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German Pages 159 Year 1978
PETRA C H R I S T I A N
Einheit und Zwiespalt
Soziologische Schriften Band 27
Einheit und Zwiespalt Zum hegelianisierenden Denken in der Philosophie und Soziologie Georg Simmeis
Von Dr. Petra Christian
DUNCKER & HUMBLOT/
BERLIN
Diese Arbeit wurde von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Heidelberg 1977 als Dissertation angenommen.
Alle Rechte vorbehalten © 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1978 bei Buchdruckerei A. Sayifaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04242 5
Dem Andenken meines Bruders
Inhaltsverzeichnis Einleitung
11
Kapitel I: Die Anfänge eines erneuten Interesses an Hegel und nungen Simmeis zum „Neuhegelianismus"
Zuord-
18
1. Die „Auferstehung Hegels" als Vollendung des Neukantianismus ..
19
2. Die Thematisierung des jungen Hegel durch W. Dilthey und dessen Verhältnis zu Simmel
24
3. Der Heidelberger Neuhegelianismus und Simmeis zweimal gescheiterte Berufung nach Heidelberg 1908 und 1915
29
4. Simmeis Hegelzuwendung und der Neuhegelianismus im Spiegel einiger Zeitgenossen (M. Frischeisen-Köhler, M. Adler, H. Levy) . .
37
%
Erster
Teil
Das hegelianisierende Denken in der Philosophie Georg Simmeis Kapitel
II: Sprache, Begriff,
System
41 41
1. Sprachphilosophie und Sprachstil im Werk Simmeis
41
a) Ursprung und sozialer Charakter der Sprache
45
b) Das Wesen der Sprache (Satz ud Wort)
48
c) Sprache und Kunst
51
d) Sprachkritik und das Versagen der Sprache
53
2. Begriffskritik und der Vorrang des Lebens gegenüber dem Begriff .
58
a) Der Begriff (und das Allgemeine)
58
b) Rationale und vitale Logik
62
c) Begriff und Leben (Intuition)
65
3. Die Ablehnung des Systems zugunsten von Fragment und Essay ..
67
a) Das Wesen des Systems und des Symmetrischen
67
b) Fragment und Essay
70
8
Inhaltsverzeichnis
Kapitel III: Hegels Begriff von 1800"
des Lebens im Frankfurter
„Systemfragment" 75
1. Vorbereitende Strukturen des Lebensbegriiis im Begriff der Liebe..
75
a) Die vereinigende Macht der Liebe
75
b) Die Manifestation des Lebens in der Liebe
77
2. Entfaltung der dialektischen Struktur des Lebensbegriffs
80
a) Der Begriff der Individualität
80
b) Erhebung des endlichen Lebens zum unendlichen Leben
82
c) Leben als die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung
84
Kapitel
IV: Simmeis Lehre vom absoluten
Begriff
des Lebens
1. Das Selbstbewußtsein als ein Symbol oder realer Selbstausdruck des Lebens
87 88
a) Die lebendige Einheit des Selbstbewußtseins
88
b) Das Übersichhinausschreiten des selbstbewußten personalen Geistes
90
c) Der Begriff der Grenze
92
2. Die Todesverflochtenheit des Lebens
94
a) Das Zugrundegehen des Lebens im Tod aa) Die Sterblichkeit des Individuums bb) Todesleiden
94 94 98
b) Das Zu-seinem-Grund-Gehen des Lebens im Tod aa) Der relative Gegensatz von Leben und Tod bb) Die Aufhebung des relativen Gegensatzes von Leben und Tod i m höchsten oder absoluten Sinn des Lebens
Zweiter
V: Der Begriff
der Wechselwirkung
1. Zur Wortgeschichte von „Wechselwirkung" 2. Zur Geschichte des Begriffs Schleiermacher, Dilthey)
105
Teil
Rückschlüsse vom hegelianisierenden Denken in der Philosophie Georg Simmeis auf seine Soziologie Kapitel
100 100
107 110
.
der Wechselwirkung
110 (Kant, Hegel,
115
3. Wesentliche Momente des Simmelschen Wechsel Wirkungsbegriff s im Ausgang vom gesellschaftlichen Leben
121
a) Relationalst, Dynamik und Prozeßhaftigkeit der Wechselwirkung
121
Inhaltsverzeichnis b) Das Moment der Gegen- oder Wechselseitigkeit
125
c) Wechselwirkung zwischen zwei Personen
127
d) Die Einheit der Wechselwirkung
131
Kapitel
VI: Die Geselligkeit
als Spiel-Form
der Vergesellschaftung
1. Hauptgedanken der Simmelschen Theorie des Spiels und die Spielform
134 137
a) Spiel als Bewegung des Hin und Her
137
b) Spielsphäre und Spielform oder reine Form
139
2. Geselligkeit und Vergesellschaftung
143
a) Freie Wechselwirkung
143
b) Äquivalenz der Elemente
146
Literaturverzeichnis
150
Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen für Georg Simmeis Schriften BdD
=
Buch des Dankes 1958
BT
=
Brücke und Tür 1957
Diff
=
Über sociale Differenzierung (1890), 1966
DP
=
Aufsatz: Dantes Psychologie 1884
Frg
=
Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß (1923), 1967
FrgL
=
Aufsatz: Der Fragmentcharakter des Lebens 1916/17
GdS
=
Grundfragen der Soziologie (1917), 1970s
GegL
=
Aufsatz: Die Gegensätze des Lebens und die Religion 1904/05
Gesch
=
Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), 19235
Gt
=
Goethe 1913
HdP
=
Hauptprobleme der Philosophie (1910), 19648
IndG
=
Das individuelle Gesetz 1968
KG
=
Kant und Goethe (1906), 19184
KgE
=
Der Krieg und die geistigen Entscheidungen 1917
Konfl
=
Der Konflikt der modernen Kultur (1918), 19263
Kt
=
Kant (1904), 19184
Leb
=
Lebensanschauung 1918
MdT
=
Aufsatz: Zur Metaphysik des Todes 1910/11
Meth Mor PdG PdK PdM PK Rei Rem Remst SchN Schp Soz StM
= = = = = = = = = = = = =
WM
=
Aufsatz: Zur Methodik der Socialwissenschaft 1896 Einleitung in die Moralwissenschaft I (1892) I I (1893), 19644 Philosophie des Geldes (1900), 1958® Zur Philosophie der Kunst 1922 Philosophie der Mode 1905 Philosophische Kultur (1911), 19192 Die Religion 1906 Rembrandt (1916), 13.-15. Taus. 1925 Rembrandtstudien (1914/15), 1953 Schopenhauer und Nietzsche 1907 Schulpädagogik 1922 Soziologie (1908), 19685 Aufsatz: Psychologische und ethnologische Studien über Musik 1882 Dissertation: Das Wesen der Materie nach Kant's Physischer Monadologie 1881
Einleitung nicht für mich ist, der ist wider mich 1 — das gilt für meine Sinnesart gerade nur zur Hälfte. Wider mich ist nur der Gleichgültige, den die letzten Fragen, für die ich lebe, weder zu einem Für noch zu einem Wider veranlassen. Wer aber in positivem Sinne wider mich ist, wer sich in die Ebene begibt, in der ich lebe und nun innerhalb ihrer mich bekämpft, der ist im höchsten Sinne für mich." mWer
G. Simmel (Frg 46) „Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst anzugreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht." G. W. F. Hegel (43), Werke 6, S. 250
I n d e r S i m m e l f o r s c h u n g l ä ß t sich nach d e r E i n s c h ä t z u n g P e t e r - E r n s t Schnabels n e u e r d i n g s eine T e n d e n z feststellen, „ d i e die B e z e i c h n u n g Renaissance v e r d i e n t . . . Diese W i e d e r b e l e b u n g b e g i n n t sehr z ö g e r n d m i t d e r F o r d e r u n g nach wissenschaftshistorischer G e r e c h t i g k e i t " 1 . L a n ge Z e i t w a r S i m m e l , w e n n auch n i c h t i n v ö l l i g e Vergessenheit geraten, so doch, u m e i n e n A u s s p r u c h E r i c h P r z y w a r a s z u gebrauchen, e i n e r d e r B r u n n e n , „ a u s d e n e n m a n g e h e i m schöpft, ohne G e f a h r z u l a u f e n , daß e i n e r diese B r u n n e n e n t d e c k t " 2 . D i e sich j e t z t v o r s i c h t i g a n b a h n e n d e 1 Schnabel (86), S. 7. Auffallend ist die parallel zur „Simmel-Renaissance" verlaufende,,,Rehabilitierung' Diltheys", vgl. Karol Sauerland (83), S. 170 A n merkung 4. 2 E. Przywara, „In und Gegen". Stellungnahmen zur Zeit, Nürnberg 1955, S. 35; auszugsweise abgedruckt in: BdD, S. 224. Der mit den Initialen G. K . zeichnende Verfasser des Vorworts zu einem jüngst erschienenen Sammelband (12), der als Leitthema die Verflechtung von Ästhetik und Soziologie bei Simmel aufgreift, charakterisiert Simmel als „einen Souffleur, als Mann hinter dem Vorhang" (S. I X ) . Vgl. auch Hans Barths (12) Bemerkung, daß er immer wieder auf Autoren stoße, die Simmelsche Gedanken aussprechen, ohne den Namen Simmel zu nennen (S. 276). Dieses wirkungsgeschichtliche Schicksal hat Simmel bekanntlich selbst vorausgesehen: „Ich weiß, daß ich ohne geistigen Erben sterben werde (und es ist gut so). Meine Hinterlassenschaft ist wie eine in barem Gelde, das an viele Erben verteilt wird, und jeder setzt sein Teil in irgend einen Erwerb um, der seiner Natur entspricht: dem die Provenienz aus jener Hinterlassenschaft nicht anzusehen ist" (Frg 1).
12
Einleitung
W i e d e r e n t d e c k u n g u n d W i e d e r b e l e b u n g S i m m e i s ist nach w i e v o r ü b e r schattet v o n d e r i n d e n z w a n z i g e r J a h r e n dieses J a h r h u n d e r t s e n t w i c k e l t e n k r i t i s c h - d i s t a n z i e r t e n H a l t u n g z u r L e b e n s p h i l o s o p h i e , als der e n V e r t r e t e r u n t e r a n d e r e n auch S i m m e l g i l t . D i e A b k e h r v o n d e r Lebensphilosophie h i n g m i t der Erschütterung durch den Ersten W e l t k r i e g (1914—18) u n d d e m wachsenden E i n f l u ß d e r E x i s t e n z p h i l o s o p h i e zusammen. B e i d e F a k t o r e n h a b e n z u r r i g o r o s e n A b w e r t u n g d e r L e b e n s philosophie beigetragen3. H i n z u k o m m t die i n den fünfziger Jahren m i t G e o r g L u k â c s einsetzende m a r x i s t i s c h e K r i t i k a n d e r L e b e n s p h i l o sophie 4 . G e g e n ü b e r dieser b i s i n unsere T a g e f o r t d a u e r n d e n K o n t r o v e r s e * Man hielt die Lebensphilosophie, wie Otto Friedrich Bollnow ausführt, „für eine endgültig überwundene Angelegenheit, und eine gewisse Verachtung der Lebensphilosophie gehörte weithin zum guten Ton" („Die Lebensphilosophie", Berlin/Göttingen/Heidelberg 1958, S. 1). Den Verfall des Ansehens der Lebensphilosophie und das schwindende I n teresse an ihr in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beschreibt Frithjof Rodi als „fast gewaltsame... Abwertung einer Philosophie, deren Bedeutung ganz sehen zu lernen man gerade erst im Begriff stand, deren Verbindung mit einer als abgeklungen empfundenen Zeitstimmung man jedoch deutlich zu spüren glaubte" („Morphologie und Hermeneutik". Zur Methode von Diltheys Ästhetik, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1969, S. 13). 4 Als Aufgabe seines „Die Zerstörung der Vernunft" betitelten, 1954 erstmals im Druck erschienenen Buches nennt Lukâcs (70) die Herausarbeitung der Hauptlinien der Geschichte des deutschen Irrationalismus mit dem Ziel, das Einmünden der irrationalistischen Philosophie in die „nationalsozialistische Weltanschauung" als gesellschaftlich-geschichtlich bedingte Notwendigkeit zu erweisen. I m Rahmen dieser Aufgabenstellung vertritt Lukâcs die Auffassung, daß die Lebensphilosophie und als Repräsentant der Lebensphilosophie in der Vorkriegszeit: Simmel, wenn auch nicht als unmittelbarer und bewußter geistiger Vorläufer, so doch mittelbar, durch seine Beteiligung an der Schaffung einer philosophischen Atmosphäre, die durch „ein Zersetzen des Vertrauens zu Verstand und Vernunft, eine Zerstörung des Glaubens an den Fortschritt, eine Leichtgläubigkeit gegenüber Irrationalismus, Mythos und Mystik" (S. 363) gekennzeichnet ist, die Entwicklung zum deutschen Faschismus mitverantwortet. Hans-Joachim Lieber hat die von Lukâcs erarbeitete marxistische Kritik an der Lebensphilosophie fortgeführt („Die deutsche Lebensphilosophie und ihre Folgen", in: Universitätstage 1966. Nationalsozialismus und die deutsche Universität, Veröffentlichungen der Freien Universität Berlin 1966, S. 92—108; vgl. dazu die allerdings auf Dilthey beschränkte Replik F. Rodis: „Die Lebensphilosophie und die Folgen", Zu zwei Aufsätzen von Hans-Joachim Lieber, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Band 21, 1967, S. 600—612; sowie die auf Simmel Bezug nehmende Replik M. Landmanns, in: IndG, S. 12—15). I m Zusammenhang mit dieser noch keineswegs zu einem Abschluß gekommenen Auseinandersetzung ist nicht uninteressant, daß P. Gorsen (37) gerade in Theodor W. Adorno, der i m übrigen mit Kritik an Simmel nicht gespart hat (vgl. zum Beispiel Adornos (3) Gegenüberstellung zweier Texte von Simmel und Bloch — M. Landmann hat hierauf eingehender repliziert „Georg Simmel als Prügelknabe", in: Philosophische Rundschau, 14. Jg., S. 267—274) — oder Adornos und Jaerischs (6) Stellungnahme zu Simmeis Abhandlung über den Streit) gleichwohl, neben Max Horkheimer, „einen aufgeklärten Verteidiger der von materialistischem und positivistischem Pamphletismus mißhandelten Philosophie Bergsons und Simmeis (fand). I h r asozialer, als aristokratisch geschmähter Irrationalismus ist ein Moment des dialektischen
Einleitung
um die Lebensphilosophie und einzelner ihrer Vertreter ist die vorliegende Untersuchung, wie die beiden vorangestellten Zitate anzuzeigen versuchen, von dem Bemühen geleitet, sich — auf dem Wege zu einer nicht von außen kommenden, sondern „wahrhaften Widerlegung" — zunächst i n die Ebene zu begeben, i n der Simmel lebt oder, m i t den Worten Hegels, i n die K r a f t des Gegners einzugehen und sich i n den Umkreis seiner Stärke zu stellen. Den Höhepunkt und reifsten Ausdruck seines geistigen Schaffens erblickt Simmel i n seinem metaphysischen Spätwerk. Hinweise hierauf finden sich i n Simmeis Briefen bereits ab etwa 1910. So heißt es i n einem Brief an Heinrich Rickert vom 9. V I I . 1910: „Ich stecke tief i n wunderlichen Problemen u. b i n selbst neugierig, wohin sie mich führen werden" (BdD 107). A m 9.12.1912 äußert sich Simmel brieflich gegenüber Marianne Weber: „ F ü r mich selbst ist das Buch" (gemeint ist sein „Goethe") „eine A r t Abschluß, eine letzte Verwendung der bisherigen Begriffsbildungen. Ich setze nun die Segel um und suche ein unbetretenes Land" (BdD 132). Zwei Jahre später, am 22.4.1914, vermerkt Simmel i n einem Brief an den Grafen Hermann Keyserling: „Alles dies ist Anlauf und Atemschöpfen, bevor ich den großen Sprung wage. Aber ich selbst weiß nicht, ob ich ihn wirklich wagen werde — und ob er mich selbst i n diesem Falle i n das ,andere Ufer' tragen w i r d " (IndG 242). I n einer brieflichen Mitteilung an denselben Adressaten, datiert vom 25. 3.1918, stellt Simmel schließlich fest: „Jetzt b i n ich i n sehr schwierigen ethischen und metaphysischen Untersuchungen, die noch nach dieser Seite hin, wenn ich sie noch vollenden kann, mein Testament sein sollen. Ich b i n nun i n dem Alter, wo die Ernte eingebracht werden muß und kein Hinausschieben mehr erlaubt ist" (IndG 244). Das metaphysische Spätwerk Simmeis gipfelt i n seinem 1918 unter dem Titel „Lebensanschauung" erschienenen Buch. Simmel hat die vier metaphysischen Kapitel dieses Buches i n der vollen Kenntnis seiner unheilbaren Erkrankung zum Abschluß gebracht. Diese Tatsache und seine eigenen, wenige Wochen vor seinem Tod brieflich an den Grafen Hermann Keyserling gerichteten Worte legen von der Bedeutung Zeugnis ab, die Simmel selbst seinem letzten Buch zugemessen hat. I n dem Brief vom 6. V I I I . 1918 schreibt Simmel: „Es geht m i r gesundheitlich sehr schlecht; meine geistige Energie ist infolgedessen auch erheblich herabgesetzt, und das Wenige davon, über das ich augenDenkens und als solches gegen den Einspruch der Standpunktphilosophie, gleich welcher Seite, in Schutz zu nehmen. Die fachphilosophisch und pädagogisch unterdrückte Theorie des lebensphilosophischen Irrationalismus im gegenwärtigen gesamten Nachkriegsdeutschland ist ein Beweis nur für dessen ungebändigte theoretische und praktische Vergangenheit. Sie lebt als Trauma des Faschismus in der ängstlichen Kontrolle des Denkens über seine falschen Einfälle f o r t . . ( S . 12).
14
Einleitung
blicklich verfüge, muß ich zusammenhalten, u m ein Buch abzuschließen, an dem m i r sehr viel liegt, da es meines bißchen Weisheit letzten Schluß darstellt" (IndG 251). A m 26. September 1918 ist Simmel, wie er i n Übereinstimmung m i t Rainer Maria Rilke gelehrt hat, seinen „eignen Tod" gestorben 5 . Die Interpretation von Grundgedanken des metaphysischen Spätwerks Simmeis erfolgt — ausgehend von der Proklamation des „Neuhegelianismus" durch W. Windelband i m Jahr 1910, dem gleichen Jahr, i n dem auch Simmeis Aufsatz „ Z u r Metaphysik des Todes" veröffentlicht worden ist — aus der Perspektive eines bis heute lebendigen Hegelianismus. Die hegelianisierende Deutung der Philosophie Simmeis w i r d eingeleitet durch die Feststellung von zunächst bedeutsamen Trennungslinien zwischen Simmel und Hegel i n beider Auffassung zu Sprache, Begriff und System (Kapitel II). Die Distanz, die i n bezug auf diese Gegenstände zwischen beiden Denkern sichtbar wird, hat den gleichwohl positiven Ertrag einer differenzierteren Betrachtung nicht nur der Sprachphilosophie Simmeis, sondern auch seiner Darlegungen zum Verhältnis von Begriff und Leben und der Gründe, die i h n zur Ablehnung der Form des Systems zugunsten von Fragment und Essay bewogen haben. Es ist die zentrale These des IV. Kapitels der vorliegenden Arbeit, daß indessen die Nähe Simmeis zu Hegel darin besteht, daß Simmel m i t seinem absoluten Begriff des Lebens — dargestellt an Hand seiner Lehre vom Selbstbewußtsein und seiner Idee von der Todesverflochtenheit des Lebens — dasjenige noch einmal zu denken versucht, was Hegel i n seinen Frühschriften als die Bestimmung des Lebens formuliert hat: die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung zu sein. Eine Skizze dieses frühen Hegeischen Lebensbegriffs (Kapitel III) geht der Explikation der Hauptthese voraus. Kritische Positionen gegenüber dem Versuch einer hegelianisierenden Deutung der Simmelschen Lehre vom absoluten Begriff des Lebens lassen sich bereits i n Jonas Cohns „Theorie der Dialektik" aus dem Jahr 19236, i n A r t h u r Lieberts grundlegendem ersten Band seines 1929 5 I n seinem vorletzten Brief an Keyserling vom 6.9.1918, der, mit den Worten Rudolf Malters, „das vielleicht ergreifendste Zeugnis des Gleichmuts (enthält), mit dem Simmel, der den Tod reflektierend dem Leben zu integrieren suchte, lebend sich dem Unabänderlichen fügte" („Die Briefe Georg Simmeis an den Grafen Hermann Keyserling", in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Band 24, 1970, S. 303), bekennt Simmel: „Es hat keinen Sinn länger zu verheimlichen, daß ich ein totkranker Mann bin und daß meine körperlichen und geistigen Kräfte vielleicht noch einige Monate, hoffentlich aber nur noch einige Wochen vorhalten werden. Aber ich gehe mit dem Bewußtsein, daß mein Leben, nach mittleren Maaßen gemessen, gerundet und gut abgeschlossen ist; ich gehe ohne Hader mit dem Geschick und ohne Abschiedswehmut, sondern mit dem Bewußtsein, daß es so gut und der richtige Augenblick ist" (IndG 251).
Einleitung
erschienenen Buches „Geist und Welt der Dialektik" 7 und Siegfried Mareks zweibändigem, 1929 und 1931 publizierten Werk über „Die Dialektik i n der Philosophie der Gegenwart" 8 ausmachen. Aus den letzten Jahren wären als Gegenthesen zu unserer Auslegung des absoluten Lebensbegriffs i n Simmeis Philosophie Isadora Bauers Bestimmung der Simmelschen Dialektik als einer „antithetischen Dialektik" 9 anzuführen; ebenso müßte Michael Landmanns D i k t u m vom Simmelschen • J. Cohn (14) würdigt Simmel als „den Mann, der in tiefbewegter und ausgedehnter Lebensarbeit den Weg von relativistischer Skepsis zu positiver Dialektik gegangen i s t . . . Er hat kein System, auch kein dialektisches, hinterlassen, er hat auch nicht über Dialektik geschrieben; aber Aussprüche wie der, daß das Leben nicht nur mehr Leben, sondern mehr als Leben will, sind, trotz der halb mythischen Ausdrucksweise, im tiefsten Sinne dialektisch" (S. 51). Vgl. auch den Cohnschen Bericht über Simmel im „Deutsche(n) Bio· graphische(n) Jahrbuch", hrsg. vom Verbände der deutschen Akademien, Überleitungsband I I : 1917—1920, Berlin und Leipzig 1928, S. 326—333; sowie den Artikel von Cohn über „Georg Simmeis Lebensphilosophie", in: Badische Schulzeitung, 66. Jg., v. 22. September 1928, S. 615—618. I n unserem Zusammenhang wäre Cohns Postulat von der uni- und bipolaren Dialektik des Lebens (S. 283) und seine Gedanken über das Absolute (S. 339—352) einer eingehenden Auseinandersetzung wert; letzteres etwa in Verbindung mit einem Satz aus seiner Selbstdarstellung, wonach ihm Dialektik nicht „ein Philosophieren im Absoluten, sondern ein Philosophieren zum Absoluten hin" bedeute („Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", hrsg. v. R. Schmidt, Band I I , 19232, S. 19), 7 A. Liebert (621) vertritt die Auffassung, daß Simmeis Wendung zur Dialektik „die Kennzeichen einer rein methaphysischen Konstruktion" (S. 410) trage. Ansatz- und Wurzelpunkt seines metaphysischen Lebensbegriffs sei „eine dialektisch-dualistische Deutung des Lebensgrundes und der Weltstellung des Menschen" (S. 411). 8 S. Mareks (72 I I ) kritische Position zu Simmeis absolutem Lebensbegriif ist in dem folgenden Satz zusammengefaßt: „Die Simmelsche Metaphysik des Lebens teilt mit der spekulativen Dialektik die Idee der Ubergegensätzlichkeit. Sie bleibt von ihr durch die Komponente der Unmittelbarkeit geschieden" (S. 120). 9 Simmeis antithetische Dialektik läßt I. Bauer (8) zufolge „die Gegensätze in ihrer tragischen Polarität bestehen; Thesis und Antithesis werden lediglich von dem »Dritten 4 als der Synthesis umklammert". Beim Vergleich mit Hegels Dialektik erweise sich dagegen, „daß bei diesem Philosophen Thesis und Antithesis in der Synthesis aufgehoben werden (S. 73 Anm. 2). Es mag dahin gestellt bleiben, ob diese Formel von der Aufhebung der Thesis und Antithesis in der Synthesis die Hegeische Dialektik angemessen repräsentiert. Immerhin liegt die Gefahr nahe, die Synthese als bloße Addition von These und Antithese mißzuverstehen, so, als sei in der Synthese nichts mehr von der Antithese enthalten. Es ist bezeichnend, daß Bauer (8) dem absoluten Leben in diesem Zusammenhang das scholastische Axiom des bonum zuspricht, das malum aber als bloße „Defizienz" und „Privation" des ens bonum (S. 73) abtut. Nun hat Simmel aber bereits 1910 vermerkt, daß „das Negative kein bloßer Schatten über unseren Werten ist, keine Gegenrichtung, die ihrem Sinne nach von diesen schlechthin wegführt; sondern aus ihm selbst entfaltet sich wie aus einer positiven Energie sein Gegenteil. Nur das Dunkle und Böse kann, gleichsam in sich selbst umschlagend, das Lichteste und Wertvollste erzeugen, das uns erreichbar ist" (BT 250). Und in seiner „Lebensanschauung" exponiert Simmel einen weitesten Begriff des G u t e n . . . , der Gutes und Böses in deren relativem Sinne einschließt" (Leb 20).
16
Einleitung
P r i n z i p e i n e r „ D i a l e k t i k ohne V e r s ö h n u n g " 1 0 g e n a n n t w e r d e n . E r n s t M i c h a e l L a n g e h a t sich diese F o r m e l z u e i g e n gemacht u n d d u r c h d i e F e s t s t e l l u n g v o n d e r z u r ,,,aszendente(n)' D i a l e k t i k " 1 1 v e r k ü m m e r t e n D i a l e k t i k d e r Selbsttranszendenz des Lebens ergänzt. Schließlich w ä r e v o r a l l e m P e t e r Gorsens These v o n d e r n u r „ a b s t r a k t e n V e r s ö h n u n g " der Transzendenz des L e b e n s m i t d e r F o l g e eines l e t z t l i c h e n R ü c k f a l l s h i n t e r Hegel12 zu notieren. Es m a g a u f d e n e r s t e n B l i c k b e f r e m d e n , v o m h e g e l i a n i s i e r e n d e n D e n k e n i n d e r P h i l o s o p h i e S i m m e i s , w i e sie i n seinem m e t a p h y s i s c h e n S p ä t w e r k z u r Sprache k o m m t , Rückschlüsse a u f seine Soziologie z u ziehen, w e r d e n doch m e i s t d i e soziologisch o r i e n t i e r t e n f r ü h e n S c h r i f t e n S i m m e i s d e r J a h r e 1890 b i s 1900 b z w . 1908 v o n d e n p r i m ä r a n p h i l o s o p h i schen bis h i n z u m e t a p h y s i s c h e n F r a g e n ausgerichteten s p ä t e n S c h r i f t e n S i m m e i s d e r J a h r e 1910 b i s 1918 g e t r e n n t . D e m g e g e n ü b e r w i r d h i e r a n e i n e r i m B e g r i f f des L e b e n s z e n t r i e r t e n E i n h e i t d e r gesamten S i m melschen D e n k b e m ü h u n g e n festgehalten. S i m m e l selbst h a t e i n e n Z u s a m m e n h a n g zwischen seiner M e t a p h y s i k u n d Soziologie d a r i n gesehen, daß sich i h m d e r W e c h s e l w i r k u n g s b e g r i f f v o n dessen soziologischer B e d e u t u n g aus z u e i n e m s c h l e c h t h i n u m f a s s e n d e n m e t a p h y s i s c h e n 10 Georg Simmel ist Michael Landmann, wie sich aus dessen „Materialien zur Selbstdarstellung" (in: „Der Mensch als geschichtliches Wesen". Anthropologie und Historie, Festschrift für M. Landmann zum 60. Geburtstag, hrsg. v. K.-J. Grundner, P. Krausser, H. Weiss, Stuttgart 1974) entnehmen läßt, früh ins Blickfeld getreten. Landmann schätzt den befruchtenden Einfluß, den Simmel auf ihn ausgeübt hat, wie folgt ein: „Simmel bestärkte mich in der Verbindung von Philosophie und Soziologie, in der Einbeziehimg auch religiöser und künstlerischer Phänomene, in polarisierender »Typologie4 in der Thematisierimg des »Individuums' und — wie später Ernst Cassirer — der ,Kultur' als ganzer" (S. 268). Landmanns These eines, dem Simmelschen Denken inhärenten Prinzips: einer „Dialektik ohne Versöhnung" (IndG, S. 16) kann bis zu seiner ersten Buchveröffentlichung im Jahr 1949 zurückverfolgt werden. Als das gerade Simmel von Hegel unterscheidende Moderne sieht es Landmann dort an, daß sich „die irrationalen Diskrepanzen nirgends schließen" („Problematik". Nichtwissen und Wissensverlangen im philosophischen Bewußtsein, Göttingen 1949, S. 379). Vierzehn Jahre später rechnet es Landmann (57) zum „Ruhm Simmeis, zu den zählbar Wenigen zu gehören, die den M u t und die Redlichkeit besessen haben, sich Seinsantinomien einzugestehen und sie in ihrer Unüberbrückbarkeit stehen zu lassen. Dies gilt nicht nur für seine Ethik, sondern auch für seine... Lebens- und Kulturphilosophie" (S. 228). Als Beleg für seine These von der „Dialektik ohne Versöhnung" zieht Landmann unter anderem ein Zitat Simmeis heran, in dem dieser zu der Schlußfolgerung gelangt: „Es ist so genau umgekehrt wie der monistische Optimismus es meint: daß man die Gegensätze nur tief genug hinunter zu verfolgen hätte, um zu ihrer Versöhnung zu kommen" (vgl. IndG, S. 16/17). Landmann verkürzt aber dieses Zitat um den doch recht nachdenklich klingenden Nachsatz Simmeis: „Oder sollte dies in ihrem inhaltlich-objektiven Sinne gelten, für ihren subjektiv gelebten dagegen das andere?" (Frg 16). 11 E. M. Lange (58), S. 48. 12 P. Gorsen (37), S. 176—184.
Einleitung
Prinzip aufgewachsen habe (BdD 9). Das V. Kapitel der vorliegenden Arbeit befaßt sich daher m i t der Analyse wesentlicher Momente des Begriffs der Wechselwirkung i m Ausgang vom gesellschaftlichen Leben. Nun ist aber nicht die Fülle des gesellschaftlichen Lebens m i t all seinen einzelnen, bestimmten Formen der Wechselwirkung Gegenstand der Simmelschen „reinen oder formalen" Soziologie, sondern einzig und allein die Formen der Wechselwirkung als solche. I n den 1917 publizierten „Grundfragen der Soziologie" führt Simmel als Beispiel seiner reinen oder formalen Soziologie die Geselligkeit an. Diese Konzeption von Geselligkeit w i r d abschließend, auch hier i n dem leitenden Bemühen, sich zunächst i n die Ebene zu begeben, i n der Simmel lebt, gedanklich nachzuvollziehen versucht (Kapitel VI).
Kapitel
I
Die Anfänge eines erneuten Interesses an Hegel und Zuordnungen Simmeis zum „Neuhegelianismus" Wider Erwarten setzte i n den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts eine Erneuerung der Philosophie Hegels ein. Dieser sog. Neuhegelianismus hätte unsere Aufmerksamkeit nicht erregt, wäre nicht zu dieser Zeit die Zuordnung Georg Simmeis zu Hegel aktenkundig geworden. Dieses Datum erweckt den vorschnellen Eindruck, als hätte Simmel dem philosophischen Denken Hegels zuvor fremd gegenüber gestanden. Dies war nicht der Fall. Der Aufstellung seiner Vorlesungen und Übungen, die er an den Universitäten Berlin und Straßburg gehalten hat (BdD 345—349), läßt sich entnehmen, daß Simmel m i t Beginn des Wintersemesters 1893/94 i n regelmäßigen Abständen Geschichte der neueren und neuesten Philosophie vorgetragen hat. A l l e i n zehnmal findet sich der Titel eines Kollegs über „Philosophie des 19. Jahrhunderts von Fichte bis Nietzsche" 1 . Auch i n seinem publizierten Gesamtwerk läßt sich der Name Hegel bereits i n Simmeis ethischer Frühschrift der „Einleitung i n die Moralwissenschaft" aus den Jahren 1892—1893 nachweisen (Mor I 318; Mor I I 75, 195, 334). Von einem aus der „eigenen Gedankenbewegung" (HdP 6) Simmeis hervorgetriebenen Durchbruch zu philosophischen Grundgedanken Hegels kann jedoch erst ab 1910 ernstlich die Rede sein. I n diesem Jahr erschien das Bändchen „Hauptprobleme der Philosophie" i m Druck. Simmel selbst kommentierte diese Abhandlung i n einem Brief an Edmund Husserl vom 19. II. 1911 folgendermaßen: „Verehrter Freund, ich sende Ihnen gleichzeitig ein neues Büchelchen von mir, das Ihnen freilich nicht viel Neues sagen w i r d (außer vielleicht i n der Auffassung des Grundmotivs der Platonischen Ideenlehre, der Substanz Spinozas, auch 1
Richard Kroner berichtet, welche Gegenstände in diesem Kolleg (1902/03) im einzelnen behandelt worden sind. „So entwickelte er damals im Kolleg die Gestalten von Fichte und Schelling, Schleiermacher und Hegel, Schopenhauer und Herbart und endete mit Nietzsche" (In: BdD, S. 228). Simmel hat den Titel dieser Vorlesung im Wortlaut teilweise modifiziert und einige Male inhaltlich (um Maeterlinck und Bergson bzw. Kant) erweitert.
1. Die „Auferstehung Hegels" als Vollendung des Neukantianismus
19
etwa der Darstellung H e g e l s ) . . ( B d D 86). I m gleichen Jahr wurde Simmeis Aufsatz „ Z u r Metaphysik des Todes" veröffentlicht. Die i n diesem Aufsatz auf Hegel Bezug nehmenden Passagen hat Simmel i n seinem acht Jahre später gedruckten metaphysischen Spätwerk „Lebensanschauung" wortgetreu übernommen. Diese deutlichsten Dokumente eines 1910 erreichten Simmelschen Zugangs zu Hegel traf auf Bestrebungen dieser Zeit, die Hegeische Philosophie neu zu beleben. Es lag daher nahe, einzelnen „Fäden" dieses geistesgeschichtlichen „Gewebes" nachzugehen.
1. Die „Auferstehung Hegels" als Vollendung des Neukantianismus I n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte die Philosophie Hegels i n Deutschland „jahrzehntelang die Rolle des Prügelknaben und repräsentierte vom Standpunkt der Erfahrungswissenschaften aus de(n) Inbegriff verwerflicher Spekulation" 2 . Dieser Tiefstand des Ansehens der Hegeischen Philosophie spiegelte sich i n der Bemerkung K a r l Joëls von den „Tagen tiefster Verachtung Hegels" ebenso wie i n dem H i n weis Johannes Volkelts auf eine Zeit, „ w o man fürchten mußte, verdächtig oder lächerlich zu werden, wenn man Fichte oder gar Hegel zu den wahrhaft Großen i m Reiche der Philosophie zählte 3 ." Wilhelm W i n delband (1848—1915) gedachte dieses Abschnitts der Philosophiegeschichte als Preisgabe Hegels an Verachtung, Vergessenheit und Verhöhnung, zugleich formulierte er aber i n seiner berühmt gewordenen Festrede i n der Sitzung der Gesamtakademie der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 25. A p r i l 1910 die Tatsache der „Erneuerung des Hegelianismus". Die „Auferstehung Hegels" i n den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bedeutete i n der Tat „mehr als eine Mode des Tages" 4 . Rund sechzig Jahre nach Windelbands Proklamation des Neuhegelianismus vermerkt Josef Derbolav heute ein „wenn auch kritisch distanziertes, so doch vielseitiges und lebendiges Verhältnis unserer Zeit zu Hegel 5 ." 2
Hans-Georg Gadamer (29), S. 49. „Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg.: R. Schmidt, Erster Band, Leipzig 1921, S. 75 und S. 221. 4 Wilhelm Windelband (106), S. 5. 5 Josef Derbolav (18), S. 291. War die philosophische Lehre Hegels bald nach seinem Tod in Mißkredit geraten und ignoriert worden, so glaubt Derbolav feststellen zu können, daß heute wiederum die Anfänge des Neuhegelianismus, die „alten Zugänge zu Hegel" ihrerseits nicht nur in den Hintergrund gedrängt, sondern darüberhinaus „irgendwie vergessen und verschüttet zu sein scheinen" (S. 270). Der Verfasser erklärt diese philosophiegeschichtliche Amnesie mit der dreifachen Überholung der philosophischen Grund3
2*
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Kap. I : Erneutes Hegelinteresse und Zuordnungen Simmeis
Trotz aller Mißachtung und Ächtung, i n die die Philosophie Hegels damals verfallen war, geriet Hegel jedoch nie i n totale Vergessenheit, vielmehr bewies sich die Macht seiner Philosophie noch i n der Bemächtigung auch seiner entschiedensten Kritiker. U m so dringlicher stellt sich die Frage, was denn die Betonung des „Neuen" i n der „Erneuerung des Hegelianismus" und des „Neuhegelianismus" rechtfertige, gestattet doch die ausdrückliche und bewußte Besinnung auf die Philosophie Hegels bestenfalls eine „Rückkehr zu Hegel" und auch dies nach dem Zusammenbruch des Hegeischen Systems i n der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nahtlos. Da von einer Behandlung der Neubelebung Hegels i m Ausland abgesehen werden soll®, beginnen w i r mit der inhaltlichen Prüfung der Rede dessen, der den Neuhegelianismus i n Deutschland offiziell eingeleitet hat. Der „Fortschritt der neuesten Philosophie", so bestimmt Windelband, liegt i n dem Fortgang des „Neukantianismus zum Neuhegelianismus" 7 . Sachliche Notwendigkeit erhalte dieser Prozeß durch die zunächst einseitig erkenntnistheoretische Erneuerung der Lehre Kants, die erst allmählich den Charakter einer umfassenden Kulturphilosophie angenommen habe. Um nun „aus dem historischen Kosmos, wie ihn die Erfahrung der Kulturwissenschaften darbietet, die Prinzipien der Vernunft herauszuarbeiten", aus diesem Grund „ist die Philosophie von heute wieder i m Begriff, zu der Hegeischen Methode zurückzukehren". Die „Erneuerung des Hegelianismus" dient der historischen Grundlegung der Kantischen Vernunftkritik, und die Rückkehr zu der Hegeischen Methode erweist sich als halbherzig: als Absage an Hegels Dialektik als Ganzes. „Die dialektische Methode h ä n g t . . . auf das Genaueste m i t der metaphysischen Hypostasierung der Ideen zusammen, und so sehr w i r die Feinfühligkeit und den bohrenden Tiefsinn, vor allem aber die Zähigkeit der begrifflichen Arbeit bewundern mögen, mit der Hegel, namentlich i n dem Filigranwerk seiner Logik, einzelne Zusammenhänge genial aufgedeckt hat, so wenig kann doch solche Dialektik als Ganzes wieder die Methode der Philosophie bilden 8 ." lagen der zwanziger und dreißiger Jahre durch die Traditionskritik Martin Heideggers, die Kritik des Neopositivismus und der analytischen Philosophie und die Ideologiekritik des Marxismus und der Wissenschaftssoziologie. 6 Zu erinnern wäre beispielsweise nur an das bereits 1865 publizierte Werk des Engländers J. H. Stirling „The secret of Hegel" und an B. Croces 1907 veröffentlichte einflußreiche Unterscheidung eines „toten" und „lebendigen" Teiles der Hegeischen Philosophie (In der deutschen Ubersetzung: Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, Heidelberg 1909). 7 Windelband (106), S. 8. 8 (106), S. 11 und S. 15. Für Georg Lukâcs (70) wird die Ablehnung der dialektischen Methode zum „durchlaufenden Zug der ganzen Erneuerung des Hegelianismus" und veranlaßt ihn zu der harten Bemerkung, „daß Hegel von diesen seinen Erneuerern ebenso als ,toter Hund' behandelt wird wie seinerzeit von seinen Verächtern" (S. 447 und S. 497).
1. Die „Auferstehung Hegels" als Vollendung des Neukantianismus
21
I m gleichen J a h r , 1910, erscheint v o n J u l i u s E b b i n g h a u s , e i n e m Schül e r W i n d e l b a n d s , eine k u r z e A b h a n d l u n g m i t d e m T i t e l „ R e l a t i v e r u n d absoluter Idealismus" u n d d e m erläuternden U n t e r t i t e l : Historischsystematische U n t e r s u c h u n g ü b e r d e n W e g v o n K a n t z u Hegel. V e r steht E b b i n g h a u s seine A u s f ü h r u n g e n als „ P r o d u k t jenes H e g e l i a n i s m u s " 9 u n d d e u t e t seine E n t s c h e i d u n g z u g u n s t e n des „ a b s o l u t e n I d e a l i s m u s " i m S i n n e Hegels eine u n t e r s c h w e l l i g e D i s t a n z i e r u n g z u r K a n t i schen P h i l o s o p h i e an, so g e h t dieser A n s a t z eines Weges v o n K a n t zu Hegel, d e r z u m i n d e s t die v o n H e g e l a n K a n t g e ü b t e K r i t i k n a c h v o l l zöge, i n d e r f o l g e n d e n Z e i t w i e d e r v e r l o r e n . Das v o n H e r m a n n G l o c k n e r als das „klassische W e r k des N e u h e g e l i a n i s m u s " 1 0 v o r g e s t e l l t e z w e i bändige W e r k v o n Richard K r o n e r macht bereits i m T i t e l auf die V e r l a g e r u n g d e r G e w i c h t e a u f m e r k s a m : „ V o n K a n t bis H e g e l " 1 1 b e n e n n t j e n e E n d h a f t i g k e i t d e r p h i l o s o p h i s c h e n E n t w i c k l u n g , die H e g e l i n sein e r „ E r n e u e r u n g " n u r als V o l l e n d u n g e i n e r f r e i l i c h b e r e i t s n e u k a n t i s c h modifizierten Philosophie K a n t s begriffen hat12. Lassen sich in unserer Zeit grundsätzlich voneinander geschiedene Positionen der Erneuerung Hegels abgrenzen, so trennt Oskar Negt (76) beispielsweise die bürgerliche Hegel-Renaissance von der vom Sowjet-Marxismus geprägten Interpretation Hegels und der dialektisch-revolutionären Rezeption des Hegeischen Denkens in der intellektuellen Linksopposition des Marxismus, so kann von einer eingehenden Kenntnisnahme und Auseinandersetzung mit dem Hegelinteresse marxistischer Denker bei den Verkündern des (bürgerlichen) Neuhegelianismus kaum die Rede sein. Fritz Heinemann (49) ist einer der Wenigen, der immerhin das „außerordentliche... Interesse" an Georg Lukâcs und seinem Werk „Geschichte und Klassenbewußtsein" „als Repräsentanten des kommunistischen, wenn auch nicht offiziellen Hegelianismus" bekundet (S. 104). So mutet es auch keineswegs widersinnig an, wenn K a r l Löwith (67) in seiner Beurteilung der verschiedenen Stadien der Hegel-Renaissance zu der Auffassung gelangt, daß das Hegelinteresse unserer Zeit „nicht innerhalb und aus der Philosophie erwacht, sondern ihr von außen aufgedrängt worden (ist) : durch die erstmalige Veröffentlichung der philosophischen Frühschriften von Marx am Ende der zwanziger Jahre. Es ist paradoxerweise Marx beziehungsweise der Marxismus, der das Hegelstudium neu belebt hat". 9 Julius Ebbinghaus, „Relativer und absoluter Idealismus", Leipzig 1910, S.4. 10 Hermann Glockner (35), S. 185. 11 Richard Kroner, „Von Kant bis Hegel". Zwei Bände, Tübingen 1921 und 1924; vgl. auch seinen Hegel nahestehenden Entwurf einer Kulturphilosophie: „Die Selbstverwirklichung des Geistes". Prolegomena zur Kulturphilosophie, Tübingen 1928. 12 Deutlich heißt es bei Hermann Glockner: „Hegel, der Vollender der modernen, d. i. der Kantischen Philosophie, der Systematiker des Historismus, der den Sinn in der Geschichte zu sich selbst brachte". Und mit derselben Deutlichkeit schreibt er am Ende seines Aufsatzes: „Kant steht nicht im Gegensatz zu Hegel, sondern einfach vor ihm" („Krisen und Wandlungen in der Geschichte des Hegelianismus". Prolegomena zu einer künftigen Darstellung, in: Logos, Band X I I I , 1924/25, S. 341 und S. 353). Auch noch auf dem ersten Hegelkongreß 1930 fällt sein oft zitierter Satz, daß die Hegelfrage in Deutschland zunächst eine Kantfrage sei (Bericht über den Stand und die Auffassung der Hegeischen Philosophie in Deutschland, in:
2 2 K a p . I : Erneutes Hegelinteresse und Zuordnungen Simmeis
Konnte die m i t einer gewissen Begeisterung vorgetragene „Erneuerung des Hegelianismus" Anfang dieses Jahrhunderts ihrem philosophischen Anspruch einer wirklichen Aktualisierung des Hegeischen Denkens noch nicht gerecht werden, so gelang es der „neuhegelschen Bewegung" (Hervorhebung v. Verf.) auch nicht, den Rahmen des „literarischen und akademischen Betriebes" 13 zu sprengen und einen maßgeblichen öffentlichen Einfluß zu gewinnen. Windelbands Erweiterung des Neuhegelianismus zu einer allerdings rudimentär gebliebenen praktisch-politischen Bewegung weist auf eine „Erneuerung des Hegelianismus" aus Bedürfnissen hin, die aus „dem geistigen Gesamtzustand unserer Tage", einer „aufgeregten Zeit", einer „aufgeregten und leidenschaftlich zerrissenen geistigen Lage" und der „Sehnsucht der Zeit" nach „einem Gesamtsinn aller Wirklichkeit" hervorgingen 14 . Diese Bedürfnisse, die die Neubelebung des Hegelianismus motivierend begleitet haben, artikulieren sich i n dem „Hunger nach Weltanschauung". Es sind Hegels „entwicklungsfroher Optimismus", sein „Vertrauen i n (die) Macht der Vernunft", die „geistige Gesamtheit", die die Hegeische Lehre i n den Augen Windelbands geeignet erscheinen läßt, eine „Sättigung" der Weltanschauungsbedürfnisse zu erreichen. Abweisend und warnend dagegen ist seine Haltung gegenüber den „metaphysischen Ubereiligungen des alten Hegelianismus" wie überhaupt den „metaphysischen Neigungen des Hegelianismus" insgesamt 15 . Verhandlungen des ersten Hegelkongresses vom 22. bis 25. April 1930 im Haag, I, Hrsg.: B. Wigersma, Tübingen/Haarlem 1931, S. 79). Ein Jahr später erklärt Glockner (35) den Neukantianismus für beendet und als eine abgeschlossene und der Geschichte angehörende Epoche. „Der Neukantianismus gehört heute zu den meistgescholtenen philosophischen Erscheinungen der jüngeren Vergangenheit" (S. 173). Nach Karl Löwith (67) ist der Versuch zu einer Erneuerung Hegels in dieser Krise des Neukantianismus entstanden. Wie dann aber die Einleitung der „Erneuerung des Hegelianismus" gut zwanzig Jahre früher zu erklären ist, förmlich durch Windelband und inhaltlich — was noch zu erörtern sein wird — durch Wilhelm Dilthey, bleibt offen. 13 Windelband (106), S. 5—6. O. Negt (76) charakterisiert die Anfänge des Neuhegelianismus als „folgenlos gebliebene hegelianische Unterströmungen in der Universitätsphilosophie der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts (insbesondere in der des Neukantianismus)" und hebt den „grundsätzlich akademischen Charakter" auch der zeitlich später ausgebildeten Formen der bürgerlichen Hegel-Renaissance hervor (S. 9). 14 Windelband (106), S. 6, 7 und 15. Hubert Kiesewetter trennt die beginnende Erneuerung des Hegelianismus, wenn er auch „gewisse Überschneidungen" zugesteht, in einen „philosophischen Neuhegelianismus" und einen das ganze 19. Jahrhundert wirksamen, durch Hegels Machtstaatslehre vermittelten „politischen Hegelianismus". Erst nach dem 1. Weltkrieg verbinden sich beide Richtungen zu einem „philosophisch-politischen Parallelismus" mit dem Ziel, so Kiesewetters Interpretation, der Unterhöhlung der parlamentarischen Demokratie („Von Hegel zu Hitler". Eine Analyse der Hegeischen Machtstaatsideologie und der politischen Wirkungsgeschichte des Rechtshegelianismus, Hamburg 1974, S. 190—195 und S. 215—219). 15 Windelband (106), S. 7 und S. 15.
1. Die „Auferstehung Hegels" als Vollendung des Neukantianismus
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1920 markiert indessen der gleichlautende Buchtitel von Peter Wust die ausdrückliche „Auferstehung der Metaphysik" 1 6 . A u f dem zweiten Hegelkongreß 1931 i n Berlin stellte denn auch Richard Kroner fest: „ W i r fangen wieder an zu begreifen, dass Philosophie ihrem Wesen nach metaphysisch werden m u s s . . . " und identifizierte scheinbar unbefangen „diese wiedererwachte Sehnsucht nach Metaphysik" m i t einer „Wiederannäherung an die von Hegel gehegte Denkgesinnung". I n diesem „Zug zur Metaphysik" 1 7 bricht die bis heute ungelöste Problemat i k der Hegel-Renaissance auf: die Unwiederholbarkeit der metaphysischen Entscheidung Hegels, seiner Lehre vom absoluten Geist, und doch zugleich deren Unüberholbarkeit 1 8 . Einunddreißig Jahre nach der hoffnungsvoll begrüßten Rehabilitierung des Wortes Metaphysik macht Kroner keinen Hehl mehr aus der Unwiederbringlichkeit einer Denkbewegung, „die von dem abstrakten Sein bis zu dem konkreten absoluten Geist immer wachsend sich bereichert, so daß jede höhere Stufe alle vorigen i n sich einschließt und erst am Ende ihre volle Wahrheit erreicht". Trotz aller Hochschätzung und Bewunderung für die Intensität und Fruchtbarkeit des heutigen Hegel-Studiums, sieht Kroner keine Möglichkeit mehr, den „existenziellen Grund des dialektischen Idealismus" wiederzubeleben. Vielmehr bedürfe es keiner Täuschung mehr darüber, daß „der »absolute Geist 4 heute krank daniederliegt, wenn nicht bereits seine Agonie begonnen hat" 1 9 . 16 Peter Wust, „Die Auferstehung der Metaphysik" (1920), Gesammelte Werke, Erster Band, Münster 1963. 17 Richard Kroner, Rede zur Eröffnung des I I . Internationalen Hegelkongresses, in: Verhandlungen des zweiten Hegelkongresses vom 18. bis 21. Oktober in Berlin, I I , Hrsg.: B. Wigersma, Tübingen/Haarlem 1932, S. 6—7. 18 Hans-Georg Gadamer (29) legt diese Antinomie — ja nicht zufällig — in seiner Studie über „Hegel und Heidegger" philosophiegeschichtlich breiter illustriert dar. „In der Tat gehört es zu der geheimen Präsenz, die das Hegeische Denken über die Zeit seiner Vergessenheit hinaus auszeichnet, die Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfüllte, daß die Figur seines Denkens unüberholbar blieb. Das bestätigt sich nicht nur in der ausdrücklichen Rückbesinnung auf sein Denken, die vor allem in Italien, Holland und England, dann aber auch im Deutschland des 20. Jahrhunderts, in der Form des akademischen Neuhegelianismus ihre Pflege fand, oder auf der andern Seite durch den Umschlag der Philosophie in Politik oder durch die neomarxistische Ideologiekritik. Gewiß nahm Philosophie im Zeitalter nach Hegel neue Gestalten an, aber stets war es Kritik an der Metaphysik, die sich als Positivismus, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Phänomenologie oder Sprachanalytik ihr eigenes Selbstbewußtsein gab. Auf dem
eigensten Felde der Metaphysik fand Hegel keinen Nachfolger
mehr" (Her-
vorhebung v. Vf.; S. 84—85). Vgl. auch das Fazit von Karl Löwith (67): „Wenn Hegel noch immer aktuell ist, dann ist er es gerade deshalb, weil er die gesamte Tradition der nachchristlichen Metaphysik beendet hat, so daß die Frage entstehen konnte und mußte: Wie soll es nach Hegel überhaupt noch Metaphysik oder Philosophie geben können?"
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Kap. I : Erneutes Hegelinteresse und Zuordnungen Simmeis
Es ist dies das beachtenswerte Schauspiel, daß die unleugbare Präsenz Hegels i n einem „merkwürdigen Kontrast" gerade zu der Tatsache steht, „daß die Lehre vom absoluten Geist, i n der sich die Philosophie Hegels nach dessen eigenem Verständnis vollendet, der Verachtung, ja dem Gelächter preisgegeben ist" 2 0 .
2. Die Thematisierung des jungen Hegel durch W. Dilthey und dessen Verhältnis zu Simmel I m ersten Durchgang durch die „Erneuerung des Hegelianismus" entpuppte sich die „Auferstehung Hegels" als Inanspruchnahme geschichtsphilosophischer Einsichten Hegels, um damit Kants Erkenntnisk r i t i k auch für die geschichtliche Erkenntnis fruchtbar machen zu können. Dieser neukantianisch eingefärbte, durch Windelband jedoch erstmals offiziell eingeführte und zur Sprache gebrachte Neuhegelianismus entbehrte i n seinen Anfängen einer originären Beziehung zu Hegel, die dessen Denken wieder zu wirklicher philosophischer Aktualität hätte erheben können. Abseits von den Verkündern der „Neubelebung des Hegelianismus", wie sie anfänglich i n der südwestdeutschen Schule und dann auch i n der Fortentwicklung der Marburger Schule des Neukantianismus stattfand, widmete sich schon frühzeitig ein gemeinhin der „Lebensphilosophie" zugeordneter Denker dem Studium Hegels: Wilhelm Dilthey (1833—1911). Seine fortgesetzte Beschäftigung und Auseinandersetzung m i t Hegel fand ihren ersten Niederschlag i n der umfassenden Abhandlung über die „Jugendgeschichte Hegels", die 1905 zunächst i n der philosophisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gelesen wurde und 1906 i m Druck erschien 21 . Diese erste große Hegel gewidmete Veröffentlichung läßt sich m i t Fug und Recht als einen „wirksamen Faktor der Hegel-Renaissance" 22 qualifizieren, unternahm sie es doch, Hegel aus sich selbst zu vergegenwärtigen, und zwar an Hand bis dahin wenig beachteter handschriftlich vorgelegener Jugendmanuskripte Hegels. Erklärtes Ziel der Diltheyschen Durchsicht der Handschriften, angefangen von den frühesten Aufzeichnungen bis zu den ersten systematischen Äußerungen, war die Darstellung der Entwicklungsgeschichte 19 Richard Kroner, „Hegel heute", in: Hegel-Studien, Band 1, 1961, S. 135 und S. 141. 20 Michael Theunissen (100), S. V I I . 21 Wilhelm Dilthey (19). Ebenfalls erschienen — um die Fragmente aus dem Nachlaß vermehrt — im IV. Band der Gesammelten Schriften W. Diltheys (21). 22 Heinrich Levy (61), S. 19.
