen, dass ein Übergang willkürlich erfolgt oder in der Darstellung auf ihn verzichtet werden kann, sowie dass in der Theorie auch andere Übergänge und begriffliche Abfolgen dargestellt werden dürfen.5 Im Folgenden soll anhand der Untersuchung von Hegels Deduktion des Begriffs des Erwachens der Seele eines Individuums bzw. des wachen Zustands des Individuums die Frage geprüft werden, ob Hegel den von ihm gestellten Anspruch der Notwendigkeit einlöst.

F.W.J. Schellings rechtfertigt m. E. trotz der bestehenden Unterschiede zwischen den Theorien dieser Autoren die Verwendung des Ausdrucks ‚Deduktion‘ zur Bezeichnung von Hegels Verfahren. 3  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, I, TWA 8, S. 41; Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 12. Vgl. Johann Nicolaus Tetens, Metaphysik bey dem H. Professor Tetens (1789), Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2015. 4  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 39 f. 5  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, I, TWA 8, S. 41, S. 52; 1992, S. 14. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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1. Der Begriff des Erwachens In § 398 der Enzyklopädie erfolgt ein bedeutender Übergang: Hegel führt den Begriff des Erwachens der individuellen Seele ein, mit dem innerhalb der systematischen Darstellung der Philosophie des Geistes der Übergang zwischen der Untersuchung natürlicher Veränderungen des Menschen, d.h. bspw. dem Übergang vom erwachsenen Mann zum Greis, sowie von Beziehungen zwischen Individuen, d.h. dem Geschlechtsverhältnis, einerseits und der Empfindung eines Individuums andererseits erfolgt. Die Empfindung besteht, mit den Worten der analytischen Philosophie gesprochen, in dem Bewusstsein von einem qualitativen Charakter.6 Ein bewusster qualitativer Charakter zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass er von einem Subjekt auf eine bestimmte Weise erlebt wird. Es fühlt sich für ein Subjekt irgendwie an, einen Empfindungsinhalt zu haben. Im Fall der bewussten visuellen Wahrnehmung einer roten Rose entspricht der qualitative Charakter bspw. der rötlichen Weise, wie die Blume erlebt wird. Der Ausdruck „Erwachen“ bezeichnet a) den Zustand des Wachseins eines Individuums, der von den Zuständen des Schlafens, Träumens usw. unterschieden ist, und b) die epistemische Dimension, innerhalb welcher die Inhalte menschlichen Bewusstseins, Empfindungszustände, die Wahrnehmungsinhalte usw. auftreten und für ein Subjekt präsent sind.7 Dieser Übergang ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Hegel entwickelt seine Beschreibungen und Erklärungen der Empfindung, des Selbstgefühls usw. nach der Einführung des Begriffs des Zustands des Wachseins eines Individuums. Hegels Theorie des Zustandsbewusstseins (state-consciousness), also der bewussten Zustände eines Subjekts wie seiner Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmung etc., liegt somit seine Untersuchung kreatürlichen Bewusstseins (creatureconsciousness) zugrunde. Als kreatürliches Bewusstsein wird in der analytischen Philosophie das Bewusstsein eines Menschen 6  Vgl. Stefan Lang, „Hegels Interpretation von präreflexivem Selbstbewusstsein“, in: Präreflexives Selbstbewusstsein im Diskurs, hg. von Klaus Viertbauer, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2018, S. 73‒94. 7  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 87–95. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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bezeichnet, der bzw. die u.a. wach ist.8 Kreatürliches Bewusstsein ist von Zustandsbewusstsein zu unterscheiden. Es ist möglich, dass eine Person schläft und Zustandsbewusstsein besitzt, etwa wenn sie sich in einem Albtraum wiederfindet und ängstigt. Im Zentrum von Hegels Theorie stehen die Tätigkeiten, Dispositionen und bewussten Zustände eines wachen Subjekts. Das bedeutet jedoch nicht, dass es nach Hegel keine unbewussten Zustände gibt.9 Die zweite Hinsicht ist nicht minder bemerkenswert. Wie erwähnt sind die mannigfaltigen Facetten geistigen Lebens wie die Empfin­dung, das Selbstgefühl usw. in der „Anthropologie“ erst im Anschluss an die Einführung des Begriffs des Erwachens explizit Untersuchungsgegenstände der Theorie. Bereits vor der Einführung des Begriffs des Erwachens sind mitunter mentale Unterschiede thematisch.10 Erst im Anschluss an die Einführung des Begriffs des wachen Zustands des Individuums werden jedoch das Erleben und das bewusste Leben eines Menschen untersucht. Der Ausdruck „Zustand des Wachseins“ bezeichnet somit die epistemische „Dimension“ bzw. den Raum, in der bzw. in dem menschliches Bewusstsein in all seinen Varietäten sowie Empfindungen und ihre Inhalte usw. auftreten. Dieser Ausdruck bezeichnet eine als solche inhaltlich leere epistemische Dimension.11 Ein Subjekt gewinnt bestimmte Informationen allererst (zunächst) mit der Empfindung, die im nächstfolgenden Paragraphen, § 399, behandelt wird.12 Wenn Hegel vom Zustand des Wachseins spricht, ist daher noch keine Rede davon, dass ein Subjekt bspw. fühlt oder denkt. Die Empfindungen eines Subjekts, seine Wahrnehmungen usw. werden (fürs Erste) ausgeblendet. Der Ausdruck „Wachsein“ bezeichnet eine aktuell vorhandene epistemische Dimension, gleichgültig, welche Tätigkeiten ein 8  Vgl. David M. Rosenthal, „Two Concepts of Consciousness“, in: Consciousness and Mind, hg. von David M. Rosenthal, Oxford: Oxford University Press, 2006, S. 41. 9  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 119, S. 122, S. 144 f. 10  A. a. O., S. 75. 11  A. a. O., S. 95: Beim Erwachen besteht ein „noch ganz abstrakte[s], noch ganz leere[s] Fürsichsein“. 12  Ebd. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Subjekt leistet oder in welchem Zustand es sich befindet. Indes ist mit dem Begriff des „wachen Zustands“ noch nicht die Unterscheidung von Mentalem und Leiblichem vollzogen. Sie tritt erst im Zusammenhang mit dem Begriff der Gewohnheit,13 also mehr als 10 Paragraphen nach der Einführung des Begriffs des Erwachens auf. Der Zustand des Wachseins ist eine aktuell vorhandene epistemische Dimension, der gleichwohl ein leibhafter Zustand eines Individuums ist. Dieser Zustand ist damit auch durch natürliche Faktoren beeinflusst, wie dem Wechsel von Tag und Nacht,14 und Teil der natürlichen Vorgänge, eine „Naturbestimmtheit“.15 Er erschöpft sich jedoch nicht in natürlichen, etwa biologischen Abläufen, sondern ist ein leibhaft-mentaler Zustand. In der Enzyklopädie erfolgt der Übergang zwischen natürlichen Eigenschaften des Individuums sowie das Geschlechtsverhältnis und der Empfindung nicht grundlos, sondern verdankt sich einer Tätigkeit. Hegel spricht daher nicht bloß vom „Wachsein“, einem Zustand, vielmehr vom „Erwachen der Seele“, also einer Tätigkeit.16 Wie wird diese Tätigkeit von Hegel näher charakterisiert und wie begründet Hegel diesen Übergang? 2. § 398 der Enzyklopädie Hegel führt den Begriff des „Erwachens der Seele“ in § 398 der Enzyklopädie folgendermaßen in die Untersuchung ein: „Das Unterscheiden 13  A. a. O., S. 182 f. 14  A. a. O., S. 91. 15  A. a. O., S. 87. 16  Nach Hegel ist es möglich, dass der Geist sich selbst dazu bestimmt, aus dem Schlaf aufzuwachen. A. a. O., S. 90. Dies ist in § 398 nicht Thema der Untersuchung. Vielmehr „erleidet“ der Geist sein Fürsichsein. Das Erwachen wird „dadurch bewirkt, daß der Blitz der Subjektivität die Form der Unmittelbarkeit des Geistes“ durchschlägt. A. a. O., S. 90. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Erwachen keine Tätigkeit ist. Die dem Erwachen der Seele zugrunde liegende Leistung, d.h. das Urteil der individuellen Seele, ist der durchschlagende Blitz, eine Tätigkeit der Seele. Die Seele ist sich dessen, dass es sich um eine Tätigkeit handelt, jedoch nicht bewusst, sondern findet sich lediglich kraft der Tätigkeit im Zustand des Wachseins wieder. