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German Pages 118 [119] Year 2019
Norbert Fischer Peter Reifenberg Jakub Sirovátka (Hg.)
Das Antlitz des Anderen Zum Denken von Emmanuel Levinas
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495820445
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B
Norbert Fischer Peter Reifenberg Jakub Sirovátka (Hg.) Das Antlitz des Anderen
VERLAG KARL ALBER
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Norbert Fischer Peter Reifenberg Jakub Sirovátka (Hg.)
Das Antlitz des Anderen Zum Denken von Emmanuel Levinas
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Norbert Fischer / Peter Reifenberg / Jakub Sirovátka (Eds.) The Face of the Other On the thinking of Emmanuel Levinas Levinas develops his fundamental philosophical considerations from the concrete encounter with the other, who in his radical otherness places an ethical demand on the ego. This claim is particularly evident in the face and gaze of the other. Thus the »face of the other« belongs to the central figures of thought of Levinas’ philosophy. This anthology unfolds the core motif of the ’face’ in different directions (e. g. in conversation with philosophical tradition) and at the same time shows its effect in various fields: in art or in the ›political‹.
The Editors: Prof. em. Dr. Norbert Fischer held the chair of Basic Philosophical Questions of Theology at the Catholic University of Eichstätt-Ingolstadt from 1995 to 2013. Prof. Dr. Peter Reifenberg is Director of the Erbacher Hof Conference Centre and the Academy of the Diocese of Mainz. He teaches at the University of Mannheim. Prof. Dr. Jakub Sirovátka has been teaching at the South Bohemian University in Budweis since 2013 and researching at the Institute of Philosophy of the Czech Academy of Sciences in Prague since 2017.
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Norbert Fischer / Peter Reifenberg / Jakub Sirovátka (Hg.) Das Antlitz des Anderen Zum Denken von Emmanuel Levinas Levinas entfaltet seine grundlegenden philosophischen Überlegungen von der konkreten Begegnung mit dem Anderen her, der in seiner radikalen Andersheit einen ethischen Anspruch an das Ich stellt. Dieser Anspruch zeigt sich insbesondere im Antlitz und im Blick des Anderen. Somit gehört das »Antlitz des Anderen« zu den zentralen Denkfiguren der Philosophie von Levinas. Der vorliegende Sammelband entfaltet das Kernmotiv des ›Antlitzes‹ in unterschiedlichen Richtungen (auch im Gespräch mit der philosophischen Tradition) und zeigt zugleich seine Wirkung auf verschiedenen Feldern: in der Kunst oder im ›Politischen‹.
Die Herausgeber: Prof. em. Dr. Norbert Fischer war von 1995 bis 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Prof. Dr. Peter Reifenberg ist Direktor des Tagungszentrums Erbacher Hof und der Akademie des Bistums Mainz. Er lehrt an der Universität Mannheim. Prof. Dr. Jakub Sirovátka lehrt seit 2013 an der Südböhmischen Universität in Budweis und forscht seit 2017 am Institut für Philosophie der tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag.
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Die Publikation entstand u. a. im Rahmen des Forschungsvorhabens des Philosophischen Instituts der tschechischen Akademie der Wissenschaften (Filosofický ústav AV ČR, v. v. i.) und wurde vom Philosophischen Institut finanziell unterstützt.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49058-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82044-5
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Inhalt
Norbert Fischer, Peter Reifenberg, Jakub Sirovátka Zur Einführung: Die Würde eines jeden Menschen und seine Beziehung zu den Anderen . . . . . . . . . . . . . Reinhold Esterbauer Antlitz oder Gesicht? Zur Reichweite der ethischen Intrige
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. . . . . . . . . . . . .
13
Max Brinnich Verantwortung als Sinnfrage. Über die Anforderungen an ein sinnerfülltes Leben bei Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
Norbert Fischer Zur »Person eines jeden andern« im Denken Immanuel Kants. Vor dem Hintergrund der ›Heteronomie‹ bei Levinas und dem ›Seinsdenken‹ bei Heidegger . . . . . . . . .
53
Jakub Sirovátka Leben in Verantwortung. Extremer Humanismus von Emmanuel Levinas – mit einem Seitenblick auf Jan Patočka und Václav Havel
77
Jean Greisch »Blickfang«: von Levinas zu Deleuze und zurück . . . . . . . .
95
Siglen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . .
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Norbert Fischer, Peter Reifenberg, Jakub Sirovátka 1
Zur Einführung: Die Würde eines jeden Menschen und seine Beziehung zu den Anderen
Vorliegender Band wurde auf Anregung von Peter Reifenberg, des Direktors der Akademie des Bistums Mainz, im Kontext einer Tagung zur Eröffnung des Studienjahres 2017/18 konzipiert. Emmanuel Levinas hat ein Denken entfaltet, das in der heutigen krisenhaften Zeit gründliche Beachtung von seiten der Philosophie und der Theologie verdient, auch weil die abendländische Tradition in der breiten Öffentlichkeit derzeit wenig wahrgenommen und von Meinungsführern sogar missachtet wird. Obwohl wir gewöhnlich meinen, mit uns selbst vertraut zu sein, finden wir zu klarer Selbsterkenntnis doch lediglich auf dem Weg des zeitlichen Vollzugs unseres Daseins in der Welt, besonders intensiv und erhellend in der Begegnung mit ›den Anderen‹. Diese Einsicht ist seit den philosophischen Grundwerken Platons, Augustins und Kants, bis hin zu Martin Heidegger, wenn auch gelegentlich nur implizit, gleichsam mit Händen zu greifen. Explizit hat Emmanuel Levinas auf die Bedeutung des ›Anderen‹ und der ›Anderen‹ für die schon immer von allen endlichen Vernunftwesen zu suchende ›Selbst-Erkenntnis‹ aufmerksam gemacht. Zwar suchten die abendländischen Philosophen seit jeher Erkenntnis der ›Wahrheit des Ganzen‹ (zugespitzt in den Fragen nach ›Welt‹, ›Seele‹ und ›Gott‹), blieben auch nicht dem Ziel bloßer ›Selbsterkenntnis‹ und dem delphischen Spruch Γνώθι σαύτόν verhaftet, sondern richteten in ihren großen Werken (so in Platons Politeia, in Augustins De civitate dei, in Kants praktisch fundierter ›Religionsphilosophie‹ oder in Heideggers ›Idee des eigentlichen Miteinanderseins‹) ihren Blick zugleich auch auf die ›Beziehung‹ zu den ›Anderen‹, wodurch von vornherein immer wieder Fragen der ›Moralität‹ ins Spiel kamen. Doch war es der denkerische Impuls von Emmanuel Levinas, der das Thema der Andersheit [Anderheit] des [der] Anderen als eigene Denkaufgabe vor Augen gestellt und Licht auf die Werke 1
Vorgetragen von Norbert Fischer am 19. Mai 2017, hier in modifizierter Fassung.