2. Diltheys Hegelthematisierung und Simmel
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des jungen Hegel i n ihrer konstitutiven Bedeutung für das später fert i g ausgebildete System. Den grundlegenden Schritt zu dieser Darstellung unternahm Dilthey m i t der Herausarbeitung einer mystischpantheistischen Weltanschauung Hegels, wie sie sich ihm aus den theologisch-historischen Studien 23 und Notizen der Jahre 1795—1800 erschloß. Beherrschend über dieser ganzen Periode stand der Begriff des Lebens. Er wurde als Begriff einer Welttotalität i n gewisser Ubereinstimmung mit organismischen Gedanken Schellings für den jungen Hegel „zum Mittelpunkt seiner ganzen Gedankenwelt". Der Lebensbegriff wuchs schließlich zum bestimmenden Charakter aller Wirklichkeit auf. Dilthey definiert diesen frühen Hegeischen Begriff des Lebens als „die Beziehung der Teile zum Ganzen, nach welcher diese isoliert vom Ganzen weder existieren noch gedacht werden können. Der Charakter des Lebens besteht darin, daß ein Mannigfaltiges da ist, aber als Inbegriff von Teilen i n einem Ganzen nur i n dieser Verbindung ist und verstanden werden kann. Aus diesem Grundbegriff des Lebens als des die Mannigfaltigkeit i n seiner Einheit befassenden Ganzen ergibt sich, daß die Begriffe von Ganzem, Teil, Einheit, Trennung, Entgegensetzung, Vereinigung das damalige Denken Hegels beherrschen" 24 . Die Kategorie des Ganzen bleibt auch für Hegels begriffliche Weiterentwicklung des Lebens zum Geist konstitutiv. „Hegel bestimmt von vornherein das Wesen des Geistes von der logischen Kategorie des Ganzen, der Totalität aus 25 ." 23 Ein primäres Interesse an Hegels frühen theologischen (und historischen) Handschriften zeigt nicht nur Dilthey — er behandelt nur zwei der politischen Arbeiten Hegels: Die Schrift über die Verfassung von Württemberg (1798) und diejenige über die Verfassung Deutschlands (1802) —, sondern auch noch Herman Nohl in der Herausgabe von „Hegels theologischen Jugendschriften", Tübingen 1907, in denen er die politischen Aufsätze ganz ausklammert. Die erneute Herausgabe der politischen Schriften Hegels durch Jürgen Habermas (Frankfurt am Main 1966), versehen mit einem Anhang über historisch-politische Studien auch aus Hegels Frankfurter Zeit, zeugt für eine schon länger im Gange befindliche, veränderte Einschätzung der Hegeischen Frühschriften und daraus folgend eine Umgestaltung des jugendlichen Hegelbildes in Richtung auf einen erheblich praktisch-politisch engagierten Denker. 24 W. Dilthey (19), S. 65 und S. 152—153. Herbert Marcuse versuchte 1932 die Hegeische Ontologie aus ihrer ursprünglichen Orientierung am Seinsbegriff des Lebens und seiner Geschichtlichkeit zu entwickeln. Aus dieser — der philosophischen Arbeit Heideggers verpflichteten — Sichtweise verliert Diltheys mystisch-pantheistischer Interpretationsversuch des Hegeischen Lebensbegriffs an Überzeugungskraft. „Wenn Hegel für diesen Ganzheitsoder Einheitscharakter des Wirklichen den Titel ,Leben4 verwendet, so ist dies nicht der Ausdruck eines vagen Pantheismus oder dergl., sondern die erste Bestimmung einer ausgezeichneten Weise des Seins" („Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit" (1932), Frankfurt am Main 19753, S. 231). 25 Dilthey (19), S. 156. H.-G. Gadamer (27) setzt die Akzente anders. Er ist der Auffassung, daß aus den Materialien zur Entwicklungsgeschichte Hegels
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Kap. I : Erneutes Hegelinteresse und Zuordnungen Simmeis
Diltheys werkimmanente, erstmalig entwicklungsgeschichtliche Erschließung Hegeischen Denkens aus dessen frühen Handschriften, seine „Entdeckung" des jungen Hegel (G. Lukâcs), unterscheidet ihn von den zunächst eher äußerlich gebliebenen „Erneuerern" des Hegelianismus seiner Zeit. So ist der Erklärung Hans-Georg Gadamers zuzustimmen, daß Diltheys „Jugendgeschichte Hegels" „eine neue Epoche der Hegelstudien eröffnete, weniger durch ihre Resultate als durch ihre A u f gabenstellung" 26 . Diltheys Bemühen, das später ausgereifte System Hegels als logischsystematische Entfaltung der mystisch-pantheistischen Lebensanschauung des jungen Hegel zur Darstellung zu bringen, wurde als zentrales Anliegen herausgestellt. Die Frühschriften Hegels fanden Diltheys Interesse aber noch aus zwei anderen Gründen. So, „wie sie noch unbeengt vom Zwang der dialektischen Methode aus der Vertiefung i n den größten Stoff der Geschichte entstanden" sind, maß er ihnen zum einen einen selbständigen Wert zu; er würdigte sie zum anderen aber auch als einen „unschätzbare(n) Beitrag zu einer Phänomenologie der Metaphysik" 2 7 . Beides, das Interesse am Stoff der Geschichte wie an einer Phänomenologie der Metaphysik, entsprang Diltheys lebenslanger Erforschung des Aufbaus der geschichtlichen Welt und der Geschichte der Entstehung des historischen Bewußtseins. Seine kritische Andeutung über den beengenden Zwang der dialektischen Methode weist indessen auf „Schwierigkeiten" i n seinem Verhältnis zu Hegel hin, zu denen er i n nachgelassenen Fragmenten Stellung genommen hat, und die dazu beitragen, ein zusätzliches Licht auf den Zusammenhang von Diltheys Hegel-Thematisierung und „Neuhegelianismus" zu werfen. Diltheys grundsätzliche Differenz zu Hegel läßt sich an seiner inhaltlichen Fassung des Hegeischen „Panlogismus", „welcher dem Gedanken der Begreiflichkeit der Welt die wahre Natur des Wirklichen und der Wissenschaften rücksichtslos opfert" 2 8 , festmachen und auseinanderlegen. Eine unwahre Wirklichkeit trifft Hegel i n seiner „Wirrsal" „ganz deutlich" hervorträte, daß dem Hegeischen Begriff des Geistes ein pneumatischer Lebensbegriff zugrunde läge. Er beruft sich auf Diltheys Satz von der „gedankenbildenden Arbeit des Lebens", der allerdings der letzten Fassung der geisteswissenschaftlichen Theorie Diltheys, der Schrift über den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" aus dem Jahre 1910 entnommen ist (S. 214—215). 26 (27), S. 215 Anmerkung 1. 27 W. Dilthey (19), S. 3. Eine eingehende Untersuchung zu der von Dilthey angestrebten „Phänomenologie der Metaphysik" und zu seiner Auseinandersetzung mit der Metaphysik insgesamt findet sich in dem Aufsatz von Manfred Riedel, „Wilhelm Dilthey und das Problem der Metaphysik", in: Philosophisches Jahrbuch, 76, 1968/69, S. 332—348. 28 Dilthey (21), S. 223.
2. Diltheys Hegelthematisierung lind Simmel
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stiftenden Verpflechtung eines „ideellen Reiches unzeitlicher logischer Relationen" m i t der „realen raumzeitlichen Entwicklung". Diese unselige Verwirrung eines logischen Schattenreichs mit der realen Weltentwicklung trieb den „leeren Begriff des Andersseins" hervor; dieser nur erdachte Hilfsbegriff spricht zwar die Tatsache der „Umsetzung des Logischen i n die raumzeitliche Realität" aus, kann diese aber nicht erklären und läßt sie i n ihrer Unfaßlichkeit stehen. Hegels metaphysische Position, die Begreiflichkeit des Weltzusammenhangs, ist so i n ihrer Durchführung, i n der i h r aufgegebenen Rechtfertigung durch die Logik ebenso „unlösbar" wie „falsch gestellt". Da bereits die Aufgabe falsch gestellt ist, verfällt auch das Mittel, diese Aufgabe zu lösen, die dialektische Methode, dem gleichen Verdikt. Sie übt nicht nur Zwang aus, wie es schon i m Vorwort zu Diltheys Hegel-Werk hieß, sondern sie ist — wie der Begriff des Andersseins „einer jener rein ersonnenen Hilfsbegriffe" war — ein „Kunstgriff" und geht „eintönig durch die ganze Systematik hindurch, jedes Gebietes eigene Natur mißachtend und verstümmelnd". So w i r d auch die dialektische Methode als „gänzlich unbrauchbar" 2 9 verworfen. Verfehlte Hegels radikaler „Panlogismus" schon die wahre Natur des Wirklichen, so gilt dies auch für die Wissenschaften; m i t den oben zitierten Worten Diltheys: dem Gedanken der Begreiflichkeit der Welt w i r d auch die wahre Natur der Wissenschaften rücksichtslos geopfert. Hegels spekulative Philosophie schließt nämlich das „Verfahren der positiven Wissenschaften" aus, da seine Spekulation i n „unüberwindlichem Widerspruch" zu der „kausalen Erkenntnis der positiven Wissenschaft" steht 30 . I n einem den neukantianischen Erneuerern des Hegelianismus nicht unähnlichen Satz fügt Dilthey hinzu: „Kants Grenzbestimmungen bleiben auch hier siegreich." Diltheys schwierige und problematische Aneignung Hegeischen Denkens schmälert indessen keineswegs das grundsätzliche Verdienst um die nachhaltige Bekanntmachung der Hegeischen Frühschriften, die der Rückbesinnung auf Hegel zu neuen Anstößen verholfen haben. A n dieser Stelle drängt sich die Frage auf, inwieweit Diltheys w i r kungsvolle Hegel-Thematisierung Spuren i m Denken Georg Simmeis hinterlassen haben könnte, haben doch beide Wissenschaftler jahrelang nebeneinander i n Berlin gelebt und gelehrt. Der an Lebensjahren we29
(21), S. 220—221 und S. 229—238. (21), S. 219—220. Diese unüberwindliche Widersprüchlichkeit von Spekulation und positiver Wissenschaft veranlaßte Karl Löwith (66) zu dem Ausspruch von der „Bodenlosigkeit einer Erneuerung Hegels, die sich über die Unvereinbarkeit des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins mit Hegels spekulativer »Wissenschaft' hinwegtäuscht und vergessen zu haben scheint, daß Hegel die Wissenschaft als ,Gebäude eines von der Vernunft verlassenen Verstandes' bezeichnete, deren flache Expansion unerträglich sei" (S. 139). 30
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Kap. I : Erneutes Hegelinteresse und Zuordnungen Simmeis
sentlich ältere Dilthey war 1882 als Ordinarius an die Universität Berl i n zurückgekehrt, zu einer Zeit, als sich Simmel gerade ein Jahr darauf (1883) bei der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin um Zulassung zur Habilitation bewarb. Das Verhältnis Diltheys zu Simmel w i r d i m allgemeinen, vor allem seitens des älteren Kollegen als distanziert, ja ablehnend geschildert, wobei ein Bewußtsein der Verschiedenartigkeit wohl auf beiden Seiten lebendig war. Anläßlich eines frei gewordenen philosophischen Extraordinariats tat Dilthey die folgende abwertende Äußerung über Simmel gegenüber seinem Briefpartner, dem Grafen Paul York v. Wartenburg (Anfang J u l i 1896): „Döring, Lasson, Simmel, Dessoir — was für eine Serie!" 31 Dilthey bestand darauf, das Extraordinariat für einen Ästhetiker offenzuhalten, ohne dies offenbar allen i n Frage kommenden Kandidaten zur Kenntnis gebracht zu haben. Simmel fühlte sich jedenfalls, wie dies i n einem Brief an Heinrich Rickert vom 3. X I . 1897 deutlich zum Ausdruck kommt, durch Diltheys Vorgehen ungerecht behandelt und zurückgesetzt. „D." (eine Abkürzung für Max Dessoir) „hat m i r neulich selbst erzählt, Dilthey hätte ihm schon vor mehreren Semestern verkündet, daß die Professur auf Ästhetik festgelegt w ä r e . . . Es liegt auf der Hand, daß, wenn man es auch m i r mitgetheilt hätte, ich inzwischen gleichfalls Ästh. gelesen und damit die einzige fadenscheinige Ausrede, auf die h i n man D. befördern konnte, abgeschnitten hätte. Ich glaube, daß es für niemanden, der diese Thatsache hört, einer Interpretation bedürfen w i r d " (BdD 93). Ein Jahr später fungierte Dilthey gleichwohl als einer der Mitunterzeichner des 1898 eingereichten Gesuchs der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin um Beförderung des Privatdozenten Simmel zum Extraordinarius. I n dem Dokument wurde Simmel „die regelmäßige Vertretung dieses Gebietes" (d. i. Sociologie, Socialethik und sociale Psychologie), „gefaßt i n den weitesten Umkreis philosophischer Grundlegung der Staats- und Gesellschaftswissenschaften zur Pflicht gemacht" und als „scharfsinniger Dialektiker" 3 2 hervorgehoben. Das Gesuch mußte allerdings wiederholt werden und erst 1900 wurde i h m schließlich stattgegeben 33 . 31 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul York v. Wartenburg 1877—1897, Hreg.: E. Rothacker, Halle (Saale) 1923, S.219. 32 In: BdD, S. 22. 33 Michael Landmann zieht zur Erklärung der ungewöhnlich späten Beförderung Simmeis u. a. heran, daß „Simmel seinem nächsten und angesehensten Fachkollegen, Dilthey, nicht lag; auch der Antisemitismus Roethes, eines der mächtigsten Männer der Fakultät, Eifersucht wegen seiner hohen Hörerzahl, Mißtrauen gegen das damals neue Fach der Soziologie, das er vertrat, sowie gegen seine untraditionelle Art überhaupt, mögen mitgespielt haben" (In: BdD, S. 21—22).
3. Heidelberger Neuhegelianismus und Simmeis Berufungen
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Ausschlaggebend für die eingangs aufgeworfene Frage ist jedoch, daß trotz des zweifellos reservierten Verhältnisses beider Denker zueinander Dilthey ab etwa 1904 Simmel und seinem Werk ein größeres Verständnis entgegenbrachte, wie sich umgekehrt Simmel der geisteswissenschaftlichen Fragestellung Diltheys zunehmend aufgeschlossener zeigte 34 . Diese beiderseitige Annäherung dokumentiert sich i n Diltheys grundsätzlicher Anerkennung des Simmelschen Begriffs von Soziologie 35 und i n Simmeis kritischer Aufnahme des Diltheyschen Erlebnisbegriffs i n einer 1917 verfaßten Rezension zu Friedrich Gundolfs Goethebuch. Die Rezeption verdient i n bezug auf die anfängliche Fragestellung Beachtung, wenn damit auch kein f aß barer Einfluß der Diltheyschen Hegel-Aktualisierung auf Simmel nachgewiesen werden kann. Dennoch wiegt Simmeis K r i t i k schwer, die i n dem Vorwurf liegt, daß Dilthey vom unmittelbaren, momenthaften Erlebnis nicht zum Lebensbegriff vorgestoßen sei. Dilthey hätte darauf abgezielt, das Einzelne aus seiner Tiefe zu begreifen, einer Tiefe, „die über das Einzelne hinauswirkt um in das Einzelne einzugehen. Es ist das, was i m letzten Grunde Dilthey wollte; aber da er nie über die Halbklarheit hinaus kam, so sprang er immer zu kurz nach seinen genialisch konzipierten Zielen. Er bleibt bei dem ,Erlebnis' stehen, statt bis i n das ,Leben' als reine, aber i n jedem Wesen i n jedem Augenblick individualisierte Form zu dringen" 3 6 .
3. Der Heidelberger Neuhegelianismus und Simmeis zweimal gescheiterte Berufung nach Heidelberg 1908 und 1915 Nach der formellen Verkündung des Neuhegelianismus schien sich eine echte Neubelebung des Hegelstudiums auf den i n Berlin lehrenden Dilthey verlagert zu haben, wo selbst noch nach Hegels Tod 1831 die Hegeltradition bewahrt und i n einer revidierten Edition des Hegelschen Gesamtwerkes fortgesetzt wurde. Die zu Beginn mehr oder weniger starke Reduktion der „Erneuerung des Hegelianismus" auf den Autor der ebenso betitelten Proklamation, Windelband, entbehrte jedoch nicht einer gewissen Einseitigkeit. Sicher hat Windelband, nicht zuletzt als Begründer des südwestdeutschen Neukantianismus i m Verein m i t Heinrich Rickert, der neukantianischen Übermalung des wiedererwachten Hegelinteresses Vorschub geleistet, ebenso sicher war aber 34
Vgl. dazu: Hans Liebeschütz (63), S. 123—131 (V. Simmel und Dilthey). W. Dilthey (20), S. 420—423. 36 Georg Simmel, „Das Goethebuch", in: Die neue Rundschau, 28. Jg., 1917, S. 255—256. Vgl. dazu: Karol Sauerland (83), S. 151—154 (2. Georg Simmel oder die Ausspielung des „Lebens" gegen das „Erlebnis"). 35
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Kap. I : Erneutes Hegelinteresse und Zuordnungen Simmeis
auch ein „geheimer Hegelianismus" (H.-G. Gadamer) i n und außerhalb der etablierten Schulphilosophie selbst am Werk. Der Neuhegelianismus ist ebenso vielschichtig wie uneinheitlich. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als i n dem Heidelberg der ersten zwei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts. Aus erkenntnissoziologischer Sicht charakterisiert Paul Honigsheim das damalige Heidelberg als „liberal-individualistisch-neukantianisch". Nach seinen Beobachtungen entstammte der relativ kurzfristige Neuhegelianismus i m Vorkriegs-Heidelberg weniger dem offiziellen Heidelberger Universitätsunterricht als bestimmten Fragestellungen, die sich m i t dem „Wunsch nach Metaphysik und nach ,neuen Bindungen'" 3 7 umschreiben ließen. Symptomatisch für die damals herrschende Atmosphäre war der Wandel der religiösen Strömungen. Der Katholizismus erlebte m i t dem „mittelalterlich-benediktinisch" ausgerichteten GeorgeKreis ebenso einen neuen Aufschwung wie durch die eher „gnostischdualistisch" orientierte Religiosität eines Georg Lukâcs und Ernst Bloch 38 . Das Ostchristentum und die Religion Dostojewskijs fanden durch die Vermittlung russischer Studenten Eingang i n das damalige Geistesleben. Das Judentum wandelte sich von „einer Rasse, deren sich die assimilatorischen Eltern schäm(t)en, zu einer religiösen Einstellung, zu der sich die Söhne m i t Stolz be(kannten)" 39 . Und schließlich führte die Wiederentdeckung von Hamann und Kierkegaard zu einem A u f bruch des Protestantismus. I m Hintergrund dieses „nicht-neukantianischen Heidelberg" fanden nach Honigsheim, abgesehen von Lukâcs, Bloch und Rosenzweig, der zwar i n Freiburg ansässig war, aber m i t Heidelberg i n engem Kontakt stand, noch folgende Persönlichkeiten weitgehend unabhängig voneinander 40 Zugang zum Hegelianismus: Siegfried und Irene Behn, Julius Ebbinghaus und Hans Ehrenberg. Die auffällige Tatsache, daß sich unter den Genannten allein vier Juden befanden, beleuchtet die damalige Heidelberger Universitätsstadt auf charakteristische Weise. „Diese Universität akzeptierte Leute, die aus politischen oder rassischen Gründen anderwärts, insbesondere i n ihren Heimatländern unmöglich 37 Paul Honigsheim, „Zur Hegelrenaissance im Vorkriegs-Heidelberg". Erkenntnissoziologische Betrachtungen, in: Hegel-Studien, Band 2, 1963, S. 292— 293. 38 Ebd., S. 294. Honigsheim führt als Belege G. v. Lukâcs „Die Seele und die Formen". Essays, Berlin 1911 und E. Blochs „Geist der Utopie", München 1918, an. 39 Honigsheim, ebd., S. 295. 40 Die Unabhängigkeit zumindest zwischen Lukâcs und Bloch dürfte fraglich sein, berichtet doch Lukâcs, daß er Bloch im Winter 1910 in Budapest kennengelernt und bereits dort freundschaftliche Beziehungen zu ihm aufgenommen habe, ehe sie sich 1912 wieder in Heidelberg trafen („Methodische Zweifel", in: Der Monat, 211, April 1966, S. 95).
3. Heidelberger Neuhegelianismus und Simmeis Berufungen
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waren. Darunter befanden sich russische Revolutionäre aller Schattierungen, österreichische Balkan-Slaven und Juden. Zudem war es die Stätte des äußersten Autonomismus. Er wurde insbesondere durch Max Weber verkündet 4 1 ." Versuchte Honigsheim die Entstehungsgründe der Wendung zum Neuhegelianismus aus der soziologischen Situation des damaligen Heidelberg zu ermitteln, so hebt Gadamer auf die weit zurückreichende Kontinuität der Philosophie Hegels mit Heidelberg ab, wie sie mit Hegels Berufung auf den philosophischen Lehrstuhl der Universität Heidelberg 1816 ihren Anfang nahm. Heidelberg ist denn auch der Ort, von wo „die Erneuerung des Hegelstudiums i n Deutschland ausgegangen" ist und dies nicht nur i m Sinne der programmatischen Akademierede Windelbands. „Es war eine Gruppe junger Leute, die sich da versammelt hatte, deren Namen uns heute zum großen Teil i n einer bedeutenden Weise bekannt sind. Ich greife als die wichtigsten dieser Namen heraus: E m i l Lask, Paul Hensel, Julius Ebbinghaus, Richard Kroner, Ernst Hoff mann, Ernst Bloch, Eugen Herrigel, Fjodor Stepun und Georg von Lukâcs. A l l e diese Namen weisen am Ende auf einen einzigen z u r ü c k . . . Dieser Name ist der Name Hegel 42 ." Von entscheidender Bedeutung sind diese Namen nicht nur als Aufweis der Vielgestaltigkeit des Neuhegelianismus, sonder mehr noch, w e i l sie mit Ausnahme von J. Ebbinghaus und E. Herrigel i n nachweislich direkter oder indirekter Beziehung zu Georg Simmel standen. G. Lukäcs bezeichnete sich selbst als „persönlicher Schüler" Simmeis 43 . E. Bloch hatte während seines Berliner Studienaufenthalts 1908—1911 freudschaftlichen Kontakt zu Simmel 4 4 . E. Hoffmann hörte eine Vorlesung Simmeis über Ästhetik ebenso wie R. Kroner ein 1902/03 gehaltenes Kolleg Simmeis über die Geschichte der Philosophie i m 19. Jahrhundert besuchte 45 . A n dem beruflichen Werdegang von E. Lask und P. Hensel 41
Honigsheim, ebd., S. 301. Gadamer (29), S. 71. 43 Die Einflüsse Simmeis auf den jungen Lukâcs waren recht erheblich. Vgl. G. Lukâcs, „Schriften zur Ideologie und Politik". Ausgewählt und eingeleitet von P. Ludz, Darmstadt und Neuwied 19732, S. 324—326. Vgl. auch: P. Ludz, „Marxismus und Literatur". Eine kritische Einführung in das Werk von Georg Lukâcs, in: G. Lukâcs, Schriften zur Literatursoziologie, Neuwied/ Darmstadt/Berlin 19725, S. 31—33. 44 Margarete Susman berichtet über den Eindruck Simmeis nach der ersten Begegnung mit E. Bloch, der sich in den Worten kundtat: „Der hat den Eros" (BdD 286). Michael Landmann teilt folgende Begebenheit während des 1. Weltkrieges mit: Simmeis „junger Freund Ernst Bloch warf ihm vor: ,Ein Leben lang sind Sie der Entscheidung ausgewichen — tertium datur —, und jetzt finden Sie das Absolute i m Schützengraben!' Daraufhin verbot ihm Simmel das Haus" (in: BdD, S. 13). Vgl. auch die von E. Bloch gesammelten Aussprüche Simmeis (in: BdD, S. 250—251). 45 R. Kroner ist vor allem Simmeis Verständnis der Philosophie als einer „Vergeistigung" im Gedächtnis geblieben. „Der Geist war sein Lebensblut, 42
3 2 K a p . I : Erneutes Hegelinteresse und Zuordnungen Simmeis
nahm Simmel i n seinen Briefen mehrmals Stellung und Anteil 4 6 . F. Stepun schließlich fand i n einem an Heinrich Rickert gerichteten Schreiben vom 4.10.1910 auf folgende Weise Erwähnung. „Ich habe eben den Aufsatz über Schlegel von Steppuhn gelesen u. b i n völlig beglückt davon. Wo lebt denn dieser Mensch eigentlich? Ist er nicht zu haben? Warum hat er sich nie bei m i r sehen lassen? Er ist offenbar einer von den Wenigen, die wissen worauf es ankommt" (BdD 107). Die Überschrift des angesprochenen Aufsatzes, der 1910/11 i n der Zeitschrift „Logos" erschienen war, trägt den vollen Wortlaut: „Friedrich Schlegel, als Beitrag zu einer Philosophie des Lebens". Fedor Stepun (1884—1964), der m i t einer hegelianisierenden Dissertation über Wladim i r Ssolowjew bei Windelband promovierte und an der russischen Ausgabe des „Logos" beteiligt war, kam es bei diesem Aufsatz, wie er i n seiner Autobiographie explizierte, auf die „Tragik des Schaffens bei Friedrich Schlegel" an. „Der Aufsatz erregte einiges Aufsehen. Simmel bat mich u m einen Besuch. Ich kam nachmittags und blieb gleich bis zum späten Abend 4 7 ." Nicht recht ins B i l d passen w i l l die ausgedehnte Korrespondenz Simmeis m i t dem damals noch i n Freiburg lehrenden Neukantianer Heinrich Rickert. Dem sei wenigstens ein bedenkenswerter Satz aus einem Brief Simmeis an Rickert m i t dem (leider ungesicherten) Datum: Straßburg 15. IV. 17 entgegengehalten. I n der Frage des Relativismus und der Grundvoraussetzung der Wahrheit stellt Simmel einen „Spalt" i n beider Denknotwendigkeiten fest, „der bis auf den Grund geht und der sich wahrscheinlich historisch so ausdrücken läßt, daß Sie fester zu K a n t halten, als ich es tue; meine Entwicklung führt langsam immer weiter von i h m ab" (BdD 118). Ein weiteres Indiz für die geistige Nähe Simmeis zu der „Hegelatmosphäre" (H. Glockner) Heideibers Anfang dieses Jahrhunderts liegt i n der M i t w i r k u n g Simmeis am „Logos", der internationalen Zeitschrift für Philosophie der K u l t u r . Der Untertitel kennzeichnet die doppelte Zielsetzung dieser 1910 erstmalig i n Tübingen und Moskau erschienenen wissenschaftlichen Publikation. Als Zeitschrift für Philosophie der Kultur galt es, „die ganze Fülle der i n der K u l t u r vorhandenen und treibenden Motive i n das philosophische Bewußtsein zu erheben". Die Philosophie der K u l t u r mußte aber darüberhinaus „überall die Versein Element, seine Atmosphäre, wie auch das höchste Problem seines Denkens und das größte Geheimnis, das er erfahren" (In: BdD, S. 228—230). 4 « Vgl.: BdD 113, 134 und 95, 107, 110. 47 I n seinen ersten Veröffentlichungen bediente sich Fedor Stepun der transkribierten Schreibweise seines Namens: — Friedrich Steppuhn, später aber auch Feodor Steppuhn und Fjodor Stepun — „Vergangenes und Unvergängliches". Aus meinem Leben. Erster Teil 1884—1914, München 1947, S. 198. Diese Autobiographie wurde in Übernahme eines Simmeischen Begriffs als „Molekularsoziologie" der bolschewistischen Revolution bezeichnet.
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nunft i n der K u l t u r suchen, und deshalb hat die Zeitschrift den Namen ,Logos' erhalten" 4 8 . Neben Georg Simmel konnten als verantwortliche, die Richtung und das Niveau der Zeitschrift bestimmende Mitarbeiter R. Eucken, O. v. Gierke, E. Husserl, F. Meinecke, Η . Rickert, E. Troeltsch, M. Weber, W. Windelband und H. Wölfflin gewonnen werden. Simmel selbst, der i n mehreren an Max Weber adressierte Zeilen vom 15. 12. 09 den „exclusiv philosophischen Charakter des Syn(h)edriums" als wünschenswert unterstrich, hätte die Zahl der Mitwirkenden gerne beschränkt. „6 Namen scheinen m i r schon das Maximum zu sein, das noch den Eindruck der Ernsthaftigkeit macht, also etwa alphabetisch: Eucken, Husserl, Rickert, Simmel, Windelband; allenfalls wäre ich noch für den Privatdozenten Cassirer i n Berlin, m i t dem einerseits die Marburger Richtung (so wenig ich sie liebe), andererseits die jüngere Generation als solche vertreten wäre" (BdD 130). I m ersten Heft dieser Zeitschrift (Band I 1910/11) trat Simmel m i t seinem Aufsatz „ Z u r Metaphysik des Todes" an die Öffentlichkeit neben Beiträgen u. a. von B. Croce und R. Kroner. I m „Logos" publizierte er i n den späteren Jahren auch die drei weiteren „Vorstudien" zu seiner Metaphysik. Die Berührungspunkte Simmeis m i t dem Heidelberger Kreis werden ergänzt durch die zweimal eingeleiteten, aber erfolglos gebliebenen Verhandlungen, Simmel i m Jahre 1908 und 1915 auf einen Lehrstuhl der Philosophie i n Heidelberg zu berufen. 1908 war die zweite philosophische Professur der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg vakant. A n erster Stelle der Berufungsliste stand Heinrich Rickert, der den Ruf jedoch ablehnte, an zweiter Stelle Georg Simmel. Die stärksten Befürworter der Berufung Simmeis waren Eberhard Gothein und Georg Jellinek, aber auch Ernst Troeltsch, Max und Alfred Weber setzten sich für Simmel ein. Zurückhaltender verhielt sich Windelband, der gleichwohl i n einem Schriftstück an den zuständigen Referenten i m badischen Kultusministerium, Geheimrat Böhm, seinen Wunsch zum Ausdruck brachte, Simmel für Heidelberg zu gewinnen 49 . Den Empfehlungsschreiben ist zu entnehmen, daß Simmel sowohl a]s bedeutender Soziologe als auch als scharfsinniger philosophischer Den48
In: Logos, Erstes Heft, Band I, 1910/11, S. I — I V . In: BdD, S. 28. Paul Honigsheim veranschlagt die Reserviertheit Windelbands in Simmels Berufungsfrage — offenbar ohne Kenntnis des Windelbandschen Schreibens an Böhm — sehr hoch. „Zudem hatte man noch ein anderes Argument: der patentierte Hüter der Philosophie, Windelband, setzte sich nicht für Simmel ein, obwohl er ihm doch erkenntnistheoretisch und geschiditsphilosophisch gar nicht so fern stand. Und so kam es denn auch nicht zu Simmeis Berufung" („Wie man in Heidelberg für Simmeis Berufung gekämpft hat", in: BdD, S. 266). 49
3 Christian
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ker Ansehen genoß. Dennoch scheiterten die Berufungsverhandlungen. Einen erheblichen Beitrag dazu lieferte der Bericht des Berliner (vormals Heidelberger) Historikers Dietrich Schäfer 50 an Ministerialrat Böhm, der diesen zusätzlich um Auskünfte über Simmel ersucht hatte. Schäfers Votum beginnt m i t der Feststellung: „Ob Prof. Simmel getauft ist oder nicht, weiß ich nicht, habe es auch nicht erfragen wollen. Er ist aber Israelit durch und durch, i n seiner äußeren Erscheinung, in seinem Auftreten und seiner Geistesart... Dazu kommt, daß der ganzoder halb- oder philosemitische Dozent an einer Universität, i n welcher die entsprechende Hörerschaft mehrere Tausend zählt, bei dem Zusammenhang, der i n diesen Kreisen besteht, unter allen Umständen einen ergiebigen Boden findet. Ich kann m i r nicht denken, daß die Universität Heidelberg eine besondere Förderung erfährt, wenn man diese A r t ihren Hörsälen zuführt. Ich kann überhaupt nicht glauben, daß man Heidelberg hebt, wenn man den von Simmel vertretenen Lebens- und Weltanschauungen, die sich von unserer deutschen christlich-klassischen Bildung ja deutlich genug abhebt, einen noch breiteren Raum gewährt, als sie ohnehin schon i m Lehrkörper haben" 51 . Simmel ist sich dieser Widerstände sehr w o h l bewußt gewesen, die sowohl 1908 wie 1915 seine Berufungschancen schwer beeinträchtigt haben. I n einem Brief an Rickert vom 13. X I I . 15 — als sich die Möglichkeit eines Rufes nach Heidelberg zum zweiten Mal zerschlagen hatte — heißt es: „Die prinzipiellen Schwierigkeiten des Antisemitismus und des Lebensalters stehen seinen Chancen" (gemeint ist Edmund Husserl, der 1915 nach H. Rickert und G. Simmel an dritter Stelle der Heidelberger Berufungsliste stand) „leider genau so i m Wege wie den meinen" (BdD 114). Schäfers 1908 verfaßte Stellungnahme enthält weiterhin eine Einschätzung der Simmelschen Denkweise, die letzterem — man könnte sagen bis heute — noch anhängt. Schäfer charakterisiert Simmel als eine Persönlichkeit, „die mehr durch geistreiche und geistreichelnde A r t als durch starkes und zusammenhängendes Denken w i r k t " ; und bringt ihn i n Verbindung m i t „Richtungen, die mehr zersetzend und negierend als grundlegend und aufbauend sind" 5 2 . Auch hierzu hat sich Simmel i n unmittelbarem Zusammenhang m i t der erstmaligen, 1908 anstehenden, Heidelberger Berufungsangelegenheit gegenüber Max We50 Vgl. dazu: H. Liebeschütz (63), S. 106—112 (II. Das Urteil eines Treitschkeschülers). 51 In: BdD, S. 27. Schäfer spricht auf Vorgänge und Personen an, die von P. Honigsheim folgendermaßen gesehen werden: Simmel „wurde nun gerade nicht nur von Gothein und Jellinek angefordert, welche beide nationalliberal waren, sondern ausgerechnet von Troeltsch, Max und Alfred Weber, die ihrerseits »Russen, Polen und Juden' in ihrer Umgebung hatten" (In: BdD, S, 266). 52 Ebd., S. 27.
3. Heidelberger Neuhegelianismus und Simmeis Berufungen
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ber brieflich geäußert (18. I I I . 08): „ . . . i n gewissen Kreisen besteht die Vorstellung, daß ich ein ausschließlich kritischer, ja destruktiver Geist b i n und daß meine Vorlesungen nur zur Negation anleiten. Vielleicht brauche i d i Ihnen nicht zu sagen, daß das eine scheußliche Unwahrheit ist. Meine Vorlesungen, ebenso wie seit vielen Jahren meine gesamte Arbeit, sind ausschließlich auf das Positive, auf die Beweisung eines tieferen Verständnisses von Welt und Geist gerichtet, unter völligem Verzicht auf Polemik und K r i t i k gegenüber abweichenden Zuständen und Theorien. Wer meine Vorlesungen und Bücher überhaupt versteht, kann sie nicht anders verstehen. Immerhin, jene Meinung besteht seit lange, sie ist mein Kismet, und ich b i n überzeugt, daß die ,ungünstige Stimmung' des Ministers auf eine derartige Mitteilung aus Berlin zurückgeht" (BdD 127—128)53. Schließlich schlägt sich i n Schäfers Gutachten die damalige Umstrittenheit der neuen Disziplin Soziologie nieder, die auf einen Vertreter dieses Faches zwangsläufig übertragen wurde. Empfahl sich Simmel i n diesem Punkt für Gothein gerade „als kühner und selbständiger Denker" 5 4 , so gereichte i h m eben dies i n den Augen Schäfers zum Nachteil. „Simmel verdankt seinen Ruf wesentlich seiner ,soziologischen4 Betätigung. Ihretwegen ist die Charakterisierung als Professor für i h n beantragt worden, hauptsächlich auf Grund von Schmollers Eintreten, der ja auf Neuerungen so bereitwillig eingeht. Nach meiner Auffassung soll sich aber die Soziologie ihre Stellung als Wissenschaft noch erst erstreiten" 55 . A m 30. X . 11 reflektiert Simmel i n einer Zuschrift an Rickert die Resonanz seiner wissenschaftlichen Arbeit auf diesem Gebiet. „Meine sozialphilosophischen Bemühungen werden allmählig auch von der offiziellen Wissenschaft bemerkt — die bisher offenbar nichts damit anzufangen wußte, weil sie i n keiner der hergebrachten Kategorien unterzubringen sind" (BdD 108). Und noch am 26. X I I . 15, bereits unter dem Eindruck der abermals gescheiterten Berufung nach Heidelberg 1915, richtet Simmel die folgenden Zeilen an Rickert: „Ich weiß, es besteht um mich ein Sagenkreis über alles mögliche, was ich b i n und nicht bin, kann und nicht kann — und immer, 53 Zu dem Vorwurf der Geistreichheit nimmt Simmel bereits am 5. V I I . 99 in der Beantwortung einer Zuschrift Rickerts Stellung. „Mit der »Geistreichheit' haben Sie schon Recht; wenn ich mir auch bewußt bin, ihr niemals sachliche Konzessionen gemacht zu haben — dazu war sie mir immer zu billig — so bin ich doch jetzt so weit, sie grundsätzlich zu vermeiden, um nicht die Aufmerksamkeit des nicht ganz hingegebenen Lesers von der Hauptsache abzulenken. Übrigens ist 1) Berlin nicht daran Schuld denn den »geistreichen' Kreisen stehe ich völlig fern u. 2) können Sie das auch nur deshalb so betonen, weil Sie meine soziologischen Arbeiten wohl kaum kennen; die sind so ungeistreich, daß Ihnen das Herz i m Leibe lachen würde" (BdD 97—98). 54 In: BdD, S. 145. M Ebd., S. 27.
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3 6 K a p . I : Erneutes Hegelinteresse und Zuordnungen Simmeis
wenn es sich u m Erwägungen von Fakultäten und Regierungen über mich handelt, t r i t t bald das eine, bald das andere Segment dieses Kreises i n Wirksamkeit. Bald b i n ich zu einseitig, bald zu vielseitig, hier »eigentlich nur Soziologe', dort ,nur von talmudischem Scharfsinn', meistens ,nur kritisch und negierend' usw. Ich habe es aufgegeben, gegen diesen Unsinn anzukämpfen..." (BdD 114). Mehrmals wurde schon erwähnt, daß 1915 eine erneute Berufung Simmeis nach Heidelberg zur Debatte stand. W. Windelband war 67jährig gestorben und E. Lask i m ersten Weltkrieg gefallen, so daß die Philosophische Fakultät diesmal sogar zwei philosophische Professuren neu zu besetzen hatte. A u f Vorschlag der Fakultätsmitglieder Boll, Gothein, Neumann und Oncken wurde dem Ministerium eine Berufungsliste m i t den folgenden Namen vorgelegt: H. Rickert, G. Simmel, E. Husserl, H. Maier, E. Spranger und E. Cassirer. Nachdem die erste philosophische Professur durch Rickert besetzt worden war, sollte an zweiter Stelle, unter Absehung der Philosophen Simmel und Husserl, ein Vertreter der Geschichte der Philosophie berufen werden. Rickert selbst, der die Berufung Simmeis oder Husserls auf das zweite philosophische Ordinariat der eines Historikers vorgezogen hätte, bemerkt zu diesem Vorgang: „Die Regierung w i r d für Simmel so wenig wie für Husserl zu haben sein. Insofern hat Simmeis Streichung, die auch ich wie Sie lebhaft bedaure, praktisch keine Bedeutung. W i r werden uns m i t einer geringeren K r a f t begnügen müssen 56 ." Obwohl Simmel schließlich 1914 als Ordinarius an die Universität Straßburg berufen worden war, hielt sein Interesse an Heidelberg unvermindert an. Anläßlich eines Besuches bei Simmel i n Straßburg 1918 notierte Gothein: „ . . . immer wieder brach die Sehnsucht nach Heidelberg durch, und er läßt von dieser Hoffnung nicht. Noch auf der Treppe . . . gab er m i r etliche Instruktionen, was und wie es noch zu machen wäre 5 7 ." Und noch kurz vor seinem Tode bekundete sich i n mehreren Sätzen eines Briefes an Marianne Weber vom 4. 7.18 die innere Bindung Simmeis an das damalige Heidelberg. „Somit" (mit Max Webers teil weisem Verbleiben an der Heidelberger Universität) „bleibt ein lichter Punkt i n Heidelberg, für das ich die dunkelsten Besorgnisse hege. Ich fürchte, es ist m i t Heidelberg vorbei. Die wundervolle 56 Ebd., S. 32. Es sei an Simmeis diesbezüglichen Satz vom 13. X I I . 15 erinnert, daß die prinzipiellen Schwierigkeiten des Antisemitismus und des Lebensalters Husserls Chancen leider genau so im Wege ständen wie den seinen (BdD 114). 57 Ebd., S. 145. Simmel nahm schon den Ruf nach Straßburg nur mit Vorbehalten und Zweifeln an, wie sich dies aus einem Brief an Rickert vom 28.1.14 entnehmen läßt „Gestern ist nun die letzte Besiegelung der Straßburger Angelegenheit erfolgt und ich nehme sie keineswegs mit dem Bewußtsein hin, das unbedingt Richtige getan zu haben" (BdD 111).
4. Simmeis Hegelzuwendung und zeitgenössische Neuhegelianer
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Tradition seiner Geistigkeit ist, wie ich fürchte, i n unaufhaltsamen V e r f a l l . . . Es ist m i r ein wahrhaft persönlicher Schmerz, daß der unvergleichliche Besitz, den Deutschland i n Heidelberg hatte, zertrümmert scheint" (BdD 134). 4. Simmeis Hegelzuwendung und der Neuhegelianismus im Spiegel einiger Zeitgenossen (M. Frischeisen-Köhler, M. Adler, H. Levy) Verschiedene Zeugnisse haben eine direkte oder indirekte Verbundenheit Simmeis m i t Heidelberg, von wo zu Beginn dieses Jahrhunderts die Neubelebung des Hegelianismus ihren Anfang genommen hat, dargelegt. I n eigener Person hat Simmel zum Neuhegelianismus jedoch nie Stellung bezogen 58 . Vielmehr sind auf diesem Weg einige seiner Zeitgenossen weiter gegangen als es Simmel selbst getan hat. Simmeis Tod am 26. September 1918 w a r der unmittelbare Anlaß, sich zunächst i n Form von Nekrologen über mögliche Zusammenhänge zwischen der Erneuerung des Hegelianismus und Simmeis Hegelzuwendung Rechenschaft abzulegen. Diese geistesgeschichtlichen Zuordnungsversuche w u r den fast ausschließlich an zwei Hauptgedanken der Simmelschen Philosophie diskutiert: seiner (dialektischen) Logik und seiner Lehre vom objektiven Reich des Geistes. Max Frischeisen-Köhler (1878—1923) zog vor allem die letzten A r beiten Simmeis heran, u m dort i m „Vorhof" seiner „Metaphysik des Lebens" eine „Logik dialektischen Charakters" zu erweisen, die sofort die Verwandtschaft m i t der Grundansicht des deutschen spekulativen Idealismus erkennen ließe. Der Beweis für Simmeis inhaltlich begründete „Annäherung an Hegel" i m besonderen — abgesehen von Zeichen einer bereits frühen Simmelschen Aneignung Hegelscher Termini — lag für Frischeisen-Köhler aber i n dessen Bekenntnis zur schöpferischen Positivität des Widerspruchs. „Ist nicht die Idee, daß die Einheit der Gegensätze gerade i n ihrem Widerspruch besteht, der das Wesen des über sich ständig hinaussteigenden Lebens ist, ein Grund- und Zentralgedanke Hegels?" Simmeis Hegelnähe w i r d von FrischeisenKöhler weder als unzeitgemäßer Rückfall gedeutet, noch aber auch als Endstation einer möglicherweise später noch erfolgten Fortbildung seiner Lehre. „Unter allgemeinsten Gesichtspunkten angesehen, ordnet sich vielmehr seine Entwicklung dem großen Ganzen unserer zeitgenössischen Philosophie ein, d i e . . . zu denselben Problemstellungen und Konzeptionen fortgeschritten ist, die das Thema des nachkanti58 Wenn man von dem folgenden, Simmel zugeschriebenen Apophthegma absehen will. „Jetzt gibt es Neufichteanismus, Neuhegelianismus — wann werden w i r uns selbst eingeholt haben?" (In: BdD, S. 32).
3 8 K a p . I : Erneutes Hegelinteresse und Zuordnungen Simmeis
sehen Idealismus ausmachten... W i r erstreben wieder von allen Seiten aus den Anschluß an jene große Geistesbewegung, u m unter unseren Bedingungen des Wissens und unter Abstreifung unhaltbarer Systemformen ihren Ertrag uns aufs neue nutzbar zu machen 59 ." Als einen „philosophischen Rebellen gegen die Logik" — hierin auf einen Nerv der Zeit treffend — stellte auch Max Adler (1873—1937) Simmel i n eine Reihe m i t Hegel. „ I n der Tat besteht zwischen ihnen die große Verwandtschaft, daß sie beide ein offenes Auge für die Vergewaltigung gehabt haben, welche dem Fluß der Dinge, bei Hegel die Unendlichkeit des Denkens genannt, durch die starren Formen des logisch-begrifflichen Denkens angetan wird." Beide haben die Grenzen der sog. formalen Logik durch ihr dialektisches Denken überschritten. I m Unterschied zu Frischeisen-Köhler glaubte aber Adler gegenüber der zunächst attestierten „großen Verwandtschaft" zwischen Simmel und Hegel, eine erhebliche Differenz gerade i m dialektischen Denken beider Philosophen zu gewahren: die Aufhebung der Gegensätze bei Hegel stände i n Opposition zu der Ausziehung oder Verlängerung der Gegensätze bei Simmel. Aus dieser Differenz folgerte Adler verschiedene Positionen i n der Widerspruchstheorie beider Denker. „Bei Hegel ist der Widerspruch eine Bewegtheit des absoluten Geistes selbst... Bei Simmel dagegen ist das Absolute, das Leben, ohne jeden Widerspruch 60 . . . " 59 M. Frischeisen-Köhler (26), S. 50—51. Vgl. auch eine nicht uninteressante längere Ausführung von Hermann Glockner auf dem ersten Hegelkongreß vom 22. bis 25. April 1930 im Haag: „Im Jahr 1918 erschien ein Buch »Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel· von Georg Simmel. Der Verfasser hatte es als ein Sterbender vollendet und gewissermaßen als sein Testament betrachtet. Wer dieses Buch las — das ausgehend vom Begriff der ,immanenten Transzendenz des Lebens' die »Wendung zur Idee' machte und in tiefsinnigen Ausführungen über den ,Tod' und das »individuelle Gesetz' gipfelte — fühlte sich auf Schritt und Tritt an Hegel erinnert. Und zwar merkwürdigerweise vor allem an den jungen Hegel, wie er gerade im Begriff ist, sich der dialektischen Methode zu bemächtigen, die ihm noch nicht zum DenkSchema geworden ist, sondern eine geistige Lebensform bedeutet. Ich fragte damals die Freunde des mittlerweile verstorbenen Philosophen, ob sich Simmel in den letzten Jahren viel mit Hegel beschäftigt habe. Und da wurde mir die erstaunliche Antwort, Simmel habe wiederholt gesagt: ,Über Hegel möchte ich gern ein Buch schreiben. Aber das kann ich nicht; denn dazu müßte ich ihn lesen und das war mir niemals möglich'" (In: Verhandlungen des ersten Hegelkongresses, a.a.O., S. 73). 60 M. Adler (1), S. 25—27. Stärker noch als Adler unterstrich Erus Troeltsch (101) die Differenz Simmeis zu Hegel, wenngleich in den Augen Troeltschs „Simmel selbstverständlich auch an Hegel erinnert(e)". Nicht nur einen Anklang, sondern eine enge Berührung mit dem Denken Hegels sah Troeltsch immerhin in Simmeis Grundbegriff der Dynamik und in dessen „Leugnung des gewöhnlichen Satzes vom Widerspruch für die letzte metaphysische Erkenntnis". Troeltsch berichtet, Simmel habe ihm gegenüber gesagt, daß er eine „Metalogik suche, die über die heute überall noch ganz mechanistische
4. Simmels Hegelzuwendung und zeitgenössische Neuhegelianer
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Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ergab sich auch aus Adlers Vergleich der Lehre vom objektiven Geist i n der Philosophie Hegels und Simmels. Entstammte das Reich der Idee bei Hegel der Immanenz des Geistes, so hatte die Idee ihren Ursprung bei Simmel i n der unaufhörlichen Produktion des Lebens. „Bei Hegel gestaltet die Bewegung der Weltvernunft aus sich heraus ein objektives Reich des Geistes... Auch bei Simmel werden solche Reiche der Idee als objektive Zusammenhänge anerkannt. Aber bei i h m erwächst dieses objektive Reich des Geistes aus dem, was i h m . . . das einzig Absolute ist, aus dem Leben 6 1 ." Geraume Zeit nach Simmels Tod wurde von Heinrich Levy nochmals der Versuch unternommen, Simmels philosophischen Werdegang i n Bezug zu setzen zu dem erneuten Interesse an Hegels Philosophie m i t Beginn dieses Jahrhunderts. Bei Levys wohl eingehendster diesbezüglicher Abhandlung springt ins Auge, daß dieser dem Simmelschen „Weg zu einer hegelianischen Metaphysik" einen selbständigen Abschnitt eingeräumt, i h n also weder der Hegel-Renaissance i n der Lebensphilosophie, noch der Entwicklung der Hegel-Renaissance i m Neukantianismus subsumiert hat. Simmels durchaus eigenständiger Weg zu „einer Hegel verwandten dialektischen Metaphysik" hätte, so argumentiert Levy, von Anfang an die Aufgeschlossenheit für die Bewegtheit und Beziehungsfülle der gesellschaftlichen und geschichtlichen Welt m i t Hegel gemeinsam. M i t der Einsicht i n die Idealität einzelner ihrer Kategorien wäre Simmel auch Hegels Gedanken eines Reiches des „objektiven Geistes" nahegekommen. I m Vordergrund der Ausführungen Levys stand jedoch der Nachweis, daß Simmels „ursprüngliche Weltansicht" einer „Unendlichkeit von Beziehungen", deren dualistische Verfassung Simmel an dem soziologischen Problem des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft zur Gewißheit wurde, den Rohstoff abgegeben habe für Simmels später ausgebildete „dialektische Weltanschauung". Denn zur Bewältigung dieses Problems habe Simmel auf dasselbe Prinzip zurückgegriffen, „das i m Zentrum der Hegeischen Philosophie steht: auf das Selbstbewußtsein". Der Gewinn dieses Prinzips war zugleich die Absprungbasis zur Ausbildung seiner Metaphysik. Das „Selbstbewußtsein ist es, welches Simmel dem Verständnis des Absoluten zugrunde legt, so die Psychologie, aber auch über Kant hinausführe, dessen Größe man endlich auf sich beruhen lassen sollte". Troeltsch interpretierte diese von Simmel angestrebte „Metalogik" als die „Begründung der Erkenntnistheorie in einer überlogischen, metaphysischen Schicht, die gerade durch ihren außerlogischen Charakter von der bei Hegel als Idee logisierten analogen Schicht sich grundsätzlich unterscheidet" (S. 591—593). « Adler (1), S. 27.
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Kap. I : Erneutes Hegelinteresse und Zuordnungen Simmeis
Substanz (das „Leben") als Subjekt begreifend"* 2 . Die fundamentale Bedeutung, die Levy dem Selbstbewußtsein für die Simmelsche Entfaltung seiner hegelianischen Metaphysik zuerkannte, unterschied ihn von den Überlegungen, die Frischeisen-Köhler und Adler i n diesem Zusammenhang anstellten, und versetzte ihn i n die Lage, noch eines so entscheidenden Simmelschen Begriffs wie den des „Übergreifens" ansichtig zu werden. Für Levy selbst repräsentierte Simmeis Philosophie — um den sachlichen Kontext, i n dem die Reflexionen von Frischeisen-Köhler, Adler und Levy vorgestellt wurden, wieder aufzunehmen — einen eindrucksvollen und lehrreichen Einblick i n die Geschichte der Hegel-Renaissance, war Simmel doch „von den Ideen seiner Epoche ausgehend, über sie und über sich selbst hinausgewachsen und zu seinem von Hegelianismus durchtränkten, aber i n engstem Zusammenhang m i t den tiefsten Problemen der Gegenwart stehenden Entwurf einer Metaphysik des Lebens gelangt" 63 .
62 63
H. Levy (61), S, 25—30. Das zuletzt angeführte Zitat steht auf S. 29. Ebd., S. 30.
ERSTER T E I L
Das hegelianisierende Denken i n der Philosophie Georg Simmels
Kapitel
II
Sprache, Begriff, System 1. Sprachphilosophie und Sprachstil im Werk Simmels I n der Philosophie sind Sprache und Sprachstil nicht etwas der Sache bzw. dem Gedanken der Sache Äußerliches, sondern sie gehören i h m wesentlich zu. Diese Grundeinsicht findet sich i n Simmels Arbeiten inhaltlich und formal bestätigt. „Eine gewisse Haltung, ästhetische Geformtheit, Eigenwert der Sprache hat auch Folgen für den I n h a l t . . . " (Schp 87). Der Zusammenhang von sprachlicher Darstellungsweise und Sprachinhalt, den „Gedankenprozessen, die allerdings in Worten, aber nicht durch Worte verlaufen" (Soz 460), t r i t t i n Simmels anfangs zitiertem Leitsatz zugunsten der Betonung des Stiles einer Sprache i n den Hintergrund. Simmel verwendet diesen Begriff an dieser Stelle nicht, zielt aber genau auf die besondere persönliche Haltung, die individuelle ästhetische Geformtheit, den Eigenwert der Sprache ab, wenn er i n einem anderen Zusammenhang Stil als eine „Sprache für sich" kennzeichnet, „die besondere Laute, besondere Flexionen, eine besondere Syntax hat, u m das Leben auszudrücken..." (PdG 523). Beinhaltet der Begriff des (Sprach-)Stiles ein personales Moment, so ist i n ihm doch zugleich auch ein Moment der „Distanzierung" (PdG 537) angelegt, das die individuelle Zuspitzung durch generelle Formung bändigt. „ S t i l ist immer etwas Allgemeineres, ein bestimmendes H i n übergreifen über das Individuelle (BT 167)1." 1 Vgl.: H.-G. Gadamer (27) Exkurs I über den Begriff des Stiles, S. 466— 489. Gadamer stellt dort in ähnlicher Weise fest: „In keinem Fall ist Stil schon ein bloßer individueller Ausdruck — immer ist ein Festes, Objektives damit gemeint, das die individuelle Ausdrucksgestaltung bindet" (S. 467).
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Kap. I I : Sprache, Begriff, System
Simmeis Behandlung von Fragen der sprachlichen Darstellungsweise i m umfassenderen Kontext der wesentlichen Zusammengehörigkeit — wohlgemerkt nicht notwendigerweise Identität — von Sprache und Denken wurde einleitend bestimmte Beachtung geschenkt, weil gerade Simmeis eigener Sprachstil Gegenstand fortgesetzter Kontroverse ist. Die hierzu vorgetragenen Stellungnahmen schwanken i n ihrer Beurteilung zwischen meisterhafter Sprachbeherrschung einerseits und spielerischem Ästhetizismus andererseits. Zwei typische Voten seien als Beispiele herangezogen. Alfred Vierkandt bespricht die Simmel eigentümliche Schreib- und Ausdrucksweise m i t Bezug auf dessen „Philosophie des Geldes" folgendermaßen: „Innerhalb der angegebenen Grenzen muß das Buch Simmeis nach Form und Inhalt als meisterhaft, man möchte sagen: als virtuos geschrieben bezeichnet werden. Die psychologische Analyse halb oder ganz unbewusster Vorgänge, die nur noch durch ihren Einfluß auf den Gefühlston anderer Vorstellungen zu erkennen sind, ist ebenso glänzend durchgeführt wie zur Darstellung gebracht. Die Bewältigung der sprachlichen und stilistischen Schwierigkeiten, welche sich der Erörterung so subtiler psychologischer Prozesse entgegenstellen, und die Fähigkeit Simmeis, unübersehbare Reihen von Vorgängen und Zuständen unter einheitliche Begriffe zu subsumieren und m i t wenigen treffenden Worten zu kennzeichnen, verdient die höchste Bewunderung 2 ." Ganz anders nimmt sich die Rezension derselben Simmelschen Abhandlung m i t Blick auf deren sprachliche Darstellung bei Conrad Schmidt aus. War dort die Rede von virtuoser Schreibweise und einer die feinsten Verästelungen der behandelten Gegenstände zutage fördernden Angemessenheit und Treffsicherheit der Sprache, so stellt sich hier die sprachliche Gestaltung Simmeis nurmehr als ein „seltsam vermummende(r) philosophische(r) Sprachaufputz" dar m i t „orphischen Worten" und „leeren Künsteleien des Analogiespiels" 3 . 2 Alfred Vierkandt, „Einige neue Werke zur Kultur- und Gesellschaftslehre", in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 4. Jg., 1901, S. 640/641. 3 Conrad Schmidt, „Eine Philosophie des Geldes", in: Sozialistische Monatshefte, V. Jg., Erster Band, 1901, S. 181—183. Auf derselben Linie, wenn auch nicht mit der Einseitigkeit des Verisses von C. Schmidt, bewegt sich Leopold von Wiese in seiner Einschätzung des Simmelschen Sprachstüs. „Es sind sicherlich nicht nur sehr viele feine Betrachtungen in ihnen" (den soziologischen Werken Simmeis, insbesondere seiner „Soziologie"), „sie haben auch Höhepunkte von größtem Erkenntnis werte; dann aber verlieren sie sich wieder in Spielereien mit der Formenfülle, mit subtilsten und feinsten Nuancierungen. Das Gedankengeflecht gleicht bisweilen einem Spinngewebe mit glitzernden Tautropfen; aber ein kräftiger Windhauch kann es vernichten. Die Gefahr der Zerfaserung soziologischen Denkens würde durch feste Grundgedanken als Träger des Systems überwunden w e r d e n . . . Bei aller Neigung zur Abstraktion ist Simmel durchaus kein ,Begriffskrüppel·, seine Darlegungen besitzen große ästhetische Reize. I n gewisser Hinsicht möchte idi seine Soziologie geradezu als Ästheten-Soziologie, als Soziologie für den literarischen Salon bezeichnen... Diese Soziologie
1. Sprachphilosophie und Sprachstil im Werk Simmels
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Gleichermaßen Anstoß erregte ein sprachstilistisches Charakteristik u m Simmels: der häufige Gebrauch des Wortes „vielleicht". Es ist sicherlich nicht unrichtig, daß — wie dies L u d w i g Marcuse deutet — hinter der Vorliebe Simmels für diese Wendung der Versuch steht, „jeden Ansatz zu dogmatischer Verfestigung" 4 zu zerstören. Ebensowenig fehl geht eine i n diesem Punkt ähnliche Interpretation Richard Hamanns und Jost Hermands, die besagt, daß m i t der Verwendung des Wortes „vielleicht" ein Mißtrauen Simmels gegenüber der „plastische(n) Klarheit und logische(n) Formbestimmtheit", der „klare(n) Perfektion der Begriffe" und dem „Denkresultat" i m Unterschied zur „Bewegung des Denkens" zum Ausdruck kommt 5 . Einen Hinweis auf das zugrundeliegende präzise Sachproblem, das sich i n Simmels scheinbar allzu leichtgewichtigem Wörtchen „vielleicht" sprachlichen Ausdruck verschafft, gibt jedoch K a r l Joël. Er vermerkt nicht nur das geläufige Vorkommen dieser Partikel i n der Romantik, namentlich bei Novalis, sondern notiert auch Friedrich Nietzsches Forderung nach einer „Philosophie des gefährlichen Vielleicht". Joël führt dazu aus: „ . . . er" (Nietzsche) „spricht ja gar kein Nein, er spricht das »gefährliche Vielleicht 4 , aber das Vielleicht steht zwischen Nein und Ja . . ." 6 Simmel teilt diese ungesicherte Offenheit i m Wortverständnis des Vielleicht m i t der folgenden Begründung. „Das Ja oder N e i n . . , wandelt sich unzähligemal i n ein Ja und Nein, oder auch i n einen Wechsel zwischen beiden, der den Charakter einer Gleichzeitigkeit trägt, weil hinter jeder jeweiligen Entscheidung die andere als trägt in ihrer mosaikartigen Form und ihrem Ästhetizismus ausgesprochen persönlich Simmelschen Charakter" („Neuere soziologische Literatur", in: A r chiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 31, 1. H., 1910, S. 899/900). Auch bis zur neuesten Zeit hält die Streitfrage über Simmels Sprachstil an: auf der einen Seite der „feingeschliffene essaistische Stil", in dem „Simmel über die Verwicklungen und Verschlingungen, von denen das menschliche Dasein betroffen ist, meditiert" (Horst Müller [75], S. 9); auf der anderen Seite das „philosophische Pathos" und das „gedankenspielerische... Rankenwerk", der „Ballast" und die „altmodische Aufmachung" der Simmelschen Beiträge (Peter-Ernst Schnabel [86], S. 224). 4 In: BdD, S. 190. Vgl. auch: Margarete Susman (95), S. 19/20. 5 Richard Hamann / Jost Hermand (42), S. 86. Die Ausführungen der beiden Autoren verlieren jedoch da an Überzeugung, wo sie Simmel allzu schematisch dem unverbindlichen Ästhetizismus, der dem Impressionismus innewohnen soll, zuschlagen. Man vergleiche den anfangs zitierten Satz Simmels, wonach die sprachliche Darstellungsweise sehr wohl Folgen für den Inhalt habe, mit der Behauptung Hamanns und Hermands: „Anstatt sich um eine logische Verknüpfung zu bemühen, überläßt man sich ganz der augenblicklichen Eingebung. A n die Stelle langer Erklärungen treten dann geistreich andeutende Symbole, ausgefallene Worte oder philosophische Chiffren, die mit dem Inhalt an sich nichts zu tun haben, sondern lediglich die Eleganz der Formulierung unterstützen" (S. 86). β Karl Joël, „Nietzsche und die Romantik", Jena und Leipzig 1905, S. 113/ 114.