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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der Individualität als für sich seiender gegen sich als nur seiender, als unmittelbares Urteil, ist das Erwachen der Seele, welches ihrem in sich verschlossenen Naturleben zunächst als Naturbestimmtheit und Zustand einem [anderen] Zustande, dem Schlafe, gegenübertritt. – Das Erwachen ist […] das Urteil der individuellen Seele“.17 Die Tätigkeit des Erwachens ist eine Urteilshandlung der individuellen Seele. Die individuelle Seele ist es, die erwacht. Welche Bedeutung besitzen die im Zitat erwähnten Wörter ‚Individualität‘, ‚für sich seiend‘, ‚nur seiend‘, ‚Seele‘, und ‚unmittelbares Urteil‘? Der Ausdruck ‚Individualität‘ meint, dass das Erwachen der Seele jeweils die Tätigkeit der Seele eines Individuums ist. Das bedeutet nicht, dass ein bestimmtes Individuum gemeint ist, also etwa Hegel. Der Ausdruck ‚Individualität‘ bezeichnet jedes einzelne menschliche Individuum. Die Seele eines jeden Individuums fällt ein unmittelbares Urteil, sodass seine bzw. ihre Seele erwacht. Der Ausdruck ‚für sich seiend‘ hat so wie der Ausdruck ‚seiend‘ in der Enzyklopädie mehrere Bedeutungen. Im vorliegenden Kontext bedeutet dieser Ausdruck, dass eine epistemische Dimension besteht, der Zustand des Wachseins. Der Ausdruck ‚seiend zu sein‘ bezeichnet demgegenüber dasjenige, was das Individuum jenseits dessen auszeichnet, dass es „für sich seiend“ ist. Es sind damit diejenigen natürlichen, etwa biologischen Vorgänge eines Individuums sowie Beziehungen, in die es eingebettet ist, gemeint, die vor dem § 398 dargestellt werden. Wie bereits erwähnt, ist es jedoch wichtig zu beachten, dass an diesem Punkt der Untersuchung Mentales (noch) nicht von Körperlichem zu unterscheiden ist. Auch dann, wenn das Individuum „für sich“ ist, ist die epistemische Dimension, die sich eröffnet, mit der Leiblichkeit des Individuums verbunden. Der Begriff der Seele ist der Schlüsselbegriff der „Anthropologie“. Seine ausführliche Erörterung sprengt den Rahmen dieser Untersuchung. Michael Wolff hat ihm eine bedeutende Monographie gewidmet.18 Mit Blick auf die Zielsetzung dieses Aufsatzes, die Einführung des Begriffs des Erwachens der Seele in der „Anthropologie“ 17  A. a. O., S. 87. 18  Michael Wolff, Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830) § 389, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1992. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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zu untersuchen, ist es instruktiv, folgende Aspekte der Seele zu erwähnen: Die Seele ist ein immaterielles, formgebendes, gestaltendes Prinzip des Materiellen, insbesondere des menschlichen Körpers. Die Seele besteht nicht unabhängig von Materiellem, sondern ist im Materiellen ein nicht-materielles Gestaltungsprinzip desselben.19 Dieses Prinzip hat ein Ziel, und zwar als individuelle Seele Materielles, den jeweils eigenen Körper, derart zu gestalten, dass Mentales im zu ihm gehörenden Körper „bei sich selbst im Anderen“ ist. Die Wendung „bei sich selbst im Anderen sein“ drückt einen der spekulativen Kerngedanken Hegels aus. In der „Anthropologie“ ist die Seele in Gestalt der sog. „wirklichen Seele“ „bei sich selbst im Anderen“. Der Ausdruck ‚wirkliche Seele‘ bezeichnet ein Individuum, das u.a. i) Empfindungen und ein Selbstgefühl besitzt, d.h. Bewusstsein von qualitativen Charakteren und ein nicht-begriffliches Gewahren seiner Empfindungen als die je seinigen;20 ii) sich als mentales Subjekt von seinem Leib unterscheidet;21 und iii) dessen Leib gleichwohl sein geistiges Leben ausdrückt bzw. von Mentalem geprägt ist.22 Ein Beispiel sind Lachen und Weinen, die mentale Zustände wie Überraschtsein oder Trauer ausdrücken.23 Allgemein gesprochen ist mit der Wendung ‚bei sich selbst im Anderen sein‘ im Kontext der „Anthropologie“ somit a) ein Fall von Selbstbeziehung gemeint – Mentales bezieht sich anhand des Körpers auf Mentales –,24 die mithilfe einer Fremdbeziehung besteht, der Beziehung auf den Leib, der an diesem Punkt der Untersuchung, bei der wirklichen Seele, zuvor bereits von Mentalem unterschieden worden ist.25 „Bei sich selbst im Anderen sein“ bedeutet b), dass eine Selbstbeziehung kraft dessen besteht, dass dasjenige Andere, d.i. in der „Anthropologie“ der Körper, mittels dessen die Selbstbeziehung erfolgt, bestimmt wird. 19  A. a. O., S. 43. 20  A. a. O., S. 160, 197. Vgl. Lang, „Hegels Interpretation von präreflexivem Selbstbewusstsein“. 21  A. a. O., S. 183, S. 197. 22  A. a. O., S. 192, 197. 23  A. a. O., S. 192. 24  Ebd.: „Die Seele […] hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt“. 25  A. a. O., S. 183. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Eines bezieht sich deswegen auf sich selbst, da es sich auf etwas anderes bezieht, das es selbst gestaltet und bestimmt hat, sodass dieses es ausdrückt bzw. es sich in ihm manifestiert oder darstellt, wie dies bspw. beim Lachen und Weinen der Fall ist. Infolge der Bestimmung des „Anderen“, also des Körpers, ist das „Fremdsein“ des Körpers bzw. sein „Entgegengesetztsein“ überwunden.26 Michael Wolff hat daher zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass die Seele zwar auch das Innere meint, das menschliche Gefühlsleben. Es ist zugleich etwas Äußerliches, und zwar in der Hinsicht, dass es sich im Materiellen darstellt, ausdrückt und manifestiert.27 Wenn die Seele im Anderen, im Materiellen, bei sich selbst ist, hat sie als formgebendes Prinzip ihr Ziel erreicht.28 Ein Phänomen stimmt mit dem Begriff der Seele überein. Sie ist das immaterielle Gestaltungsprinzip des Materiellen und stellt sich mit dem und durch den Körper als das, was sie ist, dar. Die Seele zeichnet sich daher durch die Beziehung zum Leib aus sowie die Tendenz oder Ausrichtung, Mentales zur Darstellung zu bringen.29 Das Erwachen der Seele eines Individuums ist die erste mentale Eigenschaft eines Individuums, die in der Enzyklopädie nicht nur erwähnt, sondern näher untersucht wird, wenngleich, wie erwähnt, die Unterscheidung zwischen Mentalem und Leiblichem an diesem Punkt der Untersuchung noch nicht vorliegt. Das Urteil ist eine Tätigkeit der individuellen Seele. Was leistet diese Tätigkeit? Mit dem Urteil wird a) unterschieden, und zwar zwischen dem Individuum insofern es „für sich“ ist, also sich in dem wachen Zustand befindet, und seinem Nur-seiend-Sein, d.h. seinen 26  A. a. O., S. 197. 27  Wolff, Das Körper-Seele-Problem, S. 33 ff. 28  Gleichwohl ist dann, wenn die Seele ihr Ziel erreicht und ein Phänomen ihrem Begriff entspricht, der Übergang zum Bewusstsein hergestellt. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 197. 29  Vgl. A. a. O., S. 40 f: „Aus diesem unmittelbaren Einsseins mit ihrer Natürlichkeit tritt die Seele in den Gegensatz und Kampf mit derselben (dahin gehören die Zustände der Verrücktheit und des Somnambulismus). Diesem Kampfe folgt der Sieg der Seele über ihre Leiblichkeit, die Herabsetzung und das Herabgesetztsein dieser Leiblichkeit zu einem Zeichen, zur Darstellung der Seele. So tritt die Idealität der Seele in ihrer Leiblichkeit hervor, wird diese Realität des Geistes auf eine, selbst aber noch leibliche Weise ideell gesetzt.“ Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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natürlichen Eigenschaften, Einflussfaktoren und Beziehungen, in denen es sich befindet, und es stellt b) eine Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Zuständen des Individuums her, dem Zustand des Wachseins und des Schlafens. Dieses Urteil ist unmittelbar, da c) eine nicht-begriffliche und nicht vermittelte Beziehung zu „Anderem“ hergestellt wird sowie weil d) die Unterschiedenen vom Individuum nicht bearbeitet worden sind, also etwa in praktischer Hinsicht modifiziert worden sind, und insofern bloß „gefunden“ werden.30 3. Das unmittelbare Urteil Mit dem unmittelbaren Urteil der individuellen Seele besteht der Zustand des Wachseins des Individuums. Im Zentrum der Untersu­ chung der eingangs formulierten Frage – der Frage, ob Hegel den von ihm gestellten Anspruch der Notwendigkeit im Fall des Erwachens der individuellen Seele einlöst –, steht damit die Frage, ob es Hegel gelingt, den Begriff des unmittelbaren Urteils als einen notwendigen Bestandteil der Theorie auszuweisen, der notwendigerweise an dieser Stelle der Untersuchung eingeführt werden muss. Es ist prima facie naheliegend, diese Frage mithilfe der Logik der Enzyklopädie zu beantworten zu versuchen. Schließlich entwickelt Hegel in der enzyklopädischen Logik seine Theorie des Urteils. Damit sind die Fragen zu untersuchen: Ist das unmittelbare Urteil eine Anwendung einer der Kategorien der enzyklopädischen Logik 30  Es ist fragwürdig, was zu diesem „Anderen“ zählt. Sind damit äußere Gegenstände in der Welt gemeint oder erneut bloß diejenigen natürlichen Aspekte des Individuums, die in den dem § 398 vorausgehenden Paragraphen dar­ gestellt worden sind? Im Zusatz zu § 398 erklärt Hegel, dass die Seele mit dem Erwachen sich und die Welt, „diese Zweiheit, diesen Gegensatz“ findet. A. a. O., S. 90. Indes ist das Erwachen die inhaltlich leere epistemische Dimension. Gewahrte Inhalte treten allererst mit der Empfindung auf. Es ist daher fragwürdig, ob Hegel tatsächlich behauptet hat, wie in dem Zusatz angeführt ist, dass bereits mit dem Erwachen der Seele eine Unterscheidung zwischen der Welt und dem Individuum gewahrt wird. Mit Blick auf den Textbestand ist es nicht möglich, die Frage eindeutig zu entscheiden, was alles zu dem „Anderen“ zählt. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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innerhalb der Sphäre des Geistes? Ist es mithilfe der enzyklopädischen Logik möglich, auszuweisen, dass der Begriff des Erwachens der Seele notwendigerweise ein Baustein der Enzyklopädie ist, und dass dieser Begriff im Anschluss an § 397 behandelt werden muss, der das Geschlechtsverhältnis thematisiert? Für die These, dass das unmittelbare Urteil die Anwendung einer logischen Kategorie der enzyklopädischen Logik im Bereich des Geistes ist, sprechen zwei Stellen der „Logik“. Im Zusatz zu § 399 führt Hegel aus: „In obiger Auseinandersetzung des Wesens der Empfindung ist schon enthalten, daß, wenn im § 398 das Erwachen ein Urteil der individuellen Seele hat genannt werden dürfen – weil dieser Zustand eine Teilung der Seele in eine für sich seiende und in eine nur seiende Seele und zugleich eine unmittelbare Beziehung ihrer Subjektivität auf Anderes hervorbringt –, wir in der Empfindung das Vorhandensein eines Schlusses behaupten“.31 Zwei unterschiedliche Interpretationen dieses Zitats sind naheliegend. Die erste Interpretation betont, dass Hegel erwähnt, das Erwachen der Seele sei deswegen ein Urteil, weil eine Teilung zwischen Sphären – der Subjektivität und des Anderen, d.h. des wachen Zustands und des Zustands des Schlafens, oder auch des „Für-sich-seins“ und des „Nur-seiend-Seins“ –, und zugleich eine Beziehung zwischen diesen Sphären hergestellt wird. Diese Charakterisierung des unmittelbaren Urteils stimmt mit Ausführungen in § 166 der enzyklopädischen Logik überein. In § 166 erklärt Hegel, dass im Fall des Urteils eine „unterscheidende Beziehung seiner [d.i. des Begriffs] Momente“ besteht, die gleichwohl als „nicht miteinander identische gesetzt sind“.32 Die im Zitat erwähnten Momente können im Bereich der Philosophie des Geistes als Momente der urteilenden Seele interpretiert werden, als ihr „für sich sein“ gegenüber ihrem „nur seiend sein“, die in § 398 im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Urteil erwähnt werden. Diese Momente zeichnen sich in der „Anthropologie“ durch ihre Beziehung sowie Unterscheidung aus, da sie als „nicht miteinander identische gesetzt“ sind. Das unmittelbare Urteil der individuellen Seele stellt somit die Struktur des Urteils der Logik 31  A. a. O., S. 96 f. 32  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, I, TWA 8, S. 316. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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in der Sphäre des Geistes dar. Es ist eine Anwendung der Struktur des Urteils gemäß der enzyklopädischen Logik im Bereich des Geistes. Diese Interpretation erhält Unterstützung durch eine weitere Stelle in § 166. Hegel erklärt, dass die „etymologische Bedeutung des Urteils […] die ursprüngliche Teilung aus[drückt]“.33 Diese Ausführungen scheinen im Einklang mit Erläuterungen im Zusatz zu § 399 zu stehen. Das unmittelbare Urteil führt in der „Anthropologie“ die Teilung in „Fürsichsein“ und „nur seiend sein“ ein und damit einerseits die erste Unterscheidung zwischen (kreatürlichem) Bewusstsein und erlebnislosen und unbewussten natürlichen Vorgängen und Eigenschaften. Es leistet daher die ursprüngliche Teilung, die die in weiterer Folge in der „Enzyklopädie“ behandelten Phänomene wie die Empfindung und das Selbstgefühl voraussetzen. Da das unmittelbare Urteil des Erwachens der Seele eine Darstellungsweise einer logischen Kategorie der enzyklopädischen Logik innerhalb der Sphäre des Geistes ist, ist kraft der enzyklopädischen Logik sichergestellt, dass der Begriff des Erwachens der Seele ein notwendiger Bestandteil der Theorie ist. Dies verbürgt die enzyklopädische Logik. Schließlich betont Hegel in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Enzyklopädie, dass der „logische Zusammenhang die Grundlage“ der Enzyklopädie bildet.34 Das bedeutet: Weil das Erwachen der Seele die Struktur des logischen Urteils aufweist, ist sein Begriff ein notwendiger Bestandteil der Philosophie des Geistes. Diese Interpretation überzeugt nicht. Sie beantwortet nicht die Frage, warum die Einführung des Begriffs des Erwachens der individuellen Seele auf den Begriff des Geschlechtsverhältnisses notwendigerweise folgt. Hegel charakterisiert das Geschlechtsverhältnis in der „Anthropologie“ u.a. als die Beziehung zwischen Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts, die sich jeweils im anderen Individuum ihrer Gattung suchen und finden.35 Selbst wenn 33  Ebd. 34  A. a. O., S. 14. Es ist diskussionswürdig, ob Hegel mit dem „logischen Zusammenhang“ die enzyklopädische Logik meint. Die Frage, wie dieses Zitat zu verstehen ist, wird in dieser Untersuchung nicht behandelt. 35  Das Geschlechtsverhältnis wird auch in der enzyklopädischen Naturphilosophie behandelt. Vgl. bspw. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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es richtig wäre, dass in § 398 die Struktur des Urteils gemäß des § 166 der enzyklopädischen Logik maßgebend ist, bleibt die zweite Frage dieser Untersuchung unbeantwortet: Warum muss der Begriff des Erwachens der Seele in der Enzyklopädie notwendigerweise im Anschluss an den Begriff des Geschlechtsverhältnisses eingeführt werden? Warum ist dieser Übergang notwendig? Wie eine überzeugende Antwort auf diese Frage lauten könnte, ist unklar. Es gibt sicherlich andere Stellen in der enzyklopädischen Logik, die herangezogen werden können, um die Einführung des Begriffs des Erwachens der Seele zu rechtfertigen, wie bspw. das Urteil des Daseins.36 Das identifizierte Problem tritt jedoch stets von Neuem auf: Es ist nicht ersichtlich, wie eine überzeugende Antwort auf die Frage lauten könnte, warum der Übergang vom Begriff des Geschlechtsverhältnisses zum Begriff des Erwachens der Seele notwendig sein soll. Es ist nicht möglich, den Übergang zum Erwachen der individuellen Seele anhand logischer Kategorien, die in der enzyklopädischen Logik auftreten, zu erklären. Es gibt Alternativen, wie die Notwendigkeit der Einführung des Begriffs des Erwachens der Seele begründet werden kann. In der jüngeren Vergangenheit wurde der Zusammenhang zwischen der Logik der Enzyklopädie und ihrer Naturphilosophie intensiv diskutiert.37 John W. Burbidge vertritt bspw. den Standpunkt, dass die Naturphilosophie ihre eigenen logischen Kategorien besitzt, die zwar nicht ohne diejenigen der enzyklopädischen Logik, aber

