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German Pages [368] Year 2006
2. Auflage „Dem Verfasser gelingt es auf virtuose Weise ‚Pflicht‘ mit ‚Kür‘ zu verbinden.“ Theologie und Philosophie
„Ein ‚Muss‘ für das Bücherregal (nicht nur) von Theologiestudierenden.“
Band I •
Münchener Theologische Zeitschrift
Glauben – Fragen – Denken
Zum Selbstverständnis christlicher Theologie gehört seit Anfang, auf dem Forum der philosophischen Vernunft zur Rechenschaft über den eigenen Glauben bereit zu sein. In der katholischen Tradition hat sich dazu die selbständige Disziplin der Propädeutik oder Philosophischen Grundfragen der Theologie herausgebildet. Im vorliegenden Lehrbuch werden alle wichtigen Themenfelder, die in die Kompetenz dieses Faches fallen, erschlossen und für Studierende der Theologie aufbereitet. Systematische Perspektiven werden dabei historisch so profiliert, dass daraus eine Einladung zum Selberdenken entsteht. Das Novum dieses Lehrbuchs macht aus, dass es sich im Aufbau an der durch den Bologna-Prozess bedingten Neustrukturierung der Studiengänge der Katholischen Theologie orientiert.
Klaus Müller
GLAUBEN FRAGEN DENKEN Band I Basisthemen in der Begegnung von Philosophie und Theologie
Müller
ISBN: 978-3-402-00420-3
ASCHENDORFF
ASCHENDORFF
Müller Glauben – Fragen – Denken Band I
Titelei_Mueller_I.p65
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18.09.2006, 09:37
Der Autor: Prof. Dr. Dr. habil Klaus Müller, geb. 1955 in R egensburg, seit 1996 Professor für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster
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Klaus Müller
Glauben – Fragen – Denken Band I
Basisthemen in der Begegnung von Philosophie und Theologie
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2. AuflAge © 2012 Aschendorff Verlag gmbH & Co. Kg, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der entnahme von Abbildungen, der funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 urhg werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum gmbH & Co. Kg, 2012 gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞
ISBN 978-3-402-00420-8
Dedicated to the colleagues and students of the St. Augustine Millenium Seminary and of the St. Victor’s Major Seminary in Tamale, Ghana (NR) 2005 and 2006 – may we all rise in the common service of truth in love:
VERITATEM IN CARITATE
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort
XII
1.
Vernunft und Glaube – allererste Annäherung
1
1.1
Wie die Philosophie in die Theologie kommt Funktionsbeschreibung 1 — Christentum als Erkenntnis 2 — Nähe und Konflikt 2 — Theologie als Wissenschaft 3 — Beispiel I: Ein Bischof hat Kummer 4 — Beispiel II: Das Kreuz mit der Vorsehung 6 — Beispiel III: Eucharistie und Logik 8 — Rückkoppelung 11 Wie man in die Philosophie findet Am Anfang: Erotik 13 — Einstieg I: Staunen 13 — Einstieg II: Zweifeln 17 — Einstieg III: Sprechen 18 — Resümee: Vertrauen statt Verdacht 20
1
1.2
2.
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
Modelle im Verhältnis von Philosophie und Theologie – systematisch und historisch Philosophie und kirchliches Lehramt 25 Anfangsverhältnisse Theologien im Plural 26 — Erstes Grundmaß: Griechische Verhältnisse 27 — Vorsokratiker 29 — Sophistische Krise 30 — Widerpart Sokrates 31 — Christliche Verzweigung 32 Johanneische und paulinische Fortschreibungen Justin und die Alexandriner 34 — Tertullian 34 — Augustinus 36 — Antiphilosophische Präzedenzfälle: Othloh 37 — Petrus Damiani 37 — Bernhard von Clairvaux 38 — B. Pascal 38 — L. Schestow 41 — M. Heidegger 42 Klassisches Modell mit Hypothek Thomas’ originäre Leistung 44 — (a) Neuer Predigtstil 44 — (b) Herausforderung Islam 44 — (c) Der wiederentdeckte Aristoteles 45 — Vermittlungsmodell 46 — Problematische Folgen 47 Alternative Präfiguration: Justin 48 — Radikalisierung: Anselm von Canterbury 49 — Vernunft und Sünde 49 — Ortsangabe 50 — Notwendige Vernunftwahrheiten 50 — Späte Wiederaufnahmen 51 — Resümee 52 Doppelte Verschärfung Grenzen der Vernunft: I. Kant 55 — Generalverdacht: F. Nietzsche 57 — Hypothetizität und äußerster Grenzgang 58 — Bescheidenheit und Anspruch 59
13
25
26
34
44
48
55
VIII
INHALTSVERZEICHNIS
3.
Sein und Schein – Von der Wahrheit und ihren Problemen
61
3.1
Zweifel an den Sinnen Irritation 61 — Hören versus Sehen in der griechischen Philosophie 62 — Pythagoras und die Harmonie 62 — Hör-Kritik und Seh-Primat 63 — Logik der Ideenlehre 66 — Die Idee des Guten 67 — Sichtbarkeit des Guten: Schönheit 67 — Das Sehen und das Christentum 69 — Selbstkritik des Seh-Denkens 69 — Wahrheit und Illusion 70 Pflicht zur Skepsis versus Prinzip Wahrheit Erkenntnispostulat 73 — Skepsis — radikal 74 — Weiche Skepsis 74 — Wahrheit — erste Annäherung 75 — Korrespondenztheorie 77 — Evolutionäre Erkenntnistheorie 78 — Kohärenztheorie 79 — Beispiel Holismus 80 — Translogische Kohärenz 81 — Konsenstheorie 82 — Sache und Sachverhalt 83 — Nicht-methodische Wahrheit 84 — Autorität und Erkenntnis 87 Virtualität oder: Neue Wirklichkeit durch „Neue Medien“? Telematisierung 88 — Virtualität 89 — Sein und Schein 89 — Verflüssigung 90 — Spiel mit Identität 91 — Hohelied der Metamorphose 93 — Virtualität und Gottesfrage 93
61
3.2
3.3
73
88
4.
Weite und Grenze der Sprache
95
4.1
Erste Verständigung über ein komplexes Phänomen Kerngeschäft Sprachkritik 95 — Platonischer Vorbehalt 95 — Natur oder Setzung? 96 — Aristoteles 96 — Augustinus 97 — Sprache und Denken 97 — Sprache und Sache 99 — Sprache als Zeichen 99 — Kritische Revision durch Thomas von Aquin 100 — Gesprochene Sprache 101 — Logische Analyse 101 — Universalien 102 — Neuzeitliches Sprachdenken 102 Dialogische Sprachphilosophie Theologischer Boden 104 — Gebot und Gebet 104 — Ich und Du 105 — Gefahr der Verkürzung 106 Hermeneutische Sprachphilosophie Sein und Sprache 107 — Vernehmen 108 — Nichtinstrumentelle Sprachlichkeit 108 — Hypotheken 109 Die analytische Sprachphilosophie Linguistic turn 111 — Analytik als Stilprinzip 111 — Verzweigungen der Analytik 112 — Frühe Analytik und Religion 113 — Sinnlosigkeitsverdacht 114 — Voraussetzungen einer Neuentdeckung von Religion 114 — Sprachspiel 115 — Lebensform 116 — Familienähnlichkeit 117 — Nicht-verifikatorische Auffassungen 118 — Rückkehr der Realismus-Frage 119 — Sprechaktanalyse und Performativität 119
95
4.2
4.3
4.4
104
107
111
INHALTSVERZEICHNIS
4.5
4.6
4.7
5. 5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
6. 6.1
IXs
Klassische Kritik: Über die Namen Gottes Biblisches Problembewusstsein 120 — Spitzenfall Gottesname IHWH 120 — Entscheidende Leerstelle 122 — Dionysios Areopagita 122 — Durchgestrichene Rede 123 — IV. Laterankonzil 124 „Das schönste aller Bänder“ – Analogie Urphänomen Verhältnis 125 — Überkategorialer Sprachgebrauch 126 — Thomas von Aquin über Analogie 126 — Thomanische Onto-Semantik 127 — Analogie und Familienähnlichkeit 128 — Testfall: Gott als „Gangster“ 128 — Elastische Grenzen 130 Metapher und disclosure Finden und Glücken 131 — Disclosure-Ereignis 131 — Koinzidenzen 132 — Sprengmetaphorik 133 — Kommunikatives Handeln 133
120
Kunst des Verstehens
135
Stammbaum eines Namens 135 — Hermeneutik und Religion 135 Dynamik des Auslegens Christlicher Impuls 136 — Mehrfacher Schriftsinn 136 — Aktuelle Renaissancen 137 — Gefahr „Eisegese“ 138 Die Rückkehr des Buchstabens und eine Vermittlung Hermeneutischer Bürgerkrieg 140 — Rationalistische Entschärfung 140 — Pietistische Gegenbewegung 141 — Vermittlung I: Schleiermacher 142 — Übersetzungsproblem 143 — Vermittlung II: Gadamer 144 Theologischer Parade-Hermeneut (1) Vorurteil 145 — (2) Hermeneutischer Zirkel 146 — (3) Zeitenabstand 147 — (4) Wirkungsgeschichte 148 — (5) Horizontverschmelzung 149 — Einverständnis und Verdacht 150 — Avantgarde der Postmoderne 150 Hermeneutik und Postmoderne Wider den Einheitszwang 152 — Kultureller Reflex 152 — Pluralität 153 — Dialog als Gewaltmaske 154 — Verweisung in infinitum 155 — Verschwiegene Gesamtheit 155 — Wahrheit: Vorletzte Teilhabe 156 Unerwartete Korrektur Radikalisierung der Hermeneutik: Liebe 157 — Liebe und Alterität 157 — Brückenschlag zur Ethik 158
Was sollen wir tun? Allgegenwart der Ethik 159 Tugend, Maß und Glück Aristoteles 160 — Ethisches Wissen 161 — Mitte und Maß 161 — Ziel: Das Glück 161 — Religionskritik 164
125
131
136
140
145
152
157
159 160
X
6.2
6.3
7. 7.1 7.2
7.3
7.4
7.5
7.6
INHALTSVERZEICHNIS
Pflicht, Vernunft und Freiheit Immanuel Kant 165 — Erkenntnisproblem 165 — Ethische Objektivität 165 — Vernunft-Faktum 166 — Sollen und Freiheit 167 — Kategorischer Imperativ 168 — Situatives Abwägen 169 — Religionskritik I 170 — Religionskritik II 170 Diskursethik und eine brisante Selbstkorrektur Voraussetzungen des Argumentierens 171 — „Teil B“ der Diskursethik 172 — Verhandlungsmoral 173 — Political Correctness 174 — Prozeduralität 174 — Folgenabschätzung 175 — Paradigmenkonflikt 176 — Grenzen der Verhandelbarkeit? 176 — Kognitiver Überschuss 177 — „Rettende Übersetzung“ 178 — Vernunft und Glaube 179
Rätselwesen Mensch Kleiner Schock 181 — Zufallstreffer Mensch 181 — Scheinbare Neuigkeit 182 What is it Like to Be Me? Sein-für 183 — Hartnäckige Subjektivität 184 Leib und Seele Biblisches 186 — Christliche Theoriebildung 186 — Grundmodelle 187 — (a) Dualismus 187 — (b) Idealistischer Monismus 187 — (c) Materialistischer Monismus 187 — (d) Hylemorphismus 188 — Organisationsprinzip Seele 189 — Anima forma corporis 189 — Moderner Hylemorphismus? 191 Mind and brain Neurophilosophy 192 — Krise und Rehabilitierung 193 — Neuro-Modell der Subjektivität? 194 — (a) Parallelismus 194 — (b) Freier Wille 195 — Kriterienfrage 196 — Problem Bewusstsein 196 — (a) Identitätstheorie 196 — (b) Bewusstlose Gehirne 197 — (c) Qualia 197 — (d) Bewusstseinsstufen 197 — (e) Rückkoppelung 198 — (f) Selbstbewusstsein 198 Kleine Quellenkunde zu Subjektivität Griechische Wurzeln 200 — Antike Brechung 201 — JüdischBiblisches zu Subjektivität 201 — Der Einzelne und Gott 202 — Talmudtraditionen 203 — Christliches 204 — Antichristlicher Einwand 205 — Prinzip Inkarnation 206 — Gegenprinzip Ästhetisierung 207 Exemplarischer Gang in philosophisch-theologische Reflexionen Mystagogie und Askese 208 — Christologie und Trinität 208 — Wendung nach innen: Augustinus 209 — Gott und IchAutonomie 211 — Subjektsein und Freiheit 213 — Das Subjekt und die anderen 214 Angelpunkte der Moderne Giordano Bruno 216 — Das faszinierte Subjekt 216 — René Descartes 217 — Rückbezug auf das Unendliche 218
165
171
181 183 186
192
200
208
216
INHALTSVERZEICHNIS
7.7
7.8
7.9
8. 8.1
8.2
8.3
9.
9.1
9.2
XIs
Hoch-Zeit – Verdacht – Rehabilitierung: ein Stenogramm Subjektkonjunktur 219 — Gegenprogramme 219 — Subjektsein und Herrschaft 220 — Sprachanalytische Elimination 221 — Rückkehr des „ich“ 222 — Indexicals und Quasi-Indexicals 223 — Substitutionstest 223 — Das Ich: Kommunikabel und kontingent 224 — Brückenschläge zur Tradition 225 — Subjektivität revisited 225 — Präreflexivität 226 Subjekt und Person (a) Erste-Person-Perspektive 228 — (b) Dritte-PersonPerspektive 228 — (a) Einmaligkeit 229 — (b) Einzelnsein 229 Selbsterhaltung Unverfüglichkeit seiner selbst 231 — Antike und christliche Selbsterhaltung 231 — Selbsterhaltung modern 231 — Selbsterhaltung = Macht? 232 — Präsenzdenken 233 — E. Levinas 234 — Egoität versus Alterität 235 — Geiselhaft 236 — Und Selbsterhaltung? 236 — Grund 237
228
Hoffnung, die Gründe kennt
239
Zwei Hintergründe 239 Ein Anfang und seine Kontexte Philosophische Einholung von Religion 240 — Über Kant hinaus 242 — Drei Konflikte 242 — Im Hintergrund: Spinoza 243 Heimlicher Pate Gott und Welt 244 — (a) Problem Freiheit 245 — (b) TheismusKritik 245 — Bestimmung ist Negation 247 — (c) Gottes Liebe 247 Namen, Texte und Konflikte Pantheismusstreit 249 — Ungewollte Spinoza-Werbung 250 — Spekulative Philosophie 251 — Atheismusstreit 252 — Verinwendigung 253 — Theismusstreit 254 — Treibsätze für Künftiges 255
Zwischen Verdacht und Verteidigung – Panorama moderner Religionskritik Kleine Rekapitulation 257 — Verselbstständigung der Motive 258 Religion als Projektion L. Feuerbach 258 — (a) Kritik im Dienst der Liebe 259 — (b) Anthropomorphismus-Kritik 260 — Selbstbewusstsein und Religion 260 — Religion als Selbstentfremdung 261 — Feuerbach unter Kritik 261 Religion als gesellschaftliches Sedativum K. Marx — F. Engels 263 — Gesellschaftlich-materielle Verhältnisse 263 — Religion als Indiz und Betäubungsmittel 263 — Messianischer Zug 264 — Religion und Gerechtigkeit 265
219
231
240
244
249
257
258
263
XII
INHALTSVERZEICHNIS
9.3
Religion als Ressentiment und Kompensation F. Nietzsche 266 — Schwäche vs. Übermensch 266 — Gott oder Leben 267 — Sinnlose Frohbotschaft 268 — Gottesrequiem 269 — Nihilismus 271 — Christliches Selbstdementi 272 — Nachchristlicher Gott 273 — Kritik des Individuums 274 — Moderne Fortschreibungen 276 Religion als Krankheit S. Freud 277 — Neurose und Illusion 277 — Trieb und Triebverzicht 278 — Verdrängung 278 — Frühkindliche Konflikte 278 — Verarbeitungen 279 — Über-Ich und Religion 280 — Ritualität 281 — Realitätsverweigerung 282 — Erste Kritik 282 — Systematische Anfragen 283 — (a) Unbewusstes 283 — (b) Religion und Vernunft 284 — (c) Religion und Kontingenz 284 — Relevanz der freudschen Kritik 285 Religion als Ausdruck vorwissenschaftlichen Bewusstseins A. Comte 286 — Positivismus und Esoterik 286 — M. Weber 287 — J. Habermas 288 — Rückkehr in den Anfang 288
266
Die philosophische Gottesfrage
291
9.4
9.5
10. 10.1
10.2
10.3
10.4
Ambivalent vor „Gott“ 291 Erste Übersicht: Genesis und Gewicht einer Denkform Anselm von Canterbury 292 — Thomas von Aquin 293 — Späte Konjunktur 293 — Klassische Kritik: Kant 294 — Metaphysik wird Moraltheologie 294 — Revisionen 295 — Neue Kosmologien 296 — Dilettanten und Scharlatane 297 Gottesbeweise – Begriff und Anspruch Beweisbegriff 298 — Keine Voraussetzungslosigkeit 298 — Vernunftgemäßheit 299 — Relevanz I: Selbstvergewisserung 300 — Relevanz II: Kommunikative Redlichkeit 300 Argumenttypen Früher Anfang: Sokrates 301 — Platon 301 — Verdichtungen 302 — Typen-Raster 302 — (a) Historischer (ethnologischer) Gottesbeweis 302 — (b) Axiologischer (eudaimonologischer) Gottesbeweis 303 — (c) Noetischer (ideologischer, nomologischer) Gottesbeweis 303 — (d) Stufenbeweis 304 — (e) Kosmologische Argumente 305 — (f) Physikotheologische Argumente 305 — (g) Ontologisches Argument 305 — Vollständigkeit der Typenliste 305 — Einschachtelung 306 — (h) Deontologischer (ethikotheologischer, moralischer) Gottesbeweis 306 Die „quinque viae“ des Thomas von Aquin (a) Erster Weg 307 — Schlussverfahren 308 — Theologischer Abschluss 308 — Ontosemantik 309 — Problem I: Metaphysisches Kausalprinzip 309 — Problem II: Das Böse 310 — Problem III: Beteiligung des Subjekts 311 — (b) Zweiter Weg 311 — Wirkursächlichkeit 312 — (c) Dritter Weg 312 — Logik der
277
286
292
298
301
307
INHALTSVERZEICHNIS
10.5
10.6
10.7
10.8
Kontingenz 313 — (d) Vierter Weg 313 — Platonische Ausnahme 314 — (e) Fünfter Weg 314 — Ordnungsstruktur 314 — Kantischer Respekt 315 Der ontologische Gottesbeweis Rahmung 317 — Voraussetzungen 318 — Argumentschritte 318 — Wirklicher Abschluss 319 — Leistung 319 — Thomanische Kritik 320 Kants Kritik und seine Alternative Begriff und Dasein 321 — Dialektischer Schein 321 — Formen der Theologie 321 — Regulatives Prinzip 322 — Zwei Konsequenzen 322 — Überstieg zur Ethik 322 — Kategorischer Imperativ 323 — Freiheit 324 — Anthropologischer Zwischenschritt 324 — Freiheit und Gott 325 — Existenzieller Gottesbeweis 325 — „Bloß“ Postulat? 326 — Wirklichkeitswissen der Vernunft 326 Induktiv-probabilistische Argumentationen Einsatzpunkt 328 — Ziele 328 — Wahrscheinlichkeit 329 — Basale Unterscheidungen 330 — (a) Deduktiv schlüssige Argumente 330 — (b) Induktive Argumente 331 — P- und Cinduktiv 331 — Kumulatives Resultat 332 — Kriterien 332 — Angewandte „Einfachheit“ 333 — Problem Ausgangswahrscheinlichkeit 335 — Problemverschiebung, nicht -lösung 335 — Eingeschränktes Modell 335 Nochmals spekulativ: Argument aus dem Futurum exactum Was gewesen sein wird 337 — Ein neues „Hoc dicimus Deum“ 337 — „Evidence“ 337
XIIIs
317
321
328
337
Bibliographie
339
Personenregister
343
VORWORT
XV
VORWORT Seit Jahren reißt die Kette der Bücher nicht ab, die sich dem Verhältnis von Vernunft und Glaube widmen.1 Die vielfach beschworene „Wiederkehr der Götter“ oder — prosaischer gewendet — die unübersehbare globale Religionsproduktivität lässt offenkundig und aus guten Gründen auch das Bedürfnis steigen, religiöse Überzeugungen, ihre Wahrheitsansprüche und Gewissheitspotenziale der kritischen Prüfung zu unterwerfen. Zum Selbstverständnis christlicher Theologie gehört ohnehin seit Anfang auch dies, auf dem Forum der Vernunft, also dort, wo mit philosophischem Instrumentar gearbeitet wird, zur Rechenschaft über den eigenen Glauben bereit zu sein. In der katholischen Tradition hat sich dazu die selbständige Disziplin der Propädeutik oder der Philosophischen Grundfragen der Theologie herausgebildet. Auch für dieses Fach stehen wie für andere Disziplinen derzeit Lehr- und Handbücher sowie ambitionierte Längsschnitte neueren und neuesten Datums zur Verfügung. Letzterem Genre sind Jan Rohls2 und — mit prägnant verdichteten Darstellungen — Hansjürgen Verweyens3 einschlägiges Werk zuzurechnen. Ersteres wird man eher Anfängern zur Orientierung empfehlen, das zweite Fortgeschrittenen, die gezielt über Konzeptionen des Vernunft-GlaubeVerhältnisses Aufschluss suchen, diese aber bereits in Horizonte eines Vorwissens einordnen können. In ganz anderem Zugriff, nämlich von der klassischen Grobgliederung der Traktate der Fundamentaltheologie her, hat Richard Schaeffler seine Philosophische Einübung in die Theologie4 konzipiert und seinen Ansatz einer hermeneutisch-geschichtlich erweiterten Transzendentalphilosophie als Klaviatur einer systematischen Theologie in Anspruch genommen. Im Fall genau umgekehrt angelegter — im strengen Sinn philosophisch-propädeutischer — Publikationen, die von der Philosophie her ein Curriculum von Fragestellungen entwickeln, die der Theologie notwendig aufgegeben sind, besteht noch erhebli1
2
3
4
Zur Übersicht vgl. MÜLLER, Klaus: Vernunft und Glaube. Eine Zwischenbilanz zu laufenden Debatten. Münster 2005. 1-14. Vgl. ROHLS, Jan: Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 2002. Vgl. VERWEYEN, Hansjürgen: Philosophie und Theologie. Vom Mythos zum Logos zum Mythos. Darmstadt 2005. Vgl. SCHAEFFLER, Richard: Philosophische Einübung in die Theologie. 1. Bd.: Zur Methode und zur theologischen Erkenntnislehre. 2. Bd.: Philosophische Einübung in die Gotteslehre. 3. Bd.: Philosophische Einübung in die Ekklesiologie und Christologie. Freiburg; München 2004.
tXVI
VORWORT
cher Nachholbedarf. Die von Ludger Honnefelder und Gerhard Krieger auf vier Bände angelegte und seit 1994 herausgegebene Philosophische Propädeutik5 ist nach wie vor unabgeschlossen und in sich — bedingt durch das Autorenkollektiv — doch sehr heterogen. Mein eigenes Lehrbuch Philosophische Grundfragen der Theologie6 von 2000 war ein erster enzyklopädischer und skizzenförmiger Versuch für den Gebrauch in der Lehrpraxis. Die hier nun vorgelegte Propädeutik in drei Bänden weitet die Konzeption dieses ersten Anlaufs über fällige Fortschreibungen hinaus nicht nur dadurch, dass sie stärker historische Perspektiven — wenngleich immer in argumentationsgeschichtlicher, also systematischer Absicht — einbezieht. Ihr Novum besteht vor allem darin, dass sie sich im Aufbau an der durch den Bologna-Prozess bedingten Neustrukturierung der Studiengänge der Katholischen Theologie orientiert: Deshalb verhandelt der erste Band diejenigen zehn Themenfelder aus dem Vernunft-Glaube-Verhältnis, von denen ich glaube, dass niemand ohne ihre Kenntnis zu einem tragfähigen theologischen Studienabschluss gelangen kann und die darum auch für BachelorAbschlüsse unverzichtbar sind. Die beiden Folgebände greifen alle zehn Themenblöcke in gestufter Dichte, also vertieft und in wechselseitiger Vernetzung erneut auf und entfalten so die philosophischen Grundfragen der Theologie für das Niveau theologischer Master-Studiengänge und des Diploms. Querverweise erlauben, die Bände einzeln zu studieren und markieren Pfade der Vertiefung.7 Mir ist bewusst, welche Grenzen mit einem solchen auf Generalismus angelegten Unternehmen verbunden sind, wie subjektiv auch die Wahl der systematischen Optionen und erst recht die berücksichtigte Literaturauswahl ausfallen müssen. Dennoch halte ich diese Kosten durch den Nutzen der einheitlichen Durchführung einer philosophischen Vorschule theologischen Denkens für aufgewogen. Denn eine solche scheint mir am ehesten geeignet, aus der für Studierende der Theologie manchmal mühevollen Auseinandersetzung mit der Philosophie das werden zu lassen, was schon 5
6
7
Vgl. HONNEFELDER, Ludger/KRIEGER, Gerhard (Hgg.): Philosophische Propädeutik. Bd. 1.: Sprache und Erkenntnis. Paderborn u.a. 1994. Bd. 2.: Ethik. Paderborn u.a. 1996. Bd. 3.: Metaphysik und Ontologie. Paderborn u.a. 2000. MÜLLER, Klaus: Philosophische Grundfragen der Theologie. Eine propädeutische Enzyklopädie mit Quellentexten. Unter Mitarbeit v. Saskia Wendel. Münster 2000. „→ →“ bezieht sich dabei auf Kapitel im vorliegenden Bd. 1, „“ verweist auf die Themenbereiche in den Folgebänden. Band 3 wird zudem eine Übersichtstabelle beinhalten.
VORWORT
XVII
bei Aristoteles „Protreptik“ hieß: Einladung, besser noch: Verführung zum Selberdenken. Wem daran gelegen ist, für den Glauben auch den Intellekt in Pflicht zu nehmen, kann man Besseres kaum wünschen. Ein gesundes Misstrauen in alles, was man leicht zu verstehen meint, genauso wie in das, was man nicht versteht, mag dabei gemäß einer Empfehlung Voltaires ein hilfreicher Kompass sein. Wie oft vorher bereits danke ich auch diesmal meiner Lehrstuhl-Crew für die verlässliche und engagierte Arbeit an diesem Projekt: Prof. Dr. Thomas Schärtl, Washington D.C., bis vor kurzem mein Assistent, den SHKs Jasmin Hassel, Veronika Wegener, Rudi Heidrich und Elisa Kröger, dem Klarissenkonvent am Münsteraner Dom für das Korrekturlesen sowie meiner Sekretärin Monika Liedschulte für vielfältigen Service und das gute Klima im Büro. Ich freue mich auch über die mit diesem Buch beginnende Zusammenarbeit mit dem Aschendorff-Verlag, namentlich mit Herrn Dr. Paßmann, der mir ein attraktives Forum für ein solches Lehrbuchprojekt eröffnet hat. Und den künftigen Leserinnen und Lesern sei versichert, dass wirkliches Philosophieren immer erstpersönlich geschieht, weshalb auch vom nachfolgend Geschriebenen gilt: „Das sage ich nicht für viele, sondern für dich: denn wir sind einer für den anderen ein hinreichend großes Publikum.“8
Münster, am Hochfest Peter und Paul 2006 Klaus Müller
8
SENECA: Briefe an Lucilius, III, 25,5.
1.
Vernunft und Glaube – allererste Annäherung
Lit.: Platon: Symposion. — H. Gollwitzer/W. Weischedel: Denken und Glauben. — J. F. Rosenberg: Philosophieren. — Th. Nagel: Was bedeutet das alles? — L. Honnefelder/M. Lutz—Bachmann: Philosophie und Theologie. 11—52. — K. Müller: Philosophische Grundfragen der Theologie. 1—15. — B. Wald: Philosophie im Studium der Theologie. — K. Müller: Vernunft und Glaube. 1—14.1 1.1
Wie die Philosophie in die Theologie kommt
Funktionsbeschreibung. Zum Studium der katholischen Theologie gehört ein beträchtliches Stück Philosophie. Etwas salopp könnte man sie fürs Erste deren Hausteufel nennen. Teufel heißt auf Griechisch „diabolos“. Wenn man das ganz wörtlich übersetzt, heißt das: „Durcheinanderwerfer“. Das aber ist ein ziemlich treffender Name für das, was die Philosophie mitten in der Theologie zu tun hat: Sie wirft durcheinander, was man eben so denkt und meint. D.h. sie stellt die gängigen Vorurteile, das scheinbar sicher Gewusste, das Selbstverständliche in Frage, z.B.: Gibt es so etwas wie Wahrheit oder ist alles Trug? Wenn einer sagt: Alle sind Lügner! — ist dann dieser Satz wahr oder gelogen? Woher bekommen Gebote und Verbote ihre Bindekraft? Wie verstehe ich einen anderen oder gar eine alte Überlieferung und was kommt dabei alles ins Spiel? Woher weiß ich, dass ich mich meine, wenn ich „ich“ sage? Und was macht mein Wesen als Mensch aus — oder gibt es ein solches überhaupt nicht? Oder wenn ein Mensch betet — was tut er da eigentlich? Spricht er mit Gott oder macht er sich selbst etwas vor, um vor sich seine Verlorenheit im unendlichen Raum des Universums zu verbergen? Gibt es überhaupt etwas — und wenn es etwas gibt, warum ist dann nicht vielmehr nichts? Oder was muss es möglicherweise noch geben, wenn es das geben soll, was es zu geben scheint. Und wer oder was ist Gott? Eine alles bestimmende und begründende Wirklichkeit — oder nur ein Gedanke, den unsere Vernunft denken muss, weil sie eben so programmiert ist? Das sind einige der Fragen, die die systematische Philosophie aufwirft und deren Beantwortung durch die Philosophen und Philosophinnen aller Epochen die Philosophiegeschichte sich zum Thema macht. 1
Diese Kurzangaben zur weiterführenden Literatur beziehen sich jeweils auf die Literaturliste am Ende des Buches.
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1. VERNUNFT UND GLAUBE — ALLERERSTE ANNÄHERUNG
Christentum als Erkenntnis. Aber warum das alles mitten in der Theologie? Weil zum Christentum von Anfang an und auf herausragende Weise ein Nachdenken über das gehört, was geglaubt wird. Es verstand sich schon in seiner Entstehungsphase als Aufklärung und Erkenntnis und hat darum wesentlich auch die abendländische Form der Wissenschaften mit hervorgetrieben. In gewissem Sinn lassen sich die Spuren dieser kritischen Verpflichtung auf Wahrheit des Geglaubten bis ins Neue Testament zurückverfolgen. Man darf den Vers gewiss nicht theologischintellektuell überstrapazieren, aber wenn in 1 Petr 3,15 davon die Rede ist, die Glaubenden der jungen, von Verfolgern bedrängten Gemeinde sollten zur Verteidigung bereit sein einem jeden gegenüber, der von ihnen Rechenschaft über ihre Hoffnung verlangt, dann klingt darin sehr wohl mit, dass Hoffnung auch Gründe nennen kann. Nähe und Konflikt. Nun ist die Disziplin, die professionell mit der Stichhaltigkeit von Gründen oder Behauptungen befasst ist, die Philosophie. Von Anfang an fragt sie, ob das, was an Wahrheiten und Wirklichkeiten begegnet, sich so verhält, wie es erscheint. Sofern zum christlichen Glauben jenes schon erwähnte Gründe-Angeben gehört, eignet ihm eine geradezu natürliche Hinordnung für das philosophische Fragen und Denken. Das heißt allerdings nicht, dass darum zwischen beiden Seiten notwendig eitel Sonnenschein herrschen muss. Im Gegenteil: Konflikte waren programmiert. Zum einen fand sich die durchaus selbstbewusste philosophische Vernunft mit Ansprüchen konfrontiert, die sie mit den ihr geläufigen Kategorien beim besten Willen nicht zu erfassen vermochte — etwa im Fall der christlichen Rede von der Auferstehung Jesu. Freilich muss das nicht nur an der Philosophie liegen. Es könnte auch sein, dass die Christen da sprachlich und gedanklich mit Kategorien operierten, die dem, was sie eigentlich sagen wollten, nur sehr bedingt angemessen waren (aber das wäre für sich schon eine der typischen Fragen zwischen Philosophie und Theologie). Zum anderen empfanden Christen philosophische Positionen manchmal als auf eine Weise arrogant und damit selbstzufrieden, dass sie es für wenig fruchtbar hielten, mit ihnen noch in intensiveren Kontakt zu treten. Spuren solcher Nicht-Kommunikation finden sich auch bereits im Neuen Testament, besonders im ersten Korinther- oder noch deutlicher im Kolosserbrief. Nicht verschwiegen werden darf freilich über all dem, dass es frühchristlich genauso ein unmittelbares Anknüpfen an die Philosophie gab, am
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deutlichsten wohl im Einflusskreis des Johannesevangeliums — dem wird nachzugehen sein. Diese Mischung von Zuwendung zu und Vorbehalt gegen Philosophie hat sich in der Theologie genau besehen bis heute durchgehalten. Und trotzdem brachte es die Seite derer, die eine positive Verhältnisbestimmung zwischen christlichem Denken und Philosophie befürworteten, neben ihren immer wieder gelingenden ausdrücklichen Durchsetzungen zu einem heimlichen Gesamtsieg. Auch diejenigen, die der Philosophie mit Skepsis oder gar Ablehnung begegneten und begegnen, bedienen sich dabei des Instrumentars der Vernunft, also der Argumentation. Theologie als Wissenschaft. Diese Tatsache führt zu einem einzigartigen Phänomen: nämlich dem der christlichen Theologie. Selbstverständlich haben auch andere Religionen Reflexionskulturen ausgebildet: Die ägyptische Religion etwa kennt ein hochdifferenziertes System von Annahmen über Leben, Tod, Welt und Jenseits. Getragen wird das Ganze von einer bürokratischen Priester-Elite mit allen Schikanen. Das Judentum — ein anderes Beispiel — hat eine Theologie ausgebildet, die das, was sie zu sagen hat, in Form von Erzählungen entfaltet und festhält. Und auch innerhalb des Islam gab es lange Jahrhunderte (während des von uns so genannten Mittelalters) eine hochkarätige philosophischtheologische Reflexionskultur und gibt es mittlerweile wieder Strömungen, die eine wissenschaftliche Auslegung des Koran unternehmen. (→ → Bd. 1, Kap 2.1) In keiner anderen religiösen Tradition aber kam es von Anfang an bis heute zu derjenigen systematischen Entfaltung der Glaubensgehalte unter dem Richtmaß der Vernunft, wie sie die christliche Theologie repräsentiert. Man kann ohne Übertreibung sagen: Das Christentum beansprucht, in seiner Theologie ein Selbstverständnis vorzulegen, zu dessen Vernünftigkeit es keine Alternative gibt. Vernünftigkeit heißt dabei keineswegs: Alles, was aus christlicher Überzeugung an Geltungsanspruch erhoben wird, muss sich aus der Vernunft selbst ergeben. Gefordert ist nur, dass nichts, was christlich behauptet wird, der Vernunft widerspricht. Das schließt nicht aus, dass innerhalb dieser Tradition Überzeugungen als wahr behauptet werden, die die Reichweite der Vernunft überschreiten. Vernunft, die unbedingt kritisch ist, also Geltungsansprüche unangesehen ihrer Herkunft prüft, wird das auch in Bezug auf die eigenen Behauptungen tun. Und sie wird dabei entdecken, selbst von Grenzen geprägt zu sein. Seit Immanuel Kant,
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dem größten Philosophen neben Platon, ist endgültig klar: Es ist kein Widerspruch zur Vernünftigkeit der Vernunft, bestimmte Dinge nicht nur faktisch nie wissen zu werden, sondern mit der Möglichkeit zu rechnen, sie prinzipiell nicht wissen zu können. Also besteht die Möglichkeit, dass Behauptungen, die sich auf Übervernünftiges berufen, nicht notwendig unvernünftig sind. Aber auch das, was möglicherweise die Grenzen der Vernunft überschreitet, darf als es selbst nicht widervernünftig sein. D.h.: Auch das Übervernünftige muss sich von der Vernunft als ihr selbst nicht widersprechend nachvollziehen lassen. Das ist — sehr bündig gesagt — der Anspruch christlicher Theologie. Man kann sich diese Verwebung von Glauben und Denken, Theologie und Philosophie am besten durch Beispiele vergegenwärtigen. Ich wähle sie bewusst aus der Zeit an der Schwelle zwischen Spätantike und frühem Mittelalter, weil sich dort das Ineinander beider Größen geradezu im Embryonalzustand — weit unterhalb antiker oder neuzeitlicher intellektueller Ansprüche — beobachten lässt. Beispiel I: Ein Bischof hat Kummer. Mit dem Philosophieren wird nach Aristoteles’ Überzeugung immer dort angefangen, wo es etwas zum Staunen gibt. Oder etwas mehr ins Praktische gewendet und in Anlehnung an Wittgenstein gesagt: Philosophische Probleme kommen dort auf, wo sich jemand nicht auskennt. Das war schon am Anfang der okzidentalen Philosophie so, also bei den Vorsokratikern, aber nicht anders gilt es auch für das Aufkommen der deutschen Philosophie des Mittelalters — und aus deren Geburtsstunde stammt mein erstes Beispiel. Das Spezifische dabei besteht darin, dass das philosophieförderliche Sich-NichtAuskennen mit zum Teil handfesten praktisch-theologischen und kirchen- wie theologiepolitischen Herausforderungen im Rahmen der Christianisierung Deutschlands zu tun hat. Das ist der Grund, warum erste Spuren philosophischer Bemühung in dieser Region verblüffenderweise in Dokumenten auszumachen sind, die auf den zurückgehen, der den Ehrennamen „Apostel Deutschlands“ trägt: auf Bonifatius. Dieser Missionar angelsächsischer Herkunft hatte es in dem ihm anvertrauten Wirkungsgebiet nicht leicht: Die zum Christentum Bekehrten halten gleichzeitig an ihren frühen religiösen Praktiken fest, betrunkene Bischöfe führen Räuberbanden an, offenkundig unausgelastete Diakone pflegen Gruppensex („vier oder fünf oder noch mehr Konkubinen auf dem Nachtlager habend“, wie Bonifatius in einem seiner Briefe lamentiert). Jedenfalls stellt ihn die Situation in seinem
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Missionsgebiet dauernd vor Probleme, für deren Lösung er sich auf keinerlei Präzedenzfall oder autoritative Tradition stützen kann, d.h. er muss nüchtern nachdenken. Da hatte es z.B. ein bayrischer Priester mit seinem Lateinunterricht nicht allzu genau genommen und spendete die Taufe mit der Formel „Baptizo te in nomine patria et filia et spiritus sancti“ („Ich taufe dich im Namen der Heimat, der Tochter und des Heiligen Geistes“). Bonifatius erfährt davon und fragt sich: Waren die Taufspendungen nun trotz der verballhornten Formel gültig oder nicht? Bonifatius entschied auf „Ja“, muss also gedacht haben, dass die Gültigkeit des Sakraments nicht an der richtig ausgesprochenen Formel hänge, sondern daran, dass der gute Pfarrer das Richtige tun wollte, also an der Intention. Als er anschließend nach Rom Rapport erstattete, bekam er einen gewaltigen Rüffel von Papst Zacharias I., weil er von der Tradition abgewichen sei (was aber Bonifatius nicht so sehr beeindruckt zu haben scheint). Das ist auch der Grund, warum ich auf diese augenscheinlich drittrangige Episode zu sprechen komme: In ihr bereits spiegelt sich nichts anderes als das konfligierende Verhältnis von Tradition und Selberdenken, von Autorität und Vernunft. Nun heißt das aber keineswegs, Bonifatius sei durch und durch ein Advokat der ratio oder gar ein Freund philosophischer Spekulation gewesen. Er konnte auch ganz anders — nämlich starr auf die Tradition pochen. Das verrät der vermutlich erste philosophische Streit, der auf deutschem Boden ausgetragen wurde. Protagonisten waren Bonifatius und der spätere Bischof Vergil (oder Virgil) von Salzburg. Bonifatius war nämlich zu Ohren gekommen, dass Vergil die Existenz von so genannten Antipoden annahm, zeigte das dem Papst an, was der wiederum zum Anlass nahm, Vergil zu verurteilen. Was aber sind „Antipoden“ und was haben sie mit der Philosophie zu tun? Zu jener Zeit herrschte die weit verbreitete Ansicht, dass die Erde eine Kugelform habe. Das wirft natürlich auch die Frage nach den Bewohnern der eigenen gegenüberliegenden — nämlich der südlichen — Halbkugel auf, die man „antipodes“ nennt. Schon in Platons Dialog Timaios ist davon die Rede, jedoch dürfte die Fragestellung durch Macrobius’ Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis ins Mittelalter gelangt sein. Macrobius sieht jede Halbkugel in drei klimatische Zonen unterteilt, von denen nur die jeweils mittlere — diejenige zwischen arktischer und äquatorialer — bewohnbar sei. Und warum sollten dann nicht auf der anderen Halbkugel jene Antipoden leben? Der Widerstand gegen diese Annahme speiste sich aus der Autorität der Kir-
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chenväter und entsprang einem eigenartig geographischtheologischen Doppelargument. Klassisch findet es sich in Augustinus’ großem geschichtstheologischem Werk De civitate Dei: Die Äquatorzone mit ihrem tropischen Klima ist undurchdringlich. Gäbe es dort also Menschen, könnten sie nicht von Adam abstammen. Daraus folgte, dass sie von der Erbsünde nicht tangiert seien und also auch Christus nicht für sie gestorben wäre. Das aber steht im krassen Widerspruch zur Universalität der biblischen Rede von Erlösung — also kann es keine Antipoden geben. Wenn nun jemand wie Virgil von Salzburg Antipoden annimmt, heißt das, dass er kosmologische Thesen aus dem Horizont platonischen Denkens der Autorität der Bibel und der Kirchenväter entgegenstellt — und zwar nicht aus Übermut, sondern vor dem Hintergrund seiner allenthalben bekannten wissenschaftlichen Kompetenz als Geometer. Wiederum also geht es um das Verhältnis von Vernunft und Glaube — und zwar so fundamental, dass das Problem über Jahrhunderte hin immer wieder von neuem aufbrach und sich gerade in der Frage nach der Existenz der Antipoden verdichtete. Formal gefasst steht dahinter, dass es bereits so früh zur Konfrontation zwischen zwei Natur-Begriffen kommt: Natur zum einen als eigengesetzliches Phänomen — erstaunlich präzis bereits in den antiken, heidnischen Quellen beschrieben und analysiert — und Natur zum anderen als vom Schöpfer nach seinem unergründlichen Willen strukturiertes Symbolsystem. Das aber ist ein philosophisches Konfliktfeld, das in der deutschen „Provinz“ eröffnet wurde, jedoch mehr oder weniger direkt das gesamte mittelalterliche Denken herausgefordert und weit über das Mittelalter hinausgewirkt hat. Besonders verdichtet hat sich die Diskussion dabei in einer langanhaltenden philosophiekritischen Tendenz, die untrennbar mit einer spezifischen wissenssoziologischen Situation verkoppelt ist, nämlich dem monastischen, also in den Klöstern aufkommenden und dort stark gemachten Vorbehalt gegen das Philosophieren. ( Hermeneutik) Beispiel II: Das Kreuz mit der Vorsehung. Im Zentrum des zweiten Beispiels steht derjenige, der als erster theologischer Systematiker im strengen Sinn des Titels gelten kann. Dieser kommt in Gestalt des Johannes Scotus Eriugena aus Irland (darauf bezieht sich der Beiname Eriugena, der sich von „Erin“ als dem alten Namen für „Irland“ ableitet; das „Scotus“ steht ebenfalls für Irland unter Bezug auf dessen lateinischen Namen „Scotia maior“). Sein Hauptwerk trägt den griechischen Titel Periphyseon, latei-
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nisch De divisione naturae (Über die Einteilung der Natur) und hat ihm den Ruf eingetragen, so etwas wie ein Hegel des 9. Jahrhunderts zu sein, d.h. jemand, dem es gelingt, das Gesamt der Wirklichkeit in sein philosophisches Konzept einzubegreifen (wobei Hegel selbst ihm Anerkennung als einem wahrhaften Anfang der Philosophie zollt).2 Der Streit drehte sich um das Problem der so genannten Prädestination, also Vorherbestimmung menschlichen Geschicks durch Gott. In Gang gesetzt wurde dieser „Karolingische Prädestinationsstreit“ durch die Opposition Gottschalks von Orbais gegen seinen Lehrer Hrabanus Maurus. Zur Debatte steht die Frage: Gibt es eine „gemina praedestinatio“ (doppelte Prädestination), wie Gottschalk meint, also eine göttliche Vorherbestimmung der einen zur Seligkeit und der anderen zum Untergang — und wenn ja, was ist dann mit dem freien Willen und wozu braucht es dann die Sakramente, namentlich die Taufe und die Buße sowie einen sittlichen Lebenswandel einschließlich der guten Werke? Interessant aus philosophischer Sicht nehmen sich dabei die jeweiligen Argumentationsstrategien aus: Hrabanus sucht einen Autoritätsbeweis durch Rekurs auf die Tradition zu führen; Gottschalk tut das ebenfalls, rekurriert aber zudem auf die durchsichtige Wahrheit seiner Ansicht, also die logische Konsistenz. Eriugena, als Fachmann hinzugezogen, geht noch einen dimensionalen Schritt weiter: Wenn Gott wirklich Freiheit und Gnade schenkt, wie die Offenbarung bezeugt, kann es keine notwendige Vorherbestimmung geben. Diesen Gedanken untermauert er systematisch mit Hinweis darauf, dass Gott als wesenhaft sich mitteilende Güte nur Gutes wollen, also den Menschen nicht zu Leid und Untergang vorherbestimmen könne — und überdies das Böse nichts für sich, sondern lediglich Mangel an Gutem sei. Und jetzt die Pointe: Obwohl es beim späten Augustinus klare Belege für die doppelte Prädestination gibt, zieht Eriugena Belege aus dem frühen Augustinus heran, die seine Argumentation stützen. Er beruft sich gegen Augustinus auf Augustinus, fordert, die Thesen des späten Augustinus allegorisch (übertragen) auszulegen und legt als Deutungskriterium für die Geltung der Traditionsstücke die Messlatte der Vernunft an die Autorität an. Eriugena wörtlich in Periphyseon:
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Vgl. HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: DERS.: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 20 Bänden. Hg. v. Hermann Glockner. Bd. 19. Stuttgart 1959. 160.