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Kap. I I : Sprache, Begriff, System
Möglichkeit oder als Versuchung steht" (PK 114). Diese Struktur einer Gleichzeitigkeit von Ja und Nein ist i m Vielleicht der Simmelschen Sprache der zu Wort kommende sachliche Gedanke. „ A l l e diese Reize des gleichzeitigen Für und Gegen, des Vielleicht", so formuliert es Simmel einige Zeilen später. „Es ist die Form, i n der die Unentschiedenheit des Lebens zu einem ganz positiven Verhalten kristallisiert ist, und die aus dieser Not zwar keine Tugend, aber eine Lust macht" (PK 115). Simmeis Sprachstil hat ein aufmerksames Interesse bei der überwiegenden Mehrzahl der Interpreten seiner Schriften gefunden. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, daß der gewichtigeren Frage nach der Bedeutsamkeit der Sprache für Simmel selbst innerhalb seines Gesamtwerkes bisher wenig oder gar keine Beachtung zuteil geworden ist. Simmeis wiederholte Rückgriffe auf den allgemeinen Sprachgebrauch und Sprachsinn, seine „Wortgrübeleien" (I. Fetscher) fallen selbst bei einem oberflächlichen Blick auf seine Publikationen ins Auge. Dieses lebendige Sprachbewußtsein läßt daher vermuten, daß er dem Phänomen der Sprache eine wichtige Bedeutung eingeräumt hat. Mehrere Beispiele mögen die sprachliche Sensibilität und das Sprachdenken Simmeis verdeutlichen. Unter Berücksichtigung etymologischer Zusammenhänge und an die Form des Wortspiels anknüpfend, legt Simmel die Lebensumstände als „Lebens-,Umstände'" aus, als das, „was nur um das Leben herumsteht, ohne sich irgendwie m i t seinen innersten Bewegtheiten und dem Fatum seines Charakters zu decken" (Kt 4). Die Wortbedeutung von Entzweiung läßt sich nicht auf den reinen Wortgehalt des Zwei-Seins reduzieren, sondern „die Sprache versteht den Ausdruck für das bloße ZweiSein, die Entzweiung, schon als Feindseligkeit..." (SchN 61). Den Begriff der K u l t u r leitet Simmel zunächst vom allgemeinen Sprachgebrauch des Wortes kultiviert ab. „Auch hier gewährt der Sprachgebrauch sichere Führung" (PK 225). Sagen wir, daß ein wilder Baum zu einem Gartenobstbaum kultiviert worden ist, so ist dieses Wort für die Bezeichnung der Herstellung eines Segelmastes aus eben demselben Baum bzw. Stamm ungebräuchlich. „Die Sprachnuance deutet ersichtlich an, daß die F r u c h t . . . doch schließlich aus den eigenen Triebkräften des Baumes heraustreibt... — während die Mastform seinem Stamme . . . hinzugefügt w i r d " (PK 226). Das aus dem Sprachgebrauch erschlossene Moment der Eigenentwicklung ist es, auf das es Simmel i n der Auseinandersetzung seines Kulturbegriffs an dieser Stelle ankommt. Simmel verfolgt schließlich, um ein letztes Beispiel anzuführen, die verschiedenen Bedeutungen und den Bedeutungswandel eines Wortes und macht sich diese sprachliche Mehrdeutigkeit, den „Doppelsinn", wie es bei Simmel meistens heißt, gedanklich zunutze. Das „Aufrufen" ent-
1. Sprachphilosophie und Sprachstil im Werk Simmels
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h ü l l t so neben seiner herkömmlichen umgangssprachlichen Bedeutung die des konzentrierten In-die-Höhe-Rufens (Schp 66). I m „Allgemeinen" deckt Simmel den Doppelsinn „des Abstrakt-Typischen, wie des sozialen Für-einander-Seins" (BT 165) auf. Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Einleitend war uns jedoch nur daran gelegen, den Weg zur Einsicht i n die Tragweite der Sprache, die ihr Simmel selbst zugemessen hat, freizulegen. a) Ursprung und sozialer Charakter der Sprache Simmel hat keine zusammenhängende, i n sich geschlossene Sprachphilosophie verfaßt, vielmehr durchziehen Äußerungen zu diesem Thema sein gesamtes Werk. Die frühesten sprachphilosophischen Bemerkungen finden sich i n einem Aufsatz aus dem Jahre 1882 m i t folgender Uberschrift: „Psychologische und ethnologische Studien über Musik" (ähnlich lauteten auch Titel und Gegenstand seiner ursprünglichen Dissertation; vgl. BdD 15). Simmel vertritt dort die These eines genetischen Zusammenhangs zwischen Musik und Sprache dergestalt, daß die Musik zunächst als Vokalmusik oder Gesang aus der Steigerung der modulatorischen und rhythmischen Elemente der Sprache hervorgegangen sei. Diese Behauptung enthält i n bezug auf Simmels Sprachphilosophie vorab nur den gleichwohl wichtigen Verweis auf die enge Beziehung von Sprache und Musik und die rhythmisch-modulatorische Verfassung der Sprache — ein Punkt, der uns später eingehender beschäftigen wird. Zur Begründung seiner These sieht sich Simmel jedoch darüberhinaus gezwungen, auch auf den Ursprung der Sprache einzugehen. Der entscheidende Satz hat den folgenden Wortlaut: „Sprache und Geist entwickeln sich i n gegenseitiger Stützung und Kräftigung, jeder Fortschritt des einen baut sich auf einem des anderen auf" (StM 265). Dieser an die grundlegenden sprachphilosophischen Forschungen Wilhelm von Humboldts anklingende Gedanke 7 w i r d ergänzt durch die Feststellung, daß die Sprache 7 Vgl. den bekannten Satz W. v. Humboldts, wonach man die Sprache nicht so sehr als ein totes Erzeugtes, sondern vielmehr als Erzeugung — oder wie es einige Abschnitte weiter heißt: nicht als ein Werk (Ergon), sondern als Tätigkeit (Energeia), als den lebendigen Vollzug des Sprechens — anzusehen habe; man müsse „mehr von demjenigen abstrahieren, was sie als Bezeichnung der Gegenstände und Vermittlung des Verständnisses wirkt, und da-
gegen sorgfältiger auf ihren mit der inneren Geistesthätigkeit
eng verwebten
Ursprung und ihren gegenseitigen Einfluß darauf zurückgehen" (Hervorhebungen v. Vf.; W. v. Humboldt, „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts", Hrsg. A. F. Pott, Zweiter Band, Berlin 18802, §8, S. 54). Unter dem Titel „Der Weg zur Sprache" hat Martin Heidegger (103) diese und die folgenden überaus wichtigen Passagen der Sprachphilosophie Humboldts einer eindringlichen Betrachtung unterzogen (S. 93—114).
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Kap. I I : Sprache, Begriff, System
„als Laut sinnlich, als bedeutungsvoll aber geistiger A r t ist" (DP 40) und die i m Nachlaß verzeichnete Anmerkung über das eigentlich „unsinnliche Medium der Sprache (denn der sinnliche Laut der Sprache ist nur symbolisch, das Physische daran ist nur akzidentell und administrierend)" (Frg 42). Die Simmelsche Zuordnung von Sprache und Geisteskraft des Menschen, die den bedeutsamen Humboldtschen Gedanken, daß die Sprache von ihrem Anfang an menschlich ist, teilt, erübrigt die hergebrachte theoretische Alternative, die die Sprache „entweder von genialen Individuen erfunden oder von Gott den Menschen gegeben" (Soz 3) zu erklären versuchte, und macht Platz für die Einsicht i n die „gesellschaftliche Produktion" der Sprache. Die Sprache wie die allgemeinen Geistesformen überhaupt, all jene „Gebilde erzeugen sich i n den Wechselbeziehungen der Menschen, oder manchmal auch sind sie derartige Wechselbeziehungen, die also aus dem für sich betrachteten Individuum freilich nicht herleitbar sind. Neben jene beiden Möglichkeiten ist eben nun die dritte gestellt: die Produktion von Erscheinungen durch das gesellschaftliche L e b e n . . . " (GdS 16). Die „soziale Produktionsart" (GdS 17) der Sprache setzt bei einer Grundvoraussetzung aller Wechselwirkung zwischen Menschen an: einem — wenn auch nie vollkommenen — Wissen um den Anderen, einem gegenseitigen Kennen. Dieses A p r i o r i jeder Beziehung w i r d dadurch vermittelt, daß „jeder Teil sich dem andren durch Worte und Leben offenbart" (Soz 256). Denn m i t dem gesprochenen Wort gibt der Eine dem Anderen mehr als nur den bloßen Inhalt seiner Worte, „ i n dem man sein Gegenüber sieht, und i n die mit Worten gar nicht auszudrückende Stimmungssphäre desselben eintaucht, die tausend Nuancen i n der Betonung und i m Rhythmus seiner Äußerungen fühlt, erfährt der logische oder gewollte Inhalt seiner Worte eine Bereicherung und Modifikation . . . " (Soz 287). Die mit bestimmten Begleiterscheinungen einhergehende sprachliche Äußerung bewirkt zunächst nur eine mehr oder weniger einseitige, i m Einen wie i m Anderen verbleibende gefühls- und stimmungsmäßige Reaktion. Zugleich ist der Sprachlaut aber auch die „Brücke" — man beachte die spezifische Bedeutung dieses symbolisch gebrauchten Simmelschen Wortes: die Brücke, die „zwar zwei Ufer verbindet, aber doch auch den Abstand zwischen ihnen meßbar macht" (Soz 63; vgl. BT 3) —, über die der Eine zu dem Anderen als zu seinem Objekt gelangt (Soz 484) und damit eine gegenseitige Kenntnis, aber auch wechselseitige Bestimmtheit und Festgelegtheit vermittelt. Bereits das Geben überhaupt, i n unserem Fall des gesprochenen Wortes (das Ansprechen) impliziert „keineswegs nur eine einfache Wirkung
1. Sprachphilosophie und Sprachstil im Werk Simmels
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des Einen auf den Andern, sondern ist eben das, was von der soziologischen Funktion gefordert w i r d : es ist Wechselwirkung. Indem der Andre entweder annimmt oder zurückweist, übt er eine ganz bestimmte Rückwirkung auf den ersteren" (Soz 444 Anm. 1). So erzeugt denn auch zuerst das Sprechen zusammen m i t dem Hören den „einheitlichen A k t des Nehmens und Gebens" (Soz 487), wobei es das i n soziologischer H i n sicht Eigentümliche des Gehörs ist, sich auch gegen den Willen des Hörenden aufnehmend verhalten zu müssen. N u n ist aber der Sprachlaut von dem sachlichen Inhalt des Gesprochenen nicht zu trennen. Vielmehr ist es gerade das Bleibende, das zumindest i n der Form des Gedächtnisses Festgehaltene des sprachlich geäußerten Sachgehalts, das wenigstens zu einer „objektiven Spur" gerinnt wie dies, „mittelbar oder unmittelbar, von allen Beziehungsarten zwischen Menschen, selbst von den gewechselten Worten" (Soz 484), der Fall ist. Die einzige Ausnahme bildet die unmittelbarste und reinste Wechselwirkung: das gegenseitige Sich-Anblicken, der Blick von Auge i n Auge, der zu „keinerlei objektivem Gebilde kristallisiert" (Soz 484). Simmel kann daher m i t Recht einwenden, daß dennoch „das Auge spricht, eigentlich heißt, daß es mehr sagt> als sich sagen läßt" (Rem
128). Umgekehrt gewinnt i m Vergleich zur sprachlichen Rede die schriftliche Äußerung i n der soziologisch relevanten Verkehrsform des Briefes ein besonderes Maß an objektiver Form und Existenz 8 . Diese, der brieflichen Mitteilung eigene Objektivierung ihres Inhalts, schließt dennoch, was gerade i h r Charakteristikum ausmacht, die „Objektivierung des Subjektiven" (Soz 287) ein und ist so ebenfalls an dem allen menschlichen Wechselwirkungen zugrundeliegenden gegenseitigen Wissen voneinander beteiligt. Denn einerseits fixiert derjenige, der den Brief schreibt, nur das schriftlich, was er gerade i n diesem Augenblick von der Sache und von sich selbst offenbaren w i l l . „Es ist der Vorzug und der Nachteil des Briefes, prinzipiell den reinen Sachgehalt unseres momentanen Vorstellungslebens zu geben und das zu verschweigen, was man nicht sagen kann oder w i l l " (Soz 287). Andererseits pflegt sich der Empfänger des Briefes „nicht m i t dem rein logischen Wortsinn zu begnügen, den der Brief freilich unzweideutiger als die Rede überliefert, ja unzählige Male kann er dies gar nicht, weil, um auch nur den 8 Daß die sprachliche Äußerung in gedruckter Form erst recht einen gänzlich anderen Charakter annimmt, hat Simmel in einer Zeitimgsnotiz zum Fall Schmoller mit aller Deutlichkeit niedergeschrieben. „Nur ein Banause kann meinen, jede mündliche Äußerung bliebe dieselbe, wenn sie, selbst ganz wörtlich, gedruckt wird. Der Ton, die Geste, der allgemeine Zusammenhang, der Eindruck der Persönlichkeit, die Stimmung des Auditoriums machen Bedeutung und Wirkung des gesprochenen Wortes oft zu etwas absolut anderem, als das gleiche Wort in gedruckter Form ist" (IndG 136).
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logischen Sinn zu begreifen, es mehr als des logischen Sinnes bedarf" (Soz 288). b) Das Wesen der Sprache (Satz und Wort) Simmeis wissenschaftlicher Einsatz m i t einer Studie über die A n fänge der Musik 1882 (Simmel zeigte damals eine deutliche Vorliebe für die beiden italienischen Dichter und Gelehrten Francesco Petrarca und Dante Alighieri) und sein frühes Wissen u m die „unvergleichliche Wichtigkeit der Sprache für uns" (DP 39) steht i n einem merkwürdigen Kontrast zu der Spärlichkeit seiner Aussagen über das Wesen der Sprache. Zwar finden sich vereinzelt Andeutungen darüber, daß das „Wesen der Sprache nicht den ersten Stammellauten des Kindes" (PdG 99) zu entnehmen sei und darüber, daß die Sprache „ f ü r uns dichtet und denkt, d. h. daß sie die fragmentarischen und gebundenen Impulse unseres eigenen Wesens aufnimmt und zu einer Vollkommenheit führt, zu dem diese, auch rein für uns selbst, sonst nicht gelangt wären" (PK 240)9, schärfere Konturen der Simmelschen Auffassung über das Wesen der Sprache zeichnen sich aber erst i n dessen posthum veröffentlichten schulpädagogischen Vorlesungen ab. Dort ist das siebte Kapitel eigens mit der Uberschrift „ V o n der Sprache und den Sprachen" versehen. I n diesem thematisch belangvollsten Kapitel umschreiben zwei nicht voneinander zu trennende Bestimmungen das Wesen der Sprache. Die Sprache ist „ein M i t t e l i n unzähligen teleologischen Schichten des Lebens, von der oberflächlichsten bis zur fundamentalsten, zugleich aber immer Zweck, ihre sinnvolle Schönheit, ihre A n m u t und Würde, ihre Klarheit und ihre Mystik, ihre K r a f t und Tiefe ist ein Wert, der sich selbst genug t u t . . . " (Schp 87). W i r konzentrieren uns zunächst auf die Auslegung des zuerst genannten Moments der sprachlichen Wesensbestimmung: der Sprache als eines Mittels i m Umkreis korrespondierender Gedankengänge Simmeis. Noch i n demselben Abschnitt, dem das obige Zitat entnommen ist, erläutert Simmel, wann er die Sprache als ein „Mittel", und zwar i m „niedrigsten Sinne des Wortes" versteht, dann nämlich, wenn „die Worte nur den notdürftigsten logischen Kern der Begriffe bezeichnen" (Schp 87), die Sprache also beschränkt w i r d auf ihre bloße Zeichenfunktion. Damit ist dem wesentlichen Moment der Sprache, ihrem Mittelsein jedoch noch nicht Genüge getan, denn die Sprache ist M i t t e l nicht nur der oberflächlichsten, sondern auch der fundamentalsten Schicht 9 Das geflügelte Wort von der Sprache, die für jeden „dichtet und denkt", gebraucht Simmel bereits in seinem 1882 veröffentlichen Aufsatz, dort allerdings bezogen auf die Nationalsprache (StM 298), also gerade nicht als Wesenszug des menschlichen Sprachvermögens überhaupt.
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des Lebens. Es führt einen Schritt weiter, wenn w i r die Wesensbestimmung der Sprache als M i t t e l i n Beziehung setzen zu dem sprachverwandten Wort der „ M i t t e " und des „Mittleren", dem Simmel i m gedanklichen Nachvollzug der Goetheschen Geistigkeit eine objektive und überindividuelle Bedeutung zuspricht — das „Mittlere" als „Gleichgewicht" oder „Ausgeglichenheit" und „Punkt der Souveränität" (Gt90) 10 . I n den „Hauptproblemen der Philosophie" begreift Simmel die Sprache nun als eines jener Gebilde, die „ein eigentümliches objektives, geistiges Dasein jenseits der einzelnen Geister gewinnen, die sie ursprünglich produziert haben oder nachträglich reproduzieren" (HdP71). Indem die Sprache diese besondere Form der Existenz annimmt, die Züge dessen auf weist, was Simmel nach Hegel wieder „objektiven Geist" nannte, ist sie ein Mittleres, ist sie i n eine „Zwischenform der Objektivität" (PK 246) eingestellt 11 . Das Wesen der Sprache als M i t t e l i m Sinne eines funktionierenden Zeichens, aber auch des Mittleren läßt eine dritte, sprachlich naheliegende Deutung zu, die das Mittelsein der Sprache unter dem Gesichtspunkt des „Mittlers" (Gt 95/96) und der Vermittlung auslegt. M i t t lerdienste leistet die Sprache immer schon dadurch, daß sich überhaupt Empfindungen und Gemütsbewegungen sprachlich kundtun, ihrer Innerlichkeit entäußern und gegenständlich werden. M i t Blick auf die Sprachentwicklung schreibt denn auch Simmel: „ . . . das menschliche Streben nach Aeußerung, nach Ausgleichung des inneren Affects durch äußere Motion, das bis dahin nur durch Gebärden und Schreien sich befriedigen konnte, findet i n der Sprache reichere und angemessenere Formen" (StM265). Die Entäußerung und Vergegenständlichung (geistig-)seelischer Vorgänge vermittels der Sprache umfaßt jedoch noch nicht eine bestimmte (nicht ganz ohne Grund läßt sich vermuten: schöpferische) Eigenaktivität der Sprache, die i n ihrer Mittlertätigkeit freigesetzt wird, und die Simmel durch die Formulierung ausspricht, daß sich die Sprache „den divergentesten Richtungen des Denkens und Fühlens unterstützend, verdeutlichend, herausarbeitend leiht" (PdG 533). W i r wenden uns jetzt dem zweiten Moment der sprachlichen Wesensbestimmung zu, die besagte, daß die Sprache nicht nur M i t t e l sei, sondern zugleich immer Zweck, ihre sinnvolle Schönheit, ihre A n m u t und 10 Man vergleiche die frühe Simmelsche Fassung dieses Wortes i m soziologischen Kontext, wo „das Mittlere" oder „der Mittlere" sich durch die Doppelfunktion des Verbindens und Trennens auszeichnet (Soz 297). 11 Ernst Michael Lange (58) ist der Umbildung der Hegeischen Lehre vom „objektiven Geist" u. a. auch in Simmels Kulturphilosophie nachgegangen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß „wie bei Düthey bei Simmel »objektiver Geist' Kategorie für einen besonderen Modus von Gegenständlichkeit ist, unter der sowohl die ,Inhalte' des Hegeischen ,objektiven* als auch des »absoluten Geistes' begriffen werden" (S. 44).
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Würde, ihre Klarheit und ihre Mystik, ihre K r a f t und Tiefe sei ein Wert, der sich selbst genug täte, denn — so setzt Simmel seine Ausführung fort — sie sei eine Kunst (Schp 87). Der letzte mit der begründenden Konjunktion eingeleitete Satz muß fürs erste außer Betracht bleiben. Das Wesen der Sprache als Zweck w i r d durch zahlreiche Attribute kommentiert, auf die zumindest i n einer Hinsicht einzugehen, aufschlußreich erscheint 12 . Die Sprache zieht ihre Selbstgenügsamkeit und ihren Eigenwert u. a. aus ihrer sinnvollen Schönheit. Dieser charakteristischen Eigenart, die Simmel an erster Stelle anführt, fügt er direkt anschließend das der Sprache eigene Merkmal der A n m u t und gleichsam als festigende Gegeninstanz noch das der Würde hinzu. Zur Ergründung des Zweckcharakters der Sprache trägt vielleicht nicht so sehr Simmeis Relation von Sprache und Schönheit i m allgemeinen bei — wiewohl Simmeis Exposition seines Begriffs der Schönheit, die er einmal als „die Verkörperung ideellen Gehalts i m realen Sein" (KG 67) umrissen hat, i n diesem Zusammenhang nicht bedeutungslos ist — als vielmehr die Verknüpfung von Sprache und Anmut i m besonderen, insofern Simmel A n m u t als „fließende Schönheit" (Mor I 228; BT 156) definiert. Simmel legt großen Wert auf diese Eigenbewegung der Sprache, so, wenn er beispielsweise fordert, daß „die Sprache dem wirklichen kontinuierlichen Fließen des Gedankens folgen" (Schp 88) soll. Tiefer begründet erklärt sich diese Forderung jedoch aus „der Bewegtheit und inneren Wahrhaftigkeit, der Fülle und I n d i v i d u a l i t ä t . . . , m i t der das wirkliche Leben sich i n der Sprache des einzelnen ausdrücken sollte und eigentlich möchte" (Schp 88). I n dieser Natur der Sprache als etwas Lebendigem wurzelt ihre wesentliche Bestimmung als Zweck. Aus Simmeis Idee der Sprache als einer lebendigen Sprache läßt sich auch des weiteren sein sprachphilosophischer Grundsatz ableiten, daß allein der Satz die zentrale Spracheinheit bildet, hierin i n Einklang mit der bekannten These vom „Primat des Satzes vor dem Wort", denn das einzelne Wort ist „eigentlich eine Abstraktion" (Schp 95), eine „bloße Worthülle" (Mor I, III), nur für „körperliche Erscheinungen geprägt" 12 Ein Wort sei wenigstens auch zu zwei Attributen der Sprache gesagt, die man nicht ohne weiteres in Simmeis Sprachphilosophie erwartet hätte: die Klarheit und vor allem Mystik der Sprache. Zunächst scheint es, als würde gerade die mystische Komponente der Sprache ihre Klarheit trüben. Gegen dieses MißVerständnis, „die populäre Verwechslung des Mystischen mit dem Mysteriösen" (Rem 148) hat sich bereits Simmel gewehrt Was Simmel mit der mystischen Beschaffenheit der Sprache verständlich machen will, erschließt sich aus dem, was Simmel „das logisch freilich nicht zu bewältigende Wesen der Mystik" nennt. Es ist das „Aufschwellen der Seele über sich selbst", das „Mehr-sein-als-sie-selbst", das der Mystik eignet (Rem 148).
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(Mor I I 293)13. Der Satz, der nicht etwas nachträglich aus Wörtern Zusammengesetztes ist, vereinheitlicht vielmehr erst das isolierte, sinnlose Nebeneinander der einzelnen Worte zu einem organischen sinngebenden Ineinander. „Wenn w i r einen Satz bilden, so fassen w i r die Worte, deren keines für sich den Sinn trägt, als aufeinander bezogen, als zusammengehörig auf, und i n dieser Einheit gewinnt der bloße Stoff der Worte, die Form des Satzes, oder u m jedes MißVerständnis auszuschließen: die Sinn-Einheit des Satzes ist zuerst da und faltet sich i n die Vielfalt der Worte auseinander . . . " ( K t 52). Es bleibt noch eine Simmelsche Bestimmung des Satzes wenigstens anmerkungsweise zu streifen, die über das bisher Vorgeführte i n einem wichtigen Punkt hinausgeht, damit aber zugleich den Zusammenhang von Satz und lebendiger Sprache bekräftigt. „Die wirkliche Spracheinheit ist der Satz", damit referiert Simmel seinen bereits vertrauten Grundgedanken, setzt dann aber den Satz näher erklärend hinzu „die Aussage eines Seins, eines Werdens, eines Geschehens" (Schp 95). I m Sagen des Satzes oder i n dessen Bewegung entsteht („wird") zuallererst das, was sich dann i m Satzaussagen gleichzeitig zu lauthaftem Dasein vergegenständlicht. c) Sprache und Kunst Die Sprache ist ein Mittel, zugleich aber immer Zweck, „denn sie ist eine Kunst, und Kunst ist,überall am Ziele', sie als Kunst, dient nicht" (Schp 87). Dies ist der vollständige Wortlaut des letzten Teiles des Satzes, von dem w i r i m vorhergehenden Abschnitt ausgegangen sind, und der bislang unberücksichtigt geblieben ist. Simmel macht verschiedentlich von der angeführten Schopenhauerschen Wendung Gebrauch (SchN 108; Rem 21), u m zu verdeutlichen, daß die Kunst überhaupt kein Ziel mehr i m Sinne des Lebens hat (Leb 75) 14 , denn die Kunst schafft eine autonome Sphäre, eine i n sich geschlossene „Welt für sich" 15 . Inwieweit ragt die Sprache i n diese Sphäre hinein oder gehört ihr sogar an? Gleich zu Beginn erwähnte Simmel das i n der Sprache liegende rhythmische und modulatorische Element (StM266), wobei diese Aus18 Der Wortstellung kommt für die Satzform allerdings eine besondere Bedeutung zu, denn „die Wortstellung gibt einen Rhythmus und eine Verteilung der Valeurs, organisiert Haupt- und Nebensachen so, wie es der Autor eben gewollt hat und wie w i r es durch dieses formelle Mittel möglichst nachzugestalten suchen müssen" (Schp 97). 14 Erich Tromnau (102) versucht diese Stelle durch den Vergleich mit der Wissenschaft auszulegen. „Im Gegensatz zur Wissenschaft, die nie ein letztes Ziel noch völlige Befriedigung finden kann, ist die Kunst überall am Ziel" (S. 36). 15 Eine eingehende Beschäftigung mit Simmels Kunstphilosophie findet sich bei Karl-Alfred von Marcard (71). Bemerkenswert ist vor allem § 15 seiner Abhandlung über die Dialektik der Kunst.
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drucksweise von einem isolierbaren rhythmischen und modulatorischen Teil der Sprache leicht irreführend ist, denn Rhythmus und Sprache bilden eine Einheit. Simmel bringt dies zur Sprache, wenn er wie folgt schreibt: „Der Wechsel von Tag und Nacht, der unsere ganze Lebensform bestimmt, zeichnet uns die Rhythmik als allgemeines Schema vor; w i r können nicht zwei, dem Sinne nach koordinierte Begriffe aussprechen, ohne daß psychologisch der eine den Akzent der Hebung, der andere den der Senkung erhielte . . . " (PdG 552; Hervorhebung v. Verf.) Der Sprachrhythmus 16 stellt nun gleichzeitig den ersten Anknüpfungspunkt zur Musik her. Dieser Anfang von Musik vollzog sich i n der Form eines zunächst noch rudimentären Gesanges, der erst i m Laufe der Entwicklung seine ursprünglich „rein naturhafte Äußerung" abgestoßen und jene „gelöste, zu einem besonderen Gebilde kristallisierte Form des Seins, die Kunst ist" (SchN 133), angenommen hat. Die Musik ist zur Kunst geworden da, wo bereits die Sprache das Musizieren als „Spielen" bezeichnet (StM 282), i h m also eine gegenüber dem zweckgebundenen Ernst des Lebens eigengesetzliche (Spiel-)Welt einräumt. Sprache und Musik sind aber nicht nur i n einem entwicklungsgeschichtlichen Sinne aufeinander bezogen, sondern die Sprache selbst offenbart so etwas wie „Musik" i m allerweitesten Sinne, eine „Rhythmik der Äußerung, als Schwingung des Gefühls über das begrifflich Fixierbare hinweg, als diejenige zeitliche und dynamische Ordnung des Darbietens, die für unsere Auffassungskraft die günstigste ist, als unmittelbare und kontinuierliche Übertragung eines seelischen Zustandes, den Worte und Begriffe nur stückweise und wie i n Zusammensetzung vermitteln können — " (Leb 74/75). Diese „Musik" der sprachlichen Äußerung gewinnt i n der Poesie, der Dicht-Kunst, autonome Formung und selbstgenügsamen Wert. Besonders offenkundig w i r d diese — wie sich Simmel einmal ausgedrückt hat — „Blutsverwantschaft der Poesie m i t der Musik" (StM 264) i m lyrischen Gedicht. Vor allem i n der L y r i k Stefan Georges, der Simmel große Aufmerksamkeit geschenkt hat 1 7 , „ w i r d die Musik des Gedichts — nicht nur die äußerlich-sinnliche, sondern auch die innere — zum beherrschenden Ausgangspunkt. Nicht als ob der Inhalt darüber zu kurz kommen 16 Es ist hier nicht der Ort auf Simmeis keinesfalls nebensächlichen Gedanken über den Rhythmus ausführlicher einzugehen und etwa seine Bezeichnung des Rhythmus als „die auf die Zeit übertragene Symmetrie" (PdG 556) entsprechend zu würdigen. Gewinnbringende Überlegungen hat in diesem Zusammenhang Thrasybulos Georgiades (103) in seinem schriftlich niedergelegten Vortrag: „Sprache als Rhythmus" angestellt (S. 75—92). 17 Vgl. die kunstphilosophische Studie Simmeis über Stefan George aus dem Jahre 1901 (PdK 29—45); sowie seine Betrachtung über Georges Gedichtband: „Der Siebente Ring" aus dem Jahre 1909 (PdK 74—78).
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müßte; aber das Gedicht w i r k t , als ob i h n die Musik, die rhythmischmelodische Bewegtheit, von sich aus erwachsen ließe" (PK 176/177). Die Sprache als rhythmische Äußerung ist sowohl Ansatzpunkt der Musik, wenn auch anfänglich i n der Form des bloß wirklichen, bloß natürlichen Gesanges und noch nicht als musikalisches Kunstwerk; wie ihr selbst auch etwas Kunstmäßiges inhäriert — es sei an Simmels Redewendung von der Sprache, die „ f ü r uns dichtet und denkt" (PK 240; Hervorhebung v. Verf.) erinnert — das gleichwohl erst i m poetischen Kunstwerk zur eigentlichen künstlerischen Selbstgenügsamkeit und Vollkommenheit gelangt 18 . Umso bemerkenswerter ist es, daß Simmel i n seinen 1915/16 gehaltenen schulpädagogischen Vorlesungen einzig i n bezug auf die Sprache auch die erneute Umkehrung, die Aufhebung der Kunst i n Natur, nicht nur für zulässig, sondern sogar für förderlich erklärte. „Wenn es etwas gibt, w o r i n die Kunst zur Natur werden soll, so ist es die Sprache" (Schp 88/89). d) Sprachkritik
und das Versagen der Sprache
Simmels Reflexionen über die menschliche Sprache sind von Anbeginn an von einer K r i t i k an der Sprache begleitet, hinter der sich eine „Sprachnot" 1 9 verbirgt, die i n dem Versagen der Sprache, einer Unaussprechlichkeit, einem Unnennbaren und Unsagbaren i m Gewahren des Absoluten gipfelt. Das Versagen der Sprache entfernt Simmel am weitesten von dem (sprach-)philosophischen Denken Hegels, i n dessen Philosophie vielmehr gerade das Absolute „niemals als ein Unsagbares, . . . , sondern nur als ein vollendet Vermitteltes, das i m Denken durch die Sprache als sich selbst wissend Dasein erhält, begriffen werden (darf)" 20 . 18 Unser Sprachgebrauch selbst legt nach Simmel noch Zeugnis von der Entwicklung des Gesanges aus der Sprache ab, „indem er die gesteigertste, gehobenste Form der Sprache, die Poesie, als Gesang bezeichnet" (StM 270). Simmel denkt den Übergang von Sprache in Dichtkunst offenbar noch als eine graduelle Steigerung, die erst später durch die radikale Drehung oder Wendung („Umschlag") in die Kunst oder allgemein Idealität abgelöst wird. 19 Diesen Ausdruck hat H.-G. Gadamer (30) eingeführt zur Kennzeichnung der unvermeidlichen Unangemessenheit des sprachlichen Ausdrucks für den philosophischen Gedanken. „Die Störung im Wissenwollen, die wir philosophisch' nennen, nötigt zum Ausbruch aus den gewohnten Schematismen der Erfahrung, die die Sprache anbietet und verbindlich macht. Philosophisches Denken ist aus diesem Grund immer und notwendig ein Denken in der äußersten Sprachnot. Denn die gewohnte Sprache der natürlichen »Lebenswelt' hält für das, wobei der philosophische Gedanke stutzt, keine Sprache bereit" (S. 13). 20 Henri Lauener, „Die Sprache in der Philosophie Hegels mit besonderer Berücksichtigung der Ästhetik", Band 10, Neue Folge der Sammlung »Sprache und Dichtung, Forschungen zur deutschen Sprache, Literatur und Volks-
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Wenden w i r uns aber nach der vorläufigen Skizzierung der Problematik den Problemen i m einzelnen zu. I n seiner ersten i m Buchhandel erschienenen soziologischen Arbeit „Uber sociale Differenzierung" (1890) sieht sich Simmel erstmalig mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß die Gegenstände seiner Fragestellung mit den überlieferten, normierten Formen des Denkens und Sprechens nicht zu meistern und sprachlich angemessen zum Ausdruck zu bringen sind. „Die Probleme späterer Zeiten drehen sich u m Begriffe und Verhältnisse, von denen die früheren keine Ahnung hatten, zu deren Bewältigung aber nur diejenigen Denk- und Sprechformen da sind, die von den letzteren zu ganz anderen Zwecken geprägt sind; diese Formen sind längst erstarrt, wenn es sich darum handelt, einen ganz neuen Inhalt i n sie aufzunehmen..." (Diff 18). Zwei Jahre später greift Simmel diesen Gedanken nochmals auf. Da die Sprache der K u l turlage ihrer Schöpfungsperiode verhaftet bleibt, gelingt es i h r nicht mehr, bestimmte, später entwickelte menschliche Beziehungsformen treffend zu Wort kommen zu lassen. Die Sprache „hat für jene ungewissen, schwebenden, gleichsam nur aus Obertönen bestehenden Beziehungen so wenig einfache Ausdrücke wie für die ihnen zu Grunde liegenden Gefühle. Es bleibt uns nichts übrig, als sie als Mischungen zweier ganz andersartiger zu bezeichnen" (Mor I 277). Diese, wenn man so w i l l , Sprachentfremdung, die nicht nur durch das, was i n der soziologischen Terminologie „cultural lag" heißt, zustande kommt, sondern auch durch das eigenmächtige, verselbständigte Fortschreiten der objektiven Kulturentwicklung, führt soweit, daß „ w i r sogar die Sprache" — überhaupt — „gelegentlich wie eine fremde Naturmacht empfinden, die nicht nur unsere Äußerungen, sondern auch unsere innersten Gerichtetheiten verbiegt und verstümmelt" (PK 241). Der eigentliche sprachkritische Antrieb Simmeis speist sich aber aus seiner Lehre vom Grundwiderspruch aller Form — also auch der Sprachform, denn selbst das lebendige Sprechen ist immer auch eine verfestigende (fest-stellende), konstante Formung — zum Leben. Das Leben kann aber nur „ i n die Erscheinung treten" (Konfl5), sich als geistiges Leben manifestieren, wenn es sich zu sich selbst i n Widerspruch setzt, d. h. Formen erzeugt oder sich i n Formen bewegt. „Das Leben ist unlöslich damit behaftet, nur i n der Form seines Widerspiels, das heißt i n einer Form i n die Wirklichkeit zu treten" (Konfl 26). Daraus ergibt sich für die Simmelsche Sprachphilosophie, daß „das Leben i n dem Augenblick, i n dem es als geistiges zu Wort kommt, dies eben doch nur i n Formen kann" (Konfl 25); gleichzeitig aber, „ w o es sich künde', herausgegeben von W. Henzen, W. Kohlschmidt und· P. Zinsli, Bern 1962, S. 67 (Vgl. auch: S. 10 und S. 33).
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ausspricht, eben nur sich selbst aussprechen (will)", dies aber nur kann, indem es wiederum „jede Form durchbricht" (Konfll4), zwar immer „formgestaltende(s), aber auch immer formdurchbrechende(s) Leben" (Konfl 20) ist. Der Grundwiderspruch von Leben und Form zeigt die Richtung an, i n der das Versagen der Sprache einsetzt: i n der „spezifischen Schauung" (Rem 45) des vor und jenseits aller Form gelegenen Lebens. Das Versagen der Sprache, dies ist wichtig festzuhalten, beinhaltet nicht Sprachlosigkeit, vielmehr impliziert das Ver-Sagen i n seiner ursprünglich zusammengesetzten Bedeutung ein bedrängtes und umso dringlicheres Sagen als die entschieden abweisende Vorsilbe „ver" gerade das Sagen i n Worten „abschlägt" 21 . Das Versagen ist dem Verstummen vergleichbar. „ I m Verstummen w i r d uns das zu Sagende nahegerückt, als etwas, für das w i r nach neuen Worten auf der Suche sind 22 ." Das Versagen der Sprache i n der Erfassung des vor aller geistigen, kulturellen und geschichtlichen Formung gelegenen Lebens t u t sich zuvorderst überall dort kund, wo jenes „seelische Ereignis" statthat, das Simmel als „Erleben" (BT 8) umschreibt. I m Zusammenhang m i t der Explikation seiner Zeittheorie heißt es unmißverständlich, daß „Zeit die — vielleicht abstrakte — Bewußtseinsform dessen ist, was das Leben selbst i n nicht aussagbarer, nur zu erlebender unmittelbarer Konkretheit i s t . . . " (Leb 11). Der unmittelbare —unmittelbar nicht nur, weil i n abrupter Augenblicklichkeit zugespitzte, sondern zugleich auch der Vermittlung unbedürftige, weil sich selbst gleiche — Bezug zum konkreten Ganzen des Lebensprozesses zeichnet das „Erleben" aus, denn „ i m ,Erleben' w i r d das Leben, der intransitivste aller Begriffe, i n unmittelbaren funktionellen Konnex m i t der Objektivität gesetzt..." (Frg 150). Dies geschieht nun aber nicht wie i m Erkennen i n Form einer gegenständlichen Subjekt-Objekt-Beziehung, die der Sprache zugänglich wäre, sondern "dies O b j e k t i v e . . . (wird) zu Momenten des Lebensprozesses selbst", „sozusagen i m Leben selbst aufgelöst" und „von i h m assimiliert" (BT δ) 23 . 21 Vgl. die Ausführungen im „Deutschen Wörterbuch" von Jacob und W i l helm Grimm, Band X I I , 1. A b t , Leipzig 1886, S. 1031—1035; in „Trübners Deutsches Wörterbuch", hrsg. v. Alfred Götze, wird auf die einstmals positive Bedeutung des hier als Verbalsubstantiv gebrauchten Zeitworts abgehoben im Sinne von »„aussagen, zu Ende sagen4 . . . So lebt es noch in Schwaben: I ka dir's net versage ,kann nicht genug Worte dafür finden'" (Berlin und Leipzig 1937, S. 538); vgl. auch das „Wörterbuch der Deutschen Sprache" von Daniel Sanders, Zweiter Band, Zweite Hälfte, Leipzig 1865, S. 840. 22 H.-G. Gadamer (28), S. 227. I n ähnlicher Weise verhält es sich auch mit dem Schweigen, das nicht einfach „Lautlos-Sein" bedeutet, sondern eine bestimmte Weise des Sprechens (Richard Hönigswald, „Philosophie und Sprache". Problemkritik und System, Basel 1937, S. 164). 23 Die Worte „Erleben" und „Erlebnis" standen um die Jahrhundertwende in hoher Blüte, woran Simmel nicht unerheblich teilhatte. H.-G. Gadamer (27)
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Das V e r s a g e n der Sprache i n d e r A n s c h a u u n g eines n i c h t m e h r aussagbaren, s o n d e r n n u r z u e r l e b e n d e n Lebens, L e b e n als „ A k t c h a r a k t e r des B e w u ß t s e i n s " , w i e H o r s t M ü l l e r diese B e s t i m m u n g des S i m m e l s c h e n Lebensbegriffs d e f i n i e r t h a t 2 4 , v e r s c h ä r f t sich i n d e r A n s c h a u u n g des t i e f g r ü n d i g e r e n Lebens d e r Seele. So a r t i k u l i e r t sich die sprachliche O h n m a c h t i n d e n „ d u n k l e n U n a u s s p r e c h l i c h k e i t e n d e r Seele" ( R e m 128), i n d e m „ G e h e i m n i s " u m das „ L e t z t e , Unsagbare, U n e r k e n n b a r e d e r Seele" ( F r g 35). E i n e n A u s g r i f f auf das g e h e i m n i s v o l l e i n n e r e L e b e n d e r Seele h a t S i m m e l i n d e m V e r s u c h u n t e r n o m m e n , das „ K r e i s e n d e r Seele i n sich selbst" i n e i n e m z u sehen m i t d e m ü b e r g r e i f e n d e n „ S c h w i n g e n d e r Seele ü b e r sich selbst h i n a u s " ( R e m 194). Dieses, w i e es a n e i n e r a n d e r e n S t e l l e h e i ß t , „ A u f s c h w e l l e n d e r Seele ü b e r sich selbst" ( R e m 148) f ä l l t m i t S i m m e i s spezifischer Fassung v o n M y s t i k zusammen, so daß m a n v e r s u c h t ist, das V e r s a g e n d e r Sprache angesichts des Lebens der Seele diesem i h r e m m y s t i s c h e n K e r n a n z u l a s t e n 2 5 . Es b l e i b t j e d o c h beist sogar der Auffassung, daß Georg Simmel „den Aufstieg des Wortes E r lebnis' zu einem Modewort nicht nur begleitet" hat, „sondern zum guten Teil mitverantwortet..." (S. 65). Jedoch nicht dies steht hier zur Debatte, sondern vielmehr der Umstand, daß Gadamer (27) bei seiner Analyse der Wortgeschichte von „Erlebnis" auf die romantische Vorprägung dieses Wortes stößt (S. 59/60). I n der Tat figuriert bei Simmel die dem Erleben eigentümliche Unmittelbarkeit auch als wesentliches Merkmal der romantischen Gesinnung. „Der romantischen Gesinnung kommt es auf das Leben in seiner Unmittelbarkeit, also auch in der Individualität seiner jeweiligen Form, seines Hier und Jetzt, an; sie spürt die volle Stromstärke des Lebens gerade am meisten an der Punktualität eines dem normalen Lauf der Dinge entrissenen Erlebnisses, bis zu dem nun dennoch vom Herzen des Lebens her ein Nerv sich spannt" (PK 19). Trotz dieser und manch anderer Berührungspunkte Simmeis mit der Romantik wurden seine kritisch distanzierenden Äußerungen ihr gegenüber vor allem gegen Ende seines Lebens bisher weitgehend ignoriert. I n seinem 1913 publizierten „Goethe" bezeichnet er die „gleichsam unsubstanziierte Sehnsucht" als den spezifischen Affekt der Romantik. Sie liegt dort vor, „wo die Seele nur in sich selbst kreist, und dennoch ein Unendliches außer sich weiß, das sie erfassen möchte..." ; er vergleicht sie auch mit „Formlosigkeit und sterilem Hinstarren auf ein problematisches Absolutes..." (Gt 187). Seine grundsätzliche Kritik hat er später noch einmal auf die folgende knappe Formel gebracht: „Romantik (im überhistorischen Sinne): Sehnsucht nach dem All, dem Unendlichen und als Mittel ihrer Erfüllung nur das rein subjektive Leben" (Frg 40). 24 Korst Müller (75) zählt vier logisch voneinander zu unterscheidende Varianten des Lebensbegriffs auf, die Simmel dialektisch in eine Verschmelzungseinheit gebracht habe: „1. Leben als reine Vitalität, als Daseinsstrom. 2. Leben als Aktcharakter des Bewußtseins (Erlebnisfunktion). 3. Leben als geistige, geschichtliche, kulturelle Erscheinung ( = Idee, Wert, Objektivation, Kristallisation). 4. Leben als höhere und heile metaphysische Instanz, die die Gegensätze und Zerissenheiten in einer phänomenologisch nicht mehr erfaßbaren Einheit versöhnt bzw. allem Riß vorausgeht" (S. 31/32). 25 Die mystische Denkweise war Simmel vor allem in der Vermittlung Meister Eckharts vertraut, von dessen Tiefe und Freiheit des Geistes er sich „völlig überwältigt" zeigte (in einem Brief an Heinrich Rickert vom 29. X I I .
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stehen, daß S i m m e l d e r Sprache selbst eine mystische Beschaffenheit zugesprochen u n d z u g e t r a u t h a t (Schp 87; v g l . A n m . 12). Das Sprachversagen e r r e i c h t i m schauenden I n n e w e r d e n des L e b e n s d e r Seele d e n t i e f s t e n P u n k t ; i n d e r A n s c h a u u n g des A b s o l u t e n w i r d es dagegen a u f die S p i t z e g e t r i e b e n 2 6 , d e n n „ d a s Transzendente, das A b solute, . . . , i s t ü b e r a l l e W o r t e h i n a u s " . S i m m e l b e g r ü n d e t diese SprachJ e n s e i t i g k e i t des A b s o l u t e n d a m i t , daß „es auch ü b e r a l l e r F o r m l i e g t . D e n n alles G e f o r m t e i s t als solches e i n B e g r e n z t e s . . . " ( P K 137). S i m m e l h a t es n u n a b e r als „ B o r n i e r t h e i t " a b g e l e h n t , e t w a „ d e n ,Geist 1 oder das ,Leben 4 als das A b s o l u t e z u v e r k ü n d e n " ( L e b 109), w e n n g l e i c h diese auch das Höchste u n s e r e r menschlich b e s c h r ä n k t e n M ö g l i c h k e i t e n ausmachen. E r h a t sich ebenso g e w e i g e r t , das A b s o l u t e m i t G o t t z u i d e n t i f i z i e r e n : „ . . . auch d e r v o r s i c h t i g s t e V e r s u c h e i n e r p o s i t i v e n B e s t i m m u n g ü b e r s c h r e i t e t unsere D e n k r e c h t e " ( L e b 109) 27 . So w i r d d e n n das äußerste V e r s a g e n der Sprache, das S p r e n g e n d e r sprachlichen F o r m als solcher, i n S i m m e l s eigener c h i f f r e - a r t i g e n (Chiffre i m S i n n e K a r l Jaspers als „Sprache d e r T r a n s z e n d e n z " ) Rede v o n e i n e m „ d r i t t e n U n s a g b a r e n " ( F r g 3) o f f e n k u n d i g . Es b i r g t , w i e H o r s t M ü l l e r i n t e r p r e t i e r e n d schreibt, „ d i e ganze F ü l l e m ö g l i c h e r m e t a physischer A b s o l u t h e i t e n " 2 8 . 11; BdD 109). Dennoch hat Simmel gegenüber der mystischen deificatio einen entscheidenden Einwand vorgebracht. „Ginge sie (die Seele) aber wirklich ganz in ihm (Gott) auf, könnte sie sich in die schrankenlose Verschmelzung mit ihm auslöschen, — so würde die Seele im Leeren stehen" (Rei73; s.a. SchN 204). 26 Daß Seele und Absolutes zwei extreme Seiten darstellen, legitimiert sich zusätzlich durch folgenden Satz aus Simmels Nachlaß: „Ich stelle mich in den Lebensbegriff wie in das Zentrum; von da geht der Weg einerseits zu Seele und Ich, andererseits zur Idee, zum Kosmos, zum Absoluten" (Frg 6). 27 Bestimmte Simmelsche Ausdrucksweisen wie zum Beispiel das „Geheimnis und die Unsagbarkeit des Absoluten" (SchN 185) oder die Rede von einem „noumenalen Absoluten" (Gt256) bezeugen dennoch die Gründung dieses Wortes im religiösen Bereich (Vgl. Romano Guardini [103], S. 11—31). Daß es Simmel vermieden hat, das Absolute Gott zu nennen, mag zum geringsten Teil mit dem jüdischen Verbot, den Gottesnamen auszusprechen, zusammenhängen; und wenn, dann eher im Sinne Theodor W. Adornos und Max Horkheimers (5): „Die jüdische Religion duldet kein Wort, das der Verzweiflung alles Sterblichen Trost gewährte. Hoffnung knüpft sich einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit" (S. 30). Von zentraler Bedeutung dürfte dagegen ein Ausspruch Simmels gegenüber Margarete Susman sein, die diesen wie folgt mitteilt: „Ich begreife nicht, daß Nietzsche ein solches Geschrei darum macht, daß Gott tot ist; das wissen wir doch längst" (BdD 289). Das zur Selbstverständlichkeit gewordene Gefühl dessen, „worauf die Religion der neuen Zeit beruht, das Gefühl: „Gott selbst ist tot", wie Hegel bereits 1802 in „Glauben und Wissen" notiert hat, läßt Gott nur noch als „ein Suchen" (HdP 108) zu. 28 Horst Müller (75), S. 148. Isadora Bauer (8) deutet dieses „dritte Unsagbare" als den „transzendenten Logos" (S. 34).
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Kap. I I : Sprache, Begriff, System
2. Begriffskritik und der Vorrang des Lebens gegenüber dem Begriff a) Der Begriff
(und das Allgemeine)
I m ersten Abschnitt des zweiten Kapitels gingen w i r von der Grundeinsicht aus, daß i n der Philosophie Sprache und Denken einen innigen Zusammenhang bilden. Alles Denken ist zugleich Sprachvollzug. Nunmehr rückt i n den Mittelpunkt der Überlegungen, daß sich philosophisches Denken recht eigentlich i n Begriffen bewegt und i n dieser Begrifflichkeit auch zur Sprache kommt. Die Begrifflichkeit, i n der sich das philosophische Denken ausspricht, w i r f t eine Frage auf, der sich jede Lebensphilosophie stellen muß. Philipp Lersch skizziert den K e r n des fraglichen Problems m i t wenigen Worten. „Die lebensphilosophische K r i t i k am logisch-rationalen Weltbild . . . führt notwendig zu der Frage, wieweit das Denken überhaupt imstande ist, die Wirklichkeit i n sich aufzunehmen, wieweit also die Grundform der Begrifflichkeit nicht von vornherein der Struktur des Lebendigen unangemessen i s t 2 9 . . . " Die Behandlung und Darstellung des Verhältnisses von Begriff und Leben hier i m Werk Simmeis stellt nicht nur aus lebensphilosophischer Sicht eine Hauptschwierigkeit dar, sondern beschwört i m Gesamtkontext unseres Themas, das sich auf das hegelianisierende Denken i n der Philosophie Simmeis richtet, eine A r t Krise herauf, denn i m Hegelschen System kommt nicht nur der Sprache als Dasein des Geistes eine umfassende und zentrale Stellung zu, sondern erst recht dem Begriff, der i n seiner höchsten Form, der „Idee", der Geist selbst ist. Zunächst bedarf es aber einiger Vorüberlegungen, um jene Stufe des Simmelschen Denkens zu erreichen, auf der das problematische Verhältnis von Begriff und Leben angesiedelt ist. Es war bereits die Rede von der lebensphilosophischen K r i t i k am logisch-rationalen Weltbild (Ph. Lersch). I h r hat sich Simmel weitgehend angeschlossen. Das „Wesen des Rationalismus" ist i h m die „ausschließliche Wertung des logisch-begrifflichen D e n k e n s . . . " (Kt 8); so wie der eng m i t dem Rationalismus verschwisterte Intellektualismus i m „messende(n), wägende(n), rechnerisch exakte(n) Wesen der Neuzeit" (PdG 499) seine reinste Ausgestaltung findet. M i t Bezug auf Leben und Begriff äußert Simmel nicht zufällig i n einem Aufsatz über „Henri Bergson" aus dem Jahr 1914, daß der Intellekt „den Stoff des Lebens und der Dinge zerschneidet, um i h n zu Werkzeugen, zu Systemen, zu Begriffen zu machen. Er ist das nach außen gewandte Leben, das sich das Verhalten der anorganischen Natur, die mechanistische Berechenbarkeit aneignet..." (PdK 137). I n 29
Ph. Lersch (60), S. 35. Vgl. von demselben Autor: (59).
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diesem Satz klingt ein kritischer Einwand gegenüber den Begriffen an, den Simmel schon i n seinen frühesten Schriften erhoben hat: der Tadel an der Starrheit, Unbeweglichkeit und Enge der Begriffe (Diff 15, Mor I I 93, K t 144, BT 81), dem sich der Vorwurf der mangelnden Differenzierung und Konkretheit der Begriffe zugesellte ( M o r l 368, Mor I I 35, K t 199)30. Das ganze ethische Frühwerk Simmels ist durchgehend von einer K r i t i k am Begriff gezeichnet, wie er dies selbst i n der Vorrede zum ersten Band der „Einleitung i n die Moral Wissenschaft" (man beachte den Untertitel: „Eine K r i t i k der ethischen Grundbegriffe") auseinandersetzt. „Sie" (die nachfolgenden Gedankenreihen) „kritisieren die scheinbar einfachen Grundbegriffe, m i t denen die Ethik zu arbeiten pflegt, und zeigen einerseits deren höchst komplizirten und vielseitigen Charakter auf, andererseits den Begriffsrealismus, m i t dem man sie aus nachträglichen Abstraktionen zu wirkenden psychischen Kräften gemacht hat" (Mor I, IV). Es nimmt daher nicht wunder, daß sich Simmel in dieser Phase seines (begriffskritischen) Denkens zu einer streng nominalistischen Auffassung des Begriffs bekannt hat: die Begriffe als „blosse Hinweisungen auf Wirklichkeiten" (Diff 15), als „Symbole der Anschauungen" (Mor I I 282)31. Ein sachgemäßeres, den Intentionen der Simmelschen Philosophie näherkommenderes Begriffsverständnis zeichnet sich dort ab, wo dem Begriff eine „andre innere Struktur" als dem unter i h m Befaßten zugesprochen wird, wo der Begriff das i n i h m Verdichtete „auf eine neue Ebene projiziert" und i n einer „prinzipiell andern Form" (Soz 408) ausdrückt. Die adäquate Ebene der Begrifflichkeit ist erst dort erreicht, wo der Lebensprozeß ein bewußt geistiger geworden ist. Erst der „geistige Lebensvorgang hat Inhalte, er erzeugt innere Gegenstände: Vorstellungen, Begriffe, Erkenntnisse; und diese haben eine eigentümliche andere A r t von Bedeutung und Bestand, Gültigkeit und Ordnung als der monotone Ablauf des bloßen Geschehens" (FrgL30). Einige Zeilen weiter faßt Simmel den entscheidenden Gedankengang noch einmal wie folgt zusammen: „Kurz, indem das Leben die Stufe des Geistes ersteigt, bildet es Formen aus, die einen irgendwie gegebenen Stoff gestalten, und baut sich, indem sein Prozeß weiter und weiter verläuft, eine Welt geistiger Inhalte auf" (FrgL 30). Das geistige Leben bringt also den Begriff her30 Es ist von Th. W. Adorno zu Recht bemerkt worden, daß Simmel keine eigentliche Terminologie ausgebildet hat („Philosophische Terminologie", Zur Einleitung, B a n d i , Frankfurt a. M. 1973, S. 62), verstärkt sich doch in der Künstlichkeit des Terminus die bereits am Begriff kritisierte Starrheit. 31 Zur Entwicklung des Symbolbegriffs i m Gesamtwerk Simmels vergleiche: H. Müller (75) § 6 Wirklichkeit und Symbol, S. 32—37.