Wissenschaften, II, TWA 9, S. 370, S. 499. Vgl. ferner Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 20. 36  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, I, TWA 8, S. 323. 37  Vgl. Edward Halper, „The Logic of Hegel’s Philosophy of Nature: Nature, Space, and Time“, in: Hegel and the Philosophy of Nature, hg. von Stephen Houlgate, Albany/NY: SUNY Press, 1999; Stephen Houlgate, „Logic and Nature in Hegel’s Philosophy: A Response to John W. Burbidge“, in: The Owl of Minerva, 34/1, 2002/03, S. 107‒125; Anton Kabeshkin, Hegel’s Anti-Reductionist Ontology, PhD-Manuscript, Stand: Sommer 2018. Richard Dean Winfield, „Space, Time and Matter: Conceiving Nature Without Foundations“, in: Hegel and the Philosophy of Nature, hg. von Stephen Houlgate, Albany/NY: SUNY Press, 1999, S. 51–69. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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doch auch nicht ausschließlich mit ihrer Hilfe bestimmt werden.38 Das heißt, die Naturphilosophie hat ihre eigenen Begriffe, die in der Naturphilosophie – und nicht in der Logik – identifiziert und bestimmt werden. Damit ist zu prüfen, ob der Begriff des unmittelbaren Urteils in der Philosophie des Geistes gewonnen und bestimmt wird. Diese Aufgabenstellung führt zur angekündigten zweiten Interpretationsmöglichkeit der zuvor zitierten Passage aus dem Zusatz zu § 399.39 Wenn Hegel in diesem Abschnitt erklärt, dass das Erwachen der Seele ein Urteil „hat genannt werden dürfen“, dann signalisiert diese Redeweise, dass eine gegenüber der Logik eigenständige Bedeutung des Begriffs des Urteils eingeführt wird. Das unmittelbare Urteil der „Anthropologie“ ist von den Urteilsformen, die in der „Logik“ behandelt werden, zu unterscheiden. Das Urteil, mit dem das Erwachen der Seele besteht, ist gleichwohl eine ontologische Tätigkeit, da sie die epistemische Dimension konstituiert und damit Natürliches, „nur seiendes“, vom „Fürsichsein“ scheidet. Diese Interpretation ist naheliegend. Jedoch hilft sie mit Blick auf die Fragestellungen dieser Untersuchung nicht weiter. Der Hinweis, dass der Begriff des unmittelbaren Urteils in der Philosophie des Geistes bestimmt wird, erklärt nicht a) warum die Begriffe des unmittelbaren Urteils und des Erwachens der Seele notwendigerweise Bestandteile der Theorie sein sollen, und b) warum der Begriff des Zustands des Wachseins der individuellen Seele mit Notwendigkeit gerade im Anschluss an Hegels Darstellung des Geschlechtsverhältnisses auftritt. 4. Alternative Interpretationen Ist Hegels Deduktion des Begriffs des Erwachens der individuellen Seele damit als gescheitert zu beurteilen? Ist seine Ankündigung, in der Enzyklopädie notwendige Bausteine seiner Theorie in ihrer notwendigen Abfolge darzustellen, ein leeres Versprechen? Das 38  John W. Burbidge, „Chemism and Chemistry“, in: The Owl of Minerva. Journal of the Hegel Society of America, Chicago, 34/1, 2002/03, S. 12 f. 39  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 96 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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bisherige Ergebnis der Untersuchung lautet, dass es nicht möglich ist, anhand des Begriffs des unmittelbaren Urteils die Notwendigkeit des Übergangs zum Begriff des Erwachens der individuellen Seele zu begründen. Es gilt daher alternative Begründungsstrategien zu prüfen. Zwei Alternativen bieten sich an: In Gesprächen betonte Ana Munte, dass die Entwicklung der Philosophie des Geistes von Hegels Begriffstrias – Allgemeines, Besonderes und Einzelnes – bestimmt ist. Das ist ein wichtiger Hinweis. Es ist ohne Zweifel richtig, dass diese Begriffe den Gang der Untersuchung prägen.40 Sie treten an Schlüsselstellen oftmals markant auf. Ermöglicht diese Begriffstrias die Notwendigkeit der Einführung des Begriffs des Erwachens der individuellen Seele zu begründen? Eine Untersu­chung dieser Frage hat zunächst die Begriffe „Allgemeines“, „Besonderes“ und „Einzelnes“ zu erörtern. Sie haben in der Enzyklopädie mehrere „Bedeutungen“. An dieser Stelle kann jeweils nur eine „Bedeutung“ dieser Begriffe diskutiert werden. Der Begriff „Einzelnes“ meint demnach einen in der Theorie thematischen Inhalt für sich betrachtet. So zeichnet sich bspw. die Empfindung dadurch aus, dass die erlebten qualitativen Charaktere weder mit anderen Charakteren oder Zuständen in Beziehung gesetzt noch einem Gegenstand zugeschrieben werden, der vom Subjekt unterschieden wird. Die erlebten qualitativen Charaktere sind einzelne, „zusammenhangslose“41 Charaktere. Der Begriff des Besonderen meint, dass eine Beziehung zwischen Elementen besteht und/oder vom Individuum thematisiert wird. Bspw. stellt das Selbstgefühl eine Beziehung zwischen den qualitativen Charakteren her.42 Die einzelnen Empfindungen werden damit zu besonderen Gefühlen. Der Begriff des Allgemeinen stellt ein Gattungsmerkmal vor. So ist bspw. die Empfindung „das ganz Allgemeine der Subjektivität […], welche die differentia specifica, das absolut Auszeichnende des Tiers ist.“43