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„Wirkliche Autorität scheint mir nichts anderes zu sein als kraft der Vernunft aufgedeckte Wahrheit.“3
Was natürlich auch heißt: Sozusagen kategoriale, also in Gestalt von Sätzen der Alten überlieferte Autorität gewinnt ihre Identität als Autorität aus ihrer Übereinstimmung mit der kraft Vernunft entdeckten Wahrheit. Eriugena war sich dessen so sicher, dass er systematisch gleichsam noch eins draufsetzte und seinen Überlegungen die Bemerkung anfügte, es gebe ohnehin überhaupt keine Prädestination durch Gott, weil Gottes wesentliche Ewigkeit logisch in keiner Weise etwas mit einem „Vorher“ — dem „prae“ der Bestimmung — zu tun haben könne. Die Expertise brach ihm das Kreuz. Der Blasphemie wurde er geziehen, 19 Sätze aus seinem Gutachten erhielten das Etikett „commentum diaboli“, 1210 erging bei Androhung der Todesstrafe ein Verbot, sein Buch De divina praedestinatione auch nur zu besitzen. Und doch hatte Johannes Scotus eigentlich nur konsequent umgesetzt, was kein anderer als der große Augustinus gefordert hatte: die Logik so intensiv wie möglich mit der Schriftauslegung zu verbinden. So entsteht zum einen der Basiszug scholastischen Philosophierens. Zum anderen zeichnet sich in dem eben beschriebenen Konflikt um Eriugena das Grundmuster einer Konstellation ab, die die ganze mittelalterliche Philosophie und Theologie bald in vehementer Ausdrücklichkeit bald untergründig durchherrscht: der Konflikt darum, wie viel Vernunft der Glaube denn braucht oder auch nur verträgt. Nach Ende des weitgehend durch philosophischen Stillstand geprägten 10. Jahrhunderts bricht der durch die EriugenaKontroverse präfigurierte Konflikt in Gestalt des Streits zwischen Dialektikern und Antidialektikern auf, also denen, die einem Einbezug der Logik zur systematischen Entfaltung des Glaubens das Wort reden, und solchen, die das ablehnen. Also: Philosophie in der Theologie oder nicht? Noch ein drittes Beispiel, an dem die Brisanz des Prozesses zur Gänze hervorbricht: Beispiel III: Eucharistie und Logik. Das lässt sich am so genannten Abendmahlsstreit des 11. Jahrhunderts verfolgen, den in erster Kampflinie Berengar von Tours und Lanfrank — ursprünglich miteinander befreundet — ausfochten. Das Problem entsteht ganz einfach dadurch, dass die Philosophie, gern „Dialektik“ genannt, nicht mehr nur auf dunkle Bibelstellen angewandt wird, 3
ERIUGENA: Periphyseon. I, 69.
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sondern auf Kernsätze christlicher Praxis und Gottrede. Im Abendmahlsstreit geht es um das rechte Verständnis der liturgischen Einsetzungsworte der Eucharistiefeier, wie sie neutestamentlich normativ überliefert sind: „Hoc est enim corpus meum“ — Jesus nahm Brot, brach es, reichte es seinen Jüngern und sprach: „Das ist mein Leib für euch.“ Die Frage jetzt: Wie muss man verstehen, dass das Brot Leib Christi ist? Die philosophisch gängige, auf Aristoteles zurück gehende Überzeugung ist, dass alles, was ist, aus Substanz und Akzidenzien besteht, aus etwas Grundlegendem und seinen Eigenschaften. Ist nun im gegebenen Fall der Leib Christi substanziell da, hat also eine Wesensverwandlung stattgefunden (statt eines Stücks Brot der Leib einer Person), oder ist Brot substanziell da oder beides oder ist Brot ein Akzidens (eine Eigenschaft) des Herrenleibes? Nun liegt ersichtlich substanziell Brot vor, aber gleichzeitig gilt liturgisch: Substanziell ist auch der Leib Christi gegenwärtig. Nach den Regeln der Logik folgt daraus: Der Leib Christi ist Brot — „ist“ im strengen Sinn der Identität. Genau das aber ist theologisch nicht gemeint, weil der Leib Christi nicht aus Brot ist. Aus dieser Aporie gibt es nur zwei Wege: Entweder es lässt sich ein Abendmahlsverständnis finden, das diesen Widerspruch gar nicht aufkommen lässt, oder aber — radikalere Möglichkeit: Die Gültigkeit der logischen Schlussregeln wird in Frage gestellt und damit die Zuständigkeit und Relevanz der Dialektik, also der Philosophie insgesamt für die theologischen Probleme. Genau diese beiden Wege beschreiten Berengar und Lanfrank exemplarisch. Ersterer löst den Widerspruch dadurch, dass er mit Berufung auf Augustinus, Ambrosius, Eriugena und andere Brot und Wein als „figurae“ und „similitudines“ — als Symbol und Gleichnis — für Leib und Blut Christi auffasst. Lanfrank seinerseits wirft Berengar vor, damit den wahren Glauben zu verlassen: „Du flüchtest in die Dialektik, während du die Autoritäten aufgibst. Für mich, der ich in Bezug auf das Mysterium des Glaubens einschlägige Sachen zu hören und zu beantworten habe, ziehe ich vor, heilige Autoritäten zu hören und als Antwort zu zitieren, als dialektische Vernunftgründe.“4
Anders gesagt: Das Problem wird mit Rekurs auf entsprechende Autoritäten durch Rücknahme ins „Mysterium“ stillgestellt (übrigens eine bei manchen Theologen bis heute gepflegte Strategie, wenn sie nicht mehr weiter wissen), und die Dialektik wird zum
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LANFRANK: De corpore et sanguine Domini. Patrologiae Latinae. Tomus CL. Sp. 407-442. Hier Sp. 416 D. [Übersetzung K. M.].
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Fluchtweg deklariert. Berengar lässt das so nicht stehen und bedient sich eines — nota bene! — theologischen Gegenarguments: „Wenn ich, um die Wahrheit offenzulegen, dialektisch spreche, so bedeutet das nicht, daß ich aus einer Notlage heraus zur Dialektik Zuflucht nehme, der, wie ich sehe, die Weisheit und Kraft Gottes keineswegs fremd ist, sondern daß ich meine Gegner nach allen Regeln der Kunst widerlege. Es ist Zeichen eines großen Verstandes, wenn man in allem zur Dialektik seine Zuflucht nimmt; denn Zuflucht zu ihr bedeutet Zuflucht zur Vernunft; und wer sich nicht dorthin wendet, verläßt, da er in der Vernunft nach Gottes Bild geschaffen worden ist, seine Würde, so daß er nicht mehr täglich nach Gottes Bild erneuert werden kann.“5
Das ist natürlich ein fundamentaler Zug: Berengar erblickt in der endlichen Vernunft die konkrete Ausdrucksgestalt der biblisch bezeugten Gottebenbildlichkeit des Menschen und sieht diesen im Maß des Vernunftgebrauchs sein gottgewolltes Wesen realisieren, was natürlich impliziert, dass auch und gerade der Gebrauch der Dialektik im Blick auf theologische Probleme eine unmittelbare Legitimation qua gottgewollte haben muss. Lanfrank bietet gegen Berengar zwar ein paar biblische Belege aus der paulinischen Tradition auf, die sich gegenüber menschlicher Weisheit — was die Dinge Gottes betrifft — sehr skeptisch äußern. Aber offenkundig hat er gespürt, dass er Berengars Argument nichts wirklich Überzeugendes entgegensetzen kann und beendet darum den Disput in der Sache mit einer Stellungnahme zur Person: „Lieber ein Idiot zusammen mit den Glaubenden als ein Häretiker mit Dir!“6
Und dann griff das übliche Reaktionsmuster: Berengars Ansicht wurde lehramtlich verurteilt. In der Sache selbst ist es zu keiner weiteren Klärung gekommen — bis heute übrigens: In der Folgezeit wurde der Begriff der „Transsubstantiation“ entwickelt — aber was klärt der genau? Im Grunde handelt es sich dabei um einen antiaristotelischen Kampfbegriff an einer theologischen Frontlinie. „Anti“-aristotelisch deswegen, weil mit Transsubstantiation eine Veränderung der Substanz unter völligem Gleichbleiben der Akzidenzien unterstellt wird. So kann man durchaus denken, nur setzt das neben der bereits erwähnten Infragestellung der syllogisti5
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BERENGARIUS „Turonensis“: Rescriptum contra Lanfrannum. Corpus Christianorum. Continuatio mediaeualis. LXXXIV (Brepols 1988). I, Z. 1788ff. [Übersetzung K. M.]. LANFRANK: De corpore et sanguine Domini (Anm. 4). Sp. 414 C. [Übersetzung K. M.].
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schen Regeln der Dialektik zugleich für den wichtigen Bereich des Sakraments eine völlig andere Wirklichkeitsbeschreibung (Ontologie) voraus als die, deren man sich zur Beschreibung der Welt sonst bedient. Frage: Kann angesichts eines solchen Hiats zwischen zwei Ontologien das eucharistische Sakrament überhaupt noch das sein, was es sein will: nämlich welthaft greifbar werdende Antizipation der eschatologischen Vollendung der Schöpfung, sofern die so genannte „Wandlung“ der Gaben vermittelt durch die Eucharistie feiernde Gemeinde auf die Verwandlung der Welt in die Basileia — das Gottesreich — hinauswill? Formal gesehen drehte sich der Eucharistiestreit um das Verhältnis von Autorität und autonomer Vernunft. Berengar hat dabei ohne Zweifel — partiell mit Augustinus und speziell mit Eriugena im Rücken — der Vernunft einen Primat eingeräumt, ohne darum die Tradition herabmindern zu wollen. Augustinus hat das Verhältnis wohl noch ein Stück dynamischer gefasst, ohne es freilich als solches an konkreten Problemstellungen zu bewähren: Er war der Überzeugung, dass die Vernunft unbeschadet ihres Vorrangs wegen der anfänglichen Schwäche und Ungebildetheit des Menschen durch die Autoritäten erst einmal zu sich gebracht werden müsse, um ihre volle Leistungsfähigkeit entfalten zu können. Rückkoppelung. Ein anderer, Anselm von Canterbury, von dem wir bald ausführlich zu reden haben werden, hat diese Wechselseitigkeit von Autorität und Tradition systematisch ausgefaltet und ist damit zu einer Position völlig neuen Zuschnitts gekommen. Für ihn stellt sich einerseits der Glaube dem Maßstab der kritischen Vernunft — und den formuliert und entfaltet die Philosophie. Nur durch ihre Beziehung zur Philosophie kann die Theologie also auf kritische Weise ihren Anspruch einlösen. Geschieht das wirklich, dann kommt es aber andererseits zu einer aufregenden Rückkoppelung: Zum Zentrum der christlichen Überlieferung gehört nämlich auch die Überzeugung, dass der Mensch, das Leben, die Welt angeschlagen seien durch das, was schon die Bibel „Sünde“ nennt (so steht das bereits auf den ersten Seiten der Bibel, im Buch Genesis Kap. 3). Sünde meint dabei — sehr vorläufig gesagt — eine willentliche Verweigerung dem gegenüber, was man ist und darum auch sein soll. Würde sich diese Behauptung als begründet und damit als vernunftgemäß erweisen, dann könnte jenes Angeschlagensein natürlich auch die Vernunft selbst betreffen. Sie könnte sich selbst in gewisser Hinsicht entzogen und verborgen sein. Ist Vernunft wirklich kritisch, dann wird sie umso radikaler
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sich selbst kritisch prüfen, also sich selbstkritisch vergewissern, was sie wirklich leisten kann, ob sie möglicherweise durch eigene Schuld verdunkelt ist und was geschehen müsste, um wieder die volle Leuchtkraft zu gewinnen. Und das Ergebnis einer solchen Selbstprüfung hätte dann natürlich auch Konsequenzen für die Vernunftansprüche nicht nur der Philosophie, sondern aller Wissenschaften insgesamt. So sehr sich die Theologie seitens der Vernunft und der Wissenschaften kritisch fragen lassen muss, so sehr hat eine begründungsbereite Theologie von sich aus der Vernunft und den Wissenschaften etwas zu sagen. Wenn Vernunft und Glaube, Theologie und Philosophie in einer solchen wechselseitigen Beziehung stehen, dann stellt sich natürlich sofort eine sehr praktische Frage, nämlich: Wie man denn überhaupt in die Philosophie hineinkommt, ohne die es offensichtlich von innen gesehen keine Theologie geben kann. Und die Antwort auf diese Frage ist verblüffend einfach: Wer fragt, wie man in die Philosophie hineinkommt — ist schon drin!
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Wie man in die Philosophie findet
Am Anfang: Erotik. Zu fragen, wie man in die Philosophie hineinkommt, ist etwas typisch Philosophisches. Warum, das lässt sich ganz gut am Namen „Philosophie“ selbst erhellen: „Philosophie“ heißt wörtlich übersetzt „Liebhaben der Weisheit“. Als Liebhaberin oder Liebhaber bezeichnen wir jemanden, die oder der nach etwas sucht und strebt, das sie oder er noch nicht haben. Bezeichnenderweise ist bei Platon der Eros so etwas wie der Patron der Philosophie und diese selbst gleichsam etwas Erotisches: Ein Drängen und Ziehen, das auf viele — und weiß Gott welche — Umwege treibt, weil da etwas (bzw. jemand) ist, der mich fasziniert, in Bann schlägt, um dessentwillen ich Risiken eingehe, vielleicht sogar Dinge wage, die mich in anderen Augen zum Dummkopf machen. Aber da ist etwas, das fasziniert mich. „Faszinieren“ kommt vom lateinischen „fasces“ — Rutenbündel —, also: Da bindet, ja fesselt mich etwas. Nichts ist mir zuviel, um es zu gewinnen. Das bedeutet: Philosophieren hat überhaupt nichts mit Schlausein oder besonderem Wissen zu tun. Vielmehr mit dem Gegenteil: Wer nach der Weisheit strebt, tut das ja, weil sie oder er sie — die Weisheit — noch nicht hat. Philosophie ist kein Wissen, sondern Wissen darum, dass es etwas zu wissen gibt, was ich noch nicht weiß. Deshalb greift Philosophie auch notwendig nach dem aus, was es überhaupt und im Ganzen zu wissen gibt. Als nach Wissen verlangendem Wissen von Nichtwissen gilt ihr Interesse allem Wissbaren schlechthin. Ihr Gegenstand ist darum das, was ist, sofern es ist — das Seiende. Aristoteles, einer der Großen der antiken griechischen Philosophie, spricht vom „Dieses-da“ oder vom „Was-es-istdies-zu-sein“. Nun kann Seiendes jemanden auf mehrfache Weise zur Philosophin, zum Philosophen machen, z.B. so: Einstieg I: Staunen. Ich gehe meiner Wege, sehe, höre, spüre oder lese etwas, und was ich da wahrnehme oder aufnehme, lässt mich stutzen. Ich halte inne, unterbreche das, was ich soeben tat. Irgendetwas an diesem mir da begegnendem Seienden — sei es ein Ding, sei es ein Gedanke — überrascht mich. Ich hatte nicht erwartet, etwas Bestimmtem an dem und dem Ort oder in der und der Verfassung zu begegnen, bin verblüfft, dass etwas — z.B. ein Gedankengang oder eine Erzählung — die und die Wendung nimmt: Ich staune. Verwundert nehme ich zur Kenntnis, dass das, was ich bislang über etwas wusste oder dachte oder von ihm erwartete, gar nicht alles war, was ich darüber wissen kann. Das,
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was ich bislang über jenes Seiende wusste, ist deswegen nicht falsch. Nur: Es gibt noch mehr zu wissen. Ich verknüpfe das bereits Gewusste mit dem mir neu zu Kenntnis Gekommenen — und werde mich im gleichen Moment zu fragen haben: Ist damit bereits alles über das in Frage stehende Seiende Wissbare gewusst? Oder verbirgt sich hinter dem Horizont, den mir das Staunen gleichsam aufgespannt hat, noch viel mehr und ganz anderes, das es auch noch zu wissen gäbe, wenn ich mir nur die Mühe des weiteren Fragens machte? Ist das Philosophieren solchermaßen einmal durch ein Ereignis des Staunens in Gang gebracht, kann es gar nicht anders, als nach dem letzten Woher und Wohin, also nach dem Ganzen dieses Seienden zu fragen und im Allerletzten über dieses konkrete Seiende hinaus sogar nach dem Ganzen der Wirklichkeit. Das verhält sich deswegen so, weil es mit dem Fragen selbst eine ganz eigenartige Bewandtnis hat: Nach etwas fragen kann ich nur, wenn ich von dem Gefragten bereits irgendwie etwas weiß. Wüsste ich von ihm radikal gar nichts, könnte und würde ich auch nicht nach ihm fragen: Dann wäre einfach nichts da, in Bezug auf das eine Frage kommen könnte; ich wüsste einfach nicht, dass es etwas zu fragen gibt und wonach zu fragen wäre. Obwohl ich nach etwas frage, weil ich mich bezüglich seiner als unwissend gewahre, muss ich schon von diesem Etwas wissen, um überhaupt mit dem Fragen zu beginnen. Wenn zutrifft, dass die Möglichkeit der Frage nach etwas daran hängt, dass ich von diesem etwas schon etwas weiß, also etwas von ihm erkannt habe, folgt daraus noch ein Weiteres: Erkennen kann ich etwas nicht einfach so, sondern erkennen heißt immer: Etwas als etwas, als dies und nicht jenes, als so und nicht anders zu erkennen. Das geht aber nur, wenn ich im Akt des Erkennens über das erkannte Ding gleichzeitig schon hinaus bin. Man könnte sagen: Um etwas als Grenze zu erkennen, muss ich sozusagen mit einem Bein schon jenseits dieser Grenze stehen, sonst könnte ich sie gar nicht als Grenze erkennen. Ich wüsste nicht, dass da noch etwas kommt und wüsste genaugenommen überhaupt nichts, weil man etwas nur als etwas, also als Bestimmtes wissen kann — und Bestimmung gibt es nur durch Verneinung: „so und nicht anders.“ Baruch de Spinoza brachte diese Eigentümlichkeit allen Erkennens auf die Formel:
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„determinatio negatio est“ 7 — „Bestimmung [ist; K. M.] Negation“8.
Um etwas in seinem Etwas-Sein, seinem So-und-nicht-anders-Sein zu erkennen, muss ich also irgendwie auch schon um eben jenes wissen, das im Vergleich zu dem von mir anfänglich Gewussten das Andere ist. Das wiederum zieht nochmals etwas nach sich: Wenn alles Fragen ein zumindest anfängliches Wissen, also Erkannthaben voraussetzt, Erkennen aber immer schon ein Hinaussein über das jeweils Erkannte impliziert — wo endet dann dieses Hinaussein eigentlich, dieser Vorgriff, wie manche auch dafür sagen? Oder endet er gar nicht? Er muss enden, denn: Wenn er nicht endete, wenn das fragend-wissende Hinaussein über das je befragtgewusste Etwas hinausginge und über das dabei in Blick genommene andere Etwas wieder und das andere Etwas des anderen Etwas wieder usw., dann entstünde ein Rückgang ins Endlose, ein „infiniter Regress“, wie das Fachwort dafür lautet. In einem solchen Regress verpuffte alles Fragen und Erkennen buchstäblich. Fragend-erkennend glitten wir sozusagen von den je konkret befragt-gewussten Seienden ab ins Endlose hinein. Im Regress wird das zu Erkennende gleichsam zerdacht. Soll es also überhaupt Wissen von etwas als etwas geben, kann der fragend-wissende Vorgriff nicht in einen Regress führen, er muss enden. Und wo? An etwas Bestimmtem, also durch Verneinung Umschriebenem, also Begrenztem, also Endlichem kann er nicht enden. Somit bleibt nur: Der Vorgriff muss enden an etwas, das an sich selbst unbegrenzt, also unendlich ist. Unser erkenntnisimplizierendes Fragen nach dem Ganzen eines Seienden und dann auch nach dem Ganzen der Wirklichkeit findet seinen es selbst ermöglichenden Halt im Vorgriff auf ein Unendliches, also etwas, das von seinem Begriff her so verfasst ist, dass es kein Hinaussein über es mehr geben kann, sofern es unendlich ist. Haben wir damit im Ausgang vom Staunen über die Analyse der Logik des Fragens und Erkennens die Existenz eines Unendlichen bewiesen? Nein: Wir haben nur gezeigt, wie man vom Grundakt des Staunens wie von selbst zu den letzten Möglichkeiten unserer menschlichen, endlichen Vernunft geführt wird. Der Gedanke des Unendlichen ist ihre letzte, ihre größte Möglichkeit. 7
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SPINOZA, Baruch de: Opera IV. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. v. Carl Gebhardt. Heidelberg 1924. 240 (50. Brief an Jarig Jelles vom 2.6. 1674). SPINOZA, Baruch de: Briefwechsel. Übers. v. Carl Gebhardt. 3. Aufl. Hamburg 1986. 210.
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Und genau diesen Gedanken muss die Vernunft fassen, wenn das, was mit dem Staunen beginnt und sich dann in einer Dynamik fortschreitenden Fragens und Erkennens vollzieht, als vernünftig gelten soll. Aber nicht erwiesen ist, dass es darum notwendig jenes Unendliche wirklich geben muss. Es kann es geben. Es könnte aber auch sein, dass unsere menschliche Vernunft so strukturiert — so „programmiert“ — ist, dass sie in der beschriebenen Weise denken muss, ohne dass ihrem allem anderen haltgebenden Schlussgedanken eine Wirklichkeit entspräche — was natürlich dann auch hieße, dass es sich auch bei ihrer Erkenntnis von konkretem Seienden und letztlich sogar beim Fragen um Illusionen handelte. Friedrich Nietzsche hat so gedacht, ein Philosoph von höchstem Einfluss in der Philosophie der Gegenwart. In einem seiner Werke heißt es: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“9
Nietzsche will sagen: Unsere Vernunft ist derart von Täuschungsquellen durchherrscht, dass sie keine Chance hat, sich darüber selbst aufzuklären. Sie geht mit dem, was sie für wahr und wirklich hält, nur dem eigenen Bauplan auf den Leim. Sind wir also letztendlich getäuschte Täuscher, wenn wir Philosophie betreiben? Getäuschte, solange wir den Trug der Vernunft nicht durchschauen, und zusätzlich Täuscher, wenn wir — z.B. von Nietzsche — auf die Täuscherin Vernunft aufmerksam gemacht, trotzdem weiter fragend-erkennend philosophisch denken? Das Vertrackte an Nietzsches Behauptung: Er muss sie überhaupt nicht beweisen. Es reicht, die These von der trügerischen Vernunft als bloße Möglichkeit in den Raum zu stellen — und die Vernunft wird zumindest die Frage, ob es sich nicht tatsächlich so verhalten könnte, nicht mehr los. Vielen heute gilt das als das letzte Wort der Philosophie — und damit als ihr Ende. Und sie sind gar nicht unglücklich darüber. Es lebt und redet sich in vielem leichter, wenn man sich mit der Fra9
NIETZSCHE, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: DERS.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 1. 2. Aufl. München; Berlin; New York 1988. 873-890. Hier 880-881.
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ge, was denn wahr und wirklich ist, nicht herumzuschlagen braucht. Einstieg II: Zweifeln. Es gibt aber auch noch einen ganz anderen Weg, auf dem mich die Begegnung mit Seiendem ins Philosophieren zieht: Ich gehe meiner Wege, sehe, höre, spüre oder lese etwas, und was ich da wahrnehme oder aufnehme, lässt mich stutzen. Ich halte inne, unterbreche das, was ich soeben tat. Irgendetwas an diesem mir da begegnendem Seienden — sei es ein Ding, sei es ein Gedanke — kommt mir komisch, irgendwie verdächtig vor. Immer wieder erlebe ich, dass ich mich in dem, was ich wahrgenommen habe, täuschte, oder dass sich das, was ich von anderen übernahm, als falsch herausstellte. Könnte es dann aber nicht genauso gut sein, dass es sich auch bei dem, was ich bislang für selbstverständlich, wirklich und wahr hielt, um Trug handelt? Schon längst erzähle ich Ihnen keine eigene Überlegung, sondern das, was René Descartes — einer der Gründerväter der neuzeitlichen Philosophie — in der ersten seiner Meditationes de prima philosophia in Erwägung zieht. Und wenn ich schon Anlass habe zu zweifeln: Könnte es dann nicht auch sein, dass Gott mich so geschaffen und gewollt hat, dass ich mich über die Existenz von Himmel, Erde, Gegenständen und selbst die Existenz der eigenen Hände und Füße täusche? Wo kann das Zweifeln aufhören, wenn es einmal angefangen hat? Kann es überhaupt an eine Grenze kommen? Um diese Frage zu beantworten entwickelt Descartes ein Denkexperiment: Angenommen, nicht ein allgütiger Gott — an den Descartes glaubt —, sondern ein verschlagener Lügengeist regiere die Welt, und der setze alles daran, mich in allem, was überhaupt möglich ist, zu täuschen. Was geschieht dann? Jetzt Descartes wörtlich: „Ich setze also voraus, daß alles, was ich sehe, falsch ist, ich glaube, daß nichts jemals existiert hat, was das trügerische Gedächtnis mir darstellt: ich habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort sind nichts als Chimären. Was also bleibt Wahres übrig? Vielleicht nur dies eine, daß nichts gewiß ist. Aber woher weiß ich denn, daß es nichts anderes als alles bereits Aufgezählte gibt, an dem zu zweifeln auch nicht der geringste Anlaß vorliegt? Gibt es etwa einen Gott, oder wie ich den sonst nennen mag, der mir diese Vorstellungen einflößt? — Weshalb aber sollte ich das annehmen, da ich doch am Ende selbst ihr Urheber sein könnte? Also wäre doch wenigstens ich irgend etwas? Aber — ich habe bereits geleugnet, daß ich irgendeinen Sinn, irgendeinen Körper habe. Doch hier stutze ich: was soll daraus folgen? Bin ich etwa so an den Körper und die Sinne gefesselt, daß ich ohne
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sie nicht sein kann? Indessen, ich habe mir eingeredet, daß es schlechterdings nichts in der Welt gibt: keinen Himmel, keine Erde, keine denkenden Wesen, keine Körper, also doch auch wohl mich selbst nicht? Keineswegs; sicherlich war ich, wenn ich mir etwas eingeredet habe. — Aber es gibt einen, ich weiß nicht welchen, allmächtigen und höchst verschlagenen Betrüger, der mich geflissentlich stets täuscht. — Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er doch fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei. Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere’, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.“10
Dieser radikale, methodisch eingesetzte Zweifel stößt also aus seiner eigenen Logik an eine Grenze, nämlich das zweifelnde Ich und seine Existenz. Eine Vor- oder Urform dieses Arguments hatte bereits kein Geringerer als Augustinus formuliert: „Si enim fallor, sum.“ [Wenn ich mich täusche bzw. wenn ich getäuscht werde, bin ich; Übersetzung K. M.].11
Gemeint ist: Ich mag mich in allem, was mir begegnet, täuschen bzw. getäuscht werden. Darin, dass ich es bin, der sich täuscht bzw. getäuscht wird, kann ich mich nicht täuschen. Gibt Augustinus mit diesem Gedanken seiner Suche nach Gotteserkenntnis einen Ausgangspunkt im Subjekt, so sucht Descartes mit seiner Version des Arguments ein „fundamentum inconcussum“ — ein unerschütterliches Fundament für Erkenntnis zu sichern, nachdem die bisherigen Wahrheitsbürgen — namentlich die christliche Tradition — in dieser Funktion weggebrochen waren (warum das so war und wie es dazu kam, wird uns an späterer Stelle noch zu beschäftigen haben: (→ → Bd. 1, Kap. 8 u. 9) Bleibt die Frage: Was ist mit diesem aus dem methodischen Zweifel geborenen Gedanken gewonnen? Zunächst zumindest dies, dass Vernunft in einem bis an ihre Grenzen gehenden kritischen Selbstvollzug auf ein nicht nochmals hintergehbares Subjektsein als ihre eigene Trägerinstanz stößt. Nietzsche-Anhänger werden natürlich auch diesen Gedanken durch ihre Strategie des prinzipiellen Verdachts gegen Vernunft als solche obsolet zu machen suchen (und dabei gewiss manchen Erfolg verbuchen). Einstieg III: Sprechen. Verstärkung erfährt der augustinisch-cartesische Gedanke dagegen seit einiger Zeit von einer 10 11
DESCARTES, René: Meditationes de prima philosophia. II, 2-3. AUGUSTINUS: De civitate Dei. XI, 26.
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Seite, die das zunächst kaum hätte erwarten lassen: von Teilen der zeitgenössischen sprachanalytischen Philosophie. Das geschieht — nicht nur, aber doch sehr markant — in Gestalt der Fortschreibung einiger Gedanken Ludwig Wittgensteins. Man kann sie als eine nochmals andere Weise verstehen, wie Seiendes jemanden ins Philosophieren hineinzieht. Wittgenstein hatte in seinem (posthum veröffentlichten) Spätwerk Philosophische Untersuchungen folgende Beobachtung notiert: „Es gibt zwei Gebräuche des Wortes ‚ich’ (oder ‚mein’), die ich ‚Objektgebrauch’ und ‚Subjektgebrauch’ nennen könnte. Hier sind Beispiele von der ersten Art: ‚Mein Arm ist gebrochen’, ‚Ich bin zehn Zentimeter gewachsen’, ‚Ich habe eine Beule auf meiner Stirn’, ‚Der Wind zerweht meine Haare’. Und hier Beispiele von der zweiten Art: ‚Ich sehe so-undso’, ‚Ich höre so-und-so’, ‚Ich versuche, meinen Arm zu heben’, ‚Ich denke, daß es regnen wird’, ‚Ich habe Zahnschmerzen’.“12
Von außen sehen beide Gruppen von Sätzen gleich aus, beide folgen der gleichen Grammatik — und doch sind sie in einem grundverschieden, nämlich hinsichtlich der Weise, in der wir wissen, ob sie wahr sind. Nehmen wir Beispiele. (Lassen Sie sich nicht davon irritieren, dass die Beispiele der analytischen Philosophie meist etwas gewöhnungsbedürftig — um nicht zu sagen: skurril — erscheinen; das ist keine Marotte, sondern dahinter steht die Regel, dass sich durch die Analyse eines Extremfalls die Struktur des Normalfalls erhellen lässt, die man ansonsten leicht übersähe.) Nun also unser Beispiel: Jemand betritt einen Raum und erschrickt, weil er in einem Spiegel sieht, dass er an der Stirn blutet. Er fasst sich an die Stirn, ruft „O Gott, ich blute“ — aber da ist nichts. In dem Augenblick bemerkt er, dass es sich bei der blutenden Gestalt im Spiegel um seinen eineiigen Zwillingsbruder handelt, der exakt die gleiche Kleidung trägt und — für den Eintretenden nicht sichtbar — in einem Teil des Raumes steht, der im Spiegel reflektiert wird. Zu wissen, ob der Satz „Ich blute“ wahr ist, setzt die Kenntnis einer Person voraus, die ich als eine ganz bestimmte identifiziere. In unserem Fall wäre dies der Satz „Ich blute“, wenn der Eintretende an seiner Stirn, als er sie berührte, Blut gefunden hätte; damit hätte er sich als den Blutenden identifiziert. Das ist der Objektgebrauch von „ich“, der mit Identifikationskriterien verbunden ist. Jetzt das Gegenbeispiel: der Satz „Ich habe Zahnschmerzen“. Äußerlich unterscheidet er sich nicht von dem „Ich blute“. Doch wissen 12
WITTGENSTEIN, Ludwig: Das Blaue Buch (1933/34). In: DERS.: Werkausgabe Bd. 5. Frankfurt a.M. 1984. 15-116. Hier 106.
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wir auf ganz andere Weise, ob er wahr ist. Ich kann mich nämlich nicht irren, dass — wenn ich sage „Ich habe Zahnschmerzen“ — ich es bin, der Zahnschmerzen hat. Es ist in diesem Fall nicht möglich, dass ich von jemandes Zahnschmerzen weiß und mich fälschlicherweise für diesen Jemand halte. Sätze mit solchem Subjektgebrauch von „ich“ sind immun gegen Irrtum durch Fehlidentifikation. Wittgenstein wörtlich: „Man kann auf den Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien hinweisen [!; K. M.], indem man sagt: Die Fälle in der ersten Kategorie [also beim Objektgebrauch; K. M.] machen es erforderlich, daß man eine bestimmte Person erkennt, und in diesen Fällen besteht die Möglichkeit des Irrtums, — oder ich sollte besser sagen: Die Möglichkeit des Irrtums ist vorgesehen“13 —
was eben heißt: Im Fall der zweiten Gruppe ist Irrtum ausgeschlossen. Das kann man gut durch eine Gegenprobe zur Geltung bringen: Wenn mich auf meinen Satz „Ich blute“ hin jemand fragte: „Woher weißt du, dass du blutest?“ könnte ich antworten: „Weil ich nach dem Berühren meiner Stirn Blut am Finger habe“ oder einfach „Schau doch her!“. Wenn Sie dagegen auf Ihren Satz „Ich habe Zahnschmerzen“ hin einer fragte: „Woher weißt du, dass du Zahnschmerzen hast“ — was würden Sie da tun? Sie würden nicht mit einem „weil...“-Satz antworten, sondern höchstens mit einem ärgerlichen „Frag’ nicht so blöd!“ — weil ein Irrtum hier eben kategorisch ausgeschlossen, der Satz — wahrheitsgemäß geäußert — unkorrigierbar ist. Übrigens gilt die Immunität gegen Fehlidentifikation auch für bestimmte korrigible Sätze wie etwa „Ich sehe da draußen einen gelben Kanarienvogel“. Selbst wenn es sich nur um einen gelben Papierfetzen oder eine Halluzination handelte, ist der Satz „Ich sehe einen gelben Kanarienvogel“ wahr und von anderen nicht bestreitbar. Das gilt auch für alle Sätze, die mit „Mir scheint, dass...“ beginnen — nur dass sie anders als „Ich habe Zahnschmerzen“ korrigibel sind. Dann sagen wir: „Ich glaubte, einen gelben Kanarienvogel zu sehen“ oder „Mir schien, dass...“ Aber alle diese Fälle gehören in die Klasse des Subjektgebrauchs von „ich“, weil ich mich in diesen Sätzen nicht darin täuschen kann, dass ich die Person bin, die das Betreffende sieht bzw. der das und das der Fall zu sein scheint. Resümee: Vertrauen statt Verdacht. An dieser Überlegung Wittgensteins und ihrer Fortschreibung durch Spätere hängt eine ganze Kette weiterer philosophischer Herausforderungen, auf 13
WITTGENSTEIN: Das Blaue Buch (Anm. 12). 106.