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vor, setzt i h n aus sich heraus als geistiges Gebilde, als eine seiner Formen. Die Ebene oder Schicht der Begrifflichkeit fällt also, wie dies von Simmel selbst auch so gesagt wird, m i t dem Reich der Formen zusammen (Konfl 27 Anm. 1). Aus dieser Koinzidenz von Begriff und Form folgt des weiteren die Lebens jenseitigkeit (Leb 53) und Zeitlosigkeit (PK 214) der Begriffe. Dem Begriff als einem geistigen Gebilde kommt nun nicht nur deshalb Gegenständlichkeit zu, w e i l er als ein Gestalteter oder Geformter dem kontinuierlichen Lebensprozeß entgegensteht und jenen besonderen Modus von Gegenständlichkeit annimmt, der bereits unter dem Titel „objektiver Geist" i n einem anderen Zusammenhang Erwähnung fand, sondern auch deshalb, weil es die Funktion des Begriffs ist, „daß ein Ding überhaupt erst zu einem Ding w i r d " (Leb 173). Das Werden eines Dings — Simmel bedient sich auch des Ausdrucks: „ding-schaffender Begriff" (Leb 175) — vollzieht sich i n einem „Zusammenwirken von Unterscheiden und Verbinden" (Leb 173). Das Ding wird, indem der Begriff den aus dem unmittelbar Gegebenen abgehobenen „Anschauungsabschnitt" als ein Einheitlich-Eines bestimmt. Daß hierbei jede Vorstellung von einem greifbaren, stofflichen Ding aus dem Spiel bleiben muß, betont Simmel i n den „Hauptproblemen der Philosophie". „Das, was ein Ding geistig bedeutet, wodurch es als ein Element des geistigen Lebens konstruierbar wird, ist sein Begriff" (HdP 73/74; Hervorhebung v. Verf.). Und, um jedes Mißverständnis auszuschließen, fügt er nochmals anders gewendet hinzu, daß der Begriff „ein bloß geistiges, für den Geist bedeutsames Gebilde ist" (HdP 74)32. 32 Simmel hat sich 1910 die Aufgabe gestellt, zu einem Verständnis der Philosophie aus der Lebendigkeit ihres inneren Prozesses, aus der Bewegung des Denkens und weniger den Denkresultaten anzuleiten. Er versetzt sich hierzu in die Lage eines Philosophen, der i m Vollzug seiner Geistesbewegung die bereits vorliegenden Lösungen der „Hauptprobleme der Philosophie" darstellend in Erwägung zieht, um zu einer eigenen Lösung der Probleme vorzudringen. So führt denn Simmeis Verständnis des Begriffs als eines geistigen Gebildes zum philosophischen Denken Hegels, für den „diese Bedeutung des Begriffs von der äußersten Wichtigkeit" (HdP 74) gewesen sei. Hegel hat nach der Darstellung Simmeis den unbefriedigenden erkenntnistheoretischen Subjektivismus des Kant-Fichteschen Idealismus dadurch überwunden, daß er die Notwendigkeit einer geistigen Objektivität in Anschlag brachte. „Erkennen ist mehr als bloßes Vorstellen, als der momentane Bewußtseinsakt des Subjekts, es ist das Vorstellen, das die Dinge in der Form des Geistes in sich enthält..." (HdP 75). Hieraus folgt für die Lösung des Problems der Erkenntnis, daß sich „die Fremdheit zwischen der subjektiven Vorstellung und der objektiven Wirklichkeit, die das Erkennen immer wieder zum Problem macht, dadurch versöhnt, daß in beiden jeweils derselbe gültige Inhalt besteht, beide die Verwirklichungen von »Begriffen' sind. Darum ist der Begriff für Hegel durchaus nicht nur eine Abstraktion... sondern der durchaus konkrete Sachgehalt der Dinge, das Ding in der zeitlosen Sprache des objektiven Geistes . . . " (HdP 75).
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I n Einklang damit steht das nahe Zusammenrücken des Begriffs m i t dem, was Simmel als das Allgemeine begreift. Er formuliert den i n Rede stehenden Zusammenhang als solchen dadurch, daß er den Begriff als „ein i n der Kategorie des schlechthin Allgemeinen liegendes Gebilde, eine für unzählige Inhalte gesetzgebende Form" (Leb 174) vorstellt. Simmel kennt aber mindestens drei verschiedene A r t e n dieses Begriffs: erstens das Allgemeine i m sozialen Sinn. Die Gesellschaft ist ein Allgemeines, aber ein solches, das nicht abstrakt ist. Es liegt hier der Versuch vor, „das Allgemeine zu bejahen und doch seine Abstraktheit zu verneinen: ein Erheben über das Einzelne, ein Ableiten des Einzelnen aus einem Allgemeinen, das doch volle und gediegene W i r k lichkeit besitzt" (PdG 195). Davon unterschieden ist zweitens das A l l gemeine i n der Kunst, das sich dadurch auszeichnet, daß es „sozusagen absolut ist, d.h. keiner Einzelheit als eines logischen Korrelats bedarf . . . " (Rem 118), weil es sich gar nicht u m eine logische Allgemeinheit handelt, sondern — so könnte man sagen — u m eine immanente Verallgemeinerung der künstlerischen Individualität. Das Allgemeine enthält schließlich drittens als „philosophische Allgemeinheit" eine weitere abgrenzbare Bedeutung. Dieser philosophischen Allgemeinheit fügt sich am wenigsten die von Simmel immer wieder attackierte, durch Abstraktion aus den Einzelerscheinungen gewonnene theoretisch-logische Allgemeinheit ein. Zunächst hatte es allerdings den Anschein, als ob Simmel m i t der Charakterisierung des Begriffs als einem i n der Kategorie des schlechthin Allgemeinen liegenden Gebildes auf jene i m Verstandesdenken steckenbleibende, i m schlechten Sinn einfache, w e i l ganz und gar abstrakte und damit leere Allgemeinheit abzielte. Daß dies nicht der Fall ist, deckt eine sprachliche Wendung auf, die das Allgemeine durch die appositionelle Hinzufügung des Wortes „Typus" näher verdeutlicht. I m übernächsten Satz des betreffenden Textzusammenhangs w i r d das so gekennzeichnete Allgemeine als Typus als „das dem Begriff verwandte Allgemeine" ausgewiesen, „eine Form oder ein Gesetz, das eine unbegrenzte Zahl von Einzelexistenzen bes t i m m t . . . " (BT 251). Der Typus ist nach Simmels Auskunft „ein Gebilde, das sich weder mit der einzelnen, realen Individualität deckt", also Uberindividualität beansprucht, noch aber auch „eine Objektivität jenseits der Menschen und ihres Lebens darstellt" (HdP 25), vielmehr jene ideale Objektivität meint, die man am besten m i t dem Ausdruck des „Allgemein-Menschlichen" umschreiben könnte 33 . Der Typus teilt schließlich m i t dem BeDie Logik stellt schließlich die lebendige Beziehung und Entwicklung der Begriffe untereinander her. „Als diese Bewegtheitsform entdeckt Hegel die Logik" (HdP 76). 33 Vgl.: Gt 161 f. Zu der Frage nach dem Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen hat sich Simmel insbesondere in dem zweiten Kapitel seines
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griff, hierin nicht mehr nur m i t i h m verwandt, die Erhebung auf die Ebene der Zeitlosigkeit (Rem 97). b) Rationale und vitale
Logik
Simmeis frühe K r i t i k am Begriff wurzelte i n der Frontstellung gegenüber dem vorherrschenden neuzeitlichen Rationalismus und Intellektualismus und deren ausschließlichen Wertung des diskursiven logischbegrifflichen Denkens. Manches Element der bereits am Begriff geübten K r i t i k hat Simmel daher auch i n seiner Einschätzung der Logik wiederholt, an erster Stelle den Vorwurf der „Starrheit begrifflich-logischer, also unbedingter Geltung" (Mor I I 35). Die konstatierte Unbeweglichkeit der m i t dem Anspruch der Allgemeingültigkeit 3 4 auftretenden formalen Logik verbindet Simmel m i t Henri Bergsons Wendung gegen die verstandesmäßige, mechanische Auffassung des Lebens. So lobt er dessen „tiefe Bemerkung, daß unsere Logik fast durchgehends die Logik der festen Körper ist. Sie ruht i m wesentlichen — gerade wie der Mechanismus — auf den Grundbegriffen Identität und Anderssein... Der Gegensatz der Identität und des Andersseins verschwindet" aber i n der lebendigen „Kontinuität des Sichänderns" (PdK 137). Dem Angriff auf den mechanistischen Grundzug der Logik steht der eintönige Formalismus der rationalen Logik zur Seite, m i t der Simmel nicht weniger streng ins Gericht geht. Die „logischen Formen" zeichnen sich dadurch aus, daß sie „sich jedem beliebigen Inhalt, seiner Entwicklung oder Kombination gleichmäßig darbieten und eben dadurch freilich dem sachlich Unsinnigsten und Verderblichsten dieselbe Chance der Darstellung und formalen Richtigkeit wie dem Wertvollsten gewähren" (PdG 494). Simmel scheut sich schließlich nicht, den Schematismus der Bürokratie m i t dem der Logik zu vergleichen (Soz 427). Seine K r i t i k an der rationalistisch verengten und eines tieferen Sinns baren Logik verdichtet sich während des ersten Weltkriegs zu der A n nahme einer schweren philosophischen Krisis. Simmel glaubt 1916 A n zeichen dafür entdecken zu können, daß der „ganze philosophische Apparat zu einem Gehäuse zu werden beginnt, der vom Leben entleert ist" (KgE 54). „Rembrandt" geäußert: „Die Individualisierung und das Allgemeine" (Rem 77—140). Immer noch lesenswert ist in diesem Zusammenhang die Abhandlung von Theodor Litt über „Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis", Berichte über die Verhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, 93. Band 1. Heft, Leipzig 1941. 34 Auf den im Hintergrund stehenden, durch Hermann Lotze gebräuchlich gewordenen Begriff der Geltung soll hier nicht weiter eingegangen werden. Vergleiche beispielsweise die drei herausgestellten Bedeutungen dieses „schillernden" Begriffs bei Martin Heidegger, „Sein und Zeit", Erste Hälfte, Halle a. d. S. 19313, S. 156.
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Uber diesen Befund eines Absterbens angemessener Begriffe und eines Hohlwerdens der logischen Formen hinaus ist i h m später zur eigentlich schmerzlichen Gewißheit geworden, daß die m i t der Blütezeit der griechischen Philosophie anhebende, einst so siegreiche Macht der logischen Vernunft zu Ende gegangen ist. „Dies aber kann die altgewordene, differenzierte, unnaive Menschheit nicht mehr aufbringen: die Welt i n ihrer Wirklichkeit und i n ihrer Liebe, i n ihrem Sinn und ihren Gemütswerten i n einen logischen Bau abstrakter Begriffe und ihnen analoger metaphysischer Wesensarten zu verwandeln und dies als das tiefste Glück des Gemüts zu empfinden, aus dem logischen Denken jene Erschütterungen und ahnungsvollen Beziehungen zum Grunde der Dinge zu schaffen, die spätere Zeiten nur durch die Abkehr von dem bloßen Denken gewinnen können, durch die Spaltung zwischen logischer Struktur und lebendem und fühlendem Dasein, dessen Unmittelbarkeit weder i n die platonischen noch i n unsere Begriffe aufgeht, sondern nur i n seiner eigenen Tiefe erlebt werden kann" (Frg 146). Simmels Gewißheit von der kraftlosen Ohnmacht der logischen Vernunft bedeutet indessen keineswegs den endgültigen Verzicht auf Logik und Begriff überhaupt. Vielmehr bricht sich schließlich m i t der allmählichen Entfaltung seines Gedankens von einer „vitalen Logik" der Zugang zu einer letztlich dialektischen Logik Bahn. Die früheste A r t i k u l a tion des Gedankens von einer „besondere(n) Logik" (Schp 55) findet sich i n einem an Marianne Weber gerichteten Brief vom 14.12.1913. Simmel kommt dort auf ein Motiv zu sprechen, das ihn schon seit längerer Zeit beherrsche: „daß die Elemente des Lebens, sobald die Begriffsbildung sie aus der Gesamtstimmung des Lebens gelöst und verselbständigt hat, einer ganz anderen Logik gehorchen und ganz andere Bedeutungen zeigen als innerhalb der Lebenseinheit selbst" (BdD 133). Die explizite Unterscheidung einer vitalen und rationalen Logik hat er allerdings erst i n seinen letzten Lebensjahren i n dem Aufsatz: „Die historische Formung" vorgenommen. Auch dort stellt er zunächst fest: „Das Leben hat eine ganz andere Logik als die Dinge, die Begriffe, die Ideen", diese vitale Logik w i r d dann aber eingehender charakterisiert als „eine nicht weniger bündige, nicht weniger die Elemente zu Einheit zusammenschließende. Vielleicht ist diese Differenz i n den Formen beider Reihen begründet: daß das Leben seine Momente i n realer Kontinuität verbindet, während alle rationale Logik ihre Verbindungen zwischen relativ i n sich geschlossenen Elementen herstellt" (Frg 158). Der Differenzpunkt einer kontinuierlichen Verbindung i n der vitalen Logik gegenüber einer diskontinuierlich konstruierten Vereinheitlichung i n der rationalen Logik gemahnt i n bemerkenswerter Weise an den später von Hans Lipps unternommenen Uberwindungsversuch der traditionellen formalen Logik durch die „hermeneutische Logik". Die
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frühe Fassung (aus dem Jahr 1927) einer seiner wesentlichen Gedanken, dem hier unser Interesse gilt, lautet: „Statt also analytisch die Logik als ein System zu entwickeln, ist i h r Einsatz selber reflexiv zu begreifen. Damit meine ich, daß die Selbstverständlichkeiten, die man i n den sogenannten Grundsätzen fixieren zu können glaubte, tatsächlich i n dem lebendigen Vollzug verhaftet bleiben.. . 3 5 ." A u f eine solche Zurück- und Einbindung der Logik i n den kontinuierlichen Lebensprozeß scheint Simmeis Gedanke von einer vitalen Logik gerichtet gewesen zu sein. I n seiner nachgelassenen Mappe „Metaphysik" verzeichnet er als Aufgabe der Philosophie des Lebens: „Die Formen dieser Einordnung" (d. h. der als erlebt gewußten und damit zum Faktor des kontinuierlichen Lebens gewordenen Weltelemente) zu ergründen, „die Gesetze der Synthese der Elemente, durch die sie ein Leben bilden, nicht nur eine Erkenntnis — das ist die Aufgabe der Philosophie des Lebens" (Hervorhebung v. Vf.) 36 . Daß eine solche Aufgabe i n den Schranken der formalen Logik nicht zu meistern ist, enthüllt Simmeis philosophischer Durchbruch zu einem Begriff des Lebens, der nicht anders als durch die Aufhebung des Satzes vom Widerspruch zu begreifen ist. „Der einheitliche A k t des Lebens schließt das Begrenztsein und das Uberschreiten der Grenze ein, gleichgültig dagegen, daß dies, gerade als Einheit gedacht, einen logischen Widerspruch zu bedeuten scheint" (Leb 4). I n dieser Selbsttranszendenz des Lebens durchs Leben, i n dem Nichtidentisch-Werden des Identischen, dessen Identität gerade dies Immer-über-sich-selbst-Hinausschreiten ist, liegt Simmeis metaphysischer Lebensbegriff beschlossen. „Hier ist nun der Versuch gemacht, das Leben als ein solches zu begreifen, welches die Grenze gegen sein Jenseits stetig übergreift und i n diesem Übergreifen sein eigenes Wesen hat, der Versuch, an diesem Transzendieren die Definition des Lebens überhaupt zu finden . . . " (Leb 27). 35 H. Lipps, „Die Verbindlichkeit der Sprache". Arbeiten zur Sprachphilosophie und Logik, durchgesehen und hrsg. von E. v. Busse, Frankfurt a. M. 1944, S. 195. 36 „Aus Georg Simmeis nachgelaßner Mappe »Metaphysik'", hrsg. von Gertrud Simmel, in: Aus unbekannten Schriften. Festgabe für Martin Buber zum 50. Geburtstag, Berlin 1928, S. 223. Horst Müller (75) entnimmt dem von Gertrud Simmel mitgeteilten Text den nicht mehr zur Ausführung gelangten Versuch Simmeis, zu einer „Logik der Logiken" vorzustoßen. Einen Bezug zu Simmeis Gedanken von einer „vitalen Logik" stellt er allerdings nicht her. „Es wird sich einmal ein völlig neues Bild in der geistesgeschichtlichen Einreihung Simmeis ergeben, wenn wir ihn als einen Denker ansehen, der sein Leben lang, nach einer ,Logik der Logiken' suchte, d. h. nach einer fundamentalen Logik, die die einzelnen Logiken der ausgegliederten Weltformen konstituiert" (S. 87). Vgl. auch E. Troeltschs Bericht von Simmeis Streben nach einer „Metalogik" (Anmerkung 60 des I. Kapitels der vorliegenden Arbeit) und Hellmuth Bohners (13) Deutung der Simmelschen „Idee einer neuen Logik" als den Versuch dier logisch-erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften (S. 9).
2. Begriffskritik und der Vorrang des Lebens gegenüber dem Begriff
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Heinrich Rickert freilich sieht sich m i t Simmels vollendetem Begriff des Lebens „an die Grenze des Logischen, d. h. widerspruchslos Denkbaren geführt, und damit an die Grenze der Wissenschaft" 37 . Es ist Friedrich Richter zuzustimmen, daß der vielleicht „ f ü r den Aufbau einer Wissenschaft unmögliche Widerspruch i n Simmels Lebensbegriff hier gerade als seine wissenschaftliche Bedeutsamkeit erscheint, indem er auf die Grenzen des wissenschaftlichen Denkens philosophisch hinweist" 3 8 . Niemand hat dies deutlicher gesehen als Simmel selbst. „Ich weiß sehr wohl, welche logischen Schwierigkeiten dem begrifflichen Ausdruck dieser A r t , das Leben zu schauen, entgegenstehen. Ich habe sie, i n voller Gegenwart der logischen Gefahr, zu formulieren versucht, da doch immerhin möglicherweise die Schicht hier erreicht ist, i n der logische Schwierigkeiten nicht ohne weiteres Schweigen gebieten — weil sie diejenige ist, aus der sich die metaphysische Wurzel der Logik selbst erst nährt" (Leb 27). c) Begriff und Leben
(Intuition)
Stillschweigend wurde bis jetzt hingenommen, daß es sich bei Simmels „Aufgipfelung" zum metaphysischen Lebensbegriff nichtsdestoweniger u m einen Begriff handelt; daß Simmel ausdrücklich den Versuch gemacht hat, „das Leben als ein solches zu begreifen" (Leb 27; Hervorhebung v. Vf.). Wie ist dieser Sachverhalt m i t dem aufgezeigten Zusammenfall der Schicht der Begrifflichkeit m i t dem Reich der Formen, der Lebens jenseitigkeit und Zeitlosigkeit der Begriffe vereinbar? Und deutet die Redeweise von dem „begrifflichen Ausdruck dieser A r t , das Leben zu schauen" (Leb 27), ebenso wie die Überschrift der vier metaphysischen Kapitel: „Lebensanschauung" — auch wenn diese Kapitel dann wiederum „alle von dem metaphysischen Lebensbegriff, den das 1. Kapitel darlegt, zusammengehalten sind" (Leb 28 Anm. 1) — nicht doch einen Zweifel an der Zulänglichkeit und Angemessenheit der begrifflichen Fassung des Lebens an? Unbestreitbar ist, daß es Simmel ernst m i t der These war, daß „das Wesen des vor oder jenseits aller Form gelegenen Lebens verleugnet 37 H. Rickert (78), S. 68. I n ähnlicher Weise wie Rickert führt auch Wilhelm Fabian (24) Beweis. H.-G. Gadamer (27) hat gegenüber dieser Art des formalen Argumentierens geltend gemacht, daß derartige Argumentationen „so überzeugend sie scheinen, so sehr verfehlen sie doch die eigentliche Sache. Man behält Recht, wenn man sich ihrer bedient, und doch sprechen sie keine überlegene Einsicht aus, die fruchtbar wäre" (S. 327). 38 F. Richter (77), S. 35.
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wäre, wollte und könnte man eine begriffliche Definition davon bilden" (Konfl 27 Anm. 1); daß „das Leben, sobald es als das physisch und metaphysisch Erste und Absolute gilt, überhaupt nicht »begriffen' werden kann" (PdK 139). Stehen w i r also vor dem unlösbar scheinenden Problem, dennoch einen „Begriff des Unbegreiflichen" 39 denken zu müssen? Die problematische Verwicklung gründet i n der dialektischen Strukt u r des Lebens. Das Leben schlechthin, das Leben i n diesem ganz fundamentalen Sinn, kann sich nur realisieren, „seine Wirklichkeit äußerlich durch ( . . . ) setzen", indem es „sich i n Nichtleben verwandel(t)". Es bedarf „seiner eigenen Aufhebung, der Erstarrung zu seinem eigenen Gegenteil" (PdK 138): der Form. W i r erinnern uns des früher zitierten Satzes, daß „das Leben unlöslich damit behaftet ist, nur i n der Form seines Widerspiels, das heißt i n einer Form i n die Wirklichkeit zu treten" (Konfl 26) 40 . Die Selbstentzweiung oder Selbstentfremdung des Lebens ist also der Grund dafür, daß das Leben nur i n der Form begriffen werden kann, i n der es nicht mehr als Leben zu begreifen ist. Aber es ist das Leben selbst, das sich entzweit, sich selbst entfremdet und i n dem „Erzeugen des i h m Fremden" (Leb 25) zugleich über sich hinausgreift und damit auch wiederum sich m i t sich selbst zusammenschließt. „Der Dualismus, i n voller Schärfe beibehalten, widerspricht nicht nur nicht der Einheit des Lebens, sondern ist gerade die A r t , wie seine Einheit existiert" (Leb 25). Simmel kann daher letztlich sagen, daß „auch das Begreifen ein Leben ist und nur das Lebendige eigentlich vom Leben begriffen werden kann" (Rem 15). Auffallend ist, daß m i t der Lösung des Problems auch ein sprachlicher Übergang von dem sonst gebrauchten starr-feststehenden Substantiv „Begriff" zu der (substantivierten) Verbalform „Begreifen" vollzogen wird. Bereits i n einem Brief an den Grafen Hermann Keyserling vom 30.111.1911 hat sich Simmel gegen dessen „Gleichsetzung des Unorganischen m i t dem Begreiflichen" zur Wehr gesetzt. Vielmehr i m Begreifen, „ i n diesem Vorgang als einer Realität, einem Dynamischen, steckt etwas . . . , das sich dem Verstand ebenso . . . entzieht, als die Selbstheilung der Organismen" (IndG 240). Indem sich der Begriff als ein dynamisches lebendiges Begreifen, als „ein Leben" erwiesen hat, erhellt und rechtfertigt sich auch der Ver39
Diese sprachliche Wendung entstammt einer mit den Initialen R. M. gezeichneten Buchbesprechung über Simmeis „Lebensanschauung", die im Logos, Band 8, 1919/20, S. 104—105 erschienen ist. 40 Hermann Graf Keyserling teilt i m Prinzip diesen Gedanken Simmeis. „»Leben1 kann sich aber schlechterdings nicht anders äußern, als indem es Gestalt gewinnt; ,an sich1 ist es eine unfaßbare Potenz, sowohl der Anschauung als dem Denken entrinnend" („Das Wesen der Intuition und ihre Rolle in der Philosophie", in: Logos, Band 3,1912, S. 73).
3. Die Ablehnung des Systems zugunsten von Fragment und Essay
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such, das Leben als ein solches zu begreifen, denn das Leben bezieht sich damit auf sich selbst, es unterscheidet sich von sich und ist doch zugleich nicht unterschieden. Simmel hat dies, wie schon oben zitiert, i n die Worte gefaßt, daß „ n u r das Lebendige eigentlich vom Leben begriffen werden kann" (Rem 15). Dieser Satz formuliert nun aber nichts anderes als Simmels Gedanke der Intuition. „ I n t u i t i o n bedeutet, daß das Leben nur vom Leben begriffen werden kann" (PdK 143). Simmel hat diese Formel später modifiziert, indem er den Schwerpunkt vom Begreifen auf das Verstehen des Lebens durch das Leben verlagerte. Daß auch dieses Verstehen die Struktur eines Sich-selbst-Verstehens aufweist, kommt bereits i m Kontext der letzten, wörtlich angeführten Stelle zum Ausdruck. „ W i r verstehen wirklich und von innen her nur das Lebendige, w e i l w i r selbst lebendig sind" (PdK 143). I n dem 1918 erschienenen Aufsatz „ V o m historischen Verstehen" nimmt dann Simmel ausdrücklich Bezug auf „jenes Verstehen, das Einheit durch Einheit aufnimmt", und setzt dieses Verstehen m i t dem „an sich nicht ansprechende(n) Begriff der Intuition" (BT 69) gleich. Gegen Ende des genannten Aufsatzes heißt es schließlich gleichsam zusammenfassend: „Das Leben kann eben nur durch das Leben verstanden werden, und es legt sich dazu i n Schichten auseinander, von denen die eine das Verständnis der anderen vermittelt und die i n ihrem Aufeinander-Angewiesensein seine Einheit verkünden" (BT 83; vgl. Konfl 20). Allein, auch Simmel vermochte dem „Odium" (Soz 12) der Intuition nicht gänzlich zu entgehen. I m tiefsten „Wissen um das ununterbrochene Leben" kann auch er sich letztlich nur noch auf eine sich selbst nicht mehr durchsichtige, „ i m absoluten Sinne intuitive" (Leb 187) Einsicht berufen 41 .
3. Die Ablehnung des Systems zugunsten von Fragment und Essay a) Das Wesen des Systems und des Symmetrischen Simmels Haltung zum System unterscheidet sich von derjenigen Hegels i n weit größerem Maß als dies i n der Stellung beider Philosophen 41 I n einem sehr viel weiter gespannten Bogen umkreisen die Studien von Peter Gorsen (37) das Problem der Intuition u. a. auch in der Philosophie Georg Simmels. Die erklärte Absicht der denkerischen Bemühungen Gorsens ist die Darstellung der Selbstzerstörung der Phänomenologie. Vgl. vor allem die Kapitel I „Intuition und Wissenschaft" und Kapitel I I I „Zur Morphologie der Irrationalität". Gewinnbringende Denkanstöße vermittelt nach wie vor auch Josef König, „Der Begriff der Intuition", Halle/Saale 1926.
5*
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zu Sprache und Begriff bereits zutage trat. Ist Hegel der Uberzeugung, daß „die wahre Gestalt, i n welcher die Wahrheit existiert, allein das wissenschaftliche System derselben sein" 4 2 könne, so zeigt sich Simmel „durchaus nicht geneigt, die Fülle des Lebens i n eine symmetrische Systematik einzusperren" (PK 94); er gesteht i n einer brieflichen M i t teilung an H. Rickert (28.1.1914) ein: „ m i t der Systematik als solcher weiß ich nichts anzufangen..." (BdD 112). Auch wenn man i n Rechnung stellt, daß es Hegel um einen philosophischen Systembegriff zu t u n ist, Simmel dagegen auf jene bloß wissenschaftliche Systematik anzuspielen scheint, deren Auswüchse auch Hegel sehr wohl kritisch beurteilte, grundsätzlich hat Simmel „die Form des geschlossenen ,Systems' leidenschaftlich abgewiesen" 43 . I n Simmeis frühesten Stellungnahmen zu diesem Problemkreis — niedergelegt i n dem kurzen Aufsatz über „Soziologische Ästhetik" aus dem Jahr 1896 — fällt die Synonymität des Systematischen m i t der symmetrischen Gestaltung ins Auge. Einzelne Sätze des herangezogenen Aufsatzes sind i m Wortlaut unverändert i n die „Philosophie des Geldes" eingegangen, so die Erläuterung dessen, was es heißt, symmetrisch zu gestalten: „die Teile des Ganzen untereinander ausgleichen, sie ebenmäßig u m einen Mittelpunkt herum ordnen" (PdG 556). Das Wesen der Symmetrie stellt sich demnach so dar, „daß jedes Element eines Ganzen nur mit der Rücksicht auf ein anderes und auf ein gemeinsames Zent r u m seine Stellung, sein Recht, seinen Sinn erhält" (PdG 563). Diese Wesensbestimmung der Symmetrie verbirgt allerdings noch jenen entscheidenden Zug, der der Symmetrie i n ihrer Eigenschaft als 42
G. W. F. Hegel (43), S. 14. Michael Landmann in seiner Einleitung zu „Brücke und Tür", Stuttgart 1957, S. X I . Sichtet man in einem ersten Uberblick die Gründe, die gemeinhin für Simmeis Ablehnung des Systems angegeben werden, so überwiegt der Verweis auf die Simmel eigentümliche, aus einem kritischen Bewußtsein erwachsene Denkweise, die auch einen Zweifel an der denkerischen Erfassimg des Lebens überhaupt einschließt. M. Landmann zufolge hat Simmel die Form des Systems „als dem Denken selbst ungemäß" verworfen (a. a. O., S. X I ) . I. Bauer (8) schreibt ähnlich: „Simmel hält sich absichtlich fern von jeder Systematik, er wehrt sich gegen philosophische Systeme, weil seine Art der Darstellung und des Philosophierens keine starre Grenze und einseitige Festgelegtheit in Begriffe und Definitionen duldet. Simmeis seltene geistige Beweglichkeit erträgt keinen Begriffsdrang, und die Art der Problemstellung verlangt eine eigene Ausdrucksweise, die der inneren Bewegtheit des Denkvorganges gerecht wird" (S. 11). Kurt Gassen beruft sich auf Simmeis „Relativismus". „Der sogenannte R e lativismus 4 . . . scheint mir nun aber auch letztlich die Erklärung dafür, daß Simmel ein philosophisches ,System' nicht entwickelt hat" (In: BdD, & 307/ 308). Ludwig Marcuse schließlich führt Simmeis Systemverweigerung auf dessen Leiden „unter der Ohnmacht des Denkens vor dem Leben" zurück (In: BdD, S. 189/190). 43
3. Die Ablehnung des Systems zugunsten von Fragment und Essay
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„Kraftbeweis des Rationalismus" (PdG 556) eignet, und der Simmels Absage ans System mitverantwortet. „Die symmetrische Anordnung i s t . . . durchaus rationalistischen Wesens", und dies deshalb, weil „sie die Beherrschung des Vielen und der Vielen von einem Punkt aus erleichtert" (PdG 556). Es ist der Zwangscharakter des Systematischen, auf den Simmel i m K e r n abzielt, und dem er m i t der pointierten Formulierung „Joch des Systems" (PdG 556) Ausdruck verleiht. Es kommt hinzu, daß sich die Zwangsherrschaft des Systematischen auch noch des Verhältnisses von Gedanke und Gegenstand bemächtigt. „ A l l e Systematik . . . enthält eine Machtbewährung, sie unterwirft einen Stoff, der außerhalb des Gedankens ist, einer Form, die der Gedanke geprägt hat" (Soz 290). Die Gefahr der Systematik besteht darin, „daß das System, wegen seiner geschlossenen, bequem zu handhabenden, architektonisch befriedigenden Form sozusagen um seiner selbst w i l l e n gesucht und namentlich festgehalten w i r d und uns hindert, dem jeweiligen Verhalten der Dinge vorurteilslos und anschmiegsam nachzugehen" (Gt
80)44.
Der bezwingende Bann, den System und Systematik ausüben, müßte sich u m so verhängnisvoller auswirken, als der Gegenstand, u m den Simmels Denken immer wieder kreist, der kontinuierliche Prozeß des Lebens ist. M i t Blick auf die geistige Persönlichkeit Goethes vertritt Simmel daher die Auffassung, daß ganz von der „Dynamik des Lebens abgesehen, . . . schon die Stetigkeit der Erscheinungen kein System gestattet" (Gt79). Dieser vorläufige Bescheid verweist auf einen 1918 vorgetragenen Begründungszusammenhang, i n dem Simmels Ablehnung des Systems am tiefsten verwurzelt ist. Eingeleitet werden die dortigen Ausführungen m i t der Feststellung einer „ A b n e i g u n g . . . aller von dem modernen Gefühl für das Leben erfüllten Denker gegen das geschlossene System" (Konfl 20). Dieser innerliche Widerstand gegen das System entspringt aus dessen Anspruch, m i t seiner Geschlossenheit, seiner „architektonisch-ästhetischen Vollendung", der „gelungenen Abrundung und Lückenlosigkeit" seines Baues zugleich auch den Beweis für seine sachliche Richtigkeit erbracht zu haben „und dafür, daß nun wirklich die Ganzheit des Daseins erfaßt und begriffen wäre". M i t diesem Totalitätsanspruch verkörpert das System aber nur die allerdings „äußerste Aufgipfelung des Formprinzips überhaupt" (Konfl 20). Gerade gegenüber dieser stärksten Herausforderung, dem sozusagen formgewordenen Gegenbild seiner selbst, muß sich das Leben zur Wehr 44 Diese Simmelschen Darlegungen muten bemerkenswert „modern" an, wenn man sie etwa mit Sätzen Th. W. Adornos (4) zum Problem des philosophischen Systems konfrontiert. Einer der betreffenden Adornoschen Sätze lautet beispielsweise: „System, Darstellungsform einer Totalität, der nichts extern bleibt, setzt den Gedanken gegenüber jedem seiner Inhalte absolut und verflüchtigt den Inhalt in Gedanken..." (S. 33).
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Kap. I I : Sprache, Begriff, System
setzen, w i l l es sein Wesen als ein stetiges Über-sich-selbst-Hinausgreifen bewahrheiten. Der stetige, kontinuierliche Prozeß des Lebens ist damit aber erst recht nicht mehr der abschlußhaft zur Ruhe gekommenen Form des Systems zugänglich 45 . b) Fragment
und Essay
Diejenige philosophische Form, die sich am meisten durch ihre Offenheit und Unabgeschlossenheit, Unvollendetheit, ja Brüchigkeit auszeichnet, ist das Fragment. I n den Uberschriften der von Simmel noch zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Bücher sucht man diesen Ausdruck einer bestimmten Denk- und Sprachform jedoch vergeblich. N u r seine Aufsätze sind einige Male wie folgt überschrieben: „Fragment aus einer »Philosophie des Geldes'" (BdD 327), „Bruchstücke aus einer Psychologie der Frauen" (BdD 330) oder etwa „ . . . Zwei Fragmente aus einer Soziologie" (BdD 331), eher Ausschnitte und Kurzfassungen breit angelegter Untersuchungen zum gleichen Thema also, denn wirkliche Fragmente i m Sinne übriggebliebener Reste oder Splitter eines ehemaligen Ganzen oder aber absichtlich nicht zu Ende geführter, i m abgebrochenen Zustand verharrender Stückwerke. Dennoch ist die Form des Fragments dem philosophischen Denken Simmels keineswegs fremd. I m Gewahren eines gewissen Reizes, den das Fragment ausstrahlt, indem es „uns i n eine Distanz von dem Ganzen und Vollen der Dinge" stellt, uns „die W i r k l i c h k e i t . . . nicht m i t gerader Sicherheit, sondern m i t gleich zurückgezogenen Fingerspitzen" (PdG 539) gibt, bekundet sich eine erste Fragmentaufgeschlossenheit. Den Zugang zur philosophischen Form des Fragments ebnet, von der Sache her begründet, Simmels Gedanke vom Fragmentcharakter des Lebens selbst. Das Leben erweist sich als fragmentarisch, wenn man eine bestimmte „Blickstellung" (FrgL 30) einnimmt, die nicht die des Lebens von sich selbst aus ist, sondern die der „jenseits seiner sich zu eigener Totalität streckenden Ebenen" (FrgL 39). Auszugehen ist von Simmels Lehre, daß die vom Leben auf der Stufe des Geistes ausgebildeten Formen, die zunächst noch i n den kontinuierlichen Lauf des Lebens eingebettet sind, sich vermöge der Achsendrehung des Lebens verselbständigen und sich m i t dieser Wendung zur Idee als selbstgenügsame Welten, als „Absolutheiten" (FrgL 31) konstituieren. Von der Warte dieser „über dem Leben oder jenseits seiner stehenden Realität" 45 So erhebt denn Simmel auch gegenüber Hegel den Vorwurf der Inkonsequenz, indem letzterer seine Philosophie, die sich als „die radikalste Philosophie des Werdens" (HdP 82) herausgestellt hat, dennoch „als den Abschluß" (HdP 84) predigt.
3. Die Ablehnung des Systems zugunsten von Fragment und Essay
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(FrgL 32) der ideellen Welten aus zurückblickend, stellt sich das Leben als zerstückelt und residual, verendlicht und beiläufig, eben als Fragment dar. „Hier also ist das L e b e n . . . Fragment — nicht weil es als Leben mehr sein sollte als es ist, sondern weil es Leben ist, weil dies ein durch eine zufällige, passagere Form herausgeschnittenes Stück einer metaphysischen Absolutheit ist" (FrgL 32). Simmel folgt m i t diesem Gedankengang der Bestimmung seines Fragmentbegriffs, das Fragment als „ein Stück, das übrig geblieben ist, indem von einem vorbestehenden Ganzen Teile i n Wegfall gekommen sind" (FrgL 29). Freilich, von der Sicht des Lebens von sich selbst aus, vom Innern des Lebens aus gesehen, „kann man nicht mehr von einem Fragmentcharakter seiner sprechen" (FrgL 40). Es ist vielmehr der eine kontinuierliche Prozeß des Lebens, der auch noch die Vielfalt der Welten als „ s e i n e . . . Pulsschläge erzeugt" (FrgL 39, Leb 37). Die Bruchstückhaftigkeit des Lebens4* und das „Denken i n Brüchen" 4 7 gewinnen bei Simmel letztlich nicht die Oberhand, wohl aber eine Denkform, die die Offenheit m i t dem Fragment teilt: der Essay. Unter dem einschlägigen Titel „Philosophische K u l t u r " hat Simmel 1911 erstmals Arbeiten vereint, die er ausdrücklich m i t dem Kennzeichen „Gesammelte Essais" i n einer Schreibweise versah, die den Rückbezug auf Michel de Montaigne und eine gewisse Präferenz für diesen dokumentiert 4 8 . Zur Entstehungsgeschichte der m i t Montaigne hervorgetretenen essayistischen Denkform führt Heinz Krüger aus, daß die „ i n der Renaissance aufkommenden ,essayistischen4 F o r m e n . . . aus einem spontanen neuen Lebensgefühl entstanden sein mögen: aus dem Erleben des Lebens. Die Originalität des von Montaigne gefundenen und zuerst von Bacon übernommenen Wortes ,Essai4 läßt vermuten, daß der Gebrauch M Auch wir als Menschen sind Fragmente. „Wir alle sind Fragmente, nicht nur eines sozialen Typus, nicht nur eines mit allgemeinen Begriffen bezeichenbaren seelischen Typus, sondern auch gleichsam des Typus, der nur wir selbst sind" (Leb 79). Die Bruchstückhaftigkeit des Menschen steht in Zusammenhang mit dem, was I. Bauer (8) als „existentielle Gebrochenheit des Menschen" bezeichnet hat, den Zerfall des Menschen in Subjekt und Objekt (S. 38). 47 Zumindest in einer Hinsicht drängt sich eine Parallele des „fragmentarischen" Denkens Simmeis zu dem des Romantikers Friedrich Schlegel auf, nämlich in beider Lehre von der Relativität der Wahrheit. Vgl. dazu: Klaus Peter, „Idealismus als Kritik", Friedrich Schlegels Philosophie der unvollendeten Welt, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973 (Kapitel I I I : Schlegel contra Hegel: Zur Philosophie des Fragments), S. 74. 48 I m gleichen Jahr publizierte Georg von Lukâcs (68) seinen Essayband „Die Seele und die Formen", in dem er grundsätzliche Überlegungen „Über Wesen und Form des Essays" anstellte, die Th. W. Adorno (2) 1958 wiederum zum Ausgangspunkt seiner Reflexionen über den „Essay als Form" wählte (S. 9—49). Beide Autoren halten sich an diejenige Schreibweise ihres Gegenstandes, die sich im Anschluß an Francis Bacon eingebürgert und durchgesetzt hat.
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Kap. I I : Sprache, Begriff, System
des Wortes m i t der damals erst sich herauskristallisierenden Kategorie des Individuellen zusammenhängt. Der Essay trägt als Versuch oder Experiment immer den Charakter des Ungefähren, Spontanen und A n fänglichen . . ." 4 9 . Ein Nachhall dieser Geisteshaltung zur Zeit der Entstehung des Essays bekundet sich noch i n Simmels Gegenüberstellung von symmetrisch-systematischem Prinzip und dem Lebensprinzip, „das man als das individualistisch-spontane bezeichnen kann" (PdG 561). Auch das Versuchs- und Probeweise, die Experimentierfreude 50 des essayistischen Denkens, läßt sich i n Simmels Schaffen nachweisen. Nicht nur, daß er seine „Soziologie" — bei der damaligen Umstrittenheit dieser neuen wissenschaftlichen Disziplin naheliegend — als Versuch einstufte, als „Anfang und Wegweisung für einen unendlich langen Weg", auf dem „jede systematisch abschließende Vollständigkeit mindestens eine Selbsttäuschung wäre" (Soz 14 Anm. 1), sondern auch sein 1916 veröffentlichter „Rembrandt" trägt den Untertitel: „ E i n kunstphilosophischer Versuch". Der unfertige, offenbleibende, gleichsam aufs Spiel setzende Zug des Essays als Denkform deckt sich aber auch m i t Simmels philosophisch begründetem B i l d vom Menschen. Es macht das Wesen des Menschen aus, daß er „seiner ganzen Weltstellung nach, das wagende Wesen ist, daß er es i n jeder, auch der theoretischen Hinsicht, ,darauf ankommen lassen' muß" ( K t 28; vgl. Frg 14). Simmels Schriften treten nicht nur m i t der Bezeichnung „Essai(s)" oder „Versuch" auf, sondern des weiteren auch m i t dem Zusatz „Vorlesungen)", „Rede(n)" oder „Vortrag" bzw. „Vortragszyklus". Diese Benennungen verraten eine Eigenart der essayistischen Form, die Th. W. Adorno m i t den Worten „Spuren des Kommunikativen" zu fassen versucht 51 . Andere, wie etwa Rudolf Wildbolz, sprechen i n diesem Zusammenhang vom „dialogischen Geist" des Essays52. Simmel selbst hat aber bereits die gegen- oder wechselseitige Wirkung dargelegt, die in der Rede (und analog dazu w o h l auch i n der Vorlesung und i m Vortrag) stattfindet. „Der Redner scheint der Versammlung, der Lehrer der Klasse, der Journalist seinem Publikum gegenüber der allein Führende und 49
H. Krüger (56), S. 35. Max Bense bemerkt beispielsweise dazu: Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verwortet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt" (In: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, l.Jg. 1947, S. 418). 51 Th. W. Adorno (2), S. 44. 52 R. Wildbolz, „Der philosophische Dialog als literarisches Kunstwerk", Untersuchungen über Solgers „Philosophische Gespräche", Bern und Stuttgart 1952. 50
3. Die Ablehnung des Systems zugunsten von Fragment und Essay
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Beeinflussende zu sein; tatsächlich empfindet jeder i n solcher Situation die bestimmende und lenkende Rückwirkung der scheinbar bloß passiven Masse" (PdG 34). Den „lebendige(n) Wechseltausch der Rede" (GdS 61) erwähnt Simmel zuletzt i n Verbindung m i t dem Gespräch bezeichnenderweise i m weiteren Rahmen seiner Behandlung des Phänomens der Geselligkeit. Rede und Gespräch verweisen aber auf das Medium der Sprache, deren meisterhafte Handhabung — verschiedentlich fällt das Stichwort von der „schönen" Sprache — gerade die Form des Essays auszeichnet 53 . Die Analyse der von Simmel wohlüberlegt vorgenommenen Betitelung seiner Werke hat einige Beweggründe seines essayistischen Formdenkens deutlich werden lassen. Z u r Begründung seiner Entscheidung für den Essay als philosophische Form reichen sie jedoch nicht aus. Dazu muß vielmehr auf Überlegungen zurückgegriffen werden, die bereits seine K r i t i k am System motiviert haben. Der Gegenstand, u m den sich Simmeis philosophisches Denken immer wieder bemüht: der kontinuierliche Prozeß des Lebens hat sich als der Systemform ganz unzugänglich herausgestellt. Aber nicht nur der Gegenstand des Denkens, sondern mehr noch das lebendige Denken selbst, widersetzt sich seiner Befriedigung und Beruhigung i m geschlossenen System. Simmeis antisystematischer Impuls nährt sich aus der Einsicht i n die ruhelose Unendlichkeit der „Bewegtheit des Geistes, die i n sich selbst metaphysisch ist" (PK 3). Simmel führt zur Veranschaulichung dieser Einsicht die Fabel von dem angeblich i m Acker vergrabenen Schatz an, aus der er die folgende Lehre zieht: „Den Schatz werden w i r nicht finden, aber die Welt, die w i r nach i h m durchgraben haben, w i r d dem Geist dreifache Frucht bringen — selbst wenn es sich i n Wirklichkeit etwa überhaupt nicht u m den Schatz gehandelt hätte, sondern darum, daß dieses Graben die Notwendigkeit und innere Bestimmtheit unseres Geistes ist" (PK 6). Die philosophische Form, i n der sich die geistige Bewegtheit, dieses „Denken i m Ablauf" 5 4 , darstellt, ist der Essay. Eine Simmel nahekommende Charakterisierung des essayistischen Denkprozesses ist Adorno bei seinen Einfällen zur Form des Essays geglückt. „Weniger nicht, son63 Die verdachterweckende Sprachvirtuosität (vgl. in bezug auf Simmeis Sprachkunst den 1. Abschnitt des I I . Kapitels der vorliegenden Arbeit) des Essayisten hat nach Ludwig Rohner (79) in großem Maße zu der deutschen „Essay-Fremdheit" beigetragen (S, 116—131 und S. 648—664). Auch Adorno (2), der namentlich Simmel, den jungen Lukâcs, Kassner und Benjamin erwähnt, stellt kurz und bündig fest: „Noch heute reicht das Lob des écrivain hin, den, dem man es spendet, akademisch draußen zu halten" (S. 9). 64 L. Rohner (79), S. 493. Es ist bemerkenswert, daß Simmel gerade in dieser „geistige(n) Bewegung" (HdP 6), in der „formalen Bewegtheit des philosophierenden Geistes", in diesem „Funktionellen" (PK 1) das Wesentliche und Bedeutsame der Philosophie erblickt.
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d e m mehr urgiert der Essay die Wechselwirkung seiner Begriffe i m Prozeß geistiger Erfahrung. I n i h m bilden jene kein Kontinuum der Operationen, der Gedanke schreitet nicht einsinnig fort, sondern die Momente verflechten sich teppichhaft. Von der Dichte dieser Verflechtung hängt die Fruchtbarkeit von Gedanken ab" 5 5 . Die teppichartige Verflechtung und Verknüpfung der Gedanken kennzeichnet nun aber nicht nur das essayistische Formdenken Simmels, sondern das B i l d des Teppichs ist i h m schließlich zum „Symbol für den m i t mannigfaltigsten Fäden, ,verwebten' Zusammenhang alles Lebendigen" 56 geworden 57 .
55
56 57
Th. W. Adorno (2), S. 28.
H. Müller (75), S. 36.
Simmels eigentümliche, der Form nach als essayistisch zu bezeichnende Bewegung des Denkens hat sich auf das lebhafte Spiel seiner Gebärden übertragen. Rudolf Pannwitz hat seine Beobachtungen, die denen anderer Berichterstatter gleichen, wie folgt beschrieben: „Im Kolleg entfaltete Simmel in vollkommener Freiheit sein Wesen. Er hatte nur einen kleinen Zettel mit Notizen und sprach nicht Gedachtes, sondern dachte und sprach vor der großen Zuhörerschaft. Es war eine reine Produktion und der ganze Körper ging mit, schuf mit. Es war ein Bohren und Ringen, Beugen und Strecken, Krampfen und Lösen und so auch die Stimme, die Rede, der Sinn — nichts von Rhetorischem, vielmehr eine dionysische Intensität Die schlangenhaften Bewegungen bildeten genau die Entstehung, die Windungen und den Strom des Denkens ab. Bezeichnet wurden sie von Hörern als ,simmein1" (In: BdD, S. 235).
Kapitel
III
Hegels Begriff des Lebens im Frankfurter „Systemfragment von 1800" 1. Vorbereitende Strukturen des Lebensbegriffs im Begriff der Liebe a) Die vereinigende
Macht der Liebe
Das „Phänomen der Zerrissenheit" steht nach Günter Rohrmoser i m Mittelpunkt der Problematik des jungen Hegel. „Hegel n i m m t das Problem auf i n der Form der Unterscheidung der subjektiven und der objektiven Religion, der fides qua creditur und der fides quae creditur, der Religion des Herzens und der Theologie des Verstandes, er führt es weiter unter dem Titel Positivität i n der Frage, ob das Christentum eine positive Religion ist" 1 . Diesem Problemhorizont der Jugendschriften Hegels ist auch der zweite Teil eines Manuskripts verpflichtet, den Hegel selbst m i t den Worten „Religion, eine Religion stiften" überschrieben und eingeleitet hat 2 . Zugleich enthält dieser Manuskriptteil aber auch eine bedeutsame Verschiebung gegenüber der ursprünglichen Problemstellung. Die bislang i n Abhängigkeit von der Kantischen Philosophie unbestrittene, allein maßgebende Subjektivität ist für Hegel fragwürdig geworden, indem sich gerade die „höchste Subjektivität" i n ihrer Furcht, und Flucht vor den Objekten als ebenso einseitig erweist wie „das andere Extrem" (Nohl 376), die Überwältigung der Subjekte durch die Objektivität. I m Abstoß von einer Subjektivität, die Bernhard Dinkel als „bloß subjektive Synthesis", als „Zurückbehaltung des Ich i n reiner Einheit und abstrakter Identität mit sich", als „Verschließung gegen die Objekte" 3 be1
G. Rohrmoser (81), S. 25. I m Folgenden werden die Frühschriften Hegels nach deren Herausgabe durch Herman Nohl (46) zitiert (Abk.: Nohl). Die i m Text zitierte Überschrift Hegels also: Nohl 376. Gisela Schüler (88) hat den ersten und zweiten Teil des von H. Nohl mit der Überschrift „Moralität, Liebe Religion" versehenen Entwurfs als vor dem Juli 1797 datiert ausgewiesen (S. 131). Dieter Henrich vermutet demgegenüber, daß der zweite Teil des genannten Entwurfs später konzipiert sein muß. Vgl. Hannelore Hegel (47), S. 81. 3 B. Dinkel (23), S. 315. 2
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Kap. I :
e l s Begriff des Lebens
schreibt, versucht Hegel nun auch den Boden für eine neue Religion zu ebnen. Das Ideal der neuen Religion ist nunmehr, „wo Subjekt und Objekt — oder Freiheit und Natur so vereinigt gedacht wird, daß Natur Freiheit ist, daß Subjekt und Objekt nicht zu trennen sind" (Nohl 376). Dieser Vereinigung von Subjekt und Objekt gibt Hegel erstmals den Namen „Liebe". „ N u r i n der Liebe allein ist man eins m i t dem Objekt, es beherrscht nicht, und w i r d nicht beherrscht" (Nohl 376). Hegel begreift die Liebe damit zum erstenmal als diejenige Macht, die die ins Extrem auseinandergerissene Entgegensetzung von Subjekt und Objekt überhaupt zu vereinigen vermag. Hannelore Hegel schreibt i n ähnlicher Weise: „ M i t dem neuen Programm und dem neuen Titel (,Liebe')" hat Hegel „ . . . e i n Prinzip des Vereinigens gewonnen" 4 . Es kommt nun wesentlich darauf an, diese Vereinigung als inniges, aber nicht unterschiedsloses „Eins-Sein" zu denken. Die vereinigende Macht der Liebe verbindet vielmehr Subjekt und Objekt so miteinander, „daß jedes von ihnen bleibt was es ist und doch m i t dem anderen zu untrennbarer Einheit zusammentritt" 5 . I n einem i m Sommer 1797 entstandenen Entwurf, den H. Nohl m i t „Liebe und Religion" betitelt hat, gibt Hegel das Beispiel für eine falsche Form der Vereinigung, die es als willkürliche Verknüpfung von Subjekt und Objekt nur zu einer „verstellte(n) Einheit" 6 bringt und so zur Positivität herabsinkt. „Wenn da, wo i n der Natur ewige Trennung ist, wenn Unvereinbares vereinigt wird, da ist Positivität" (Nohl 377). Bereits i m letzten Satz des vorher angeführten zweiten Manuskriptteils, versehen m i t der Uberschrift „Religion, eine Religion stiften", hat Hegel die Voraussetzung wahrer Vereinigung formuliert. „Liebe kann nur stattfinden gegen das Gleiche, gegen den Spiegel, gegen das Echo unseres Wesens" (Nohl 377). Daß die i n der Liebe freigesetzte Macht zur Vereinigung trotz dieser Voraussetzung gerade nicht auf eine den Unterschied tilgende, gleichmacherische Einerleiheit hinausläuft, bezeugt ein Abschnitt, der m i t der Identifizierung von Religion und Liebe seinen Anfang nimmt. „Die Religion ist eins m i t der Liebe" (Nohl 377), eine Position, die Hegel zugunsten einer Abstufung von Liebe und Religion später wieder aufgegeben hat. Es folgt der hier relevante Satz: „Der Geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins m i t unserem Wesen; w i r sehen uns nur i n i h m — und dann ist er doch wieder nicht w i r — ein Wunder, das w i r nicht zu fassen vermögen" (Nohl 377). M i t Recht äußert Karl-Heinz Nusser, daß sich diese Struktur der Vereinigung auch auf das Verhältnis von Liebenden zueinander, auf „zwischenmenschliche Liebe" 7 abgebildet denken läßt. Daß das Geschehen der 4
H. Hegel (47), S. 83. D. Henrich (51), S. 26/27. « B. Dinkel (23), S. 320. 5
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Vereinigung als solches letztlich aber ein „Wunder" bleibt, gibt von dessen verstandesmäßiger Unfaßbarkeit Kunde. b) Die Manifestation
des Lebens in der Liebe
I n dem Entwurf über „Die Liebe" (H. Nohl), der um oder i m November 1797 niedergeschrieben und rund ein Jahr später noch einmal überarbeitet worden ist, erfährt Hegels Begriff der Liebe eine bedeutsame Erweiterung und Vertiefung. Abgehoben w i r d nunmehr darauf, daß „wahre Vereinigung, eigentliche Liebe nur unter Lebendigen stattfindet), die an Macht sich gleich, und also durchaus für einander Lebendige; von keiner Seite gegen einander Tote sind" (Nohl 379). Dieser Gedanke steht i n Zusammenhang m i t Hegels Bestimmung der Liebe als „ein Gefühl" (Nohl 379). Da Hegel zuvor festgestellt hat, daß die Liebe „nicht Verstand", „nicht Vernunft", „nichts Endliches" sei, kann das Wort „Gefühl" auch nicht als vereinzelter psychischer Zustand mißgedeutet werden. Hegel zielt vielmehr auf die Liebe als „ein Gefühl des Lebendigen" (Nohl 379) ab. Nusser kommt der Sache sehr nahe, wenn er interpretiert, daß es Hegel hierbei um das Gefühl geht, „ w o m i t das Leben sich selbst fühlt" 8 . Denn, so heißt es bei Hegel weiter, i n der Liebe „findet sich das Leben selbst, als eine Verdoppelung seiner selbst und Einigkeit desselben" (Nohl 379). Aus der Mitte der vereinigenden Macht der Liebe t r i t t also das Leben als i n seiner Verdopplung nunmehr selbst Einiges oder i n der Unterscheidung seiner selbst Ununterschiedenes hervor. Den Selbstfindungsprozeß, den das Leben bis zu seiner Manifestation i n der Liebe zurückgelegt hat, stellt Hegel folgendermaßen dar. „Das Leben hat von der unentwickelten Einigkeit aus, durch die Bildung den Kreis zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen" (Nohl 379). I m Durchgang durch diese Kreisbewegung 9 ist auch der „Reflexion Genüge geleistet worden" (Nohl 379 b). I n der zweiten Fassung formuliert Hegel diese Stelle allerdings zurückhaltender, so, daß „die Liebe die Religion" — nur, so könnte man hinzufügen — „ i n völliger Objektlosigkeit aufhebt" (Nohl 379). Dennoch ist damit dem Entgegengesetzten der Fremdheitscharakter genommen, „und das Leben (findet) sich selbst ohne weiteren Mangel". Der Abschnitt schließt m i t dem Satz: „ I n der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes — als Einiges und das Lebendige fühlt das Lebendige" (Nohl 379). 7 K.-H. Nusser, „Hegels Dialektik und das Prinzip der Revolution". Der Weg zur praktischen Philosophie, München und Salzburg 1973, S. 111. 8 Ebd., S. 111. 9 Theodor Steinbüchel (92) sieht in dieser Kreisbewegung „die erste Konzeption des späteren kreisförmig in sich zurückgehenden ,Prozesses', der von der unentfalteten, aber alle Besonderung schon enthaltenden Einheit aufsteigt zur entfalteten, alles Besondere als solches — nun entfaltet und ausgestaltet — in sich umfassenden Absoluten" (S. 233).
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Indem sich die Liebe i n ihrer Macht zur Vereinigung auch der Trennung und Entgegengesetztes produzierenden Reflexion 10 „bemächtigt" hat, verwandelt und entwickelt sich auch die Struktur der Vereinigung selbst zu einer solchen fort, i n der das Vereinigen und das Trennen von nun an vereinigt sind. Daß auf der Höhe dieser Entwicklung das Leben i n Erscheinung t r i t t , und zwar so, daß „das Lebendige i n der Liebe das Lebendige (fühlt)" (Nohl 379 b), hat Falk Wagner als ein gegenseitiges Bedingen von Liebe und Leben zu deuten versucht. „Liebe, sofern von i h r versöhnende K r a f t ausgeht, ist immer schon auf dem einigen Zusammenhang des Lebens fundiert". Andererseits ist aber zu sagen, daß „das Leben als einiger Zusammenhang allererst durch die Liebe freigelegt wird. Liebe und Leben bedingen also e i n a n d e r . . . Das Leben ist nur dort i n der Liebe vereint, wo die ,Verdoppelung' stattfindet, und die Liebe ist nur da, wo die ,Verdoppelung' Einheit ist" 1 1 . Hegel hat nun den Begriff der Liebe nicht nur i n den bisher behandelten Kontexten zu einem zentralen Gegenstand seines Nachdenkens gemacht, sondern vor allem auch i n der Entfaltung seines Gedankens von der Versöhnung des Schicksals durch die Liebe. Die endgültige Fassung des hier i n Frage kommenden Hauptstücks — insgesamt sind alle entsprechenden Manuskripte unter dem Nohlschen Titel „Der Geist des Christentums und sein Schicksal" zusammengefaßt worden — ist dem Jahr 1799, eventuell auch noch dem Anfang von 1800 zeitlich zuzuordnen. Als Ausgangspunkt der folgenden Darlegungen soll Hegels Gegenüberstellung von Strafe als „ W i r k u n g eines übertretenen Gesetzes" (Nohl 279) und „Strafe als Schicksal" (Nohl 280) dienen. I n der Strafe, m i t der die Lossagung des Gesetzesbrechers vom herrschenden Gesetz gerächt wird, bleibt die Form der Entgegensetzung, die den Geist des Gesetzes insgesamt auszeichnet, erhalten. Hegel bestimmt den Geist des Gesetzes dadurch, daß der selbstherrlichen Allgemeinheit des Gesetzes die Besonderheit des i h m unterworfenen menschlichen Individuums unvereinbar entgegensteht. Unter diesen Verhältnissen vermag die Strafe die eingetretene Trennung nicht nur nicht zu mildern, geschweige denn rückgängig zu machen, sondern die Strafe verkehrt sich geradezu i n das Spiegelbild der verbrecherischen Tat. „Der Inhalt der Tat hat jetzt die Gestalt der Allgemeinheit und ist Gesetz; diese Verkehrtheit desselben, daß es das Gegenteil dessen ist, was es vorher war, ist die Stra10 Justus Schwarz (89) macht darauf aufmerksam, daß Reflexion „hier nicht bloß einen Bewußtseinsvorgang oder intellektuellen Prozeß (bedeutet), sondern als eine Tätigkeitsform des ganzen Lebendigen aufgefaßt werden (muß) . . . Der Gedanke der Reflexion ist bei dem jungen Hegel noch ganz von der Anschauung der produktiven Lebensentwicklung umfangen . . ( S . 72). 11 F. Wagner (105), S. 141.