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Norbert Fischer, Peter Reifenberg, Jakub Sirovátka
der alten Philosophen geworfen hat. Vor dem Hintergrund der philosophischen Tradition und im Gespräch mit ihr hat Levinas sich selbst zunächst mühsam zur Einsicht in den Vorrang des Blicks auf die ›Anderen‹ vorgearbeitet. Sobald das Thema des ›Anderen‹ ins Spiel gebracht ist und bedacht wird, scheitert der Versuch, ›die Wahrheit des Ganzen‹ aus einem einzigen Prinzip (ἕν) abzuleiten und zu denken, da kein Anspruch auf Wahrheit ohne die Beachtung alles faktisch Gegebenen erhoben werden kann. Vielleicht dient der ›erweiterte Monotheismus‹ der christlichen Theologie also der Lösung einer Aufgabe, die in strikten Monotheismen (wie dem Islam) ungelöst bleibt, da diese nicht erklären, warum der Selbstgenugsame Anderes geschaffen haben sollte. 1 Kant jedenfalls weist gegen Ende seines Denkwegs auf »die (uns schon durch die Vernunft versicherte) Liebe desselben [Gottes] zur Menschheit« (RGV 176 = AA 6,120), womit der Gottesgedanke durch die Beziehung zu (geliebtem) Anderem ein festes Fundament erhält. Der strikte ›Monotheismus‹ kann nicht erklären, wie ›das viele Andere‹ zum Lob ›Gottes‹ antreiben könnte, obwohl die Menschenwelt (seit Kain und Abel) von ungöttlicher Gewalt der Geschöpfe gegeneinander bestimmt ist. Nachdem Levinas auf die theoretische und die praktisch-moralische Bedeutung der ›Andersheit‹ oder ›Anderheit‹ der ›Anderen‹ hingewiesen hat, 2 können die Werke der ›großen Philosophen‹ auf die Rolle ›des (der) Anderen‹ – im Singular oder Plural, männlich oder weiblich – hin abgesucht werden, wodurch Licht auf altbekannte Werke fällt. Levinas beginnt Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité mit einem Wort von Arthur Rimbaud (Une saison en enfer), das sich als Motiv alles philosophischen Fragens verstehen läßt (TI 3): »La vraie vie est absente«. Rimbaud stellt als Ort unseres Aufenthalts ›die Unterwelt‹ dar und fährt fort: »Nous ne sommes pas au monde.« Dieser Aussage, die uns in einer ›Unterwelt‹ sieht, widerspricht Levinas, indem er Rimbaud eindeutig widerspricht und erklärt: »Mais nous sommes au monde.« Vgl. Jan-Heiner Tück (Hg.): Monotheismus unter Gewaltverdacht. Zum Gespräch mit Jan Assmann, 410–412. 2 Die Übersetzung von ›altérité‹ nicht als ›Andersheit‹, sondern sachlich treffender als ›Anderheit‹ geht auf Michael Theunissen und Ludwig Wenzler zurück: Michael Theunissen: Der Andere, 1965, 357 u. ö.; Ludwig Wenzler: Zeit als Nähe des Abwesenden. Nachwort zu Emmanuel Levinas: Die Zeit und der Andere, 67–92, hier 69, Anm. 6. 1
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Zur Einführung
Mit einem ähnlich widersprüchlich scheinenden Anfang beginnen Augustins Confessiones. Auch Augustinus beginnt mit Zitaten (aus dem Psalter), die ein überschwengliches Gotteslob verkünden (1,1): »magnus es, domine, et laudabilis valde: magna virtus tua et sapientiae tuae non est numerus.« Wie aber bei Levinas dem Rimbaud-Zitat keine Fortsetzung des Gedankens folgt, sondern die Gegenthese, folgt bei Augustinus eine Situationsbeschreibung, die in andere Richtung weist: Denn Augustinus betont die Bedeutungslosigkeit des Menschen im Ganzen der Schöpfung, zudem seine Sterblichkeit, seine Sündigkeit und seinen Hochmut, der uns nicht zum Lob Gottes ermuntert. Augustinus gelangt nach spannungsreichem Beginn vielmehr zum Wort vom ›cor inquietum‹ und entwickelt aus dieser Spannung die Aufgabe des Gesamtwerks. In ähnlicher Weise beginnt Levinas mit dem ›Begehren des Unsichtbaren‹ (Désir de l’invisible); er zitiert zwar Rimbauds Wort, widerspricht aber dessen Bestreitung unseres ›In-der-Welt-seins‹. Aus diesem Widerspruch folgt (wie in Augustins Confessiones) die Aufgabe des Denkens, die als Aufgabe des Lebens an Heideggers Phänomenologie des faktischen Lebens anknüpfen kann. Indem Levinas hellsichtig auf Defizite von Heideggers Denken verweist, nämlich auf das Fehlen eines Bedenkens des Seins der ›Anderen‹ (individualethisch und politisch) und auf Heideggers zunehmende Schwierigkeiten mit der ›Gottesfrage‹, knüpft er an die Aufgabenstellung der gegenwärtigen Philosophie im Rahmen der europäischen Denkgeschichte an. Offenbar befindet sich ›die Philosophie‹ derzeit in einer kritischen Situation im Blick auf ihre Zentralfragen, wie sie Augustinus (»deum et animam scire cupio«) und Kant (»Gott, Freiheit und Unsterblichkeit«) genannt haben. Levinas greift sie auf, auch wenn sie von ihm nicht einfach zitiert werden. Derart kann der Ansatz von Emmanuel Levinas die heute nötige Besinnung anregen und fördern. Herzlich danken die Herausgeber dem Philosophischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag und der »Gesellschaft der Freunde und Förderer der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt« für die Gewährung von Druckostenzuschüssen.