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die wir hier nicht einzugehen haben. Für uns bleibt festzuhalten: Nach dem durch Staunen ausgelösten Fragen nach dem Seienden und der durch den methodischen Zweifel bestimmten Grenze des Zweifelns sind wir jetzt durch genaue Beobachtung unserer alltäglichen Sprache erneut auf ein unhintergehbares Moment gestoßen: Im ersten Fall war das der Gedanke eines Unendlichen, das kraft seines Begriffs nicht mehr überschritten werden kann; im zweiten Fall stießen wir auf das aller Bezweifelbarkeit und damit Täuschung entzogene „Ich denke, ich bin“, das es geben muss selbst dann, wenn alles andere Täuschung sein sollte; und im dritten Fall entdeckten wir unter der Oberfläche unserer alltäglichen Sprache nicht nur tiefreichende Differenzierungen, sondern zusammen mit ihnen eine Form von Wissen, die nicht falsch sein kann: dass ich mich meine, wenn ich in Subjektgebrauchssätzen das Personalpronomen der ersten Person Singular verwende. Gibt es also doch gegen allen Illusionsverdacht einen — wenn auch ganz beschränkten — Bereich wirklich verlässlichen Wissens, der dann zugleich ausreichte, um die These der prinzipiellen Wahrheitsunfähigkeit unserer Vernunft zu widerlegen? Überzeugte Nietzsche-Jünger werden auch an dieser Stelle nochmals die Keule ihres Generalverdachts auspacken. Doch lässt sich ihnen gerade mit Blick auf die prosaische Analyse des Subjekt- und Objektgebrauchs von „ich“ und der von ihr freigelegten Implikationen mit Wittgenstein lapidar antworten: „Für einen Fehler ist das einfach zu enorm.“14
Bei der Bemerkung handelt es sich um alles andere als eine Verlegenheitslösung. Sie ist vielmehr formuliert mit Blick auf den — man könnte sagen — „Sitz im Leben“ allen Fragens nach und Erkennens von Wahrheit: nämlich unsere gelebte Praxis. Wittgenstein meint: In Anbetracht unserer in der Regel gelingenden alltäglichen Lebensbewältigung und Weltgestaltung durch Deutung, Strategien, Theorien und Prognosen nimmt es sich extrem unglaubwürdig aus, dass es keinerlei wirkliches Wissen und Wahrheit geben soll. Wenn es aber Wahrheit gibt, dann darf und muss auch danach gefragt werden, was denn alles zu dieser Wahrheit gehört und wie weit menschliches Erkennen diese Wahrheit erkennen kann. Von Aristoteles bis Wittgenstein ist dabei klar, dass ein solches Ausmessen des Wahrheitsraumes nicht die Gestalt ei14
WITTGENSTEIN, Ludwig: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion. Hg. v. Cyril Barret. Dt. v. Eberhard Bubser. 2. Aufl. Göttingen 1971. 98f.
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ner Beweiskette mit einem alle anderen Beweise beweisenden Schluss- oder besser: Erstbeweis haben kann: Es gibt keinen unbewiesenen Beweis, also führte ein solcher Versuch notwendig in den uns schon bekannten infiniten Regress. Wie lässt sich dann aber zu so etwas wie einem Anfang der Wahrheit kommen? Schon Aristoteles antwortet darauf15: Dass etwas das sei, was es sei und entsprechend erkannt werden könne, setze das Prinzip voraus, dass etwas nicht zugleich und unter derselben Hinsicht sein und nicht sein könne — und dass dies das sicherste aller Prinzipien sei. Und dieses Prinzip seinerseits sei weder eines Beweises fähig, sonst träte der Regress ein; noch sei es eines Beweises bedürftig — und wer einen Beweis für das verlange, was keinen Beweis braucht, verrate damit nur seine mangelnde Bildung. Warum aber bedarf jenes Prinzip, dass etwas zugleich und unter derselben Rücksicht nicht sein und nicht-sein kann, keines Beweises? Eigentlich ganz einfach: Weil der, der das Prinzip bestreitet — also behauptet, dass etwas zugleich sein und nicht sein kann —, im Akt des Bestreitens das Prinzip selbst in Anspruch nimmt: Er redet ja zumindest, tut also etwas ganz Bestimmtes, nämlich das Gegenteil von Nichtreden, und ohne Rede leistete er überhaupt keine Bestreitung. Also lebt die ganze Bestreitung davon, dass Reden und Nichtreden nicht zugleich und unter derselben Hinsicht sind und nicht sind. Insofern gibt es — so Aristoteles — so etwas wie einen indirekten Beweis für die unhintergehbare Gültigkeit des Prinzips als eines Anfangs allen Erkennens. Und diesen Beweis führt nicht der Vertreter des Prinzips durch Argumente, sondern der Bestreiter durch: sein Handeln! Auch hier also schon diese Einbettung des Problems in die Praxis, die wir vorhin bei Wittgenstein fanden. Insofern kann eigentlich nicht überraschen, dass er — Wittgenstein — es ist, der die Pointe der Einsicht des Aristoteles auf den wohl bündigsten Nenner bringt, den es dafür gibt. Er lautet: „Alles Wissen gründet am Schluß auf Anerkennung.“16
Will sagen: Jegliches Wissen, das uns überhaupt zugänglich ist, wurzelt im Allerletzten in einem Grundakt des Vertrauens, dass wir prinzipiell in einem — wie auch immer näher zu bestimmenden — wissensförmigen Verhältnis zu unserer Welt und zu uns selber stehen. Natürlich kann auch dies erneut mit der Nietzsche-These von der vollständigen Verblendung der Vernunft bestritten werden, nur muss sich dann diese Position ihrerseits die vorhin erläu15 16
Vgl. ARISTOTELES: Metaphysik. IV, 4. WITTGENSTEIN, Ludwig: Über Gewißheit. Nr. 378.
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terte aristotelische Frage gefallen lassen, was sie selbst eigentlich genau sein kann oder sein will, wenn sie Recht hätte. Denn natürlich darf auch ihr gegenüber ganz praktisch gefragt werden, was es denn hieße, in ihrem Sinn ein bewusstes Leben zu führen — vor allem, ob dies überhaupt noch möglich wäre. Und wer sich diese Frage stellt, die oder der steckt so tief wie überhaupt nur möglich mitten im Philosophieren. Was geschieht nun, wenn jemand den Weg ins Philosophieren einschlägt, also nach wahrem Wissen sucht und weise zu sein strebt, und in dieser Absicht auf seinen bzw. ihren religiösen Glauben blickt, diesen also in den ausdrücklichen Kontakt mit dem Philosophieren führt? Zureichend beantworten lässt sich diese Frage nur, wenn dafür an den großen Alternativen Maß genommen wird, die sich im Gang der gesamten bisherigen Begegnung zwischen Vernunft und Glaube, Philosophie und Theologie ausgebildet haben und bis heute die Debattenlage ausdrücklich oder implizit bestimmen. Damit stehen wir vor einem thematischen Feld, über das einigermaßen im Bild zu sein unter den Bedingungen der heutigen religiösen Produktivität aller Kulturen zur Standardausrüstung eines aufgeklärten Denkens gehört.
2.
Modelle im Verhältnis von Philosophie und Theologie – systematisch und historisch
Lit.: W. Pannenberg: Theologie und Philosophie. — Ch. Frey: Einführung in die Philosophie. — K. Hübner: Glaube und Denken. — J. Rohls: Philosophie und Theologie. — M. Delgado/G. Vergauwen (Hgg.): Glaube und Vernunft. — C. Sedmak: Katholisches Lehramt und Philosophie. — K. Müller: Vernunft und Glaube — H. Verweyen: Philosophie und Theologie. Philosophie und kirchliches Lehramt. Wer es nicht weiß, wird zunächst verblüfft sein, wenn sie oder er die einschlägigen Texte liest: In den letzten beiden Jahrhunderten kam die stärkste öffentliche Verteidigung der menschlichen Vernunft vom obersten Lehramt der katholischen Kirche. Es mag Zufall sein: 1831 starb Georg Wilhelm Friedrich Hegel und mit seinem Ende setzte definitiv eine tiefe Grundlagenkrise der Philosophie ein. Hatten Hegel und seine Zeitgenossen in vorher nie da gewesener Weise Philosophie in systematischen Konzeptionen betrieben, die alles Wirkliche zu umgreifen und aufzuhellen behaupteten, so zerfiel jetzt dieser Anspruch bis dahin, dass etwa ein Friedrich Nietzsche Vernunft als derart von Täuschungsquellen durchherrscht sah, dass sie sich darüber nicht mehr selbst Aufklärung verschaffen könne — mit der Folge, dass es sich bei Wahrheit um eine Illusion handle, von der wir vergessen hätten, dass es eine solche sei; moralische Werte wären — so Nietzsche weiter — nichts anderes als ein brüchiges Instrumentar, mit dem wir zu verhindern suchten, dass wir uns gegenseitig die Köpfe einschlügen; und das, was wir Argumente nennen, sei lediglich die Außenseite physiologischer Reaktionen unseres Organismus, der einzig von Reiz und Reaktion gesteuert werde. Wie gesagt: Es mag Zufall sein, aber genau ein Jahr nach Hegels Tod setzt eine Kette lehramtlicher Verlautbarungen ein, die sich für die Vernunft und ihre Wahrheitsfähigkeit stark machen. In die Reihe dieser Wortmeldungen gehört ganz prominent auch die erste Enzyklika der Kirchengeschichte über die Philosophie, das päpstliche Rundschreiben Aeterni Patris von 1879. Ihm folgten einige kleinere Texte, die besonders auch die Fähigkeit der Vernunft zur Gotteserkenntnis im Zentrum hatten. Dann kam eine längere Phase, in der dieses Thema stark zurücktrat, übrigens auch auf dem II. Vatikanischen Konzil, das von 1962-65 stattfand. Aber dann, 1998 erneut ein Paukenschlag mit der zweiten Philosophie-Enzyklika, dem Schreiben Fides et ratio
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2. MODELLE IM VERHÄLTNIS VON PHILOSOPHIE UND THEOLOGIE
von Papst Johannes Paul II., der vor seiner Ernennung zum Erzbischof von Krakau Philosophieprofessor in der Priesterausbildung gewesen war (was der Grund dafür ist, dass es im Pontifikat Johannes Paul II. bis in lehramtliche Entscheidungen hinein so etwas wie eine philosophische Ideen-Politik gab).1 Liest man all diese Texte, dann hat man den Eindruck, das Verhältnis von Philosophie und Theologie sei von Natur aus mehr oder weniger unproblematisch, und der Hl. Thomas von Aquin habe ihm eine bleibend gültige Form gegeben — so oft fällt dabei sein Name. Beides trifft mitnichten zu. Thomas’ unbestrittene Leistung in der Sache hängt substanziell von zeitgeschichtlichen Faktoren seiner Epoche ab. Fallen diese weg, entpuppt sich seine Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie als problematisch, wie wir noch sehen werden. Und was dieses Verhältnis überhaupt betrifft, so zeigt sich bei näherem Zusehen nicht nur, dass es sich von Anfang an sehr zweideutig gestaltete, sondern dass es bis heute in einer fundamentalen Spannung steht. Das beginnt schon ganz am Anfang der abendländischen Philosophie wie dem der christlichen Theologie. Dem haben wir im Folgenden zunächst genauer nachzugehen. 2.1
Anfangsverhältnisse
Theologien im Plural. Wenn vom Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie die Rede ist, wird in der Regel unter „Theologie“ fraglos „christliche Theologie“ verstanden. So kommt es aber zu einer doppelten Verkürzung, denn (a) zum einen gibt es auch andere Theologien als die christliche. Zwar hat sich diese tatsächlich in einzigartiger Weise als Systembildung nach rationalen Kriterien mit wissenschaftlichem Anspruch etabliert. Aber auch dies gilt nicht für die ganze christliche Theologie, sondern für die westliche; den östlichen Bereich mit den Werken griechischer, syrischer und russischer Autoren prägt weitgehend ein ganz anderer theologischer Stil. Stark vereinfacht könnte man sagen: Im GriechischSlavischen Bereich lässt ein hymnischer Grundton das Argumentative, Systematische deutlich in den Hintergrund treten, bisweilen wird gänzlich darauf verzichtet — Ausnahmen wie Origenes bestätigen die Regel. 1
Vgl. dazu MÜLLER, Klaus: Pontifikat mit Ideen-Politik. Johannes Paul II. und die Philosophie. In: Ost — West. Europäische Perspektiven 6 (2005). 252-261.
ANFANGSVERHÄLTNISSE
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Neben diesen zwei Grundweisen christlicher Theologie gibt es aber bis heute vitale jüdische und islamische Theologien, nur dass sich diese in ganz anderer Form und Sprache als die westliche rationalitätsorientierte christliche Theologie entfalten: nämlich als subtile Hermeneutik, d.h. als Regelwerk für die Kunst der Schriftauslegung, und narrativ, also erzählerisch — man muss sich nur an die schier überbordende Erzählkultur von Talmud und Midrasch (das sind — grob gesagt — die verschriftlichten Überlieferungen aller wichtigen Bibelauslegungen in der jüdischen Tradition) erinnern. Es gibt aber auch wenigstens zum Teil außerchristliche Parallelen zur christlichen spekulativen und systematischen Theologie. So etwa im altägyptischen Bereich, wo zumindest zu bestimmten Motiven wie etwa der Schöpfungs- und Gesellschaftslehre, aber auch der Gotteslehre hochdifferenzierte Theologien konzipiert wurden: Man spricht diesbezüglich heute gern von Kosmotheismus, einem Innewohnen des Göttlichen in der Welt, gegenüber dem biblischen Monotheismus; es muss gleich hinzu gesagt werden, dass es zur Zeit des Pharao Echnaton eine radikale Reform mit dem Ziel eines Henotheismus, also eines Eingottglaubens gab, die bis heute nicht wirklich aufgeklärt ist und möglicherweise in komplizierten Zusammenhängen mit der Entwicklung des biblischen Monotheismus steht. Erstes Grundmaß: Griechische Verhältnisse. Ähnlich wie im Jüdischen und Ägyptischen gab es auch in der vorchristlichen, in der griechischen Kultur Theologie. Genau das ist der Punkt, an dem die Rede vom Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie vor einer zweiten Verkürzung geschützt werden muss. Denn (b) nicht nur christliche Theologie setzte und setzt sich in ein Verhältnis zur Philosophie. Längst vorher besteht ein solches Verhältnis schon zwischen griechischer Religiosität und Philosophie. Erst wenn man sich die Form dieses Verhältnisses vor Augen führt, wird die Eigenart greifbar, die das Verhältnis zwischen Philosophie und christlicher Theologie in seiner Ursprungssituation bestimmt. Das Besondere des Verhältnisses zwischen griechischer Religiosität und Philosophie besteht darin, dass hier nicht zwei Größen von außen in Beziehung treten. Vielmehr ist die griechische und damit die gesamte abendländische Philosophie nicht allein, aber in wesentlichen Hinsichten aus dem Fundus der religiösen Weltbeschreibung der frühen griechischen Kultur hervorgegangen. Das Bewusstsein dieses Ursprungszusammenhangs war so groß, dass
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2. MODELLE IM VERHÄLTNIS VON PHILOSOPHIE UND THEOLOGIE
noch ein Aristoteles Jahrhunderte nach dem Aufkommen erster philosophischer Gedanken genau an der Stelle, wo er das Staunen als den Urakt der Philosophie bezeichnet, in Klammern die Bemerkung anfügt: „Deshalb ist der Freund der Sagen auch in gewisser Weise ein Philosoph; denn die Sage besteht aus Wunderbarem.“2
Wie kam es nun zum Hervortreten der Philosophie aus der Religion? Dichter und Sänger — in der Antike nota bene „Theologen“ genannt — schufen Theo- und Kosmogonien, also Erzählungen vom Entstehen der Götter und der Welt. In ihnen wurden Bilder vom Ganzen der Welt ausgeprägt und Orientierungen für ein Leben in diesem Ganzen angegeben. Der berühmteste dieser „Theologen“ war der Bauer Hesiod, dessen etwa um 700 v. Chr. entstandene Theogonia erhalten blieb. Von vergleichbarer Bedeutung sind auch die Epen Homers, die Odyssee und die Illias. Am stärksten hat Hesiod auf die späteren „Theologen“ eingewirkt, besonders auf Pherekydes und Akusilaos. Auch die Dichtungen, die unter dem Namen der mythischen Gestalt des Sängers „Orpheus“ umliefen, wurden von ihm beeinflusst. Aber bereits in diesen Werken tritt ein neues Moment auf: Die Götter verlieren ihr persönliches Profil, verschiedene Gestalten gleiten gleichsam ineinander, z.B. wenn Zeus als der Odem von allem besungen wird oder als der, der im Feuer, in der Meerestiefe wie gleichermaßen im Sonnenstrahl walte.3 Die orphischen „Theologen“ befinden sich mit ihrer Zurücknahme der sinnlichen Beschreibung der Götter bereits auf dem Weg religiöser Begriffsbildung. Ähnliches geschieht in den Werken der schon erwähnten Pherekydes und Akusilaos. Pherekydes schreibt als Erster nicht mehr in Versen, sondern in Prosa. Und vor allem: In seine theo- und kosmogonischen Überlegungen mischen sich erste Elemente von Physik im Sinn von Stofflehre hinein. Damit ist ersichtlich der Boden für diejenigen bereitet, die als die Begründer der abendländischen Philosophie im strengen Sinn gelten: die Vorsokratiker. Entscheidend für unsere Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie: Der qualitative Umbruch, der Religion und Vernunft erstmals zusammenbringt, verdankt sich einem innerreligiösen Reflexionsschub Mitte des 6. vorchristlichen Jahrhunderts. 2 3
ARISTOTELES: Metaphysik. 982b. Vgl. PS.-ARISTOTELES: Von der Welt. c. 7. Zit. nach CAPELLE, Wilhelm: Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte. Übers. u. eingel. v. Wilhelm Capelle. Stuttgart 1968. 29.
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Vorsokratiker. Von diesem Plateau aus formulieren dann die Vorsokratiker ihre Antworten auf die Frage nach der „arche“, dem Urgrund und Hervorgang von allem. Die folgenreichste dieser Antworten gab Anaximander, indem er die „arche“ im „apeiron“ erblickte. „Apeiron“ übersetzt man am besten mit „unendlich“. Damit war der Weg zur Metaphysik eingeschlagen. Sofern das „apeiron“ die Prädikate „unvergänglich“ und „unsterblich“ trug, verlangte es geradezu danach, auch theologisch interpretiert zu werden. Wurde die Religion selbst Thema des vorsokratischen Philosophierens, so nahm dieses wie von selbst die Form von Religionskritik an und zwar nicht zum Zweck der Zerstörung, sondern der Läuterung und Vertiefung. Die einschlägigsten Beiträge dazu stammen von Xenophanes aus Kolophon. Er empört sich über die Zustände im homerischen Götterhimmel, wo es von Diebstahl über Betrug bis Ehebruch alles gibt, was unter Menschen als schändlich gilt. Er erhebt gegen die tradierte Religiosität als Erster den Anthropomorphismusverdacht — also, dass jede Kultur sich die Götter nach ihrem eigenen Bild vorstelle — und er lehnt den Polytheismus ab. Wegen der Heftigkeit im Ton seiner Kritik wird er bisweilen „Sturmvogel der Aufklärung“4 genannt. Es lohnt sich, diese Kritik im Original zu hören: „Aber die Sterblichen meinen, die Götter seien geboren und hätten solche Kleider wie sie selbst, eine Stimme und einen Körper. Die Äthiopier sagen, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, und die Thraker behaupten, die ihren hätten hellblaue Augen und rote Haare. Aber wenn Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten oder mit ihren Händen malen und Bildwerke vollenden könnten, wie das die Menschen tun, dann würden die Pferde die Göttergestalten den Pferden und die Rinder sie den Rindern ähnlich malen und sie würden die Statuen der Götter mit einem solchen Körper meißeln, wie sie ihn jeweils auch selber haben.“5
Noch einer dieser frühen Denker sei genannt, weil von ihm jenes Grundwort stammt, das zu dem eigentlichen Zentralbegriff der abendländischen Philosophie wurde und zugleich einen entscheidenden Anknüpfungspunkt im Verhältnis zwischen Philosophie und christlicher Theologie bildete (nebenbei bemerkt: Seit einiger Zeit muss es als Lieblings-Zielscheibe der so genannten Postmo4 5
CAPELLE: Vorsokratiker (Anm. 3). 119. XENOPHANES: Fragmente. Nr. 14-16. In: KIRK, Geoffrey S./RAVEN, John E./SCHOFIELD, Malcolm (Hgg.): Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare. Nr. 167-169. Übers. v. Karlheinz Hülser. Stuttgart; Weimar 1994. 183-184.
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2. MODELLE IM VERHÄLTNIS VON PHILOSOPHIE UND THEOLOGIE
derne herhalten): Heraklit von Ephesus fasst das einende Prinzip hinter allem Wandel, der durch den unablässigen Kampf einander entgegengesetzter Kräfte erzeugt wird, in die Idee des „logos“. Diesen versteht Heraklit als göttlich, die menschliche Geistverfassung bringt er in engsten Zusammenhang mit ihm. Darum können nicht nur dieses Prinzip selbst, sondern auch die durch es garantierte Ordnung sowie die diese Ordnung darstellende Rede und auch noch die Fähigkeit zu solcher Rede, die Vernunft, mit dem gleichen Namen „logos“ bezeichnet werden. Sophistische Krise. Formal gesagt: Das Verhältnis von „Theologie“ und Philosophie erweist sich im frühgriechischen Raum als ein Bedingungsverhältnis. Philosophie geht wesentlich aus „Theologie“ und Religion hervor. Der Ansatzpunkt für eine Kritik der überkommenen „Theologie“ wird durch binnentheologische Entwicklungen bereitgestellt. Insofern kann auch nicht erstaunen, dass sich die frühe griechische Philosophie selbst als religiös verstanden hat, als die reinere, die authentische Form von Religion. Die Sophisten — ein Protagoras, ein Prodikos, ein Kritias zumal — stellten mit radikaler Skepsis und materialistischem Atheismus diesem Selbstverständnis ein Alternativ-Konzept gegenüber. Der prominenteste von ihnen, Protagoras, äußert sich beispielsweise so: „Von den Göttern vermag ich nichts festzustellen, weder, daß es sie gibt, noch daß es sie nicht gibt, noch, was für eine Gestalt sie haben; denn vieles hindert ein Wissen hierüber: die Dunkelheit der Sache und die Kürze des menschlichen Lebens.“6
Prodikos radikalisiert das Problem des Religiösen durch Funktionalisierung. Cicero fragt sich, ob denn Prodikos überhaupt noch Religiöses als solches anerkenne, weil er unterstellt, dass Menschen alles für ihr Leben Nützliche als Götter auffassen.7 Das war zurückhaltend formuliert. Themistios charakterisiert Prodikos’ Position auf eine Weise, die an Bert Brecht gemahnt: Prodikos, sagt Themistios, bringe das Religiöse mit dem Gewinn aus der Landwirtschaft in Verbindung und halte deren Güter für die Quelle des Götterglaubens.8 Die Herkunft des Fressens gibt einen Wink, wo die Kinderstube der Moral zu suchen ist.
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CAPELLE: Vorsokratiker (Anm. 3). 333. Nr. 18. Vgl. CAPELLE: Vorsokratiker (Anm. 3). 367. Nr. 9. Vgl. CAPELLE: Vorsokratiker (Anm. 3). 368. Nr. 11.
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Kritias schließlich, gefallen 403 v. Chr., einer der so genannten Dreißig Tyrannen und Verwandter Platons, formulierte eine kulturhistorische Entzauberung der Religion. Um einen animalischen Urzustand raubtierhaften Gebarens der Menschen gegeneinander beherrschbar zu machen, hätten sich, sagt er, die Menschen Gesetze gegeben. Doch das stellte sich als unzureichend heraus: „Als so die Gesetze hinderten, daß man offen Gewalttat verübte, und daher nur insgeheim gefrevelt wurde, da scheint mir zuerst ein schlauer und kluger Kopf die Furcht vor den Göttern für die Menschen erfunden zu haben, damit die Übeltäter sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim etwas Böses täten oder sagten oder ‚auch nur’ dächten. — Er führte daher den Gottesglauben ein.“9
Weder Polemik noch Klischee waren Widerpart Sokrates. die Ursache, wenn Positionen dieses Zuschnitts relativ früh als atheistisch bezeichnet wurden.10 Das Etikett gewann sein Recht aus der Sache. Es war kein Geringerer als Sokrates, der gegen diesen Trend das Gottesthema rehabilitierte. Das aber konnte nach der Radikalisierung der Kritik durch die Sophisten nicht einfach in Gestalt einer Wiederaufnahme der vorsokratischen Theologoumena geschehen. Die ganze Thematik stand ab diesem Zeitpunkt gleichsam in einer erkenntnistheoretischen Klammer. Bevor sich von Göttlichem sprechen ließ, musste geklärt werden, inwiefern sich über dieses überhaupt Wissen oder gar Gewissheit gewinnen lässt. Sokrates musste sich, wenn er zum Thema Religion überhaupt etwas sagen wollte, auf eine zweite Ebene der Kritik begeben. Gleichwohl versteht er seine kritische Tätigkeit ausdrücklich als Gottesdienst.11 Von da an bringt sich in verschiedensten Varianten so etwas wie ein organischer Zusammenhang zwischen Philosophie und griechischer Theologie zur Geltung. Wie tief dieser Zusammenhang griff, lässt sich daran ersehen, dass noch Jahrhunderte später, als es bereits umfänglich christliche Theologie gab, parallel zu ihr die Philosophie des Neoplatonismus als „zweite“ oder „andere“, d.h. alternative Theologie galt. Die Spitzenvertreter dieser anderen Theologie waren Plotin, Jamblichos und Proklos. Den Einfluss, den diese als Theologie gemeinte Philosophie auf
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KRITIAS: Fragment 25. Zit. nach CAPELLE: Vorsokratiker (Anm. 3). 378. Nr. 1. Vgl. CAPELLE: Vorsokratiker (Anm. 3). 368. Nr. 10. Vgl. PLATON: Apologia. 23c.
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ihre christliche Konkurrentin gewinnen konnte, ist ein ganzer Themenkomplex für sich. Christliche Verzweigung. Damit steht natürlich die Frage im Raum: Wie hielt es denn die christliche Theologie der Anfangszeit ihrerseits mit der Philosophie. Die Frage lässt sich am einfachsten zunächst so beantworten: Sie hielt es mit der Philosophie sowohl als auch. Diese Antwort ist neutestamentlich gestützt. Mehrere Stellen verraten, dass es Konflikte gegeben haben muss mit Leuten, denen „sophia“, Weisheit, kein Fremdwort war. 1 Kor 1,17ff. sagt Paulus von sich, Christus habe ihn zur Verkündigung des Evangeliums gesandt, aber nicht mit weisen Worten, damit das Kreuz nicht um seine Kraft gebracht werde. Und mit Berufung auf alttestamentliche Schriftzitate fragt er jetzt: „Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt? Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten. Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen.“ (1 Kor 1,20b-25)
Weitaus deutlicher wird die Apostelgeschichte (vgl. Apg 17,16-34). Sie erzählt ungeschminkt, wie der erfolgreiche Gemeindegründer Paulus in Athen, der Stadt der Philosophen, aus ausgesprochen philosophischen Gründen seinen größten Reinfall erlebt. Er geht öffentlich predigen, stellt sich der Diskussion mit epikureischen und stoischen Philosophen. Einige winken gleich ab, andere sind hochinteressiert und wollen mehr wissen. Paulus, Predigt-Fuchs der er ist, packt die Gelegenheit beim Schopf. Beim Rundgang auf dem Areopag hatte er einen Altar mit der Aufschrift „agnostho theo“ entdeckt, „Dem unbekannten Gott“ (die Athener wollten also, schlicht gesagt, nichts anbrennen lassen). Jetzt, um Rechenschaft über seine Kunde gebeten, greift er darauf zurück, um seine Zuhörerschaft — pastoral gesprochen — abzuholen, identifiziert den Gott, den er verkündet, mit dem unbekannten Gott der Athener, beruft sich dabei sogar noch auf einen ihrer Dichter. Am Schluss biegt er logischerweise in die Jesus-Kurve ein, und die muss ebenso logisch in die Auferstehung münden. Dabei widerfährt dem Apostel, was jeder lästige Versicherungsvertreter bis heute erlebt: „Darüber wollen wir dich ein andermal hören“ (Apg 17,32). Die Botschaft von
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der Auferstehung lässt sich mit der philosophischen Theologie, die er ihnen unter dem Etikett „unbekannter Gott“ vorgetragen hatte, nicht vereinbaren. Darum ging er, so endet die Episode, aus ihrer Mitte weg. Wozu dann überhaupt noch mit dem Weltdenken und seiner Weisheit befassen? Einer der Schüler des Paulus, der Autor des Kolosserbriefes, zieht daraus bündig Konsequenz und zerschneidet das Tischtuch: „Gebt acht, dass euch niemand mit seiner Philosophie und falschen Lehre verführt, die sich nur auf menschliche Überlieferung stützen und sich auf die Elementarmächte der Welt, nicht auf Christus berufen.“ (Kol 2,8)
Im Neuen Testament gibt es aber neben dem Paulus auch noch einen Johannes. Der sieht das Ganze viel positiver. So greift er beherzt jenes von Heraklit stammende, mittlerweile auch von jüdischen Philosophen wie Philon in Gebrauch genommene Grundwort „logos“ auf, trägt in es geschickt noch weitere Bedeutungsmomente ein und identifiziert gleich in den ersten Zeilen seines Evangeliums diesen „logos“ mit Jesus Christus: „Im Anfang war der logos, und der logos war bei Gott, und der logos war Gott [...]. Und der logos ist Fleisch geworden [...].“ (Joh 1,1-2. 14)
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Johanneische und paulinische Fortschreibungen
Justin und die Alexandriner. Diese neutestamentliche Ambivalenz zwischen Paulus und Johannes was Philosophisches betrifft setzte sich im frühen Christentum linear fort. An sich begann es recht kommunikativ: Da war z. B. Justin, später „der Philosoph und Märtyrer“ geheißen, der wichtigste der so genannten frühchristlichen Apologeten (zu deutsch: „Glaubensverteidiger“). Er suchte als Erster um 150 n. Chr. herum einen Brückenschlag zwischen christlicher Tradition und Philosophie. Dazu knüpfte er am „logos“-Begriff an, betrachtete alles, was außerchristlich an Wahrheit begegnete, als „logos spermatikos“, als Samenkorn derjenigen Wahrheit, die in Christus mit ihrer ganzen Fülle hervorgetreten sei. Ganz unpolemisch freilich fiel auch seine Beziehung zur Philosophie nicht aus. Er unterstellte, Pythagoras und Platon hätten die Schriften des Mose, also den Pentateuch und die Prophetenbücher gekannt, daraus geschöpft und dabei manches unkorrekt wiedergegeben. Und da war auch Klemens von Alexandrien, die große Gründerfigur der dortigen Katechetenschule, die die örtliche Version des Neoplatonismus in erste Versuche einer Systematisierung des christlichen Gedankenguts einzubeziehen suchte. Auch Klemens setzt wie Justin beim „logos“ an. Philosophie gilt ihm als Geschenk des „logos“, diesen selbst betrachtet er als Pädagogen der Heiden zum Christentum. Dahinter steht erkennbar eine Verhältnisbestimmung zwischen christlicher Theologie und Philosophie, die derjenigen zwischen Philosophie und griechischer Theologie korrespondiert — nur eben seitenverkehrt: Hatte sich die frühe griechische Philosophie als legitime Erbin und eigentlich authentische Theologie verstanden, so nun die frühe christliche Theologie eines Justin oder Klemens und ihrer Nachfolger als die eigentliche und wahre Philosophie. Das war neutestamentlich gesprochen sozusagen die Ausfaltung der johanneischen Linie. Tertullian. Es gab aber gleichzeitig auch eine Ausfaltung des paulinischen Vorbehalts gegen die Weltweisheit. Und von der muss ausführlicher die Rede sein, um den Unterschied zwischen dem innergriechischen Verhältnis von Theologie und Philosophie einerseits und demjenigen zwischen Philosophie und christlicher Theologie andererseits wirklich ermessen zu können. Kommunikative christliche Repräsentanten wie Justin oder Klemens hatten im Vergleich zum griechischen Bereich lediglich das Gefälle umgekehrt, jedoch strukturell eine Kontinuität bewahrt. Ganz anders
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jedoch Tertullian, der erste bedeutende lateinische Theologe. Er bringt in das Thema Philosophie-Theologie einen Ton hinein, dermaßen giftig und aggressiv, wie sich seiner in der Regel nur Fanatiker bedienen. Insofern kann eigentlich nicht überraschen, dass sich Tertullian in der zweiten Lebenshälfte nach Jahren intensiven Engagements von der Großkirche abwendet. Er schließt sich der schwärmerischen Sekte der so genannten Montanisten an, formt diese in eine Partei um, die sich der Lehre nach kaum, dafür durch rigoristische Lebenspraxis um so mehr von der Großkirche unterscheidet, und endet schließlich als Oberhaupt einer kleinen Elitetruppe, die sich ihrerseits noch einmal von den Montanisten absondert. Der Tendenz nach ist das aber schon in seiner so genannten „katholischen“ Zeit präsent, am spürbarsten ebendort, wo es um das Verhältnis zur Philosophie geht. Argumente hat er keine, dafür um so weniger Hemmungen, zu persönlicher Verunglimpfung zu greifen: In seinem Werk Apologeticum stellt er den Sokrates als inkonsequenten Atheisten und Kinderschänder hin; er verbreitet sich über das Sexualleben von Diogenes, Speusipp und Demokrit; Pythagoras und Zenon zeichnet er als machtgeil, Anaxagoras als unzuverlässig, Aristoteles als Karrierehengst und Speichellecker. Und bei den Christen findet sich selbstverständlich das genaue Gegenteil von all dem: wahrer Glaube, reinste Keuschheit, tiefe Demut, selbstlose Feindesliebe.12 Das Fazit aus dieser Persiflage der Philosophiegeschichte: „Was also haben gemeinsam der Philosoph und der Christ, der Schüler Griechenlands und der des Himmels, der Beförderer seines Ruhmes und der seines Heiles, der mit Worten und der mit Taten Wirkende, der Erbauer und der Zerstörer, der Freund und der Feind des Irrtums, der Verfälscher der Wahrheit und ihr Erneuerer und Dolmetsch, ihr Dieb und ihr Wächter?“13
Die Antwort, klar: Nichts und nichts und noch einmal nichts! In einem anderen Werk, in De praescriptione haereticorum wird diese Verwerfung der Philosophie binnenkirchlich instrumentalisiert: Sämtliche bekannten Häresien werden unter Namensnennung auf einzelne Philosophen zurückgeführt. Und am Schluss wieder die suggestive Fragenkaskade: „Quid ergo Athenis et Hierosolymis? quid academiae et ecclesiae? quid haereticis et Christianis? [...]
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Vgl. TERTULLIAN: Apologeticum. 46, 4-16. TERTULLIAN: Apologeticum. 46, 18.
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Was also haben Athen und Jerusalem miteinander zu schaffen? Was die Akademie mit der Kirche? Die Häretiker mit den Christen? Unsere Unterweisung kommt aus der Säulenhalle Salomos, der ja selbst überliefert hatte, daß man den Herrn in der Einfalt des Herzens suchen müsse. Wir haben nach Jesus Christus keine Neugier nötig, und nach dem Evangelium auch keine Forschung.“14
Augustinus. Dass gegen einen solchen totalen Konfrontationskurs die johanneische Linie auch in der lateinischen Theologie weiterverfolgt wurde, dafür steht mehr als jeder andere Augustinus. In seinen berühmten Confessiones erzählt er, wie er als junger Mann auf Ciceros Buch Hortensius, eine Protreptik (also eine Einladung) zur Philosophie, stieß und von diesem Werk in Bann geschlagen wurde. Was ihm einzig an diesem Buch fehlte, war, dass der Name Jesus Christus darin nicht vorkam.15 Weisheit und Christus waren für ihn identisch. Darum schätzte er die Philosophie als „amor sapientiae“ oder „studium sapientiae“. Um ihrer selbst willen sieht er sich später gezwungen, über das hinauszugehen, was die Philosophen gesagt haben. So wird ihm sein christliches Denken, seine Theologie zur Vollendung der Philosophie, genauer zur Vollendung des Platonismus. Augustinus ist sich sicher: Würden heute die großen Platoniker wiederkommen, würden sie die vollen Kirchen neben den leeren Tempeln sehen und wie die Menschen die geistigen Dinge schätzen, dann würden sie sagen: „Dies [sc. das Christentum; K. M.] ist das Ideal, das wir der Menge nicht zu predigen wagten!“16
— und würden sich nach geringer Veränderung ihres Sprachgebrauchs und ihrer Lehrsätze selbst zu Christus bekehren, beeindruckt, dass Theorie und Praxis in Einklang stehen. In der Schrift Contra Iulianum schließlich taucht erstmals der Ausdruck „Christliche Philosophie“ auf: „Ich beschwöre dich, daß die Philosophie der Heiden nicht ehrenwerter ist, als unsere christliche, die einzig wahre Philosophie, wenn überhaupt das Streben oder die Liebe zur Weisheit mit diesem Namen bezeichnet werden kann.“17
Doch trotz dieser maximalen Harmonie war damit keine Klärung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Theologie durchgesetzt. Obwohl Augustinus mehr als jeder andere Autor das ganze 14 15 16 17
TERTULLIAN: De praescriptione haereticorum. 7, 9-12. Vgl. AUGUSTINUS: Confessiones. 3, 4, 7. AUGUSTINUS: De vera religione. 4, 6. AUGUSTINUS: Contra Iulianum. IV, 14, 72.
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Mittelalter hindurch und bis in die Neuzeit hinein autoritativen Einfluss ausübte — das tertullianische Crash-Programm brach sich immer wieder Bahn. Ich nenne nur ein paar besonders aufschlussreiche und folgenreiche Fälle: Antiphilosophische Präzedenzfälle: Othloh. In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts kommt es in dem hochbedeutenden Benediktiner-Konvent St. Emmeram in Regensburg zu einer regelrechten Kriminalisierung der klassischen Bildung und vor allem der Philosophie. Der junge Grammatiklehrer Othloh stellt — so die Überlieferung —, gepeinigt von einer nächtlichen Schreckensvision, umgehend die Lektüre von Klassikern ein, weil er in der Sündhaftigkeit solchen Tuns den Grund für die göttliche Strafaktion erkennt. Bald danach wird er Mönch. Ähnliche Erzählungen gibt es auch über seine Zeitgenossen. Das verweist darauf, dass es sich um einen Topos handelt, in dessen Gewand ein geistiger Richtungskampf um die Bedeutung der Philosophie für Christen ausgefochten wurde. Der Sache nach jedenfalls hat Othloh eine wirkmächtige antiphilosophische Bewegung angestoßen.18 Ähnliches muss man Petrus Damiani zuPetrus Damiani. schreiben. Der 1057 zum Kardinal Ernannte verfasste — Tertullian nicht unähnlich — Kampfschriften und betrieb scharfe Reformen die kirchliche Praxis betreffend. Sein polemisches Kaliber verrät eine Bemerkung im Zusammenhang der Zölibatsthematik: Der Apostelfürst Petrus habe den Schmutz seiner Ehe durch das Blut seines Martyriums abgewaschen. Im Blick auf das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie hämmerte er mit Berufung auf ein altes bonmot die Parole ein: „Wir sind nicht Schüler der Philosophen und Redner, sondern der Fischer [sc. der Jünger vom See Genesaret; K. M.]!“19
So sollte das philosophische Denken als aufgeblasen und eitel hingestellt werden. Diese Parole „piscatorie, non aristotelice“ ist bis heute höchst lebendig geblieben. Als Papst Benedikt XVI. noch Theologieprofessor und dann Erzbischof von München/Freising war, hat er nicht ungern dieses Wort zitiert, um — obwohl selbst Intellektueller — gegen die Überheblichkeit mancher Theologiekol-
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Vgl. dazu STURLESE, Loris: Die deutsche Philosophie im Mittelalter. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen. 748-1280. München 1993. Zit. nach Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Basel 1989. Sp. 635.