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fe" (Nohl 280). Hegel bekräftigt damit seine Auffassung, daß „Gesetz und Strafe nicht versöhnt (werden kann)", setzt dann aber den neuen Gedankengang aufnehmend hinzu, „aber i n der Versöhnung des Schicksals aufgehoben" (Nohl 279). I m Unterschied zum strafenden Gesetz ist die Strafe als Schicksal von „ganz anderer A r t ; i m Schicksal ist die Strafe eine feindliche Macht" (Nohl 280). Die — wenn auch feindliche — Macht des strafenden Schicksals äußert sich zunächst darin, daß die feindlichen Parteien nicht mehr wie unter der Herrschaft des Gesetzes als Herr und Knecht i n starrer Unvereinbarkeit und Unüberwindlichkeit auseinandergerissen sind, sondern sich wie Lebendige gegenüberstehen. „ I n dieser feindlichen Macht ist auch das Allgemeine vom Besonderen nicht i n der Rücksicht getrennt, wie das Gesetz als Allgemeines dem Menschen oder seinen Neigungen als dem Besonderen entgegengesetzt ist. Das Schicksal ist nur der Feind, und der Mensch steht i h m ebenso gut als kämpfende Macht gegenüber" (Nohl 280). Macht steht also gegen Macht. Dies ist aber nur möglich, weil die zugrundeliegende, eigentlich machthabende Einigkeit des Lebens bereits m i t sich selbst entzweit ist. Diese Entzweiung hat aber einzig und allein die zerstörerische, Leben mißachtende und vernichtende Tat des Verbrechers selbst hervorgebracht. Denn „ n u r durch ein Herausgehen aus dem einigen, weder durch Gesetz regulierten, noch gesetzwidrigen Leben, durch Töten des Lebens w i r d ein Fremdes geschaffen. Vernichtung des Lebens ist nicht ein Nicht-Sein desselben, sondern seine Trennung, und die Vernichtung besteht darin, daß es zum Feinde umgeschaffen worden ist" (Nohl 280). Die i n Feindschaft verkehrte, sozusagen pervertierte Macht des verletzten Lebens schlägt nun i m strafenden Schicksal auf den Verbrecher zurück „und mißhandelt ihn, wie er mißhandelt hat; so ist die Strafe als Schicksal die gleiche Rückwirkung der Tat des Verbrechers selbst, einer Macht die er selbst bewaffnet, eines Feindes, den er selbst sich zum Feinde machte" (Nohl 281). Da es aber das Leben selbst ist, das i m strafenden Schicksal auf die i h m zugefügte Verletzung antwortet, kann auch das Leben „seine Wunden wieder heilen, das getrennte feindliche Leben wieder i n sich selbst zurückkehren, und das Machwerk eines Verbrechens, das Gesetz und die Strafe, aufheben" (Nohl 281). Eingeleitet w i r d der Selbstheilungsprozeß dadurch, daß der Verbrecher i m Erleiden der Strafe und i n der Qual des bösen Gewissens seine m u t w i l l i g verübte Untat als die Zerstörung seines eigenen Lebens erfährt. Damit t r i t t i h m aber auch das Schicksal nicht mehr gänzlich fremd und feindselig entgegen, sondern i m Schicksal fühlt er erst den ganzen Schmerz seines Verlusts, so daß aus i h m wiederum die Sehnsucht und das Verlangen nach dem verlorenen Leben aufsteigt. Weil nun auch „das Feindliche als Leben gefühlt
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wird, darin liegt die Möglichkeit der Versöhnung des Schicksals" (Nohl 282). Indem der Verbrecher das feindliche Schicksal jetzt als sein eigenes, selbstverwirktes Leben anerkennt und auf sich nimmt, w i r d das Schicksal versöhnt. „Schicksal, das durch Übernahme entmachtet und versöhnt w i r d 1 2 ! " M i t der Versöhnung des Schicksals kehrt aber auch das getrennte feindliche Leben wieder i n sich selbst zurück, stellt sich das verletzte Leben wieder als unversehrtes Ganzes her. „Dies Gefühl des Lebens, das sich selbst wiederfindet, ist die Liebe, und i n ihr versöhnt sich das Schicksal" (Nohl 283). Auch hier bedingen also Liebe und Leben einander. Die versöhnende K r a f t der Liebe setzt das (unentwickelte) einige Leben bereits voraus, als i n seiner Selbstentzweiung und Selbstwiederherstellung Einiges „findet" sich das Leben aber erst i n der Liebe 13 . 2. Entfaltung der dialektischen Struktur des Lebensbegriffs a) Der Begriff
der Individualität
Der folgenden Betrachtung liegt eine Jugendschrift Hegels zugrunde, von der uns nur zwei bruchstückhafte Bogen überliefert sind. Nach Hegels eigener Paginierung handelt es sich um den Bogen hh und den Abschlußbogen yy, der das Datum der Fertigstellung der Schrift m i t dem 14. September 1800 angibt. Die Bezifferung der einzig uns erhalten gebliebenen zwei Fragmente läßt auf eine umfangreichere Arbeit Hegels von insgesamt 47 Bogen schließen. H. Nohl hat die beiden Manuskriptstücke unter dem Namen „Systemfragment von 1800" herausgegeben. I n einer Anmerkung rechtfertigt er seine Titulierung damit, daß es selbstverständlich sei, „daß nach den angegebenen chronologischen Verhältnissen m i t dem ,System4 keine Arbeit gemeint sein kann, die seit dem 14. September erst entstanden wäre; man w i r d kaum anders schließen können, als daß vielmehr eben die Arbeit, die er damals beendete, das System enthalten hat, i n irgend einer Gestalt, die seinen Gedanken dieser Jahre entsprach, und die, wie Dilthey gezeigt hat, selbst aus diesen wenigen erhaltenen Resten deutlich genug abzulesen ist" (Nohl 345 Anm. I) 1 4 . Der einzig stichhaltige Anhaltspunkt, der für 12
Wolf-Dieter Marsch (73), S. 105. Vgl. F. Wagner (105), S. 139—144. 14 W. Dilthey (21) hat zwar das „Systemfragment" im Rahmen seines K a pitels über die neue Weltanschauung (d. i. der mystische Pantheismus) und die Anfänge des Systems abgehandelt, bezeichnet die beiden fragmentarischen Handschriften explizit aber nur als „Bruchstücke einer größeren A r beit Hegels" (S. 141). Bereits Theodor Haering (411) verwahrt sich dann aber nachdrücklich gegen den irreführenden Systemanspruch der damaligen Hegeischen Nieder13
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einen systematischen Stellenwert des sog. „Frankfurter Systemfragments" spricht, liegt i n einer brieflichen Äußerung Hegels gegenüber Schelling vom 2. November 1800, i n der er das Fazit seiner bisherigen philosophischen Bemühungen zieht. „ I n meiner wissenschaftlichen B i l dung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, i n ein System zugleich verwandeln" 1 5 . Hegels Frankfurter Schrift vom 14. September 1800 stellt also den Inbegriff seiner bisherigen Leitgedanken und Wendepunkt, Übergang zu einer anderen Ebene, dar. Das erste Bruchstück dieser Schrift, dem sich unsere Aufmerksamkeit fast ausschließlich zuwenden wird, thematisiert die Aufhebung der Philosophie i n Religion. I n der Explikation dieses Postulats gewinnt Hegel eine Bestimmung des Lebens, m i t der er i m K e r n „das dialektisch-spekulative Begreifen antizipiert (hat)" 1 6 . I m ersten vollständigen Satz des von Hegel m i t der Ziffer hh versehenen Bogens des Frankfurter Systemfragments w i r d als „eine A r t der Entgegensetzungen" — vermutlich ist eine Darstellung von Formen absoluter Entgegensetzungen vorausgegangen — die „Vielheit Lebendiger" (Nohl 345) angeführt. Da die Lebendigen nicht als einfache Vielheit, als bloße Aneinanderreihung vereinzelter Bestandteile, sondern als „Organisationen" zu betrachten sind, w i r d die „Vielheit des Lebens" zum Leben selbst i n Gegensatz gebracht und i n zwei Teile gespalten. Dem einen Teil der Vielfalt, der, i n wenn auch einseitiger Weise „bloß i n Beziehung", an der Verbindung m i t dem Leben festhält und daher auch von Hegel als „eine Organisation, als ein Individuum" (Nohl 346) bezeichnet wird, steht abstrakt und i n ebenso einseitiger Weise der andere Teil, der „ n u r durch die Trennung von jenem Teil" und vom Leben Bestand hat, gegenüber. Die unvermittelte Entgegensetzung der beiden Teile w i r d von Hegel dadurch überwunden, daß sich erweist, daß i n jedem der Teile, wie i m Verhältnis beider zueinander, Trennung bereits Beziehung als Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzt, wie auch Beziehung nur unter der Voraussetzung gleichzeitiger Trennung gedacht werden kann. Theodor Haering unterstreicht an dieser Stelle Hegels Zusammenstellung eines „doppelten dialektischen Charakters jeder Individualität: einerseits des immanenten (der Dialektik i n der Individualität und ihren ,Elementen 4 schrift. „Ich habe freilich schon oben stark betont, daß von einem wirklichen, ausgeführten ,System' i m eigentlichen Sinn, also von einer die gesamte W i r k lichkeit umfassenden, methodisch einheitlichen Darstellung aller Hegeischen Grundgedanken in der Frankfurter Zeit noch nicht die Rede ist" (S. 536). 15 Briefe von und an Hegel, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Band 1: 1785 bis 1812, Hamburg 1952, S. 59. » F. Wagner (105), S. 169. 6 Christian
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selbst...), andererseits des sozusagen ,transzendenten', sofern jedes Individuum auch selbst (als Ganzes) wieder i m Gegensatz (aber auch, als Glied einer und derselben übergeordneten Einheit, wiederum i n Verbindung) zu allem anderen, sozusagen seiner Umwelt, d. h. zu anderen Individualitäten ,außer ihr 4 steht" 1 7 . M i t der Einsicht i n das Wesen der Individualität als einer Einheit, die zugleich „Entgegensetzung gegen unendliche Mannigfaltigkeit, und Verbindung m i t demselben i n sich (schließt)" (Nohl 346), w i r d aber auch der anfängliche Gegensatz zwischen der Vielheit des Lebens und dem Leben selbst zurückgenommen, indem die Lebendigen nicht mehr nur als tote Vielheit erscheinen, sondern als lebendige Individuen Momente des Lebens sind, die je i n sich das ungeteilte Ganze enthalten. Hegel kann daher m i t einer gewissen Berechtigung einerseits feststellen, daß w i r die Lebendigen, „das ungeteilte Leben vorausgesetzt, . . . als Äußerungen des Lebens, als Darstellungen desselben" (Nohl 346) ansehen können. Da diese Voraussetzung aber ein T u n der Reflexion des Verstandes ist, so sind die Lebendigen andererseits auch nur als Äußerungen des Lebens gesetzt, noch nicht selbst lebendige Individuen, sondern fixierte „feste Punkte". Ebenso verfährt die Verstandesreflexion auch m i t dem „außer unserm beschränkten Leben gesetzte(n) Leben" (Nohl 346), das nicht selbst Leben ist, sondern fixiertes Leben" (Nohl 347) oder Natur. b) Erhebung des endlichen Lebens zum unendlichen
Leben
Erst die Vernunft durchschaut i n ihrer Reflexion auf das selbstvergessene T u n des Verstandes das Einseitige der verstandesmäßigen Setzungen. Diese sich ihrer Reflexion auf die Verstandesreflexion bewußte Vernunft bestimmt Hegel als „denkende(s) Leben" (Nohl 347). Das denkende Leben „ f ü h l t " 1 8 denn auch das Fixierende und Tötende der Reflexion als „Widerspruch... seiner selbst gegen das unendliche Leben" und versucht diesen Widerspruch zu lösen, indem es das unendliche Leben aus der endlichen Reflexionssphäre heraushebt, „frei vom 17
Th. Haering (411), S. 540. Hegel bedient sich hier noch einmal eines Ausdrucks, der uns bereits als „Gefühl des Lebendigen" oder als das Gefühl, womit das Leben sich selbst fühlt, begegnet ist. Hegels kritisch distanzierende Hinzufügung: „oder wie man es nennen will" (Nohl 347) zeigt jedoch zugleich auch die sprachliche Unangemessenheit dieser frühen Formulierung an. J. Schwarz (89) hat im Systemfragment von 1800 allgemein eine Wandlung der Hegeischen Sprache bemerkt „Aus Hegels Sprache ist das lyrische Moment, das bisher immer mitschwang, in weitem Maße gewichen. A n seine Stelle ist die nüchtern mühsame Reflexion getreten" (S. 106). Th. Haering (411), S. 540 und Th. Steinbüchel (92), S. 249 interpretieren dagegen Hegels sprachliche Unsicherheit als Ausdruck seiner Abwehr gegenüber Schleiermachers religionsphilosophischem Gefühlsbegriff. 18
2. Entfaltung der dialektischen Struktur des Lebensbegriffs
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Vergehenden" als „alllebendiges, allkräftiges, unendliches Leben" (Nohl 347) heraussetzt. Die Vernunft vermag das unendliche Leben, das sie Gott nennt, als solches nicht zu begreifen, sondern „betet an" (Nohl 347 a). Dennoch scheint Hegel der Vernunft eine A r t Mitwisserschaft am unendlichen Leben zuzutrauen, da sie eben nicht nur vernünftiges Denken, sondern denkendes Leben ist. „ N u r dadurch, daß das Endliche selbst Leben ist, trägt es die Möglichkeit i n sich, zum unendlichen Leben sich zu erheben" (Nohl 348). Diese Erhebung vom endlichen Leben zum unendlichen Leben ist Religion. M i t der Erhebung zur Religion endet die Sphäre des vernünftigphilosophischen Denkens. Die Philosophie muß geradezu m i t der Religion „aufhören". Sie erschöpft sich i n ihrer Aufgabe, „ i n allem Endlichen die Endlichkeit aufzuzeigen, und durch Vernunft die Vervollständigung desselben zu fordern" (Nohl 348). Sie kann diese Vervollständigung nur fordern und nicht selbst leisten, da sie m i t ihrer reflektierenden Tätigkeit i m unendlichen Prozeß des wechselnden Setzens und Ausschließens steckenbleibt, über diese schlechte Unendlichkeit nicht hinauskommt und so „das wahre Unendliche außerhalb ihres Umkreises zu setzen" (Nohl 348) gezwungen ist. I n der Reflexion auf ihren beschränkt-beschränkenden Charakter hebt sich die Philosophie derart i n Religion auf, daß dieser „ A k t der Selbstausschaltung" 1 * zum vermittelnden Agens der religiösen Erhebung wird. M i t den eben gemachten Ausführungen haben w i r aber dem ursprünglichen Duktus des Hegeischen Textes vorgegriffen, der i m A n schluß an die Bestimmung der Religion als der Erhebung des endlichen zum unendlichen Leben, m i t der Darstellung des Wesens des unendlichen Lebens seinen Fortgang nimmt. „Das unendliche Leben kann man einen Geist nennen" (Nohl 347). Zunächst ist hierbei zu beachten, daß nicht das Leben schlechthin als Geist namhaft gemacht wird, sondern allein das unendliche Leben. Ebenso ist aber auch zu berücksichtigen, daß das als göttlich ausgezeichnete „alllebendige..., allkräftige , unendliche... Leben" durch den Begriff des Geistes nicht schon abgelöst und ersetzt wird, sondern Hegel formuliert behutsam, daß man das unendliche Leben „einen Geist" nennen könne. Nun spielt diese Ausdrucksweise ja nicht zufällig, wie schon Th. Haering und Th. Steinbüchel vermerken, auf ein Wort aus dem Johannesevangelium an, demzufolge Gott Geist und als solcher von den Menschen nicht absolut getrennt ist, sondern m i t den selbst lebendigen Geistern i n Verbindung tritt. Diese johanneische Gotteslehre mag i m H i n tergrund stehen, wenn Hegel das unendliche Leben „einen Geist" nennt und letzteren als „die lebendige Einigkeit des Mannigfaltigen" (Nohl 347) einführt, wobei er gerade die Vorstellung von dem „einen Geist" 19
6·
J. Schwarz (89), S. 106.
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als der bloßen Einheit, wie sie die nur gedachte, unlebendige Gesetzeseinheit repräsentiert, ausdrücklich fernzuhalten sucht. Der Geist ist diese lebendige Einheit des Mannigfaltigen vielmehr nur, weil er zuvorderst die Mannigfaltigkeit alles Seienden m i t seinem lebendigen Geist durchdringt und erfüllt — „belebt". „Der Geist ist belebendes Gesetz i n Vereinigung m i t dem Mannigfaltigen, das alsdann ein belebtes ist" (Nohl 347). Die nunmehr belebte Mannigfaltigkeit schließt sich so als „unendliches A l l des Lebens" (Nohl 347) zusammen. Th. Steinbüchel behauptet denn auch an dieser Stelle nicht ganz zu Unrecht: „Die lebendige Geschlossenheit aller Besonderungen als der ,Organe' des ,A11 des Lebens' ist Hegels Seinsideal 20 ." Das unendliche Leben wäre aber nicht „Geist des Ganzen" (Nohl 347), als den es Hegel i m letzten Satz des betreifenden Abschnitts definiert, wenn es auf die Durchdringung und Erfüllung („Belebung") des immanenten Weltganzen beschränkt bliebe. Das unendliche Leben beweist sich vielmehr als Geist des Ganzen, indem es darin zugleich über sich hinausgeht. „ A l s unendliches Leben hat das göttliche Ganze nichts von der Geschlossenheit, die i m Begriff der Immanenz liegt. Es ist vielmehr das Unumschränkte, der ,Geist', dessen Lebendigkeit darauf beruht, daß er je und je seine eigenen Schranken übersteigt 21 ". c) Leben als die Verbindung der Verbindung und der NichtVerbindung I m letzten, nur noch lückenhaft erhalten gebliebenen Abschnitt des zur Debatte stehenden Frankfurter Systemfragmentbogens rekapituliert Hegel einleitend das bisher Erreichte. I m unendlichen A l l des Lebens ist das Mannigfaltige als solches nicht mehr gesetzt, sondern kommt „durchaus i n Beziehung auf den lebendigen Geist, als belebt, als Organ" (Nohl 348) vor. Aber auch hier bewährt sich die bereits i n der Darstellung des Individualitätsbegriffs gewonnene Einsicht, daß Beziehung nur unter der Voraussetzung gleichzeitiger Trennung und Entgegensetzung gedacht werden kann. Das Alleben wäre unvollständig, enthielte es nur belebte Mannigfaltigkeit und schlösse das Tote aus. „Das Leben kann eben nicht als Verbindung, Beziehung allein, sondern muß zugleich als Entgegensetzung betrachtet werden" (Nohl 348). Hegel gelangt so zu einer ersten Strukturformel des Lebens, die i n der Tat den modellbildenden Charakter des Begriffs der lebendigen Individualität für den Begriff des Lebens selbst 22 offenbart. Das Leben ist „die 20
Th. Steinbüchel (92), S. 247. M. Theunissen (100), S. 16. 22 I n aller Deutlichkeit vertritt diese These vor allem F. Wagner (105), S. 168. 21
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Verbindung der Entgegensetzung und Beziehung" (Nohl 348). Da aber selbst diese Verbindung noch der NichtVerbindung entgegengesetzt werden kann, ist das Leben erst als „die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung" (Nohl 348) vollständig bestimmt. Hegel hat mit dieser Formel den reifsten Ausdruck seines damaligen Nachdenkens über das Phänomen des Lebens gewonnen. Georg Lukâcs veranschlagt „diese Formulierung des dialektischen Widerspruchs" sogar als „das höchste Ergebnis der Frankfurter Periode Hegels" 23 insgesamt. Denn was es bei Hegels Bestimmung des Lebens als der Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung zu denken gilt, ist die Struktur einer Verbindung, die sich und das Andere als ihr Anderes festhaltend und sich aneignend zugleich umgreift. I n dieser umgreifenden Verbindung ist das Tote, ja selbst der Tod, nicht nur eingeschlossen, sondern „als eine Bedingung des Lebens selbst gesetzt" 24 , was Hegel m i t den folgenden Worten zur Sprache bringt: „ I m lebendigen Ganzen ist der Tod, die Entgegensetzung, der Verstand zugleich gesetzt..." (Nohl 348). Dies ist aber nur möglich, w e i l Hegel das Leben so zu denken versucht, daß es sich selbst und seinen Gegensatz noch zu umgreifen vermag und i n dieser umgreifenden Verbindung den Tod als eigenes Moment i n sich enthält 2 5 . Nun entwickelt aber Hegel seinen vollständig bestimmten Begriff des Lebens i m Rahmen der Aufhebung der Philosophie i n Religion. Würde das Leben als die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung wiederum i n der Weise der Reflexion aufgefaßt, diese Formel als Reflexionsformel festgehalten, so bliebe das Leben i n dem unendlichen Progreß der Reflexion, i n diesem „Fortgetriebenwerden ohne Ruhepunkt" (Nohl 348) befangen und wäre nicht wahrhaft unendlich. So ist dessen „ f ü r die Reflexion einziger Charakter..., daß es ein Sein außer der Reflexion ist" (Nohl 348). Ebenso verkehrt sich die Aneignung des Todes, insofern diese i m lebendigen Ganzen nur gesetzt ist, i n eine Beschränkung des Lebens, so daß das „beschränkte Leben" (Nohl 348) nur i n seiner Erhebung zur Religion als unumschränktes, unendliches Leben zu sich kommt. Obwohl an der Ernsthaftigkeit des Hegeischen Postulats von der notwendigen Aufhebung der (Reflexions-)Philosophie i n Religion nicht zu zweifeln ist, kann doch auch nicht übersehen werden, daß Hegel gerade den Ausdruck, der „seine erste Formulierung des »spekulativen Prin23
G. Lukâcs (69), S. 287. G. Rohrmoser (81), S. 55. 25 So ist auch Hannelore Hegel (47) durchaus zuzustimmen, wenn sie erklärt, daß für Hegel Leben erst dann vollständig bestimmt sei, „wenn es seine Entgegensetzung gegen Totes noch selbst umfasse und hervorbringe" (S. 91). 24
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zips4, seines späteren Begriffs des Begriffs" 2 · darstellt, als „Produkt der Reflexion" (Nohl 348) bereits m i t ins Auge faßt. So hat Hegel tatsächlich schon i n Frankfurt — ob nun bewußt und ausdrücklich begriffen oder nur erst erkannt — „die Bestimmung der Philosophie als die Reflexion der Reflexion positiv auf die Einheit des Lebens als der Verbindung der Verbindung und der Nicht-Verbindung be(zogen)" 27 . Ein Satz aus dem Abschlußbogen des Frankfurter Systemfragments könnte diese These zusätzlich stützen. Es heißt dort: „Göttliches Gefühl, das Unendliche vom Endlichen gefühlt, w i r d erst dadurch vervollständigt, daß Reflexion hinzukommt, über i h m verweilt" (Nohl 349).
26 Iring Fetscher, „Hegels Lehre vom Menschen". Kommentar zu den §§ 387 bis 482 der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, S. 104. 27 G. Rohrmoser (81), S. 60.
Kapitel
IV
Simmels Lehre vom absoluten Begriff des Lebens Die skizzenhafte Exposition des frühen Hegeischen Lebensbegriffs i m vorhergehenden Kapitel findet erst i n Verbindung m i t der nun folgenden Konzentration auf Simmels Lehre vom absoluten Begriff des Lebens gesamtthematischen Halt und Legitimation. Geht es doch jetzt u m den Nachweis, daß Simmel m i t seinem metaphysischen Lebensbegriff dasjenige nocheinmal zu denken unternahm, was Hegel i n seinen Frühschriften als die Bestimmung des Lebens formuliert hatte: die Verbindung der Verbindung und der NichtVerbindung zu sein. Der Nachweis w i r d an zwei Grundgedanken Simmels, wie er sie vor allem i n seinem testamentarischen Spätwerk zur Sprache gebracht hat, zu führen versucht: erstens seiner Lehre vom Selbstbewußtsein als einem Symbol oder realen Selbstausdruck des Lebens und zweitens seiner Konzeption von der Todesverflochtenheit des Lebens. A u f eine Ausrichtung an denjenigen Themen, i n deren Umkreis der junge Hegel seinen Begriff des Lebens entwickelt hat, allen voran der Begriff der Liebe, ist also verzichtet worden, obwohl Simmel gerade etwa auch die Liebe als einen ebenso wichtigen wie würdigen Gegenstand philosophischen Nachdenkens herausgestellt und „eine Theorie und Metaphysik der Liebe" (BT 8) gefordert hat 1 . 1 Simmels eigene Theorie und Metaphysik der Liebe ist nicht über erste Ansätze und Fragmente hinausgekommen. Dennoch zeigt sich bereits an der folgenden, aus dem Jahr 1907 stammenden Wesensbestimmung der Liebe eine bemerkenswerte strukturelle Entsprechung von Liebe und Leben. Das Wesen der Liebe ist, „dauernd in sich zu wachsen, so dass man mit paradoxer Kürze sagen könnte: Lieben ist mehr Lieben" (SchN 229). M i t anderen Worten spricht Simmel dasselbe aus, wenn er die Liebe als eine immer wieder „sozusagen aus der Selbstgenügsamkeit des Innern sich erzeugende Dynamik" (Frg 62) analog zur Lebensdynamik beschreibt. Aufmerksamkeit verdient in unserem Zusammenhang gleichfalls Simmels Bemerkung über das „Wunder der Liebe, daß sie das Fürsichsein des Ich wie des Du nicht aufhebt, ja es zur Bedingung macht" (Frg 52). I n demselben Fragment „Über die Liebe" heißt es weiterhin, daß die Liebe „schon Fernstellung, Gegenüber, Vorausgesetztheit des Fürsichseins" sei — „und zugleich der Versuch, dies zu überwinden... M i t dem Gegenüber der Liebe, durch das sie freilich erst empirische Liebe wird, entsteht ihre Problematik und ihr Widerspruch" (Frg. 112).
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Kap. I V : Simmeis Lehre vom absoluten Begriff des Lebens
1. Das Selbstbewußtsein als ein Symbol oder realer Selbstausdruck des Lebens a) Die lebendige Einheit des Selbstbewußtseins Der Leitsatz, an dem w i r uns orientieren werden, lautet: „Das Selbstbewußtsein, das Subjekt, das sich zu seinem eigenen Objekt macht, ist ein Symbol oder realer Selbstausdruck des Lebens" (Frg 6). I n einem ersten Zugriff müssen w i r uns zunächst über Simmeis Begriff von Selbstbewußtsein verständigen. Unserem Leitsatz ist zu entnehmen, daß sich das Selbstbewußtsein nach Simmel dadurch auszeichnet, daß das Subjekt sich zu seinem eigenen Objekt macht. Das Subjekt vollzieht demnach eine Bewegung, i n der es sich zu sich selbst i n Beziehung setzt, und zwar derart, daß es sich von sich unterscheidet und i n dieser Unterscheidung zugleich m i t sich identisch bleibt. Diese Selbstbewußtseinsstruktur hat Simmel bereits i n seiner „Philosophie des Geldes" i m Ansatz herauszuarbeiten versucht. Ausgehend von einem Zustand der Indifferenz werden Subjekt und Objekt i n demselben geistigen A k t „geboren" (PdG 11). Unser Geist bewirkt also, „daß w i r das als Einheit empfundene Ich dennoch i n ein vorstellendes Ich-Subjekt und ein vorgestelltes Ich-Objekt zerlegen, ohne daß es darum seine Einheit verliert, ja, an diesem inneren Gegenspiel sich seiner Einheit eigentlich erst bewußt werdend" (PdG 10). Es macht geradezu die Wesensform des Geistes aus, „diese innere Trennung vorzunehmen, sich selbst sich zum Objekt machen, sich selbst wissen zu können" (PdG 84)2. Zur vollständigen Einsicht i n die Struktur des Selbstbewußtseins als einer Selbstbeziehung, i n der die Beziehungsglieder voneinander unterschieden und zugleich ununterschieden sind, ist Simmel aber erst elf Jahre später gekommen. Ausdrücklich stellt er jetzt das SelbstbewußtDer der Liebe eigentümliche Widerspruch hat seinen letzten Grund allerdings in der Selbstwidersprüchlichkeit des Lebens, denn „das Leben stammt nicht aus der Liebe, sondern die Liebe aus dem Leben" (Frg 108). Zu diesem hier nur angedeuteten Kerngedanken der Simmelschen Liebestheorie hat sich vor allem M a x Scheler (vgl. „Wesen und Formen der Sympathie", Bonn 19232, S. 133—140) in kritischer Absicht geäußert. 2 Wenigstens anmerkungsweise muß erwähnt werden, daß Simmel auch der Begierde eine gewisse Rolle bei der Entstehung des Selbstbewußtseins zuspricht, indem wir uns am Widerstand, mit dem uns der begehrte Gegenstand gegenübertritt, unserer Trennung von ihm und unserer selbst bewußt werden. So wie w i r uns umgekehrt in der ungebrochenen Einheit des Genusses gleichsam selbst vergessen. „Insoweit der Mensch irgendeinen Gegenstand nur genießt, liegt ein in sich völlig einheitlicher Aktus vor. Wir haben in solchem Augenblick eine Empfindung, die weder ein Bewußtsein eines uns gegenüberstehenden Objekts als solchen, noch ein Bewußtsein eines Ich enthält, das von seinem momentanen Zustande gesondert wäre" (PdG 11).
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sein, das i h m als das Charakteristikum menschlich-personalen Geistes überhaupt erscheint, als „inneres Sich-Selbst-Trennen i n Subjekt und Objekt, das eines und dasselbe ist" (PK 199) vor. „ M i t dem Selbstbewußtsein hat das Leben sich i n sich gebrochen und hat sich wiedergefunden; w o m i t natürlich nur ein schlechthin einheitlicher A k t für den Ausdruck i n eine zeitliche Folge auseinandergezogen ist" (PK 199/200). Es ist die Grunderscheinung des selbstbewußten personalen Geistes, „daß er, i n seiner Einheit verbleibend, sich dennoch sich selbst gegenüberstellt" (PK 200). Diese Einheitsstruktur des Selbstbewußtseins ist weder als unterschiedslose Einheit schlechthin oder gar als die „dürre und starre Begrifflichkeit des ,Eins'" (Gt 69) noch als ebenso sterile Zweiheit zu begreifen. Die „Identität des Wissenden und des Gewußten" steht vielmehr „ganz jenseits des mechanisch-numerischen Gegensatzes von Einheit und Zweiheit" (PK 200). Worauf Simmel abzielt, und was auch Hermann Schmitz' Ausdruck von der „Zweieinigkeit" 3 nur unzureichend trifft, ist die „lebendige Einheit" des Selbstbewußtseins. Dieser Begriff, den Simmel nicht zufällig i n seiner Auseinandersetzung m i t Goethe aufgenommen hat 4 , deckt nicht nur die i m Wesen des Selbstbewußtseins und der Lebendigkeit liegende Urteilung ab, die Teilung seiner selbst, die dennoch die Einheit m i t sich bewahrt, sondern auch die dem Selbstbewußtsein und der Lebendigkeit inhärente Prozeßhaftigkeit. Die „selbstbewußte Persönlichkeit" besteht eben darin, nicht nur „sich i n sich selbst zu trennen", sondern damit zugleich „ein Gegenüber zu gewinnen, das Bewegung, Wirksamkeit, Leben ist, und doch i n der eignen Einheit beschlossen (zu) bleib(en)" (PK 201). Dies ist nur so zu verstehen, daß das Gegenüber der selbstbewußten Persönlichkeit nicht mehr ein toter Gegenstand 5 sein kann, sondern ein 3 H. Schmitz, „System der Philosophie". Erster Band: Die Gegenwart, Bonn 1964, S. 245. 4 Der Begriff der „lebendigen Einheit" wird in Simmels „Goethe" an der problematischen Frage nach der „Welteinheit" aufgerollt. „Wie kann die Welt, diese mannigfaltig reiche, in Gegensätze differenzierte, in unendlichen Entwicklungen bewegt sein — und doch Einheit?" (Gt 94). I n einem im Berliner Tageblatt vom 7. November 1915 erschienenen Artikel referiert Simmel noch einmal das ihm zeitgemäß dünkende in Goethes Weltanschauung unter dem aufschlußreichen Titel „Einheit und Zwiespalt". Zu Simmels Goethe-Rezeption im allgemeinen vgL Karl Rupp (82), S. 51 ff. 5 Der Begriff des Gegenstandes beschränkt sich natürlich nicht auf das einzelne Ding. Simmel vertritt vielmehr die Auffassimg, daß der sich seiner selbst bewußt werdende Mensch im gleichen Entwicklungsgang auch „die grundlegende Form seines Verhältnisses zur Welt" gewinnt, seine „Aufnahme der Welt realisiert" (PdG 10; Hervorhebung v. Vf.). Wenigstens am Rande sei vermerkt, daß wir aus unserem Verständnis der Simmelschen Texte heraus (vgl, dazu auch Anmerkung 6) die — ausschließlich auf das dritte Kapitel der „Hauptprobleme der Philosophie" gestützte — Meinung Karl Löwiths (65) nicht teilen können, wonach Simmel „Welt" nur als Umwelt unter Absehung ihres Charakters als Mitwelt kenne (S. 3).
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Gegenüber, das sich i m Anderen 6 konkretisiert. Die lebendige Einheit des Selbstbewußtseins schließt also einen intersubjektiven Wechselbezug, oder wie Simmel sagen würde, die Wechselwirkung zwischen Menschen ein. „Die ,Wechselwirkung"' — Zentralbegriff der Simmelschen Soziologie — gewinnt sogar „ . . . in dem Selbstbewußtsein — darin, daß das Subjekt sein eigenes Objekt ist — gleichsam ihre absolute Gestalt" (PK 200). b) Das Übersichhinausschreiten des selbstbewußten personalen Geistes Das Selbstbewußtsein hat sich gemäß unserem anfänglichen Leitsatz zunächst dadurch als ein Symbol oder realer Selbstausdruck des Lebens erwiesen, daß es eine lebendige Einheit ist. Damit ist aber die das Leben zur Darstellung bringende Symbolkraft des Selbstbewußtseins keineswegs erschöpft. Es fehlt vielmehr noch jenes Strukturmoment des Selbstbewußtseins, durch das gewissermaßen die Idee des Lebens selbst i n Erscheinung tritt. Die Vervollständigung der Selbstbewußtseinsstruktur knüpft an den Gedanken von der unendlichen Reihe des Sich-selbst-Wissens an. Ich weiß, daß ich weiß und dies wiederum wissend, erhebe ich mich immerfort über mich selbst. Diese „ins Unbegrenzte" gehende „Ubergipfelung des wissenden Bewußtseins über sich selbst als gewußtes" (Leb 14) gibt die Folie für die zusätzliche strukturelle Bestimmung des Selbstbewußtseins ab. Der selbstbewußte personale Geist definiert sich nunmehr so, daß er i n dem Prozeß des Sich-von-sich-Unterscheidens und gleichzeitigen Mit-sich-Identischbleibens zugleich auch über sich selbst hinausschreitet, oder anders formuliert, sich i n seiner lebendigen Einheit zugleich übergreift. „Indem das Ich nicht nur sich selbst sich gegenüberstellt, sich, als das wissende, zum Gegenstand seines eigenen Wissens macht, sondern auch sich wie einen Dritten beurteilt, sich achtet oder verachtet, und sich damit auch über sich stellt, überschreitet es dauernd β I n einem seiner letzten Aufsätze hat Simmel Bemerkungen über unser Verhältnis zum anderen Menschen gemacht, die in verblüffender Übereinstimmung mit jüngsten Äußerungen von Jürgen Habermas zur Kategorie des anderen stehen. So schreibt Simmel 1918: „ . . . w i r (empfinden) den anderen Menschen, das Du, zugleich als das fernste und undurchdringlichste Gebilde und als das nächste und vertrauteste. Das beseelte D u ist einerseits unser einziger Pair im Kosmos, das einzige Wesen, mit dem wir uns gegenseitig verstehen und als »Eines' fühlen k ö n n e n . . . Andererseits aber hat das D u eine Selbständigkeit und Souveränität neben uns, wie nichts anderes..." (BT 68). Ebenso notiert auch Habermas (40), daß die Kategorie des „anderen" „nicht länger durch seine Nicht-Zugehörigkeit als ein Fremder definiert ist, sondern für das Ich beides in einem ist: absolut gleich und absolut verschieden, Nächster und Fernster in einer Person" (S. 32).
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sich selbst und verbleibt doch i n sich selbst, w e i l sein Subjekt und Objekt hier identisch sind; es legt diese Identität, da sie keine starr substanzialistische ist, i n den geistigen Lebensprozeß des Sich-Selbst-Wissens auseinander, ohne sie zu zerreißen" (Leb 14). Worauf es ankommt ist, das Ubersichhinausschreiten des Selbstbewußtseins, das Übergreifen über sich selbst nicht nur als erneutes, sondern stetiges Nichtidentischwerden des Identischen zu denken, dessen Identität gerade i n dem Immerübersichhinausschreiten beruht. N u r so w i r d Simmels beharrlicher Hinweis verständlich, daß das Selbstbewußtsein „zugleich das Urphänomen des Geistes als eines menschlich-lebendigen überhaupt ist" (Leb 14). Macht es doch das Wesen des Geistes, das Leben auf der Stufe des Geistes aus, sich als bloßes Leben zu übergreifen, über sich selbst hinauszugehen und mehr als Leben zu sein, was Simmel als das „Hinausschreiten des geistigen Lebens über sich selbst" (Leb 6), die „eigentliche Unendlichkeit der Lebensbewegung auf der Stufe des Geistes" (Leb 7) zu fassen versucht hat. Das Selbstbewußtsein eignet sich so zwar zur gleichzeitigen Veranschaulichung des Geistes, aber nur i n dessen Einbindung „als eines menschlich-lebendigen überhaupt", wie der genaue Wortlaut des zitierten Satzes hieß. Denn auch der Geist „zeigt sich" m i t seiner „Bewegung i n der Transzendenz seiner selbst" erst als das, was ihm zugrunde liegt: „das schlechthin Lebendige" (Leb 7)7. Erst jetzt läßt sich die ganze Bedeutung des an den Anfang gestellten Leitsatzes ermessen. Das Selbstbewußtsein ist nicht nur ein Symbol oder realer Selbstausdruck der lebendigen Einheit des Lebens, sondern darüberhinaus „die einfachste und grundlegende Tatsachenform" (Leb 14), die Erscheinungsweise 8 der immanenten Transzendenz des Lebens. Das „Übergreifen über sich selbst" ist „das Urphänomen des Lebens überhaupt" (Leb 14), dessen „wahre Absolutheit" (Leb 14) i n seiner stetigen Selbsttranszendenz beschlossen liegt. I m K e r n durchaus richtig behauptet denn auch Horst Müller, daß die Vertiefung i n die Struktur des selbstbewußten personalen Geistes, „die Einsicht, daß der Geist sich als das Zugleich von Subjekt und Objekt 7 Vgl. auch einen entsprechenden, stark komprimierten Satz aus Simmels Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre. „Diese Transzendenz, diese Beziehung — als Produktion, Berührung, Korrelation, Harmonie und Kampf — des Geistes zu dem ihm Jenseitigen, die doch die Form seines inneren Lebens selbst ist — diese an der Tatsache des Selbstbewußtseins, des Sich-selbst-zum-Objekt-Machens des Subjekts am einfachsten offenbart, erscheint mir als die Urtatsache des Lebens, soweit es Geist ist, des Geistes, soweit er Leben ist" (Frg 68/69). 8 Simmel selbst spricht wiederholte Male von der Notwendigkeit, mit der das Leben „in die Erscheinung" (Konfl 5) tritt, „zum Phänomen" (Konfl 7) wird und „seine Wirklichkeit äußerlich durchzusetzen" (PdK 138/139) hat.
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jenseits seiner stellen könne, für Simmel der Ausgangspunkt seiner Lehre von der Selbsttranszendenz als der Basis einer dialektischen Lebensmetaphysik (wurde)" 9 . c) Der Begriff der Grenze Simmeis Lehre von der Selbstdarstellung des Lebens i n der Struktur des Selbstbewußtseins setzt nun einen bislang unaufgeklärten Begriff der Grenze voraus, der derart richtungweisend ist, daß es nicht abwegig erscheint, fast schon von einer Simmelschen „Theorie des Grenzdenkens" 1 0 zu sprechen. Eingeführt hat Simmel seinen Begriff der Grenze zunächst als ein soziologisches Geschehen, als „eine ganz eigenartige Wechselwirkung" (Soz 467). Die Eigenart dieser Wechselwirkung besteht i n der gegenseitig ausgeübten Begrenzung, die i n ihrer durch den jeweils anderen vermittelten Grenzsetzung aber auch schon ihre Grenze findet. „Jedes der beiden Elemente w i r k t auf das andre, indem es i h m die Grenze setzt, aber der Inhalt dieses Wirkens ist eben die Bestimmung, über diese Grenze hin, also doch auf den andren, überhaupt nicht w i r k e n zu wollen oder zu können" (Soz 467). A l l e i n der i n der Grenzsetzung enthaltene Einschluß desjenigen, gegen den der Begrenzte angrenzt, unterscheidet den soziologischen Begriff der Grenze von dem des Rahmens. Der Rahmen w i r d von Simmel als „die i n sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes" (Soz 465) bestimmt. Sein Charakteristikum ist der Ausschluß und die Einheit m i t sich. Diese Grenzbewegung hat Simmel i n einem ästhetischen Versuch über den Bildrahmen genauer als „unbedingte(n) Abschluß" beschrieben, „der die Gleichgültigkeit und Abwehr nach außen und den vereinheitlichenden Zusammenschluß nach innen i n einem Akte ausübt" (PdK 46)11. Wenn es nun aber i m Wesen der Grenze liegt, erst dann zur Grenze zu werden, wenn sie zugleich das, wogegen sie angrenzt, einschließt, so folgt daraus, daß m i t der Grenzsetzung zugleich auch über die Grenze hinausgegangen wird. Die Grenze setzen und die Grenze überschreiten sind „eins". Diese aus soziologischen Überlegungen hervorgegangene „Dialektik der Grenze, nur zu sein, indem sie sich aufhebt" 1 2 , hat sich Simmel i m weiteren Verlauf seines Denkens zunutze gemacht. 9
H. Müller (75), S. 20. Siegfried Marek (72 I I ) tut dies explizit. Vgl. S. 119. Das Merkmal der Inselhaftigkeit oder Isolation, das der Rahmen versinnbildlicht, betont auch José Ortega y Gasset in seiner „Meditation über den Rahmen" (In: „Über die Liebe", Meditationen, Stuttgart 1951, S. 81). 12 H.-G. Gadamer (27), S. 326. 10
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Bereits i n einem 1909 publizierten Aufsatz m i t dem bezeichnenden Titel „Brücke und T ü r " — die T ü r m i t ihrem gleichzeitigen Innen und Außen verdichtet sich zum sinnfälligen B i l d des Grenzpunktes — w i r d die Dialektik der Grenze auf das Sein und Wesen des Menschen angewandt. „Der Mensch (ist) das Grenzwesen, das keine Grenze hat" (BT 6). Denselben Gedanken hat Simmel i n dem entscheidenden ersten Kapitel seines metaphysischen Spätwerks wieder aufgenommen (vgl. Leb 8). Der Mensch schreitet i n der Erfahrung seiner Begrenztheit zugleich über diese hinaus, ja er weiß und bestimmt sich überhaupt erst als Grenzwesen, wenn er bereits jenseits ihrer steht. „ N u r wer i n irgend einem Sinn, m i t irgend einer Funktion außerhalb seiner Grenze steht, weiß, daß er innerhalb seiner Grenze steht, weiß sie überhaupt als Grenze" (Leb 3). Aber auch i m Wissen u m die eigene Grenzsetzung w i r d diese wiederum aufgehoben, damit freilich die neue Grenze findend oder schaffend (Leb 2), um auch diese wieder zu übersteigen. So ist der Mensch ein Wesen, das ständig Grenzen setzt und sie zugleich überschreitet, ein „dauernd Grenzen setzender Grenzüberwinder" 1 3 . Diese Dialektik der Grenze kommt schließlich nach ihrer soziologischen und anthropologischen Inanspruchnahme i n Simmels Gedanken des „ i n sich einheitlichen Lebensaktes" (Leb 2) v o l l zum Einsatz. Sie gestattet Simmel eigentlich erst das Leben so zu denken, wie es sich i n der Selbstbewußtseinsstruktur Ausdruck verschaffte: als eine Einheit, die sich gerade i m kontinuierlichen Prozeß, i n der stetigen Aktualität mit sich zusammenschließt und i n sich verbleibt. Immerübersichhinausgehen und gerade darin die Identität mit sich zu bewahren, dieser „einheitliche A k t des Lebens", der „das Begrenztsein und das Überschreiten der Grenze ein(schließt), gleichgültig dagegen, daß dies, gerade als Einheit gedacht, einen logischen Widerspruch zu bedeuten scheint" (Leb 4), zeugt von Simmels Nutzung der i m Begriff der Grenze liegenden Dialektik. Sie ist gleichfalls i n Simmels Ausführung über das innerste Wesen des Lebens am Werk, nämlich: „über sich selbst hinauszugehen, seine Grenze zu setzen, indem es über sie, d. h. eben über sich selbst, hinausgreift" (Leb 15); ebenso wie i n Simmels Bemerkung darüber, daß „das Leben sich als der kontinuierliche Prozeß des Sich-über-sichselbst-Erhebens offenbart, . . . i n dem, logisch nicht recht faßbar, dieses Sich-Steigern und stetige Sich-Verlassen gerade die A r t seiner Einheit, seines In-sich-Bleibens ist" (Leb 16). 13 H. Müller (75), S. 22. VgL auch einen Satz Simmels aus dem Jahr 1917: „Der Mensch ist der geborene Grenzüberschreiter" (PdK 87). Es fällt nicht schwer, von hier aus gewisse Verbindungslinien zu Max Schelers und Helmuth Pleßners späteren Lehre von der „exzentrischen Positionalität" des Menschen zu ziehen (Vgl. M. Scheler, „Die Stellung des Menschen im Kosmos" (1928), München 1947 und H. Pleßner, „Die Stufen des Organischen und der Mensch". Einleitung in die philosophische Anthropologie [1928], Berlin 19652).
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Hinzu kommt, was aber bereits zum zweiten Abschnitt unseres Kapitels über Simmeis Lehre vom absoluten Begriff des Lebens überleitet, daß der i n Simmeis Grenzdenken wurzelnde Gedanke von der immanenten Transzendenz des Lebens auch noch den Tod, die Todesverflochtenheit des Lebens, umgreift und einschließt. „Und wenn, wie ich überzeugt bin, allerdings der Tod dem Leben von vornherein einwohnt, so ist auch dies ein Hinausschreiten des Lebens über sich selbst" (Leb
21). 2. Die Todesverflochtenheit des Lebens a) Das Zugrundegehen
des Lebens im Tod
aa) Die Sterblichkeit des Individuums Simmeis Konzeption von der „Todesverflochtenheit des Lebens" (Leb 109)14 enthält den doppelten, i m Bedeutungsbereich des philosophischen Begriffs des Grundes auslegbaren Gedanken, daß das Leben i m Tod zugrunde geht und der Vernichtung anheimfällt, daß das Leben aber i m Tod ebensosehr auch zu seinem Grund geht, zu sich selbst, mehr noch, „zu dem höchsten Sinne seiner selbst kommt" (Leb 111). W i r beschränken uns i m folgenden zunächst auf denjenigen Aspekt der Simmelschen Todesphilosophie, der das Zugrundegehen des Lebens i m Tod, genauer: den Vorgang der Vernichtung oder Zerstörung des Lebens, das Sterben, thematisiert. „Die Frage der Sterblichkeit", so lautet Simmeis erste entscheidende Grundüberlegung, w i r d „überhaupt erst dem eigentlichen Individuum, i m Sinne des Unwiederholbaren, Unersetzlichen, gegenüber akut" (Leb 130). Solange sich die Einzelnen noch kaum voneinander unterscheiden, die Individualität noch nicht als Wertprinzip gilt, wie bei den Naturvölkern, solange herrscht eine „große Gleichgültigkeit gegen den Tod" (Rem 98). Diese Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber ist gepaart m i t der Vorstellung seiner äußeren Verursachung. „Vielleicht die meisten Naturvölker haben die Vorstellung, daß, wenn jemand stirbt, er unbedingt getötet sein müßte, daß irgendein Mensch oder Geist dafür verantwortlich sei. Hier ist das Leben noch nicht tief genug oder, wie später zu zeigen wird, nicht individuell genug gefaßt, u m den Tod i n seine Einheit einzubeziehen" (Leb 103). Der Ein14 Simmel bedient sich dieser bildhaften Ausdrucksweise bereits in seinem grundlegenden Aufsatz „Zur Metaphysik des Todes" (1910/11). Leben und Tod „verschlingen" sich dort „wie die Glieder einer Kette" (MdT 69). Die Nähe zur dichterischen Sprache, in der Rainer Maria Rilke vom Gewebe oder Gewirk von Leben und Tod spricht, ist unverkennbar. „Sieh, so ist Tod im Leben. Beides läuft / so durcheinander, wie in einem Teppich / die Fäden laufen; und daraus entsteht / für einen, der vorübergeht, ein Bild" (R. M. Rilke, „Gesammelte Werke", Band I, Erster Teil: Erste Gedichte — Frühe Gedichte, Leipzig 1927, S. 394).
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zelne geht vielmehr unterschiedslos i n der Gattungsfortsetzung auf. Wo dies geschieht, „wo die Individuen nicht unterschieden sind, verschlingt die Unsterblichkeit der Gattung die Sterblichkeit des Individuums" (Leb 130)15. Erst m i t einem bestimmten Maß an Differenziertheit und individueller Gestaltung ist auch der Tod gegeben. Erst m i t der Entwicklung des Menschen zum eigentlichen Individuum bricht die Fragwürdigkeit seiner Sterblichkeit auf. Daß das „eigentliche Individuum" — eine Umschreibung des SelbstSeins, der Individualität des Individuums — aber ein Bewußtsein seiner Sterblichkeit gewinnt, daß i h m diese zu einer sozusagen brennenden („akuten") Frage wird, liegt i n seiner Zeitverhaftung beschlossen. So wie dem organischen Wesen nicht nur eine räumliche, sondern auch zeitliche Grenze zugehört (Leb 99), wie dem Lebendigen überhaupt ein „echtes zeitliches Aufhören" 1 6 eignet, so ist „dieselbe Individualisierung, die nach unseren allgemeinen Wertbegriffen Fortschritt und Höhe der Entwicklung bedeutet", zugleich auch „der Träger der Vergänglichkeit" (Leb 132). Kehren w i r noch einmal zu dem Simmelschen Grundsatz zurück, daß die Frage der Sterblichkeit überhaupt erst dem eigentlichen I n d i v i duum gegenüber akut werde. Auch das Leben des unindividuellen Menschen, das „keine Form i m höheren Sinne hat" (Leb 102), oder wie es an einer anderen Stelle auch heißt, „das nicht völlig seines ist, das nicht recht die Form der Seinheit hat" (Leb 133), endet. Das Leben dieses sozusagen uneigentlichen Individuums endet aber, w e i l es „zufällig aufhört" (Leb 102). Von diesem äußerlich zufälligen Getötetwerden unterscheidet Simmel das innerlich notwendige Sterben. Zur Veranschaulichung dieses Unterschieds dienen i h m die Gestalten der Shakespearschen Tragödien. Während die Nebenfiguren „ n u r irgendwie umgebracht" werden, „gleichgültig gegen das Wann und gegen das Ob überhaupt" (Leb 103), sterben die Helden von innen her und aus tiefer Notwendigkeit. „Das Reif werden ihres Schicksals als Lebensausdruckes ist an sich selbst das Reifwerden ihres Todes" (Leb 103). I n Rede steht hier nicht der Schicksalsschlag, m i t dem ein Todesfall den Menschen unvermutet trifft, sondern die zunehmende Verwirklichung der apriorischen Formungskraft des individuellen Lebens, die i m Maße ihrer voll15 Simmel unterscheidet noch zwei weitere Fälle, in denen der Tod verneint, der Sterblichkeit des Individuums aus dem Weg gegangen wird. I m Griechentum ist das Individuum nicht es selbst, sondern der Repräsentant eines Allgemeinen und Überindividuellen. Nur das Individuum aber stirbt, nicht jedoch der in die Sphäre der Zeitlosigkeit erhobene Typus. Und im Christentum ist das Leben „ausschließlich auf seine positiven Momente gestellt; was der Tod ihm antun kann, betrifft nur seine Außenwerke, ja pur dasjenige, was schon von vornherein nicht unser eigentliches Leben ist" (Leb 107). w H. Müller (75), S. 115.
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kommenen Äußerung und Realisation i n Gestalt des Helden zugleich auch dessen Tod einschließt. Der Tod ist für die Helden der Shakespearschen Tragödien so auch „nicht die Konsequenz, sondern die I m manenz ihrer Lebensindividualität" (Rem 95). N u r ihren Tod nennt Simmel darum auch „wahrhaft tragisch" m i t der Begründung, daß w i r so „ n u r dasjenige nennen (werden), was, indem es das Leben zerstört, doch aus dessen eigenem Gesetz und Sinn kommt, was zwar den Lebenswillen überwältigt, aber doch zugleich und damit dessen letzten, geheimsten Auftrag erfüllt" (Rem 95). A m Unterschied von Sterben und Getötetwerden hat sich gezeigt, daß nur individualisierte Individuen i m eigentlichen Sinne sterben können. I n der Tat handelt es sich um eine, wie Joachim Wach ausführt, i n Relation zur Individualisierung des Lebens stehenden „Todesfähigkeit" 1 7 . Wenn aber nur eigentliche Individuen fähig sind zu sterben — sterben können „das Siegel der höheren Existenz" (Leb 132) bekundet —, so sind sie es doch auch, die der i m Sterben vor sich gehenden Vernichtung und Zerstörung zum Opfer fallen. W i r verfolgen diesen Gedanken i m Anschluß an eine von dem Simmelschüler Herman Schmalenbach vorgenommene Differenzierung des Begriffs des Individuums, freilich nicht i n dessen singularer, sondern auf die Individualität des Individuums abzielenden Bedeutung. Simmel selbst sondert i m mer wieder einen frühen quantitativen Individualismus oder Individualismus der Einzelheit von einem i m 19. Jahrhundert aufgekommenen qualitativen Individualismus oder Individualismus der Einzigkeit. Die beiden Gesichtspunkte, die nun Schmalenbach i m Hinblick auf die Individualität des Individuums unterscheidet, sind erstens die Individualität als „das fundamentale Anders-Sein eines jeden Individuums, seine Besonderheit und Unvergleichlichkeit, seine Einmaligkeit" und zweitens die Individualität als „geschlossene Totalität", oder „innere(s) Selbst, als allein und rein aus eigenen inneren Gesetzen entwickelt" 1 8 . Beide Gesichtspunkte kommen i n Simmeis Nachdenken über die Sterblichkeit des Individuums zum Tragen. „ N u r diese ,einzigen' Menschen sterben ganz und gar" (Leb 132). M i t demselben Ernst hat Simmel bereits i n seinem „Rembrandt" festgestellt: „Je individueller also der Mensch ist, desto sterblicher' ist er, denn das Einzige ist eben unvertretbar, und sein Verschwinden ist deshalb u m so definitiver, je mehr es einzig ist" (Rem 97). Und eine Seite weiter heißt es schließlich: „Wer aber einzig ist, wessen Form m i t i h m vergeht, der allein stirbt sozusagen definitiv: i n der Tiefe der Individualität als solcher ist das Verhängnis des Todes verankert" (Rem 98). Simmeis Formulierung eines gleichsam über der Individualität i m Sinne der 17 18
J. Wach (104), S. 30. H. Schmalenbach (85), S. 365.
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Einzigkeit und Einmaligkeit des Individuums verhängten Todesurteils ist bemerkenswert. Impliziert diese sprachliche Wendung doch nicht nur die Unabwendbarkeit und Endgültigkeit des Zugrundegehens der individuellen Gestalt, sondern auch das Verhangene und Verhüllte, m i t dem dies geschieht. Bereits i m Begriff des Schicksals schwingt für Simmel bei aller inneren Formkraft, m i t der das individuelle Leben sich das Ereignishafte der Objektivität assimiliert, ein letztlich „Dunkles, Unauflösbares" (Leb 128) mit. So zeichnet es auch die Porträtkunst Rembrandts aus, „das Dämmernde, Gedämpfte, i n ein Dunkel hinein Fragende, das eben i n seiner deutlichsten, schließlich einmal alleinherrschenden Erscheinung Tod heißt" (Rem 94), zur Darstellung gebracht zu haben. Ist das Dunkel, m i t dem der Tod verhangen ist, nicht zu lichten, so verliert er doch gerade i m Sterben des eigentlichen, einzigen Individuums seine Immergleichheit und Allgemeinheit. „Jeder" stirbt, wie Simmel i n Anlehnung an R. M. Rilke sagt, „seinen eigenen Tod" (Rem 99) 19 . Nicht nur die Individualität des Individuums i m Sinne der Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit verschwindet und vergeht unwiderruflich i m Tod, sondern ebenso, ja mehr noch, die Individualität des I n d i v i duums i m Sinne der geschlossenen Totalität, i n der die „zentrale Essenz der Individualität" 2 0 zum Ausdruck kommt. Simmel bestätigt diese Steigerung. „Der Tod (ist) für ein Wesen sozusagen u m so gründlicher, je individueller es ist" (Leb 136). Es stirbt „vollständig", und m i t dem absoluten Individuum wäre etwas absolut zu Ende" (Leb 134). Der höchsten Individualisierung des Lebens i n Form der geschlossenen Totalität des Individuums t r i t t die ebenso totale Vernichtung i m Tod gegenüber. „Das gesteigertste, zugespitzteste Leben fühlt sich am meisten der Vernichtung ausgesetzt" (Leb 137). Leben und Tod geraten damit i n eine „unerhörte", „paradoxe Spannung" (Leb 137). A n der Erzeugung dieser Spannung ist die Individualisierungstendenz des 19 Adolf Sternberger (94) macht darauf aufmerksam, daß die Figur des eigentlichen Todes ebenso in der Existenzialphilosophie Martin Heideggers Eingang gefunden hat und „wohl durch Georg Simmel als Zwischenglied geistesgeschichtlich begreiflich zu machen ist" (S. 113 Anm.). Was das Verhältnis zwischen Simmel und Heidegger betrifft, so sei eine aufschlußreiche Mitteilung Gadamers (27) angeführt. „Heidegger hat mir gegenüber schon 1923 von den späten Schriften Georg Simmels mit Bewunderung gesprochen". Gadamer äußert dann die Vermutung, „daß das nicht nur eine allgemeine Anerkennung der philosophischen Persönlichkeit Simmels war, sondern auf inhaltliche Anstöße hindeutete, die Heidegger empfangen hat" (S. 229 Anm. 3). Heidegger beruft sich denn auch in seiner Todesauffassung zustimmend, zugleich aber auch kritisch auf Simmel. „Neuerdings hat dann auch G. Simmel ausdrücklich das Phänomen des Todes in die Bestimmimg des ,Lebens' einbezogen, freilich ohne klare Scheidung der biologischontischen und der ontologisch-existentialen Problematik" („Sein und Zeit", Erste Hälfte, Halle a. d. S. 19313, S. 249 Anm. 1), 20 H. Schmalenbach (85), S. 383.