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Reinhold Esterbauer
Antlitz oder Gesicht? Zur Reichweite der ethischen Intrige
Abstract: Emmanuel Levinas scheint den ethischen Anspruch, der vom eigenen Gegenüber ausgeht, ausschließlich an das Antlitz des anderen Menschen zu binden. Doch ist zu fragen, ob die ethische Intrige wirklich auf Menschen eingeschränkt werden kann. Die Antwort ist schon bei Levinas selbst nicht eindeutig. Denn in einigen seiner Texte äußert er Zweifel daran, eine klare Grenze für den Begriff des Antlitzes ziehen zu können. Im Aufsatz werden zunächst Stellen aus Totalité et Infini erhoben, die es erlauben, eine Kriteriologie dafür auszuarbeiten, was nach Levinas ein Antlitz ausmacht. Darüber hinaus wird auf Beispiele aus anderen Texten Bezug genommen, in denen Levinas seine eigenen Ausführungen teilweise konterkariert. Da sich der Begriff des Antlitzes bei Levinas nicht klar eingrenzen lässt, hat eine Ethik, die sich auf ihn beruft – so das Ergebnis der Untersuchung –, zu berücksichtigen, dass einem unmittelbare Verantwortung nicht nur in der Begegnung mit Menschen erwächst.
Es ist für eine Ethik nicht unwichtig zu wissen, woher einem das Sollen zuwächst, das den folgenden Handlungen und Entscheidungen eine Richtung zu geben vermag. Für Emmanuel Levinas scheint der ethische Impuls vom anderen Menschen und von dessen Antlitz auf das eigene Ich zu treffen. Der oder die Andere versetzt ein Ich seiner Auffassung nach in Verantwortung und macht es zu einem ethischen Subjekt. Im Folgenden möchte ich fragen, ob der ethische Anspruch, der mich erreicht, exklusiv auf die direkte Begegnung mit einem anderen Menschen eingeschränkt werden kann. Mir scheint, dass dies nicht der Fall ist und dass Levinas selbst daran Zweifel hegt. Ich möchte zeigen, dass in einigen Texten aus seiner Feder Anknüpfungspunkte gefunden werden können, die die Grenze zwischen dem menschlichen und dem nichtmenschlichen Gegenüber mit Blick auf die ethi13 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
Reinhold Esterbauer
sche Intrige nicht so eindeutig ziehen lassen, wie es zunächst scheint. Darum wird es wichtig sein, Kriterien zu finden, die nach Levinas ein Antlitz zu einem Antlitz machen, dann aber auch diejenigen Erfahrungen aufzuspüren, die eine solche Kriteriologie relativieren. Dazu werde ich in einem ersten Teil die für den Begriff des Antlitzes zentralen Stellen in Totalité et Infini untersuchen und Levinas’ dortige Charakteristika analysieren. Der zweite Teil wird dazu dienen, aus anderen Texten von Levinas Aspekte zu erheben, die zeigen können, dass schon Levinas selbst den Begriff des Antlitzes nicht klar umreißen konnte. Zuletzt möchte ich zeigen, dass es durchaus Phänomene gibt, die nicht entweder dem Bereich des Antlitzes oder dem des Gesichts zuzuordnen sind, sondern gleichsam in einem Zwischenraum zwischen beiden anzusiedeln sind, also ethisch schillern.
1.
Antlitz
Um die ethische Intrige des Antlitzes und um seine Einzigartigkeit zu betonen, hebt Levinas in Totalité et Infini das Antlitz von verschiedenen Erfahrungsinhalten ab und versucht, es dadurch in seiner Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit zur Geltung zu bringen. Ihm ist es ein Anliegen, verständlich zu machen, dass einen die Begegnung mit einem Antlitz die Einzigartigkeit des anderen Menschen anerkennen lässt, ohne dass eine solche Konfrontation eine symmetrische Relation zwischen zwei Menschen einrichten würde. Dazu setzt Levinas die Begegnung mit dem Antlitz von anderen Formen ab, die zumeist ins Spiel gebracht werden, wenn es um Bezüge zwischen Ich und Außenwelt geht.
1.1 Negative Bestimmung Zunächst geht es Levinas darum aufzuzeigen, dass man das Antlitz nicht im Sehen erfassen kann. Versteht man Sehen als das Aufnehmen optischer Reize durch das Auge und deren anschließende Verarbeitung im Gehirn, so wird die Levinas’sche Auffassung der Begegnung mit dem Antlitz doppelt unterboten. Denn es wird einerseits der Unterschied zwischen Dingen, Lebewesen oder Menschen nivelliert, weil die physikalische und die physiologische Beschreibung von Reizaufnahme und Reizverarbeitung alles, was begegnet, auf die gemein14 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
Antlitz oder Gesicht?