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legen, die er zu erkennen meinte, den Glauben der einfachen Leute in Schutz zu nehmen. Bernhard von Clairvaux. Dem nicht unähnlich verhält es sich bei einem weiteren Tertullian-Revival: dem heftigen, menschlich zum Teil unerträglichen Konflikt zwischen Petrus Abaelard und Bernhard von Clairvaux. Abaelard verstand sich erklärtermaßen als einer, der so philosophieren will, dass er nicht mit Paulus in Konflikt gerät und mit Christus verbunden bleibt. Das Christentum gilt ihm als die wahre Philosophie, es ist aber zugleich in wesentlichen Punkten durch die heidnische Philosophie vorbereitet worden. Bernhard ist nicht eigentlich bildungsfeindlich eingestellt, kritisiert aber umso heftiger jeden Gebrauch philosophischen Denkens, der nicht der Wahrheit dient, und damit meint er: dem Aufstieg vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, also der Theologie. Philosophie für sich werde nur von der Neugier getrieben, Tertullian lässt grüßen: „Nach Christus haben wir keine Neugier nötig“, hatte er geschrieben. Und Bernhard ergänzt: Philosophie mache sich alles Mögliche zum Thema, vergeude damit die Lebenszeit und komme an kein Ende. Darum stellt er dem windigen Geschwätz der Philosophen seine subtilere, innerliche Philosophie entgegen, die darin besteht, Christus zu kennen und diesen als Gekreuzigten20 — Letzteres bekanntlich ein Zitat aus 1 Kor 2,2, jener uns schon bekannten Passage also, mit der sich Paulus von der Weltweisheit distanziert. B. Pascal. Es gibt noch einen Durchbruch der tertullianischen Option, der aus mehreren Gründen eigener Erwähnung bedarf: Zum einen wegen seines Initiators, zum zweiten wegen des Zeitpunkts zu dem das geschah, drittens wegen der Wirkungsgeschichte. Ich spreche von Blaise Pascal. Nach seinem Tod fand man in ein Kleidungsstück eingenäht ein von Pascal eigenhändig beschriebenes Blatt, das so genannte Memorial, das seinen Autor wohl an eine Stunde von höchster Bedeutung erinnern sollte. Der erste Teil des Textes im Wortlaut: „JAHR DER GNADE 1654 Montag, den 23. November, Tag des heiligen Klemens, Papst und Märtyrer, und anderer im Martyrologium. Vorabend des Tages des heiligen Chrysogonos, Märtyrer, und anderer. 20
Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Basel 1989. Sp. 638-640.
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Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht FEUER ‚Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs’, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewißheit, Gewißheit, Empfinden: Freude, Friede. Gott Jesu Christi Deum meum et Deum vestrum. ‚Dein Gott wird mein Gott sein’ — Ruth — Vergessen von der Welt und von allem, außer Gott. Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, ist er zu finden.“21
Einem solchen persönlichen Dokument ist zunächst fraglos Respekt geschuldet und auch Diskretion, sofern es ja wohl von seinem Urheber nicht zur Veröffentlichung bestimmt war. Wegen der Wirkung aber, die es ausübte, nachdem es einmal publik geworden war, muss es Gegenstand philosophischer Aufmerksamkeit werden, handelt es sich doch unabhängig von der subjektiven Relevanz für Pascal selbst um eine Stellungnahme zur Philosophie, näherhin zum Verhältnis zwischen ihr und der Theologie. Ein brillanter Geist und Naturwissenschaftler erklärt die Philosophie als für den wahren Gott unzuständig. Und das zu einer Zeit, da eine Autonomie der Vernunft, also eine ihr aus ihr selbst zukommende Geltung, nicht nur schon längst ausgearbeitet war (das geschah bereits durch Albert den Großen und einige deutsche Philosophen nach ihm ab Mitte des 13. Jahrhunderts). Durch die Wende zur Neuzeit war diese Autonomie darüber hinaus zum Dreh- und Angelpunkt philosophischen Denkens geworden; der eigentliche Gegenspieler Pascals war ja kein geringerer als René Descartes. Mit seinem „Ego cogito, ego sum“ hatte er einen unhintergehbaren Haltepunkt allen Wissens zu markieren unternommen: Ich kann mich über alles täuschen, aber dass ich es bin, der in einem Akt des Denkens denkt und dass es mich darum geben muss, darin kann ich mich nicht täuschen; also gelangt die Vernunft in ihrem eigenen Vollzug auf einen Gewissheitsboden und dies überdies nicht gegen den Gedanken und die Wirklichkeit Gottes. Vielmehr geschieht das umgekehrt so, dass das denkende Subjekt in diesem Rückgang Gott selbst als die Voraussetzung dieses Gewissheitsbodens erkennt. In der Meditatio III heißt es: 21
PASCAL, Blaise: Das Memorial. In: DERS.: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Penseés). Übertragen u. hg. v. Ewald Wasmuth. 9. Aufl. Darmstadt 1994. 248-249. Hier 248.
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„Auch darf ich nicht glauben, ich begriffe das Unendliche nicht in einer wahrhaften Vorstellung, sondern nur durch Verneinung des Endlichen, so wie ich Ruhe und Dunkelheit durch Verneinung von Bewegung und Licht begreife. Denn ganz im Gegenteil sehe ich offenbar ein, daß mehr Sachgehalt in der unendlichen Substanz als in der endlichen enthalten ist und daß demnach der Begriff des Unendlichen dem des Endlichen, d.i. der Gottes dem meiner selbst gewissermaßen vorhergeht. Wie sollte ich sonst auch begreifen können, daß ich zweifle, daß ich etwas wünsche, d.i. daß mir etwas mangelt und ich nicht ganz vollkommen bin, wenn gar keine Vorstellung von einem vollkommeneren Wesen in mir wäre, womit ich mich vergleiche und so meine Mängel erkenne?“22
Pascal hat das nicht beeindruckt. Im Gegenteil: Durch Dritte ist überliefert, er habe Descartes’ Philosophie „‚einen Roman der Natur, vergleichbar der Geschichte des Don Quichote’“23 genannt, und dass er deren Urheber selbst „überflüssig und unschlüssig“ heißt, belegen die Penseés selbst.24 Was die Gottesfrage betrifft, heißt es unmittelbar davor: „Das kann ich Descartes nicht verzeihen. Er hätte am liebsten in seiner ganzen Philosophie Gott nicht bemüht; er aber kam doch nicht umhin, ihn der Welt, um sie in Bewegung zu setzen, einen Nasenstüber geben zu lassen; danach hat er nichts mehr mit Gott zu tun.“25
Angesichts der vorhin zitierten Passage aus den Meditationes reibt man sich die Augen. Aber Pascal kannte nachweislich Tertullian.26 Manchmal halten sich Stile unabhängig von Inhalten durch. Neben dem Autor und dem Zeitpunkt ist an Pascals Memorial gleichermaßen dessen Wirkungsgeschichte von Belang. Im Grunde war durch diese paar Worte kraft Pascals Autorität die prinzipielle Möglichkeit eines Umgangs mit der Gottesfrage jenseits einer kritischen Philosophie festgeschrieben worden. Pascal spricht in diesem Zusammenhang von einer Ordnung, einer Logik des Herzens, die eine andere sei als die des Geistes.27 Was daraus selbst in der neueren Wirkungsgeschichte werden konnte, zeigt sich exemplarisch daran, dass etwa der deutsche Pascal-Übersetzer und -Herausgeber Ewald Wasmuth noch Mitte des 20. Jahrhunderts seine Anmerkung zum Memorial mit dem Satz beschließen konnte:
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DESCARTES, René: Meditationes de prima philosophia. III, 24. PASCAL: Penseés (Anm. 21). 458. Vgl. PASCAL: Penseés (Anm. 21). 53. (Fragment 78). PASCAL: Penseés (Anm. 21). 52-53. (Fragment 77). PASCAL: Penseés (Anm. 21). 416. (Fragment 890). Vgl. PASCAL: Penseés (Anm. 21). 143. (Fragment 283).
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„Zu verstehen ist hier nichts, zu deuten ist hier nichts, und was den Verstand angeht, so sei ihm mit Pascal geantwortet: zu Boden mit dem Dünkelhaften.“28
L. Schestow. Noch jemanden möchte ich hier nennen, der sich dem philosophiekritischen Strang der Verhältnisbestimmung zwischen Vernunft und Glaube einschreibt — nein: eigentlich nicht nur einschreibt, sondern ihn bis zum Anschlag verschärft in einem Frontalangriff auf die Moderne und ihr philosophisches Denken — und zwar unter dem Tertullian-Logo „Athen und Jerusalem“: Ich meine Leo Schestows gleichnamiges Werk29 von 1938. Schestow, aus Russland emigriert, in Paris arbeitend, hat jegliche spekulative Philosophie als Ausdruck diabolischen Hochmuts zurückgewiesen und auf die biblische Offenbarung als einzige Quelle der Wahrheit jenseits aller Verstandesreichweite insistiert: Die johanneische Ineinssetzung von Christus und „logos“ galt ihm als ein kapitaler Sündenfall. Ihm stellte er seine „biblische Philosophie“30 entgegen. Diese hat ihre alles bestimmende Mitte im Glauben, alles, was (mit Paulus gesprochen) aus diesem nicht kommt, ist Sünde.31 Glaube hebelt prinzipiell auch die ewigen Vernunftwahrheiten aus, um die die Philosophie von Platon bis Spinoza, Leibniz und Kant zentriert ist. Das damit verbundene Ausweichen vor dem Begriff des Schöpferwillens, für dessen Souveränität es solche notwendigen Wahrheiten nicht geben kann, lässt sie nach Schestows Überzeugung die wirklichen Dimensionen menschlicher Existenz,
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PASCAL: Penseés (Anm. 21). 485. Anm. 248. SCHESTOW, Leo: Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen Philosophie. Mit einem Essay von Raimundo Panikkar. Aus dem Russ. v. Hans Ruoff. München 1994. SCHESTOW: Athen (Anm. 29). 24. Vgl. SCHESTOW: Athen (Anm. 29). 24-36. — Aus christlich-orthodoxer Perspektive korrespondiert dem auf enge Weise das — wiederum weitgehend vergessene — Denken Pavel Florenskijs, was auch damit zu tun hat, dass dessen Hauptwerk Stolp i utverzdenie Istiny (Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit) von 1914 bis dato deutsch nicht vollständig zugänglich ist. Vgl. dazu LEWIN, Iosif Davidowitsch: „Ich habe P. Florenskij ein Mal gesehen…“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999). 1035-1044. — ULLMANN, Wolfgang: Wahrheit als Subjekt. Überlegungen anlässlich Brief 2-4 in Florenskijs „Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“. In: HAGEMEISTER, Michael/METELKA, Torsten (Hgg.): Appendix 1. Materialien zu Pavel Florenskij. Berlin; Zepernick 1999. 1139.
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wie sie sich im Lachen, Trauern, Verwünschen und Weinen32 geltend machen, gar nicht erreichen. Nun nimmt sich eine solche pointierte Standortbestimmung heute gar nicht so aufregend aus, seitdem es in manchen Theologenkreisen Mode geworden ist, dogmatisch die Sinnlosigkeit allen Dialogs namentlich mit der neuzeitlichen Vernunft zu dekretieren und Glaubensvermittlung stattdessen über mehr oder weniger autoritäre Dressuren auf die biblische Semantik abzustellen.33 Davon ist ein Schestow um Dimensionen entfernt. Er gewinnt seine Position aus der so scharfen wie sorgfältigen Auseinandersetzung gerade mit den elaboriertesten Gestalten modernen Philosophierens, mit Leibniz, mit Kant, am meisten mit Spinoza — „dem kühnsten und offenherzigsten unter ihnen“34 —, den er so sehr liebte, wie er ihm ein Feind war, „mit dem er sein ganzes Leben wie mit einer Versuchung rang“35. Das verleiht seiner Option die intellektuelle Fallhöhe, die der Philosophie zur wahren Herausforderung werden kann, weil — in Abwandlung eines durch Hölderlin inspirierten Wortes Josef Piepers — ihre Woge niemals so hoch aufschäumte, wenn sie sich nicht am Fels der Offenbarungswahrheit bräche.36 M. Heidegger. Ziemlich zeitgleich zu Schestow hat noch einer sich ganz ähnlich zu Wort gemeldet. Nicht einer, der auch Pascal kommentierte, sondern in eigenem Namen eine unüberbrückbare Differenz zwischen Philosophie und Theologie markierte, um dabei aber gleichsam von der anderen Seite her zum gleichen Resultat wie Pascal zu kommen. Es war Martin Heidegger, einer der wirkmächtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, der 1957 in dem schmalen Werk Identität und Differenz schrieb: 32
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Schestow bezieht sich mit diesen Konkretionen auf das, was es nach Spinoza zu vermeiden gilt, um ein vernunftgeleitetes und damit glückliches Leben zu führen. Vgl. SCHESTOW: Athen (Anm. 29). 24-25. Vgl. exemplarisch RUSTER, Thomas: Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion. Freiburg i.Br.; Basel; Wien 2000. 198-201. — DERS.: Die Welt verstehen „gemäß den Schriften“. Religionsunterricht als Einführung in das biblische Wirklichkeitsverständnis. In: Religionsunterricht an höheren Schulen 43 (2000). 189-203. SCHESTOW: Athen (Anm. 29). 24. BERDJAJEW, Nikolaj: Der Grundgedanke der Philosophie Schestows. In: SCHESTOW, Lew: Spekulation und Offenbarung. Essays und kritische Betrachtungen. Dt. v. Hans Ruoff. Hamburg; München 1963. 7-15. Hier 9. Vgl. PIEPER, Josef: Was heißt philosophieren? Vier Vorlesungen. In: DERS.: Schriften zum Philosophiebegriff. Werke in acht Bänden. Bd. 3. Hg. v. Berthold Wald. Hamburg 1995. 15-70. Hier 66.
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„[...] Causa sui [sc. Grund seiner selbst; K. M.]. So lautet der sachgerechte Name für den Gott in der Philosophie. Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen. Demgemäß ist das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher.“37
Gerade an Heidegger hatten sich, um es vorsichtig zu sagen, theologische Hoffnungen geknüpft. Der Neutestamentler Rudolf Bultmann hatte auf evangelischer Seite eine intensive Rezeption von Heideggers damals als Hauptwerk geltendem Sein und Zeit von 1927 angestoßen. Katholischerseits war so etwas wie eine Heidegger-Schule entstanden; Johannes Baptist Lotz, Gustav Siewerth, Max Müller und Karl Rahner zählten dazu, ohne dass man sagen könnte, einer von ihnen sei im strengen Sinn Heidegger-Schüler gewesen. Heidegger selbst hielt sich ganz entsprechend seiner Stellungnahme in Identität und Differenz in Distanz zur Theologie. Einzelne Dicta des späten Heidegger wie das berühmte „Nur ein Gott kann uns retten“ aus einem SPIEGEL-Interview von 1975 dürfen nicht missverstanden werden. Erst noch der alte HansGeorg Gadamer, der wohl mit dem Lehrer vertrauteste HeideggerSchüler, deutete in einem Interview an, dass Heidegger bei der evangelischen wie katholischen Annäherung ausgesprochen unbehaglich war. Wenn überhaupt Theologisches, dann habe ihn das Phänomen und Selbstverständnis der Ostkirche angezogen: Eine Sprache und Liturgie vor allem, die überzeugt ist, auf Vermittlung und Rechtfertigung vor dem Forum der Vernunft nicht angewiesen zu sein. Das aber heißt eine Position besetzen, die sich mit derjenigen Pascals der Sache nach im Wesentlichen deckt. Wenn viele Theologinnen und Theologen seit Jahrzehnten die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie als nicht mehr relevant betrachten, dann deshalb, weil sie sich theologisch durch Pascal und philosophisch durch Heidegger von ihr dispensiert glauben. Zu Pascals wie zu Heideggers Form der Absage an ein Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie hätte es nie kommen können, wenn jene Verhältnisbestimmung wirklich tragfähig gewesen wäre, von der ebendies — tragfähig zu sein — bis heute behauptet wird und die sich dementsprechend auch geschichtlich durchgesetzt hat: Ich meine das Konzept des Thomas von Aquin. 37
HEIDEGGER, Martin: Identität und Differenz. 5. Aufl. Pfullingen 1976. 64-65.
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2. MODELLE IM VERHÄLTNIS VON PHILOSOPHIE UND THEOLOGIE
Klassisches Modell mit Hypothek
Thomas’ originäre Leistung. Um nicht falsch verstanden zu werden: Thomas von Aquin hat keinen billigen Versöhnungsversuch oder gar eine philosophisch-theologische Mixtur geboten. Gemessen an den sozio-kulturellen Rahmenbedingungen muss sein Modell der Verhältnisbestimmung als genial gelten. Das Problem sind die systematischen Folgen (die im Übrigen bis heute längst nicht von allen gesehen werden). Worum geht es? Ich sehe drei Momente, die den Hintergrund für Thomas’ Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie großräumig bestimmen: (a) Neuer Predigtstil. Thomas gehört dem von Domingo Guzmán Anfang des 13. Jahrhunderts aus pastoralen Motiven gegründeten „Orden der Predigerbrüder“ an. Anlass dafür gab Domingo (oder Dominikus) die Begegnung mit den Waldensern und Albigensern, zwei Gruppierungen, die sich aus Unzufriedenheit über kirchliche Zustände abgespalten hatten. Zwar hatte der Papst sofort Gesandte losgeschickt, um die Abtrünnigen wiederzugewinnen. Aber das Projekt scheiterte. Dominikus sah klar, warum: Weil diese Legaten mit Prunk und großem Gefolge auftraten. „Equester praedicare“ wurde dieser Stil genannt, weil die Boten — nicht zuletzt symbolisch bedingt — vom Rücken ihrer Pferde herab predigten, ein Schwert dabei in der Hand. Die Dominikaner stellten dem programmatisch ein „pedester praedicare“ entgegen: Sie predigen „zu Fuß“ und kommen als Bettelmönche in evangelischer Armut und Einfachheit, „bewaffnet“ einzig mit dem Wort Gottes und den besseren Argumenten. Das aber bedeutet: Die Dominikaner veränderten den Ort der Theologie radikal: Sie trugen Letztere hinaus aus dem mystischen Halbdunkel der Kathedralen und Kreuzgänge auf die staubigen Straßen. Dort musste sie tragfähig sein. Ich füge noch den Hinweis an, dass es sich bei der Bettelordenbewegung — also vor allem den Dominikanern und Franziskanern — um eine der Hauptformen von praktischer Religionskritik in der Hochzeit des Mittelalters handelt, um Religionskritik, die aus der Mitte von Christentum und Kirche selber kam. (b) Herausforderung Islam. Anfang des 7. Jahrhunderts entstand völlig unerwartet im jüdisch-christlichen Kulturkreis eine dritte Großreligion: der Islam. Die theologischen Fragen, die dadurch aufgeworfen werden, dass sich Jahrhunderte nach der aus christlicher Sicht endgültigen Offenbarung Gottes in Jesus Chris-
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tus eine neue Religion siegreich ausbreiten kann, sind in der Fundamentaltheologie zu diskutieren (aber bis heute nirgends wirklich diskutiert worden). Zur Zeit eines Thomas von Aquin nun trat der Islam endgültig bis weit ins Innere Europas hinein als kultureller Faktor auf den Plan vor allem mit philosophischen, theologischen, medizinischen und anderen wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Leistungen, die denen des christlichen Kulturkreises nicht nur ebenbürtig waren, sondern diese zum Teil entschieden überragten. Einen Denker wie Thomas, der — eine ältere Quelle zitierend — schreiben konnte „Alles Wahre, von wem immer es gesagt wird, stammt vom Heiligen Geist“38,
so jemanden konnte eine solche intellektuelle Herausforderung nicht unberührt lassen. (c) Der wiederentdeckte Aristoteles. Das gilt umso mehr, weil islamische Denker intensiv an einem philosophischen Vorgang nicht zu überschätzender Bedeutung beteiligt sind, in den auch Thomas’ Zeit fällt39: Ab Mitte des 12. Jahrhunderts wird im christlichen Abendland der „ganze Aristoteles“ wiederentdeckt. Die Texte werden dabei nicht nur aus dem Griechischen, sondern auch aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt. Und vor allem waren es jüdische und noch mehr muslimische Kommentatoren, die den christlichen Lesern erste Verstehenshilfen vermittelten. Der Erste, der als Lehrer der Theologie systematisch neben seinen Vorlesungen zu biblischen Büchern und theologischen Fragen den kompletten Aristoteles kommentiert, ist Thomas von Aquins Lehrer Albert der Große, auch er Dominikaner und Gründer der ersten Universität auf deutschem Boden in Köln. Das alles gab nun auch der Philosophie eine ganz eigene Ortsbestimmung: Die Gelehrten der drei großen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam lesen miteinander Werke eines heidnischen Philosophen. Und diese Werke ihrerseits wieder beinhalten bereits Theologie: Aristoteles’ Aussage über einen letzten Grund des Kosmos wurde ihnen zur gemeinsamen Basis ihrer sonst durchaus kontroversen Rede über Gott.
38 39
THOMAS VON AQUIN: Summa Theologiae. I-II, q.109, a1. Vgl. zum Folgenden VERWEYEN, Hansjürgen: Einleitung zu Anselm von Canterbury: Freiheitsschriften. Lat./Dt. Freiburg i.Br. u.a. 1995. (Fontes Christiani; 13). 7-57. Hier 26-28.
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Vermittlungsmodell. Für die Vermittlung aber zwischen diesem Gemeinsamen einerseits und den divergierenden Offenbarungsansprüchen andererseits bot sich wie von selbst das Konzept an, das man heute gern „Stockwerk-Theologie“ nennt, d.h.: Eine philosophische Theologie bildet den Grundstock, über ihr werden die geoffenbarten Wahrheiten situiert, und diese sind der autonomen Vernunft prinzipiell verschlossen. Und so antwortet Thomas gleich im ersten Artikel der ersten Quaestio seines Spätwerks Summa Theologiae auf die Frage, ob neben den philosophischen Disziplinen noch eine andere Doktrin gelehrt werden müsse: „Das Heil der Menschen verlangt außer den philosophischen Wissenschaften, die im Bereich der menschlichen Vernunft bleiben, eine Lehre, die auf göttlicher Offenbarung beruht. Zunächst deshalb, weil Gott den Menschen für ein Ziel bestimmt hat, das die Fassungskraft der Vernunft übersteigt. Is 64,4: ‚Außer dir hat kein Auge gesehen, was du, o Gott, denen bereitet hast, die dich lieben.’ Das Ziel aber muß dem Menschen vorher bekannt sein, wenn er sein Wollen und Handeln darauf einstellen soll. Darum mußten dem Menschen, sollte er sein Heil nicht verfehlen, durch göttliche Offenbarung manche Dinge kund werden, die über die menschliche Vernunft hinausgehen. Aber auch jene Wahrheiten über Gott, die an sich der menschlichen Vernunft erreichbar sind, mußten dem Menschen geoffenbart werden. Denn die Erforschung dieser Wahrheiten wäre nur wenigen möglich, würde viel Zeit in Anspruch nehmen und auch dann noch mit viel Irrtum verbunden sein. Und dabei hängt von der Erkenntnis dieser Wahrheiten das Heil des Menschen ab, das in Gott gelegt ist. Sollten die Menschen daher in größerer Zahl und mit größerer Sicherheit das Heil erlangen, so mußte Gott ihnen diese Wahrheiten offenbaren. So war also neben den philosophischen Wissenschaften, die rein auf der Forschungsarbeit der menschlichen Vernunft beruhen, eine heilige Lehre notwendig, die auf göttlicher Offenbarung gründet.“40
Thomas bestimmt beider Beziehung aufeinander dadurch, dass er auf doppelte Weise eine Notwendigkeit der Theologie jenseits der Philosophie begründet: Zum einen, weil so etliche Vernunftwahrheiten, die ansonsten nur schwer und Wenigen zugänglich würden, leichter und für Viele zu erreichen sind. Und zum anderen, weil es Wahrheiten gibt, die ausschließlich durch Offenbarung zugänglich werden, z.B. die Botschaft von der Menschwerdung und die Rede von der Dreifaltigkeit.
40
THOMAS VON AQUIN: Summa Theologiae. I, q.1, a1 c.
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Problematische Folgen. So sympathisch dieses Konzept einer Zuordnung von Philosophie und Theologie auf den ersten Blick sein mag, weil es ersichtlich um den Menschen und um eine Koexistenz der damals virulenten großen Religionen bemüht ist, seine systematischen Konsequenzen sind trotzdem problematisch: Denn es verlagert gerade die fundamentalen christlichen Glaubensgeheimnisse in einen Bereich jenseits vernünftiger Zugänglichkeit. Gerade die Mitte des Christlichen muss im Letzten doch von außen herangetragen werden. Das Wesentliche wird zur Zusatzinformation über das philosophisch Erreichbare hinaus. Man sagt gern „Extrinsezismus“ dafür. Wird nach Verstehen oder gar nach begründender Rechenschaft gesucht, können einzig Wunder und Weissagungen, also wiederum als übernatürlich Behauptetes dafür aufkommen. Daraus kann natürlich ohne große Umstände eine Einstellung werden, die ewigen Gedeih und Verderb des Menschen daran festmacht, dass er dem autoritativ Vorgelegten schlicht und einfach gehorcht. So kam es tatsächlich völlig im Gegensatz zu Thomas selbst vor allem von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Sein Preis aber muss das Modell obsolet machen. Denn wenn sich das Denken an sich als der Gottesfrage fähig erweist, warum ist es dann völlig ausgeschlossen, wo es um die richtige Antwort auf diese Frage geht, an deren Richtigkeit schier alles hängt? Damit stellt sich natürlich eine brisante Frage. Wenn dieses Zuordnungsmodell von Philosophie und Theologie, das mit Thomas’ Namen verbunden ist und im Wesentlichen offiziell als das Verbindliche gilt, auf die gezeigte Weise in die Sackgasse führt, gibt es dann eine Alternative — und wenn ja, was für eine?
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2. MODELLE IM VERHÄLTNIS VON PHILOSOPHIE UND THEOLOGIE
2.4
Alternative
Präfiguration: Justin. Diese Alternative gibt es, und es gibt sie schon lange. Nur konnte sie sich im Grunde bis heute nicht durchsetzen. Es gibt sie sogar länger als alle anderen Alternativen. Sie ist nämlich der Sache nach älter als die tertullianische Option. Kein anderer als der schon anfangs unserer Fragestellung erwähnte Justin der Märtyrer hat ihren Kerngedanken um 150 herum in seinen zwei Apologien erstmals gefasst.41 Die erste dieser beiden Verteidigungsschriften adressiert Justin an die römischen Kaiser, aber nicht, um zu katzbuckeln oder die Herrscher als kompetente Instanz für die Beurteilung des christlichen Glaubens anzuerkennen. Vielmehr appelliert Justin an den von den Kaisern selbst erhobenen Anspruch „gottesfürchtig und Philosophen“ zu sein, d.h. er nimmt Bezug auf das Kriterium des „logos“ und benennt damit eine gemeinsame Ebene: Sie, die Kaiser haben sich dieser Instanz unterstellt und auch er selbst tut es. Der „logos“ ist durch „logoi spermatikoi“ überall präsent, die Mythen hätten ihn entstellt, bei den Philosophen sei er zum Teil unverstellt bewahrt geblieben (an dem Punkt musste Justin, wie schon kurz erwähnt, im Stil anderer Autoren anscheinend unbedingt nachtreten, denn er fügt hinzu: Diese Bewahrung verdanke sich der Lektüre prophetischer Bücher seitens der Philosophen). Da in Christus ebendieser „logos“ Fleisch geworden sei, vermöchten die Christen von ihm her den Menschen auf die ursprüngliche und universale Wahrheit zurückzuführen. Andersherum gesagt: Die christliche Glaubensrechtfertigung soll dadurch geschehen, dass in Anknüpfung an die „logoi spermatikoi“, die „logos“-Saatkörner der Philosophie, und in Entlarvung der mythischen „logos“-Verzerrungen für die Adressaten in der christlichen Botschaft der „logos“ in seiner unverkürzten und unverstellten Gestalt erkennbar wird. Schon in dieser Urform tritt der grundlegende Unterschied dieses Ansatzes gegenüber demjenigen eines Thomas unübersehbar zutage: Thomas hatte einen Teil der Gotteslehre an die Philosophie überwiesen, die christlichen Essentials aber als für die Vernunft unzugänglich der Theologie vorbehalten. Justin geht die Sache gewissermaßen andersherum an: Gerade die zentralen Gehalte der christlichen Botschaft bringen für
41
Vgl. zum Folgenden VERWEYEN, Hansjürgen: Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie. 2. Aufl. Düsseldorf 1991. 52-58 (Dort weitere Lit.).
ALTERNATIVE
49n
ihn die Vollgestalt des „logos“ an den Tag. Das bedeutet zweierlei zugleich: (a) Zum einen stellt die Philosophie zumindest Ansatzpunkte für ein denkerisches Raster bereit, durch das sich der volle „logos“ und damit die christliche Botschaft als die „wahre Philosophie“ erkennen lassen. (b) Zum anderen kommt dieser Erkenntnisprozess nur dadurch in Gang, dass der philosophische „logos“ durch den fleischgewordenen „logos“ auf den Weg zu sich gebracht wird. Formal gefasst: Justin bezieht Philosophie und Theologie dialektisch aufeinander: Indem die eine sich gewissermaßen in den Dienst der anderen stellt, kommen sie jede für sich gleichzeitig auch zu sich. Radikalisierung: Anselm von Canterbury. Dialektische Verhältnisse sind immer spannungsgeladen. Für Justin und etliche nachfolgende Jahrhunderte war diese Spannung aus der dialektischen Verknüpfung zwischen Philosophie und Theologie dadurch erheblich abgemindert, dass Philosophie nicht als eine methodisch der Theologie gegenüber eigenständige Disziplin begriffen war (wenn sich nicht ohnehin der tertullianische Crash-Kurs durchsetzte). Darum musste diese Verhältnisbestimmung erneut Thema werden, als sich die Philosophie im 11. Jahrhundert methodisch zu verselbstständigen begann. Sollte die dialektische Verhältnisbestimmung überhaupt erhalten werden können, musste sie durch Radikalisierung im buchstäblichen Sinn, also kraft einer Durchführung bis in ihre eigenen Wurzeln hinab, erneuert werden. Genau dies hat Anselm von Canterbury geleistet. Vernunft und Sünde. Um diese Leistung zunächst einmal vorwegnehmend so zu charakterisieren, dass dabei diese doppelte, die philosophische wie die theologische Seite treffende Radikalisierung sichtbar wird, könnte man sagen: Einerseits ist für Anselm klar, dass die Sünde das Vermögen der menschlichen Vernunft schwer beeinträchtigt hat und sie darum des Glaubenslichtes bedarf, um ihre eigentliche Sehkraft wiederzugewinnen (das ist theologische Radikalisierung). Andererseits ist für ihn ebenso klar, dass Glaube die Vernunft zu einer Autonomie befreit, in deren Reichweite eine Gotteslehre Platz findet, die sogar noch die Trinität einschließt, und die aus rein philosophischen Gründen die Notwendigkeit einer Erlösung des Menschen durch eine Gestalt, wie sie Jesus Christus verkörpert, einsichtig zu machen versteht (das macht die philosophische Radikalisierung aus).
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Ortsangabe. Exemplarisch macht Anselm seinen Standort dadurch deutlich, dass er in seinem Werk Proslogion im zweiten Kapitel die eigentliche Sachdiskussion mit einem Gebet beginnt. Das ist kein traditioneller Gestus und auch kein frommer Unterbau. Vielmehr bezeichnet Anselm damit seine Ausgangsposition, den Glauben. Er gibt klar zu erkennen, wo er steht. Das macht eine philosophische Diskussion nicht nur nicht schwieriger. Es ermöglicht sie streng genommen allererst. Denn jede und jeder, der in das Gespräch über ein gemeinsames Verbindendes eintritt, tut das ja von ihren oder seinen je eigenen Voraussetzungen her. Und auch gerade, wer sagte „Ich trete voraussetzungslos ins Gespräch“, brächte eine besonders ungeklärte Voraussetzung ins Spiel (eben die, nichts vorauszusetzen). Darum leitet die, die ausdrücklich sagen, von woher sie kommen, eine genuin philosophische Einstellung. Sie erst sind auch in der Lage, sich aus dem eigenen Bereich herauszuwagen ins Abenteuer eines wirklichen Gesprächs. „Abenteuer“ nenne ich es deswegen, weil, wer sich anderem als dem eigenen aussetzt, ja damit rechnen muss, aus dieser Begegnung verwandelt zurückzukehren. Jahrhunderte nach Anselm hat Johann Gottlieb Fichte offengelegt, dass solches Herausgefordertwerden von einem anderen die notwendige Grundstruktur meines wahren Selbstseins ausmacht. Der Sache nach und theologisch gewendet ist das auch schon bei Anselm da: Der Vollzug der menschlichen Vernunft als autonomer hat Gottes befreiende Tat (in der erlösenden Menschwerdung) zur Bedingung seiner Möglichkeit. Darum kann Anselm im ersten Kapitel des Proslogion schreiben: „Ich bekenne, Herr, und sage Dank, daß du in mir dieses Dein Bild geschaffen hast, damit ich, Deiner mich erinnernd, Dich denke, Dich liebe. Aber so sehr ist es durch abnützende Laster zerstört, so sehr ist es durch den Rauch der Sünden geschwärzt, daß es nicht tun kann, wozu es gemacht ist, wenn Du es nicht erneuerst und wiederherstellst. Ich versuche nicht, Herr, deine Tiefe zu durchdringen, denn auf keine Weise stelle ich ihr meinen Verstand gleich; aber mich verlangt, Deine Wahrheit einigermaßen einzusehen, die mein Herz glaubt und liebt. Ich suche ja auch nicht einzusehen, um zu glauben, sondern ich glaube, um einzusehen. Denn auch das glaube ich: wenn ich nicht glaube, werde ich nicht einsehen.“42
Notwendige Vernunftwahrheiten. Wenn die Vernunft sich selbst zum Thema macht und radikal durchdenkt, kommt sie, 42
ANSELM VON CANTERBURY: Proslogion. I.
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sagt Anselm, notwendig zu der Wirklichkeit dessen, „worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann.“43 Das ist die Bezeichnung Gottes in Anselms berühmten „ontologischen Argument“, also Gottesbeweis. (→ → Bd. 1, Kap. 10) Eben dorthin aber kommt sie nur, insofern sie durch die erlösende Tat Gottes, also die Offenbarung, dazu befähigt ist. Was umgekehrt wiederum heißt, dass, wenn es so ist, sich das Tun Gottes und damit sein Mysterium rein mit den Mitteln der Vernunft als vernünftig nachvollziehen lässt. Was noch einmal umgekehrt bedeutet, dass solche Nachvollziehbarkeit, lässt sie sich realisieren, belegt, dass die menschliche Vernunft tatsächlich durch die Initiative Gottes zu ihrer äußersten Möglichkeit und damit im Vollsinn zu sich selbst gebracht wird. Das die Vernunft zu sich selbst befreiende Tun Gottes, das in der Menschwerdung ein für alle Mal geschehen ist und im Wort der Verkündigung je neu gegenwärtige Anrede wird, bleibt unbedingte Vorgabe. Aber verbindlich wird es erst dadurch, dass und im Maß, in dem es durchdacht, also von der Vernunft aus eigener Kraft nachvollzogen ist. Durch und durch überzeugt sein kann ich ja auch nur von dem, dem ich die unbedingte Zustimmung meiner Vernunft geben kann. Eine Passage aus der Trinitätstheologie eines früheren Werkes von Anselm, seinem Monologion lässt sich als treffliche Charakteristik des Verhältnisses von Theologie und Philosophie, von Vernunftautonomie und Offenbarungsvorgabe lesen, wie Anselm es fasst: „Denn wie ein Weiser mich seine Weisheit, deren ich vorher nicht kundig war, lehrte, so würde man nicht unpassend sagen, das tue diese seine Weisheit. Aber obwohl meine Weisheit von seiner Weisheit ihr Sein und Weisesein hätte, würde sie dennoch, wenn sie bereits da wäre, nur durch ihre Wesenheit sein und nur durch sich selbst weise sein.“44
Späte Wiederaufnahmen. Anselms Konzept eines dialektischen Verhältnisses von Theologie und Philosophie hat sich historisch gesehen nicht durchgesetzt, blieb im Grunde Episode. Das später aufgekommene thomanische Modell trug den Sieg davon. Erst ein Maurice Blondel griff wieder der Sache nach das Konzept Anselms auf. Aber auch er setzte sich nicht durch. Darum musste derjenige, der in unserem Jahrhundert dieser Option folgte, wieder von vorn anfangen. Es war Karl Rahner mit seiner zwei43 44
ANSELM VON CANTERBURY: Proslogion. II ANSELM VON CANTERBURY: Monologion. XLIV.
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ten großen Publikation Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, erste Auflage 1941. ( Religionsphilosophie) Ich nannte soeben die Auflagen-Nummer nicht zufällig. Denn dass auch dieses Projekt einer dialektischen Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie zum Erliegen kam, geht im Wesentlichen auf die zweite Auflage des gleichen Buches zurück. Rahner hatte nämlich seinen Schüler Johann Baptist Metz beauftragt, sein Hörer des Wortes für eine zweite Auflage zu überarbeiten. Metz tat das auftragsgemäß so, dass er in das vorliegende Werk Etliches eintrug, was Rahner nach der Erstauflage erarbeitet hatte. Dazu aber gehörten auch Gedanken, die die dialektische Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Theologie faktisch überflüssig machten. Das geschah im Wesentlichen dadurch, dass in die philosophische Beschreibung des Menschen Züge eingetragen wurden, die in Wahrheit theologischer Natur waren. Diese zweite Auflage erschien 1963. Danach kommt es zu einem auffälligen Ausfall an Überlegungen zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, der im Wesentlichen bis vor kurzem angehalten hat. Mittlerweile ist das anders geworden: Das Verhältnis von Vernunft und Glaube ist — nicht zuletzt bedingt durch die politischen Ereignisse seit dem 11.9.2001 und den nachfolgenden Debatten über Religion und Gewalt — wieder ins Zentrum des Interesses zurückgekehrt. Resümee. Zusammenfassend lässt sich von Justin und Anselm her sagen: Es gibt ein wechselseitiges Prius zwischen Theologie und Philosophie, d.h. etwas flott formuliert: Einmal hilft die eine und einmal die andere der jeweils anderen auf die Sprünge. Konkret bedeutet das45: (a) Nur dort, wo die Fragen nach dem Ganzen der Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Menschen in diesem Ganzen überhaupt gestellt werden, wo also Philosophie getrieben wird, kann der Gottesgedanke überhaupt aufkommen. Allein schon gegen das bloße Wort „Gott“ wird ja zuweilen der Verdacht vorgetragen, es sei ein sinnloser sprachlicher Ausdruck. Das tat z.B. Rudolf Carnap 1931 in dem berühmten Aufsatz Überwindung der Metaphysik durch
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Vgl. zum Folgenden auch PRÖPPER, Thomas: Freiheit als philosophisches Prinzip der Dogmatik. Systematische Reflexionen im Anschluß an Walter Kaspers Konzeption der Dogmatik. In: Dogma und Glaube. Bausteine für eine theologische Erkenntnislehre. (FS Kasper). Hg. v. Eberhard Schockenhoff u. Peter Walter. Mainz 1993. 165-192.