7 Christian
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Christentums nicht unwesentlich beteiligt. Das Selbstsein des Individuums w i r d durch die absolute Selbstverantwortlichkeit der Seele vor Gott untermauert. Die stärkste Individualität ist so auch am stärksten vom Tod bedroht und i h m preisgegeben. Die keineswegs leere, sondern bis an die „Wurzeln des Existenzgefühles" (Leb 138) gehende Todesbedrohung erfüllt sich i n der Gründlichkeit und Vollständigkeit, m i t der gerade das am höchsten individualisierte Individuum stirbt und zugrundegeht. Angekommen bei diesem „Radikalismus des Todes" (Leb 138)21 steigt Simmel nun zu dem Gedanken der Unsterblichkeit des i n der Individualität des Individuums gestalteten Lebens auf. Das Individuum stirbt und zwar umso radikaler je individualisierter es ist, das durch es hindurchflutende Leben aber „beharrt" — ein wie Simmel selbst anmerkt „ganz schlechter, starrer Notausdruck für das Verhalten des Lebendigen" (Leb 152) — freilich nicht formlos strömend, sondern als „die ideelle Form der individuellen Realität" (Leb 149) oder als deren zeitloses Wesensgesetz. So ist der Tod „dann nur das Ende einer individuellen Form des Lebens, aber nicht des Lebens, das i n ihr erschienen ist" (Leb 143)22. bb) Todesleiden Nur das Individuum stirbt. I h m spitzt sich die Sterblichkeit überhaupt zu einer Frage und i m Maße seiner zunehmenden Individualisierung umso dringlicheren Frage zu. Das Individuum reflektiert jedoch nicht nur die Fragwürdigkeit des Todes, sondern das Individuum ist es auch, „das die Erfahrung des Todes trägt" 2 3 . Die Todeserfahrung aber — auch Simmel spricht von der „Erfahrung vom Tode" (Leb 112) —, die das Individuum erträgt und aushält, ist m i t Leiden verbunden 24 . Daß 21 Dieser Radikalismus des Todes mag, was von Simmel allerdings nicht ausdrücklich thematisiert wird, sich aber aus seinen Worten von dem ganz allein auf sich gestellten Individuum (Leb 138, 139) erschließen läßt, in der Einsamkeit oder — da dieser Begriff noch einen sozialen Bezug enthält (vgl. Soz 55) — besser: totalen Verlassenheit des Individuums im Sterben seines eigenen Todes einen Ausdruck finden. 22 Simmel hat in einem Fragment seines nachgelassenen Tagebuchs das Vergehen der Individualität des Individuums auch ohne Verlängerung der gedanklichen Linie bis zur Unsterblichkeitsidee „aufzuheben" getrachtet in der zumindest doppelten Bedeutung dieses Wortes als „hinwegräumen, negieren" und „aufbewahren". Das betreffende Fragment lautet: „Die Individualität löst sich (gleichsam dialektisch) als Individualität gerade auf, indem sie ihre höchste Stufe erreicht; denn das geschieht, indem sie zum Gegenbild der Totalität wird, sich bis zur Totalität erweitert" (Frg 23). Während I. Bauer (8) dieses Fragment als „das Reifen des Individuums zum personalen geistigen Sein" (S. 49) deutet, würden w i r es — eingedenk des Zusammenhangs, in dem es steht: nämlich flankiert vom Begriff des Genies und des Schöpferischen — eher als Zeugnis des Simmelschen Aufstiegs zu einer Metaphysik der Individualität auslegen. 23 Th. W. Adorno (4), S. 362.
2. Die Todesverflochtenheit des Lebens
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Simmel auch dem Leiden am Tod nicht ausweicht, es ebensowenig wie die radikale Sterblichkeit des Individuums unterschlägt, sollen die folgenden Ausführungen zeigen. I n dem Vortragszyklus „Schopenhauer und Nietzsche" aus dem Jahr 1907 bringt Simmel zum erstenmal deutlich seine Vermutung einer „unendlichen, uns einwohnenden Leidensmöglichkeit", die „Ahnung eines unermesslichen Vorrates von Leiden" (SchN 92) zur Sprache. Dieselbe Passage findet sich fast wörtlich i n seinem nachgelassenen Tagebuch wieder, dort allerdings um den Gedanken vom „geistig(en) Leiden", das Simmel als „eines der entschiedensten Charakteristika des Menschen" (Frg 16/17) einstuft, i m anschließenden Fragment erweitert. I m Zusammenhang damit steht die Aussage eines weiteren Fragments, wonach das geistige Leiden i m Wissen auf seinen Höhepunkt kommt. „Die Lust hat ihren Höhepunkt schon überschritten, wenn man sie weiß — das Leid aber kommt damit erst gerade auf seinen Höhepunkt" (Frg 37) 25 . Nun ist aber nichts gewisser und sicherer als der Tod. W i r sind uns „über das Daß des Endes", wie Simmel unerbittlich festhält, „absolut sicher" (Leb 103). I m schließlich vollen Wissen u m den Tod bricht dann aber auch „die Angst vor dem Tode und die Bedrücktheit durch seine Unvermeidbarkeit" (Leb 104) aus, die nur durch das Nichtwissen u m den genauen Zeitpunkt des Todes „auf ein erträgliches Maß gebracht w i r d " (Leb 104). Selbst noch die „Todesflucht" (Leb 110), die bewußte oder unbewußte Abwendung vom Tod durch Erwerb und Genuß, A r beit und Ruhe, bestätigt und bekräftigt doch nur den „Leidensdruck", der m i t dem Wissen u m den Tod gegeben ist. Angesichts all dessen, mag es Simmel denn auch i n Erstaunen gesetzt haben, „wie wenig von den Schmerzen der Menschheit i n ihre Philosophie übergegangen ist" (Frg 17)*. Die Erfahrung vom Tod, die sich zum schmerzlichen Wissen um Tod und Vergänglichkeit überhaupt verschärft und damit das Leiden auf seinen Höhepunkt kommen läßt, ist jedoch nicht alles, was Simmel zu diesem Thema zu sagen hat. I n seinem 1907 veröffentlichten Aufsatz über „Das Christentum und die Kunst" versucht er vielmehr, dem (Todes-)Leiden doch noch eine Wendung ins Positive abzugewinnen. 24 Ein Zusammenhang liegt auch etymologisch vor, insofern das Verbum „leiden" auf das althochdeutsche lîdan „fahren, gehen" zurückgreift, das wiegerum auf das im 9. Jahrhundert gekürzte irlîdan „erfahren, erwandern" verweist (Vgl. beispielsweise „Trübners Deutsches Wörterbuch", Hrsg. v. A. Götz, Berlin 1939, S. 431). 25 Eine gewisse Unschärfe läßt sich allgemein in Simmeis Gebrauch der Begriffe „Leiden" und „Leid" nicht übersehen. 26 Jacques Choron („Death and Western Thought", New York 1963, deutsch: Der Tod im abendländischen Denken, Stuttgart 1967, S. 275) zitiert diesen Simmelschen Ausspruch in seinem Nachwort über die Rolle, die der Tod als Gegenstand und „inspirierender Genius" in der Philosophie gespielt hat.
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Vorgebildet sieht er diese Wendung i m Christentum, das dem Leiden, „so wenig es seinen furchtbaren Ernst herabmindern w i l l , ja darf" (BT 139), das bloß Negative, Passivische, Niederdrückende genommen und i n eine Erhöhung des Lebens umgewandelt hat. So wie der Tod i m Christentum nicht mehr nur von der Last und Bürde des Lebens entledigt, sondern das i n Freiheit auf sich genommene Opfer Christi den Tod vielmehr „als den Gipfel des Lebens selbst" (BT 139) offenbart, so w i r d i m Christentum jetzt auch das Leiden „von einem Sinn durchgeistigt, der, seine Depression und Häßlichkeit aufhebend, es zu einem neuen Werte und zur Aufgabe macht" (BT 140)27. Die tätige Seite des Leidens, das Leiden als ein aktives „ T u n der Seele" (Frg 33), kommt i n eins damit zum Vorschein. Die Einsicht i n die christliche Erhöhung des Leidens zu einem positiven Moment des Lebens, zu einem — wie Simmel präzisiert — „integrierendein) Bestandteil des religiösen Lebens" (BT 139; Hervorhebung v. Vf.), läßt das Leiden i n einem anderen Licht erscheinen. Dem „religiös angelegten Menschen" verkehrt sich nämlich jetzt das Leiden, das Leiden gerade i n seiner schmerzlichsten Tiefe und i n seinem ganzen Ausmaß, zum Aufschwung ins Unendliche — „als durchbräche" gleichsam „das Leiden das enge Gefäß des Ich und eröffnete i h m den Zugang zum Unendlichen" (GegL 310). b) Das Zu-seinem-Grund-Gehen
des Lebens im Tod
aa) Der relative Gegensatz von Leben und Tod Das Leben verfällt dem Tod, das individualisierte Individuum — so können w i r nunmehr genauer bestimmen — geht i m Tod zugrunde. Das Leben geht i m Tod aber auch zu seinem Grund. I n der Aneignung des Todes als sein Anderes geht sich das Leben auf den Grund. Es erfaßt sich i n seiner lebendigen Einheit oder es „ k o m m t zu sich selbst", um von da aus zugleich über sich hinauszugehen, sich selbst zu übergreifen und zu dem „höchsten Sinne seiner selbst" (Leb 111) aufzusteigen. Dieser Gedankengang skizziert Simmels Beitrag „ Z u r Metaphysik des Todes", die i n engster Wechselwirkung m i t seiner „Metaphysik des Lebens" steht, denn „wie w i r das Leben auffassen und wie w i r den Tod auffassen — das sind nur zwei Aspekte eines einheitlichen Grundverhaltens" (MdT 57). 27 Simmel streift diese Wende in der Beurteilung des Leidens, dessen Erhöhung zu einem „ethischen Werth", bereits im ersten Band seiner „Einleitung in die Moralwissenschaft" (1892). „Es war eine ganz neue Idee, die er" (d. h. Christus) „durch seine Lehre und sein Leben in die Welt setzte, dass das Leiden und die Erniedrigung nothwendige Durchgangspunkte für die Gewinnung der höchsten Z i e l e . . . wären" (Mor I 217).
2. Die Todesverflochtenheit des Lebens
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Die unerläßliche Bedingung dafür, daß das Leben i m Tod nicht nur zugrunde geht, sondern i n i h m gründet, i h n auszuhalten und anzueignen vermag, ist die Aufhebung der „Absolutheit von Leben und Tod . . . i n eine Relativität" (MdT 69). Die Bezüglichkeit von Leben und Tod legt überhaupt erst den Grund für „een dialectische doordenking van het leven tot i n zijn laatste metaphysische diepten", denn sie „leert de wezenlijke verbondenheid kennen, waarin alle leven staat tot den dood, die het leven niet abrupt ,afsnijdt', maar innerlijk ,voltooit' en zoo, paradoxaal gesproken, tot en voor zieh zelf brengt" 2 8 . Den Gedanken, auf den es uns fürs erste ankommt, formuliert Reinier Franciscus Beerl i n g auch so: „Men kan i n het algemeen zeggen: eigenlijke doodsproblematiek is er niet, zoolang leven en dood exclusief-antithetisch tegenover elkaar staan" 29 . A n dem „Motiv des Relativismus von Leben und Tod" (Leb 153) hat Simmel bei der späteren, i m dritten Kapitel der „Lebensanschauung" vorgelegten Neubearbeitung seines frühen „Logos"-Aufsatzes festgehalten. Deutlicher t r i t t i n der Spätfassung seiner metaphysischen Gedanken über den Tod aber jetzt die Form hervor, i n der Leben und Tod miteinander in Beziehung stehen. Was Simmel i m Relativismus von Leben und Tod zuallererst aufzuheben trachtet, ist „die Absolutheit ihres Gegensatzes" (Leb 153; Hervorhebung v. Vf.). Es gilt, die Verabsolutierung ihres Gegensatzes zu beseitigen, durch die Leben und Tod zu einem fremden und gleichgültigen Nebeneinander erstarren, derart, daß der Tod als „der von außen an den Lebendigen herantretende Knochenmann" (Leb 100), als „Außerhalb des Lebens" (Leb 107) erscheint. I m Relativismus von Leben und Tod ist zwar die Absolutheit ihres Gegensatzes aufzuheben, nicht aber ihre Gegensatzstruktur überhaupt, die vielmehr i n der Form eines relativen Gegensatzes von Leben und Tod erhalten bleibt. Diesen relativen Gegensatz von Leben und Tod, der sich i n vorläufiger Abstraktheit als „das gegenseitige Sichbegrenzen und Sichbedingen von Leben und Tod" (Rem 92) fassen läßt, bringt nun Simmel i m Nachdenken über die „ abteilend "(e) und „ formend "(e) (MdT 69) Funktion des Todes i m Leben zur konkreten Darstellung. Wenden w i r uns zunächst dem Gedankengang zu, der die — wie Simmel an einer anderen Stelle auch sagt — „das Leben zerlegende Rolle" (MdT 63) des Todes entwickelt. Auszugehen ist von dem unmittelbar 28 R. F. Beerling (11), S. 63. I n einer freien Übersetzung lautet der Satz: Eine dialektische Durchdenkung des Lebens bis in seine letzten metaphysischen Tiefen läßt die wirkliche Verbundenheit erkennen, in der alles Leben zu dem Tod steht, der das Leben nicht abrupt „abschneidet", sondern innerlich „vollendet" und so, paradox gesprochen, zu und vor sich selbst bringt. 29 (11), S. 79. Der Satz läßt sich wie folgt übersetzen: Man kann im allgemeinen sagen: eine eigentliche Todesproblematik gibt es nicht, solange sich Leben und Tod exklusiv-antithetisch einander gegenüberstehen.
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gegebenen Leben, das i n einfacher Identität m i t seinen Inhalten abläuft, das „seinen Prozeß i n voller Ungeschiedenheit von seinen Inhalten abrollt" (Leb 111). Der Lebensprozeß würde i n dieser Indifferenz verharren, wenn w i r nicht stürben. „Lebten w i r ewig, so" bliebe „das Leben voraussichtlich m i t seinen Werten und Inhalten undifferenziert verschmolzen" (Leb 112). Der Tod trägt jedoch i n diesen gleichsam monoton ablaufenden Lebensprozeß dadurch eine Spaltung hinein, daß er das Leben i n seiner Zufälligkeit und Vergänglichkeit erfahren läßt, „als etwas, was sozusagen auch anders sein kann" (Leb 112). Indem der Tod das Zeitlich-Vergängliche des Lebensprozesses hervorkehrt, trennt und setzt er i h m zugleich zeitlos bedeutsame Lebensinhalte entgegen. „Erst die Erfahrung vom Tode w i r d jene Verschmelzung, jene Solidarität der Lebensinhalte m i t dem Leben gelöst haben" (Leb 112). Die durch den Tod eingetretene Entgegensetzung von Lebensprozeß und Lebensinhalt ist nun aber dem Leben nicht äußerlich, sondern geschieht m i t innerer, vom Leben selbst geforderter Notwendigkeit. Denn der zeitlich-vergängliche Lebensprozeß geht i n der Auseinandersetzung m i t den zeitlosen Lebensinhalten über seine enge zeitliche Begrenzung oder Endlichkeit hinaus und erweist sich damit erst i n seiner eigentlichen, umfassenden und unendlichen Prozeßhaftigkeit. „Gerade mit diesen zeitlos bedeutsamen Inhalten gewinnt das zeitliche Leben seine eigene reinste Höhe; indem es sie, die mehr sind als es selbst, i n sich aufnimmt oder sich i n sie ergießt, kommt das Leben über sich hinaus, ohne sich zu verlieren, ja, sich eigentlich erst gewinnend; denn erst so gelangt sein Ablauf als Prozeß zu seinem Sinn und Wert und weiß sozusagen, weshalb er da ist" (Leb 112/113). Auch die formende Funktion des Todes i m Leben — oder m i t einer anderen Redewendung Simmels „der Tod als der Gestalter des Lebens" (MdT 59, Leb 109) — bringt den relativen Gegensatz von Leben und Tod zum Ausdruck. Als Einsatzpunkt der Überlegungen dient wiederum der Lebensfluß i n seiner reinen, nackten Unmittelbarkeit, das an sich formlose Leben oder „Leben schlechthin" (Konfl 27), dessen w i r zwar i m Erleben inne sind, das aber i n dieser Innerlichkeit verbleibend, nicht zur objektiven Wirklichkeit vorzustoßen vermag. Ein Leben aber „als reines, formloses Innensein ist kein L e b e n . . ." 3 0 . Das Leben muß sich entäußern, und es kann dies nur i n Formen. „Das Leben ist unlöslich damit behaftet, n u r . . . i n einer Form i n die Wirklichkeit zu treten" (Konfl 26/27). Geformt w i r d nun aber das Leben durch die menschliche Sterblichkeit, durch den Tod. „Dadurch, daß das Lebendige stirbt, daß das Sterben m i t seiner Natur selbst (gleichviel ob aus begriffener oder nicht begriffener Notwendigkeit heraus) gesetzt ist, bekommt sein Leben eine Form" (Leb 99). Kommt dem Tod also diese „formgebende Be30
Philipp Lersch (59), S. 51/52.
2. Die Todesverflochtenheit des Lebens
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deutung" (Leb 102) zu, so dringt m i t seiner Formgebung doch zugleich auch ein Zwiespalt i n das Leben ein. Denn „Form ist Grenze" (Leb 16), Begrenzung und Abgrenzung, Stauung oder Stillegung des kontinuierlichen Lebensflusses i n gegeneinander abgesetzte, i n sich geschlossene, feste und dauerhafte Gebilde. Aber auch diese durch die formende Funktion des Todes erfolgte Spaltung des Lebens i n einen kontinuierlichen Lebensfluß und i h m entgegengesetzte i n Diskontinuität und zeitloser Invariabilität bestehende Gebilde ist nicht zufällig und äußerlich, sondern zur Verwirklichung des Lebens selbst notwendig. Es kann eben „der Gehalt des Lebendigseins nur erfahren w e r d e n . . . auf eben diesem Wege i n die verwirklichte Erscheinung, i n die Geformtheit, also ins Nicht-Mehr-Lebendigsein" 31 . Aber auch i n dieser Auseinandersetzung m i t der Geformtheit durchbricht und überschreitet das Leben seine Einschränkung und sozusagen dingfest gemachte, bestimmte Umgrenztheit, ohne sich damit zu verlieren, sondern sich damit gleichfalls eigentlich erst gewinnend (vgl. Leb 113). „ W i r sind nicht i n grenzenfreies Leben und grenzgesicherte Form geschieden..." Vielmehr ist „das Grundwesen des Lebens . . . eben jene i n sich einheitliche Funktion, die ich, symbolisch und unvollkommen genug, das Transzendieren seiner selbst nannte . . . " (Leb 19). M i t der Darstellung der abteilenden und formenden Funktion des Todes i m Leben sollte, wie w i r einleitend vorausgeschickt haben, jenes gegenseitige Sichbegrenzen und Sichbedingen von Leben und Tod anschaulich werden, das w i r als deren relativen Gegensatz bezeichneten. Dieser relative Gegensatz von Leben und Tod vollzieht sich, wie w i r jetzt feststellen können, i n dem folgenden Dreischritt. Das Leben verläuft anfänglich i n reiner Unmittelbarkeit, als ununterbrochener Lebensstrom i n differenzloser Identität und Formlosigkeit. Ohne den Tod würde das Leben über dieses „ n u r kontinuierliche . . . heraklitische... Fließen" (Leb 13) nicht hinauskommen. Das Leben setzt also den Tod oder wie Simmel sagt, „das Leben fordert von sich aus den T o d . . . " (Leb 111). Der Tod m i t seiner zerlegenden und formenden Tätigkeit entzweit und entfremdet aber das Leben. Zwar fordert das Leben von sich aus den Tod „als seinen Gegensatz", aber auch „als das ,Andere', zu dem das Etwas w i r d " , ohne das allerdings wiederum auch „dieses Etwas überhaupt seinen spezifischen Sinn und Form nicht hätte" (Leb 111). Da es aber das Leben selbst war, das den Tod sozusagen ins Leben gerufen hat — Simmel hebt diesen Sachverhalt eigens hervor: „Dieser Gegensatz" (d. h. der Tod) „aber stammt doch nirgends her als aus dem Leben! Es selbst hat i h n erzeugt und schließt i h n ein" (Leb 101) — vermag das Leben auch sein Anderssein, seine Entzweiung und Entfremdung wieder zu überwinden und sich i n seiner nun aber durch den Tod 31
Ph. Lersch (59), S. 53 (Anm. 19).
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vermittelten und u m i h n bereicherten Einheit wiederherzustellen. Das Leben kommt so zu sich selbst, oder u m einen bereits geläufigen Terminus zu verwenden, das Leben erfaßt sich i n seiner lebendigen Einheit 3 2 , nämlich als Leben, dem der Tod „einwohnt" (Leb 21). Es ist i n unserem Zusammenhang von aufschlußreicher Bedeutung, daß sich Simmel zur Verdeutlichung dieser Gegensatzbewegung, m i t der sich Leben und Tod wechselseitig aufeinander beziehen, gerade auf Hegel beruft. „Die Hegeische Formulierung, daß jedes Etwas seinen Gegensatz fordert und m i t i h m zu der höheren Synthese zusammengeht, i n der es zwar aufgehoben ist, aber ebendamit ,zu sich selbst kommt' — läßt ihren Tief sinn vielleicht nirgends stärker als an dem Verhältnis zwischen Leben und Tod hervorleuchten" (Leb 111). Schon 1910 ist Simmel diese Hegeische Dialektik bei seiner Abhandlung über den Begriff des Werdens wichtig geworden. Dort ist i h m auch nicht die Tragik entgangen, die „ i n dieser Anweisung auf das Nein, die i n jedem Ja enthalten ist, die das Ja" aber „erst zu seinem rechten Sinne kommen läßt" (HdP 82), liegt. Simmels Auffassung vom Wesen der Tragik 3 3 hat denn auch Peter Szondi veranlaßt, diese i n eine Linie m i t derjenigen Deutung des Tragischen als einer „dialektischen Struktur" einzureihen, „wie sie schon bei Schelling und Hegel erscheint und bei Simmel ihr letztes begriffliches Gewand ablegt" 3 4 .
32 Hierbei ist auch an Romano Guardini (38) zu erinnern, der im Versuch, die Gegensatzstruktur zur Grundstruktur des Lebendig-Konkreten zu erheben, das Wort von der lebendigen Einheit heranzieht, um die spezifische Verbindung der Gegensatzseiten zu erläutern. „Die Gegensatzpaare sind Einheit. Keine mechanische, sondern lebendige. Nicht so, daß eine Gegensatzseite durch die andere eingeebnet, angeglichen würde. Jede bleibt in ihrer Sondergestalt bestehen, und Gesundheit wie Adel des Lebens hängt davon ab, daß die klare Distanz des Eigenseins gewahrt sei. Andererseits besteht die Einheit nicht etwa darin, daß die beiden Seiten nur nebeneinander stünden, zusammengebunden wären. Es handelt sich um eine wirkliche Einheit, so eng und innerlich, daß keine ohne den Widerpart sein oder gedacht werden kann. Eine Gegensatzseite koexistiert nicht nur, sondern inexistiert der andern. Das gerade ist lebendige Einheit" (S. 155). 33 I n dem Sammelband „Philosophische Kultur" aus dem Jahr 1911 gibt Simmel bereits eine vollgültige Wesensbestimmung der Tragik. „Tragik schien uns zu bedeuten, daß dasjenige, was gegen den Willen und das Leben, als deren Widerspruch und Zerstörung gerichtet ist, dennoch aus dem Letzten und Tiefsten des Willens und des Lebens selbst wächst — im Unterschied gegen das bloß Traurige, in dem die gleiche Zerstörung aus einem gegen den innersten Lebenssinn des zerstörten Subjekts zufälligen Verhängnis gekommen ist. Daß die Vernichtung aus demselben Wurzelgrund stammt, aus dem das Vernichtete in seinem Sinn und Wert gewachsen ist, macht das Tragische aus . . . " (PK 164; vgl. auch Frg 38). 34 P. Szondi (96), S. 51.
2. Die Todesverflochtenheit des Lebens
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bb) Die Aufhebung des relativen Gegensatzes von Leben und Tod i m höchsten oder absoluten Sinn des Lebens M i t der Einwohnung des Todes i m Leben ist der Tod zum Moment des Lebens geworden, das sich seinerseits aber auch wiederum nur i m relativistischen Sinn dieses Wortes relativ zu diesem verhält, nämlich auch bloß Moment eines sie beide übergreifenden Ganzen ist. W i r nehmen damit einen noch nicht eingehend genug thematisierten Gehalt des Begriffs „relativ" auf, der sich als Gegenbegriff zu „absolut" definiert. Freilich haben w i r als programmatischen Grundgedanken des Simmelschen Nachdenkens über Leben und Tod seinen Satz an den Anfang gestellt, daß die Absolutheit von Leben und Tod i n eine Relativität aufzulösen sei. W i r interpretierten diesen Satz aber zunächst dahingehend, daß die Vorstellung von der Ab-solutheit, der Abgeschiedenheit und Losgelöstheit, dem Fürsichbestehen von Leben und Tod durch die Einsicht i n deren Relativität i m Sinn der Relationalität 3 5 korrigiert werden muß. Erst diese Korrektur trägt dem Sachverhalt Rechnung, daß Leben und Tod i n einer bestimmten Beziehung oder Relation, die w i r als die eines relativen Gegensatzes identifizierten, zueinander stehen. Jetzt ist zu bedenken, daß auch dieser relative Gegensatz von Leben und Tod noch vom Leben i n dessen höchstem oder absolutem Sinn übergriffen wird. Der Begriff des Absoluten gewinnt nun also die Bedeutung des uneingeschränkt Umfassenden oder Umgreifenden. Insoweit „Leben und Tod auf einer Staffel des Seins..." stehen3® „erhebt sich über sie ein Höheres, Werte und Spannungen unseres Daseins, die über Leben und Tod hinaus sind und von deren Gegensatz nicht mehr berührt werden, i n denen aber das Leben eigentlich erst zu sich selbst, zu dem höchsten Sinne seiner selbst kommt" (Leb 111). Diese Struktur eines den Gegensatz von Leben und Tod noch übersteigenden und i h n damit zugleich relativierenden Höchsten, des Le35 Die Auslegung des schon früh zum Stein des Anstoßes gewordenen Simmelschen „Relativismus" als eines Relationismus scheint sich vor allem in der Behandlung seiner Soziologie in zunehmendem Maße durchzusetzen. Vgl. Heribert J. Becher (107), S. 25 (Anm. 99). 36 Es soll keineswegs unterschlagen werden, daß Simmel an dieser Stelle Leben und Tod „als Thesis und Antithesis" (Leb 111) bestimmt, deren Relation also als ein antithetisches Verhältnis beschreibt, das sich uns — nicht zuletzt durch Simmeis Hinweis auf Hegel nahegelegt — zu einer Dialektik fortentwickelt hat. Es drängt sich in der Tat ein Eindruck auf, den R. F. Beerling (11) so wiedergegeben hat: „Twee motieven, een antithetisch en een dialectisch, speien voortdurend dooreen. Naarmate Simmeis denken vordert neemt het dialectische in kracht tœ, zonder het antithetische geheel te kunen overstemmen" (S. 54). I n einer deutschen Übersetzung heißt der Satz: Zwei Motive, ein antithetisches und ein dialektisches, spielen fortwährend durcheinander. Je nachdem wie es Simmeis Denken erfordert, nimmt das Dialektische in seiner Kraft zu, ohne das Antithetische ganz überstimmen zu können.
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bens i m absoluten Sinn, hat Simmel bereits zwei Jahre zuvor zur Sprache gebracht 37 . I n seinem Aufsatz „Die Dialektik des deutschen Geistes" 38 , deren vollendetste Ausgestaltung er i n Hölderlin und Hegel verkörpert sieht, läßt er die i n wechselseitiger Begrenzung vor sich gegangene Entgegensetzung von Leben und Tod aufgehoben sein i n einem „letzten und absoluten Sinn des Lebens, i n dem es auch den Tod i n sich einbezieht und dessen relativen Sinn zusammen m i t dem relativen Sinn des Lebens selbst einbegreift und unterbaut" (KgE 38). Prägnanter noch formuliert Simmel diese Struktur des absoluten Lebens, das den Gegensatz von Leben und Tod trägt und zugleich übergreift, i n seinem ebenfalls 1916 erschienenen „Rembrandt". „Vielleicht sind Leben und Tod, insofern sie einander logisch und physisch auszuschließen scheinen, doch nur relative Gegensätze, umgriffen vom Leben i n dessen absoluten Sinne, der das gegenseitige Sichbegrenzen und Sichbedingen von Leben und Tod unterbaut und übergreift" (Rem 92). Das Leben i m absoluten Sinn begründet („unterbaut") also selbst den Gegensatz von Leben und Tod und erhebt sich zugleich aber auch über ihn. M i t diesem „einheitliche(n) A k t des Aufbauens und Durchbrechens seiner Schranken" (Leb 20) beweist sich das Leben ja gerade als Absolutes, als das alles Umgreifende. Darum ist auch „das Leben i n dem absoluten Sinne etwas, was sich selbst i m relativen Sinne und seinen Gegensatz, zu dem es und der zu i h m eben relativ ist, einschließt" (Leb 20). M i t diesem „absoluten Begriff des Lebens" (Leb 19) versucht nun Simmel aber das Leben so zu denken, wie es Hegel m i t seiner Formel von der Verbindung der Verbindung und der NichtVerbindung bestimmt hat (vgl. Kapitel I I I , Abschnitt 2 c): als Leben, das sich selbst und seinen Gegensatz noch zu umgreifen vermag und i n dieser umgreifenden Verbindung den Tod als eigenes Moment i n sich enthält.
37 Genau genommen läßt sich diese Struktur bereits in Simmels Aufsatz „Das Relative und Absolute im Geschlechter-Problem" aus dem Jahr 1911 nachweisen. „Alle großen Relationspaare des Geistes: Ich und Welt, Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft, Beharrung und Bewegung, Stoff und Form, und viele andre — haben dies Schicksal erfahren, daß jede ihrer Seiten einmal zu einem breiten und tiefen Sinn aufwuchs, mit dem diese Seite ihre eigene engere Bedeutung und ihren Gegensatz zugleich umfaßt" (PK 58). 38 Veröffentlicht hat Simmel diesen Aufsatz erstmals in der Berliner Zeitung „Der Tag" in der Ausgabe vom 28. September 1916. Dieser und weitere Aufsätze, sowie eine Rede aus den Jahren 1914—1916 sind in dem Sammelband „Der Krieg und die geistigen Entscheidungen" zusammengefaßt und 1917 erneut publiziert worden.
ZWEITER T E I L
Rückschlüsse vom hegelianisierenden Denken i n der Philosophie Georg Simmels auf seine Soziologie Der Versuch, Rückschlüsse vom hegelianisierenden Denken i n der Philosophie Georg Simmels auf seine Soziologie zu ziehen, stößt zunächst auf Schwierigkeiten in der Einschätzung des Verlaufs der Simmelschen Gedankenentwicklung. I m I. Kapitel der vorliegenden Arbeit sind w i r davon ausgegangen, daß sich ein originärer Zugang Simmels zu Hegel i n den „Hauptproblemen der Philosophie" aus dem Jahr 1910 und dem gleichfalls 1910 publizierten Aufsatz „ Z u r Metaphysik des Todes" dokumentiert. Z u dieser Zeit w i r d nun aber Simmels Auseinandersetzung mit soziologischen Fragen und Problemen bereits als beendet betrachtet. Die „Soziologie" von 1908 bedeutet für Simmel, w i l l man Maria Steinhoff folgen, „so etwas wie ein Abschied von der soziologischen Forschung" 1 . Nach Friedrich H. Tenbruck hat Simmels „soziologische Periode" gar schon m i t der „Philosophie des Geldes" von 1900 „ihren eigentlichen Höhepunkt und Abschluß" erreicht 2 . Diese Betrachtungsweise scheint auch Simmel selbst durch seinen Austritt aus dem Vorstand der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie" i m Herbst 1913 „wegen anderer Richtung seiner Studien" 3 nahezulegen. Simmels Verhalten läßt sich aber auch, wie dies aus Peter-Ernst Schnabels kritischer Untersuchung zur Soziologiegeschichte hervorgeht, aus der damaligen allgemeinen Skepsis gegenüber seinem soziologischen Wissenschaftsentw u r f erklären. „Da die Grenzen zwischen Kulturtheorie, Geschichtsphilosophie, Psychologie und Soziologie i m Bereich der Gesellschaftswissenschaften zu dieser Zeit noch nicht so klar gezogen sind, gerät hier noch mancher Gesichtspunkt m i t i n die Diskussion, den spätere Inter1 M. Steinhoff (93), S. 217. Eine ähnliche Auffassimg vertreten auch Leopold von Wiese: „Der Simmel von 1915 war ein ganz anderer Mann als der von 1905" („Geschichte der Soziologie" [1926], Berlin 1971®, S. 123) und Hermann Gerson (34), der die „soziologistische Periode" Simmels von 1890—1900 ansetzt (S.3). 2 F. H. Tenbruck (97), S. 592. 3 Mitgeteilt wird dies von Ferdinand Tönnies, „Die deutsche Gesellschaft für Soziologie", in: Kölner Vierteljahreshefte für Sozialwissenschaften, 1, 1921—22, S. 43.
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Zweiter Teil: Rückschlüsse auf die Soziologie Simmels
preten, nicht immer zum Vorteil der Simmelschen Konzeption, unter den Tisch fallen ließen. Demnach ist es wohl auch kein Zufall, daß Simmel am Ende dieser Phase seine Mitarbeit i n der „Deutschen Gesellschaft" aufkündigt und damit formell von der Bühne der großen deutschen Soziologie abtritt. Diesen Schritt, den er m i t der Andersartigkeit seiner Forschungsinteressen begründete, haben manche Kritiker, voreilig wie es scheint, als Zeichen seiner völligen Abkehr von sozialwissenschaftlichen Problemstellungen, interpretiert" 4 . Gefördert w i r d diese Sichtweise zusätzlich durch einen Bericht von Ernst Troeltsch, demzufolge Simmel i n den letzten Jahren eine Diskussion über soziologische Fragen abgelehnt habe m i t der Bemerkung, daß i h n diese Dinge nicht mehr interessierten 5 . Nicht ohne Grund gibt Hans Liebeschütz i n diesem Zusammenhang zu bedenken, daß Simmels Ausspruch vielleicht auch „durch die Person des Gesprächspartners hervorgerufen worden sein (mag), der auch als philosophischer Interpret des Gesellschaftslebens immer Theologe geblieben ist. Jedenfalls hat Simmel es damals nicht aufgegeben, die Phänomene des Alltagslebens zum Gegenstand seiner philosophischen Reflexion zu machen" 6 . Unbestreitbar bleibt, daß Simmel noch Anfang des Jahres 1912 Heinrich Rickert brieflich davon i n Kenntnis setzt, daß er an dem Grundgedanken der ersten Formulierung seines Begriffs der Soziologie festhalte und „jetzt daran gehe, eine ausführliche Soziologie auf dieser Basis zu verfassen" (BdD 110). Ebenso unbestreitbar bleibt, daß Simmel auch noch nach seiner Berufung an die Universität Straßburg 1914 eine zumindest einstündige Lehrveranstaltung über Soziologie i m Wintersemester 1914/15 und 1917/18 abgehalten hat (BdD 349). Was uns indessen das auch von der Sache selbst her begründete Recht dazu gibt, Rückschlüsse von Simmels hegelianisierendem Denken i n der metaphysischen Spätphase seiner Philosophie auf seine Soziologie zu ziehen, legen bestimmte Aussagen einer unvollendet gebliebenen Simmelschen Selbstdarstellung offen. Von der „soziologischen Bedeutung des Wechselwirkungsbegriffs aus", so schreibt Simmel dort, sei ihm dieser Begriff „allmählich zu einem schlechthin umfassenden metaphysischen Prinzip auf (gewachsen)" (BdD 9). A n die Stelle der zunächst zeitgeschichtlich bedingten „Auflösung alles Substantiellen, Absoluten, Ewigen i n den Fluß der Dinge, i n die historische Wandelbarkeit, i n die nur 4
P.-E. Schnabel (86), S. 91/92. E. Troeltsch, „Der historische Entwicklungsbegriff in der modernen Geistes» und Lebensphilosophie". I I . Die Marburger Schule, die südwestdeutsche Schule, Simmel. In: Historische Zeitschrift. Der ganzen Reihe 124. Band, Dritte Folge, 28. Band, 1921, S. 423 Anm. 1. 6 H. Liebeschütz (63), S. 131. Zum Verhältnis Simmel-Troeltsch vgl. auch die Erinnerungen an Simmel von Charles Hauter (BdD, S. 254) und von Paul Honigsheim (BdD, S. 267). 5
Zweiter Teil: Rückschlüsse auf die Soziologie Simmels
psychologische Wirklichkeit" habe er die „lebendige Wechsel Wirksamkeit von Elementen" gesetzt. Zentralbegriffe wie Wahrheit, Wert, Objektivität hätten sich i h m so als „WechselWirksamkeiten, als Inhalte eines Relativismus" (BdD 9) ergeben. I n den wenigen Sätzen der Selbstdarstellung skizziert Simmel seinen Weg zu einem Relativismus, den er i n einem vermutlich vom 15. IV. 1917 datierten Brief an Rickert als „ein durchaus positives metaphysisches Weltbild" (BdD 118) verstanden wissen w i l l . Daß dieser Entwicklungsgang seinen Ausgang von der soziologischen Bedeutung des Wechselwirkungsbegriffs genommen hat, ist die für uns entscheidende Aussage der Simmelschen Selbstdarstellung. Daher steht auch der Begriff der Wechselwirkung i m Umkreis der Soziologie Simmels 7 , aber nicht ausschließlich dort, wie die einleitenden wort- und begriffsgeschichtlichen Untersuchungen bereits anzeigen, i m Mittelpunkt des nachfolgenden Kapitels.
7 Bereits 1971 hat Heribert J. Becher (10) Simmels Begriff der Wechselwirkung zum Anlaß genommen, den von uns weitgehend abgeschatteten „erkennitnistheoretisch-methodologischen Grundlagen von Simmels soziologischem Werk" nachzugehen (S. V I I I ) .
Kapitel
V
Der Begriff der Wechselwirkung 1. Zur Wortgeschichte von „Wechselwirkung" Bevor w i r das Aufkommen des Wortes „Wechselwirkung" i m deutschen Schrifttum Mitte des 18. Jahrhunderts näher verfolgen, muß vorab etwas zur Bildung dieses Wortes gesagt werden. „Wechselwirkung" w i r d i m allgemeinen als eine Zusammensetzung m i t „Wechsel" aufgeführt 8 . Das Wort „Wechsel", mittelhochdeutsch: wehsei, althochdeutschaltsächsisch: wehsal, ist eine westgermanische Ableitung m i t dem Suffix -sia- derselben Wurzel, die auch i n „weichen" und „Woche" enthalten, und aus der gleichfalls das lateinische „vicis": Wechsel, Abwechslung, Wechselseitigkeit, Stellvertretung hervorgegangen ist. Aus der Grundbedeutung von „Platzmachung", „Einräumung" des Wortes „Wechsel" entwickelte sich, was i n unserem Zusammenhang nicht uninteressant ist, der Gebrauch dieses Wortes als „(Aus-)tausch von Waren" und „Handel". „Wechsel ist somit einer der ältesten dt. Handelsausdrücke" 9 . Neben der Wortbildung verdient auch das Wortfeld von „Wechselwirkung" unsere Beachtung. Jünger als das Substantiv ist das Verb „wechselwirken", das i n einem lyrischen Gedicht von Friedrich Rückert m i t dem Titel „Der Bau der Welt" nachgewiesen ist. Visionär erblickt Rükkert dort den Beter, Hirten oder Priester und den Kämpfer oder Ritter 8 So Moritz Heyne, „Deutsches Wörterbuch", Dritter Band, Leipzig 19062, S. 1340. Fr. L. K. Weigands „Deutsches Wörterbuch", herausgegeben von Hermann Hirt, Anfang des I I . Bandes, Gießen 19055 nennt als Zusammensetzungen mit „Wechsel" lediglich „wechselseitig" und „wechselweise" (S. 1219/1220); ebenso „Trübners Deutsches Wörterbuch", herausgegeben von Walter Mitzka, Band V I I I , Berlin 1956, in das darüberhinaus „wechselvoll" aufgenommen ist (S, 62). Hermann Pauls „Deutsches Wörterbuch", Tübingen 19665 notiert „wechselseitig" und „Wechselwirkung" immerhin noch unter dem von „Wechsel" abgeleiteten Verb „wechseln" (S. 781/782). Eine Ausnahme bildet hingegen das „Wörterbuch der Deutschen Sprache" von Daniel Sanders, Zweiter Band. Zweite Hälfte, Leipzig 1865, das ,WechselW.'(irkung) als Zusammensetzung „entsprechend denen von wirken" bringt (S. 1629). 9 Trübners Deutsches Wörterbuch, a. .a O., S. 61. I n demselben Sinn vermerkt auch Jacob und Wilhelm Grimms „Deutsches Wörterbuch, Dreizehnten Bandes Erste Lieferung, Leipzig 1901 die "besonders reiche Verwendung", die das Wort „Wechsel" „im geldwesen gefunden" hat (S. 2678).
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als Statthalter Gottes auf der Welt, die „ i n mannichfalter Beziehung" zueinander stehen: „Wie beid' i n den bezirketen: Gebieten wechselwirketen, / Bedingend sich, bekränzend, / Begegnend und ergänzend" 10 . Bedeutsamer noch als „Wechselwirken" ist die „Wechselwirksamkeit", die Simmel weitgehend — seine Selbstdarstellung war bereits ein Beispiel dafür — synonym m i t „Wechselwirkung" verwendet. I n der zweiten Lieferung der 1794/95 erstmals i m Druck erschienenen „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" spricht Johann Gottlieb Fichte von der Wirksamkeit des Ich und Nicht-Ich, „diese Wirksamkeit b e i d e r . . . muß Wechselwirksamkeit seyn, d. i. die Aeusserungen beider müssen zusammentreffen i n einem Punkte: der absoluten Synthesis beider durch die Einbildungskraft" 1 1 . I n Verbindung m i t einem die Kontinuität unterstreichenden Adjektiv, das w i r auch bei „Wechselwirkung" antreffen werden, steht das Wort „Wechselwirksamkeit" bei Richard Dehmel. Das fünfte Kapitel seiner Abhandlung über Tragik und Drama handelt zu Beginn von einem neu erstandenen „Einheitsglauben", i n dem der tragische Wert und eine ihn begründende jenseitige Macht keinen Platz mehr finden, aber der Glaube „an eine unaufhörliche Wechselwirksamkeit alles Seins und Wesens, i n der es einen Untergang i m alten Sinne garnicht mehr giebt" 1 2 . Seit Mitte des 18. Jahrhunderts ist schließlich das Auftreten des Wortes „Wechselwirkung" i n seiner Grundbedeutung als „wechselseitige, i n einander greifende, sich ergänzende" und ebensolche „Wirkung zwischen zweien und mehreren" belegt. Es „entstammt", wie Jacob und Wilhelm Grimms „Deutsches Wörterbuch" ausweist, „der spräche der philosophie" 13 . Immanuel K a n t ist denn auch der erste, der dieses Wort i n seinem Versuch, den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes unter Beweis zu stellen, gebraucht. I m vierten Hauptstück seiner „Allgemeine(n) Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes nach Newton'schen Grundsätzen abgehandelt" aus dem Jahr 1755 leitet Kant aus der „Bestrebung eines Planeten, aus dem Umfange der elementarischen Materie sich zu bilden" die Achsendrehung der Planeten und zugleich die Erzeugung sie umkreisender Monde ab. Bei der Darstellung des Entstehungsvorgangs von Monden bedient sich Kant des Wortes „Wechselwirkung". „Der sich bildende Planet, indem er die Partikeln des Grundstoffs aus dem ganzen Umfange zu seiner 10
Friedrich Rückert's gesammelte Poetische Werke in zwölf Bänden, Siebenter Band, Frankfurt a. M. 1968, S. 249. 11 J. G. Fichte, „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre und Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rüksicht auf das theoretische Vermögen", Neue unveränderte Auflage, Tübingen 1802, S. 440. 12 R. Dehmel, „Gesammelte Werke", Neunter Band, Berlin 1909, S. 62. 13 Dreizehnten Bandes Erste Lieferung, a. a Ο., S. 2777.
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Kap. V : Der Begriff der Wechselwirkung
Bildung bewegt, w i r d aus allein diesen sinkenden Bewegungen vermittels ihrer Wechselwirkung Kreisbewegungen, und zwar endlich solche erzeugen, die i n eine gemeinschaftliche Richtung ausschlagen, und deren ein Theil die gehörige Mäßigung des freien Zirkellaufes bekommen, und i n dieser Einschränkung sich einer gemeinschaftlichen Fläche nahe befinden werden. I n diesem Räume werden, so wie um die Sonne die Hauptplaneten, also auch um diese sich die Monde bilden . . ." 1 4 . Newton, nämlich dessen drittes A x i o m der Mechanik von der Gleichheit der W i r kung und Gegenwirkung, steht auch i m Hintergrund eines kantischen Deduktionszusammenhangs, bei dem das Wort „Wechselwirkung" abermals fällt. I n der ersten Ausgabe der „ K r i t i k der reinen Vernunft" von 1781 lautet der „Grundsatz" der dritten Analogie der Erfahrung: „Alle Substanzen, sofern sie zugleich sind, stehen i n durchgängiger Gemeinschaft (d. i. Wechselwirkung unter einander)" 15 . I n den neunziger Jahren des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts t r i t t „Wechselwirkung" bei Friedrich Schiller, Goethe und August W i l helm Schlegel auf. Schillers vierzehnter Brief „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen" beginnt m i t der gewonnenen Einsicht i n das „Wechselverhältnis" von Sach- und Formtrieb. „ W i r sind nunmehr zu dem Begriff einer solchen Wechselwirkung zwischen beyden Trieben geführt worden, wo die Wirksamkeit des einen die Wirksamkeit des andern zugleich begründet und begrenzt, und wo jeder einzelne für sich gerade dadurch zu seiner höchsten Verkündigung gelangt, daß der andere thätig ist" 1 6 . Zusammen oder verbunden wirken nun aber Sachund Formtrieb i m „Spieltrieb". Ist der Gegenstand des Sachtriebes, Schillers fünfzehntem Brief zufolge, „Leben" und derjenige des Formtriebes „Gestalt", so heißt der Gegenstand des Spieltriebes „lebendige Gestalt", ein Begriff „ . . . dem, was man i n weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient" 1 7 . I n diesem gedanklichen Zusammenhang steht das Wort „Wechselwirkung" auch i n Schillers sechzehntem Brief. „Aus der Wechselwirkung zwey entgegengesetzter Triebe, und aus der Verbindung zwey entgegengesetzter Principien haben w i r das Schöne hervorgehen sehen...", und einige Zeilen weiter spricht Schiller von „dem Begriff einer Wechselwirkung, vermöge dessen bey de Theile einander zugleich nothwendig bedingen, und durch einander bedingt werden, und deren reinstes Produkt die Schönheit ist" 1 8 . 14 Immanuel Kant's Werke, sorgfältig revidierte Gesamtausgabe in zehn Bänden. Achter Band, Leipzig 1838, S. 288/289. 15 Ebd., Zweiter Band, Leipzig 1838, S. 211. 16 Schillers sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von K a r l Goedeke. Zehnter TeiL Aesthetische Schriften, Stuttgart 1871, S, 320. 17 Ebd., S. 323. 18 Ebd., S. 328/329.
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Wechselwirkung
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Goethes Mitarbeit unter anderem an dem von Schiller i n den Jahren 1796—1800 herausgegebenen „Musenalmanach" hatte einen intensiven geistigen Austausch beider Dichter zur Folge. Goethe n i m m t i n den Schlußsätzen eines Briefes an Schiller vom 13. August 1796 auf i h n Bezug, wenn er schreibt: „Grüßen Sie alles was Sie umgiebt, ich freue mich Sie bald wieder zu sehen, wie ich denn von unserer Wechselwirkung noch Folgen hoffe, die w i r jetzt gar noch nicht ahnen können" 1 9 . I n einem ganz anderen Kontext macht Goethe etliche Jahre später erneut von dem Wort „Wechselwirkung" Gebrauch. Anläßlich der geplanten Aufführung eines Festspiels begrüßt Goethe i n einem an I. A. C. Levezow gerichteten Brief vom 13. A p r i l 1815 die Abfassung und Veröffentlichung eines Berichts, der das Publikum auf die Festspielaufführung vorbereiten soll. Lobend hebt Goethe hervor, daß dieser Vorbericht,, den großen Complex eines angefüllten Schauspielhauses vor A u gen stellt, wo Bühne, Parterre und Logen i n ewiger Wechselwirkung begriffen, ein großes belebtes Ganze darstellen, das vielleicht das Höchste ist, was Kunst und Kunstliebe zu Stande bringen und genießen kann" 2 0 . 1802 begegnen w i r dem Wort „Wechselwirkung" schließlich i n der dritten, einer Reihe von i n Berlin gehaltener Vorlesungen August W i l helm Schlegels „Ueber Litteratur, Kunst und Geist des Zeitalters". I n den experimentierenden Naturwissenschaften glaubt Schlegel „einen crassen Materialismus" feststellen zu können, der zur Erklärung der Phänomene des Lebens nicht beizutragen vermöge. „Denn der Organismus ist ein solches Naturprodukt, w o r i n das Ganze den Theilen vorausgedacht werden muß, die durch jenes erst seine Bestimmung erhalten. Er bietet schon ein sehr deutliches B i l d der gesammten Natur i m kleinen dar, indem er ein sich selbst producirendes Produkt ist, und sich ihm ein Theil der allgemeinen ewigen Schöpferkraft sichtbar eingeprägt hat. Auch die unendliche Wechselwirkung, da jede Wirkung wieder Ursache ihrer Ursache ist, und die w i r i n dem übrigen Naturlauf nicht so wahrnehmen können, ist uns i n i h m offenbar. Aber eben deswegen begreift der ganz und gar nichts vom Organismus, der nicht die Idee der Natur mitbringt, und so sehen w i r denn auch, daß die Physiologie sich entweder m i t den unhaltbarsten verworrensten Hypothesen von mechanischen und chemischen Wirkungsarten (d. h. von solchen, die durch den Organismus gewissermaßen aufgehoben werden, und nur bedingt i n ihm eintreten können) beladen, oder geradezu eingestanden hat, sie wisse die Geheimnisse des Lebens nicht zu enträthseln" 21 . 19 „Goethes Werke". Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV. Abteilung 11. Band, Weimar 1892, S. 160. 20 Ebd., IV. Abteilung 25. Band, Weimar 1901, S, 260. 21 In: „Europa". Eine Zeitschrift. Herausgegeben von Friedrich Schlegel, Zweiter Band, Frankfurt a. M. 1803, S. 51/52.
8 Christian
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Kap. V: Der Begriff der Wechselwirkung
Seit dem Aufkommen des Wortes „Wechselwirkung" i n der Mitte des 18. Jahrhunderts verbindet sich m i t diesem Wort die Bedeutung einer ineinandergreifenden, sich wechselseitig ergänzenden, aber auch begründenden oder bedingenden und begrenzenden Wirkung meist zwischen zweien. Auffallend ist die nähere Kennzeichnung der Wechselw i r k u n g — etwa bei Goethe und Schlegel — durch Adjektive wie „ewig" und „unendlich". Grimms „Deutsches Wörterbuch" führt weitere Belegstellen für diesen Sachverhalt an, die hier nur genannt, aber nicht i n ihrem genaueren Textzusammenhang aufgesucht und dargestellt werden sollen: „durchgängige" Wechselwirkung bei Herder und F. Schlegel, „stete" Wechselwirkung bei Raupach, „unaufhörliche" Wechselwirkung bei Freytag, „ununterbrochene" Wechselwirkung bei von Bismarck, nochmals „ewige" Wechselwirkung bei Gützow, „lebendige" Wechselw i r k u n g bei W. v. Humboldt und schließlich „tätige" Wechselwirkung bei A. v. Humboldt 2 2 . A l l diese Adjektive bringen eine Kontinuität und Dynamik der Wechselwirkung zum Ausdruck. Ein Blick auf die neueste Wortgeschichte bestätigt diese geradezu klassische Charakterisierung der Wechselwirkung durch Adjektive der genannten A r t . So heißt es etwa, um nur ein Beispiel zu geben, i n der Rezension über eine hydrologische Monographie aus dem Jahr 1963, daß „das unterirdische Wasser i n dauernder Wechselwirkung m i t dem oberirdischen Wasser steht" 2 3 . Bemerkenswert scheint uns abschließend ferner, daß i n den zitierten Textstellen nicht nur auf die Kontinuität und Dynamik der Wechselw i r k u n g abgehoben wird, sondern daß dieses Wort auch zur Bezeichnung eines gewissen Zusammenschlusses dient. Bereits bei K a n t werden ja aus „Bewegungen vermittels ihrer Wechselwirkung Kreisbewegungen", die „ i n eine gemeinschaftliche Richtung" ausschlagen; und daß sich alle Substanzen, sofern sie zugleich sind, i n Wechselwirkung unter einander befinden, heißt, daß sie „ i n durchgängiger Gemeinschaft stehen". Zwar geht das Wort „Gemeinschaft" bzw. „gemeinschaftlich" ursprünglich auf „gemein" zurück, dessen Wurzel die Bedeutung von „wechseln, tauschen" und „mehreren i m Wechsel zukommend" enthält, es wäre aber denkbar, daß K a n t hier bereits der Bedeutungsverschie22
Deutsches Wörterbuch von J. und W. Grimm, a. a. Ο., 2777. Günter Schellenberger über G. Castanys, „Traité pratique des eaux souteraines", Paris 1963, in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft, Herausgegeben i m Auftrage der Akademien der Wissenschaften zu Berlin Göttingen Heidelberg Leipzig München Wien, 85. Jg., Berlin 1964, S. 945. Für die Übersendung des Belegmaterials zum Gebrauch des Wortes „Wechselwirkung" in unserer Zeit bin ich Frau Dr. Elke Tellenbach, Arbeitsgruppe Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Zentralinstitut für Sprachwissenschaften der Akademie der Wissenschaften der D D R zu herzlichem Dank verpflichtet. 23
2. Zur Geschichte des Begriffs der Wechselwirkung
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bung des Wortes „Gemeinschaft" i m Sinne von „Zusammengehörigkeit" und „Verbundenheit" Rechnung trägt. Für Goethe jedenfalls stellen sich die i n ewiger Wechselwirkung begriffenen Momente als ein „belebtes Ganze" dar und für Schlegel offenbart sich uns die unendliche Wechselw i r k u n g i m „Organismus".