40  Hegel bspw. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 40, S. 50, S. 70. 41  A. a. O., S. 99. 42  A. a. O., S. 160. Vgl. a. a. O., S. 32. 43  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, I, TWA 8, S. 432. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Auch dieser Erklärungsversuch scheitert. Die Begriffstrias – Allgemeines, Besonderes und Einzelnes – ermöglicht es nicht zu erklären, warum im Anschluss an den Begriff des Geschlechtsverhältnisses der Begriff des Erwachens der individuellen Seele notwendigerweise eingeführt werden muss. Wie soll es mithilfe dieser Begriffstrias möglich sein zu begründen, dass der Begriff des Erwachens der Seele ein notwendiger Bestandteil der Enzyklopädie ist und er im Anschluss an den Begriff des Geschlechtsverhältnisses behandelt werden muss? Wie eine Antwort auf diese Fragen lauten könnte, ist völlig unklar. Eine zweite alternative Begründungsstrategie lautet folgendermaßen: Ein spekulativer Kerngedanke Hegels kam bereits zur Sprache. Das Ziel der „Anthropologie“ besteht darin, dass die individuelle Seele „im Anderen bei sich selbst ist“. Die Wendung „bei sich selbst im Anderen sein“ ist ein Kennzeichen der Struktur des Absoluten, also Gottes. Das Absolute realisiert sich u.a. in und mit den in der Logik, der Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes dargestellten Inhalten und Strukturen.44 Damit ist es möglich, eine alternative Begründung der Notwendigkeit der Berücksichtigung des Begriffs des Erwachens der individuellen Seele zu entwickeln. Im Zusatz zu § 387 erklärt Hegel, dass im Rahmen der Philosophie des Geistes „eine Reihe von Gestaltungen“ hervorgebracht werden, „die zwar von der Empirie angegeben werden müssen, in der philosophischen Betrachtung aber nicht äußerlich nebeneinandergestellt bleiben dürfen, sondern als der entsprechende Ausdruck einer notwendigen Reihe bestimmter Begriffe zu erkennen sind und für das philosophische Denken nur insofern Interesse haben, als sie eine solche Reihe von Begriffen ausdrücken.“45 Das bedeutet: Hegel sucht mit Blick auf die Empirie oder auch andere Wissenschaften und deren Kenntnisbestände wie die empirische Psychologie Phä­ nomene auf, die sich durch die Struktur des „Bei-sich-selbst-imAnderen-Seins“ auszeichnen. Er findet sie bspw. in der „wirklichen Seele“. Sie ist damit ein notwendiger Bestandteil der Theorie. Die wirkliche Seele weist mehrere Bestandteile auf, etwa Empfindungen, 44  Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 30 f. 45  A. a. O., S. 39 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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das Selbstgefühl, die Gewohnheit usw. Die identifizierten Bestandteile der wirklichen Seele sind somit notwendige Bestandteile des „Bei-sich-selbst-im-Anderen-Seins“ und damit ihrerseits ebenfalls notwendige Bestandteile der Theorie. Das gilt auch für den Begriff des Erwachens der Seele. Diese Begründung der Notwendigkeit der Berücksichtigung des Begriffs des Erwachens der Seele überzeugt nicht. Das Erwachen der individuellen Seele zählt nicht zu den Bestandteilen der wirklichen Seele, die Hegel in den Paragraphen erwähnt, die die wirkliche Seele behandeln. Hegel erwähnt die Empfindung, das Selbstgefühl und einige weitere Bausteine der „Anthropologie“. Das Erwachen der Seele zählt nicht dazu.46 Die spekulative Struktur des „Bei-sichselbst-im-Anderen-sein“ ermöglicht es daher nicht, den Begriff des wachen Zustands als einen notwendigen Begriff der Theorie auszuweisen. Sie erklärt zudem auch nicht die Abfolge der Begriffe der Enzyklopädie, wie bspw. den Übergang vom Begriff des Erwachens der Seele zum Begriff der Empfindung oder vom Begriff des Selbst­ gefühls zum Begriff der Gewohnheit. Es ist nicht möglich, mithilfe des „Bei-sich-selbst-im-Anderen-Seins“ die Notwendigkeit der Übergänge zu begründen. Die spekulative Struktur erlaubt es nicht, eine „notwendige Reihe von Begriffen“ zu bestimmen.47 Gegen die dargelegten Überlegungen spricht insbesondere ein Einwand. Er besagt, dass Hegel im Zusatz zu § 398 den Übergang zwischen dem Geschlechtsverhältnis zwischen Mann und Frau und dem Erwachen der Seele begründet. Diese Stelle wurde bisher jedoch nicht beachtet. Sie lautet: „Die Notwendigkeit des dia­ lektischen Fortgangs vom Geschlechtsverhältnis zum Erwachen der Seele liegt aber näher darin, daß, indem jedes der zueinander in geschlechtlicher Beziehung stehenden Individuen kraft ihrer an sich seienden Einheit in dem anderen sich selber wiederfindet, die Seele aus ihrem Ansichsein zum Fürsichsein, das heißt eben aus ihrem Schlaf zum Erwachen gelangt. Was im Geschlechtsverhältnis an zwei 46  Hegel erwähnt das Erwachen der Seele im Zusatz zu § 412. Er erwähnt es jedoch nur, um davon das Auftreten des Ichs abzugrenzen. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, TWA 10, S. 198. 47  A. a. O., S. 40. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