same Ebene von Lichtwellen mit bestimmter Frequenz und Länge reduziert. Erschöpfte sich das Sehen darin, würden darüber hinaus vielleicht die Augen und das Gehirn sehen, aber nicht ich selbst. Im Sehen würde nie ein Ich affiziert werden können, sondern der Blick würde darin bestehen, einen Außenweltreiz zu registrieren, wobei offen bliebe, wer denn eigentlich die Registrierungsinstanz sein soll. Sodann besteht Sehen auch nicht in der Überwindung des Spalts zwischen Subjekt und Objekt, der sich zwischen dem sehenden Ich und dem zu sehenden oder gesehenen Nicht-Ich auftut. Zwar wird in diesem Fall von einem Ich gesprochen, aber dieses Ich ist diejenige Instanz, für die das gesehene Objekt erscheint und die daher den Rahmen für die Wahrnehmung vorgibt. Zudem bedarf es für das Erscheinen von etwas dem Ich gegenüber eines Mediums, das die Erscheinung vermittelt. »Das Sehen ist also eine Beziehung mit einem ›Etwas‹, und diese Beziehung findet statt inmitten einer Beziehung mit dem, was kein ›Etwas‹ ist. / La vision est donc un rapport avec un ›quelque chose‹ qui s’établit au sein d’un rapport avec ce qui n’est pas un ›quelque chose‹.« (TU/TI 271/163) Denn dasjenige, worin das Etwas erscheint, ist das Licht, ohne das nichts gesehen werden kann. Das Licht lässt nach Levinas den Raum »als eine Leere entstehen / fait surgir […] l’espace comme un vide« (TU/TI 271/163), in der etwas überhaupt erst zur Erscheinung kommen kann. Eine solche Erscheinung unterliegt zudem den transzendentalen Bedingungen des Ich, das etwas sehen möchte, zumal das Ich immer einen Standpunkt einnimmt und zudem intentional Rahmenbedingungen für den Erscheinungsmodus vorgibt, der dasjenige, was erscheint, prägt. Damit geschieht ein Doppeltes: Einmal wird das Gesehene zum Objekt als ein Gegenüber, das einem Ich erscheint, und zwar unter den Bedingungen, die ihm das Ich vorgibt. Zum anderen erscheint das Objekt im Licht, das universal ist. »In dem Licht der Allgemeinheit, die nicht existiert, kommt die Beziehung mit dem Individuellen zustande. / Dans la lumière de la généralité qui n’existe pas, s’établit la relation avec l’individuel.« (TU/TI 271/164) Das Erscheinende begegnet also aus einem Ursprung heraus, es erschließt sich dem sehenden Subjekt vor dem Hintergrund einer Allgemeinheit, die neutral bleibt und als das Sein des Seienden gelten kann, wie Levinas gegen Heidegger konstatiert. 1 Das bedeutet, dass das konkrete Einzelne seiner konkreten Individualität entkleidet und Erscheinungsbedingungen unterstellt 1
Vgl. TU/TI 271/164.
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Reinhold Esterbauer
wird, die es gleichsam zu einem Fall unter vielen, eben zu einem Objekt machen. Einem solchen Sichtbarwerden des Einzelnen, das sich einem Ich erschließt, indem es aus dem Nichts tritt, setzt Levinas die Begegnung mit einem Antlitz gegenüber, wenn er meint: »Ich weiß nicht, ob man von einer ›Phänomenologie‹ des Antlitzes sprechen kann, denn die Phänomenologie beschreibt das, was erscheint. / Je ne sais si l’on peut parler de ›phénoménologie‹ du visage, puisque la phénoménologie décrit ce qui apparaît.« (EU/EI 64/79) Ein Antlitz erscheint hingegen nicht und lässt sich daher auch nicht als Phänomen beschreiben. Wenn sich ein Antlitz nicht sehen lässt, so könnte man fragen, lässt es sich dann wenigstens berühren? Doch auch gegenüber dem Tastsinn meldet Levinas seine Vorbehalte an. Denn Sehen und Berühren haben für ihn eine ähnliche Struktur. Das Sehen erfasst und ergreift ein Seiendes, indem es dieses von seinem Horizont abhebt. Das Licht, in dem dies geschieht, ermöglicht zudem eine Abgrenzung des erfassten Seienden von anderen und ermöglicht es dem Ich, dem Gesehenen einen Sinn zu geben, indem es dieses in Relation zu anderen Seienden stellt. Daher gilt für Levinas: »Die Anschauung ist keine Transzendenz. Sie verleiht Sinn durch die Beziehung, die sie möglich macht. / La vision n’est pas une transcendance. Elle prête une signification par la relation qu’elle rend possible.« (TU/TI 274/165). Insofern das Sehen das Seiende am Horizont ergreift, »begegnet [es] keinem Seienden im Ausgang vom Jenseits allen Seins / ne rencontre pas un être à partir de l’au delà de tout être« (TU/TI 274/166), das erblickte Seiende verbleibt also innerhalb des Horizontes des Ich, das sich ihm intentional zugewendet hat. Ein solches Ergreifen und Erfassen verbindet das Sehen mit der Berührung. Dass das Licht den leeren Raum eröffnet, der für sehendes Erfassen notwendig ist und ohne den nichts gesehen werden kann, ermöglicht zugleich das Ausgreifen auf das Gegenüber, das man berühren möchte. Levinas sagt selbst: »Das Sehen verwandelt sich in Zugriff. / La vision se mue en prise.« (TU/TI 272/165) Berührung, die Levinas auf das Betasten durch die Hand einschränkt, ergreift wie das Sehen das Gegenüber und fixiert es dadurch so, dass es den Bedingungen des Ich ausgeliefert ist. Während sich das Sehen das Seiende aus dem Nichts des leeren Raumes, den das Licht eröffnet, wie aus einem Ursprung erschließt, zeigt sich »in der Berührung das Nichts […] der freien Bewegung des Betastens / alors que le néant 16 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
Antlitz oder Gesicht?