ALTERNATIVE
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logische Analyse der Sprache46. Dass die Wirklichkeit Gottes und eine etwaige Offenbarung dieses Gottes als zumindest möglich und sinnvoll gedacht werden können, hängt darum davon ab, dass wenigstens eine von allem Weltlichen und allem Menschlichen differente Wirklichkeit gedacht werden und eine mögliche Selbstmitteilung dieser Wirklichkeit als bedeutsam begriffen werden kann. Diese Doppelaufgabe kann einzig philosophisch eingelöst werden. Philosophie hat darum auch das Recht, Minimalkriterien für eine seriöse Rede von Gott aufzustellen. Darin besteht die philosophische Vorgabe für die Theologie. (b) Theologie ist ihrem eigenen Verständnis nach Rede von einem Gott, der selbst geredet hat. Theologie ist sich einer Wahrheit gewiss, die ihr geschenkt wurde. Diese Wahrheit betrifft das Wirklichsein Gottes und das Faktum, dass er sich von sich aus dem Menschen zu erkennen gibt und mitteilt. Philosophie hat zwei Gründe, sich mit dieser Vorgabe seitens der Theologie auseinander zu setzen: Zum einen ist Philosophie dadurch bestimmt, nach dem Ganzen der Wirklichkeit zu fragen. Damit kann sie ihrer Aufgabe und ineins damit sich selbst nur dadurch treu sein, dass sie nichts auslässt, was ihr möglicherweise hilft, Ganzheit im buchstäblichen Sinn radikal zu fassen. Für Theologie bedeutet Gott soviel wie „die alles bestimmende und begründende Wirklichkeit“. Folglich wird Philosophie in eminentem Sinn nur dann sich selbst als Frage nach dem Ganzen gerecht, wenn sie kritisch der von der Theologie vorgetragenen Rede von Gott nachsinnt. Es könnte ja sein, dass ihr gerade durch diese erst das wahre Ausmaß der Ganzheit des Wirklichen erschlossen wird. Auch der zweite Grund dafür, dass Philosophie gut daran tut, dem von der Theologie Vorgetragenen Gehör zu schenken, hat mit dem Selbstverständnis von Philosophie zu tun: Philosophie besteht wesentlich in Kritik. Kritik kommt vom griechischen „krisis“, zu Deutsch: Scheidung, Unterscheidung. Philosophie zielt auf die Scheidung von Schein und Sein, von wahr und falsch. Und sie fängt notwendig mit diesem Werk der Scheidung bei ihrem eigenen Medium an: bei der Vernunft. Denn der Begriff des Scheins setzt logisch voraus, dass Vernunft selbst sich als täuschbar erfährt. Etwas ist in Wirklichkeit anders, als es sich auf den ersten Blick darstellt. Wenn Philosophie heißt, uneingeschränkt danach zu fragen, wie sich etwas wirklich verhält, dann 46
CARNAP, Rudolf: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis 2 (1931). 219-241.
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muss sie auch damit rechnen, dass sie sich gerade in dem täuscht, was auf der Hand zu liegen scheint. Insofern wird sie um ihrer selbst willen gerade dem nachgehen, was ihre plausiblen, gängigen Überzeugungen in Frage stellt. Anders gewendet: Sie wird das, was die Theologie „Umkehr“ nennt, als Prinzip ihrer eigenen Identität entdecken. Gerade dort, wo Philosophie einem Anspruch begegnet, der sich einer glatten Erfassung durch ihr Instrumentar verweigert, wird sie darum besonders sorgfältig zu prüfen haben, ob dieser Tatbestand durch den Anspruch an sich oder durch ihre faktische Verfassung bedingt ist. Radikales Philosophieren wird darum nicht ausschließen, gerade durch Ansprüche seitens der Theologie zu sich selbst gebracht zu werden. Das macht die theologische Vorgabe für die Philosophie aus. Für Anselm von Canterbury umfasste diese Dialektik von Philosophie und Theologie evidentermaßen den Erweis des notwendigen Wirklichseins der Wirklichkeit Gottes. Denn, so Anselm, das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, kann nicht nur gedacht sein. Denn sonst könnte es ja etwas Größeres als dieses nur gedachte Größte, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden könne, geben, nämlich: Ein denkerisch nicht überschreitbares Größtes, das auch noch existiert. Folglich müsse das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden könne, aus der Logik seines Begriffes heraus auch existieren. (→ → Bd. 1, Kap. 10) Jedoch ist es heute nicht mehr möglich, bei diesem Gedanken stehen zu bleiben. Vielmehr findet sich unser Denken heute unter der Herausforderung einer doppelten Verschärfung.
DOPPELTE VERSCHÄRFUNG
2.5
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Doppelte Verschärfung
Diejenigen, die heute Grenzen der Vernunft: I. Kant. Philosophie und Theologie dialektisch aufeinander beziehen, gehen diesen letzten Schritt Anselms meist nicht mehr mit. Sie müssen gerade wegen der Radikalität ihres Philosophierens wenigstens im Prinzip einen Gedanken mit in Betracht ziehen, der für Anselm noch nicht von Belang war, aber später dann, nachdem er einmal aufgekommen ist, nicht mehr übergangen werden kann. Dieser Gedanke kam in zwei Schüben zum Durchbruch — zunächst in der Gestalt der Grundidee der kritischen Philosophie Immanuel Kants. Gleich in den ersten Zeilen der Vorrede zur ersten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) legt er diesen Gedanken bündig dar: Die Vernunft, so Kant, finde sich von Fragen beansprucht, die sich nicht abweisen lassen, weil sie ihr von ihrer eigenen Natur aufgegeben sind, die sie aber auch nicht beantworten könne, weil ihr Vermögen dazu nicht reiche; es sind die Fragen der Metaphysik, konkret: die Frage nach der Welt im Sinne des Ganzen der Wirklichkeit, die Frage nach der Freiheit des Menschen und die Frage nach Gott. Die Vernunft verfüge über Grundsätze, die ihr die Erfahrung nahe lege und die sich an dieser auch bewährten. Aber deren Gebrauch tauge nicht für das Geschäft der Metaphysik, weil deren Gegenstände die Grenzen der Erfahrung überschreiten. Darum greife die Vernunft nach erfahrungsunabhängigen Grundsätzen, die zwar zunächst ganz einsichtig erschienen, dann jedoch in endlosen Streit mündeten. Das aber verrate: Mit der herkömmlichen Weise von Metaphysik „stürzt sie [sc. die Vernunft; K. M.] sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo verborgene Irrtümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Grenze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probierstein der Erfahrung mehr anerkennen.“47
Seit mehr als 2000 Jahren ist schon Metaphysik getrieben worden. Trotzdem konnte nicht einmal in den Grundfragen Einigkeit erzielt werden. Kant nimmt das zum Symptom dafür, dass innerhalb der Vernunft selbst Täuschungsquellen auftreten. Allerdings bedarf es, um sie aufzudecken, eines völlig neuen Instrumentars e47
KANT, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl.). In: DERS.: Kant’s gesammelte Schriften. Bd. IV. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1911. 1-252. Hier 7.
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ben einer Kritik der reinen, d.h. theoretischen Vernunft. Mit ihr soll bestimmt werden, in welchem Umfang Vernunft zu verlässlicher Erkenntnis gelangen kann. Dass die Grenzen dieses Umfangs enger gezogen sein werden als der Bereich, den die herkömmliche Philosophie durch Metaphysik als Wissen reklamierte, liegt von Kants Ausgangsfrage her schon auf der Hand. Kant selbst gibt der alten Metaphysik ganz den Abschied, holt freilich ihre zentralen Fragen Gott, Freiheit und Weltganzes, wie er sie selbst betitelt, von einem völlig neuen Ausgangspunkt her wieder ein. (→ → Bd. 1, Kap. 10; Gotteslehre) Diesem Projekt kann man mehr oder weniger oder gar nicht folgen. Nicht mehr aus der Welt schaffen aber lässt sich der Zweifel an der alten Metaphysik, sobald er aus deren eigenem Zustand aufgekommen ist. Anders gesagt: Wer Theologie treibt, muss sich mit der Frage nach den Grenzen der Vernunft auseinandersetzen, wird aber zugleich — entgegen einem verbreiteten Vorurteil — bei Kant selbst tragfähige Ankerpunkte für die Gottesfrage finden, sofern dieser auch und gerade nach seiner Kritik der traditionellen Metaphysik (mit den Gottesbeweisen im Zentrum) überzeugt bleibt, dass es für die Vernunft theoretisch wie praktisch unvermeidlich sei, ein Dasein Gottes anzunehmen48 — nur dass begrifflich und sprachlich bei der Explikation dieser unvermeidlichen Annahme die durch die endliche Vernunft gezogenen Grenzen zu beachten sind. In der Wahrnehmung und Anerkennung der Grenze der Vernunft hinsichtlich der Beschränkung ihrer Gegenstände auf solche möglicher Erfahrung liegt keinerlei Hindernis, „daß sie uns nicht bis zur objektiven Grenze der Erfahrung, nämlich der Beziehung auf etwas, was selbst nicht Gegenstand der Erfahrung, aber doch der oberste Grund aller derselben sein muß, führe, ohne uns doch von demselben etwas an sich, sondern nur in Beziehung auf ihren eigenen vollständigen und auf die höchsten Zwecke gerichteten Gebrauch im Felde möglicher Erfahrung zu lehren. Dieses ist aber auch aller Nutzen, den man vernünftigerweise hiebei auch nur wünschen kann, und mit welchem man Ursache hat zufrieden zu sein.“49
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Vgl. KANT, Immanuel: Metaphysik. Zweiter Theil. In: DERS.: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XVIII. Berlin; Leipzig 1928. 623. Refl. 6317. KANT, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. In: DERS.: Kant’s gesammelte Schriften. Bd. IV. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1911. 253-383. Hier 361-362.
DOPPELTE VERSCHÄRFUNG
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In dieser Passage klingt so etwas wie der Appell an ein Ethos transzendentalen Denkens mit — und das ist nicht zufällig. Unter seiner Norm steht alle Rede von Gott. Generalverdacht: F. Nietzsche. In einem zweiten Schub radikalisierte sich diese vernunftkritische Frage zu einem Verdacht, der nicht mehr nur die Metaphysik, sondern jeglichen Wahrheitsanspruch überhaupt betrifft, auch solche Ansprüche, die als durch Erfahrung bewährt gelten. Diese Radikalisierung hat Friedrich Nietzsche vorgenommen. In der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873 entstanden) heißt es: „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz aber weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde. Wie dürften wir, wenn die Wahrheit bei der Genesis der Sprache, der Gesichtspunkt der Gewissheit bei den Bezeichnungen allein entscheidend gewesen wäre, wie dürften wir doch sagen: der Stein ist hart: als ob uns ‚hart’ noch sonst bekannt wäre und nicht nur als eine ganz subjektive Reizung! [...] Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“50
Der von Kant gefasste und dann von Nietzsche radikalisierte Erkenntnisvorbehalt lautet also formal gewendet: Selbst das, was die Vernunft aus Gründen und notwendig so und nicht anders denken muss, könnte sich in Wahrheit ganz anders verhalten. Denn es könnte sein, dass die Vernunft so verfasst ist, dass sie notwendig in Illusionen endet. Zu beachten ist dabei, wie Nietzsche die eigentliche Täuschungsquelle in der Sprache und ihrem Gebrauch ortet. Nietzsches Analyse der Metapher und seiner auf ihr gründenden Verhältnisbestimmung von Metapher und Wahrheit wird Fundamentales entgegenzuhalten sein. (→ → Bd. 1, Kap. 4) Unbe50
NIETZSCHE, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: DERS.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 1. 2. Aufl. München; Berlin; New York 1988. 873-890. Hier 880-881.
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schadet dessen, was sich gegen Kant und vor allem Nietzsche einwenden lässt, sieht sich die Philosophie gleichwohl durch Kant und Nietzsche in eine grundlegend neue Situation gebracht, nämlich: Hypothetizität und äußerster Grenzgang. Philosophie kann einschließlich einer radikalen Bereitschaft, sich von theologischen Vorgaben in Anspruch nehmen zu lassen, was die Existenz von Letztverbindlichem betrifft, in einem ersten Schritt nicht weiter als bis zu Hypothesen kommen. Hypothesen sind wörtlich übersetzt Unterstellungen, dass sich etwas so verhält und nicht anders. In der Begegnung mit theologisch Vorgegebenem denkt solches Philosophieren mit letzter Konsequenz der Sinnhaftigkeit dieser Vorgabe nach und bringt sie — falls gegeben — zum Vorschein. Es legt die Bedingungen der Möglichkeit dafür offen, dass das, was als theologischer Anspruch begegnet, wirklich ist. Ob diese Bedingungen erfüllt sind, darüber maßt es sich kein Urteil mehr an, aber sie kann in Grenzgängen erwägen, wie und wovonher möglicherweise dem, was sie als Letztverbindliches zu denken sich genötigt sieht, dennoch ein Wirklichkeitssinn zuzusprechen sei. Genau diese Selbstbescheidung der Philosophie steht auch dafür ein, dass sich Philosophie und Theologie angemessen auseinanderhalten lassen. Besonders deutlich wird das, wenn man die Frage des Verhältnisses von Theologie und Philosophie anthropologisch, d.h. von der Warte des Menschen her formuliert. Dann kann man nämlich sagen: Philosophisch stellt sich die Aufgabe, den Menschen so zu denken, dass er möglicher Hörer einer möglichen Selbstbekundung Gottes zu sein vermag. Theologie hilft der Philosophie dabei, den Menschen radikal genug zu denken. Ob der Mensch sich wirklich als Hörer eines solchen Wortes versteht, ist seine Sache, ebenso, ob er einen ihm begegnenden Anspruch als Anspruch einer alles bestimmenden und begründenden Wirklichkeit, also als Anspruch Gottes vernimmt. Beides zusammen macht die Sache seines Glaubens aus. Dieser kann durch keinen philosophischen Gedanken erzwungen oder ersetzt werden. Auch wer sich dafür entscheidet, den Menschen in ein Meer von Zufälligkeit geworfen und als eine nicht zu beantwortende Frage zu verstehen, handelt ja nicht vernunftwidrig. Jedoch kann das, was als zu Glaubendes begegnet, transzendentalphilosophisch dahingehend geprüft werden, ob es dem entspricht, was eine Offenbarung sein muss, wenn der Mensch sie seinem Wesen nach soll vernehmen können.
DOPPELTE VERSCHÄRFUNG
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Bescheidenheit und Anspruch. Im Vergleich zum Stockwerk-Modell aus natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie bei Thomas von Aquin nimmt sich die heutige Form der dialektischen Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie also bescheidener und anspruchsvoller zugleich aus: Sie verzichtet darauf, einen Grundbestand von Theologie durch Beweis zu sichern, dem dann der Rest, der in Wahrheit das Wesentliche ausmacht, als reiner Glaubensgehalt nachgeschoben wird. Aber sie traut sich zu, das Ganze des Glaubensgeheimnisses philosophisch als möglich und sinnvoll nachzuvollziehen. Sofern in diese Dialektik auch die Möglichkeit einer Radikalisierung der Philosophie durch theologische Anstöße eingebaut ist, kann es dort, wo Philosophie und Theologie dialektisch aufeinander bezogen werden, auch ein eigenständiges Philosophieren geben, für das eine andere, nicht im Rahmen von Theologie betriebene Philosophie aus Prinzip gar nicht aufkommen kann. Dieser Option fühle ich mich konsequent verpflichtet. Das bedeutet konkret: Was ich nachfolgend an philosophischen Gehalten behandle, wird jeweils durch theologische Herausforderungen zu seinem vollständigen Umriss gebracht werden. Umgekehrt verleiht das der Theologie einen konstitutiven Vernunftsinn. Hinsichtlich der Existenz ihrer letzten Gründe bleiben die Gehalte dabei hypothetisch und zugleich offen für „letzte Gedanken“51 über ihr mögliches Gedecktsein durch Wirklichkeit. Aus der Wendung, die die obigen Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Theologie durch den Blick auf Kant und Nietzsche genommen haben, ergibt sich wie von selbst der weitere Fortgang: Aufgeworfen wurden die Fragen: (a) Ist so etwas wie Erkenntnis überhaupt möglich und wenn ja: In welchem Umfang? (b) Inwiefern hängt das Erkenntnisproblem mit der Sprache zusammen? Und (c): Nietzsche hat in letzter Radikalität das Fundamentalproblem des Verhältnisses von Wahrheit und Illusion aufgeworfen. Kraft der rasanten Telematisierung unserer Lebenswelt, also ihrer Veränderung durch die miteinander vernetzten alten und neuen, vor allem interaktiven Medien, stellt sich die Frage heute als alltäglicher und öffentlicher Fall. Wenn man bedenkt, dass allein schon so etwas Triviales wie das massenhafte Aufkommen von 51
Diesen Terminus übernehme ich von Dieter Henrich. Er kann als Chiffre für so etwas wie eine Metaphysik nach Kant gelten. Vgl. dazu HENRICH, Dieter: Bewußtes Leben und Metaphysik. In: Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik. Stuttgart 1999. 194-216. Hier 195.
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2. MODELLE IM VERHÄLTNIS VON PHILOSOPHIE UND THEOLOGIE
Kühlschränken binnen weniger Jahre die Ernährungsgewohnheiten ganzer Kontinente tiefgreifend veränderte, liegt auf der Hand, dass so etwas weit Komplexeres wie die Telematisierung erhebliche Veränderungen in der menschlichen Welt- und Selbstbeschreibung erzeugt, also mit philosophischen und theologischen Konsequenzen einhergeht. Darum stellt sich zusätzlich zur Erkenntnisund zur Sprachkritik heute auch die Aufgabe der Cyberphilosophy. Diesen drei Problemkreisen ist in den beiden nächsten Schritt nachzugehen.
3.
Sein und Schein – Von der Wahrheit und ihren Problemen
Lit.: F. v. Kutschera: Grundfragen der Erkenntnistheorie. — G. Prauss: Einführung in die Erkenntnistheorie. — P. Janich: Was ist Wahrheit? — K. Müller: Philosophische Grundfragen der Theologie. 16-53. 76-84. — P. Janich: Logisch-pragmatische Propädeutik. 156212. — L. B. Puntel: Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. — Th. Schärtl: Wahrheit und Gewissheit. 3.1
Zweifel an den Sinnen
Irritation. Wenn es nicht zweifelsfrei dokumentiert wäre, möchte man es kaum glauben: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, eine der Koryphäen der klassischen deutschen Philosophie und nicht erst heute ein für seine Schwierigkeit gefürchteter Autor, war von 1808-1816 Professor und Rektor an einem Nürnberger Gymnasium. Nicht nur, dass er sich dort neben seinem Philosophieunterricht um höchst praktische Dinge kümmern musste, etwa die Einrichtung von „Abtritten“ (also Toiletten) in zwei Schulgebäuden (was er allerdings als Zeitvertrödelung beklagte). Seine Schüler, selbst solche, die später seine philosophischen Gegner waren, rühmten seinen Umgang mit Schülern und seine Didaktik. In einem Gutachten zum Philosophie-Unterricht an den Gymnasien an seinen Chef, den königlichen bayerischen Oberschulrat Immanuel Niethammer, heißt es unter anderem: „Was den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien betrifft, so ist erstens die abstrakte Form zunächst die Hauptsache. Der Jugend muß zuerst das Sehen und Hören vergehen, sie muß vom konkreten Vorstellen abgezogen, in die innere Nacht der Seele zurückgezogen werden, auf diesem Boden sehen, Bestimmungen festhalten und unterscheiden lernen.“1
Die Abstraktion die Hauptsache? Sehen und Hören vergehen? Wenn das heute einer laut sagte, würden die Großsystematiker und Meisterdidakten aufheulen, noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hätte. Systemversessenheit, Geschichtsvergessenheit, Sinnenfeindlichkeit hießen die Vorwürfe, die man ihm um die Ohren schlüge. Aber was, wenn Hegel trotzdem Recht hätte? Recht 1
HEGEL, Georg W.F.: Philosophische Propädeutik, Gymnasialreden und Gutachten über den Philosophie-Unterricht. Jubiläumsausgabe hg. v. Hermann Glockner. Stuttgart-Bad Canstatt 1971. Bd 3. 313.
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hätte, weil es sich mit den Sinnen, zumal mit dem Sehen und Hören, gegen den äußeren Anschein und unsere tägliche Erfahrung gar nicht so einfach verhält? Weil gar nicht ausgemacht ist, dass das, was wir erkennen, auch in Wahrheit an sich selbst so ist, wie es uns erscheint: Erkenntnis — Sinne — Schein, also Täuschung! Ein philosophisches Wespennest! Mindestens zwei Hinweise gibt es, die hellhörig machen müssten, Hinweise, die bis in die Situation der Grundlegung des abendländischen Denkens zurückreichen: Hören versus Sehen in der griechischen Philosophie. Zum einen macht sich von Anfang der griechischen mythischen Überlieferung an und dann der Philosophie ein eigenartiges Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Sinneswahrnehmungen, namentlich zwischen dem Sehen und dem Hören, geltend: Einerseits ist nicht zu übersehen, dass von Anfang an ein erheblicher Teil philosophischer, vor allem erkenntnistheoretischer Grundbegriffe aus dem Bildfeld des Optischen stammt: Theorie (Schau), Evidenz, Reflexion, Spekulation, Vision, Gesichtspunkt (Perspektive), Augenblick, Absicht, Ansicht, Einsicht, Rücksicht, Durchblick, Ereignis (kommt von Er-Äugnis) und vieles andere mehr. Pythagoras und die Harmonie. Andererseits kann überhaupt keine Rede davon sein, dass die Griechen, wie manchmal behauptet wurde, ein Augenvolk gewesen seien. Im Gegenteil: Zum einen wissen alte Mythen um die hohe Bedeutung, ja sogar einen gewissen Vorrang des Hörens vor dem Sehen, und auch philosophisch wurde darüber gestritten. Jedenfalls hat das Aufkommen der Philosophie in der Gestalt des höchst einflussreichen und gerade auch auf Platon wirkenden Pythagoras einen herausragenden Repräsentanten des am Hören orientierten Denkens. Der ganze Kosmos ist für ihn von Harmonien durchwaltet. Harmonie verdankt sich wohlbestimmten Zahlenverhältnissen. Und exakt daraus folgert Pythagoras, dass dies nicht nur für musikalische Harmonien, sondern für jedes Zusammenpassen überhaupt gelten müsse. Passt etwas zusammen, was sich ontologisch darin bekundet, dass etwas Bestand hat, dann deshalb, weil sein Wesen einem bestimmten Zahlenverhältnis gehorcht. Folge: Das Weltall als Geordnetes, Harmonisches — weil Bestand Habendes — muss numerologisch strukturiert sein. Wie von selbst geht solche metaphysische Reflexion natürlich dann auch innerhalb des Bereichs dieser Wesensgesetze weiter: Wenn alle Dinge ihrem Wesen nach Zahlen sind, diese aber — gerade wie ungerade — ein Vielfaches der Eins,
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die als sie selbst keiner der beiden Reihen angehört, resultieren die Dinge dann nicht aus einer Vielheit von Einheiten — und muss es dann nicht so etwas wie eine letzte Einheit geben oder lassen sich die Dinge unendlich teilen? Hör-Kritik und Seh-Primat. Das alles klingt im Grunde für uns heute ziemlich platonisch — und zwar einfach deswegen, weil ganz viel von dieser Harmonie-Philosophie in Platons Denken eingegangen ist. Trotzdem begegnet diesem ursprünglichen Primat des Hördenkens aber früh auch eine Kritik zugunsten des Sehens. Der Erste dieser philosophischen Optiker dürfte der Vorsokratiker Heraklit gewesen sein, dem die Augen als genauere Zeugen als die Ohren gelten2 und der darum den Akustiker Pythagoras schlichtweg „Ahnherrn der Schwindler“3 schimpft. Und dann setzt unbeschadet des pythagoreischen Hintergrunds bei Platon ein fundamentaler Sehprimat ein. Seinen nicht mehr zu überbietenden Ausdruck findet der — natürlich — im berühmten Höhlengleichnis in der Politeia. Sokrates sagt da zu Glaukon: „[...] vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vornhin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt, wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauten, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. Ich sehe, sagte er. Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Gefäße tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander etwas anderes 2
3
Vgl. DIELS, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch. Hg. v. Kranz, Walther, 6. verb. Aufl., Berlin-Grunewald: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 1951. Bd. 1. 173. DIELS: Fragmente der Vorsokratiker (Anm. 2). 169.
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zu sehen bekommen als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten! Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? Was sonst? Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? Notwendig. Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? Nein, beim Zeus, sagte er. Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? Ganz unmöglich. Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah, was meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? Bei weitem, antwortete er. Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, dies sei weit gewisser als das zuletzt Gezeigte? Allerdings. Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nichts sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird. Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht sogleich. Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der anderen Dinge im Wasser und dann erst sie selbst [...]. Wie sollte er nicht! [...]
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Und wie, wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, jene aber beklagen? Ganz gewiß. [...] Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte, würden ihm die Augen dann nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt? Ganz gewiß. Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen? So sprächen sie ganz gewiß, sagte er.“4
Gehen wir diesen Klassiker der platonischen Philosophie nochmals etwas analytisch durch: Die Gefangenen sitzen in einer Höhle auf eine Weise gebunden, die ihnen nur den Blick auf die Rückwand der Höhle erlaubt. Auf dieser sehen sie die Schattenrisse von Gegenständen, die hinter ihrem Rücken vorbeigetragen werden, aber so, dass dabei die Träger dieser Objekte durch eine Wand von den Betrachtern der Schattenbilder getrennt und damit unsichtbar sind. Geworfen werden Schatten der Gegenstände durch ein Feuer, das weit hinter ihnen brennt. Die in der Höhle Gefangenen können gar nicht anders, als diese Schatten für wirkliche Dinge zu halten, dies zumal dann, wenn Sprachlaute über die Mauer dringen, so dass die Betrachter von den Schatten glauben müssen, sie redeten. Wenn nun aber einer der Gefesselten losgebunden und mit dem Gesicht zum Eingang der Höhle gedreht würde! Für Platon steht außer Frage, dass so jemand zunächst die ihm schon bekannten Schatten für das wirklich Wirkliche hält. Und wenn ihn jemand zu einem mühseligem Aufstieg aus der Höhle selbst zwänge und dazu, dann ins Licht selbst zu schauen, könne das für den Betroffenen nur schmerzhaft sein, und es würde dauern: Zuerst würde er — geblendet — gar nichts sehen. Dann aber die Bilder von Gegenständen und Menschen, wenn sie sich in Wasser spiegeln, dann sie 4
PLATON: Politeia. 514a-517a.
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selbst, dann die nächtlichen Himmelsleuchten, schließlich auch die Sonne — zuerst im Spiegel des Wassers, dann als sie selbst. Nun aber angenommen, er gewöhne sich an all das, kehre in die Höhle an seinen alten Platz zurück und erzähle den Schicksalsgenossen von seiner Erfahrung. Was anderes geschähe, fragt Platon, als dass die anderen ihn auslachten, dass er nun verdorbene Augen hätte, dass es sich also gar nicht lohne hinaufzusteigen und dass man künftighin jeden, der mit ähnlichen Befreiungs- und Hinaufführungsallüren daherkäme, umbringen soll, weil er den ganzen Laden nur durcheinander brächte?5 Logik der Ideenlehre. Die unmittelbar folgende Klartextfassung der Parabel legt den Dreh- und Angelpunkt der platonischen Ideenlehre frei: Die Höhle im Gleichnis steht für unseren alltäglichen Aufenthalt in der Sinnenwelt, das schattenwerfende Feuer für die (kosmisch verstandene) Sonne. Der dahinterliegende Bereich der wirklichen Gegenstände meint die Dimension der Erkenntnis, die (Gleichnis)-Sonne, die nur mühsam anzuschauende, symbolisiert die Idee des Guten als des letztmöglich Erkennbaren. Ist sie freilich erkannt, dann geht mit ihr die Evidenz einher, dass alle Wahrheit und Vernunft in ihr gründen und von ihr herkommen — so wie im Bereich des sinnlich Sichtbaren alle Sichtbarkeit sich dem Licht und der es hervorbringenden Sonne verdankt.6 Es gibt also so etwas wie einen letzten Fixpunkt der Ideenwelt, eine Idee der Ideen: die Idee des Guten. Ihr verdanken die anderen Ideen ihren intelligiblen Charakter. Entgegen einem ersten möglichen Anschein geht dieser Gedanke keineswegs aus einer willkürlichen Setzung hervor. Denn tatsächlich suchen wir aus Prinzip jedes Mal, wenn wir etwas suchen oder zu erreichen streben, dieses Erstrebte als Gutes: Nichts ist das, was es ist, wenn es nicht hinsichtlich dessen, was es sein soll, gut ist. Oder sucht jemand etwas, was er oder sie sucht, als Schlechtes zu gewinnen? Selbst das Böse, das jemand tut, tut er, weil er es für ein für ihn Gutes hält. Insofern setzt die Erkenntnis von etwas als etwas in der Tat ein Wissen um das Gute als solches voraus. Platon wörtlich: „Denn daß die Idee des Guten die größte Einsicht ist, hast du schon vielfältig gehört, als durch welche erst das Gerechte und alles, was sonst Gebrauch von ihr macht, nützlich und heilsam wird. Und auch jetzt weißt du wohl gewiß, daß ich dies sagen will, und noch überdies, 5 6
Vgl. PLATON: Politeia. 514a-517a. Vgl. PLATON: Politeia. 517b-e.
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daß wir sie nicht hinreichend kennen; wenn wir sie aber nicht kennen, weißt du wohl, daß, wenn wir auch ohne sie alles andere noch so gut wüßten, es uns doch nicht hilft, wie auch nicht, wenn wir etwas hätten ohne das Gute. Oder meinst du es helfe uns etwas, alle Habe zu haben, nur die gute nicht? Oder alles zu verstehen ohne das Gute, Schönes und Gutes aber nicht zu verstehen?“7
Die Idee des Guten. Erkenntnismäßig gesehen läuft also alles auf die Idee des Guten als das letzte Prinzip zu. Da aber etwas als etwas nur erkannt werden kann, wenn zugleich klar ist, was etwas, wenn es etwas (und nicht etwas anderes) ist, sein muss, kommt dabei immer ein normatives Moment ins Spiel. Das Grundgesetz dieses Spieles lautet dabei: Normativ sein, also das, was ist oder geschieht, bestimmen kann nur, was „mehr wirklich“ ist als das Bestimmte. Folglich ist die Priorität der Idee des Guten nicht nur eine erkenntnismäßige, sondern zugleich eine ontologische. Die Idee des Guten fungiert bei Platon darum als das oberste ontologische Prinzip, das also, von dem her alles, was überhaupt ist, sein Sein bezieht und seine letzte Begründung findet. Von dieser Funktion her bekommt die Idee des Guten beinahe wie von selbst Züge, die man „göttlich“ nennen muss: Sie ist über allem, was es gibt, und regiert die Welt der Ideen (beides platonische Bestimmungen in der Politeia). Insofern der Metaphysik um die Erkenntnis dieser Idee des Guten zu tun ist (und worum sollte es ihr in dieser Sicht mehr gehen?) ist sie „theologia“ — es ist im Übrigen Platon, der diesen Namen als Titel einer zentralen Aufgabe im Rahmen der Bildung der Wächter der Stadt in seiner Politeia geprägt hat.8 Vorsokratisch und vor-vorsokratisch waren die „Theologen“ die Dichter und Mythensänger wie Homer, Hesiod oder die Orphiker. (→ → Bd. 1, Kap. 2.1) Sichtbarkeit des Guten: Schönheit. Gerade wegen ihres ontologischen Charakters kann es sich freilich bei der platonischen Idee des Guten nicht einfach um einen Folge- oder Grenzbegriff der Analyse des sinnlich Wahrnehmbaren handeln. In gewissem Sinn bleibt ihr selbst, weil sie ontologisch, also seinsmäßig verfasst sein soll, eine Weise von Sinnlichkeit, wenn auch nicht die der empirischen Sinne, sondern die ihrer Sichtbarkeit für die höheren Sinne, also das Denken. Und auch dafür benennt Platon abseits 7 8
PLATON: Politeia. 505a-b. Vgl. PLATON: Politeia. 379a.
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aller willkürlichen Behauptung ein Phänomen als Beleg: Hinsichtlich seiner spezifisch intellektualen Sichtbarkeit ist das Gute nichts anderes als das Schöne: Wenn etwas gut ist, prägt es notwendig auch eine — wie ihrerseits auch immer geartete — Harmonie, die wir als schön empfinden. Dem griechischen Denken war dieser Zusammenhang weit vertrauter als uns heute. Eines der Grundworte menschlicher Selbstverständigung damals lautete „kalokagathia“, zusammengesetzt aus den Adjektiven „schön“ und „gut“. Die nominalisierte Verbindung bringt treffend die Identität von beiden zur Geltung: Was wirklich gut ist, kann nur schön sein. Was wirklich schön ist, kann nur gut sein. Um das Gute zu erkennen, will sagen: das Schöne zu sehen, muss sich die Seele der Sinnenwelt entwinden und — wie im Höhlengleichnis schon festgehalten — aus dieser aufsteigen. Für eine Seele aber bedeutet die Sinnenwelt verlassen nichts anderes als: sterben. Erkenntnis des Guten bzw. Sehen des Schönen zu Lebzeiten kann es darum nur als Antizipation des Sterbens geben, das darin besteht, dass die Seele mit Hilfe der Philosophie den Bereich der „doxai“, also der Meinungen, d.h. dessen, was nur so und so zu sein scheint, ohne es zu sein, verlässt. An dieser Stelle wird unübersehbar, dass auch bei Platon noch — genauso wie bei Sokrates — dem Metaphysiktreiben religiöser Charakter eignet. Die Rede vom Aufstieg der Seele gehört ja — auch christlich, aber schon vorher — zu den stehenden Redewendungen spiritueller Theologie. Im Dialog Phaidon kommt im gleichen Sinn der Gedanke der Reinigung hinzu, deren die Seele bedarf, um in dem erkannt werden zu können, was sie in Wahrheit ist.9 Insofern kann auch gar nicht überraschen, dass der genuin platonische Name für das, was wir heute Metaphysik nennen, aus dem Bereich der Mysterienkulte stammt: die in der Überschrift schon erwähnte „epopteia“: Schau des Verborgenen, die nur dem Eingeweihten und Eingeführten möglich ist. Im Phaidros heißt es von der präexistenten Existenz der Seele: „Die Schönheit aber war damals glänzend zu schauen, als mit dem seligen Chore wir dem Zeus, andere einem anderen Gotte folgend, des herrlichsten Anblicks und Schauspiels genossen und in ein Geheimnis geweiht waren, welches man wohl das allerseligste nennen kann, und welches wir feierten, untadelig selbst und unbetroffen von den Übeln, die unser für die künftige Zeit warteten, und so auch zu untadeligen, unverfälschten, unwandelbaren, seligen Gesichten vorbereitet und ge9
Vgl. PLATON: Phaidon. 611b-d.
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weiht [„epopteuontes“; K. M.] in reinem Glanze, rein und unbelastet von diesem unserem Leibe, wie wir ihn nennen, den wir jetzt, eingekerkert wie ein Schaltier, mit uns herumtragen.“10
Das Sehen und das Christentum. Es bedarf keiner allzu großen Kombinationsaufgabe, um sich zu vergegenwärtigen, wie stark ein solch ethisch-religiös imprägniertes Denken in das junge Christentum hineinwirken konnte, das gerade auf der Suche nach der rechten Begriffsgrammatik für sein Auftreten auf dem Forum der spätantiken Öffentlichkeit war. Dass die biblisch-christlichen Traditionen gegenüber diesem optisch strukturierten Auslegungsangebot durch ihre Basislogik aus Anrede, Wort und Schrift — „logos“ — doch weithin einem akustischen Denken folgten, trat weitgehend zurück. Diesen Primat belegt — um nur einige exemplarische Stationen aufzurufen — die spätantik-frühchristliche Dominanz von Lichtmetaphorik, der für alle mittelalterliche Theologie und Mystik normative Zielgedanke der „visio beatifica“ — dass also das Ziel alles menschlichen Lebens und Strebens die selige und nie mehr endende Gottesschau sei (und nicht ein nie endendes Himmelskonzert z.B.); und selbst noch die ersten beiden philosophischen Großbewegungen der Neuzeit, die Renaissance und die Aufklärung stehen ganz im Bann der Optik: die Renaissance als Wiedergewinnung und in die Perspektive (!) gestellte sinnliche Schönheit und dann die Aufklärung, italienisch „illuminismo“, also wörtlich Erleuchtung, ein Name, der von den meisten Protagonisten dieser Bewegung nicht nur auf ein Erhellen von Dunklem zielt, sondern nicht minder als Erleuchtung im spirituell-religiösen Sinn verstanden sein will. W. Welsch nennt diese alles durchdringende Optisierung von Kultur, Wissenschaft und Denken „Okulartyrannis“11 und bringt das Phänomen kritisch auf die Formel: „Hört einer Stimmen, so wird er in eine Anstalt verbracht, hat er aber Visionen, so gilt er als Vordenker, ja als Prophet.“12
Selbstkritik des Seh-Denkens. Daran ist etwas Richtiges — und doch fehlt etwas sehr Entscheidendes. Es gibt eine Kritik des Sehens nicht nur von außen, eben etwa aus der Perspektive des Hörens, sondern eingebaut in das Sehdenken selbst. Denn das philosophische Sehen begnügt sich gerade nicht mit dem Augen10 11 12
PLATON: Phaidros. 250c. WELSCH, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996. 240. WELSCH: Grenzgänge (Anm. 11). 239.
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schein, das Sichtbare ist nicht das Fraglose, im Gegenteil: an ihm bricht die Frage nach Sein und Schein, Fiktion und Wahrheit auf — und dies eben schon bei Platon selbst, wie bereits am Höhlengleichnis klar geworden ist. Das Höhlengleichnis ist Erkenntniskritik! Denn die Pointe des Höhlengleichnisses macht ja gerade aus, dass es eben nicht so einfach ist mit dem Schauen und der durch es vermittelten Erkenntnis. Dass vielmehr zuerst einmal ein Bereich des Scheins, der Täuschung (griechisch „doxa“) durchbrochen und überwunden werden muss — und zwar mühselig und mit Schmerzen. Die unmittelbare Sinneserfahrung im Sehen ist genau nicht das Verlässliche, dieses muss erst sichtbar gemacht werden. Wissen muss durch Verbergungen hindurch errungen werden. Philosophisch gehört darum zum Schauen von Anfang an eine Dimension der Distanzierung und damit verbunden ein anderes Sehen als das gewöhnliche mit den leiblichen Augen, ein Sehen mit den Augen der Seele — d.h. von Sehen ist philosophisch im Grunde von Anfang an metaphorisch die Rede; Platon selbst stellt sich im Dialog Charmides ausdrücklich die Frage, ob es nicht ein anderes, nämlich höheres Sehen als dasjenige der Farben geben müsse.13 Diese Frage nach dem Schauen als Quelle wahrer Erkenntnis ist seit Platon nicht nur philosophisches Zentralthema geblieben. Die Fragestellung hat sich neuzeitlich buchstäblich zugespitzt und zwar wesentlich durch Optik, genauer durch astronomische Erkenntnisse, die neue optische Instrumente möglich machten: Der Name, der dafür steht, ist der des Kopernikus. Durch ihn und seine Ersetzung des geozentrischen durch das heliozentrische Weltbild wird klar, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sich zeigen, und wahres Wissen um sie nur Ergebnis systematisch angelegter Suche und Kritik sein kann. Nicht zufällig hat der größte Philosoph nach Platon, I. Kant, das Programm seiner Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens selbst als kopernikanische Wendung in der Philosophie bezeichnet: Das Auftreten von Dingen für uns hängt ab von den in unserem Vernunftinstrumentar liegenden Bedingungen der Möglichkeit solcher Begegnung mit Dingen. Wahrheit und Illusion. Und nochmals einen Epochenschritt weiter oder — systematisch gesprochen — eine Drehung radikaler, dann sind wir mit Friedrich Nietzsche konfrontiert, für den alles Erkannte nichts anderes ist als eine physiologische Reaktion auf 13
Vgl. PLATON: Charmides. 167d.
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einen Außenweltreiz und damit alle Frage nach Wahrheit das überflüssige Abmühen mit einer Illusion. Intersubjektive und öffentlich gültige Bezeichnungen der Dinge kommen nur deswegen zustande, um in dem aus Not und Langeweile sozial geführten Leben halbwegs den Krieg aller gegen alle zu vermeiden — und so auch entstehe völlig außermoralisch die Differenz von Wahrheit und Lüge.14 Wahrheit entsteht metaphorisch im buchstäblichen Sinn des Wortes, also durch Übertragung: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste [sic!] Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue [...]. Wir glauben von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.“15
Nur weil sich der Mensch als künstlerisch schaffendes Subjekt vergesse, entstehe aus dieser Unbewusstheit das Gefühl der Wahrheit.16 Und mit dem heimlichen Verschwinden dieser ästhetischen Herkunft unserer Benennungen der Dinge sei im Verbund mit dem bereits genannten sozialen Motiv der Konfliktminderung bereits der Weg zur Begriffsbildung beschritten. Die Plötzlichkeit der subjektiven Eindrücke, die den Wahrnehmenden mitreißt, kühlt sich gleichsam zum allgemeinen Term ab. Dennoch sei dieser nichts anderes als erkaltete Lava des ursprünglichen metaphorischen Glutstroms. Deren Festigkeit freilich sei nur eine Illusion. „Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessdem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt; freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden. Als Baugenie erhebt sich solcher Maassen der Mensch weit über die Biene: diese baut aus Wachs, das sie aus der Natur zusammenholt, er aus dem weit zarteren Stoffe der Begriffe, die er erst aus sich fabriciren muss. Er ist hier sehr zu bewundern — aber nur nicht
14
15 16
Vgl. NIETZSCHE, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: DERS.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin; New York 1988. 873-890. Hier 877. NIETZSCHE: Wahrheit (Anm. 14). 879. Vgl. NIETZSCHE: Wahrheit (Anm. 14). 881. 883.