Hegels Deduktion des Erwachens der Seele

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Individuen verteilt ist – nämlich eine mit ihrer Substanz in unmittelbarer Einheit bleibende und eine in den Gegensatz gegen diese Substanz eingehende Subjektivität –, das ist in der erwachenden Seele vereinigt, hat somit die Festigkeit seines Gegensatzes verloren und jene Flüssigkeit des Unterschieds erhalten, durch welche dasselbe zu bloßen Zuständen wird.“48 Diese Passage wurde aus gutem Grund im bisherigen Verlauf dieser Untersuchung nicht behandelt. Dieses Zitat ist rätselhaft. Warum soll der Übergang zum Erwachen der Seele erfolgen, „indem“ zwei Individuen im Geschlechtsverhältnis zueinander sich befinden und sich selbst im anderen wiederfinden? Worin besteht die Notwendigkeit dieses Übergangs? Das ist schwierig zu begreifen. Das Ergebnis dieser Untersuchung lautet, dass es nicht gelungen ist, zu erklären, wie Hegel die Notwendigkeit des Übergangs zum Begriff des Erwachens der individuellen Seele begründet. Bei Philosophen der Qualität Hegels wäre es vorschnell zu meinen, dieses Ergebnis beweise, dass es Hegel nicht gelingt, die von ihm behauptete Notwendigkeit zu begründen. Die Geschichte der Philosophie gibt zu viele Beispiele von Interpretinnen und Interpreten an die Hand, die infolge von Missverständnissen oder mangelnder Sachkenntnis den von ihnen kritisierten Philosophinnen und Philosophen nicht gerecht werden. Indes ist so viel vermutlich unstrittig: Es ist eine nach wie vor nicht hinreichend beantwortete Frage, wie Hegel in der Enzyklopädie die Notwendigkeit der Bestandteile der Theorie und der Übergänge begründet und ob es ihm gelingt, die Notwendigkeit der Bestandteile und Übergänge auszuweisen. Dies gilt zumindest für die „Anthropologie“ der Enzyklopädie. Das Ziel dieses Aufsatzes ist erreicht, wenn er dazu beiträgt, dass die Fragestellung dieser Untersuchung von der Forschung aufgegriffen und diskutiert wird: Wie deduziert Hegel in seiner Philosophie des Geistes und sind seine deduzierten Begriffe sowie deren Übergänge als notwendig ausgewiesen?