dans le toucher se manifeste au libre mouvement de la palpation« (TU/TI 271/164). Beiden, Sehen und Betasten, ist trotz dieses Unterschiedes gemeinsam, dass sie auf ein Objekt ausgerichtet sind, das sie zu erfassen trachten. Demgegenüber betont Levinas, dass ein Antlitz weder gesehen noch berührt werden kann, weil es sich einem solchen Zugriff entzieht, mit dem es innerhalb des Seinshorizontes zur Erscheinung gebracht wird. Wie gesagt, begegnet das Antlitz nach Levinas von jenseits des Seins und von Horizonten, die sich in der Sinnlichkeit einstellen. Neben dem Versuch, das Antlitz als Ausgangspunkt von Lichtwellen zu verstehen, und neben dem Unterfangen, es als intentionales Geschehen des Sehens oder des Berührens zu begreifen, die beide scheitern müssen, stellt Levinas eine weitere Form der Sinnlichkeit (sensation) zur Diskussion, um das Antlitz adäquat denken zu können. Es ist dies der Genuss (jouissance). Der Genuss ist eine Form der Sinnlichkeit, in der das Gegenüber nicht als Objekt erfasst wird, sondern die vor der Subjekt-Objekt-Spaltung angesiedelt ist. Im Genuss wird nichts vergegenständlicht. Vielmehr badet das genießende Ich in den Elementen, ohne dass es diese in der Vorstellung zu fassen trachtet. Im Genuss geht das Objekt »in der reinen Empfindung [unter], in der man gebadet und gelebt hat wie in Qualitäten ohne Träger / se noie dans la jouissance […] de la sensation pure où l’on a baigné et vécu comme dans des qualités sans support« (TU/TI 268/162). Im unmittelbaren sinnlichen Lebensvollzug des Augenblicks ist der Bezug zu einzelnen Dingen unterlaufen. Das genießende Ich geht in der Sinnlichkeit völlig auf und kann die Dinge wie reine Eigenschaften genießen, die kein Objekt brauchen, um wahrgenommen zu werden. Dinge sind dabei in der Levinas’schen Terminologie noch Elemente, die ›vor‹ aller Gegenständlichkeit angesiedelt sind und die sich noch nicht als Objekte erweisen, die solche Eigenschaften besitzen. Im Genuss begegnen noch keine Objekte. Diese tauchen erst dann auf, wenn man die Elemente durch Arbeit z. B. erhalten oder als Vorrat sammeln möchte. Demgegenüber gilt für Levinas: »Die Spezifizität einer jeden Empfindung, gerade wenn sie auf jene ›trägerund ausdehnungslose Qualität‹ zurückgeführt ist […], verweist auf eine Struktur, die sich nicht notwendig auf das Schema eines mit Eigenschaften versehenen Objekts reduziert. / La spécificité de chaque sensation réduite précisément à cette ›qualité sans support ni étendue‹ […] indique une structure qui ne se réduit pas nécessairement au schéma d’un objet doué de qualités.« (TU/TI 269/162) 17 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
Reinhold Esterbauer
Wenn man im Genuss gleichsam in den Elementen badet, dann liegt eine Form von sinnlicher Empfindung vor, die nicht vergegenständlicht. Vielmehr lösen sich die Gegenstände in einen affektiven Gehalt auf; es wird nicht etwas wahrgenommen, sondern ein Element affiziert mich, und zwar als reine Qualität, sodass die Trennung in Subjekt und Objekt unterlaufen wird und ich im Element gleichsam aufgehe. Das Wasser, in dem ich bade, wird erst dann zum Gegenstand, wenn sich seine Kühle anmeldet; vorher war es nicht als Gegenstand vor Augen, sondern die mich umgebende Wärme war so angenehm, dass ich das Wasser nicht als Gegenüber wahrnahm. Die Elemente, die dem »es gibt (il y a)« verhaftet bleiben, führen einem aber die eigene Endlichkeit vor Augen. Sie sind einem im Genuss unmittelbar gegeben, ohne dass man ihre Herkunft zum Thema machen müsste. Erst wenn ihr Mangel oder ihr Entschwinden das Ende des Genusses manifest werden lässt, fällt man aus ihm heraus und kämpft gegen den Verlust an. Es geht in der Folge darum, statt gleichsam reine Eigenschaften genießen zu können, Dinge festzumachen, die Träger dieser Eigenschaften sind, und sie verfügbar zu machen. Die Elemente zeigen an, dass der Mensch endlich ist, da er sich um sie kümmern muss, um sie nicht zu verlieren. Es handelt sich um eine »Endlichkeit […], jeden Augenblick durchdrungen von Göttern ohne Antlitz, gegen die [der Mensch] die Arbeit aufbietet, um die Sicherheit zu gewinnen, in der das ›Andere‹ der Elemente sich als das Selbe erweist / finitude […] à tout instant traversé par des dieux sans visage et contre lesquels s’exerce le travail pour réaliser la sécurité où l’›autre‹ des éléments se révèlerait comme Même« (TU/ TI 282/171). Der Mensch möchte die Anderheit der Elemente in Verfügbarkeit überführen, was er immer wieder neu versucht und was ihm auch gelingt. Denn deren Anderheit ist nur eine vermeintliche Anderheit, weil sie es ermöglicht, dass der Mensch die Elemente durch seine Arbeit hortet, disponibel hält und zur Verfügung stellt. Das setzt voraus, dass sie sich immer wieder neu als etwas erweisen, das zwar nicht mit dem Ich, wohl aber mit sich identisch ist. Im Unterschied dazu ist das Antlitz nach Levinas kein Element, sondern ein Gegenüber, über das sich nicht verfügen lässt. Das Antlitz hat für ihn »kein gemeinsames Maß […] mit einem Vermögen, das ausgeübt wird, sei dieses Vermögen nun Genuß oder Erkenntnis / sans commune mesure avec un pouvoir qui s’exerce, fût-il jouissance ou connaissance« (TU/TI 283/172). 18 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
Antlitz oder Gesicht?
Zeichnet man die Versuche von Levinas nach, das Antlitz adäquat verständlich zu machen, so fällt auf, dass er zunächst mehrere Formen von Sinnlichkeit analysiert, um zu verdeutlichen, dass das Antlitz eine Instanz ist, die sich gewöhnlicher Sinnlichkeit entzieht und durch diese gerade nicht erfasst werden kann. Es bleibt festzuhalten: Glaubte man, das Antlitz im Genuss erfassen zu können, so erläge man einer falschen Auffassung, die das Antlitz nicht in seiner Anderheit ernst nimmt, sondern es zu einem Element macht, das es zu genießen und dann für das eigene Auskommen zur Verfügung zu stellen gilt. In noch höherem Maß verfehlte man das Antlitz, wenn man in einem Missverständnis zweiter Stufe glaubte, dass sich das Antlitz sehen oder berühren ließe. Damit machte man es zu einem Objekt, das aus einem neutralen Ursprung (man denke an das Licht, das sehen lässt, oder an den leeren Raum, der etwas ergreifen lässt) heraus erscheint und für dessen Erscheinen ein Bewusstsein seinen intentionalen Rahmen setzen könnte. Demgegenüber betont Levinas, dass das Antlitz kein Phänomen ist. Noch weiter geht ein Missverständnis dritter Stufe, das das Antlitz gar nur als Ding erfassen zu können glaubt, von dem Lichtwellen ausgehen, die man nur zu registrieren hätte. Auf diese Weise versucht Levinas aufzuweisen, dass das Antlitz die Souveränität des Ich, die sich in dem Versuch manifestiert, die Welt um sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten zu ordnen und dadurch einen hervorgehobenen Ausgangspunkt zu fixieren, hintergeht und unterläuft. Wenn einem ein Antlitz gegenübertritt, intrigiert es gleichsam gegen den Versuch, es intentional zu fassen zu bekommen, verstrickt einen aber in eine nicht abschüttelbare Verbindung mit dem anderen Menschen. Ich finde mich durch das Angesicht in einer »Verstrickung/intrigue« wieder, »die weiter reicht als die Selbstapperzeption; einer Verstrickung, in der ich an den Anderen gebunden bin, schon bevor ich an meinen eigenen Leib gebunden bin / plus large que l’aperception de soi; intrigue où je suis noué aux autres avant d’être noué à mon corps« (JS/AQ 173 f./96).