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wegen seines Triebes zur Wahrheit, zum reinen Erkennen der Dinge.“17
Auf den systematischen Nenner gebracht heißt dies: Wahrheit und Wirklichkeit als solche gibt es nicht. Wahrheit und Wirklichkeit sind ihrerseits ästhetische Produkte, genauso fragil und wenig fassbar wie ein poetisches Werk. Übrigens hat diese Form der Erkenntniskritik schon längst auch den Raum der modernen empirischen Wissensgewinnung besetzt. Es gehört ja zu den Kennzeichen der Neuzeit, in ungeheurem Ausmaß Wahrnehmungsdaten zu sammeln und zu erzeugen, vor allem auch durch eine permanente Verschiebung der Beobachtungs- und Sehgrenzen (etwa einerseits durch Mikroskope und andererseits durch Teleskope). Insofern gab es durchaus so etwas wie eine Gegenströmung zu der Tradition der Sehkritik; Francis Bacon etwa kann als der neuzeitliche Repräsentant dieser Hochschätzung der Sinneserkenntnis gelten. Aber auch da stellt sich längst die Frage: Was wissen wir eigentlich noch genau durch diesen Datengewinn? Legendär geworden ist der Wissenschaftsfilm Powers of Ten, den es auch in gedruckter Form gibt18: Gezeigt wird ein Paar, das auf einer Wiese ein Picknick hält: Eine Kamera entfernt sich von dieser Szene in Intervallen der Zehnerpotenz nach oben: Das Paar wird winzig klein, dann sieht man eine Großstadt aus der Flugzeugperspektive, dann einen Kontinent, dann den Erdball, dann die Galaxien. Und dann geht die Kamera im Zehnerschritt zurück zu dem Paar, zeigt die mikroskopische Vergrößerung der Hautporen eines der beiden, dringt ins Körperinnere bis auf die molekulare Ebene hinab.19 Unglaublich, was wir alles wissen können! Aber was genau wissen wir denn mitsamt diesem Wissen überhaupt? Der Philosoph Gianni Vattimo schrieb treffend: „Die Wissenschaft spricht von Objekten, die immer weniger mit denen der Alltagserfahrung in Beziehung gesetzt werden können, weshalb ich nicht recht weiß, was ich ,Wirklichkeit’ nennen soll — das, was ich sehe und fühle, oder das, was ich in den Büchern über Physik und Astrophysik beschrieben finde […].“ 20
Was also gilt in Sachen Erkenntnis?
17 18
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NIETZSCHE: Wahrheit (Anm. 14). 882. MORRISON, Philip und Phylis/ EAMES, Charles und Ray: ZEHNHOCH. Dimensionen zwischen Quarks und Galaxien. Korr. Nachdr. der 1. Aufl. Heidelberg 1991. Vgl. FRÜHWALD, Wolfgang: Zeit der Wissenschaft. Forschungskultur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Köln 1997. 144. VATTIMO, Gianni: Glauben — Philosophieren. Stuttgart 1997. 23.
PFLICHT ZUR SKEPSIS VERSUS PRINZIP WAHRHEIT
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Pflicht zur Skepsis versus Prinzip Wahrheit
Erkenntnispostulat. Diese Frage „Was gilt in Sachen Erkenntnis?“ könnte man noch schärfer formulieren mit „Ist Erkenntnis überhaupt möglich?“ Doch so zu fragen, scheint im ersten Moment überflüssig: Denn setzen wir in unserem alltäglichen Denken, Reden und Handeln nicht selbstverständlich voraus, dass wir etwas erkennen? Anders gesagt: Diese Verhaltensformen stützen sich doch wesentlich darauf, dass sich etwas so und so und nicht anders verhält. Es gibt so etwas wie ein unvermeidliches Postulat der Erkenntnis als Bedingung der Möglichkeit unserer alltäglichen Praxis. Auf der Basis dieses Postulats kommunizieren wir und stellen wir Behauptungen auf. Auch der Einspruch „Das ist nicht wahr!“, mit dem eine aufgestellte Behauptung zurückgewiesen wird, setzt die Möglichkeit von Erkenntnis voraus. Selbst sprachliche Ausdrücke, die den Anspruch auf Erkenntnis offenkundig mindern, gewinnen ihren Sinn aus dem Bezug darauf, dass Erkenntnis die von ihr in Blick genommenen Dinge so zu erfassen behauptet, wie sie wirklich sind. Ausdrücke wie „Ich bin der Meinung“, „ich glaube“, „mir scheint“, „vielleicht“ etc. signalisieren lediglich, dass die oder der sie Äußernde zu Korrekturen bereit ist, die dem Inhalt nach zwar radikal sein können, den basalen Anspruch auf prinzipiell mögliche wahre Erkenntnis aber nicht nur nicht einschränken, sondern als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit voraussetzen. Sogar noch die Möglichkeit der Lüge gründet in der prinzipiellen Voraussetzung, dass erkennbar ist, wie sich etwas verhält. Wäre das nicht der Fall, hätte der Lügner keine Handhabe, sein Gegenüber durch eine falsche Behauptung über die Wirklichkeit zu täuschen. Um es in Anlehnung an ein berühmtes Diktum des Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick zu sagen: Wir können nicht nicht erkennen: Schon Aristoteles brachte auf den Punkt, warum das so ist, ja geradezu so sein muss: „[...] wenn zugleich alle Widersprüche über denselben Gegenstand wahr sind, so müßte offenbar alles Eines sein. Denn es würde dasselbe Schiff und Mauer und Mensch sein, wenn man von jedem Dinge etwas bejahend oder verneinend prädizieren kann, wie diejenigen notwendig zugeben müssen, welche der Lehre des Protagoras beistimmen. Denn wenn jemand meint, der Mensch sei kein Schiff, so ist er auch offenbar kein Schiff; also ist er auch ein Schiff, sofern das kontradiktorische Gegenteil wahr ist.“ 21 21
ARISTOTELES: Metaphysik. 1007b, 19-25.
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Skepsis – radikal. Trotzdem gehören zur okzidentalen Philosophie seit ihren Anfängen Gedankenfolgen, die auf verschiedene Weise und in verschiedener Intensität die Existenz von Erkenntnis und zum Teil auch ihre bloße Möglichkeit bestreiten. Diese Gegenposition wird unter den Titel „Skeptizismus“ subsumiert.22 Der Name kommt vom griechischen Verb „skeptomai“, wörtlich zu übersetzen mit „ich blicke oder spähe umher“; in philosophischem Gebrauch meint es soviel wie „ich nehme Behauptungen nicht einfach hin, sondern nehme sie kritisch unter die Lupe“. Der Skeptizismus als philosophische Position wird gern schnell abgetan, indem man ihn in eine Formel fasst, die sich mit einem Satz als Selbstwiderspruch entlarven lässt. Man sagt: Der Skeptiker behauptet: „Es gibt keine Wahrheit“. Aber indem er diese Behauptung aufstellt, nimmt er selbst Wahrheit in Anspruch. Also widerlegt er sich selbst im Vollzug seiner Leugnung, dass es Wahrheit gebe. Wäre Skeptizismus tatsächlich ausschließlich auf diese Formel zu bringen, so hätte man über ihn tatsächlich kein weiteres Wort zu verlieren. Denn wenn „Es gibt keine Wahrheit“ soviel heißt wie „Alle Sätze sind falsch“, dann ist diese These absurd. Ist der Satz „Alle Sätze sind falsch“ falsch (wie die These selbst ja behauptet), dann ist der Satz „Nicht alle Sätze sind falsch“ wahr. Falsche Sätze gibt es nur, wenn es auch wahre gibt. Konsequent durchgehalten wäre der Skeptizismus in dieser Radikalform eine wie Ludwig Wittgenstein sagt „Verknotung des Verstandes“, der sich mit Argumenten nicht mehr beikommen lässt. An einer Stelle in Wittgensteins Philosophische Untersuchungen heißt es: „Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.“23 In der Logik dieses Bildes lässt sich sagen: Der radikale und konsequente Skeptizismus ist eine Krankheit des Denkens, die sich gegen therapeutische Maßnahmen in Gestalt von Argumenten selbst immunisiert. Hinter einem Radikal-Skeptizismus könnte sich höchstens ein symbolischer Akt der Vernunft verbergen, mit dem diese drastisch auf Grenzen der Erkenntnis verweist. Weiche Skepsis. Hinter einer skeptischen Einstellung können auch andere Intentionen stehen, wenn dieser Skeptizismus auf so kategorische Sätze wie „Es gibt keine Wahrheit“ verzichtet und durch weichere Formulierungen signalisiert, dass ihm durchaus im 22 23
Vgl. zum Folgenden KUTSCHERA: Grundfragen der Erkenntnistheorie. 52-78. WITTGENSTEIN, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. § 255.
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Rahmen eines rationalen Diskurses um Erkenntnisprobleme zu tun ist. Solche Erkenntnisprobleme brachen nach einigem Wetterleuchten schon bei den Vorsokratikern erstmals in voller Wucht im griechischen Denken des 6. und 5. vorchristlichen Jahrhunderts auf. Soziale und politische Veränderungen ließen die Frage aufkommen, was denn nun an den überkommenen Gedanken buchstäblich über Gott und die Welt überhaupt noch verlässlich sei. Das überlieferte Wissen und seine Wahrheiten werden fraglich. Aber an ihre Stelle treten nicht neue verlässliche Wahrheiten. Statt dessen wird eine Meinung (doxa) als so viel wert wie die andere eingeschätzt, Verbindliches lässt sich ja ohnehin nichts wissen. Das ist die Form der Skepsis, die die Sophisten zur Zeit eines Sokrates vertreten. Etwa ein Jahrhundert später wird der Skeptizismus durch Vertreter der so genannten „Mittleren Akademie“ zu jener philosophischen Position ausgebaut, die noch heute als Grundfigur des Skeptizismus gilt und noch weicher ausfällt als die sophistische Skepsis. Die Schlüsselfigur heißt Pyrrhon von Elis: Er und seine Nachfolger verzichten auf Brachialsätze wie „Es gibt keine Wahrheit“. Er behauptet auch nicht, dass es Wahrheit wohl geben könne, sie aber menschlichen Erkenntnissubjekten prinzipiell verschlossen bleibe. Er behauptet nur, dass faktisch selbst extensiver Bemühung um Wahrheit kein Erfolg beschieden sein wird. Er betrachtet, um es recht handfest in Anlehnung an einen seiner Nachfolger zu sagen, seine Vorbehalte gegen nassforsch vorgetragene Wahrheitsbehauptungen als eine Art Abführmittel, die nicht nur für ein Unwohlsein verantwortliche Stoffe aus dem Körper treiben, sondern zusammen mit diesen auch sich selbst. Genau das ist der Grund, warum skeptische Einstellungen bis heute virulent geblieben sind, obwohl sie in konsequenter Gestalt weder theoretisch haltbar noch praktisch durchhaltbar sind. Anders gesagt: Nicht-radikale Skepsis fungiert erkenntnistheoretisch als Reinigungsmittel, mit dessen Hilfe das Phänomen Erkenntnis zu einer wirklich gründlichen Klärung gebracht werden kann. Was aber ist Wahrheit an ihr selbst, wenn sie sogar von der alltäglichen Skepsis als so etwas wie ein Regulativ, ein Fixpunkt unterstellt wird? Wahrheit – erste Annäherung. Nichts scheint uns im alltäglichen Denken und Reden klarer zu sein als das, was wir mit „Wahrheit“ meinen. Wir brauchen uns ja nur kurz zu erinnern, was wir alles mit dem Wörtchen „wahr“ machen: „Ja, es ist wahr, es schneite gestern“ sagen wir, um jemandes Behauptung zu bestä-
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tigen, die von einem anderen in Zweifel gezogen wird. „Das darf nicht wahr sein!“ rufen wir, wenn etwas eintritt, das wir für unwahrscheinlich, vielleicht sogar unmöglich gehalten haben. „Ein wahrer Freund“ sagen wir von jemandem, der sich so verhalten hat, wie man es normalerweise von einem Freund erwartet. Das Wort „wahr“ erfüllt dabei ganz verschiedene Funktionen: Im Beispiel mit dem Freund bedeutet es soviel wie „echt“ oder „authentisch“; im Fall des Ausrufs drückt es eine Einschätzung aus, d.h. es fungiert als ästimativer Ausdruck, im ersten Fall „Ja, es ist wahr, es schneite gestern“, bekräftigt bzw. bezeugt es eine bereits erfolgte Behauptung. Auffällig ist dabei, dass das „wahr“ unbeschadet aller Unterschiede seines Gebrauchs in allen Fällen wegfallen könnte, ohne dass sich der Sinn des jeweiligen Satzes änderte: „Ja, es ist wahr, es schneite gestern“ bedeutet nichts anderes und nicht mehr als „Gestern schneite es.“ Das Nicht-wahr-sein-Dürfen meint nichts anderes und nicht mehr als „Das darf nicht sein“ oder einfach „Nein“. Und der „wahre Freund“ ist genau dadurch wahr, dass er Freund ist — und sonst nichts. Dass das „wahr“ also an dem im Satz ausgesprochenen Sachverhalt nichts ändert, ist Beleg dafür, dass es sich bei ihm um einen so genannten metasprachlichen Ausdruck handelt, also sozusagen eine Bemerkung nicht über die Sache, sondern den die Sache zum Ausdruck bringenden Satz ist. Und noch eines fällt auf: Wahrsein will offenkundig eine Übereinstimmung — man kann auch sagen: Entsprechung — zwischen Satz und Sache bzw. genauer: zwischen dem durch den Satz formulierten Sachverhalt und der Sache zum Ausdruck bringen. Genau das ist unser alltägliches intuitives Verständnis von Wahrheit. So spontan dieses Verständnis von Wahrheit einleuchten mag — sieht man ein wenig näher zu, d.h. versucht man über diese Entsprechung als solche ein wenig nachzudenken, findet man sich buchstäblich in Teufelsküche wieder. Daran ändert auch nichts, dass zum einen große Geister der Philosophie dieses Entsprechungsmodell von Wahrheit ausdrücklich vertreten haben, so z.B. ein Thomas von Aquin. Und ebenso wenig ändert an dem In-dieTeufelsküche-Kommen, dass das Entsprechungsmodell zum anderen auch hinter Theorien über unser Erkennen steht, die sich für besonders modern halten, weil sie ihrer Meinung nach eine naturwissenschaftliche — näherhin: eine biologische — Erklärung des Phänomens Erkenntnis leisten; an ihnen wird das Problem dieses Wahrheitsmodells besonders drastisch fassbar — doch dazu gleich mehr, werfen wir zunächst einen Blick auf Thomas!
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Korrespondenztheorie. Vom Aquinaten kommt auch die Formel, die sich für dieses intuitive Wahrheitsmodell gleichsam als Kennmelodie eingebürgert hat: Wahrheit als „adaequatio rei et intellectus“, also: Wahrheit als Entsprechung von Sache und Intellekt. Aber was heißt denn hier nun genau „Entsprechung“? Natürlich besteht diese Entsprechung nicht darin, dass der erkennende Intellekt als solcher strenggenommen der Sache gleicht. Strenggenommen nicht, aber irgendwie gleicht er ihr doch. In der äußerst schwierigen Schrift des Aristoteles mit dem Titel De anima steht ein Satz, der seine späteren Kommentatoren — und nicht zuletzt Thomas — buchstäblich in Bann geschlagen hat. Ich zitiere gleich lateinisch: „Anima est quodammodo omnia“ — Die Seele — gemeint ist der erkennende Intellekt — ist gewissermaßen alles, weil er alles, was ist und sofern es ist, erkennen kann. Klar ist folglich, dass ein Stuhl als erkannter den ihn erkennenden Intellekt — modern gesprochen: unser Gehirn — nicht zu einem Stuhl macht, sondern als Erkenntnisgegenstand in diesem Intellekt bzw. Gehirn etwas — in gewissem Sinn — Stuhlmäßiges erzeugt. Der zu erkennende Gegenstand wird also im Intellekt re-präsentiert, wörtlich übersetzt: Er wird wieder vergegenwärtigt. Daraus folgt logisch: Jetzt haben wir ein Repräsentat und einen Repräsentanten. Das Repräsentat — das Vergegenwärtigte — ist der zu erkennende Gegenstand in der Welt; der Repräsentant kann nur etwas im Intellekt — sagen wir: ein Bild des Gegenstandes — sein. So weit so gut — oder besser: so schlecht, denn: dass ein Bild von etwas in etwas anderem ist, macht noch keine Erkenntnis aus. Das In-sein eines Bildes von etwas in einem Verhältnis zu diesem etwas Anderem ist z.B. auch bei einem Fotoapparat der Fall, aber von dem würden wir wohl kaum sagen, dass er etwas erkennt. Folglich muss bei wirklicher Erkenntnis — immer noch gedacht nach dem Modell der Entsprechung — etwas zwischen Repräsentat und Repräsentanten geschehen, und zwar logischerweise nur eines: Es muss die Entsprechung zwischen beiden festgestellt, also erkannt werden. Wie etwas erkannt wird, wissen wir bereits vom Ansatz des Modells her: durch Repräsentanten — sagen wir: Bilder — des zu Erkennenden. Also brauchen wir für die Erkenntnis der Entsprechung zwischen ursprünglichem Erkenntnisgegenstand und seinem mentalen Repräsentanten einen Repräsentanten — sagen wir: ein Bild — jener Entsprechung. Wie aber erkennen wir dieses Bild der Entsprechung als deren Bild? Klar: Durch einen Repräsentanten — sagen wir: ein Bild — von jenem Bild, und schon ist Ihnen klar, warum ich mit Bezug auf das Adäquationsmodell der Wahrheit von Teufelsküche
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spreche: Es mündet aus seiner Logik unausweichlich in einen infiniten Regress — was soviel heißt wie: Es erklärt in der Sache, für die es gedacht ist, überhaupt nichts, im Gegenteil: Jeder infinite Regress führt letztlich zu einem Zerdachtwerden dessen, was zu erklären wäre. Das Scheitern des wahrheitstheoretischen Adäquationsmodells kann exemplarisch für das Täuschungspotenzial von alltäglich Plausiblem stehen. Evolutionäre Erkenntnistheorie. Nicht weniger muss überraschen, dass sich eine heute besonders populäre Erklärung des Erkenntnisphänomens in der gleichen Falle verfängt — und vor allem, dass das in der durchschnittlichen Diskussion um dieses Konzept gar nicht gesehen wird. Es geht um die „Evolutionäre Erkenntnistheorie“. Im Wesentlichen auf den Verhaltensforscher Konrad Lorenz zurückgehend, beansprucht die EE — so der übliche Kurzname — eine Erklärung des Erkenntnisphänomens mit den Mitteln der Evolutionstheorie: Unser Erkenntnisinstrumentar habe sich im Gang der Phylogenese — also der Stammesgeschichte — durch Anpassung an die Weltwirklichkeit und gemäß der Selektion durch Überlebensvorteile entwickelt: Je erfolgreicher einer auf den von seiner Umwelt ausgehenden Sinnesinput reagiert, desto besser kommt er durch — und so bilde sich Erkenntnisfähigkeit aus. Außer Frage steht, dass unser Erkennen auch eine biologische Dimension hat und dass diese den evolutionstheoretischen Gesetzen untersteht — unser Denkorgan ist nun mal das Gehirn, und das hat erwiesenermaßen eine ganz eigentümliche evolutionäre Geschichte hinter sich. Das macht auch die Triftigkeit der EE aus — jedenfalls, solange sie ihre Erklärungsansprüche nicht über diese Dimension hinaus überdehnt. Die meisten Kritiken der EE setzen sich auch mit diesbezüglichen echten oder vermeintlichen Grenzüberschreitungen der EE auseinander — dass sie etwa nicht das Auftreten von „Geist“ erklären kann (die Rede von der so genannten „Fulguration“, also davon, dass etwas auftritt, das mehr ist, als seine Auftrittsbedingungen erwarten lassen, ist lediglich Ausdruck von Ratlosigkeit). Versucht sie dennoch das Phänomen Geist zu erklären, verstrickt sie sich in Hintergrundannahmen, die ihrerseits der Kritik verfallen, so z.B. in den Materialismus. Das Problem an diesem: Die materialistische These, dass es nur und ausschließlich Materielles gibt, lässt sich mit materialistischen Mitteln nicht ausweisen (also handelt es sich beim Materialismus um eine Metaphysik, d.h. um eine denkerische Stellungnahme zum Ganzen der Wirklichkeit, die über unseren Erfahrungsraum hinausreicht).
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Aber selbst wenn die EE mit eingeschränktem Erklärungsanspruch auftritt, verbirgt sich in ihr ein gravierendes Problem (und ich halte es für nicht behebbar): Die EE fasst nämlich Erkenntnis als ein dreipoliges Geschehen auf: Sie unterscheidet Subjekt, zu erkennendes Objekt und Erkanntes im Erkenntnisapparat, das durch die evolutionär ermöglichte Passung zwischen Gehirn und Welt zustande kommt. Und genau in dieser Instanz des Erkannten steckt das Problem, das genau besehen sogar aus zweien besteht, denn: Zum einen treten solche Vermittlungsinstanzen wie das Erkannte nur dann auf, wenn es irgendwie Schwierigkeiten im Verhältnis zwischen erkennendem Geist und zu erkennender Welt gibt; genau das aber schließt doch der Gedanke der Passung eigentlich logisch aus: Sind doch ihm gemäß die Erkenntnisinstrumente im erkennenden Subjekt durch die auf dieses Subjekt eindringende Welt überhaupt erst geschaffen worden — also dürfte überhaupt kein Vermittlungsproblem zwischen beiden Seiten auftreten; die Welt müsste dem Geist unmittelbar zugänglich sein, weil jene sich diesen sozusagen zugerichtet hat. Und zum anderen entpuppt sich die EE mit ihrem dreipoligen Modell durch dessen Element des Erkannten natürlich als eine geradezu klassische Spielart der Repräsentationstheorie — und landet dabei in eben der Falle, die wir vorhin bereits kennen gelernt haben. Unterm Strich wird man sagen müssen: Bei der EE handelt es sich wohl um die Aufklärung einer bestimmten Dimension des Phänomens „Erkenntnis“, genauer gesagt: um eine zumindest bislang plausible Nacherzählung der Geschichte der biologischen Seite unserer kognitiven Ausstattung. Aber die EE ist keine Theorie der Erkenntnis und damit auch keine Theorie über Wahrheit. Kohärenztheorie. Was Wahrheit betrifft, sind wir also nach dem Durchgang durch die klassische Korrespondenztheorie mit dem Repräsentationsgedanken in ihrem Zentrum sowie nach der Analyse der modernen EE so schlau als zuvor. Gibt es alternative Annäherungen an das Wahrheitsproblem? Ja, im Prinzip noch zwei. Eine davon ist die Kohärenztheorie. Sie macht Wahrheit — kurz und sehr vereinfacht gesagt — daran fest, dass die Sätze einer Theorie oder eines Diskurses zusammenpassen (daher „Kohärenz“, Zusammenhang), dass sie also vereinbar sind. Daraus folgen auf sehr einfache Weise zwei Wahrheitskriterien: (a) Wenn zwei zu einund derselben Theorie gehörige Aussagen einander widersprechen, muss mindestens eine davon falsch sein. Und (b): Um zu entscheiden, welche von beiden falsch ist, braucht es ein weiteres
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Kriterium: Wahr ist der Satz, der sich mit den unaufgebbaren Teilen und der größeren Zahl wichtiger Teile einer Theorie vereinbaren lässt. Der Rest — also der kleinere Teil der wichtigeren Teile und die ohne größere Probleme aufgebbaren Teile der Theorie werden dem Satz angepasst, der dieses zweite Kriterium erfüllt. Evident ist, dass die Sätze einer Theorie oder eines Diskurses vereinbar sein müssen, wenn sie ernstgenommen werden wollen, so dass Kohärenz durchaus zu dem gehört, was wir normalerweise von einer Theorie oder einem Diskurs erwarten, der den Anspruch erhebt, wahr zu sein. Dennoch steckt auch in diesem Modell ein ganzes Bündel von Problemen: Der Gedanke der Kohärenz funktioniert immer nur theorieimmanent. Mit dem möglichen Fall einer Entscheidung zwischen zwei inkompatiblen Theoriealternativen für ein und denselben Sachbereich — z.B. Licht als Welle oder Korpuskel — ist dieser Ansatz überfordert. Zudem — das ist ein zweites Manko — hat die Kohärenztheorie eine ausgesprochen konservative Drift. Klar auch: Ausgegangen wird immer von dem, was schon gegeben ist und Gültigkeit besitzt. Taucht — etwa aufgrund unvorhergesehener Ergebnisse eines Experiments — ein neuer Satz auf, werden Kosten und Nutzen seiner Aufnahme in die bestehende Theorie geprüft: Lässt er sich mit halbwegs akzeptablen Folgen abwimmeln, geschieht dies natürlich. Ist er dafür zu stark, wird geprüft, wie man ihn am kostengünstigsten — also unter Preisgabe nur des unbedingt dafür Notwendigen — integrieren kann. Klar, dass es Außenseiter-Hypothesen dann außerordentlich schwer haben, in die „scientific community” (die Gemeinschaft der etablierten Wissenschaftler und ihren common sense) Eingang zu finden. Das ist insofern prekär, als ausweislich der uns bekannten Wissenschaftsgeschichte später als bahnbrechend erkannte Einsichten häufig von Außenseitern der Zunft stammen, denen bisweilen zudem der Ruf anhaftete, erfolglose akademische Lehrer zu sein und nichts zustande zu bringen (was nicht zuletzt daher rührte, dass ihre Entdeckung, bevor sie sie preisgeben mochten oder konnten, ein halbes Leben lang heranreifen musste); bei Galilei war das so, bei I. Newton, I. Kant, C. Darwin, C. S. Peirce, G. Frege, L. Wittgenstein, G. Mendel, G. Cantor, um nur einige wenige zu nennen. Beispiel Holismus. Es gibt sogar ein äußerst einflussreiches philosophisches Konzept dieses Jahrhunderts, welches in diesem konservativen Grundzug die eigentliche Wurzel aller Wissenschaft wie auch der philosophischen Welt- und Selbstbeschreibung erblickt. Willard Van Orman Quine, für Jahrzehnte so etwas wie eine Vater-
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wenn nicht Übervater-Figur der amerikanischen (sprach)analytischen Philosophie, denkt sich unser Verhältnis zur Welt folgendermaßen. Wir wachen, wenn wir zu denken und sprechen beginnen, in einem Gesamtsystem von Sätzen über die Welt und uns selber auf, die von uns aufgrund von Reizen als Reaktion auf diese formuliert werden und alle irgendwie miteinander zusammenhängen. Der Fachterminus für ein solches Bild von der Welt heißt „Holismus“. In dieser Gesamtheit von Sätzen kann jeder beliebige Satz nach Bedarf verändert werden, nur muss ich auch in den mit ihm zusammenhängenden anderen Sätzen die jeweils nötigen Veränderungen vornehmen, damit ihre Vereinbarkeit mit dem veränderten Satz erhalten bleibt. Je grundlegender ein Satz im Gesamtsystem ist, desto mehr Anpassungen sind natürlich nötig, wenn man ihn verändert oder aufgibt. Daraus folgert Quine: Die Tatsache, dass wir einige Sätze für schlechthin fundamental, nicht hintergehbar und damit für nicht aufgebbar halten — z.B. das aristotelische Nicht-Widerspruchs-Prinzip, das wir schon kennen — rühre einfach daher, dass es uns zuviel Arbeit ist, bei Preisgabe eines solchen Fundamentalsatzes all die Veränderungen und Anpassungen vorzunehmen, die bei den mit ihnen zusammenhängenden und von ihnen abhängenden Sätzen (also sehr, sehr vielen) nötig würden. Der Ausdruck „Wahrheit“ ist dann natürlich nur noch eine Art Chiffre dafür, welche Reize naheliegenderweise mit welchen Reaktionen beantwortet werden. Erkenntnistheorie mutiert zu einem Teilbereich empirischer Psychologie; exakt dem entspricht auch der Titel eines nahezu berühmten Aufsatzes Quines: „Epistemology naturalized“ — naturalisierte, also auf naturwissenschaftliche Aussagen zurückgeführte Erkenntnistheorie. Die Preisgabe des Wahrheitsbegriffs als solchen liegt also in der Logik eines radikal verstandenen kohärenztheoretischen Ansatzes — es sei denn, man verzichtet auf eine kohärenztheoretische Rechtfertigungsmöglichkeit der Grundlagen einer Theorie. Wie sind diese dann aber zu legitimieren? Nur noch per Konsens — und das ist das Kennwort für die zweite wahrheitstheoretische Alternative zur Korrespondenztheorie, die gleich noch zu bedenken sein wird. Translogische Kohärenz. Unbeschadet der vorgetragenen Einwände bleibt festzuhalten: Kohärenz ist ein konstitutiver Zug von Wahrheit, der in Korrespondenztheorien unterbelichtet bleibt. Ein Weiteres kommt hinzu: Ihr Verständnis als logische Vereinbarkeit von Sätzen ist defizitär — auch eine umgrenzte Menge von unsinnigen Sätzen kann zusammenpassen, man braucht etwa nur an
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Texte des legendären Komikers (und Sprachphilosophen) Karl Valentin zu denken.24 Das meint: Kohärenz ist als Stimmigkeit im Ganzen eines Sprachsystems hinsichtlich all seiner Dimensionen zu verstehen, und das schließt Momente ein, die über Quines logische Vereinbarkeit von Sätzen hinausgeht. Diese sozusagen translogische Kohärenz hat klassisch der späte Wittgenstein zur Geltung gebracht. In seinen posthum veröffentlichten Philosophische[n] Untersuchungen entwickelt er am Beispiel der Verschiedenheit von Spielen (Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele usw.) den Gedanken der Familienähnlichkeit, der so etwas wie ein Netzwerk sich überkreuzender Ähnlichkeiten mit unscharfen Rändern insinuiert, das also jederzeit erweiterbar ist.25 (→ → Bd. 1, Kap. 4.4) Diese Kohärenz der „Familienähnlichkeit“ sprengt nicht nur den Konservatismus einer einseitig logisch verstandenen Kohärenztheorie (Neues kann jederzeit in die „Familie“ aufgenommen werden). Sie wurzelt zugleich in Konsensen über Sprachgebräuche, so dass eine angemessen verstandene Kohärenztheorie aus sich zur Konsenstheorie als unserer dritten wahrheitstheoretischen Grundart führt, der Konsenstheorie der Wahrheit: Konsenstheorie. Der Grundgedanke der Konsenstheorie der Wahrheit ist einfach: Jemandes Erkenntnis ist nicht unabhängig davon, dass auch andere erkennen und entsprechende Geltungsansprüche erheben. Wenn es zu Konflikten zwischen solchen Geltungsansprüchen kommt, wird die Auseinandersetzung um die Sache unterbrochen und wird im Diskurs — d.h. in einem Reden über die Geltungskriterien — ein Konsens herzustellen versucht. Wahr ist, worüber auf diese prozedurale Weise ein Konsens erzielt wird. Wahrheitsfragen treten nur dort auf, wo es zum Streit über Geltungsfragen kommt. Die Konsenstheorie steht und fällt mit mehreren Voraussetzungen: (a) Die Kommunikationspartner müssen sich gegenseitig unterstellen, einen Wahrheitsanspruch zu erheben. (b) Sie müssen sich wechselseitig für wahrhaftig halten. (c) Sie gehen davon aus, dass nur die Qualität eines Arguments und nicht etwa Machtansprüche oder Machtmittel Geltungskriterien sind. (d) Konsens ist Resultat der Zustimmung zum stärksten aufgebotenen Ar-
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25
Vgl. VALENTIN, Karl: Sämtliche Werke in acht Bänden. Hg. v. Helmut Bachmaier und Dieter Wöhrle. München 1992. Hier Bd. I. Monologe und Soloszenen. Vgl. WITTGENSTEIN, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. §§ 66-67.
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gument. Und (e) die Zustimmung muss frei, also ausschließlich aus Vernunftgründen erfolgen. Für Jürgen Habermas einen der prominenten Vertreter dieses Ansatzes — fungiert diese konsensuelle Wahrheitstheorie als Legitimationsverfahren in pluralistischen Gesellschaften: Was die freie Zustimmung der Betroffenen erhält, hat als wahr zu gelten. Daraus folgt freilich, dass Wahrheit und Geltung ineins gesetzt sind. Wie problematisch dies vom Ansatz her ist, leuchtet spontan ein, wenn man bedenkt, dass sich mehr als genug Beispiele für die Unwahrheit von konsensuell erzeugten bzw. gestützten Geltungsansprüchen aufbieten lassen (z.B. Hexenwahn oder Nazi-Ideologie). Darum muss ein konsenstheoretischer Ansatz in ein Netzwerk von Rechtfertigungsregeln eingebettet werden, das fähig ist, einen Unterschied zwischen Überzeugen und Überreden aufrecht zu erhalten (worum sich Habermas — etwa im Gegensatz zu R. Rorty — intensiv bemüht).26 Ein systematisches Problem kommt hinzu. Auch die Konsenstheorie ist abkünftig: Ob eine Konvention gegeben ist, kann nicht durch Rekurs auf eine Konvention entschieden werden — so gerieten wir wieder einmal in einen infiniten Regress, wie überhaupt ein Satz nicht deswegen als wahr gilt, weil über ihn eine Konvention zustande kommt, sondern deswegen die Konvention entsteht, weil der Satz für wahr gehalten wird. Woher aber kommt seine Wahrheit dann? Doch wohl daher, dass von ihm angenommen wird, irgendwie die Wirklichkeit zu treffen — also ihr zu entsprechen. D.h.: Wir werden am Ende unseres Durchgangs durch mögliche Wahrheitstheorietypen wieder auf unsere Ausgangsintuition einer Korrespondenz von Intellekt bzw. Sprache und Welt zurückgeworfen — obwohl wir zugleich wissen, dass uns die Theorie der Korrespondenz in der Frage nach dem Wesen der Wahrheit nicht weiterbringt und auch keine Kombination der drei Theorietypen. Sache und Sachverhalt. Dieser Befund kann eigentlich nur bedeuten, dass an der Bipolarität des Wahrheitsbegriffs, den die Korrespondenztheorie besonders deutlich — aber eben dann mit aporetischen Folgen — herausstellt, für den Wahrheitsbegriff irgendwie relevant sein muss. Klar ist: Wahrheit hat zu tun mit einem Geltungsanspruch; und sie hat damit zu tun, wie sich eine Sache selbst offenbar verhält. Der Satz „p ist wahr“ impliziert ei26
Vgl. dazu HABERMAS, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 1999. 230-318.
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nen Geltungsanspruch, dem Haltbarkeit eignet, sonst bestünde kein Unterschied zu „p soll sein“; Haltbarkeit stützt sich auf Gründe und ist diskursiv einlösbar. Der Anspruch „... ist wahr“ wird für den Sachverhalt erhoben, den die Aussage „p“ ausdrückt. Wahrsein hängt vom Bestehen des betreffenden Sachverhalts ab, dies wiederum davon, wie es um die in Frage stehende Sache steht. Lourencin B. Puntels sagt das treffend so: „Der Sachverhalt ist die Sache, wie sie gemeint ist, das Ausgesagte, während sich von dieser Ebene noch die Sache selbst abhebt. Das Eigentümliche der Wahrheit ist nun gerade darin zu sehen, daß sie diese Differenz, die sie voraussetzt, wieder aufhebt. Wahrheit besagt gerade, daß Sachverhalt und Sache selbst zur Deckung gelangen, ein Identisches darstellen.“27
Den Geltungsanspruch der Wahrheit erheben, heißt also, eine Sache als sie selbst offenbar machen, und diese Offenbarkeit der Sache artikuliert sich in der Dimension eines diskursiv einlösbaren Geltungsanspruchs, womit auch die berechtigten Anliegen der Kohärenz- wie der Konsenstheorie eingeholt wären. Nicht-methodische Wahrheit. Damit ist ein Stück Klärung in die Sache der Wahrheit gebracht, jedoch das Wahrheitsproblem als Ganzes noch nicht erledigt. Es stellt sich nämlich die Frage, ob denn logische und translogische Kohärenz, Argumente, Diskurse und die aufgehobene Differenz von Sache und Sachverhalt die einzige Weise ist, in der wir es mit der Wahrheit zu tun bekommen — oder formal gesagt: die einzige Weise, in der wir Geltungsansprüchen begegnen. Und die Antwort kann nur „nein“ lauten. Denn wäre das bislang Bedachte die einzige Weise von Wahrheit, dann wäre nicht möglich, dass uns ein Kunstwerk in Bann schlägt. „In Bann geschlagen werden“ heißt ja nichts anderes als: einen Geltungsanspruch verspüren. Also gibt es auch so etwas wie eine Wahrheit der Kunst. Und noch ein anderes solches In-Bann-geschlagen-Werden kennen wir: das Phänomen des Gewissens. In ihm geht es ja auch um nichts anderes als um Wahrheit, genauer um die Wahrheit der praktischen, also auf das Handeln bezogenen Vernunft, die in der Anerkennung besteht, dass etwas Bestimmtes sein soll. Ein sehr eindrückliches Beispiel für diesen Geltungsanspruch im Raum der praktischen Vernunft bietet Romano Guardini in den mit Ethik betitelten Vorlesungen:
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PUNTEL: Wahrheit. 1659.
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„Da ist ein junger Privatdozent, Historiker, der über eine bestimmte Epoche der englischen Geschichte arbeitet. Er hat den Stoff mit großer Sorgfalt zusammengetragen und in langer Arbeit eine bestimmte Theorie aufgestellt. Von der Publikation der Untersuchung hängt für ihn viel ab; um so mehr, als er Familie hat, aber persönlich mittellos ist. Im letzten Augenblick entdeckt er ein bis dahin unbekanntes Dokument, das seine ganze Theorie über den Haufen wirft. Die Publikation drängt; er hat keine Zeit, die Arbeit noch einmal zu machen, und entschließt sich, den Inhalt des Dokuments zu verschweigen. Sein Historikergewissen ist aber doch so wach, daß es ihn daran hindert, zu tun, was die Sache komplett machen würde, nämlich das Dokument, von dem ja niemand weiß, zu vernichten. Er läßt es an seinem Platz, in einer unbestimmten Hoffnung, es später, nachdem die Arbeit ihren Zweck erreicht hätte, wieder, und nun richtig ,entdecken’ und verwerten zu können. Hier spinnt sich aber die Tragödie an, denn ein anderer Historiker kommt in das gleiche Archiv; findet das Schriftstück; stellt fest, daß der erste es gesehen haben müsse und also die Wahrheit verschwiegen habe. Zufällig gehört er zu der Kommission, welche über die Berufung des jungen Gelehrten zu entscheiden hat. So fühlt er sich, wenn auch unter schwerem Bedenken, verpflichtet, gegen die Anstellung des Mannes zu sprechen, der denn auch später zu Grunde geht.“28
Zu diesem Beispiel für den Wahrheitsanspruch, ja genauer: unbedingten Wahrheitsanspruch der praktischen Vernunft gibt es eigentlich gar nichts zu erklären, es spricht für sich. Entscheidend ist, wie sich diese andere Weise von Wahrheit soeben erschloss! Nicht durch Argumente und Schlüsse, sondern durch Erzählen. Dass sich der Geltungsanspruch solcher Wahrheiten praktischer Vernunft dann auch noch philosophisch begründen lässt, ist eine ganz andere Sache (der wir auch noch nachgehen werden). Das Inkrafttreten des Anspruchs ist davon unabhängig. In der gesamten abendländischen Philosophiegeschichte finden sich Indizien dafür, dass sich die kleine Beobachtung, die soeben an dem von Guardini erzählten Beispiel zu machen war, irgendwie verallgemeinern lässt. Von den Vorsokratikern über Sokrates/Platon, die großen Geister des Mittelalters bis zu Stimmen in der Philosophie der Gegenwart war und ist das Bewusstsein lebendig, dass Wahrheit auch dadurch zustande kommen kann, dass die Vernunft auf etwas hinhört, was sie sich gesagt sein lässt. Für die Alten in der griechischen Welt waren das heilige Überlieferungen, wie sie die 28
GUARDINI, Romano: Ethik. Vorlesungen an der Universität München. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Hans Mercker. Unter Mitarbeit von Martin Marschall. Bd. 1. Mainz; Paderborn 1993. (Werke; Sachbereich Anthropologie und Kulturkritik). 105-106.