48  A. a. O., S. 89 f. Jindrich Karásek, Lukàs Kollert, and Tereza Matejckova - 978-3-8467-6402-2

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Bibliographie Burbidge, John W., „Chemism and Chemistry“, in: The Owl of Minerva. Journal of the Hegel Society of America, Chicago, 34/1, 2002/03, S. 3‒17. Halper, Edward, „The Logic of Hegel’s Philosophy of Nature: Nature, Space, and Time“, in: Hegel and the Philosophy of Nature, hg. von Stephen Houlgate, Albany/NY: SUNY Press, 1999, S. 29‒49. Hegel, Georg W. F., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, TWA 8. –: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Zusätzen, TWA 9. –: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, TWA 10. –: Vorlesungen über die Ästhetik, I, TWA 13. Houlgate, Stephen: „Logic and Nature in Hegel’s Philosophy: A Response to John W. Burbidge“, in: The Owl of Minerva, 34/1, 2002/03, S. 107‒125. Kabeshkin, Anton, Hegel’s Anti-Reductionist Ontology, PhD-Manuscript. Stand: Sommer 2018. Lang, Stefan, „Hegels Interpretation von präreflexivem Selbstbewusstsein“, in: Präreflexives Selbstbewusstsein im Diskurs, hg. von Klaus Viertbauer, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2018, S. 73‒94. Rosenthal, David M., „Two Concepts of Consciousness“, in: Consciousness and Mind, hg. von David M. Rosenthal, Oxford: Oxford University Press, 2006, S. 21‒45. Tetens, Johann Nicolaus, Metaphysik bey dem H. Professor Tetens (1789), Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2015. Winfield, Richard Dean, „Space, Time and Matter: Conceiving Nature Without Foundations“, in: Hegel and the Philosophy of Nature, hg. von Stephen Houlgate, Albany/NY: SUNY Press 1999, S. 51‒69. Wolff, Michael, Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830) § 389, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1992.

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Siglen AA Kant, Immanuel, Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1900 ff. AA Schelling, Friedrich W. J., Historisch-kritische Ausgabe im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings und Hermann Zeltner, Stuttgart: FrommannHolzboog, 1976 ff. GA Fichte, Johann G., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth, Erich Fuchs, Hans Gliwitzky und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1962–2012. GW Hegel, Georg W. F., Gesammelte Werke, erschienen in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1968 ff. JWA  Jacobi, Friedrich H., Werke. Gesamtausgabe, hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Hamburg/Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1998 ff. KrV A/B Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, (A) 1. Auflage, AA IV, S. 1–252, (B) 2. Auflage, AA III. SW Schelling, Friedrich W. J., Werke, nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hg. von Manfred Schröter, München, 1927 ff. TWA Hegel, Georg W. F., Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Marcus Michel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969 ff.

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Hinweise zu den Autoren Andreas Arndt (Humboldt-Universität zu Berlin), bis Ende März 2018 Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der HumboldtUniversität; Leiter des Akademienvorhabens „Friedrich Schleiermacher in Berlin 1808–1834“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Ehrenvorsitzender der Internationalen Hegel-Gesellschaft e.V. Holger Gutschmidt (Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Institut für Philosophie) Studium der Ägyptologie, Evangelischen Theologie, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte an der AugustanaHochschule Neuendettelsau sowie den Universitäten von Heidelberg, Göttingen und Turin; 1998 M.A. in Ägyptologie; 2003 und 2013 Promotion und Habilitation in Philosophie; bis 2017 Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie der Universität Göttingen (Juristische Fakultät); danach A. v. Humboldt-Stipendiat an der Tunghai-Universität, Taiwan; derzeit J. E. Purkyně-Stipendiat am Institut für Philosophie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Vernunfteinsicht und Glaube (2007); Substantia – Sic et Non (2008, Mitherausgeber); Objektive Ideen (2014). Silvan Imhof (Université de Fribourg), hat mit der Arbeit Der Grund der Subjektivität. Motive und Potenzial von Fichtes Ansatz (Schwabe 2014) promoviert. Seit 2009 arbeitet er an der Edition von K.L. Reinholds Gesammelten Schriften, daneben hat er an der Edition von Jeanne Herschs Ausgewählten philosophischen Schriften mitgewirkt. Er hat Aufsätze zu Reinhold, Fichte, zum nachkantischen Skeptizismus und zur Sprachphilosophie verfasst. Jindřich Karásek (Karls-Universität in Prag), Studium der Philosophie an den Universitäten Prag und Göttingen; Promotion 1998 in Prag (Denken und Erkennen bei Kant); seit 1998 Assistent Professor an der Karls-Universität in Prag; 2003–2006 wissenschaftlicher Assistent an der Martin-LutherUniversität in Halle; Habilitation 2009 in Halle (Sprache und Anerkennen. Philosophische Untersuchungen zum Zusammenhang von Selbstbewusstsein,

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Hinweise zu den Autoren

Intersubjektivität und Personalität, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011); seit 2009 Dozent an der Karls-Universität in Prag; Aufsätze zur Philosophie Kants, Fichtes und Hegels. Lukáš Kollert (Karls-Universität in Prag), Studium der Philosophie an den Universitäten Prag, Tübingen und Wien, seit 2014 Doktorand in Philosophie an der Karls-Universität in Prag. Seit 2012 Studium der Rechtswissenschaft an der Karls-Universität in Prag. Er hat Aufsätze zu Fichte und rechtsphilosophischen Themen verfasst. In 2018 hat er ein Buch über den Begriff der Souveränität in der modernen politischen Philosophie mitherausgegeben. Er übersetzt aus dem Deutschen und Englischen ins Tschechische. Stefan Lang (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg/Eberhard-KarlsUniversität Tübingen), Promotion und Habilitation in Halle/Saale, wissenschaftlicher Mitarbeiter (post-doc) in Halle/Saale und in Tübingen, Projektleiter („eigene Stelle“) eines von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung geförderten Projekts zum Thema „Phänomenales Bewusstsein und Selbstbewusstsein“, Monographien und Aufsätze im Bereich der analytischen Philosophie des Geistes und der klassischen deutschen Philosophie. Tereza Matějčková (Karls-Universität in Prag), seit 2016 Assistentin. Im Jahre 2018 publizierte sie die Monographie Gibt es eine Welt in Hegels Phänomenologie des Geistes? (Tübingen: Mohr Siebeck). Sie publizierte vornehmlich zu Themen aus dem Bereich des deutschen Idealismus in Zeitschriften wie Idealistic Studies, Neue Zeitschrift für systematische Theologie oder The European Legacy. Sie übersetzt aus dem Deutschen ins Tschechische (Hegel, Jaspers, Tugendhat, Arndt und Jaeschke) und aus dem Tschechischen ins Deutsche (Utitz). Rocco Porcheddu (Universität Siegen), Promotion in Halle a. d. Saale bei Jürgen Stolzenberg zum Thema: Der Zweck an sich selbst in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. (Erschienen in: Kant-StudienErgänzungshefte 186). Veröffentlichungen zu Fichtes Wissenschaftslehre, Theorien praktischer Subjektivität (Frankfurt, Nagel) und Kant (KpV, GMS,