1.2 Positive Bestimmung Wenn die vorgestellten Ansätze nicht hinreichend sind, das Antlitz in seiner Eigenheit zur Sprache zu bringen, so ist nachzufragen, welche Bestimmungen über negative Aussagen hinaus, die nur zu sagen ver19 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
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mögen, was das Antlitz nicht ist, positiv ausformuliert werden können, um das Antlitz als solches und gerade nicht in reduktiver Form zu charakterisieren. Bislang ist nur klar geworden, dass das Antlitz weder als der Aussender von optischen Wellen noch als sichtbares bzw. berührbares Phänomen noch als Element sinnlichen Genusses hinreichend bestimmt werden kann. Vielmehr erzeugt es, wie Levinas in seiner späten Philosophie sagt, eine »Verstrickung der Verantwortlichkeit / intrigue de responsabilité« (JS/AQ 29/6), der ich nicht entkommen kann. Wie aber ist diese Intrige genauer zu denken? Das Antlitz ist nach Levinas positiv wesentlich als ein sprachliches Geschehen bestimmt. Das bedeutet, dass es sich selbst ausdrückt. Allerdings ist festzuhalten, dass die Sprache des Antlitzes keine Ausdrucksform ist, die ihrerseits wiederum aus Kontexten heraus verständlich gemacht werden kann, welche bereits vorliegen und ein dialogisches Gespräch im Wechselspiel der Worte etabliert haben. Freilich steht ein jeder Mensch in einem bestimmten Kontext, von dem her etwa seine Funktion, seine Aufgaben, seine Herkunft oder seine Pose verständlich werden. In diesem Sinn hat sein Erscheinen etwas Bestimmtes zu sagen. Das Gegenüber lässt sich als Gesicht einordnen und klassifizieren. Levinas konstatiert freilich, dass ein Antlitz darüber hinaus etwas sagt, das seinen Sinn nicht aus der Relation zu etwas anderem bezieht, also nicht vom Kontext her verständlich wird, in dem es sich befindet. Es hat eigenständige Bedeutung, die aus ihm selbst stammt. Levinas geht noch einen Schritt weiter und behauptet zudem, dass ein Antlitz nicht nur Bedeutung hat, sondern selbst Bedeutung ist, und zwar eine Bedeutung, die keinen Zusammenhang braucht. 2 Während sich der Sinn einer Sache gewöhnlich von einem Deutungshorizont her erschließt, in dem unterschiedliche Dinge in Beziehung zueinander stehen, »ist« – wie Levinas sagt – »das Antlitz für sich allein Sinn / le visage est sens à lui seul« (EU/ EI 65/81). Zwar ist es möglich, einen anderen Menschen zum Thema meines Redens zu machen. Ich kann über ihn reden und ihm Eigenschaften zu- oder absprechen. Aber insofern mein Gegenüber ein Antlitz hat, ist es nicht Inhalt meines Redens, sondern mein Gesprächspartner oder meine Gesprächspartnerin. Dadurch ergibt sich ein anders
2 Vgl. EU/EI 65/80: »Das Antlitz ist Bedeutung, und zwar Bedeutung ohne Kontext. / Le visage est signification, et signification sans contexte.«
20 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
Antlitz oder Gesicht?
geartetes Verhältnis zwischen uns. Im ersten Fall gebe ich den Maßstab und die Kriterien vor, die zur Beurteilung herangezogen werden, im zweiten Fall begegnet mir ein Gegenüber, das sich nicht einfach in meine Welt und deren Sinnstruktur einordnen lässt, sondern sich diesem Zugriff entzieht und aus sich selbst etwas zu sagen hat, das meiner eigenen Welt gegenüber transzendent ist. Während im Sehen eine Handlung ausgelöst wird, »die sich das ›Gesehene‹ in gewisser Weise aneignet, es einer Welt dadurch integriert, daß sie ihm einen Sinn verleiht und es am Ende konstituiert / qui s’approprie d’une certaine façon le ›vu‹, l’intègre à un monde en lui prêtant une signification et, en fin de compte le constitue« (TU/TI 279/169), besteht in der Sprache die Möglichkeit, dass der Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin kraft seines oder ihres Antlitzes in meine Welt einbricht, ohne dass er oder sie sich dort integrieren ließe. Das Antlitz behält seine eigene Bedeutung, die sich in meine Welt nicht einfügt. Es bricht in der Begegnung mit einem Antlitz eine »absolute Differenz / différence absolue« (TU/TI 278/168) auf, die es nicht erlaubt, die beiden am Gespräch Beteiligten unter eine gemeinsame Art oder Gattung zu subsumieren. So werden begriffslogische Möglichkeiten unterlaufen, eine Relation zwischen Antlitz und Ich als zwei einzelnen Exemplaren herzustellen, die einer Art angehören. Die Sprache des Antlitzes durchbricht alle Versuche, es in einen Kontext zu integrieren oder es unter eine begriffliche Einheit zu bringen. So ist für Levinas die Sprache des Antlitzes »das eigentliche Vermögen, die Kontinuität des Seins oder der Geschichte zu durchbrechen / le pouvoir même de rompre la continuité de l’être ou de l’histoire« (TU/ TI 278/169). Die Unterbrechung eines ontologischen Zusammenhangs und der damit behauptete Bruch, der die Einheit einer gemeinsamen Welt unmöglich macht, sind für Levinas dadurch begründet, dass die Sprache des Antlitzes einen moralischen Anspruch enthält. Es ist nicht möglich, diesen zu nivellieren, indem man ihm einen Ort in der eigenen Welt zuschreibt und ihn abschwächt. Dass es sich um einen nicht relativierbaren Anspruch handelt, wird dadurch manifest, dass das Antlitz gegenwärtig ist »in seiner Weigerung, enthalten zu sein / dans son refus d’être contenu« (TU/TI 277/168). Es hat Bedeutung jenseits einer Seinsordnung, die es selbst und mich zugleich umgreift. Deshalb erscheint es nicht als Phänomen vor dem Horizont meiner Welt, sondern es offenbart sich, was in der sinnlichen Anschauung oder innerhalb von Bedeutungskontexten unmöglich ist und nur in 21 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