2. Zur Geschichte des Begriffs der Wechselwirkung (Kant, Hegel, Schleiermacher, Dilthey) Der wortgeschichtlichen Untersuchung haben w i r entnommen, daß „Wechselwirkung" der Sprache der Philosophie entstammt, seiner Herkunft nach also ein philosophischer Begriff ist. Da es nicht unsere A u f gabe sein kann, eine lückenlose Geschichte des Wechselwirkungsbegriffs zu erarbeiten, die etwa nach Rudolf Eislers „Wörterbuch der philosophischen Begriffe" bei Spinoza zu beginnen und bei Hans Driesch zu enden hätte 2 4 , sondern da w i r unsere Aufgabe vielmehr darin sehen, dem Sinngehalt des Wechselwirkungsbegriffs i m Umkreis solcher philosophischen Gedankengänge nachzugehen, die für die Ausprägung von Simmels Begriff der Wechselwirkung von Bedeutung und Einfluß gewesen sein könnten, nehmen w i r den Ausgangspunkt unserer Nachforschungen erneut bei Kant. Kants Begriff der Wechselwirkung hat seinen Ort i m zweiten Teil der „ K r i t i k der reinen Vernunft", der „transzendentalen Logik", die i n die beiden Abteilungen „transzendentale A n a l y t i k " und „transzendentale Dialektik" zerfällt. Die transzendentale A n a l y t i k ihrerseits entwickelt i m ersten Buch über die „ A n a l y t i k der Begriffe" die Kategorien und leitet sie aus der transzendentalen Apperzeption des Ich ab; und entfaltet i m zweiten Buch über die „ A n a l y t i k der Grundsätze" die allgemeinen Grundsätze für die methodisch richtige Anwendung der Kategorien 25 . Die aus den Relationskategorien abgeleiteten Grundsätze des reinen Verstandes sind näher ins Auge zu fassen. „Sie kennzeichnen", wie Friedrich Delekat i m einzelnen erläutert, „das Substrat, die A r t und die Geschlossenheit der Verbindung (nexus), i n der alle Erscheinungen miteinander stehen. Kant bezeichnet sie i m Unterschied von den Axiomen der Anschauung und den Antizipationen der Wahrnehmung als Analogien der Erfahrung und unterscheidet sie als die 24
„Wörterbuch der philosophischen Begriffe", Historisch-quellenmäßig bearbeitet von R. Eisler, Dritter Band, Berlin 19304, S. 497—500. Simmel wird in diesem Wörterbuch beachtenswerterweise unter dem Stichwort „psychophysische Wechselwirkung" eingeordnet (S. 501). 25 w i r folgen hier der historisch-kritischen Interpretation von Friedrich Delekat (16), vor allem dessen 5. Kapitel über die „Grundsätze des reinen Verstandes", S. 10&—150. 8·
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Kap. V : Der Begriff der Wechselwirkung
dynamischen Grundsätze von den mathematischen" 26 . Der Grundsatz der dritten Analogie der Erfahrung, der i n der zweiten Ausgabe der K r i t i k der reinen Vernunft von 1787 nicht mehr als „Grundsatz der Gemeinschaft", sondern „Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Gesetze der Wechselwirkung, oder Gemeinschaft" betitelt ist, trägt den Wortlaut: „ A l l e Substanzen, sofern sie i m Räume als zugleich wahrgenommen werden können, sind i n durchgängiger Wechselwirkung" 27 . Diese Formulierung ist gegenüber derjenigen i n der ersten Ausgabe insofern präziser als sie die durchgängige Wechselwirkung auf das Zugleichsein der Substanzen i m Raum einschränkt. Da nun aber angenommen werden kann, daß K a n t hierbei an das Zugleichsein der Substanzen i m absoluten Raum und der absoluten Zeit Newtons gedacht hat, w i r d auch das absolute Raum-Zeit-Kontinuum zum eigentlichen Träger ihrer „Gemeinschaft". Letztlich kann man darum wohl auch sagen, daß Kants Wechselwirkungsbegriff als eine „ A r t der Wechselwirkung ausschließlich i m Sinne eines i n sich geschlossenen nexus physicus" 28 verstanden werden muß. Die früheste Schrift, i n der Hegel den Begriff der Wechselwirkung i n systematischer Form abhandelt, ist ein Manuskript über Logik, Metaphysik und Naturphilosophie aus dem Jahr 180429. I n dieser sogenannten „Jenenser Logik Metaphysik und Naturphilosophie" knüpft Hegel an die von Kant vorgegebenen Relationskategorien an. Die bloße „ A u f nahme der Kantischen Relationskategorien" stellt nach Theodor Haering allerdings noch „nicht eigentlich eine Neuerung i n Hegels Entwicklung" dar, „da Hegel gerade diese auch schon früher oft zum Gegenstand kritischer Betrachtungen gemacht hatte. War i h m doch etwa die Bestimmung des Lebendigen als bloßer ,Substanz' (...) oder die A u f fassung lebendiger Wechselbeziehung als bloßer einseitiger Kausalbeziehung ( . . . ) , bei welcher die eine der i n diesem bloßen »Verhältnis' stehenden Größen bloße Ursache, die andere bloße Wirkung, die eine bloß Bestimmendes oder Subjekt, die andere bloß Bestimmtes oder Objekt sein sollte, an allen möglichen Einzelbeispielen, wie denen von Herr 26
(16), S. 129. I. Kant, „Kritik der reinen Vernunft", unveränderter Neudruck der von Raymund Schmidt besorgten Ausgabe, Hamburg 1967, S. 259. 28 F. Delekat (16), S. 139. Kants Begriff der Wechselwirkung in seinen ethischen, rechtsphilosophischen und politischen Schriften bedürfte einer gesonderten und für die begriffsgeschichtliche Aufklärung von Simimels (soziologischem) Wechselwirkungsbegriff sicher nicht unergiebigen Betrachtung. Vgl. als Einstieg dazu Manfred Riedels Artikel über Gesellschaft und Gemeinschaft (in: „Geschichtliche Grundbegriffe". Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Band 2, Stuttgart 1975, S. 824:—827). 29 Als genaues Datum des in Reinschrift geschriebenen Hegeischen Manuskripts gibt Heinz Kimmerle (55) den Sommer 1804— Winter 1804/05 an (S. 322). 27
2. Zur Geschichte des Begriffs der Wechselwirkung
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und Knecht, von Liebendem und Geliebtem oder zwischen Mensch und Gott usw., schon sehr früh als verdächtig und als das wahre ,lebendige Leben 4 nicht erfassend aufgegangen... auch das dritte Thema und Problem: wahrer und lebendiger ,Wechselwirkung*... hatte immer schon i m Zentrum Hegelscher Gedankenarbeit gestanden" 30 . Impliziert die bloße Aufnahme der Kantischen Relationskategorien in Hegels „ Jenenser Logik" noch nichts Neues, so doch ihre systematische Behandlung 31 . Den „Ubergang vom Endlichen zum Unendlichen" 3 2 gibt Heinz K i m merle als die Grundkonzeption der Hegeischen Logik von 1804 an. Innerhalb dieser stehen darum Substanz, Kausalität und Wechselwirkung auch i m zweiten Abschnitt, der m i t dem Titel versehen ist: „Das Verhältnis". I m allgemeinen kann der Begriff des Verhältnisses als „eine noch unvollkommene, i n einer Zweiheit auseinanderfallende Einheit" 3 3 umschrieben werden. I m Gesamtaufbau der Jenenser Logik bezeichnet „das Verhältnis" die Entzweiung der zuvor von Hegel thematisierten „einfachen Beziehung" i n eben ein „Verhältnis" scheinbar selbständiger Glieder, oder wie Johannes Heinrichs i n bezug auf die logische Gesamtkonzeption darlegt: „die Verselbständigung der Gegensatz-Glieder der Unendlichkeit" 3 4 . Das Verhältnis ist als unmittelbares das „Verhältnis des Seins". Substanz, Kausalität und Wechselwirkung können daher auch als (unreflektierte) Seinsverhältnisse i m Gegensatz zu den Verhältnissen des Denkens angesprochen werden. Das „Verhältnis des Seins" ist seinerseits wiederum zunächst i n seiner Unmittelbarkeit genommen das „Substantialitäts-Verhältnis". Ohne nun auf den logischen Gedankengang i m einzelnen eingehen zu können, sei zumindest soviel angedeutet, daß aus der Verdopplung der Substanz das „Kausalitäts-Verhältnis" hervorgeht, das i n der Dialektik von Ursache und Wirkung über sich hinaustreibt und i n die Wechselw i r k u n g Gleicher übergeht. Die „Wechselwirkung" entwickelt Hegel allerdings zunächst nur als formale Wechselwirkung, als eine „rein formelle Einheit" 3 5 , wie Heinz Kimmerle schreibt, und noch keineswegs als „die wahrhafte Bewegung" 36 . Ebensowenig erweist sich die Wechselwirkung gleich zu Anfang und unvermittelt als „eine Lebendigkeit" und 30
Th. Haering (41 II), S. 17/18. Erinnert sei an den bereits i m Zusammenhang mit Hegels Frankfurter „Systemfragment von 1800" herangezogenen Brief Hegels, in dem er Schelling mitteilt, daß sich ihm das Ideal des Jünglingsalters zur Reflexionsform, in ein System zugleich habe verwandeln müssen. 32 H. Kimmerle (55), S. 76. 38 Th. Haering (41 II), S. 193. 34 J. Heinrichs, „Die Logik der »Phänomenologie des Geistes4", Bonn 1974, S. 170. 35 H. Kimmerle (55), S. 59. 36 G. W. F. Hegel (44), S. 68. 31
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Kap. V : Der Begriff der Wechselwirkung
als das, was sie dann aber „ i n Wahrheit seiend sich darstellt, nämlich als eine unendliche Vermittlung des Übergehens, ein vernünftiges Erkennen" 8 7 . Ehe w i r nun i n der Geschichte des Wechselwirkungsbegriffs einen größeren Schritt von K a n t und Hegel zu Dilthey tun, sei kurz auf einen Denker hingewiesen, dessen Biograph Dilthey war, und der den Begriff der Wechselwirkung i n einem Zusammenhang erörtert hat, der auch bei Simmel eine bedeutsame Rolle spielt. Gemeint ist Schleiermacher und dessen 1799 verfaßte Schrift über den „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" 38 . Die Ortsbestimmung des Wechselwirkungsbegriffs verlagert sich also von der Logik auf die, zumindest i m Fall Schleiermachers aber noch i m Rahmen der Ethik verbleibenden Gesellschaftstheorie. Die inhaltliche Bestimmung der Wechselwirkung verschiebt sich dementsprechend von der Bedeutung dieses Begriffs als einer logischen Kategorie — i n Kants transzendentaler Logik als einer reinen Denkform, i n Hegels dialektischer Logik nicht nur als einer Form des Denkens, sondern auch des Seins — zu der Bedeutung dieses Begriffs als einem Prinzip gesellschaftlichen Handelns. Schleiermacher leitet seine „Theorie des geselligen Betragens" m i t Überlegungen zur „freien Geselligkeit" ein. Dieser Begriff w i r d dann einige Seiten weiter m i t „der Gesellschaft i m eigentlichen Sinn" identifiziert und auf seine Form und seinen Zweck h i n analysiert. Der Form nach ist i m Begriff der freien Geselligkeit enthalten, „daß mehrere Menschen auf einander einwirken sollen, und daß diese Einwirkung auf keine A r t einseitig sein darf". Hieraus ergibt sich für den „wahre(n) Charakter einer Gesellschaft in Absicht ihrer Form, daß sie eine durch alle Teilhaber sich hindurchschlingende, aber auch durch sie völlig bestimmte und vollendete Wechselwirkung sein soll" 3 9 . Schleiermacher gebraucht also den Begriff der Wechselwirkung zur formalen Charakterisierung von Gesellschaft, einer Gesellschaft, die nach den Ausführungen Yorick Spiegels m i t dem Modell der liberalen Verkehrsgesellschaft zu vergleichen ist. Nicht nur, daß sich Gesellschaft „ n u r i m ständigen, kontinuierlichen Handeln" verwirklicht, sondern „alle Teilnehmer handeln i n der Sphäre des Verkehrs aufeinander hin, und zwar — hier findet sich das liberale Modell am deutlichsten ausgesprochen — i m ,freien Spiel der Kräfte'" 4 0 . 37
Ebd., S. 69. Obwohl diese Schrift 1799 anonym im Berliner Archiv der Zeit und des Geschmacks erschienen ist, besteht an der Autorenschaft Schleiermachers nach Herman Nohl, der diese Schrift auch entdeckt und neu herausgegeben hat, kein Zweifel. Vgl. Fr. D. E. Schleiermacher (84), S. X X I I I . 39 Ebd., S. 8—9. 40 Y. Spiegel (90), S. 25. 38
2. Zur Geschichte des Begriffs der Wechselwirkung
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M i t letzterem w i r d bereits neben der Form auch der Zweck einer Gesellschaft angesprochen. Bestand die Form der freien Geselligkeit oder eigentlichen Gesellschaft i n der durch alle Teilhaber sich hindurchschlingenden Wechselwirkung, die durch deren kontinuierliches Handeln und wechselseitiges Aufeinanderwirken aber auch wiederum bestimmt und vollendet wird, so folgt daraus, daß die Gesellschaft keinen außerhalb ihrer liegenden Zweck hat. Es kann vielmehr,, auf nichts anderes abgesehen sein, als auf ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und belehren". Durchgehende und zweckfreie, an keinen einzelnen, bestimmten Zweck gebundene Wechselwirkung — Wechselwirkung, die „ i n sich selbst zurückgehend und vollendet" 4 1 ist — w i r d bei Schleiermacher somit zum vollständigen Ausdruck von „Gesellschaft". „ I n dem Begriff derselben" (d. i. der Wechselwirkung) „ist sowohl die Form als der Zweck der geselligen Tätigkeit enthalten, und sie macht das ganze Wesen der Gesellschaft aus" 42 . Auch bei Dilthey gewinnt der Begriff der Wechselwirkung gesellschaftstheoretische Bedeutung. Gesellschaft besteht i m Verständnis D i l theys „nicht anders als i n einem dauernden Spiel von Wechselwirkungen zwischen Menschen, ein Gedanke", wie Helmut Johach hinzufügt, „der i n der Folgezeit besonders von Georg Simmel rezipiert und weitergebildet w i r d " 4 3 . Auch i n der älteren Literatur fehlt nicht der H i n weis auf eine gewisse Préfiguration gerade etwa auch des Simmelschen Wechselwirkungsbegriffs i m Denken Diltheys 4 4 , so daß w i r uns veranlaßt sehen, unsere Nachforschungen zur Geschichte des Begriffs der Wechselwirkung von Kant, Hegel und Schleiermacher nun auch auf Dilthey auszudehnen. 41
Vgl. eine damit in Einklang stehende Notiz aus Schleiermachers Tagebuch: „Die Wechselwirkung hat keinen Zweck als sich 9elbst". Eintrag Nr. 168 abgedruckt in: Fr. D. E. Schleiermacher (84), S. X X X . 42 Ebd., S. 10. 43 H. Johach (54), S. 33. 44 So glaubt Maria Steinhoff (93), „daß eine Genealogie des Begriffs der Wechselwirkung bzw. der Beziehung Dilthey als Mittelglied zwischen Lotze und Simmel wird einordnen müssen" (S. 226 Anm. 3). Tenbruck (97) stellt zur Herkunft der Simmelschen Soziologie und ihrer Begriffe fest: „Kein Zweifel, Simmels Ansatz wächst aus Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften hervor, was nur denjenigen verwundern kann, der übersieht, daß die »Einleitung4 ja gerade auch als eine, wenngleich besondere Theorie der Gesellschaft auftritt — und der Diltheysche Einfluß ist fast an jeder Stelle des Simmelschen Werks nachweisbar" (S. 595). Als geistige Vorläufer Simmels nennt Renate Mayntz auch Dilthey. „The influence of Dilthey can be found in both Simmers sociology and his cultural philosophy, notably in his views on differentiation, interaction (Wechselwirkung), and the individual" (In: International Encyclopedia of the Social Sciences, editor David L. Sills, volume 14, 1968, S. 252/258). Vgl. auch den Aufsatz von Uta Gerhardt (33), S. 27&—292,
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Kap. V : Der Begriff der Wechselwirkung
Eingebunden i n Diltheys zentrale Bemühung um eine philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften findet sich der Begriff der Wechselwirkung i n einer 1875 veröffentlichten Abhandlung mit dem Titel „Uber das Studium der Geschichte vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat". I m Verlauf der geschichtlichen Erforschung dieser noch nicht als Geisteswissenschaften, sondern als „moralisch-politische" bezeichneten Wissenschaften kommt Dilthey auch auf das „handelnde . . . Leben . . . der Gesellschaft" und deren Realisation i n den Ordnungen von Sitte, Recht, Wirtschaft und Staat zu sprechen. Begründet sieht Dilthey diese Ordnungen der Gesellschaft i n den zwischen Individuen oder „psycho-physischen Ganzen als Elementen stattfindenden Wechselwirkungen". Diese Wechselwirkungen, die Dilthey auch als stetige, Systemcharakter annehmende „Weisen der Beziehung" kennzeichnet, sind es, „welche schließlich die Erscheinungen der Gesellschaft hervorbringen" 4 5 . Eine entsprechende Aussage macht Dilthey dann auch i n seiner 1883 erschienenen „Einleitung i n die Geisteswissenschaften". „Die Wechselwirkung der Individuen scheint zufällig und unzusammenhängend", wodurch sich die „Ansicht der Menschenkenner zu bestätigen (scheint), welche i n dem Leben der Gesellschaft nur Spiel und Widerspiel von Interessen der Individuen unter der Einwirkung des Zufalls e r b l i c k e n . . . Aber i n Wirklichkeit w i r d eben vermittels dieser Wechselwirkung der einzelnen Individuen... der notwendige Zweckzusammenhang der Geschichte der Menschheit verwirklicht" 4e. Diese Kernsätze erlauben auf die Frage nach Diltheys Bestimmung des Begriffs der Wechselwirkung zumindest i n seinen Frühschriften, die sich auf die wissenschaftliche Untersuchung der „geschichtlich-gesellschaftliche(n) Wirklichkeit" konzentrieren, mit Johach die folgende A n t wort zu geben. „Wechselwirkung meint nicht mehr ein naturgesetzliches Aufeinanderwirken i n A t t r a k t i o n und Repulsion oder wechselseitiger mechanischer Kausalität, sondern ein Handeln". Zur A r t und Weise dieses Handelns hat sich Dilthey auch bereits i n der Abhandlung von 1875 geäußert. „Das Individuum i s t . . . ein Element i n den Wechselwirkungen der Gesellschaft, ein Kreuzungspunkt der verschiedenen Systeme dieser Wechselwirkungen, i n bewußter Willensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen derselben reagierend.. ." 4 7 (Hervorhebungen v. Vf.) So meint die Wechselwirkung ein Handeln, „das bei anderen Individuen Handeln auslöst und selbst i n seiner A r t und seinem Ablauf an fremdem Handeln und bestimmten Handlungserwartungen reziprok orientiert ist. Wechselwirkung ist also, wenn man den Gehalt, den der Begriff bei Dilthey gewinnt, seinem vollen Sinn entsprechend expliziert, 45
Wilhelm Dilthey (22), S. 60 und S. 62. « W. Dilthey (20), S. 53. 47 W. Dilthey (22), S. 63.
4
3. Wechselwirkungsbegriff und gesellschaftliches Leben
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bereits identisch m i t dem, was Max Weber betont soziales Handeln nennt, wofür heute der Terminus „Interaktion" gebräuchlich ist" 4 8 . 3. Wesentliche Momente des Simmelschen Wechselwirkungsbegriffs im Ausgang vom gesellschaftlichen Leben a) Relationalität,
Dynamik
und Prozeßhaftigkeit
der Wechselwirkung
Simmels Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung hat uns über die Entwicklungsgeschichte des Begriffs der Wechselwirkung i n seinem Denken unterrichtet und uns die wichtige Information an die Hand gegeben, daß sich die Ausweitung oder Aufgipfelung des Wechselwirkungsbegriffs zu einem schlechthin umfassenden metaphysischen Prinzip von der soziologischen Bedeutung dieses Begriffs aus vollzogen hat. I m soziologisch gefaßten Begriff der Wechselwirkung müssen also bereits Momente angelegt sein, die die Erhebung dieses Begriffs zu einem umfassenden metaphysischen Prinzip ermöglichen und damit, wenn auch noch so unentfaltet, auf Simmels später zutage getretene Metaphysik hindeuten. Wechselwirkung ist i n erster Linie die Grundverfassung des gesellschaftlichen Lebens. „Das Leben der Gesellschaft besteht i n den Wechselwirkungen ihrer Elemente" (Rei 17); oder wie es einige Seiten weiter heißt: „Indem alles soziale Leben Wechselwirkung ist, ist es eben damit Einheit" (Rei 44). Simmel hat an dieser Auffassung sowohl i n seiner „Soziologie" als auch i n den ein Jahr vor seinem Tod erschienenen „Grundfragen der Soziologie" festgehalten. Es sind „die Wechselwirkungen zwischen den Elementen, die die ganze Zähigkeit und Elastizität, die ganze Buntheit und Einheitlichkeit dieses so deutlichen und so rätselhaften Lebens der Gesellschaft tragen" (GdS 13, vgl. auch Soz 15). Die Analyse des Simmelschen Begriffs der Wechselwirkung hat also i m Umkreis von „Gesellschaft i m weitesten Sinne" einzusetzen, die da vorhanden ist, „wo mehrere Individuen i n Wechselwirkung treten" (IndG 43). Becher nennt diese Sinnbestimmtheit von Gesellschaft den realistischen Gesellschaftsbegriff: die Gesellschaft als „Inbegriff der Wechselw i r k u n g " 4 9 . Ausgeklammert bleibt demnach i n der Analyse des Simmelschen Wechsel Wirkungsbegriff s fürs erste noch der eigentlich „soziologische Gesellschaftsbegriff" 50 , der die Summe der Wechselwirkungsformen zum Inhalt hat. Die Vorentscheidung über ein wesentliches Moment des Begriffs der Wechselwirkung fällt bereits i n Simmels Dissertation. A m Ende seiner 48 49 50
H. Jahoch (54), S. 33. H. J. Becher (10), S, 37 f. Ebd., S. 68 f.
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Kap. V : Der Begriff der Wechselwirkung
kritischen Ausführungen zum „Wesen der Materie nach Kant's Physischer Monadologie" würdigt Simmel Kants kühnen, allerdings noch kaum zur Klarheit gebrachten Gedankenschritt, „dass die Erscheinungen der Ausdehnung und der Schwere, überhaupt der Körperhaftigkeit, auf Beziehungen beruhen" (WM 31; Hervorhebung v. Vf.). Die fundamentale Bedeutung, die Simmel der Beziehung beimißt, schlägt sich in seiner ersten größeren soziologischen Publikation nieder. Als „regulatives Weltprinzip" glaubt er dort annehmen zu müssen, „dass Alles m i t A l l e m i n irgendeiner Wechselwirkung steht", und erläutert diesen Begriff dahingehend, „dass zwischen jedem Punkte der Welt und jedem andern Kräfte und hin- und hergehende Beziehungen bestehen" (Diff 13). Stete Verknüpfung und Verflechtung oder durchgehende Relationalität ist der erste entscheidende Grundzug des Simmelschen Wechselwirkungsbegriffs, der sich damit wiederum der Denkart des „modernein) Relativismus" (Soz 2) einfügt. Denn die „relativistische Anschauung" zeichnet sich gerade, wie Simmel nicht zufällig vor allem i n seiner „Philosophie des Geldes" auseinandersetzt 51 , „durch die ins Unendliche h i n fortgesetzte Auflösung jedes starren Fürsichseins i n Wechselwirkungen" (PdG 84) oder „Beziehungen und Prozesse" (PdG 85) aus. Es sei an dieser Stelle an die Bemerkung Heinrich Levys erinnert (vgl. Kapitel I, Abschnitt 4), daß diese ursprüngliche Welt- und Lebensanschauung Simmels, „welche die Unendlichkeit von Beziehungen sieht, die die Welt durchweben, ohne sie aber i n einer Totalität zusammenzufassen, als Rohstoff der späteren hegelischen" betrachtet werden kann 5 2 . Simmels Rede von der universalen Wechselwirkung, die darin bestand, daß zwischen jedem Punkt der Welt und jedem andern Kräfte und hin- und hergehende Beziehungen verlaufen, enthüllt nicht nur die i m Begriff der Wechselwirkung liegende Relationalität, sondern auch Dynamik 5 3 . „Der Begriff der Wechselwirkung ist wegen seiner Dynam i k bereits ein Begriff des Lebens", wie Becher ganz richtig feststellt. „Dieser Begriff steckt voller Lebendigkeit" 5 4 . Aus diesem Grund hatte 51 „Simmels Rationismus" — hier ist die Deutung des „Relativismus" als „Relationismus" besonders deutlich — findet nach der Auffassung von Landmann „in dem seltsamen und großartigen soziologischen Buch: ,Die Philosophie des Geldes'" sogar „seinen radikalsten und zusammenfassenden Ausdruck. Vom Geld aus, in dem sich die Kategorie der Beziehung gleichsam am nacktesten konkretisiert, wird sie hier ins Unendliche ausgeweitet und in den mannigfachsten Kulturerscheinungen aufgedeckt" (In: BT, S. X I I I ) . 52 H. Levy (61), S. 27. 53 Auch das dynamische Moment kündigt sich schon frühzeitig an. I n seiner Dissertation rügt Simmel beispielsweise als Grundfehler der Kantischen „Monadologia physica", „dass Functionen, die doch nur in ihren Trägern und nicht ausserhalb derselben zu suchen sind, zu an sich existierenden, raumerfüllenden, materiellen Realitäten gemacht werden" ( W M 25). 54 Becher (10), S. 21 und S. 33.
3. Wechselwirkungsbegriff und gesellschaftliches Leben
123
Simmel ja auch die Wechselwirkung zwischen den Individuen zur Triebfeder des gesellschaftlichen Lebens gemacht. Und darum zeigt sich auch die lebendige Dynamik der Wechselwirkung besonders deutlich dort, wo sich die Gesellschaft nicht zu festen, überindividuellen Gebilden verdichtet hat, sondern wo sie sich noch „gleichsam i m status naseens" befindet: „fortwährend knüpft sich" i n diesem Stadium „und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt" (Soz 15, GdS 13). Angesichts dieser unaufhörlichen rhythmischen 55 Dynamik der Wechselwirkung offenbart sich die Gesellschaft als ein „wirkliche(s) Geschehen" (Soz 15), als „etwas Funktionelles" (GdS 13), so daß man streng genommen nicht von Gesellschaft, sondern — wie dies Simmel auch bereits getan hat — von „Vergesellschaftung" (GdS 14) sprechen sollte. Eine Wendung zum aktiven, tätigen Vollzug gewinnt die dem Wechselwirkungsbegriff innewohnende Dynamik, wenn Simmel die Wechselw i r k u n g als eine „gegenseitig bestimmte . . . A k t i o n " (Soz 102) darstellt und etwa auch die Liebe als eine Wechselwirkung bezeichnet, weil der andere „ein aktiver Faktor i n i h r (ist)" (Gt 201). Es liegt nahe, den Begriff der Wechselwirkung unter diesem Aspekt m i t dem zunächst nur zur Übersetzung ins Amerikanische dienenden Wort „interaction", das sich dann aber auch i m Deutschen als ein soziologischer Terminus eingebürgert hat, zu identifizieren 56 . Eine bedenkenlose Gleichsetzung der Begriffe Wechselwirkung und Interaktion ist aber schon deshalb nicht möglich, weil Simmel i n der Wechselwirkung zwischen Menschen nicht nur ein aktives Wirkungen Ausüben, sondern auch ein passives W i r kungen Empfangen (Soz 4), nicht nur „tun", sondern auch „leiden" (GdS 13) berücksichtigt. Beides verbindet sich dann freilich wiederum i n der als wesentlich herausgestellten Dynamik des Wechsel W i r k u n g s b e g r i f f s , zu einer „Dynamik des Wirkens und Leidens" (GdS 14)57. 55 Die sich in der Wechselwirkung zwischen den Menschen abspielende Rhythmik ist Simmel schon im zweiten Band seiner „Einleitung in die Moralwissenschaft" aufgefallen. „Die feinsten persönlichen Beziehungen zwischen Menschen vollziehen sich häufig in einem Wechsel von mehr oder weniger sichtbaren Bindungen und Befreiungen" (Mor I I 244). 56 W i r haben gesehen, daß Helmut Johach (54) im Fall des Diltheyschen Wechselwirkungsbegriffs auch so verfahren ist. Das „Lexikon zur Soziologie" ist bemerkenswerterweise eines der wenigen Nachsciilagewerke, das unter dem Stichwort „Interaktion" zwei verschiedene Begriffsdeutungen aufzählt: 1. die Wechselwirkung und 2. den verhaltenstheoretischen Interaktionsbegriff. Die Wechselwirkung wird auch nicht mit der „sozialen Interaktion", dem handlungstheoretischen Interaktionsbegriff in eins gesetzt (Herausgegeben von W. Fuchs, R. Klima, R. Lautmann, O. Rammstedt, H. Wienold, Opladen 1973, S. 309). 57 I m 2. Abschnitt des IV. Kapitels über die Todesverflochtenheit des Lebens haben wir das Leiden letztlich auch bereits als eine Aktivität und „Tun" kennengelernt.
124
Kap. V : Der Begriff der Wechselwirkung
Über das dynamische Moment hinaus schließt der Begriff der Wechselwirkung eine eigentümliche Prozeßhaftigkeit ein, die sich bereits i n Simmels Verständnis von Relativismus als einer ins Unendliche gehenden Auflösung alles Einzelnen und Substantiellen i n ein Beziehungsgeflecht ankündigte. Was Simmel nun aber mit dem Begriff der Wechselwirkung i m besonderen zu denken versucht, ist eine „konkrete Unendlichkeit", dergestalt, daß die Wechselwirkung eine „ i n sich zurücklaufende . . . Form" (PdG 85) annimmt. „Wenn die Wirkung, die ein Element auf ein anderes ausübt, für dieses zur Ursache wird, auf jenes erste eine Wirkung zurückzustrahlen, die so wiedergegebene aber, ihrerseits wieder zur Ursache einer Rückwirkung werdend, das Spiel von neuem beginnen läßt: so ist hiermit das Schema einer wirklichen Unendlichkeit der A k t i v i t ä t gegeben. Hier ist eine immanente Grenzenlosigkeit, der des Kreises vergleichbar; denn auch diese entsteht doch nur i n der völligen Gegenseitigkeit, mit der jeder Abschnitt desselben jedem anderen seine Stelle bestimmt — " (PdG 85). Die konkrete, i n sich unendliche Kreisbewegung der Wechselwirkung bringt Simmel an einer anderen Stelle m i t den Worten zum Ausdruck, daß sich i n der Wechselw i r k u n g „ e i n e s . . . auf das andere und das andere auf das eine und so ins Unendliche aufbaut, i n einem Zirkel" (PdG 237). I n Anbetracht dieses kreisförmigen Prozeßcharakters der Wechselwirkung geraten diejenigen Deutungen i n ein schiefes Licht, die Simmels Wechselwirkungsbegriff auf einen geradlinigen Folgezusammenhang von Ursache und Wirkung i m Sinne naturwissenschaftlicher Kausalität reduzieren wollen 5 8 . Simmels Wort von der „völligen Gegenseitigkeit", 58 Das geschieht überall dort, wo gegenüber dem Simmelschen Wechselwirkungsbegriff der Einwand erhoben wird, daß ihm „etwas Naturalistisches" anhafte (Raymond Aron, „Die deutsche Soziologie der Gegenwart", Systematische Einführung in das soziologische Denken, übersetzt und bearbeitet von I. Fetscher, Stuttgart 1969, S. 5). Othmar Spann vor allem sieht den Begriff der Wechselwirkung in der „empiristischen Gesellschaftslehre" verankert, zu der er auch Simmel zählt. „Das Ziel, zur Naturwissenschaft zu werden, bestimmt die gesamte empiristische Gesellschaftslehre . . . I m Gefolge dieser Voraussetzung rein mechanischer Ursächlichkeit ist es dann der besondere Begriff der Wechselwirkung, welcher diese »Soziologie' beherrscht" (Gesamtausgabe, Herausgeber: W. Heinrich, H. Riehl, R. Spann, F. A. Westphalen, Band 4 Gesellschaftslehre, Graz 19694, S. 67/68). Der Einsicht in die Unübertragbarkeit des naturwissenschaftlichen Kausalgesetzes auf den Wechselwirkungsbegriff folgten Versuche, eine andersartige Kausalverfassung der Wechselwirkung zu erweisen. So spricht zwar Isaak Altaraz (7) von „kausal-bedingter" Wechselwirkung, bestimmt dann aber die Soziologie als „Wissenschaft der interindividuellen seelischen Kausalität" (S. 32). Als selbstverständlich erscheint es Werner Ziegenfuss, daß die „in Wechselwirkungen zum Ausdruck kommende ,Kausalität' in keiner Weise mit der Kausalität in der physischen Wirklichkeit verglichen werden kann" (In: Handbuch der Soziologie, herausgegeben von W. Ziegenfuss, Stuttgart 1956, S. 127).
3. Wechselwirkungsbegriff und gesellschaftliches Leben
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m i t der sich die Segmente eines Kreises aneinander ausrichten, macht stattdessen deutlich, daß i n der Wechselwirkung die Wirkung ebensosehr Ursache und die Ursache ebensosehr Wirkung ist. Dies lag bereits i n der i n sich zurücklaufenden Form der Wechselwirkung beschlossen, die doch darin bestand, daß die Wirkung, die ein Element auf ein anderes ausübt, i n diesem nicht erlischt oder auf ein anderes drittes übergeht, sondern vielmehr zur Ursache wird, u m nun auch von sich aus auf jenes erste eine Gegenwirkung auszuüben („zurückzustrahlen"), womit aber die so zurückgegebene Wirkung wiederum zur Ursache wird, u m nun auch ihrerseits wieder eine Rückwirkung auszustrahlen — ein Prozeß, der sich m i t Hegels Wort von „einem i n sich zurückkehrenden, einem unendlichen Wechselwirken" 59 am besten beschreiben läßt. Simmel selbst weist die Vorstellung von einer i m Begriff der Wechselwirkung enthaltenen einreihigen Kausalkette m i t der Bemerkung zurück, daß die „inneren und äußeren Momente der Lebensgestaltung so wechselwirkende (sind), daß man kaum eines als das zeitlich fundamentale, unbedingt veranlassende bezeichnen kann" (PdG 237). Der Bezug zur Zeit, der i n diesem Satz hergestellt wird, ist für den Begriff der Wechselwirkung insofern bedeutsam, als Simmel auch die lineare Zeitfolge, die ja nicht ohne Grund m i t der Kausalität i n Verbindung gebracht worden ist, i n ein Wechselverhältnis umbiegt. Bei der Behandlung des Phänomens der Erinnerung stellt Simmel fest, daß „der Zeitverlauf als solcher das Vergangene vergangen sein läßt und i h m nur eine Wirkung auf das Spätere gestattet, die aber dies Spätere nicht zurückgeben und also nicht zu einer Wechselwirkung gestalten kann" (PK 191). Innerhalb des seelischen Lebens w i r d aber „die einsinnige, nur vorwärts drängende Kausalität der Z e i t . . . zu einer Wechselwirkung", das heißt zu einem i n sich kreisenden, auf den ersten Blick paradox anmutenden Wechselverhältnis derart, „daß zugleich die Gegenwart auf die Vergangenheit w i r k t und die Vergangenheit auf die Gegenwart" (PK 191) zurück. b) Das Moment der Gegen- oder Wechselseitigkeit Das i m Wechselwirkungsbegriff implizierte Moment der Gegen- oder Wechselseitigkeit 60 , das w i r schon verschiedentlich berührt haben, bringt Rolf Denker (17) betont ebenso, „daß Simmel die Wechselwirkungen von menschlichen Individuen nicht im Sinne physikalischer Analogien sieht, sondern daß er die ,tausend von Person zu Person spielenden momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten vorübergehenden Beziehungen', die ,uns unaufhörlich zusammenknüpfen' meint, die organologisch zu verstehen sind" (S. 18). 59 G. W. F. Hegel (45), S. 202. 60 Zur Geschichte des Begriffs und der Theorie der Gegenseitigkeit führt H. H. Ritter aus, daß diese „erst neuerdings Thema der soziologischen und sozialanthropologischen Theorie elementarer gesellschaftlicher Verhaltens-
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Kap. V : Der Begriff der Wechselwirkung
Simmel von Anfang an zur Sprache. So findet es sich etwa i n Redewendungen wie derjenigen von den „gegenseitigen dynamischen Beziehungen" (Diff 13), der „gegenseitige(n) Einwirkung der Individuen und Gruppen aufeinander" (IndG 47), der Wechselwirkung als „gegenseitig ausgeübte Kräfte" (Meth 233, Mor I 164) oder „wechselseitig ausgelöste . . . Modifikationen" (Mor I I 123) ausgesprochen. Die volle Bedeutsamkeit des Gegenseitigkeitsmoments ist Simmel aber erst, nicht ohne vorbereitende Einsichten auch hierzu bereits i n seiner „Philosophie des Geldes" gewonnen zu haben 61 , i n seiner „Soziologie" klar geworden. I m Exkurs über die Soziologie der Sinne gibt Simmel eines der eindringlichsten Beispiele für die i n der Wechselwirkung stattfindende Gegenseitigkeit. Das Sinnesorgan Auge, so trägt Simmel dort vor, ist „auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die i n dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt" (Soz 484). Das gegenseitige Sich-Anblicken ist sehr wohl unterschieden vom einfachen Sehen oder Beobachten. Das Wesen der Beobachtung beruht darauf, daß sich i n i h r nur eine „Verflechtung zwischen Subjekt und Gegenstand" (Schp 44) herstellt, eine einseitig i m Subjekt verbleibende Beziehung zu einer Sache, die die Entstehung eines Gegenseitigkeitsverhältnisses ausschließt. I n dem Blick aber, i n dem einer einen andern i n sich aufnimmt, offenbart sich der eine zugleich auch dem andern. „ M a n kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem Andern die Seele, die i h n zu entschleiern sucht. Indem dies ersichtlich nur bei unmittelbarem Blick von Auge i n Auge stattfindet, ist hier die vollkommenste Gegenseitigkeit i m ganzen Bereich menschlicher Beziehungen hergestellt" (Soz 484/485).
muster geworden (sind). Faktum und Modifikationen eines an Gegenseitigkeit orientierten oder sie spontan vollziehenden Handelns waren bereits von den ersten Ansätzen einer nicht mehr individualistischen oder »monologischen4 Begründung der Soziologie und in der Abwendimg von den klassischen Konstitutionstheorien des Sozialen betont worden: G. Simmels Kategorie der »Wechselwirkung' wies ebenso in diese Richtung wie die Beziehungssoziologie L. von Wieses, die interaktionistische Sozialpsychologie in der Nachfolge von G. H. Mead und der rollen-theoretisch formulierte Sachverhalt einer »Reziprozität der Perspektiven' (Th. Litt). Thesen zum fundamentalen Charakter von Gegenseitigkeit vertreten heute vor allem die strukturalistische Sozialanthropologie (C. Lévi-Strauss) , die interaktionistische Analyse des sozialen Verhaltens als »Austausch4 (exchance) (G. Hornaus, P. M. Blau , A. W. Gouldner) und die Ansätze zu einer Theorie kommunikativen Handelns (J. Habermas)" (In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Herausgegeben von Joachim Ritter, Band 3, Darmstadt 1974, S. 119/120). β1 So sieht Simmel die philosophische Bedeutung des Geldes gerade darin, daß sich im Geld die „Formel des allgemeinen Seins..., nach der die Dinge ihren Sinn aneinander finden und die Gegenseitigkeit der Verhältnisse, in denen sie schweben, ihr Sein und Sosein ausmacht" (PdG 98), am reinsten verkörpert.
3. Wechselwirkungsbegriff und gesellschaftliches Leben
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Simmel betont i m letzten Satz die Vollkommenheit der Gegenseitigkeit, die ihren Grund i n der Unmittelbarkeit hat, i n der das Sich-Anblicken geschieht. Ausdrücklich nennt Simmel ja auch das gegenseitige Sich-Anblicken „die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung", die ganz „ i n das Geschehen, i n die Funktion aufgelöst (bleibt)" (Soz 484). Gegenseitigkeit ist aber auch ein wesentliches Moment weniger unmittelbar vor sich gehender Wechselwirkung, wie beispielsweise des Tausches. Der Tausch nicht als primäre wirtschaftliche Tatsache, sondern als „ein soziologisches Gebilde sui generis" (PdG 59) betrachtet, stellt „die Sachwerdung der Wechselwirkung zwischen Menschen" (Soz 443) dar. Der unmittelbare Wechselwirkungsakt geht i m Tausch i n eine versachlichte oder vergegenständlichte, durch Sachen oder Gegenstände vermittelte Wechselwirkung über 62 . Indem nun aber der eine eine Sache gibt und der andere dafür wiederum eine Sache zurückgibt, zeigt sich auch hier der Prozeß des gegenseitigen Gebens und Nehmens, der die Gegenseitigkeit auszeichnet. I m Tausch enthüllt sich aber darüber hinaus die Verdoppelung dieses Prozesses, insofern der Prozeß des Gebens und Nehmens ja nicht nur von der Seite des einen, sondern auch von der Seite des anderen aus erfolgt. Erst i n der Gleichzeitigkeit beider Prozesse erfüllt sich das ganze Gegenseitigkeitsverhältnis. „Der Tausch ist nicht die Addition zweier Prozesse des Gebens und Empfangens, sondern ein neues Drittes, das entsteht, indem jeder von beiden Prozessen i n absolutem Zugleich Ursache und Wirkung des anderen ist" (PdG 45/46). c) Wechselwirkung
zwischen zwei Personen
Die Darstellung wesentlicher Momente des Simmelschen Wechselwirkungsbegriffs bliebe unausgewogen, wenn w i r nur das „durchgängige Aufeinanderangewiesensein" 63 , die Relationalität thematisierten und die Relata außer acht ließen. I n einem seiner frühesten soziologischen Aufsätze erklärt Simmel vielmehr, wie erinnerlich, daß Gesellschaft i m weitesten Sinne da vorhanden sei, „wo mehrere Individuen i n Wechselwirkung treten" (IndG 43). Bei allem Nachdruck auf die Relationalität als das Primäre, i n und aus der heraus sich die Wechselwirkenden gegenseitig bestimmen, entsteht jetzt der Eindruck, daß die Individuen 62 Es ist bemerkenswert, daß Simmel in diesem Zusammenhang keineswegs übersieht, daß die Sachwerdung der Wechselwirkung zwischen Menschen in der ausgebildeten Wirtschaft in eine vollständige Verdinglichung umschlägt derart, daß „überhaupt jene persönliche Wechselwirkung ganz und gar zurücktritt und die Waren ein Eigenleben gewonnen haben, die Beziehungen zwischen ihnen, die Wertausgleichungen zwischen ihnen automatisch, bloß rechnerisch stattfinden und die Menschen nur noch als Exekutoren der in den Waren selbst angelegten Tendenzen zur Verschiebimg und Ausgleichung auftreten" (Soz 443). 63 M. Adler (1), S. 40.
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Kap. V : Der Begriff der Wechselwirkung
vorrangig sind, die unter anderem auch i n Beziehungen zueinander treten und diesen Beziehungen als die eigentlichen Träger immer schon vorausgehen. Der Primat der Individuen vor der Relation hat Simmel denn auch den Vorwurf Theodor Litts eingetragen, daß auch diejenige Gesellschaftsauffassung, die auf dem Begriff der Wechselwirkung aufbaut, einen individualistischen Grundzug nicht zu überwinden vermochte. „Sie k a n n . . . nicht umhin, die Einzelwesen so substantialisiert zu denken, daß die Gesellschaft i n Relationen aufgelöst, funktionalisiert w i r d " 8 4 , derart, daß — wie Siegfried Marek diesen Satz Litts verdeutlicht —, „die gesellschaftlichen Beziehungen nur als impersonale Relationen auftreten, die wie ein Netz von außen her den Individuen übergeworfen werden" 6 5 . Der Vorwurf, doch am Ausgang von letztlich substantialisierten Individuen, auch dort, wo Simmel nicht explizit von Individuen, sondern Personen spricht 6®, festgehalten zu haben, läßt sich — wenn auch nicht i n dieser Ausschließlichkeit, wie w i r bereits gesehen haben — nicht von der Hand weisen. Simmels Verständnis des „ Z w i schen", i n dem die Wechselwirkung der Individuen stattfindet, legt Zeugnis davon ab. I m Hinblick auf einen möglichen „Doppelsinn des Zwischen", der darin liegt, daß „eine Wechselwirkung zwischen zwei Elementen... als ein gewissermassen i m räumlichen Sinne zwischen ihnen liegendes Objekt", oder mit anderen Worten, als eine „zwischen den Individuen befindliche... und sie wie ein körperhaftes Band umschliessende... Wesenheit" (Mor I I 123) vorgestellt werden könnte, betont Simmel, daß die Wechselwirkung einzig und allein i n den Individuen beschlossen bleibt. Simmel vertritt diese Auffassung auch noch i n der „Philosophie des Geldes". Eine Beziehung oder ein Verhältnis zwischen Elementen „bedeutet doch nur einen Zustand oder eine Veränderung innerhalb jedes derselben, aber nichts, was zwischen denselben, i m Sinne der räumlichen Besonderung eines zwischen zwei anderen befindlichen Objekts, existierte" (PdG 35). Acht Jahre später behält Simmel zwar immer noch die räumliche Deutung des „Zwischen" bei, läßt die zwischen Individuen spielende Wechselwirkung aber nicht 64
Th. Litt (64), S. 231. S. Marek (72 II), S. 86. 66 Die Aufklärung des Verhältnisses der Begriffe Individuum und Person in Simmels soziologischen und philosophischen Schriften bedarf einer eigenen Untersuchung. Für die Soziologie dürfte vor allem der sprachliche Ursprung des Personbegriffs aus dem lateinischen Wort „persona", das die Maske, dann aber auch den maskentragenden Schauspieler in seiner Rolle meint, bedeutsam sein. Der naheliegenden Frage nach rollentheoretischen Ansätzen in Simmels soziologischem Werk ist Uta Gerhardt (32) nachgegangen (vgl. vor allem S. 27—40). Nicht zuletzt mit Blick auf Simmels „Philosophie des Schauspielers" sei eine Feststellung Gerhardts (12) aus neuester Zeit besonders hervorgehoben, die besagt, daß Simmel nicht so sehr den Rollenbegriff als vielmehr das Rollenphänomen in den Vordergrund seiner soziologischen Reflexionen gestellt habe (S. 77). 65
3. Wechselwirkungsbegriff und gesellschaftliches Leben
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mehr i n den Individuen aufgehen, sondern gesteht nun auch einen i n terindividuellen Zwischenraum zu. „Das Zwischen als eine bloß funktionelle Gegenseitigkeit, deren Inhalte i n jedem ihrer personalen Träger verbleiben, realisiert sich hier w i r k l i c h auch als Beanspruchung des zwischen ihnen bestehenden R a u m e s . . . " ; „die Wechselwirkung macht den vorher leeren und nichtigen" (Raum) „zu etwas für uns" (Soz 462). Das Zugeständnis eines interindividuellen Zwischenraumes ändert freilich noch nichts Entscheidendes an der Vorrangigkeit der Individuen, insofern diese ja nicht i m Bereich dieses „Beisammenseins" (Soz 462) gründen, sondern bereits vorher als solche bestehen. Z u bedenken ist nun aber ferner, daß Simmel nicht nur i n Wechselw i r k u n g befindliche Elemente, Individuen und Personen kennt, sondern auch, was auf den dialogistischen Ansatz seines Denkens hindeutet, die Worte „Ich und Du" gebraucht. Von H. J. Becher w i r d sogar die These aufgestellt, „daß Simmel seinen Begriff der Wechselwirkung und, i n seiner Folge, den Begriff der Gesellschaft... aus d e r . . . Doppelkategorie von Ich und Du (entwickelt)" 67 . Simmels Gespür für Phänomene des Dialogischen — seine Behandlung des gegenseitigen Sich-Anblickens war ein Beispiel dafür — kann nicht geleugnet werden. Simmel nimmt wohl auch eine gewisse Ebenbürtigkeit von Ich und Du an, wenn er das Du als eine „ganz primäre, nicht weiter zurückführbare, nur unmittelbar zu erlebende Kategorie" (Rem 26) bezeichnet und zu der Uberzeugung kommt, daß das D u „ein Urphänomen ist ebenso wie das Ich" (BT 66). Sogar die Verbundenheit und gleichzeitige Selbständigkeit von Ich und Du bringt Simmel zur Sprache. „Das beseelte D u ist einerseits unser einziger Pair i m Kosmos, das einzige Wesen, m i t dem w i r uns gegenseitig verstehen und als ,Eines' fühlen k ö n n e n . . . Andererseits aber hat das D u eine Selbständigkeit und Souveränität neben uns, wie nichts anderes, einen Widerstand gegen die Auflösung i n das subjektive Vorstellen des Ich, jene Absolutheit der Realität, die das Ich an sich selbst fühlt" (Bt 68, vgl. Soz 23). Dennoch scheint uns Simmels dialogistischer Ansatz den von L i t t erhobenen Vorwurf eines individualistischen Grundzuges seiner Soziologie zwar erheblich einzuschränken, aber nicht gänzlich hinfällig zu machen. Denn w o r i n die radikale Dialogik gerade über Simmel hinausgeht, ist deren Verständnis des Zwischen als ein Ich und Du allererst konstituierendes meta-physisches Faktum 6 8 . 67
H. J. Becher (10), S. 17. Vgl. Michael Theunissen (98), § 49 und § 50, S. 226—277. Die Nähe und Ferne der Simmelschen „Soziologie" zum dialogischen Prinzip beleuchtet Theunissen auf Seite 256 (Anmerkung 22). I n bezug auf letztere kommt er zu dem folgenden Schluß: „Sachlich aber mag Simmel der radikalen Dialogik fremd geblieben sein, weil er am Ausgang vom »Individuum 1 festhält und die soziale Vermittlung der Individuen trotz aller Betonung der Unmittelbarkeit in dem ,Bilde' sucht, das das eine sich vom anderen macht". 68
9 Christian
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Kap. V : Der Begriff der Wechselwirkung
Simmel denkt seinen Begriff der Wechselwirkung, dies ist abschließend zu beachten, von der Dualität aus, als eine Wechselwirkung zwischen zweien. „Die numerisch einfachsten Gestaltungen, die überhaupt noch als soziale Wechselwirkungen bezeichnet werden können, scheinen sich zwischen je zwei Elementen zu ergeben" (Soz 55). Einige Seiten weiter bestätigt Simmel diese Vermutung: „ . . . die methodisch einfachste soziologische Formation (bleibt) die zwischen zwei Elementen w i r k same. Sie gibt das Schema, den K e i m und das Material für unzählige mehrgliedrige ab" (Soz 58). Henning Ritter teilt i n diesem Zusammenhang folgende bemerkenswerte Beobachtung mit. „Obgleich Simmel die eminente soziologische Funktion des Dritten gesehen hat, hat sich diese Entdeckung i n den Grundbegriffen seiner Soziologie nicht niedergeschlagen: Sie fassen Gesellschaft als ein Produkt von Zweierverhältnissen, die auch den Dritten aus sich heraussetzen. Die zentrale Kategorie der »Wechselwirkung 4 belegt diesen Primat des Zweierverhältnisses 69 ." Simmels Konzeption der Wechselwirkung als eine Wechselwirkung zwischen zweien läßt sich als Ausfluß seines dialogistischen Ansatzes interpretieren, insoweit Simmel das D u i m streng dialogischen Sinn als die ,zweite Person 4 auffaßt und i n der Tat auch von der „Zweiheit zwischen dem Ich und dem Du" (SchN 165/166) spricht 70 . Es mag daher auch nicht unsinnig erscheinen, wenn Werner Faber gerade i n Simmels Wechselwirkungsbegriff einen vorbereitenden Einfluß auf M a r t i n „Bubers anthropologisches Verständnis von der Zweiheit i m Mensch-mit-MenschSein" erblickt 7 1 . Zieht man allerdings Simmels Bestimmung des menschlichen Wesens, wie er sie vor allem noch vor dem Erscheinen seiner „Soziologie" formuliert hat, näher i n Betracht, so zeigt sich die zur Debatte stehende Zweiheit doch auch von einer anderen Seite. Simmel verschärft die Zweiheit oder Dualität zum Gegensatz, zum Dualismus. „Der Mensch ist ein dualistisches Wesen von Anbeginn an" (PdM 5). I n seiner Abhandlung über „ K a n t und Goethe" äußert Simmel ein Jahr später (1906) unmißverständlich, „daß der Mensch von Grund aus ein dualistisches Wesen ist, daß Entzweiung und Gegensatz die Grundform bildet" (KG 6, vgl. auch SchN 55,257). Die dualistische Wesensbestimmung des Menschen hat nun aber auch Konsequenzen für die soziale Wechselwirkung der Menschen untereinander und die Sinndeutung der i m soziologischen Wechselwirkungsbegriff gedachten Zweiheit. „Die Dualistik des menschlichen We69 Aus der Diskussion zum Vortrag von Julien Freund über „De(n) Dritt e ^ ) in Simmels Soziologie", in: (12), S. 102. 70 Die Frage ist allerdings, ob Simmel nicht nur von der dialogischen Zweiheit spricht, sondern diese auch inhaltlich meint. „Die von der Philosophie des Dialogs bedachte Dualität" bestimmt Theunissen (98) als „die Einheit von Getrenntheit und innigster Verbundenheit im Selbstsein" (S. 482). 71 W. Faber, „Das Dialogische Prinzip Martin Bubers und das erzieherische Verhältnis", Ratingen bei Düsseldorf 1962, S. 26.
3. Wechselwirkungsbegriff und gesellschaftliches Leben
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sens... läßt auch die soziologischen Verhältnisse durchaus dualistisch bedingt sein: die Eintracht, Harmonie, Zusammenwirksamkeit, die als die schlechthin sozialisierenden Kräfte gelten, müssen von Distanz, Konkurrenz, Repulsion durchbrochen werden, u m die wirkliche Konfiguration der Gesellschaft zu ergeben" (Soz 262). Ebenso stellt sich auch die Zwei i n Simmels Augen nicht nur als „die erste Synthese und Vereinheitlichung", sondern ebenso als „die erste Scheidung und Antithese dar; das Auftreten des Dritten bedeutet Ubergang, Versöhnung, Verlassen des absoluten Gegensatzes" (Soz 75). Die zum Zwiespalt zugespitzte Zweiheit der Wechselwirkung hat eine gewisse Parallele zu derjenigen i m Begriff des Verhältnisses. Simmel nennt das Verhältnis zunächst „das am reinsten soziologische Wort, das es gibt", w e i l es „eine bloße Beziehungsform bezeichnet" (Soz 475 A n merkung 1). Von einer der ursprünglichen Wortbedeutungen her, zielt das Verhältnis aber auf eine Beziehung zwischen zwei Dingen oder Personen ab 72 . Ohne sich auf diesen etymologischen Sachverhalt ausdrücklich zu besinnen, gewahrt Simmel gleichwohl eine dualistische Tönung dieses Wortes und verweist selbst noch auf die dem Verhältnis „eigne antithetische Form" (Frg 112). d) Die Einheit
der Wechselwirkung
Die zuvor herausgearbeitete Zweiheit, ja Zwiespältigkeit der Wechselw i r k u n g ist eingebunden i n ein Moment des Simmelschen Wechselwirkungsbegriffs, das zwar i n der Reihenfolge der Behandlung an letzter, i n bezug auf seine sachliche Bedeutung aber vielleicht an erster Stelle steht. Gemeint ist die Einheit der Wechselwirkung, die an jene früh gewonnene relationistische Einsicht Simmels anknüpft, von der w i r am Anfang unserer Begriffsanalyse ausgegangen sind. So steht bereits i m Einleitungskapitel der Untersuchung „Uber sociale Differenzierung" aus dem Jahr 1890, daß w i r „jeden Gegenstand i n demselben Maße 73 als einheitlich (bezeichnen), i n dem seine Teile i n gegenseitigen dynamischen Beziehungen stehen" (Diff 13). Es w i r d also keine substantielle Wesenseinheit vorausgesetzt, „aus deren einheitlichem Charakter sich nun Beschaffenheiten, Beziehungen und Wandlungen der Teile ergäben, son72 Das Wort „Verhältnis", das von einzelnen noch älteren Dokumenten abgesehen, i m 18. Jahrhundert belegt ist, weist unter anderem die spezifische Bedeutung von »„zustand eines dinges, soweit er sich aus dem vergleiche mit, aus der beziehung zu anderen dingen und wesen ergibt; das verhalten zu etwas anderem, die Wechselbeziehung überhaupt 4 " auf. I n diesem Sinn dient das Wort „Verhältnis" zur Bezeichnung „des Verhaltens zweier realer dinge zu einander" und „von personen untereinander" (Grimm, J. und W., Deutsches Wörterbuch, Zwölftes Bandes Erste Lieferung, Leipzig 1886, S. 515—518). 73 Wir sind von der Regel, die i m Originaltext in Fraktur gedruckten SLaute in Antiqua zu übertragen, ausnahmsweise abgewichen, weil sich sonst dös Wort „Maß" in das sinnentstellende Wort „Masse" verwandelt hätte.
o*
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Kap. V : Der Begriff der Wechselwirkung
dern es finden sich Beziehungen und Thätigkeiten von Elementen, auf Grund deren dann erst die Einheit ausgesprochen werden darf" (Diff 14). M i t anderen Worten: „Bei Simmel fundiert e b e n . . . die Beziehung erst die Einheit 7 4 ." Die Beziehung begründet aber nicht nur die Einheit, die Einheit ist auch nichts außerhalb der entwickelten Beziehung oder Bezüglichkeit selber. Simmel hebt diesen Gedanken immer wieder hervor. Einheit bedeutet nichts anderes „als das funktionelle Zusammengehören, Aufeinanderhinweisen und -angewiesensein". Einheit heißt, daß „ein Zusammenhalt, d. h. eine Wechselwirkung unter ihnen besteht, daß der eine an dieser Stelle und i n diesem Zusammenhang da ist, weil der andere es ist, und so wechselseitig" (PdG 71). Erinnert sei auch an einen anfangs zitierten Satz, der lautete: „Indem alles soziale Leben Wechselw i r k u n g ist, ist es eben damit Einheit; denn was anders heißt Einheit, als daß das Viele gegenseitig verbunden sei und das Schicksal jedes Elementes kein anderes unberührt lasse" (Rei 44). Simmels Erkenntnis, daß Einheit als Wechselwirkung zu begreifen ist ( K t 65, Rei 67, Soz 4), hatte weitreichende Folgen für seinen Gesellschaftsbegriff. Sie bewahrte i h n vor der unbefriedigenden, zeitgeschichtlich bedingten Alternative, die Gesellschaft entweder nach wie vor einer metaphysischen Wesenheit überantworten, oder sie aber i n einzelne menschliche Atome Zerfällen zu müssen. Indem er die Wechselwirkung zum Einheitsprinzip der Gesellschaft machte, konnte er sie vielmehr als das erweisen, was sie ihrem „Grundcharakter" nach ist, nämlich: „Vergesellschaftung" (GdS 13/14). Vorbereitet wurde dieser gesellschaftstheoretische Gedankengang aber nicht nur durch Simmels Erkenntnis von Einheit als Wechselwirkung überhaupt, sondern auch durch seine nähere Bestimmung dieser Einheit als einer „Einheit i m funktionellen Sinne" (Rei 75). Die Einheit der Wechselwirkung ist, wie Simmel i n seinem Vortragszyklus über „Schopenhauer und Nietzsche" sagt, eine „funktionelle Einheit" (SchN 106). Die Bedeutung dieses Ausdrucks läßt sich aus Simmels Gebrauch von „Funktion" erschließen. Simmel trennt die „Funktion" von „Inhalt" und verwendet die Worte „Funktion" und „funktionaler Prozeß" (PdG 80) synonym. Die Funktion dient zur Bezeichnung eines „lebendigen Vorgang(s)" (PK 1). Allgemein kann man festhalten, daß „ m i t dem Funktionalen diejenige Seite der Erscheinungen ausgedrückt (wird), die nicht für sich, sondern allein i m Kontinuum, i m Vollzug faßbar oder darstellbar ist" 7 5 . Aus diesem Funktionsverständnis ergibt sich für die Bedeutung der funktionellen Einheit der Wechselwirkung, daß diese i n nichts anderem besteht als i n dem Geschehen der Wechselwirkung 74 75
M. Steinhoff (93), S. 228. H. Müller (75), S. 16.
3. Wechselwirkungsbegriff und gesellschaftliches Leben
133
selbst. Sie ist eine dynamische und auf Grund dieser Dynamik ebenso lebendige Einheit. Es ist daher auch kein Zufall, daß Simmel gerade i n der Wechselwirkung das „Wesen des Lebendigen und des Geistes überhaupt" (PK 200) erblickt. Unsere analysierende Betrachtung wesentlicher Momente des Simmelschen Wechselwirkungsbegriffs i m Ausgang vom gesellschaftlichen Leben schließt sich. „Gesellschaftliches ist stets Leben, so argumentiert Simmel", i n der Tat wie Uta Gerhardt der Sache und dem Ausdruck nach exakt formuliert, „aber die Gesellschaft ist Form™." Damit gehen w i r zum nächsten Kapitel über, das sich m i t der Spiel-Form der Vergesellschaftung, der Geselligkeit, befaßt.