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Priesterinnen und Priester weitererzählten, so z.B. Diotima, die in Platons Dialog Symposion keinen Geringeren als Sokrates über das wahre Wesen der Liebe und dann der Liebe zur Weisheit, also der Philosophie belehrt — und von der Sokrates in dem Dialog eigens bekräftigt, dass er ihr geglaubt habe. Christliche Denker ab der Spätantike und im Mittelalter hörten vielfach auf das, was ihnen heilige Überlieferungen biblischer Provenienz sagten. Nachdem diese Überlieferungen aus mehrfachen Gründen zutiefst unglaubwürdig geworden waren — etwa durch das abendländische Schisma und die Religionskriege —, suchte ein Gutteil der Philosophie der so genannten Neuzeit oder Moderne ein weiteres Hinhören-Können auf diese Traditionen dadurch zu sichern, dass sie die Inhalte vor allem der christlichen Überlieferung hinsichtlich ihrer Vernunftgemäßheit in Blick nahm und damit natürlich auch das mit dieser Vernunftgemäßheit Unvereinbare in Vernünftiges umzuinterpretieren suchte oder — wenn gar nicht anders möglich — abstieß (daher kommt übrigens, dass ein erheblicher Teil der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes in gewissem Sinn „christlicher“ ist als das mittelalterliche Denken). Gewichtige Teile der Philosophie der Gegenwart haben dieses Vernünftigkeitskriterium beim Hinhören der Vernunft auf ihr Gesagtes aus Zweifeln an der Vernunft weitgehend zurückgeschnitten und auf diese Weise Autorität und Traditionen — aber diesmal nicht im Blick auf eine Autorität, sondern in Unterstellung einer Pluralität gleich gültiger Überlieferungen und Autoritäten — stark gemacht. Das ist der Kern der Hermeneutischen Philosophie des Heidegger-Schülers HansGeorg Gadamer, die jahrzehntelang tief und folgenreich in die katholische Theologie eingewandert ist, und der so genannten Postmoderne, einer der philosophischen Grundstimmungen der unmittelbaren Gegenwart. Gadamer war es auch, der diese andere Weise der Wahrheit unter ausdrücklichem Bezug auf die Kunst und die praktische Vernunft dadurch auf den Punkt brachte, dass er sie als eine nicht methodisch — also durch Deduzieren, Argumentieren, Rechnen oder Messen —, sondern durch vernehmendes Hinhören zu gewinnende charakterisiert. Der Titel seines 1960 erschienenen Hauptwerks Wahrheit und Methode29 ist polemisch gemeint im Sinn von: Es gibt nicht nur methodisch erzeugte, sondern noch ei-
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GADAMER, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960.
PFLICHT ZUR SKEPSIS VERSUS PRINZIP WAHRHEIT
87t
ne andere — eben jene von anderswoher entgegenzunehmende Wahrheit (und die sei die ursprünglichere von beiden). Autorität und Erkenntnis. Sofort stellt sich an diesem Punkt natürlich die Frage, wovon her denn das, was mich da anspricht und buchstäblich beim Hinhören in Anspruch nimmt, seine Autorität bezieht, und ob ich diese nochmals prüfen kann. Oder stoßen wir in der Frage nach der Geltung von Autorität, die im Kern eine solche nach dem Unterschied zwischen Wahrheit und Schein, Wirklichkeit und Fiktion ist, an ein Problem, dem unsere Vernunft — sind die entsprechenden Fragen einmal aufgebrochen — gar nicht mehr gewachsen ist? Und das ist kein theoretisches Problem, sondern eines von höchster praktischer Brisanz. Man muss nur in Rechnung stellen, dass sich hinter einem gegenwärtig allseits gängigen Etikett nichts anderes als unser erkenntniskritisches Problem verbirgt:
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3. SEIN UND SCHEIN — VON DER WAHRHEIT UND IHREN PROBLEMEN
3.3
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Virtualität oder: Neue Wirklichkeit durch „Neue Medien“?
Telematisierung. Wer derzeit gesellschaftlich mitreden möchte, spricht gern von Globalisierung und Modernisierungsschub, hält erstere für längst unumkehrbar und fordert letzteren ein: Nur wenige melden Vorbehalte an.30 Das Rückgrat dieser Prozesse bildet die so genannte „Telematisierung“. Darunter wird die Integration herkömmlicher elektronischer Kommunikationsmittel wie Telefon, Telefax und Television mit den so genannten „Neuen Medien“ PC, E-Mail und Internet verstanden. Nicht, dass dadurch eine völlig neue mediale Dimension entstünde; eher wird man praktisch-technisch viele Züge aus der alten „Gutenberg-Galaxis“31 — also dem Zeitalter des Buch- und Zeitungsdrucks — sowie aus den alten elektronischen Medien wiederfinden, nur technisch elaborierter, funktional komplexer, beschleunigter. Gleichzeitig treten mitten in diesen vertrauten Strukturen aber auch Züge auf, die es so vorher nicht gab: Z.B. dass nicht mehr — wie im Hörfunk und Fernsehen — einige wenige an sehr viele Empfänger Informationen senden, sondern dass viele an viele (und prinzipiell alle an alle) Botschaften richten (übrigens war es schon Bert Brecht, der 1932 erklärte, erst so wäre der Radioapparat ein wirkliches Kommunikationsmittel32) und dabei durchaus anonym bleiben können. Oder dass beim Gebrauch der „Neuen Medien“ die herkömmlichen Grenzen zwischen Erwachsenen- und Kinderwelt verschwinden: Um mitzubekommen, was die „Großen“ beschäftigt, muss man nicht mehr langwierig lesen lernen, sondern nur noch den richtigen Schalter bedienen können33, was die „kids“ bekanntlich ohnehin nicht selten besser beherrschen als die „Alten“ und was im Übrigen auch damit zusammenhängt, dass in der Kommunikation Erwachsener Schrift weitgehend durch Bilder und Icons ersetzt 30
31
32
33
Dazu gehört die gleichermaßen kluge wie scharfe Kritik von ROSS, Jan: Ein neuer Glaube. Modernisierung ist ein Modebegriff, kein Wert an sich. In: Die Zeit. Nr. 29. 15.07.1999. 3. Vgl. MCLUHAN, Marshall: The Gutenberg Galaxy. The Making of the Typographic Man. Toronto 1962. Vgl. BRECHT, Bertolt: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks. In: DERS.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 21. Schriften I. Berlin; Weimar; Frankfurt a.M. 1992. 552-557. Vgl. dazu HÖRISCH, Jochen: Jenseits der Gutenberg-Galaxis. Zur Genealogie und Funktion der neuen Medien. Universitas 54 (1999). 551-562. Hier 552.
VIRTUALITÄT ODER: NEUE WIRKLICHKEIT DURCH „NEUE MEDIEN“?
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wird.34 Oder aber dass digitale Inszenierungen möglich sind, die jegliches physikalische Gesetz außer Kraft zu setzen scheinen. Genau durch solche Züge verändert die Telematisierung längst die Selbst- und Weltbeschreibung der Nutzer — übrigens auch der Nicht-Nutzer, der (im Kontrast zu den users) so genannten losers — tiefgreifend. Virtualität. Als besonders aufschlussreicher Indikator dafür kann gelten, wie selbstverständlich heute öffentlich von Virtualität gesprochen wird — aber was meint das genau? Das Wort dürfte auf den großen Scholastiker Duns Scotus zurückgehen und steht dort im Zusammenhang des damals heiß umstrittenen Problems, wie sich denn Allgemeinbegriffe zu den unter sie fallenden Einzeldingen verhalten (Universalienstreit): Der Begriff eines Dings enthält dessen empirische Eigenschaften „virtualiter“, am besten zu übersetzen mit: „als etwas, das nach Anlage oder Vermögen der Möglichkeit nach vorhanden ist“; also: mögliche Wirklichkeit. Aber: Ist eine mögliche Wirklichkeit wirklich? Oder ist sie nur möglich? Und gibt es sie überhaupt? Schwer zu sagen. Außer Zweifel steht, dass man sich mittels PC und entsprechender Zusatzausstattung buchstäblich in anderen Welten bewegen kann, ohne — und das ist gleich eine weitere Pointe — das eigene Zimmer verlassen zu müssen; kleine Bewegungen der Hände auf der Tastatur bzw. am Joy-Stick, ergänzt durch kurze Augenbewegungen in Korrelation mit dem Terminal oder — technisch avancierter — innerhalb des Datenhelms, genügen. Die Bildsucht, die hellsichtige Zeitdiagnostiker schon Mitte des 20. Jahrhunderts in den hochtechnisierten Gesellschaften diagnostizierten, hat sich längst in einen Totalzusammenhang transformiert, in dem Bilder und die durch sie erzeugte Information wichtiger sind als die Dinge, um die es darin geht. Die so genannte Referenz, d.h. der Wirklichkeitsbezug, geht darüber verloren bzw. wird bewusst aufgegeben.35 Das Kernproblem dahinter ist alles anSein und Schein. dere als neu. Es ist vielmehr bereits in der Konstitutionsphase der okzidentalen Philosophie präsent, näherhin und mit aller Vehemenz beim Vorsokratiker Parmenides. Es ist die Frage nach Sein 34 35
Vgl. MÜLLER: Homiletik. 38-39. Vgl. dazu BELTING, Hans: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München 2005. 7-30.
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3. SEIN UND SCHEIN — VON DER WAHRHEIT UND IHREN PROBLEMEN
und Schein. Was ist, ist — und ist eins, vollkommen und unvergänglich. Was diese Bedingungen nicht erfüllt, aber Anspruch auf Sein erhebt, ist Schein — und der ist schlichtweg nichts, so Parmenides’ Überzeugung. Damit war eine der Grundfragen der Philosophie aufgeworfen, die seit dem 17. Jahrhundert unter dem Titel Ontologie (Lehre vom Seienden als Seienden) verhandelt wird. Die sozusagen „gefrorene Ontologie“ des Parmenides verfiel schon bei Aristoteles der Kritik. Im IX. Buch seiner Metaphysik erläutert er, dass und warum etwas, das ist, nicht notwendig, und etwas, das nicht ist, nicht unmöglich sein muss. Seiendes kann auch nichtnotwendig, Nichtseiendes möglich sein.36 Die heutige Virtualitätsthematik treibt das Problem sozusagen um eine Drehung weiter: Sie behauptet ontologisch gesehen Nichtseiendes als existent und gibt das Prädikat „sein“ für ontologisch Existentes auf. Verflüssigung. An die Stelle der gefrorenen Ontologie des Parmenides und der modalen Ontologie des Aristoteles etabliert sich eine fluide Ontologie. Es handelt sich bei ihr um so etwas wie eine negative Ontologie: Sie beschränkt sich darauf zu sagen, was Wirklichkeit nicht ist, ohne ein Wort darüber zu sagen, was es denn bedeutet, von etwas zu sagen, dass es ist. Im Horizont der „Neuen Medien“ gilt die Annahme einer eigentlichen Wirklichkeit als so falsch wie die Gegenthese, dass es überhaupt nur noch Schein gebe und Realität als solche ausgelöscht sei — eine Position, die übrigens von einem der prominentesten Repräsentanten der so genannten Postmoderne vertreten wird: von Jean Baudrillard. Auf den Nenner gebracht heißt das: Eine ,virtuelle Realität’ gibt es überhaupt nicht, weil es ,die eigentliche Wirklichkeit’ nicht gibt, gegen die jene sich abgrenzen müsste. Die Frage nach dem ontologischen Status des Cyberspace zwingt dazu, bereits die Frage nach seinem Sein oder Nicht-Sein anders als bisher zu fassen: nicht als die Suche nach einer abschließenden Antwort, sondern als Aufforderung, sie als Frage anzunehmen. Die Frage nach dem Sein oder Nicht-Sein lässt sich nur dadurch aufnehmen, dass man die Spannung, die in ihr steckt, schlichtweg aushält. Charakteristisch für diese Perspektive ist eine gewisse Unentschiedenheit, ja mehr noch: eine entschiedene Verteidigung der Unentscheidbarkeit so
36
Vgl. ARISTOTELES: Metaphysik. 1046b, 29-1047a, 17.
VIRTUALITÄT ODER: NEUE WIRKLICHKEIT DURCH „NEUE MEDIEN“?
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klassisch wie diffiziler Probleme wie „Sein“, „Wahrheit“ oder „Wirklichkeit“.37 Im ersten Augenblick klingt das alles schrecklich abstrakt, de facto aber vollzieht sich darin eine Umstrukturierung menschlicher Welt- und Selbstbeschreibung — und zwar eine keineswegs harmlose. So hat beispielsweise die Telematisierung schon längst begonnen, eine neue Dimension der Kriegsführung zu eröffnen. Information war militärisch und strategisch seit je von Belang, nunmehr aber werden die „Neuen Medien“ — namentlich das Internet — selbst zur Waffe und paradoxerweise zugleich zur Achillesferse des Gegners. Durch den elektromagnetischen Impuls einer „E-Bombe“ (elektronische Bombe), also gleichsam eines virtuellen Sprengsatzes, lassen sich die gegnerischen telematischen Strukturen lahm legen oder schädigen, mit der Folge, dass die Angegriffenen von der für die Abwehr nötige Informationszufuhr abgeschnitten sind und überdies aufgrund der in ihrer Komplexität nicht mehr zu durchschauenden Vernetzung aller gesellschaftlichen Felder (Verkehr, Finanzen, Wirtschaft, Medizin, Verwaltung etc.) binnen kürzestem das öffentliche Leben der unter Beschuss Genommenen zusammenbricht. Herkömmliche geostrategische Vorteile spielen dabei keine Rolle mehr — der Angriff übers Netz kann von einem beliebigen Ort aus erfolgen —, ebenso wenig die finanziellen Mittel, sofern für den Einstieg in den „Infowar“ im Prinzip ein normaler PC reicht. Besonders brisant überdies: Für einen Beobachter lässt sich bei der telematischen Kriegsführung die Grenze zwischen Manöver und Ernstfall nicht mehr ausmachen. Auf fatale Weise wird so das ursprünglich vom militärischen Komplex für die Handlungsfähigkeit nach einem Atomschlag geschaffene Netz („Arpanet“) selbst zur größtmöglichen Bedrohung.38 Noch eine weitere Art fundamentaler Spiel mit Identität. Veränderung durch die Telematisierung ist zu nennen: Wer sich ins Netz einklinkt („einloggt“), kann sich ja auch selbst hinsichtlich seiner Individualität virtualisieren. In den Chats (Diskussions37
38
Vgl. MÜNKER, Stefan: Was heißt eigentlich: „Virtuelle Realität“? Ein philosophischer Kommentar zum neuesten Versuch der Verdopplung der Welt. In: MÜNKER, Stefan/ROESLER, Alexander (Hgg.): Mythos Internet. Frankfurt a.M. 1997. 108-127. Hier 118. Vgl. dazu MATTHEIS, Uwe: Rollen Panzer auf der Datenautobahn? Der Cyberspace als Kriegsschauplatz: Das Linzer Festival „ars electronica“ stellt explosive Fragen. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 206 vom 08.09.1998. 13.
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3. SEIN UND SCHEIN — VON DER WAHRHEIT UND IHREN PROBLEMEN
räumen) oder E-Mails kann ich mir beliebige leibliche oder geistige Züge zuschreiben, die ich gerne hätte, aber nicht habe, bzw. kann ich mich ohne die Züge präsentieren, die ich habe, aber nicht haben möchte. Ich kann mit meiner Identität in jeglicher Hinsicht spielen: der beruflichen, religiösen, politischen, auch der sexuellen z.B., sofern sich ein Mann als Frau ausgeben kann oder umgekehrt, ein Heterosexueller als Homosexueller und umgekehrt usw. Und natürlich kann ich auch gleichzeitig mit einer Mehrheit von Identitäten operieren. Die eigenartige Parallele dieser virtuell generierten Identitätsverflüssigung mit dem vieldiskutierten Problem der „Multiplen Persönlichkeit“ springt geradezu ins Auge.39 Dabei handelt es sich um ein in westlichen Gesellschaften seit einiger Zeit geradezu epidemisch auftretendes Phänomen, das aber keineswegs überall als Krankheit anerkannt ist. Es stellt sich bereits die Frage, ob zwischen dem massenhaften Auftreten von multiplen Persönlichkeiten und dem telematischen Spielenkönnen mit einer virtualisierten Identität nicht nur eine strukturelle Parallele, sondern ein kausaler Zusammenhang besteht, sofern das Verschwinden der Grenze zwischen Sein und Schein — wie bereits vermerkt — zum erklärten Ziel der Cyberkultur gehört. Für diese These spricht im Übrigen, dass Virtualität längst zum kulturellen Massenphänomen geworden ist. Exemplarisch greifbar wurde das vor einigen Jahren etwa an dem alle Erwartungen sprengenden Erfolg des Films Matrix von Larry und Andy Wachowski, der durch seinen Plot, durch die Dialoge und zugleich auf praktischer Ebene durch seine hunderte Spezialeffekte bei den Zuschauern die Frage weckt, ob denn das, was wir für Realität halten, nicht insgesamt eine Computersimulation ist und wir selbst virtuelle Figuren in einem Spiel, das andere Wesen („Götter“) auf ihren Rechnern inszenieren.40 Zumindest für einen erheblichen Teil des westlichen Bildungsbürgertums gilt, was ein Rezensent über Matrix resümiert: „Es gibt keine Wahrnehmung der Realität mehr, die nicht von Kinobildern infiziert ist [...].“41 Fernsehen und selbst Print-Medien haben den Realitätsvorbehalt gegen visuelle Kommunikation bereits zur Standardeinstellung alltäglichen Um39
40
41
Vgl. dazu BRAUN, Christina von/DIETZE, Gabriele (Hgg.): Multiple Persönlichkeit. Krankheit, Medium oder Metapher? Frankfurt a.M. 1999. Vgl. dazu STEINZEN, Sebastian: Philosophische Motive in der MATRIX. Münster [Im Erscheinen]. JÜRGENS, Christian: Keanu im Wunderland. Ein Cybertraum. „Matrix“ ist das Kino-Abenteuer des Jahres. In: Die Zeit. Nr. 25 vom 17.06.1999. 36.
VIRTUALITÄT ODER: NEUE WIRKLICHKEIT DURCH „NEUE MEDIEN“?
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gangs mit der durchschnittlichen Lebenswelt gemacht. Was von den tagtäglich rezipierten Bildern dokumentiert überhaupt „Wirkliches“? Natürlich gab es informationelle Manipulationen, seit es die Fotografie gibt. Aber die Telematisierung hat der visuellen Kommunikation auch noch die Unschuld ihrer Alltäglichkeit so grundlegend geraubt, dass sie ihr niemand mehr zurückgeben kann. Selbst dem trivialsten Foto oder Videoclip ist aus Prinzip nicht mehr zu trauen. Hohelied der Metamorphose. Längst gibt es Stimmen, die diesen Trend der spätmodernen Gesellschaften lebhaft begrüßen. Beispielsweise Peter Sloterdijk tut das. Ihm gelten alle Denkformen, die zwischen „wahr“ und „falsch“, „Wirklichkeit“ und „Meinung“, „Sein“ und „Schein“ unterscheiden, als etwas, das das späte 21. Jahrhundert einmal als „halbarchaische Konfliktfolklore“42 anmuten wird, als „primitiv[er] und präkomplex[er] [...] Fundamentalismus“43, der einst die Macht der Phantasie behindert habe. Dazu gehören für ihn wegen ihres Festhaltens an diesem Unterschied besonders auch alle Metaphysiken und Monotheismen. Jetzt aber, nach der technisch möglich gewordenen flächendeckenden Rückkehr der Verwandlungen von allem in alles in einer durch und durch medial gewordenen Welt44, sei auch der Monotheismus als einer der „antithetische[n] Primitivismen“45 entzaubert. An die Stelle der durch ihn etablierten Wahr-falschUnterscheidung trete ein „Verum et fictum convertuntur“46 (das Wahre und das Fingierte fallen ineins). Virtualität und Gottesfrage. Wie eng das Verhältnis von Fiktionalität und Wahrheit mit der Gottesfrage verschränkt ist, 42
43
44 45 46
SLOTERDIJK, Peter: Tau von den Bermudas. Über einige Regime der Einbildungskraft. Frankfurt a.M. 2001. 11. SLOTERDIJK: Tau (Anm. 42). 10. — Hier handelt es sich unschwer erkennbar um einen feuilletonistischen Widerhall von Heideggers Gedanken zum „letzten Gott“. Vgl. HEIDEGGER, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a.M. (Gesamtausgabe; 65). 409-417. 411: „‚Monotheismus’ und alle Arten des ‚Theismus’ gibt es erst seit der jüdisch-christlichen ‚Apologetik’, die die ‚Metaphysik’ zur denkerischen Voraussetzung hat. Mit dem Tod dieses Gottes fallen Theismen dahin. Die Vielheit der Götter ist keiner Zahl unterstellt, sondern dem inneren Reichtum der Gründe und Abgründe in der Augenblicksstätte des Aufleuchtens und der Verbergung des Winkes des letzten Gottes.“ Vgl. SLOTERDIJK: Tau (Anm. 42). 9 mit Bezug auf Hugo Ball. SLOTERDIJK: Tau (Anm. 42). 10. SLOTERDIJK: Tau (Anm. 42). 11.
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3. SEIN UND SCHEIN — VON DER WAHRHEIT UND IHREN PROBLEMEN
macht R. Spaemann am sprachlichen Fall des so genannten Futurum exactum deutlich: Unser zeitlich strukturiertes Denken lässt uns das jetzt Wirkliche zugleich als etwas fassen, das ein einmal Gewesenes sein wird. Das bedeutet: „Von einem Ereignis der Gegenwart sagen, es werde einmal nicht mehr gewesen sein, heißt sagen, dass es in Wirklichkeit auch jetzt nicht ist. [...] Das jetzige Bewusstsein von dem, was jetzt ist, impliziert das Bewusstsein des künftigen Gewesenseins, oder es hebt sich selbst auf. Aber was ist der ontologische Status dieses Gewesenseins, wenn alle Spuren verweht sein werden, wenn das Universum nicht mehr sein wird? [...] Die Unvermeidlichkeit des Futurum exactum impliziert die Unvermeidlichkeit, einen ‚Ort’ zu denken, wo alles, was geschieht, für immer aufgehoben ist. Oder wir müssen den absurden Gedanken akzeptieren, dass einmal nicht mehr gewesen sein wird, was jetzt ist, und was eben deshalb auch jetzt nicht wirklich ist. Die totale Virtualisierung der Welt macht das Dasein Gottes verzichtbar.“47
Das ist ganz einfach deswegen so, weil Gegenwärtiges, ist es einmal Vergangenes geworden, für alle Zukunft Vergangenes bleibt: Es wird einmal gewesen sein. Sagte man von etwas, es werde einmal nicht mehr gewesen sein, wäre es schon gegenwärtig als nicht wirklich bestimmt. Virtualität macht diesen Gedanken denkbar. Damit macht sie — wäre sie das leitende Modell von Wirklichkeit — den Folgegedanken Gottes als einer Instanz der Sammlung all dessen, was gewesen sein wird (denn als solches bliebe es ja auch nach dem Ende allen endlichen Bewusstseins), überflüssig. Wer den Preis einer solchen Ent-Wirklichung zu zahlen bereit ist, kann sich der monotheistischen Gottesfrage samt ihrer wahr-unwahrUnterscheidung entledigen.48 In diesem Sinn ist Erkenntnistheorie eine Rückseite der Religionskritik und umgekehrt. Vergleichbares entdeckt auch, wer sich mit einem zweiten Grundzug menschlichen Daseins näher befasst, der engstens mit dem Erkenntnisproblem verschränkt ist: dem Sprechen und Verstehen.
47
48
SPAEMANN, Robert: Das unsterbliche Gerücht. In: Merkur 53 (1999). Heft 9/10. 772-783. Hier 783. Zu diesem Theorem des Futurum exactum vgl. ausführlicher SPAEMANN, Robert: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‘etwas’ und ‘jemand’. Stuttgart 1996. 123-133. — DERS.: Gottesbeweise nach Nietzsche. In: STAMM, Marcelo (Hg.): Philosophie in synthetischer Absicht — Synthesis in Mind. Stuttgart 1998. 527-538. Hier 535-536.
4.
Weite und Grenze der Sprache
Lit.: F. v. Kutschera: Sprachphilosophie. — A. Keller: Sprachphilosophie. — J. Simon: Sprachphilosophie. — J. Henningfeld: Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts. — E. Runggaldier: Analytische Sprachphilosophie. — M. Laube: Im Bann der Sprache. — Ch. Jäger (Hg.): Analytische Religionsphilosophie. 11-51. 4.1
Erste Verständigung über ein komplexes Phänomen
Kerngeschäft Sprachkritik. Sprachphilosophie gibt es, seit es Philosophie gibt. Philosophie ist nicht zuletzt auch als Sprachkritik entstanden. Diese Funktion der Sprachkritik gehört bis heute wesentlich zur Sprachphilosophie. Wittgenstein prägte dafür im Tractatus logico-philosophicus ein anschauliches Bild: „Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen.“1
Gleichwohl beschränkt sich philosophischer Umgang mit der Sprache keineswegs auf Kritik allein. Den verschiedenen Perspektiven haben wir in gebotener Kürze nachzugehen. Platonischer Vorbehalt. Schon vor Platon stand die Frage im Raum, ob Gedanken für alle universal verständlich sind, oder ob die Sprache nur eine entstellende und damit Falschheit erzeugende Mitteilung zulasse. Den dichtesten Reflex dieser Problematik überliefert der siebte von den dreizehn erhaltenen Briefen Platons. Es ist jene Stelle, die auch den Dreh- und Angelpunkt der bis heute andauernden Diskussion um die so genannte „Ungeschriebene Lehre“ Platons bildet. Dort heißt es: „Wenn ich [...] die Absicht gehabt hätte, es [sc. seine Lehre; K. M.] könne für weite Kreise hinreichend geschrieben und gesagt werden, was hätte ich dann Herrlicheres tun können in meinem Leben, als dies niederzuschreiben zum großen Nutzen für die Menschen und allen die wahre Natur ans Licht zu ziehen? Doch ich meine, daß für die Menschen ein Versuch damit in der beschriebenen Art nicht gut wäre, außer für einige wenige, die es jedoch auch selbst nach wenigen Hinweisen herausfinden können. Alle übrigen würden sich entweder mit 1
WITTGENSTEIN, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Nr. 4.002.
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4. WEITE UND GRENZE DER SPRACHE
unaufrichtiger Geringschätzung aufblasen und damit der Sache nicht gerecht werden oder mit der hohen, eitlen Hoffnung, sie hätten irgend etwas Erhabenes gelernt.“2
Natur oder Setzung? Das war noch die klassische kritische Frage. Aber schon in der ersten Monographie zur Sprachphilosophie im eigentlichen Sinn, Platons Dialog Kratylos, geht es bereits inhaltlich zur Sache. Dort wird erwogen, ob Wörter natürliche Zeichen für Gedanken und damit die von Gedanken gemeinten Dinge sind oder ob sich der Gebrauch der Wörter auf menschliche Festsetzung gründe, ob sie „physei“ oder „thesei“ bezeichnen; unter „Natürlichkeit“ wird eine Beziehung verstanden, wie sie vergleichsweise auch zwischen Feuer und Rauch besteht. Damit sind bereits die drei Grundthemen von Sprachphilosophie intoniert, die bis heute die Achse dieser Disziplin bilden: (a) das Verhältnis von Wort und Gedanken; (b) das Verhältnis von Wort und Sache; und (c) der Zeichencharakter der Sprache. Aristoteles. Was die Entscheidung der Alternative zwischen Natürlichkeit und Konventionalität der Sprachzeichen betrifft, so wurde sie durch Aristoteles im Wesentlichen zu Gunsten Letzterer entschieden. Zwar wird anerkannt, dass es gewisse Wörter mit natürlichem Zeichencharakter gibt, z.B. lautmalerische Ausdrücke in der so genannten Onomatopöie (vom griechischen „onoma“, Name, und „poiein“, machen); typisches Beispiel: das Wort „Barbar“. Wer schon einmal Theater gespielt hat, weiß, dass bis heute Volksgemurmel — also unverständlich sein sollendes Sprechen auf der Bühne — dadurch erzeugt wird, dass der Regisseur eine Gruppe von Leuten völlig unkoordiniert „barberabarberabarber“ murmeln lässt (und als die Griechen erstmals die rothaarig-blauäugig-blasshäutigen Germanen reden hörten, verstanden sie auch nur „barberabarber“ und nannten sie darum „barbaroi“). Jedoch bilden solche Lautmalereien nur eine kleine Gruppe sprachlicher Ausdrücke. Die meisten gehen aus Konvention hervor, sind also, wie man heute gern sagt, arbiträr, also willkürlich festgelegt. Aristoteles hat seine diesbezüglichen Ansichten in dem schmalen, aber schwierigen Werk Peri hermeneias die Lehre vom Satz zu Papier gebracht, das nach den Kategorien den zweiten Teil der aristotelischen Logik bildet. Das Buch muss als 2
PLATON: Siebenter Brief. 341d-e.
ERSTE VERSTÄNDIGUNG ÜBER EIN KOMPLEXES PHÄNOMEN
97t
einer der wirkmächtigsten Texte zur Sprachphilosophie überhaupt gelten; Thomas von Aquin hat dazu überdies einen äußerst wichtigen Kommentar geschrieben. Gleich zu Beginn von Peri hermeneias heißt es: „Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder Zeichen der Laute. Und wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so sind auch die Laute nicht bei allen dieselben. Was aber durch beide an erster Stelle angezeigt wird, die einfachen seelischen Vorstellungen, sind bei allen Menschen dieselben, und ebenso sind es die Dinge, deren Abbilder die Vorstellungen sind. [...] Das Nomen ist also ein Laut, der konventionell etwas bedeutet, ohne eine Zeit einzuschließen, und ohne daß ein Teil von ihm eine Bedeutung für sich hat.“3
Nach Aristoteles wurden besonders auch in Augustinus. der Stoa sprachphilosophische Überlegungen angestellt, die eine langanhaltende Wirkungsgeschichte erlebten. Aus diesem Bereich stammen im Grunde alle technischen Handbücher der Sprachwissenschaft, die maßgeblich wurden. Ganz besondere Relevanz erlangte die von Stoikern etablierte Differenz zwischen der äußeren Gestalt eines Zeichens und seiner Bedeutung. Die sprachphilosophischen Leistungen der Griechen wurden vor allem durch Boethius und Augustinus weitergeführt und ins Mittelalter tradiert. Augustinus wird bisweilen der größte Semiotiker der Antike und Begründer dieser Forschungsrichtung genannt. „Semiotik“ heißt die Wissenschaft von den Zeichen. Das Spezifische der augustinischen Sprachphilosophie kommt dadurch zustande, dass er die griechischen Traditionen mit Erkenntnissen lateinischer Grammatiker verbindet — Augustinus war gelernter Rhetor! Und weit bedeutender: dass bestimmte inhaltliche Basistheoreme der christlichen Verkündigung in seine Auffassung der Sprache und der Zeichen einfließen. Das gilt für alle drei schon genannten Grundthemen sprachphilosophischer Reflexion: (a) die Relation Sprache-Denken; (b) die Relation Sprache-Sache und (c) der Zeichenbegriff. Es lohnt sich, darauf wenigstens einen kurzen Blick zu werfen: Sprache und Denken. Die erste dieser Relationen konzipiert Augustinus als Verhältnis zwischen einem äußeren und ei3
ARISTOTELES: Peri hermenias. 16a.
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4. WEITE UND GRENZE DER SPRACHE
nem inneren Wort. Das ist zunächst ein genuin stoischer Gedanke; dort wurde zwischen „logos endiathetos“ und „logos prophorikos“ unterschieden. „Inneres Wort“ meint dabei eine artikulierte Einsicht und fungiert als die Bedingung der Möglichkeit des entsprechenden äußeren Wortes. Der Prozess der Wortbildung wird dabei als ein Zeugen und Gebären gefasst, und das nutzt Augustinus, um diesen Prozess zusammenzuschauen mit der Zeugung des göttlichen WORTES durch den VATER. Damit ist natürlich schon der Grund verraten, warum gerade christliche Theologen von Anfang an lebhaftes Interesse an Reflexionen über die Sprache zeigten: Nicht nur, weil es in einer dezidierten Religion des Wortes, die durch ein Sprechen Gottes konstituiert wird, elementar um Sprache geht; das gilt ja auch für das Judentum. Sondern weit mehr deswegen, weil der Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens, Jesus Christus, im Evangelium selbst an denkbar prominentester Stelle im Johannesprolog „ho logos“, das Wort, genannt wird (vgl. Joh 1). Und damit konnte natürlich das gesamte christliche Offenbarungsgeschehen als solches und nicht nur hinsichtlich seiner sprachlichen Dimension am Modell Wort und Sprache ausgelegt werden — was ja auch bis heute geschieht: Man braucht ja etwa nur an einen Karl Rahner zu denken. Einer der wichtigsten Grundgedanken seiner Theologie kommt dadurch zustande, dass er Offenbarung und speziell das Christusgeschehen nicht als von Gott her ergehende Information und Instruktion über Inhalte begreift, die dem Menschen anderweitig völlig verschlossen wären. Sondern, dass Offenbarung im umfassenden Sinn als „Selbstmitteilung Gottes“ verstanden wird. Auch einer der wichtigsten Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Dogmatische Konstitution über die Offenbarung Dei Verbum, gewinnt von diesem Gedanken her sein Profil. Den Weg für solche Konzepte hat Augustinus eröffnet. Diese Ineinanderspiegelung von sprachphilosophischer Reflexion und christlichen Grundgedanken geht dabei noch weiter. Um die Konkretisierung des inneren Wortes in ein äußeres Wort einer bestimmten Sprache hinein näher zu fassen, zieht Augustinus als Modell den Gedanken der Inkarnation, der Menschwerdung des ewigen Wortes Gottes im Menschen Jesus von Nazaret heran. Gleichzeitig vollzieht sich im Gang dieser Verknüpfungen eine Umkehrung der Sinnrichtung. Während sprachliche Phänomene zunächst auf theologische Gehalte verweisen, werden diese selbst — einmal ins Spiel gebracht — zur Begründung für das an der Sprache Beobachtete. Das bedeutet für Augustinus konkret: Sprache ist
ERSTE VERSTÄNDIGUNG ÜBER EIN KOMPLEXES PHÄNOMEN
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so verfasst, wie sie verfasst ist, weil in ihr der göttliche Grund von allem wirkt. Formal gefasst: Sprachphilosophie gründet in Theologie. Sprache und Sache. Das zweite sprachphilosophische Grundthema wird durch und durch bestimmt von der Weise, in der Augustinus von der philosophisch wie theologisch zu allen Zeiten wichtigen Metapher „Licht“ Gebrauch macht. Er fasst Denken als ein Sehen von dem Licht auf, das den Dingen eingeschaffen ist. Und das dem Denken entsprechende Sagen bezieht seine sacherschließende Leuchtkraft daraus, dass es zuvor dieses dem Seienden eingeschaffene Licht zur Erscheinung gebracht hat. In moderner Terminologie kann man sagen: „Seiendes ist gesprochenes Licht geordnet tätiger Subjektivität.“4 Und auch dieser sprachphilosophische Gedanke ist theologisch unterfasst: In Hebr 1,3 wird Jesus lichtmetaphorisch „Abglanz“ des Vaters genannt; gleichzeitig ist er derjenige, durch den und auf den hin — so Kol 1,16 und ähnlich Hebr 1,2 — alles geschaffen ist im Himmel und auf Erden. Und daraus folgt: Der die Schöpfung bestimmende und tragende Christus als Abglanz des Vaters konstituiert die Übersetzbarkeit des Seienden ins endliche Wort, indem er innerhalb seiner Funktion als Schöpfungsmedium dem Seienden Anteil gibt an seiner Lichtnatur. Sprache als Zeichen. Auf diese christozentrische Fundierung baut Augustinus schließlich auch seine Überlegungen zum Zeichenbegriff. In kritischer Auseinandersetzung mit der stoischen Bedeutungstheorie kommt er zu dem Ergebnis, dass die als Zeichen verstandenen Worte überhaupt keine Erkenntnis vermitteln, sondern höchstens erinnernde oder anregende Funktion ausüben. Das Zeichen setze für seinen Bedeutungsgehalt die nur im individuellen Akt geschehende Einsicht in die Wirklichkeit der bezeichneten Sache voraus. Die Skepsis den Zeichen gegenüber fungiert aber zugleich als Ansatzpunkt für Augustins zeichentheoretischen Spitzengedanken. Und der heißt: Wir erhalten von den Dingen weder Kunde durch Zeichen noch durch andere Dinge, sondern einzig durch Christus, der als unwandelbare Wahrheit im Innern des Menschen wohnt. Augustinus hat das in seinem Werk De ma4
SCHADEL, Erwin: Aurelius Augustinus. De magistro. Einführung, Übersetzung, Kommentar. Bamberg 1975. 246-247.
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4. WEITE UND GRENZE DER SPRACHE
gistro ausgeführt. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, möchte ich nur darauf hinweisen, dass diese sprach- und kommunikationstheoretische Position zwei weitreichende Folgen nach sich zieht: Eine theologische — denn wenn alle Wahrheit schon in mir wohnt und dort eigentlich nur noch aufgedeckt werden muss, dann kann eigentlich von außen, also durch Worte, gar nichts mehr Neues in mich hineingetragen werden. Wofür aber hat es dann die Offenbarung, gar die Inkarnation gebraucht? Ist sie auch nur ein Hilfsinstrument zur Erinnerung an die in mir liegende Wahrheit und ist mit ihr also über Gott nichts Neues kundgeworden? Die zweite Folge ist philosophischer Natur: Wenn die Zeichen so skeptisch beurteilt werden müssen, wie Augustinus es tut, und es eigentlich allein auf die innere Wahrheit ankommt, sinkt dann die konkret gesprochene Sprache als menschliches Phänomen nicht zwangsläufig zu einem Hilfskonstrukt ab, das in der Situation nach dem Sündenfall halt nötig geworden ist? Das Konzept mit dem inneren Meister hat seine Haken. Kritische Revision durch Thomas von Aquin. Ebendies erkannt und darum trotz Anerkennung der Autorität des Augustinus einen ganz neuen sprachphilosophischen Weg eingeschlagen zu haben, geht auf das Konto des Thomas von Aquin. Zwar teilt er grundsätzlich Augustins christozentrische Rückbindung der Sprachthematik an die Theologie. Aber das bleibt die einzige Gemeinsamkeit. In seiner wiederum De magistro (De ver 11 a2) betitelten Quaestio schlägt er dadurch einen ganz anderen Weg ein, dass er Sprache nicht mehr nur einfach als Zeichen versteht, das ja immer Zeichen für etwas ist, sondern als Ausdruck der Sachhaltigkeit eines Seienden selbst. So öffnet er den Raum für die Möglichkeit einer eigenständigen menschlichen Vernunfterkenntnis. Ohne das breiter auszuführen, kann man sagen: Diese Wendung hat ihre tiefste Ermöglichung in Thomas’ Aristoteles-Rezeption; denn kraft dieser gelang es ihm, eine Eigenständigkeit der weltlichen Wirklichkeiten auf eine Weise herauszuarbeiten, die mit den unbestrittenen theologischen Vorgaben nicht kollidierte. Thomas macht das mit ausdrücklicher Berufung auf Aristoteles so klar: „Die Formen der Naturdinge gibt es zwar zuvor schon in der Materie, aber nicht wie einige wollen, in Wirklichkeit, sondern nur der Möglichkeit nach [das geht natürlich gegen die Platoniker, also auch Augustinus; K. M.]. Von hier aus werden sie durch die nächstliegende, äußere Wirkkraft verwirklicht und nicht allein durch die erste Wirkkraft [das geht gegen Avicenna, der behauptet hatte, exklusiv ein transzendenter
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intellectus agens verwirkliche die Formen in den konkreten Dingen; K. M.] [...] Ähnlich verhält es sich auch mit der Aneignung von Wissenschaft, welche in uns in bestimmter Weise keimhaft angelegt ist, nämlich in Form ursprünglicher Inhalte des Verstandes, die sofort im Lichte des ‚tätigen Verstandes’ mittels der von den sinnenfälligen Dingen abstrahierten Formen erfaßt werden. Dabei kann es sich sowohl um Urteile handeln, nämlich Axiome bzw. selbstevidente Grundsätze, als auch um Begriffe wie ‚Seiendes’, ‚Eines’ und dergleichen, welche der Verstand insgesamt sogleich erfaßt. In derartigen, allgemeinen Prinzipien ist alles weitere gleichsam einbeschlossen. Gelangt der menschliche Geist aufgrund derartiger allgemeiner Erkenntnis zur wirklichen Erkenntnis von besonderem, das zuvor schon im allgemeinen und gleichsam der Möglichkeit nach erkannt wurde, so heißt dies, daß man Wissen erwirbt.“5
Im Grunde war Augustinus mit Gesprochene Sprache. seinem Sprachverständnis in die Sackgasse der Inkommunikabilität geraten. Die Sprengung der augustinischen Konzeption durch den neuentdeckten Aristoteles, wie sie sich bei Thomas spiegelt, machte aber nicht nur wirkliche Kommunikation wieder denkbar (Thomas erwähnt ausdrücklich, dass es im Horizont seiner Überlegungen eine sinnvolle und angemessene Redeweise sei, wenn man sagt, der Mensch lehre).6 Zugleich kann jetzt die Sprache als gesprochene selbst erst wirklich ins Blickfeld rücken und ihre ausführliche logische Analyse als vielversprechendes Unternehmen erscheinen. Zwar arbeitete Thomas selbst nicht als Sprachlogiker. Aber auch bei ihm merkt man das lebendige Interesse an der gesprochenen Sprache. Und man darf durchaus sagen, dass in sein gesamtes Opus, gerade auch die theologischen Werke, eine Aufmerksamkeit auf sprachliche Vorgänge integriert ist, die einen ausgesprochen modernen Eindruck erweckt und in gar nicht so wenigem eine gewisse Ähnlichkeit mit Werken gerade von Sprachphilosophen dieses Jahrhunderts aufweist. Logische Analyse. Gleichzeitig gab es andere, die sich der logischen Analyse der Sprache mit voller Intensität widmeten. Ich überspringe Avantgardisten und nenne gleich diejenigen, die die mittelalterliche Sprachphilosophie zu einem kaum mehr zu überbietenden Höhepunkt führten. Es waren die Autoren der ab ca. 5 6
THOMAS VON AQUIN: De veritate. q 11 (= De magistro), a1 c. Vgl. THOMAS VON AQUIN: De veritate. q 11 (= De magistro), a1 c Ende.