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ethischer Sprache gelingt. 3 Mit dem Ausdruck der Offenbarung setzt Levinas die Sprache des Antlitzes von einer ontologischen Sprache ab, die er mit dem Phänomenalen in Verbindung bringt. Die ›Beziehung‹, die sich ergibt, weil mich das Antlitz angesprochen hat, ist dadurch charakterisiert, dass sie keine symmetrische ist. 4 Das heißt, dass ich den Anspruch, den das Antlitz an mich stellt, nicht umkehren kann. Das Antlitz bleibt in dieser ›Beziehung‹, die keine herkömmliche Relation ist, absolut, 5 also losgelöst von mir. Da ich es nicht durch mein Bewusstsein in meine Welt integrieren kann, bleibt sein ethischer Anspruch uneingeschränkt aufrecht, auch wenn ich mich gegen ihn wehre. Auf diese Weise bin ich in meiner vermeintlichen Verfügungsmacht gegenüber allem, was mir begegnet, in Frage gestellt. Es lässt sich nicht alles durch mein Bewusstsein ordnen und konstituieren. »In der Tat ist die ethische Beziehung, die die Rede unterfängt, keine Variante des Bewußtseins, dessen Strahl vom Ich ausgeht. Die ethische Beziehung stellt das Ich in Frage. / La relation ethique qui sous-tend le discours, n’est pas, en effet, une variété de la conscience dont le rayon part du Moi. Elle met en question le moi.« (TU/TI 280/169) Diese Weise der Begegnung, die ein Ich in seiner Souveränität in Frage stellt, nennt Levinas »Epiphanie/épiphanie« (TU/TI 280/170). Indem er das Antlitz als Epiphanie bezeichnet, möchte Levinas den Unterschied markieren zwischen verhandelbaren Ansprüchen, die man argumentieren und über die man diskutieren kann, und solchen, die absolut gelten und deshalb keine Relativierung erlauben. Dass in der Epiphanie des Antlitzes das Ich fundamental in Frage gestellt ist, macht dessen ethischen Charakter aus. So kann Levinas sagen: »Die Epiphanie des Antlitzes ist ethisch. / L’épiphanie du visage est éthique.« (TU/TI 286/174) Levinas spricht in Anlehnung an René Descartes’ dritte Meditatio de prima philosophia auch von der »Idee des Unendlichen«, das im Antlitz das endliche Ich uneinholbar übersteigt. Dadurch geschieht ein Doppeltes: Zum einen erweist sich das Antlitz in gewisser Hinsicht als unendliche Instanz, die mir als endlicher Existenz unabVgl. TU/TI 277/167: Levinas unterscheidet gegenüber der gewöhnlichen Anschauung eine solche des Transzendenten. Für diese Anschauung gilt: »Sie ist Antlitz; ihre Offenbarung ist das Wort. / Elle est visage; sa révélation est parole.« 4 Vgl. TU/TI 313/191. 5 Vgl. TU/TI 279 f./169: »Es [= das Antlitz; R. E.] bleibt in der Beziehung absolut. / Il [= le visage; R. E.] reste absolu dans la relation.« 3
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änderlich vorausliegt, unter keinen Umständen in meine Ordnung integrierbar ist und deshalb meine Verfügungsmacht begrenzt. »In dem ethischen Widerstand präsentiert sich das Unendliche als Antlitz; der ethische Widerstand lähmt meine Vermögen […]. / L’infini se présente comme visage dans la résistance éthique qui paralyse mes pouvoirs […].« (TU/TI 286/174; vgl. auch TU/TI 281/170 und TU/ TI 119/58) Zum anderen erwächst daraus eine ethische Herausforderung, der ich mich nicht entziehen kann. Konkret gesprochen, bin ich im Antlitz mit dem nicht hintergehbaren Verbot konfrontiert, einen Mord zu begehen. Obwohl ich mein Gegenüber vielleicht physisch töten kann, geht vom Antlitz das Verbot aus, dies zu tun. Diesem Mordverbot kann ich nicht entkommen. 6 Es lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Insofern der ethische Anspruch einer ist, der sich nicht relativieren lässt, weil er nicht in die eigene Welt integrierbar ist, geht mit dem Antlitz eine Andersheit einher, die absolut ist. Levinas nennt sie »totale Andersheit / altérité totale« (TU/TI 275/166). Mit ihr ist eine »Dimension der Transzendenz / dimension de la transcendance« (TU/TI 277/167) eröffnet, die nicht in Immanenz übergeführt werden kann, sondern Fremd- und Andersheit bleibend aufrechterhält. 7 Manifest wird diese Andersheit im ethischen Anspruch des Antlitzes, der sich nicht ruhigstellen lässt, sondern das Ich ständig und unverhandelbar in Frage stellt. »Diese Infragestellung geht vom Anderen aus. / Cette mise en question part de l’autre.« (TU/TI 280/169) Der oder die Andere bleibt aufgrund seines oder ihres Antlitzes jenseits der Dimension des Selben, die ein jedes Bewusstsein für sich beansprucht. Der ethische Anspruch, der das Ich dauerhaft herausfordert, kann nicht durch das Bewusstsein gesteuert oder funktionalisiert werden, sondern bleibt eine Intrige, die das Ich aus absoluter Andersheit heraus trifft. Levinas, so ist sichtbar geworden, bestimmt das Antlitz zunächst negativ, indem er es von Vorstellungen abhebt, nach denen es der Ausgangspunkt physikalisch konstatierbarer Wellen, der Inhalt des Gesichts- oder des Tastsinns oder schließlich Element sinnlichen Genusses sei. Positiv formuliert, erweist es sich als sprachliches Geschehen, genauerhin als ethischer Anspruch, der das Ich aus nicht Vgl. TU/TI 284 f. /172 f. Vgl. Mensch, Existential Analytic, 119: »Levinas’s claim […] is that transcendence is inscribed in this relation because of the infinity of the Other.« 6 7
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nivellierbarer Transzendenz trifft. Eine solche Epiphanie des Unendlichen markiert die absolute Andersheit des Antlitzes, die nicht aufgehoben werden kann. Mit Levinas selbst formuliert: »Der Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd – aber sein Antlitz, in dem sich seine Epiphanie ereignet und das nach mir ruft, bricht mit der Welt, die unsere gemeinsame Welt sein kann […]. / Autrui demeure infiniment transcendant, infiniment étranger, – mais son visage où se produit son épiphanie et qui en appelle à moi, rompt avec le monde qui peut nous être commun […].« (TU/TI 278/168)
2.