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Hinweise zu den Autoren

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KrV). Ich habilitiere in Siegen zum Thema: Fichtes frühe Sittenlehre (1798) als Interpretation der Kantischen Transzendentalphilosophie (vorläufiger Projekttitel, Betreuung durch Dieter Schönecker). Jürgen Stolzenberg (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), emeritierter Professor für Geschichte der Philosophie, Studium der Musik, Germanistik und Philosophie in Köln, Stuttgart und Heidelberg. Promotion 1982, Habilitation 1993. Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen; Fellow der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München; Vorsitzender der Interakademischen Kommission „LeibnizEdition“; Gründungs- und Vorstandsmitglied des Internationalen Zentrums für Klassikforschung der Klassik Stiftung Weimar, Gründungsmitglied und Mitglied des Vorstandes des Forschungszentrums für klassische deutsche Philosophie an der Ruhr- Universität Bochum u.a. Zahlreiche Publikationen zu Kant und zur klassischen deutschen Philosophie, zum Neukantianismus, zu Heidegger, zur Hermeneutik und zur Musikphilosophie. Begründer und Mitherausgeber des Internationalen Jahrbuchs des Deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism. Mitherausgeber des Kant-Lexikons. Lars-Thade Ulrichs (Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum), Wissenschaftlicher Mitarbeiter; Arbeitsgebiete: Philosophie des Geistes, Praktische Subjektivität, Klassische Deutsche Philosophie (Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer), Ästhetik; wichtigste Publikationen: Die andere Vernunft. Philosophie und Literatur zwischen Aufklärung und Romantik (Berlin: De Gruyter, 2011); „Metaphysische Tätigkeiten. Philosophie und Literatur in der Erkenntnis- und Sprachskepsis Schopenhauers und Nietzsches“, in: Hans Feger (Hrsg.), Handbuch Literatur und Philosophie, Stuttgart 2012, S. 123‒138; Subjektivität und Autonomie. Grundprobleme der praktischen Philosophie nach Kant, Berlin u.a.: De Gruyter, 2013; „Autonome Subjektivität. Begriffsexplikation in Fichtes, Schellings und Hegels genetischer Subjektivitätstheorie“, in: Héctor Ferreiro und Thomas S. Hoffmann (Hrsg.), Metaphysik – Metaphysikkritik – Neubegründung der Erkenntnis. Der Ertrag der Denkbewegung von Kant bis Hegel, Berlin: Duncker und Humblot, 2016, S. 285‒298.

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Personenregister Kursive Seitenzahlen beziehen sich auf Nennungen von Personen ausschließlich in Fußnoten. Aristoteles vii f., xiii, 152, 174 Asmuth, Christoph 71, 82 f. Barth, Roderich 71, 83 Berger, Maxi 138, 146 Breazeale, Daniele 55, 62, 67 Calinescu, Matei 160, 166 Cramer, Konrad 110 Ewertowski, Jörg 115, 124, 129 Fichte, Johann Gottlieb xiii–xiv, 29–84, 89, 91–96, 98, 99, 103, 111, 112, 113, 115–118, 120–124, 128, 136 f., 165, 170, 189, 193, 211 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm  vii–xvii, 87, 98, 103, 109–111, 118, 121, 123, 124, 125, 127 f., 131–211 Hoffmann, Thomas Sören 39, 46, 129 Honneth, Axel 32 Horstmann, Rolf-Peter 121, 129, 180 Hoshiba, Kaoru 39, 46 Husserl, Edmund 66, 68 Jacobi, Friedrich Heinrich 49–52, 68, 77, 91, 150, 169, 170, 172, 182 Jaeschke, Walter 131, 133, 170, 192 James, William 151, 167 Janke, Wolfgang 39, 46, 62, 68 Kahnert, Klaus 40, 46 Kant, Immanuel vii, viii, x, xii, xiii, xiv, xvii, 3–28, 47–49, 55, 58, 63, 65, 69–72, 82 f., 87 f., 103 f., 109–117, 121, 123 f., 136, 139, 143, 155, 173, 179, 183, 192, 211

Kimmerle, Heinz 132, 146 Kojève, Alexandre 156, 167 Krüger, Hans-Peter 138, 146 Leibniz, Gottfried Wilhelm 113 f., 124, 172, 185 Leinkauf, Thomas 112, 129 Loock, Reinhardt 112, 129 Lukács, Georg 138, 147 Maimon 49 Marx, Karl 134, 144 Marx, Werner 111, 129 Neuhouser, Frederick 32 Newton, Isaac 153–155, 167 Piché, Claude 32 Pippin, Robert 110, 129 Platon vii, 152, 167 Plotin 152, 167 Sandkaulen-Bock, Birgit 110, 111, 170, 129, 192 Schelling, Friedrich W. J. vii–xiii, xv, xvii, 87–107, 109–130, 135 f., 150, 170, 189, 194, 211 Schlösser, Ulrich 71, 84 Schmidt am Busch, Hans-Christoph 138, 147 Schopenhauer, Arthur 90, 91, 102, 103, 104, 107 Schönecker, Dieter 4, 5, 13, 27 Schulze, Gottlob Ernst 49, 50 Spinoza, Benedikt de ix, xvi, 124, 150, 169–192 Stekeler, Pirmin 155, 167 Stolzenberg, Jürgen 110, 123, 130

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Personenregister

Tetens, Johann Nicolaus 194, 210 Theunissen, Michael 156, 161, 167

Wolff, Michael 198, 200, 210 Zöller, Günter 52, 62, 68, 70, 84

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