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4. WEITE UND GRENZE DER SPRACHE
1270 erscheinenden Traktate De modis significandi — Werke im Übrigen, deren Niveau zum Teil erst wieder um die letzte Jahrhundertwende durch Gottlob Frege und Wittgenstein erreicht wurde und die bis heute nur einer kleinen Spezialistengilde bekannt sind. Ähnliches gilt von ihren Autoren: In durchschnittlichen Lehr- und Handbüchern findet sich kein Wort darüber, dass die wichtigsten der einschlägigen Autoren miteinander so etwas wie einen skandinavischen Ableger der Scholastik bilden; sie heißen Martinus de Dacia, Johannes Dacus und Boethius de Dacia (letztere Bezeichnung heißt übersetzt „Dänemark“). Sachlich zugerechnet werden müssen der Gruppe der wichtigsten Modisten auch Thomas von Erfurt und Michael von Marbaix, um wenigstens einmal die Namen zur Sprache kommen zu lassen. Universalien. Damit ist das Feld mittelalterlicher Sprachphilosophie aber noch nicht ausgemessen. Es gab nicht nur gegenüber den Modisten-Traktaten alternative Bedeutungstheorien (Einzelheiten wieder beiseite!). Es gab daneben auch noch einen philosophisch-spekulativen Themenkomplex, der zwangsläufig sprachphilosophische Bemühungen nach sich zog: der so genannte Universalienstreit. Worum es dabei geht, ist uns schon von dem her vertraut, worauf vorhin Thomas sein antiaugustinisches Votum in der Sprachtheorie stützte. Um das Problem nochmals pointiert zu fassen: Ist der Allgemeinbegriff — sagen wir „Katzen“ — ein Instrument zu Ordnung der vielgesichtigen Wirklichkeit, mit dem wir die zahllosen Katzen erfassen, die herumstreunen. Oder ist „Katze“ ein an sich existierender Sachgehalt? Die aristotelischthomanische Lösung des Problems, den Allgemeinbegriff — das Universale — als Produkt der Vernunft mit einem Fundament in der Realität zu fassen, bemüht sich zwar um eine Balance, konnte sich aber im Letzten doch nicht auf stabile Weise durchsetzen. Die Tendenz zum Nominalismus, also zur Auffassung des Universale als Funktion der Vernunft, war stärker. ( Ontologie ) Neuzeitliches Sprachdenken. Genau dieser Nominalismus war eines (aber nur eines) der Motive, die die so genannte Neuzeit hervorgetrieben haben. Sprache wird mehr oder weniger vollständig von metaphysischen und theologischen Hintergründen abgekoppelt. Wörter und ihr Gebrauch werden als sie selbst und in empirischer Hinsicht Gegenstand des Interesses. Darum wendet sich die Renaissance lebhaft der Rhetorik, also dem gesprochenen Wort zu. Bis heute nachwirkende sprachphilosophische Ansätze
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aus diesem Geist — wiewohl weit nach der Renaissance entstanden — stammen von Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt. Sie alle verbindet, Sprache nicht abstrakt zu thematisieren, sondern als ein geschichtliches und soziales Phänomen, in dem sich der Mensch intellektuell und gleichermaßen auch emotional Ausdruck verschafft, zu verstehen. Bei Herder und Humboldt gewinnt Sprache auf diesem Weg zugleich eine philosophisch zentrale Bedeutung. Das geschieht ein weiteres Mal zu Beginn dieses Jahrhunderts. Nach Kant kam es zur Entwicklung großer philosophischer Systeme, die den Anspruch erhoben, eine umfassende Theorie der Wirklichkeit in ihrer ganzen Konkretheit einschließlich des Absoluten zu repräsentieren. Mehr als jeder andere steht der Name Hegels für diesen Anspruch. Als diese Systeme unter Kritik gerieten und schließlich zerbrachen, rückten das Phänomen der Sprache und der Gesellschaft in bislang nicht bekannter Weise in den Rang eines letzten Horizonts der Philosophie. Auch da gab es mittlerweile schon längst wieder Differenzierungen. Aber seither gilt Sprachphilosophie als so etwas wie die Basisdisziplin der Philosophie überhaupt — das allerdings auf durchaus komplexe Weise. Man muss drei Richtungen unterscheiden, die bis heute je für sich von Belang sind:
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4. WEITE UND GRENZE DER SPRACHE
4.2
Dialogische Sprachphilosophie
Die Sprachphilosophie aus dem Theologischer Boden. Geist des Dialogs entstand auf einem Boden, der sich einer Begegnung von deutscher Philosophie und Judentum verdankt. Sachlich gesehen steht am Anfang Hermann Cohen. Zunächst war Cohen um eine Aufhebung von Religion in Ethik als Fernziel zu tun gewesen. Je länger, je mehr aber begann er, Religion als solcher Gewicht zu verleihen. Der Gott der hebräischen Bibel wurde ihm zur philosophisch relevanten Instanz. Der Titel eines seiner Spätwerke — Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, veröffentlicht posthum 1919 — charakterisiert treffend das Programm, das sich Cohen vorgenommen hatte. Im Mittelpunkt stand dabei das Verhältnis von Gott und Mensch: Hier der Gott, der handelt und ohne den Menschen gar nicht sein will, den er liebt; dort der schuldige, der Umkehr bedürftige Mensch, der nicht ohne diesen barmherzigen Gott sein kann. Nur kraft der Vergebung Gottes kommt der Mensch aus der Dialektik seiner Vernunft frei, einerseits den Willen zum Guten nicht zu besitzen — sonst müsste er nicht umkehren —, auf der anderen Seite ihn aber auch schon zu besitzen — weil er sonst dieser Umkehr gar nicht fähig wäre. Sie, die Vergebung, macht den Menschen zum sittlichen Individuum. „Das Wesen Gottes ließe sich nicht in seiner Vollendung begrifflich erkennen, wenn nicht die Sündenvergebung seine [sc. Gottes; K. M.] eigentliche Leistung wäre.“7
Gebot und Gebet. Dieses Gott-Mensch-Verhältnis im Zentrum seines Denkens nannte Cohen „Korrelation“. Durch sie nun gewinnt auch das Wort für ihn eine besondere Bedeutung, genauerhin das Wort als Gebot und das Wort als Gebet. Gebot und Gebet sind allein schon nach ihrer grammatischen Form von Aussagesätzen unterschieden. Diese sprechen von etwas in der dritten Person. Und selbst, wenn sie in der ersten Person sprechen („Ich bin reich“) kann ein anderer sie in der „Er“-Form aufnehmen und unverkürzt reformulieren („Er ist reich“). Anders bei Gebot und Gebet. Sie bleiben notwendig im Raum des Ich und Du. Franz Rosenzweig ein jüngerer Freund Cohens, hat das eindrücklich dadurch herausgearbeitet, dass er Cohens Korrelation 7
COHEN, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Nachdruck Wiesbaden 1986. 243.
DIALOGISCHE SPRACHPHILOSOPHIE
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von sündigem Menschen und vergebendem Gott mit entsprechenden Schriftstellen konkretisierte, die jene grammatische Eigenheit von Gebot und Gebet unmittelbar zur Geltung kommen lassen. Die Gebote beginnen mit „Ich bin der Herr, dein Gott“ (Ex 20,2), das Gebet des Menschen mit „Vor dir allein habe ich gesündigt“ (Ps 51,6). Ihm wird geantwortet „Ich vergebe dir, wie du gesagt hast“ (Num 14,20). So wird das Subjekt in den Sprachhandlungen von Gebot und Gebet konstituiert, zu seiner Ganzheit gebracht, die Cohen als sittliche Qualität gefasst hatte. Weil aber niemand anstelle eines anderen umkehren kann, ist und bleibt das Subjekt in diesem Vorgang unvertretbar. Zugleich machen es die Sprachhandlungen zum Glied einer Gemeinde. Eine nähere Analyse der liturgischen Sprache, wie eine Gemeinde sie pflegt, zeigt für Rosenzweig, dass die Sprachhandlungen Gebot und Gebet nicht einfach nur einen institutionellen Rahmen für ihr Funktionieren voraussetzen, sondern ihn gleichermaßen schaffen. Die jüdische Sabbatfeier (übrigens genauso das katholische Stundengebet) beginnt mit Ps 51,1: „Auf, lasst uns jubeln dem Herrn, lasst uns jauchzen dem Fels unseres Heiles.“ Der bestimmende grammatische Fall ist in diesem Vers der Dativ („dem Herrn“, „dem Fels“). Der Dativ ist schon rein etymologisch der Fall der „Geber“ („dare“). Im Dativ vereinigen sich viele zum gemeinsam Tun („Last uns jubeln dem Herrn...“). Durch die Sprachhandlungen von Gebot und Gebet wird also auch die Gemeinschaft konstituiert, deren Aufgabe diese Sprachhandlungen ausmachen. Ich und Du. 1917 schrieb Rosenzweig an Eugen Rosenstock-Huessy, einen anderen Denker jüdischer Herkunft, der später zum Katholizismus konvertierte: „Mein Ich entsteht im Du. Mit dem Du-sagen begreife ich, daß der Andre kein ‚Ding’ ist, sondern ‚wie ich!’“8
So wurde die Philosophie des Ich und Du, auch Dialogphilosophie genannt, geboren. Nahezu zeitgleich kam der österreichische Philosoph Ferdinand Ebner zu frappierend ähnlichen Entdeckungen. Richtig bekannt, geradezu populär gemacht hat dieses Denken wenig später Martin Buber. Was Rosenzweigs Beitrag betrifft, so 8
Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock-Huessy. Zitiert nach MAYER, Reinhold: Zur jüdischen Religionsphilosophie. In: HALDER, Alois/KIENZLER, Klaus/MÜLLER, Joseph (Hgg.): Religionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie. Düsseldorf 1988. (Beiträge zur Theologie und Religionswissenschaft; Experiment Religionsphilosophie III). 186-194. Hier 193.
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4. WEITE UND GRENZE DER SPRACHE
wurzelt er in Cohens Religionsphilosophie der Bekehrung. Niedergelegt hat Rosenzweig seine Einsichten vor allem in seinem Hauptwerk Der Stern der Erlösung (abgeschlossen 1918; erschienen 1921). Dort hat er an zentraler Stelle das, was er unter Offenbarung versteht, in Form einer Auslegung des biblischen Hohelieds der Liebe entfaltet. In keinem anderen biblischen Buch kommen die Worte „ich“ und „du“ so häufig vor wie in diesem schmalen Werk. Und ebenso sei das Buch voller Imperative, besser voll von einem immer wieder ausgesprochenen Imperativ: dem, den die Geliebte dem Geliebten und er ihr beständig sagt: „Liebe mich, weil ich dich liebe!“9 „Und wie nur aus dem Munde des Liebenden dieser Imperativ kommen kann, aus diesem Munde aber auch kein andrer Imperativ als dieser, so ist nun das Ich des Sprechers, das Stammwort des ganzen Offenbarungsdialogs, auch das Siegel, das, jedem Wort aufgedrückt, das einzelne Gebot als Gebot der Liebe kennzeichnet. Das ‚Ich der Ewige’, dies Ich, mit dem als dem großen, die eigene Verborgenheit verneinenden Nein des verborgenen Gottes die Offenbarung anhebt, begleitet sie durch alle einzelnen Gebote hindurch.“10
Man kann sich heute diese TheoGefahr der Verkürzung. logik in der Grundlegung der Dialogphilosophie gar nicht eindringlich genug zu Bewusstsein bringen. Die vor allem durch Buber initiierte Popularisierung des dialogischen Denkens tendiert nämlich dahin, die Grundgedanken auf folgenreiche Weise zu verkürzen. Umstandslos schließen daraus nämlich manche, das Ich eines Menschen gewinne sich von einem oder gar mehreren Du’s her. Ohne Zweifel trifft zu, dass ich nur in engster Verbindung mit anderen ich selbst werden kann. Das hat schon Fichte erkannt, und die Psychologie hat es aus ihrer Sicht vielfach bestätigt. Doch gleichermaßen gilt auch: Wenn jemand, der durch andere gleichsam zu sich selbst wachgerufen wird, nicht wenigstens anfänglich all dem voraus bereits er oder sie selbst ist, könnte sie oder er nur Produkt dessen sein, was diejenigen, die ihn wachrufen, aus ihm bzw. ihr machen. Genau dieser Aspekt kommt zumindest in popularisierenden Rezeptionen der dialogischen Sprachphilosophie häufig zu kurz.
9 10
MAYER: Religionsphilosophie (Anm. 8). 190. ROSENZWEIG, Franz: Der Stern der Erlösung. In: DERS.: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften Bd. 2. Haag 1976. 198.
HERMENEUTISCHE SPRACHPHILOSOPHIE
4.3
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Hermeneutische Sprachphilosophie
Sein und Sprache. Der Name soll vorerst nichts zur Sache tun, weil uns die Sache, von der er sich herleitet — Hermeneutik — gerade wegen seiner Herkunft aus und seiner Wichtigkeit für Theologie eigens beschäftigen wird. (→ → Bd. 1, Kap. 5; Hermeneutik) Daher an dieser Stelle nur der Hinweis: Unter Hermeneutik versteht man die Kunst der Auslegung, der Deutung sprachlicher Äußerungen und anderer Medien, aber auch anderer kultureller Gebilde. Ausgehend von der zentralen Stellung, die der Sprache logischerweise innerhalb der Hermeneutik zukommt, lässt sich so etwas wie die Konzeption einer hermeneutischen Philosophie gewinnen. Und es kann nicht überraschen, dass solchermaßen ansetzendes Philosophieren ein primär sprachphilosophisches Profil gewinnt. Zwei Namen stehen vor allem für dieses Projekt: Zum einen Martin Heidegger. In Sein und Zeit (1927) fasste Heidegger Sprache noch als „Existenzial“, also einen strukturellen Grundzug menschlichen Daseins. Später radikalisiert sich die Stellung der Sprache zu einer Art eigenständigen Größe, die in unmittelbarer Verbindung mit dem Sein selbst steht. In dem berühmten Brief über den Humanismus — erschienen 1949 — kommt dieses Verständnis verdichtet zur Geltung. Die Schrift beginnt mit folgender Passage: „Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird nach ihrem Nutzen geschätzt. Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines Wesens entfalten, in diese hervorgeleiten, producere. Vollbringbar ist deshalb eigentlich nur das, was schon ist. Was jedoch vor allem ‚ist’, ist das Sein. Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen. Es macht und bewirkt diesen Bezug nicht. Das Denken bringt ihn nur als das, was ihm selbst vom Sein übergeben ist, dem Sein dar. Dieses Darbringen besteht darin, daß im Denken das Sein zur Sprache kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren.“11
11
HEIDEGGER, Martin: Brief über den Humanismus. (1949). In: DERS.: Wegmarken. Frankfurt a.M. 1976. (Gesamtausgabe; 9). 313-364. Hier 313.
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4. WEITE UND GRENZE DER SPRACHE
Vernehmen. Auch der eigentliche Hintergrund für ein solches Verständnis von Sprache wird in diesen Zeilen gut fassbar. Es richtet sich gegen den Primat des Instrumentellen in Vernunft und Leben, gegen das Machen. Damit steht ein solcher Ansatz ein für die Wahrheiten, die in einer ganz von Technik und Verwissenschaftlichung geprägten Kultur durch das Raster fallen, weil sie nicht methodisch gemacht, sondern nur vernommen werden können. „Sprache“, so heißt es an anderer Stelle im Humanismusbrief, „Sprache ist lichtend-verbergende Ankunft des Seins selbst.“12 Ein solches Anliegen hat sein mehr als gutes Recht. Heidegger konnte sich erregen darüber, wenn er hörte, wie Studierende statt „Universitätsbibliothek“ einfach „UB“ sagten. Das war für ihn instrumentell erniedrigte, verfallene Sprache. Das heute übliche Kauderwelsch im Computerbereich oder die SMS-Kommunikation würden ihn entsetzt haben. Ich denke, dass solches Sprechen in Kürzeln und Fragmenten in der Tat für Wahrnehmung, Kommunikation und Sprachkompetenz nicht folgenlos bleibt. Andererseits hat Heidegger vor allem in den späten Jahren sein eigenes Sprachverständnis sprachlich gewissermaßen überzogen und damit sein Philosophieren ins Elitäre, beinahe Esoterische geführt. Zu sagen etwa, dass die Sprache spreche, mag noch angehen, auch wenn es problematisch erscheint. Aber wird das Wesen eines Dings erfassbarer, wenn vom Krug gesagt wird, dass er krugt?13 Heideggers SchüNicht-instrumentelle Sprachlichkeit. ler Hans-Georg Gadamer ist seinem Lehrer im Anliegen gefolgt, ohne solche Wege wie die letztgenannten mitzugehen. Sein Hauptwerk Wahrheit und Methode, erschienen 1960, innerhalb der Gesammelten Werke versehen mit einem Ergänzungsband, der dicker als die ursprüngliche Ausgabe ist, der aber offensichtlich vom Autor selbst dem Werk integral zugerechnet wird, dieses Buch hat als das Standardwerk der hermeneutischen Philosophie zu gelten. Bereits der Titel reflektiert das heideggersche Anliegen einer Rehabilitierung des Nicht-Instrumentellen: Wahrheit und Methode. Das Buch hat bis heute eine nicht nur philosophischliteraturwissenschaftliche, sondern auch eine eminente theologische Rezeption erfahren und eine entsprechende Wirkungsge12 13
HEIDEGGER: Humanismus (Anm. 11). 326. HEIDEGGER, Martin: Das Ding. In: DERS.: Vorträge und Aufsätze. 7. Aufl. Stuttgart 1994. 157-179.
HERMENEUTISCHE SPRACHPHILOSOPHIE
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schichte ausgelöst — im Übrigen auf geradezu verblüffende Weise im katholischen Bereich. (→ → Bd. 1, Kap. 5.2) Der Weltbezug des Menschen, so Gadamer, geschieht über die Sprache, aber eben nicht instrumentell. Im Gegenteil: Sprachlichkeit als konstitutiver Charakter der Weise, wie uns die Welt begegnet, ist vorgängig zu allem, was wir in der Welt als seiend erkennen oder ansprechen. Rückblickend auf den Gang seiner Überlegungen kann Gadamer zusammenfassend sagen: „Daß die Sprache eine Mitte ist, in der sich Ich und Welt zusammenschließen oder besser: in ihrer ursprünglichen Zusammengehörigkeit darstellen, hatte unsere Überlegungen geleitet... In allen analysierten Fällen, sowohl in der Sprache des Gesprächs wie in der Dichtung als auch in der Auslegung, zeigte sich die spekulative Struktur der Sprache, nicht Abbildung eines fix Gegebenen zu sein, sondern ein ZurSprache-kommen, in dem ein Ganzes von Sinn sich ansagt. Wir waren gerade dadurch in die Nähe der antiken Dialektik geraten, weil auch in ihr keine methodische Aktivität des Subjekts, sondern ein Tun der Sache selbst vorlag, das das Denken ‚erleidet’. Dieses Tun der Sache selbst ist die eigentliche spekulative Bewegung, die den Sprechenden ergreift. Wir haben ihren subjektiven Reflex im Sprechen aufgesucht. Wir erkennen jetzt, daß diese Wendung vom Tun der Sache selbst, vom Zur-Sprache-kommen des Sinns, auf eine universal-ontologische Struktur hinweist, nämlich auf die Grundverfassung von allem, auf das sich überhaupt Verstehen richten kann. Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“14
Ich brauche nicht groß darauf hinzuweisen, Hypotheken. dass mit einem solchen Ansatz wie bei Heidegger und Gadamer natürlich in gewissem Sinn etwas von jener Metaphysizierung von Sprache zurückkehrt, deren Monopol diejenigen aufgebrochen hatten, die sich mit Aristoteles im Rücken kritisch gegen Augustinus wandten. In der Form, in der das zumal bei Gadamer geschieht, erweist sich ein solches Unterfangen durchaus als fruchtbar. Gleichwohl enthält Wahrheit und Methode in einigen Hinsichten Implikate, die als ausgesprochen problematisch zu gelten haben und an anderer Stelle noch zu diskutieren sein werden: Zuallererst denke ich dabei an das, was bei Gadamer aus dem Begriff des Subjekts wird. Dass dieser vom seit Kant virulenten Subjektbegriff markant abweichen muss, wenn Sprache die Mitte der ursprüngli14
GADAMER, Hans-Georg: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 6. Aufl. Tübingen 1990. (Gesammelte Werke; 1). 478.
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4. WEITE UND GRENZE DER SPRACHE
chen Zusammengehörigkeit von Ich und Welt repräsentiert, wie wir vorhin hörten, liegt auf der Hand. Die dialogische Sprachphilosophie hatte logisch-grammatische Analysen der Sprache einbezogen, ohne deren Potenzial auch nur von ferne auszuschöpfen. Die hermeneutische Sprachphilosophie verzichtet auf dergleichen so gut wie ganz (die heideggerschen Rekurse auf Etymologien sollte man nicht darunter subsumieren). Um so intensiver bedient sich dieses Instrumentars das dritte Paradigma zeitgenössischer Sprachphilosophie, von dem jetzt noch zu handeln ist:
DIE ANALYTISCHE SPRACHPHILOSOPHIE
4.4
111t
Die analytische Sprachphilosophie
Linguistic turn. In keiner Charakterisierung der Philosophie des 20. Jahrhunderts fehlt der Ausdruck „linguistic turn“, „Wendung zur Sprache“. Gemeint ist damit Folgendes: Die ganze Philosophie der Moderne (also etwa seit dem 16. Jahrhundert) hatte sich auf das Problem und Rätsel des Bewusstseins konzentriert und von seiner Analyse die Aufklärung aller wichtigen philosophischen Probleme erwartet. Schon gegen Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts, noch während der Zeit Hegels, eines der größten dieser Bewusstseinsphilosophen, war daran heftiger Zweifel laut geworden: Gegen die Dominanz von Geist und Bewusstsein wurde das Recht der materiellen, biologischen, sozialen Bedingungen von Bewusstsein und Denken eingeklagt. Das war nicht zuletzt mit der Absicht verbunden, philosophische Probleme in den Bereich des empirisch Analysierbaren und Überprüfbaren zu ziehen und sie so einer wirklich wissenschaftlichen Untersuchung zu unterwerfen. Als ein Phänomen, das sich dafür besonders eignete, entpuppte sich schnell die Sprache: Sie hat einerseits mit Geistigem zu tun, verfügt aber konstitutiv über eine materielle Seite, die von intersubjektiven, also sozialen Strukturen durchherrscht ist. Nicht mehr das Wesen von Dingen ist jetzt das Thema der Philosophie, sondern die Sätze, die wir über Dinge formulieren; sie wandelt sich von Sachwissenschaft zur Satzwissenschaft. Und klar, dass dabei vom Prinzip her alles Metaphysische, alles, was sich nicht auf Empirisches zurückführen lässt, der radikalen Kritik verfällt — und mit der Metaphysik natürlich auch alles, was mit Religion zu tun hat. Analytik als Stilprinzip. „Analytische Philosophie“15 gilt heute nicht mehr als Name einer philosophischen Richtung, sondern als Bezeichnung eines philosophischen Arbeitsstils, dessen sich auch bedienen kann, wer inhaltlich anderen Traditionen folgt. Charakteristisch für diesen Stil sind die Klarheit methodischer Verfahren und der argumentative Standard. Ermöglicht wird dieser Stil im Wesentlichen dadurch, dass in der analytischen Philosophie an die Stelle der Problembereiche Sein und Erkennen die Bereiche Sprache und Bedeutung treten und zwar nicht als Ablö15
Vgl. Zum Folgenden auch DALFERTH, Ingolf U.: Analytische Religionsphilosophie. In: HALDER/KIENZLER/MÜLLER: Religionsphilosophie (Anm. 8). 16-37.
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4. WEITE UND GRENZE DER SPRACHE
sung der vorhergehenden Bereiche, sondern so, dass sie diese in sprachphilosophischer Transformation mit umfassen: Auch ontologische, also die Verfassung der Wirklichkeit betreffende, und erkenntnistheoretische Fragestellungen lassen sich über Bedeutungskonzeptionen analysieren, die ihrerseits von Sprach- und Zeichentheorien abhängen. Dieser Umfang des analytischen Ansatzes macht für unsere Zwecke Beschränkungen notwendig. Mir scheint sinnvoll, diese so anzulegen, dass wir dem Profil der analytischen Sprachphilosophie im Medium derjenigen ihrer Fragestellungen nachgehen, denen unmittelbare theologische Relevanz eignet. Verzweigungen der Analytik. Nimmt man das Aufkommen der analytischen Philosophie als solcher in Blick, dann scheint ein solches Unterfangen wie das eben avisierte zunächst unmöglich und dann sinnlos. Die beiden Gründerväter der analytischen Philosophie waren Bertrand Russell und George E. Moore. Trotz der gleichen Grundidee entwickelten sie auf dem Hintergrund ihrer verschiedenen Interessen zwei Weisen von Analytik, die für die Entwicklung der analytischen Philosophie gleichermaßen von Bedeutung wurden. Der Mathematiker Russell strebte danach, durch Konstruktion einer Wissenschaftssprache die Ungenauigkeiten der Umgangs- wie der philosophischen Fachsprache auszuschalten. Legendären Ausdruck fand dieses Bemühen in den zusammen mit Alfred N. Whitehead veröffentlichten Principia Mathematica (1910-1913). Russells Schüler Wittgenstein führte dessen Ansatz im Tractatus logico-philosophicus als eine Rekonstruktion der logischen Grundstruktur von Sprache weiter, dies freilich auf eine Weise, die nicht nur Russell irritierte, sondern sich in der Wirkungsgeschichte auf vielfältigste Weise missverstehbar und auch — nicht zuletzt durch Theologen — missbrauchbar erwies (dazu gleich mehr). Moore dagegen begriff Analyse nicht als Sprachanalyse, sondern als Analyse von Begriffen, d.h. er suchte philosophisch unklare Begriffe auf eine aus der Umgangssprache vertraute Begrifflichkeit zurückzuführen. Beide Richtungen haben sich in selbstkritischen Prozessen vielfältig ausdifferenziert. Weitreichende Bedeutung gewann innerhalb dieser Wirkungsgeschichte — seit den 30er bis in die 60er Jahre — die an der Vielfalt der alltagssprachlichen Operationen interessierte „Sprachanalyse“. Der späte Wittgenstein — mit der Sprachspiel-Analyse und dem Lebensform-Konzept — prägte diese Phase ebenso wie die „Ordinary Language Philosophy“, deren bekannteste Repräsentanten Gil-
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bert Ryle, John L. Austin und Peter F. Strawson waren bzw. sind. Auf der Basis der Ordinary Language Philosophy kam es seit den 60er Jahren zur Konzeption der „Sprechakt-Analyse“. Diese entwickelte sich in Richtung eines Einbezugs des Sprechhandelns in eine philosophische Handlungstheorie. Frühe Analytik und Religion. Von ihren soeben genannten Auftrittsbedingungen her war die analytische Philosophie zunächst notwendig religionskritisch angelegt. Russell verstand sich als Agnostiker, Wittgenstein verweist das Ethische und das Religiöse im Tractatus in einen Bereich sui generis, einen aber, der nicht (wie gern ungenau behauptet wird) einfach „Schweigen“ heißt. „6.432 6.522 7
Wie die Welt ist, ist für das höhere vollkommen gleich gültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt. […] Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“16
Auch wenn geschwiegen werden muss, zeigt sich etwas. Das „Sich Zeigen“ steht als Chiffre, dass sich das Ethische und Religiöse nicht als Element in die Welt der Dinge einordnen lässt, die der Fall sind (Tractatus: „1 Die Welt ist alles, was der Fall ist.“). In einem Vortrag von 1930 mit dem Titel Ethik spricht Wittgenstein den einschlägigen Ausdrücken sogar ab, Gleichnisse zu sein; sie scheinen es nur zu sein. Denn Gleichnisse seien doch Gleichnisse für etwas, im Fall der religiösen und ethischen Sprache aber gäbe es kein solches „Etwas“, d.h. die Ausdrücke seien unsinnig. Aber genau das sei kein Defizit, sondern ihr Wesen. „[...W]as ich mit ihnen erreichen wollte, war ja gerade, über die Welt hinauszugehen, und das heißt auch: über die sinnvolle Sprache hinaus [...]. Was [diese Sprache; K. M.] sagt, fügt unserem Wissen in keinem Sinn etwas hinzu. Aber sie ist ein Dokument einer Tendenz im Menschen, die hochzuachten ich nicht umhin kann und über die ich mich um keinen Preis lustig machen möchte.“17
So wahrt Wittgenstein die transzendente Dimension des Religiösen, und nur so scheint ihm philosophisch entsprochen zu sein. Allerdings waren im Horizont des analytischen Ansatzes auch ganz andere Annäherungen denkbar: Der Ko-Autor der Principia 16 17
WITTGENSTEIN: Tractatus logico-philosophicus. Nr. 6.432. 6.522. 7. WITTGENSTEIN, Ludwig: Ethik. In: DERS.: Geheime Tagebücher 1914-1916. 2. Aufl. Wien 1991. 77-86. Hier 86.
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Mathematica, Whitehead, legte 1929 mit Process and Reality die einzige vollständige Metaphysik des 20. Jahrhunderts einschließlich einer im Rekurs auf die Evolutionsbiologie und die Relativitätstheorie rekurrierende Religionsphilosophie vor. (→ → Bd. 1, Kap. 10; Gotteslehre) Sinnlosigkeitsverdacht. Ganz anders freilich die Analytik der nachfolgenden Phase des „Logischen Empirismus“. Er betrachtete religionsphilosophische Fragen als nicht stellbar. Sinnvoll erschien dieser Richtung nur, was sich empirisch bewahrheiten lässt — also müssen ethische, metaphysische, religiöse und ästhetische Sätze sinnlos sein, weil sie keinen deskriptivkognitiven, allenfalls einen emotiven Sinn besitzen. Ein Satz wie „Gott existiert“ ist demnach kein wahrheitsfähiger, also überhaupt kein echter Satz, denn er ist weder als apriorisch wahr oder falsch noch als empirisch mehr oder weniger wahrscheinlich zu erweisen. Vor allem Alfred J. Ayer hat dieses Eliminationsprogramm forciert und damit eine religionsphilosophische Diskussion im analytischen Bereich für fast ein Jahrzehnt unmöglich gemacht. Voraussetzungen einer Neuentdeckung von Religion. Allerdings geriet das Verifikationsprinzip nach nicht allzu langer Zeit unter die Kritik der eigenen Norm: Es selbst fällt ja weder in die Klasse der analytischen noch der der empirisch bestätigbaren Sätze, die allein es als wahrheitsfähig behauptet. Als überdies unter dem Eindruck des späten Wittgenstein der Dualismus von kognitiven und emotiven Sätzen einer differenzierteren Sicht wich, war der Raum für neue religionsphilosophische Überlegungen geöffnet. Wittgenstein hat in seinem Spätwerk nicht nur die Überzeugung aus dem Tractatus beibehalten, dass es sich bei Philosophie nicht um eine Lehre, sondern um eine Tätigkeit handelt — daher rührt der eigenartige der Stil der Philosophische[n] Untersuchungen, der sich in den zahlreichen dialogischen Passagen geltend macht. Da werden wir als Leserinnen und Leser Zeugen eines eigenartigen Ringens. Wittgenstein zögert keinen Augenblick, Positionen, die er widerlegen möchte, so stark wie nur irgend möglich darzustellen (übrigens eine der Parallelen zwischen Wittgenstein und Thomas von Aquin), und nicht selten geht es dabei um Dinge, die er früher selbst vertreten hat. Neben dieser frühen operativen Überzeugung hat Wittgenstein auch daran festgehalten, dass es genuine Aufgabe des Philosophie-
DIE ANALYTISCHE SPRACHPHILOSOPHIE
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rens sei, zwischen wahr und falsch und Sinn und Unsinn (im schon erläuterten Sinn) zu unterscheiden. Nur distanziert er sich jetzt von den — man könnte sagen — Schwarz-Weiß-Urteilen des Tractatus, dass ein Satz eindeutig und sofort der einen oder anderen Kategorie zugeordnet werden könne. D.h. er differenziert, was natürlich auch das methodische Vorgehen seiner Untersuchungen komplizierter macht. Vor allem geht ihm auf, dass es häufig nicht reicht, den sprachlichen Kontext einer Äußerung für deren Klärung zu beachten, sondern dass auch nicht-sprachliche Bedingungen dieser Äußerung dafür eine Rolle spielen. Für diesen Zusammenhang zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Elementen hat Wittgenstein einen Namen geprägt, der mittlerweile in die philosophische Fachterminologie Eingang gefunden hat. Mit ihm beginne ich auch eine kurze Übersicht über die wichtigsten Gedanken der Philosophische[n] Untersuchungen. Sprachspiel. Es handelt sich um den Begriff des „Sprachspiels“. Dem Anschein nach wurde Wittgenstein auf diesen Gedanken durch das Schachspiel gebracht. Eine Schachfigur bezieht ihre Bedeutung aus den Regeln, denen sie unterworfen ist, und diese wiederum hängen zusammen mit den Regeln für die anderen Figuren, so dass man sagen kann: Die Bedeutung einer bestimmten Figur ergibt sich aus dem Gesamt der Regeln des Spiels, in dem sie verwendet wird. Besonders prägnant tritt das hervor, wenn ein und dieselbe Spielfigur in ganz verschiedenen Spielen verwendet wird, z.B. bei „Mühle“ und „Dame“. Der einzelne Holztaler bedeutet für sich überhaupt nichts. Erst die jeweiligen — und ganz verschiedenen — Spielregeln geben ihm eine bestimmte Bedeutung. Und genauso denkt sich Wittgenstein das Funktionieren von Wörtern. Sowenig das Aufstellen einer Schachfigur schon einen Zug im Spiel darstellt, so wenig gibt es (und das ist nun ein Unterschied zum Tractatus) eine Bedeutungsbeziehung zwischen Name und Gegenstand. Auch eine hinweisende Definition — z.B. „Dies ist rot“ — ist mit ihren Lauten und dem Zeigegestus in das Gesamt des Sprachsystems eingebunden. Was das sprachphilosophisch bedeutet, bringt Wittgenstein auf die später geradezu berühmt gewordene Formel: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung’ — wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung — dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.
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4. WEITE UND GRENZE DER SPRACHE
Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen Träger zeigt.“18
Von der ursprünglichen Spielmetapher her ergeben sich daraus einige wichtige Anschlussgedanken. Zunächst gleich ein doppelter in Bezug auf den Begriff der Regel, ohne die es ja kein Spiel geben kann. Zum einen: Um am Sprachspiel teilnehmen zu können, muss ich die Regeln lernen. Eine Sprache erlerne ich nicht dadurch, dass sie mir erklärt wird, sondern dadurch, dass ich ihre Elemente richtig verwenden lerne, z.B. durch Beobachtung anderer, die diese Sprache schon beherrschen. Das Gleiche gilt für das Verstehen: Verstehen ist Anwendenkönnen. Der zweite Gedanke, der die Regel betrifft: Sprachregeln sind so wenig wie Spielregeln für immer und unverrückbar festgeschrieben. Sie können sich auch ändern. Das hängt ab von den Gepflogenheiten der Öffentlichkeit der jeweiligen Sprachbenutzer. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir solchen Gepflogenheiten folgen, machen diese zur Regel. Noch vor zehn Jahren nahm ein anständiger Mensch öffentlich das Wort „geil“ nicht in den Mund, weil sich seine ursprüngliche Bedeutung „lustig“ zu einem deftigen Vulgärausdruck der Sexualsprache verengt hatte. Wenn heute die kleine Trixi im Kindergarten einen Teddybären sieht, der ihr gefällt, sagt sie: „Oh, schaut der geil aus!“ — Gepflogenheiten sind flüssig. Lebensform. Genau die gleiche Biegsamkeit macht den Kern eines weiteren Folgegedankens aus: Vom Zusammenhang zwischen Sprachlichkeit und Nichtsprachlichkeit her ergibt sich, dass Sprachzeichen und Handlung ganz eng zusammengehören oder, wie Wittgenstein es formuliert: „[...] daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“19
Trifft das zu, dann dient Sprechen natürlich in keiner Weise nur dem Bezeichnen von etwas oder dem Beschreiben der Welt. Man kann damit auch eine Menge anderer Dinge tun. Wittgenstein zählt auf: „Befehlen und nach Befehlen handeln — Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen, oder nach Messungen — Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) — Berichten eines Hergangs — 18 19
WITTGENSTEIN, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. § 43. WITTGENSTEIN, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. § 23.
DIE ANALYTISCHE SPRACHPHILOSOPHIE
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Über den Hergang Vermutungen anstellen — Eine Hypothese aufstellen oder prüfen — Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme — Eine Geschichte erfinden; und lesen — Theater spielen — Reigen singen — Rätsel raten — Einen Witz machen; erzählen — Ein angewandtes Rechenexempel lösen — Aus einer Sprache in die andere übersetzen — Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.“20
Familienähnlichkeit. Das alles sind Sprachspiele, eingebettet in Lebensformen. Daraus folgt unmittelbar noch etwas, das zu einem weiteren Grundwort der Philosophische[n] Untersuchungen leitet. Wenn all die genannten Äußerungsweisen „Sprachspiele“ sind, worin besteht dann das ihnen allen Gemeinsame? Wittgensteins Antwort: Damit verhält es sich genauso wie im Fall des Wortes „Spiele“. Spiele gibt es unheimlich viele: Kartenspiele, Ballspiele, Brettspiele, Würfelspiele, Tanzspiele. Bei manchen kommt es auf Geschicklichkeit an, bei manchen auf Schnelligkeit, bei manchen auf Raffinesse, bei manchen geht es um Geld, bei manchen braucht man einfach Glück. Was also ist ihnen allen gemeinsam, dass sie mit dem einheitlichen Namen „Spiele“ bezeichnet werden können? Wittgenstein: „Sag nicht: ‚Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht >Spiele