76
U. Gerhardt (32), S. 37.
Kapitel
VI
Die Geselligkeit als Spiel-Form der Vergesellschaftung „Gesellschaft" wurde i m vorhergehenden Kapitel, das sich m i t dem Begriff der Wechselwirkung auseinandergesetzt hat, nur i n der weiteren, die allgemeinen Gesellschaftswissenschaften betreffenden Bedeutung: als reales Wechsel Wirkungsgeflecht oder als „der Komplex vergesellschafteter Individuen" (Soz 8) thematisch. I n diesem Kapitel, das sich m i t Simmels Darlegungen zur Geselligkeit beschäftigt, gehört nun aber auch der Gesellschaftsbegriff i m engeren, soziologisch bedeutsamen Sinn: als die Summe der Wechselwirkungsformen zum Thema. I m ersten Kapitel seiner „Soziologie", das „das Problem der Soziologie" entfaltet, stellt Simmel fest, daß es einen Begriff der Wechselwirkung als solchen, wie w i r ihn zuvor der Analyse unterzogen haben, i n der Wirklichkeit nicht gibt. „Es gibt keine Wechselwirkung schlechthin, sondern besondere A r t e n derselben . . . " (Soz 9). Becher erläutert diesen Sachverhalt auf folgende Weise: „ I n der Wirklichkeit kommt keine Wechselwirkung an sich, i n ihrer abstrakten Begrifflichkeit vor, sondern immer eine ganze Fülle von verschiedenen A r t e n und Gestalten von Wechselwirkungen... Wechselwirkung weist immer eine bestimmte Form auf 1 ." Ebensowenig wie es nun aber Wechselwirkung schlechthin gibt, sondern immer bestimmte Formen von Wechselwirkungen, ebensowenig gibt es „schlechthin Gesellschaft" (Soz 9). Gesellschaft t r i t t überhaupt nur als geformte Gesellschaft i n Erscheinung. Dies meint Simmel, wenn er das Auftreten bestimmter Formen von Wechselwirkungen m i t der Existenz von Gesellschaft zusammenfallen läßt. „Es gibt keine Wechselwirkung schlechthin, sondern besondere Arten derselben, m i t deren Auftreten eben Gesellschaft da ist und die weder die Ursache noch die Folge dieser, sondern schon unmittelbar sie selbst sind" (Soz 9). Der Anstoß zur Wechselwirkung erfolgt „aus bestimmten Trieben oder u m bestimmter Zwecke w i l l e n " (Soz 4). Simmel bezeichnet „alles das, was i n den I n d i v i d u e n . . . als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß daraus oder daran die Wirkung auf andre und das Empfangen ihrer 1
H, J. Becher (10), S. 51.
Kap. V I : Die Geselligkeit als Spiel-Form der Vergesellschaftung
135
Wirkungen e n t s t e h t . . . als den Inhalt, gleichsam die Materie der Vergesellschaftung" (Soz 5). Von diesem Textbefund aus hat sich i n der letzten Zeit die Interpretation des soziologischen Inhaltsbegriffs als „das psychische Material der Vergesellschaftung" 2 , als individuelle „psychische Faktoren" 3 , als „alles, was an individuellen Motiven oder psychischen Reflexen das soziale Wechselwirken i n die Wege leitet oder begleitet, ohne aber dessen Sozialität zu begründen" 4 , durchgesetzt 5 . Geben die Inhalte lediglich den Anstoß zur Wechselwirkung, so gestaltet sich doch m i t deren Verwirklichung und Erfüllung zugleich auch „das isolierte Nebeneinander der Individuen" zu eben jenen „bestimmten Formen des Miteinander und Füreinander" (Soz 5), die die Gesellschaft ausmachen. Inhalt und gesellschaftliche Form sind i n der sozialen Realität letztlich eine unmittelbare Einheit*. I n der Soziologie kommt es nun aber gerade auf die „wissenschaftliche Sonderung beider" (IndG 44) an. A l l e i n die Trennung der Formen der Wechselwirkung von den Inhalten „vermöge wissenschaftlicher A b straktion" (IndG 43) sichert der Soziologie ein eigenes Objekt und vermag sie als selbständige Einzel Wissenschaft zu begründen. „Die Formen der Wechselwirkung oder Vergesellschaftung, i n gedanklicher Ablösung von den I n h a l t e n . . . dies scheint m i r die einzige und die ganze Möglichkeit einer speziellen Wissenschaft von der Gesellschaft als solcher zu begründen" (Soz 6). Simmel hat die Formen der Wechselwirkung von den Inhalten vermittels wissenschaftlicher Abstraktion, gedanklich abgelöst. Er ist nun allerdings der Auffassung, daß auch die Tatsachen selbst schon eine Anweisung zur Trennung von Form und Inhalt geben. Die wissenschaftlich oder gedanklich vorgenommene Abstraktion steht 2 M. Landmann in der Einleitung der von ihm herausgegebenen Sammlung Simmelscher Arbeiten unter dem Titel „Das individuelle Gesetz", a.a.O., S. 27. 8 U. Gerhardt (32), S. 38. 4 Becher (10), S. 51. 5 Simmel unterscheidet von Anfang an zwischen Inhalten „objektiver Art" und „subjektiver Natur" (IndG 44). Selbst noch in seiner unvollendet gebliebenen Selbstdarstellung spricht er von den Inhalten als „den Trieben, Zwecken, Sachgehalten" (BdD 9). Wir meinen aber diese Differenzierung des Inhaltsbegriffs vernachlässigen zu können, weil Simmel auch die Inhalte objektiver Art oder die Sachgehalte primär in ihrer individuellen psychischen Wirksamkeit berücksichtigt. 6 Die sprachlichen Formulierungen Simmels lassen daran keinen Zweifel. So heißt es etwa in dem frühen, 1894 erschienenen Aufsatz über „Das Problem der Soziologie", daß in der einzelnen historischen Erscheinimg Inhalt und gesellschaftliche Form „tatsächlich verschmolzen" (IndG 44) seien. I n der historischen Wirklichkeit liege eine „unmittelbare Ineinsbildung von Inhalt und Form" (IndG 44) vor. Auch in der „Soziologie" ist die Rede davon, daß Inhalt und gesellschaftliche Form in jeder vorliegenden sozialen Erscheinung „eine einheitliche Realität" (Soz 5) bildeten, Inhalt und Form seien in der Wirklichkeit „untrennbar Vereinte" (Soz 6).
Kap. V I : Die Geselligkeit als Spiel-Form der Vergesellschaftung
„ i n irgendeiner funktionellen Beziehung zur Tatsächlichkeit" (Soz 6). Inhalt und Form bilden i n der gegebenen sozialen Realität „eine unlösbare Einheit" (Soz 7), gleichwohl ist es eine unleugbare Tatsache, daß sich auch schon eine annähernde, wenn auch nie vollständige Ablösung beider finden läßt. „ W i e . . . die Form die identische sein kann, i n der die divergentesten Inhalte sich vollziehen, so kann der Stoff beharren, während das Miteinander der Individuen, das i h n trägt, sich i n einer Mannigfaltigkeit von Formen bewegt" (Soz 7). Simmels These von der „ i n der Struktur der Objektivität selbst" (Soz 6) gelegenen Rechtfertigung seiner wissenschaftlichen Abstraktion hat unterschiedliche Deutungsversuche hervorgerufen. M i t gutem Recht warnt Schnabel davor, Simmels These als „simple(n) Reproduktionsversuch einer vorstrukturierten Wirklichkeit" mißzuverstehen. Es handele sich vielmehr um eine zur Vermeidung unfruchtbarer Fragestellungen ausgegebene „methodische Maxime" 1. Indem Simmel die i n der Wirklichkeit immer bestimmt, w e i l i n Realisation m i t den Inhalten auftretenden Wechselwirkungsformen gedanklich isoliert, gewinnt er „die Form und Formen der Vergesellschaftung als solcher" (IndG 43). Die Erforschung dieser Vergesellschaftungsform(en) als solcher — oder was gleichbedeutend ist: des „SpezifischGesellschaftliche(n) (IndG 43), der ,,reine{n) Vergesellschaftung" (Soz 12) — weist Simmel seiner dementsprechend auch so benannten „reinen oder formalen" Soziologie zu. Die Aufgabe dieses Zweigs der Soziologie neben der „allgemeinen" und „philosophischen" Soziologie ist „die Feststellung, systematische Ordnung, psychologische Begründung und historische Entwicklung der reinen Formen der Vergesellschaftung" (Soz 7, GdS 28). Als ein „einzelnes Beispiel" 8 , aber auch „ein Symbol des Gesamtbildes" (GdS 29) der solcherart vorzunehmenden Untersuchung der reinen Formen der Vergesellschaftung führt Simmel nun seine Darstellung des Phänomens der Geselligkeit an 9 .
7
P.-E. Schnabel (86), S. 171. Zu Simmels Theorie des Beispiels vgL Karin Schrader-Klebert (87), S. 97 Anmerkung 5; vgl. auch Schnabel (86), S. 136. 9 Simmel hat seine Überlegungen zur Geselligkeit das erste M a l am 19. Oktober 1910 anläßlich des Ersten Deutschen Soziologentages in Frankfurt unter dem Titel „Soziologie der Geselligkeit" vorgetragen. Dieser Vortrag 1st in den Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie: Verhandlungen der Deutschen Soziologentage, I. Band, Tübingen 1911, S. 1—16 im Druck erschienen. Simmels Vortrag wurde gleichfalls in der Frankfurter Zeitung (Nr. 291/292) vom 21./22. Oktober 1910 publiziert. Gegenüber dieser Vortragsfassung hat Simmels Behandlung der Geselligkeit im dritten Kapitel seiner „Grundfragen der Soziologie" sieben Jahre später einen systematischeren und ausgefeilteren Charakter angenommen. 8
1. Hauptgedanken der Simmelschen Theorie des Spiels und die Spielform 137
1. Hauptgedanken der Simmelschen Theorie des Spiels und die Spielform a) Spiel als Bewegung des Hin und Her Die A r t und Weise, m i t der Simmel das Geselligkeitsphänomen — beispielhaft für das i n der formalen Soziologie einzuschlagende Verfahren — behandelt, besteht darin, die Geselligkeit als „die Spielform der Gesellschaft" (PK 108), als „die Spielform der Vergesellschaftung" (GdS 53) zu entwickeln und darzustellen. Ein angemessenes Verständnis dieser Konzeption von Geselligkeit scheint uns nicht möglich, ohne zuvor auf Simmels Hauptgedanken zum Begriff des Spiels einzugehen. Erst auf dem Hintergrund der Simmelschen Theorie des Spiels w i r d die Bedeutung der Spiel-Form deutlich und Simmels Versuch, die Geselligkeit als die Spielform der Vergesellschaftung zu fassen und zur Darstellung zu bringen, einsichtig. Einen ersten Aufschluß über die wichtigsten Bestimmungsmomente des Spielbegriffs gibt uns der Gebrauch, den Simmel von diesem Begriff macht. Wiederholt finden sich Wendungen, wie die vom „Spiel zwischen Ruhe und Bewegtheit" (Mor I 374), dem „Spielen zwischen Sicherheit und Unsicherheit" (Mor I I 237), vom „Spiel zwischen beiden" (PdM 20) und dem „Spiel zwischen dem Lastenden und dem Tragenden" (Rem 71). Spielen ist, wie Hans Scheuerl nicht zuletzt mit Bezugnahme auf Simmel hervorhebt, „immer ein ,Spielen — zwischen'" und zwar „einem kreisenden, pendelnden, schwebenden »Zwischen 4 " 10 . Das Spiel hält sich also i n der Schwebe. Damit ist nun aber keineswegs ein stabiler, statischer Schwebe-,zustand4 gemeint 11 , sondern dahinter verbirgt sich vielmehr eine dem Spiel ganz eigentümliche Bewegung. Simmel hat diese Bewegung i n seinem Essay über die Koketterie, die m i t der Geselligkeit insofern wesensverwandt ist, als auch sie eine Spielform — die „Spielform der Liebe" (PK 108, GdS 61) — darstellt, anschaulich beschrieben. Das kokette Verhalten zeichnet sich „durch Abwechslung oder Gleichzeitigkeit von Entgegenkommen und Versagen 44 , durch „Ja- und Neinsagen" (PK 96) aus. Das Kokettieren vollzieht sich i m „Sich-nähern und Sich-entfernen, Ergreifen, um wieder fallen zu lassen, Fallenlassen, u m wieder zu ergreifen, dem gleichsam probeweisen Sich-hinwenden, i n das schon der Schatten seines eigenen Dementis fällt" (PK 115). Die Bewegung, m i t der sich die Koketterie abspielt, ist also „ein lebendiges 10 H. Scheuerl, „Das Spiel". Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen, Weinheim/Berlin 1954, S. 93. 11 I n diesen Zusammenhang gehört auch das für Simmels Sprachstil so charakteristische Wörtchen „vielleicht" (vgl. Kapitel I I , Abschnitt 1), das genau diesen Schwebe- oder Zwischenzustand, das gleichzeitige Für und Gegen, zum Ausdruck bringt
Kap. V I : Die Geselligkeit als Spiel-Form der Vergesellschaftung
H i n und Her" (PK 100). Damit ist ein erstes entscheidendes Moment des Simmelschen — und nicht nur seines — Spielbegriffs getroffen. Gadamer unter anderen schätzt „die Bewegung des H i n und H e r . . . für die Wesensbestimmung des Spieles" als „so zentral" ein, daß es sogar „gleichgültig ist, wer oder was diese Bewegung ausführt" 1 2 . Hinzu kommt, daß die dem Spiel eigene Bewegung leicht und unbeschwert vor sich geht 13 . Dies hat seinen Grund darin, daß das Spiel keinen bestimmten, außerhalb der Spielbewegung selbst gelegenen Zweck verfolgt. Ein Spiel w i r d darum auch i m sprachlich korrekten Sinn weder „betrieben" noch „gemacht", sondern einzig und allein „gespielt". Spielen ist eben kein gewöhnliches Tun 1 4 , sondern dem realen zweckbestimmten Lebensvollzug entzogen. „Spielen bedeutet doch", wie Simmel ausführt, „daß man die Funktionen, die sonst den Wirklichkeitsinhalt des Lebens tragen und an i h m gebildet sind, jetzt ohne diese Füllung, rein formal ausübt. Das Wetten und Jagen, das Ringen und Erlisten, das Bauen und Zerstören, das die realen Ziele des Lebens fordern, geschieht i m Spiel an bloß ideellen Inhalten, u m bloß ideeller Ziele w i l l e n —oder, genauer, nicht einmal u m dieser willen, sondern nur aus Lust an der Funktion, an dem subjektiven Tun, das m i t keinem über dieses T u n selbst hinausgreifenden Inhalt beschwert ist" ( K t 194/195). Dem Spiel eignet, wie Simmel in Anlehnung an K a n t sagt, eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" ( K t 195). Die „Form des Zweckmäßigen", die dem Spiel zukommt, „ohne doch von einem angebbaren Einzelzweck bestimmt zu sein" ( K t 194), läßt sich an einem Spiel, das Simmel i n seiner „Soziologie" heranzieht, näher erläutern. Das Kampfspiel, so heißt es dort, findet gar nicht u m einen „außerhalb des Spieles selbst gelegenen Siegespreis" statt, sondern es 12 Gadamer (27), S. 99. Auch nach F. J. J. Buytendijk verläuft das Spielen in Bewegungen, die „unbedingt das H i n und Her zeigen müssen" („Wesen und Sinn des Spiels". Das Spielen des Menschen und der Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe, Berlin 1933), S. 114. 13 A n die Leichtigkeit und Unbeschwertheit des Spiels knüpft sich ein Aspekt, der allerdings in unserem Zusammenhang nicht von entscheidender Bedeutung ist. I n seiner „Philosophie des Geldes" bemerkt Simmel, daß neben anderen gerade der Spieler das Geld besonders „leicht... und leichtsinnig..." ausgibt (PdG 267). Indem der Spieler das Geld aber sozusagen spielend ausgibt, setzt er sich damit doch zugleich auch der Gefahr des totalen Geldverlustes aus. I n diesem Sinn spricht Simmel auch vom „Va banque des Spielers", das „auf die Alternative eines höchsten Gewinns oder der Vernichtung geht" (PK 13). Dieser Wagemut und diese Risikobereitschaft verbinden den Spieler mit dem Abenteurer, der — wie wohl auch der Spieler — „aus dem Gesamtzusammenhange des Lebens herausgerissen ist und dennoch die ganze Kraft und Intensität des Lebens in sich einströmen läßt" (PK 19). Das Spezifische und Reizvolle des Spiels liegt also nicht nur in dessen Dynamik, sondern auch „Hazard" (GdS 59). 14 Vgl. Johan Huizinga (53), S. 61/62.
1. Hauptgedanken der Simmelschen Theorie des Spiels und die Spielform 139
erschöpft sich i m „Reiz des Kampfes und Sieges an und für sich" (Soz 200). I m Kampfspiel verbindet sich „die rein soziologische A t t r a k t i o n des Herrwerdens und Sichdurchsetzens gegen den a n d e r n . . . m i t dem rein individuellen Genuß der zweckmäßigen und geglückten Bewegung" (Soz 200). I n demselben Sinn spricht Simmel auch i n seinem Essay über das Abenteuer, daß es der eigentlichen Spielernatur gar nicht u m den „Gewinn von soundsoviel Geld" geht, sondern u m „das Spiel als solches, die Gewaltsamkeit des von Glück zu Verzweiflung und wieder zurückgerissenen Gefühles" (PK 20), jene H i n - und Herbewegung, die das Spiel ausmacht, und die, da sie eben keinen bestimmten Zweck verfolgt, m i t dessen Erfüllung sie endet, sich beständig aufs neue wiederholt. b) Spielsphäre und Spielform
oder reine Form
M i t der Leichtigkeit und Unbeschwertheit des Spiels hängt ein weiteres Charakteristikum eng zusammen: die Heiterkeit des Spiels. Sie ist „von allem bloßen Spaß" (GdS 51) genau zu unterscheiden. Wer nur zum Spaß spielt, oder m i t anderen Worten, „wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber" 15 . Das Spiel ist dem Ernst also nicht schlechterdings entgegengesetzt; und trotzdem hebt es sich gegen i h n ab. So, wie das Spiel leicht und unbeschwert abläuft, w e i l es von jedem zweckbezogenen realen Einzelinhalt des Lebens gelöst ist, „ n u r i n sich selbst kreist, sich an sich selbst befriedigt" (Kt 195), i n der geglückten und gelungenen Spielbewegung als solchen aufgeht, so gewinnt das Spiel auch seine Heiterkeit dadurch, daß es „dem Flusse des bloßen Lebens enthoben, von dessen Materie, an der sein Ernst haftet, entlastet" (GdS 51) ist. Das Spiel hebt sich also vom unmittelbar gelebten Leben, den „realen Kräfte(n), Nöte(n) und Impulse(n) des Lebens" (GdS 51) und den hierzu entwickelten Lebensformen ab. Das Spiel bildet, womit das zweite entscheidende Moment des Simmelschen Spielbegriffs zur Sprache kommt, eine Welt für sich, eine eigengesetzliche „Sphäre des Spieles" (PK 107). Simmel begründet die Verselbständigung des Spiels zu einer i n sich geschlossenen, autonomen Spielsphäre m i t der i m Spiel, wie etwa auch i n der Wissenschaft und i n der Kunst stattfindenden „Achsendrehung", der Drehung „von der Bestimmtheit der Lebensformen durch seine Materie zu der Bestimmung seiner Materie durch die zu definitiven Werten erhobenen Formen" (GdS 51). W i r werden auf diesen, i n Simmels Metaphysik so überaus wichtigen Gedanken von der Ideozentrierung des Lebens bei der Erörterung der Spielform noch einmal zurückkommen.
15
H.-G. Gadamer (27), S. 97.
Kap. V I : Die Geselligkeit als Spiel-Form der Vergesellschaftung
Halten w i r zunächst fest, daß das Spiel m i t dem Vollzug der Achsendrehung eine eigengesetzliche Sphäre schafft. Sie bekundet sich nicht zuletzt i n der besonderen Beziehung, die das Spiel zur Zeit aufweist. „Das Spiel hat keine Zukunft, es erschöpft sich i m Reize seiner Gegenw a r t " (PK 108). I n unserem Kontext ist nicht unwesentlich, daß das Spiel „dieses Abgeschnittensein von der Kontinuität der Lebensreihe" (PK 108) m i t dem Kunstwerk teilt. Spiel und Kunstwerk haben allgemein die „Abstraktion" (GdS 58), den „Charakter des Schwebenden, der Distanz, des Ideellen" (GdS 60) gemeinsam. I n auffallender wörtlicher Ubereinstimmung spricht Simmel daher auch vom Kunstwerk, das, i n dem es alle Fäden nach außen h i n abgeschnitten und nach innen zu einer undurchbrechlichen Form zusammengeknüpft habe, „,seelig i n i h m selbst'" (Frg 286) sei und vom Spiel als einem „selbstseligen Spiel" (Rem 70). Die grundsätzliche „Analogie zwischen Kunst und Spiel" besteht darin, daß sie beide gegenüber dem unmittelbaren Leben und dessen I n halten und Formen Welten für sich, eigengesetzliche Sphären, „autonome Reiche" (GdS 51) reiner Formen gründen. Kunst und Spiel sind sich aber auch darin analog, daß sie trotz ihrer Abgeschlossenheit und Autonomie „ihre Tiefe und ihre K r a f t " daraus ziehen, „daß sie von ihrem Ursprung her immer noch m i t Leben geladen sind" (GdS51) ie . A m tiefsten aber entsprechen sich vielleicht Kunst und Spiel i m Hinblick auf den ihnen beiden inhärenten Widerspruch. So, wie „die Kunst uns zeigen soll, was das Leben ist — indem sie doch zugleich das Leben vor unseren Augen verschwinden läßt" (SchN 148), so soll und kann auch das Spiel gerade i n seinem „Abstand von aller unmittelbaren Realität, deren tiefstes Wesen vollständiger, einheitlicher, sinngemäßer zeigen..., als irgendein Versuch, es realistischer und ohne Distanznahme zu ergreifen" (GdS 66). Das Spiel nimmt den Charakter eines „symbolische(n) Spiel(s)" (GdS 67) 17 an. Es erhält seine symbolische Bedeutung dadurch, daß es die an den konkreten Inhalten des Lebens ausgerichteten Formen und Funktionen i n der Eigengesetzlichkeit seiner Sphäre, i n der sie sich nur noch 18 Dieser Gedanke begründet Simmels kunstphilosophische Lehre, daß jede große Kunst zugleich auch über sich selbst hinausgeht und „Mehr-als-Kunst" ist. „Das Leben mit seiner biologischen und religiösen, seelischen und metaphysischen Bedeutung wirkt nicht von jenseits der künstlerischen Formen in das Werk hinein, sondern diese Formen sind die Formen des Lebens selbst, die sich freilich vom Leben, als einem teleologisch strömenden, emanzipiert haben, aber ihre Dynamik und ihren Reichtum doch von eben diesem Leben, soweit es diese besitzt, zu Lehen tragen. Das Mehr-als-Kunst, das jede große Kunst zeigt, fließt aus derselben Quelle, der sie, nun als rein ideales lebensfreies Gebilde, entstammt ist" (Leb 85). 17 I m symbolischen Charakter des Spiels liegt auch die Ursache dafür, daß das Spiel zwar heiter und unbeschwert, aber eben nicht auf einen bloßen Spaß reduzierbar ist.
1. Hauptgedanken der Simmelschen Theorie des Spiels und die Spielform 141
um ihrer selbst willen, aus Lust an der bloßen Funktion und Bewegung, leicht und unbeschwert abspielen, reiner zum Ausdruck bringt als irn unmittelbaren konkreten Lebensvollzug selbst 18 . Dieser Symbolgehalt des Spiels hat dazu beigetragen, daß Simmel die Spielform der Gesellschaft gerade i n der Geselligkeit erblickt, da sich das Miteinander, Gegeneinander und Füreinander der Gesellschaft vorzugsweise „ i n der Anmut des Geselligseins symbolisiert", nämlich „gleichsam gewichtlos wiederholt" (PK 108; Hervorhebung v. Vf.) und damit rein darstellt. Unschwer ist zu erkennen, daß diese spieltheoretischen Überlegungen schon nahe an den Simmelschen Begriff der Spielform herangeführt haben, dessen Sinnbestimmtheit es nun i m einzelnen zu explizieren gilt. Erwähnt wurde bereits die Achsendrehung, die sich i m Spiel dadurch vollzieht, daß sich die Formen und Funktionen des Lebens von den Inhalten, dem Lebensstoff oder der Lebensmaterie, an der sie sich zunächst ausgebildet haben, abheben und zu autonomen Gebilden verselbständigen. Simmel bezeichnet diesen Vorgang auch als „kompromißl o s e . . . Wendung, m i t der die von der Lebenszweckmäßigkeit und der Lebensmaterie erzeugten Formen sich von diesen lösen und selbst zu Zweck und Materie ihrer selbständigen Bewegtheit werden" (GdS 51). Die derart zustande gekommenen Formen des Spiels sind von jedem „spezifischen Inhalt" (GdS 53) abgelöst, befreit vom Gewicht „inhaltsbestimmter Konkretheit" (GdS 53). Die Formen des Spiels sind also reine Formen. I n einem früher zitierten Satz Simmels hieß es bereits, daß Spielen nichts anderes bedeute, als „die Funktionen, die sonst den Wirklichkeitsinhalt des Lebens tragen und an i h m gebildet sind, jetzt ohne diese Füllung, rein formal" (Kt 194; Hervorhebung v. Vf.) auszuüben. Die Spielform bleibt aber nicht auf die Bestimmung als reine Form i m negativen Sinn beschränkt. M i t der Elimination konkreter I n halte w i r d die Spielform keineswegs hohl und leblos, sondern gewinnt dadurch vielmehr erst „Eigenleben" (GdS 51). Die Spielform ist als reine Form i m positiven Sinn dadurch bestimmt, daß sie nur noch sich selbst zum Gegenstand und Inhalt hat. „Die Formen werden", wie Maria Steinhoff zutreffend bemerkt, „selbst Inhalte, Materie" 1 9 . Simmel spricht diesen Sachverhalt m i t den Worten aus, daß die „Formen unseres Verhaltens... als Spiel zu selbständigen Inhalten und Reizen werden". Als solche Inhalte und Reize führt er an: „das Jagen und Erlisten, die Bewährung der physischen und geistigen Kräfte, den Wettbewerb und das Gestelltsein auf die Chance und die Gunst unbeeinflußbarer Mächte" (GdS 51). Diese Inhalte sind jetzt nicht mehr — auf die beiden ersten Beispiele Simmels bezogen — das reale Jagen und Erlisten u m 18
Wir nehmen damit also Simmels späteres Verständnis des Symbols als Ausdruck in Anspruch. Vgl. dazu Horst Müller (75), S. 34. 19 M. Steinhoff (93), S. 236.
Kap. V I : Die Geselligkeit als Spiel-Form der Vergesellschaftung
bestimmter konkreter Ziele und Zwecke willen, sondern nur noch das Jagen und Erlisten als solches, die Ausübung der bloßen Funktion u m ihrer selbst willen. Daß die Spielformen aber dieses „Eigenleben" (GdS 51; Hervorhebung v. Vf.) gewinnen, ist darauf zurückzuführen, daß sie eben von ihrem Ursprung her immer noch mit Leben gesättigt sind. Dieser Umstand bewahrt das Spiel und seine Formen letztlich auch vor dem Absinken i n leere „Spielerei". Das Spiel und die Spielformen, ebenso wie auch die Kunst und ihre Formen, degenerieren zur Spielerei beziehungsweise „Künstelei", wenn sie vom Leben „entleert" (GdS 51) sind. Dies gilt auch für die Spielform der Gesellschaft, die Geselligkeit. „Schneidet die Geselligkeit die Fäden, die sie m i t der Lebenswirklichkeit verbinden und aus denen sie ihr freilich ganz anders stilisiertes Gewebe spinnt, völlig ab, so w i r d sie aus einem Spiele zu einer Spielerei m i t leeren Formen, zu einem unlebendigen und auf seine Unlebendigkeit stolzen Schematismus" (GdS 66). Innerhalb der historischen Entwicklung der Geselligkeit sieht Simmel nun diesen Übergang, oder vielleicht besser: Umschlag der Geselligkeit von einem Spiel zu einer Spielerei m i t leeren Formen i n der höfischen Geselligkeit des Ancien Régime anschaulich verkörpert. Simmel erklärt das Entstehen der höfischen Geselligkeit i m Zeitalter der absoluten Monarchie damit, daß die französische A r i stokratie, je mehr das Königtum die Wahrnehmung der realen Interessen und Inhalte des Lebens an sich gezogen hatte, die Geselligkeit als ihren Lebensinhalt pflegte und entwickelte. M i t der schließlichen Verfeinerung und Stilisierung der geselligen Formen zum Etikettenwesen, das „keinen Inhalt mehr (etikettierte), sondern immanente Gesetze ausgebildet (hatte), jenen der Kunst vergleichbar", hatte die höfische Geselligkeit zwar ihren „souveränsten", damit aber doch zugleich auch „ i n die Karikatur übergehenden Ausdruck" (GdS 65) erreicht. Simmel kennzeichnet das Wesen der Karikatur i n seinem diesbezüglichen kunstphilosophischen Aufsatz „als das Starr- und Definitivsein des Extremen . . . Dies ist es, was die Karikatur als eine Verzerrung empfinden läßt, als die Zerstörung der Form des Lebens als solchem" (PdK 90). Die höfische Geselligkeit w i r d also gerade m i t ihrer gänzlich vom realen Leben abgewandten Erhebung zur immanenten Formgesetzlichkeit des Etikettenwesens zur Karikatur, weil damit zugleich das Eigenleben ihrer Formen an der Förmlichkeit der Etikette erstirbt. Die höfische Geselligkeit schlägt also auf der Spitze ihres selbstherrlichen Spiels i n eine Spielerei m i t leeren Formen um. M i t der nach Simmel i m Ancien Régime weit verbreiteten „Abschnürung von den Mächten des tatsächlichen Lebens" verfällt auch die Geselligkeit zu einem „Konventionalismus und innerlich leblose(n) Austausch von Formeln" (GdS 68).
2. Geselligkeit und Vergesellschaftung
143
2. Geselligkeit u n d Vergesellschaftung a) Freie
Wechselwirkung
I m A n s c h l u ß a n die S k i z z i e r u n g e i n i g e r H a u p t g e d a n k e n d e r S i m m e l schen T h e o r i e des Spiels u n d d i e Begriffsanalyse d e r S p i e l f o r m , ist n u n auch S i m m e l s K o n z e p t i o n v o n G e s e l l i g k e i t 2 0 i n i h r e r B e d e u t u n g als S p i e l f o r m d e r Gesellschaft oder, nach d e r späteren F o r m u l i e r u n g S i m mels, als S p i e l f o r m d e r V e r g e s e l l s c h a f t u n g e i n g e h e n d e r z u b e d e n k e n u n d auseinanderzulegen. I n s o f e r n S i m m e l d i e G e s e l l i g k e i t als Spielform d e r Gesellschaft b e g r e i f t , t e i l t sie zunächst m i t j e n e r d i e B e f r e i u u n g v o n z w e c k b e s t i m m t e n k o n k r e t e n Lebensinhalten. „ F ü r die Geselligkeit (kommen) die k o n k r e ten, a n d i e Z w e c k s e t z u n g e n des Lebens a n g e k n ü p f t e n M o t i v i e r u n g e n d e r V e r e i n h e i t l i c h u n g i n W e g f a l l " (GdS 52/53). U n m i ß v e r s t ä n d l i c h s t e l l t S i m m e l e i n i g e Z e i l e n w e i t e r fest, daß „ d i e G e s e l l i g k e i t i n i h r e n r e i n e n G e s t a l t u n g e n k e i n e n sachlichen Z w e c k h a t , k e i n e n I n h a l t u n d k e i n R e s u l t a t , das sozusagen a u ß e r h a l b des geselligen A u g e n b l i c k s als solchen l ä g e " (GdS 53) 2 1 . A l s S p i e l f o r m scheidet d i e G e s e l l i g k e i t a l l e Z w e c k bezüge des k o n k r e t e n L e b e n s aus, als S p i e l f o r m der Gesellschaft sond e r t sie sich aber auch v o n j e d e r r e a l e n Zweckgesellschaft ab. So, w i e 20 Gegenüber Simmels durchaus noch lebendigem Verhältnis zur Geselligkeit (vgl. die Erinnerungen Margarete Susmans an die wöchentlichen „Jours" im Hause Simmel, in: BdD, S. 281) läßt sich nicht leugnen ,daß „das Wort Geselligkeit ebenso wie das Phänomen, das es bezeichnet, im 20. Jahrhundert... abgesunken (ist)" (Gisela Henckmann [50], S. 13). I n demselben Sinn äußert sich F. Fürstenberg zum Stich wort „Geselligkeit" im Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft: „Mit der fortschreitenden Ausprägung der industriellen Gesellschaft werden auch die herkömmlichen G.(eselligkeit)sformen fragwürdig, wenn nicht von einem allgemeinen Verfall der G.(eselligkeit) überhaupt gesprochen werden muß" (Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, herausgegeben von Kurt Galling, Zweiter Band, Tübingen 19583, S. 1506). Auch David Riesman („The Lonely Crowd". A study of the Changing American Character, New Haven 1950, dt.: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Darmstadt und Neuwied am Rhein, 1956), der nach den einführenden Worten Helmut Schelskys die „Betonung und Auswertung der Freizeit oder ,Muße' zur sozialwissenschaftlichen Analyse der Gegenwart" herangezogen hat und damit auf einen „Vorgänger oder Ahnen in der Geschichte der Soziologie: Thorstein Vehlen" und, wie Schelsky auf der nächstfolgenden Seite in Klammern hinzufügt, „ ( . . . vieleicht noch Simmel)" (S. 19/20) zurückgreift, — z w e i Sätze aus Simmels „Soziologie der Geselligkeit" dienen Riesman als Motto seines Kapitels über die außen-geleitete Lebensweise unter dem Aspekt deren Verlagerung von der Arbeitskraft zur „menschlichen Beziehung" (S. 201) — spricht von d)er „Mißachtung der Geselligkeit" (S. 432). 21 Die Konzentration der Geselligkeit auf den geselligen „Augenblick" deutet auf jene Gegenwärtigkeit zurück, die für das Spiel charakteristisch ist.
Kap. V I : Die Geselligkeit als Spiel-Form der Vergesellschaftung
nach Simmel bereits der Sprachgebrauch das gesellige Zusammensein als „eine Gesellschaft" ohne jede nähere Zweckbestimmung bezeichnet, so ist auch die Geselligkeit als „Gesellschaft schlechthin" zu fassen, als „die reine, prinzipiell über jeden spezifischen Inhalt erhobene Form all jener einseitig charakterisierten »Gesellschaften 4" (GdS 53). Die Geselligkeit ist, wie Ingeborg Heidemann diesen Simmelschen Passus erläutert, „die reine Form aller anderen Gesellschaftsformen" 22 . Die Geselligkeit w i r d als diese reine Form aller anderen Gesellschaftsformen nun aber ebensowenig, wie die reine Form selbst, leer und leblos. Als reine, damit zugleich aber auch i n der Sphäre des Spiels angesiedelte Spielform, beinhaltet die Geselligkeit vielmehr das, was an den konkreten zweckbestimmten Gesellschaften i m eigentlichen Sinne Gesellschaft ist: das jetzt als Spiel u m der bloßen Funktion, der freien Beweglichkeit willen ausgeübte Miteinander, Füreinander und Gegeneinander der Individuen. Die Geselligkeit stellt den „sozusagen freischwebende(n), Wechselwirkende(n) Zusammenhang der Individuen" (GdS 53) dar. Die „freie Wechselwirkung" (GdS 60), die das Grundprinzip der Geselligkeit ausmacht, läßt sich am geselligen Gespräch überzeugend exemplifizieren. I m geselligen Gespräch w i r d „das Reden zum Selbstzweck" (GdS 61). Dies geschieht allerdings, wie Simmel gleich, um Mißverständnissen vorzubeugen, hinzufügt, nicht i n der unmittelbaren und rohen Weise wie i m Geschwätz 23 . Gegenüber der Leerheit und Belanglosigkeit des Geschwätzes hat das gesellige Gespräch immerhin noch einen Gesprächsstoff, der „durchaus interessant, fesselnd, ja bedeutend sein (soll)" (GdS 62). Aber auch dieser Gesprächsstoff oder -inhalt steht nicht i m Vordergrund. Das Gespräch bleibt vielmehr, solange es noch der Besprechung dieser Inhalte dient, an die durchgängige Zweckbestimmtheit des realen Lebens gebunden. „ I m Ernst des Lebens", wie Simmel hierzu bemerkt, „(reden) die Menschen u m eines Inhaltes w i l len, den sie mitteilen oder über den sie sich verständigen wollen" (GdS 61). I n der Sphäre des Spiels aber, i n der die Gesprächsinhalte ihr Eigengewicht verlieren und das reine Miteinandersprechen oder Miteinanderreden, „der lebendige Wechseltausch der Rede als solcher" (GdS 22
I. Heidemann (48), S. 254. Es ist in unserem Zusammenhang nicht nebensächlich, daß Henckmann (50) Simmels Deutung der Geselligkeit als Spielform der Vergesellschaftung schon bei Goethe vorgebildet sieht. „Uberwiegend aber meint Geselligkeit auch bei Goethe schon die ,Spielform der Vergesellschaftung', wie Simmel in seinem lesenswerten Aufsatz die Geselligkeit als zweckfreie, sich selbst genügende Beziehung zwischen den Menschen im Gegensatz zur jeweils zweckgebundenen Gesellschaft definiert" (S. 15). 23 Diese Verdeutlichung ist eine der Veränderungen, die Simmel gegenüber seiner ursprünglichen Vortragsfassung im dritten Kapitel seiner „Grundfragen der Soziologie" vorgenommen hat.
2. Geselligkeit und Vergesellschaftung
145
62) zum eigentlichen Inhalt und Zweck des Gesprächs aufsteigt, w i r d das Gespräch zum geselligen Gespräch. Es erschöpft sich i n der gelösten und unbeschwerten Hin- und Herbewegung von Hede und Gegenrede 24 . Insofern das gesellige Gespräch aber auf nichts anderes abzielt, als auf diese „freischwebende" Wechselrede, um einen Ausdruck Simmels zu gebrauchen, stellt es die reine Form aller i m realen gesellschaftlichen Verkehr immer u m bestimmter Inhalte oder Zwecke auftretender gesprächhafter Wechselwirkungsformen dar. Das gesellige Gespräch bringt also die gesprächhafte Wechselwirkungsform als solche zum Ausdruck. Hinzu kommt, daß dem geselligen Gespräch auch die Zweiheit wesentlich ist, ohne die ja der Redetausch, die Bewegung des wechselseitigen H i n und Her, i n der das gesellige Gespräch aufgeht, nicht i n Gang käme. Das gesellige Gespräch ist „schlechthin zweiseitig" (GdS 63). Nach Simmel repräsentiert es „vielleicht mit Ausnahme des ,Sich-Ansehens' die reinste und sublimierteste Zweiseitigkeitsform unter allen soziologischen Erscheinungen überhaupt" (GdS 63). Damit konkretisiert sich aber, wenn auch i n der Sphäre des Spiels, eine „Relation, die sozusagen nichts als Relation sein w i l l , i n der also das, was sonst bloße Form der Wechselwirkung ist, zu deren selbstgenugsamen Inhalt w i r d " (GdS 63). Simmel hat sich zur Bedeutung der Zahl für die Ausbildung des wechselseitig hin- und hergehenden, geselligen „Beziehungsspieles" (GdS 62) bereits i n seiner „Soziologie" geäußert. Gegenüber dem bloßen Beisammensein Weniger aus freundschaftlichen oder sachlich-zweckbestimmten Motiven ist ein geselliges Zusammensein, eine „Gesellschaft" i n dem Moment vorhanden, wo statt des „unbedingt einen Zentrums eine Doppelheit entsteht: einerseits eine allgemeine, aber nur ganz lockere Zentralität, die i m wesentlichen nur äußerlich, ja räumlich fundiert i s t . . . , andererseits spezielle kleine Zentren gemeinsamer Unterhaltung, Stimmung, Interessiertheit, die aber ihre Teilnehmer unaufhörlich austauschen" (Soz 52). Diese mit einer größeren Anzahl von Teilnehmern einhergehende Aufteilung des zusammengekommenen Kreises i n eine Doppelheit oder Zweiheit setzt nun aber auch jenen sich selbst tragenden und sich selbst genügenden, „fortwährende(n) Wechsel von Engagiertheit und Lösung" (Soz 52) i n Bewegung, der eine „Gesellschaft" auszeichnet 25 . „Je nach dem Naturell des Subjektes" w i r d dieser leicht dahinspielende wechselseitige Austausch freilich, wie Simmel 24 I m Hinblick auf den Reiz, der in diesem unbeschwerten „Beziehungsspiel . . . " (GdS 62) liegt, tritt das gesellige Gespräch auch unter dem Aspekt der „Unterhaltung" im doppelten Sinn dieses Wortes als Konversation und Vergnügen hervor. 25 Denselben fortwährenden Wechsel von Engagiertheit und Lösung, der einer großen Gesellschaft eigen ist, zeigt „gleichsam in Sublimierung, ja vielleicht in Karikatur" auch der Ball, das Tanzfest: „eine momentane Beziehung je eines Paares von eigentlich wunderlicher Enge, zu einem ganz neuen Gebilde durch steten Wechsel unter den Paaren gestaltet" (Soz 52).
10 Christian
Kap. V I : Die Geselligkeit als Spiel-Form der Vergesellschaftung
keineswegs verkennt, „bald als die unerträglichste Oberflächlichkeit", bald aber auch „als ein spielender Rhythmus von hohem ästhetischem Reize empfunden" (Soz 52). b) Äquivalenz
der Elemente
Bringt die Geselligkeit den wechselwirkenden Zusammenhang der Individuen abgehoben von den jeweils realen Gesellschaftsformen rein zur Darstellung, so fordert sie auch „die reinste, durchsichtigste, am leichtesten ansprechende A r t der Wechselwirkung, die unter Gleichen" (GdS 58). Beide zusammen, die freie Wechselwirkung und die „Äquivalenz der Elemente" konstituieren das „Grundgesetz der Geselligkeit" (GdS 60). Die Äquivalenz der i m geselligen Kreis miteinander wechselwirkenden Individuen w i r d durch eine obere und untere „,Geselligkeitsschwelle'" (GdS 56) 2e herbeigeführt. Außerhalb der Geselligkeit werden so zum einen all die sachlichen und objektiven Bedeutungen gehalten, die das Individuum i m realen gesellschaftlichen Leben besitzt. „Reicht u m und gesellschaftliche Stellung, Gelehrsamkeit und Berühmtheit, exzeptionelle Fähigkeiten und Verdienste des Individuums haben", wie Simmel i m einzelnen aufzählt, „ i n der Geselligkeit keine Rolle zu spielen" (GdS 54). M i t dem Wegfall der sachbezogenen Festlegung t r i t t das Individuum jetzt „als Mensch" i n die Geselligkeit ein. Diese Bindung der Geselligkeit an das, was die Individuen jenseits aller gesellschaftlichen Determinierung i n ihrer individuellen Menschlichkeit sind, zeigt sich u m so eindringlicher, je mehr das moderne Leben, wie Simmel bereits damals konstatierte, „ m i t objektivem Inhalt und Sachforderungen überlastet ist" (GdS 57). Die Verknüpfung der Geselligkeit m i t der Menschlichkeit bedeutet nun aber i m Hinblick auf die geforderte Äquivalenz der Elemente i n der Geselligkeit, daß die Individuen, da sie i m geselligen Umgang miteinander nichts als ihre reine Menschlichkeit einbringen, auch einander gleichgestellt sind. 2e I n Anbetracht der Simmelschen Eigenart, Dinge wie etwa die Brücke und die Tür in symbolischer Bedeutung zu verwenden, scheint uns eine symbolische Deutung auch der Schwelle nicht abwegig. Wir ziehen hierbei eine Stellungnahme Henckmanns (50) zu Goethes Gebrauch des Wortes Schwelle in seinem „West-östlichen Divan" heran. Die Schwelle meint dort einen „Ort des Übergangs von einem zum anderen Raum". Indem die Schwelle „die Öffnung, die Verbindung kennzeichnet, impliziert sie zugleich eine Abtrennung und Abgeschlossenheit, die sie überbrückt" (S. 120; vgl. auch Otto Friedrich Bollnow, „Mensch und Raum", Stuttgart 1963, 3. Die Schwelle, S. 157 bis 158). I n Anlehnung an diese Sicht ließe sich Simmels „Geselligkeitsschwelle" als geöffneter und zugleich abschließender Übergang von der realen Welt zur Welt oder Sphäre des Spiels und genauer: als der Übergang vom realen gesellschaftlichen Verkehr der Menschen untereinander zur „ideale(n) soziologischein) Welt" (GdS 57) der Geselligkeit interpretieren.
2. Geselligkeit und Vergesellschaftung
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Simmels Lehre von der i n der Geselligkeit herrschenden Äquivalenz der Elemente ist damit aber noch nicht scharf und eindeutig genug gefaßt. Die Individuen verkehren nämlich keineswegs rein „als Menschen", als das, was ausschließlich sie selbst i n ihrer unverwechselbaren, ganz persönlichen Eigenart sind, gesellig miteinander. Als gesellige Menschen, und nur als solche sind sie einander äquivalent, behalten und erhalten sie vielmehr eine „gewisse... Reserve und Stilisierung" (GdS 57). So, wie der Ausschluß des ganz Sachlichen die eine, wenn man so w i l l , obere Geselligkeitsschwelle markiert, so legt nun der Ausschluß des ganz Persönlichen die andere oder untere Geselligkeitsschwelle für die Individuen fest. „Ebenso . . . wie dies Objektive, das um die Persönlichkeit herum ist, muß nun auch gerade das rein und zutiefst Persönliche aus ihrer Funktion als Element der Geselligkeit ausscheiden" (GdS 55). Als dieses rein und zutiefst Persönliche, das die Individuen beim Eintritt i n die Geselligkeit zurückzuhalten und für sich zu behalten haben, nennt Simmel: „das Allerpersönlichste des Lebens, des Charakters, der Stimmung, des Schicksals" (GdS 55) 27 . Zur Einhaltung dieser unteren Geselligkeitsschwelle trägt das Phänomen des Taktes und zwar der eigenen, wie der anderen Person gegenüber, i n einem ganz erheblichen Maß bei. Das Taktgefühl verhindert die auf Kosten des Anderen gehende Herausstreichung und Bedürfnisbefriedigung der eigenen Person. Simmel sieht hierin vielleicht „die spezifischste Leistung des Taktes, den individuellen Impulsivitäten, Betonungen des Ich, geistigen und äußeren Ansprüchen die Grenze zu ziehen, die das Recht des Andern fordert" (GdS 54). Das Taktgefühl verhilft aber auch dazu, w o r i n es dem Phänomen der Diskretion (GdS 56, vgl. auch Soz 265) sehr nahe kommt, den Abstand zur eigenen Persönlichkeitssphäre und zu der des Anderen zu wahren. Die Distanz gegenüber dem ganz und gar Persönlichen der Individuen hält deren Wechselwirkung so i m Gleichgewicht, daß sie sich m i t der i n der Geselligkeit charakteristischen leichten H i n - und Herbewegung abspielt. Das rein Persönliche, die „bloß persönliche Stimmung und Verstimmung, Aufgeregtheiten und Depressionen, Licht und Dunkelheit des tiefsten Lebens" dennoch „ i n die Geselligkeit mitzubringen", ist für Simmel darum auch taktlos, w e i l dies „dem hier ausschließlich dominierenden Wechselwirkungsmoment widerstreit(et)" (GdS 55) 28 . 27 Nach dem Ausschluß der sachlichen Bedeutungen, aber auch der ganz persönlichen Züge des Individuums fragt sich, welche Eigenschaften denn nun in der Geselligkeit zum Tragen kommen. Es bleiben nur die allgemeinmenschlichen oder humanen Eigenschaften übrig, die Simmel allerdings nicht als solche bezeichnet „Die persönlichen Eigenschaften der Liebenswürdigkeit, Bildung, Herzlichkeit, Anziehungskräfte jeder Art entscheiden über den Charakter des rein geselligen Beisammenseins" (GdS 54). 28 Auch diese Begründung der Taktlosigkeit hat Simmel erst im Geselligkeitskapitel seiner 1917 erschienenen „Grundfragen der Soziologie" eingefügt.
10·
Kap. V I : Die Geselligkeit als Spiel-Form der Vergesellschaftung
Z u Beginn dieses Abschnitts haben w i r als Grundgesetz der Geselligkeit die freie Wechselwirkung und die Äquivalenz der Elemente namhaft gemacht. Zusammenfassend können w i r jetzt feststellen, daß die Äquivalenz der gesellig miteinander wechselwirkenden Individuen durch die Begrenzung der Geselligkeit vermittels einer oberen und unteren Geselligkeitsschwelle, durch die einerseits das ganz Sachliche, andererseits das ganz Persönliche wegfällt — beides bezeichnet Simmel zurecht auch als das, „was die Vergesellschaftung als ihr Material vorfindet und wovon sie i n ihrer Gestaltung als Geselligkeit entkleidet ist" (GdS 57) — zustande kommt. Die anfänglich negative Bestimmung der Geselligkeit als Begrenzung und Einschränkung dreht sich damit i n das „positive Formmotiv" (GdS 56) ihrer demokratischen Strukturierung um. I n der Geselligkeit sind die Individuen als gesellige Menschen gleich. Diese Gleichheit, die sich nach Simmel allerdings nur unter A n gehörigen der gleichen Gesellschaftsschicht vollkommen realisieren kann, impliziert nicht nur Gleichstellung, sondern auch Gleichberechtigung. I n der Geselligkeit ist „die Freude des Einzelnen durchaus daran gebunden, daß auch die andern froh sind, hier kann prinzipiell niemand auf Kosten ganz entgegengesetzter Empfindungen des Andern seine Befriedigung finden" (GdS 57). A u f der nächsten Seite schreibt Simmel i n demselben Sinn, daß der gesellige Mensch i n Wechselwirkung m i t den anderen „die Geselligkeitswerte" — nämlich Freude, Entlastung, Lebendigkeit (vgl. GdS 56) — „für sich nur unter der Bedingung gewinnen kann, daß die andern, m i t i h m wechselwirkenden, sie ebenso gewinnen" (GdS 58). Nun darf aber nicht aus den Augen verloren werden, daß die „demokratische Struktur aller Geselligkeit" (GdS 56), selbst wenn sie innerhalb der gleichen gesellschaftlichen Schicht, also von gesellschaftlich Gleichstehenden realisiert und getragen wird, Spiel bleibt. Die Geselligkeit „ist das Spiel, i n dem man ,so tut', als ob alle gleich wären" (GdS 58). Insofern die Geselligkeit als Spielform der Vergesellschaftung ein von der Realität der Gesellschaft abgehobenes, nur noch um der reinen Wechselwirkungsformen der Individuen w i l l e n ausgeübtes Eigenleben führt, bedeutet dieses ,Als Ob 4 der Gleichheit allerdings ebensowenig ein bloßer Schein oder gar eine Lüge, „ w i e das Spiel oder die Kunst m i t all ihrer Abweichung von der Realität Lügen sind" (GdS 58), die Gleichheit der Individuen bedeutet vielmehr, daß die Geselligkeit jetzt i n ihrer reinsten Ausgestaltung, als Wechselwirkung unter Gleichen, i n A n dieser Stelle ist weiterhin zu bemerken, daß die Georg-Simmel-Bibliographie von Kurt Gassen einen spezifischen Aufsatz Simmels „Über Takt. Soziologie der Geselligkeit" vermerkt, der am 22. Oktober 1912 in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht worden sein soll (vgl. BdD, S. 333, Nr. 180). Trotz eingehender Nachforschungen war dieser Aufsatz am angegebenen Ort leider nicht auffindbar.
2. Geselligkeit und Vergesellschaftung
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Erscheinung tritt. Freilich erzeugt und bildet die Geselligkeit damit — und auch insofern ist sie Spiel — eine „ideale soziologische Welt", i n der die geselligen Menschen „ausschließlich jene ganz reine, durch keinen gleichsam materialen Akzent debalancierte Wechselwirkung untereinander herzustellen wünschen" (GdS 57). I n der Geselligkeit findet schließlich, womit w i r unsere Überlegungen zur Geselligkeit als der Spielform der Vergesellschaftung beenden wollen, auch das einzelne Spiel selbst seinen Platz. Von allen möglichen Arten menschlicher Spiele 29 , erwähnt wurde bereits das Kampfspiel, ist für Simmel „das entscheidende Spiel das Gesellschaftsspiel" 30 . Die entscheidende Bedeutung des Gesellschaftsspiels liegt darin, daß es nicht nur i n einer Gesellschaft gespielt wird, sondern daß gleichzeitig „ m i t i h m tatsächlich Gesellschaft' ,gespielt' w i r d " (GdS 59). I m Spielen des Gesellschaftsspiels spielen sich zugleich die Formen der Vergesellschaftung befreit von ihrer i m realen Vergesellschaftungsprozeß gegebenen Verbindung mit bestimmten Inhalten und Zwecken, rein als solche ab. „Die ganzen Wechselwirkungs- oder Vergesellschaftungsformen zwischen den Menschen: das Übertreffenwollen und der Tausch, die Parteibildung und das Abgewinnenwollen, die Chancen der zufälligen Begegnung und Trennung, der Wechsel zwischen Gegnerschaft und Kooperation, das Überlisten und die Revanche — alles dieses, i m Ernst der Wirklichkeit von Zweckinhalten erfüllt, führt i m Spiel ein vom Reiz dieser Funktionen selbst und allein getragenes Leben" (GdS 59). I m Gesellschaftsspiel kommen also, wie i n der Geselligkeit, die reinen Formen der Vergesellschaftung zur Darstellung, die Simmel zum Forschungsgegenstand seiner reinen oder formalen Soziologie bestimmt hat.
29 Vgl. etwa Karl Groos' („Die Spiele der Menschen", Jena 1899) „System der Spiele". Besondere Aufmerksamkeit verdient sein Abschnitt über die sozialen Spiele (S. 430—464). 30 I. Heidemann (48), S. 257.
Literaturverzeichnis Α. Primärliteratur: Schriften Georg Simmels I.
Bücher
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Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunst-philosophische Aufsätze, herausgegeben von Gertrud Simmel, Potsdam 1922 Schulpädagogik. Vorlesungen, gehalten an der Universität Strassburg, herausgegeben von Karl Hauter, Osterwieck/Harz 1922 Fragmente und Aufsätze. Aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letztten Jahre, herausgegeben von Gertrud Kantorowicz, reprografischer Nachdruck der Ausgabe München 1923, Hildesheim 1967 Rembrandtstudien, Basel 1953 Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, im Verein mit Margarete Susman herausgegeben von M i chael Landmann, Stuttgart 1957 Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, herausgegeben von Kurt Gassen und Michael Landmann, Berlin 1958 Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, herausgegeben von Michael Landmann, Frankfurt am Main 1968 II.
Aufsätze
Psychologische und ethnologische Studien über Musik, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. 13, 1882, S. 261—305 Dantes Psychologie, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. 15, 1884, S. 18—69 und S. 239—276 Einige Bemerkungen über Goethes Verhältnis zur Ethik, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, N. F. Bd, 92/93, 1888, S. 101—106 Bemerkungen zu socialethischen Problemen, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. X I I , 1888, S. 32—49 Zur Psychologie der Frauen, in: Zeitschrift Sprachwissenschaft, Bd. 20, 1890, S. 6—46
für
Völkerpsychologie
und
Rudolf Euckens „Lebensanschauungen", in: Vossische Zeitung, Sonntagsbeilage Nr. 24—26 vom 14., 21., 28. Juni 1891 Ein Wort über soziale Freiheit, in: Sozialpolitisches Zentralblatt, Bd. 1, 1892, S. 333—335 Parerga zur Socialphilosophie, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, N. F., Bd. X V I I I , 1894, S. 257 bis 265 Massenpsychologie, in: Die Zeit, Wien, 5. Jg., vom 23. November 1895 Soziologische Aesthetik, in: Die Zukunft, Bd. 17, 1896, S. 204—216 Zur Methodik der Socialwissenschaft, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, N. F., Bd. 20, 1896, S. 227 bis 237 Zur Philosophie der Arbeit, in: Neue Deutsche Rundschau, Bd. 10, 1899, S. 449—463 Zur Psychologie der Scham, in: Die Zeit, Wien, Nr. 271, 29. Jg., vom 9. November 1901 Die beiden Formen des Individualismus, in: Das freie Wort, 1. Jg., 1901/02, S. 397—403
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B. Sekundärliteratur Die folgende Liste verzeichnet Schriften, denen die Arbeit allgemeine Belehrung und wichtige Denkanstöße verdankt. Einmalig und peripher herangezogene Veröffentlichungen werden an der betreffenden Stelle der Anmerkung vollständig zitiert. Die Numerierung des Sekundärschriftenverzeichnisses findet sich im Anmerkungsteil in Klammern hinter dem jeweils genannten Autor zur Bezeichnung dessen Werkes wieder. 1. Adler, M.: „Georg Simmels Bedeutung für die Geistesgeschichte", Leipzig 1919 2. Adorno, Th. W.: „Noten zur Literatur" I, Frankfurt am Main 1958 3. Adorno, Th. W.: „Henkel, Krug und frühe Erfahrung", in: Ernst Bloch zu ehren. Beiträge zu seinem Werk. Hrsg. v. S. Unseld, Frankfurt am Main 1965, S. 9—20 4. Adorno, Th. W.: „Negative Dialektik", Frankfurt am Main 1966 5. Adorno, Th. W., Horkheimer, M.: „Dialektik der Aufklärung". Philosophische Fragmente (1947), Frankfurt am Main 1969 6. Adorno, Th. W., Jaerisch, G.: „Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute", in: Gesellschaft, Recht und Politik, W. Abendroth zum 60. Geburtstag, Neuwied/Berlin 1969, S. 1—19
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