Ausmaß ethischer Intrige
Der absolute Anspruch, der einem im Antlitz entgegengebracht wird – so ist nach Levinas festzuhalten –, ist an das Antlitz gebunden. Zunächst ist für ihn klar, dass der andere Mensch nicht nur ein Gesicht, das sinnlich erfassbar ist, hat, sondern auch ein Antlitz. Die ethische Intrige, in der das an sich wehrlose Antlitz seinem Gegenüber ethischen Widerstand entgegensetzt und ihm sagt, dass es nicht getötet werden darf, sondern unantastbar ist, bindet Levinas wie selbstverständlich an den Menschen. Jedenfalls findet personale Begegnung von Menschen für ihn in dieser ethischen Asymmetrie statt. Sie ist gleichsam der primäre Ort, an dem sich der fundamentale Sollensanspruch einstellt, der für jede Ethik zentral ist. Zu fragen ist allerdings, ob nur der Mensch ein Antlitz besitzt oder ob nicht auch in der Begegnung mit anderen Lebewesen oder Dingen sich ein solcher Anspruch einstellt. Anders formuliert, ist zu fragen, ob der Mensch allein und exklusiv ein Antlitz hat oder ob ein Antlitz nicht auch anders als im Gegenüber von zwei Menschen begegnen kann.
2.1 Antlitz und Medialität Zunächst möchte ich fragen, ob der andere Mensch mir auch dann als Antlitz begegnen kann, wenn er mir nicht direkt oder unmittelbar begegnet, sondern wenn er mir bildlich vermittelt gegenübertritt. Um die Frage mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Man denke an ein hungerndes Kind, das mir in den Fernsehnachrichten gezeigt wird und das mir abgemagert und mit großen Augen entgegenblickt. Oder man erinnere sich an einen Bericht, der einen Obdachlosen zeigt, der 24 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
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in mir als Zuseher oder Zuseherin in seiner Verwahrlosung Mitleid erregt und dem ich spontan helfen möchte. Man weiß, dass solche Bilder das Spendenaufkommen sprunghaft erhöhen, weil viele von der Not der gezeigten Menschen betroffen sind, sich verantwortlich wissen und etwas für sie tun möchten. Die beiden Beispiele sind bewusst so gewählt, dass sie den Sehsinn betreffen und das Gesicht eines anderen Menschen ansichtig werden lassen. Es fehlt zwar die leibliche Unmittelbarkeit, aber es tritt einem ein Gesicht gegenüber. Die Frage ist nun, ob in diesem Gesicht, das mir medial vermittelt wird, auch ein Antlitz begegnet und mich in meine Verantwortung für den gesehenen Menschen einsetzt oder ob der ethische Impuls anderswo seinen Ausgangspunkt genommen hat bzw. selbst ein vermittelter ist. Die oben angeführten Charakteristika, die Levinas für ein Antlitz gibt, nämlich absolute Andersheit, die mich aus Transzendenz anspricht und sich nicht in meine Welt integrieren lässt, sowie der ethische Widerstand, den es meinem Zugriff entgegensetzt, scheint das Bild, das ich sehe, genauso zu erfüllen, wie es die direkte Begegnung mit demselben Menschen tun würde. Die Konfrontation etwa mit dem Fernsehbild des hungernden Kindes entspricht genau folgender Beschreibung des Antlitzes durch Levinas selbst, auch wenn »Not« und »Hunger« im folgenden Zitat von Levinas allgemeiner verstanden werden als als Beschreibung für das Elend und die Bedürftigkeit des konkreten Kindes. In Totalité et Infini heißt es über das Antlitz: »[…] der ethische Widerstand lähmt meine Vermögen und erhebt sich in seiner Nacktheit und seiner Not hart und absolut vom Grunde der wehrlosen Augen. Das Verständnis für diese Not und diesen Hunger stiftet die eigentliche Nähe des Anderen. Dies indes ist die Art und Weise, wie die Epiphanie des Unendlichen Ausdruck und Rede ist. / […] la résistance éthique qui paralyse mes pouvoirs et se lève dure et absolue du fond des yeux sans défense dans sa nudité et sa misère. La compréhension de cette misère et de cette faim instaure la proximité même de l’Autre. Mais c’est ainsi que l’épiphanie de l’infini est expression et discours.« (TU/TI 286 f./174) Man bekommt den Eindruck, dass das medial vermittelte Gesicht genau dieser Beschreibung von Antlitz entspricht, sodass die Frage, ob das Fernsehbild eines Menschen mitunter auch die ethische Erhabenheit eines Antlitzes hat, zu bejahen ist. Denn als Zuseher oder Zuseherin bleibe ich nicht in einer beobachtenden Perspektive, sondern weiß mich in Verantwortung gestellt und bin bereit, konkret zu 25 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
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helfen. In der Betroffenheit scheint das Sagen (dire) als ethischer Anspruch das Gesagte (dit) als einfache Information zu durchbrechen. Freilich wird solches in den meisten Fällen, in denen mir Menschen medial vermittelt werden, nicht zustande kommen. Mir geht es aber nicht um die Frage, ob jedes vermittelte Gesicht ein Antlitz ist, sondern nur darum nachzufragen, ob solches unter bestimmten Umständen der Fall sein kann, sodass die Exklusivität, mit der Levinas das Antlitz an die unmittelbare menschliche Begegnung zu knüpfen scheint, aufgegeben werden müsste. Ein simples Faktum schränkt die eben behauptete Möglichkeit, dass ein Antlitz auch medial begegnen kann, allerdings ein. Sobald ein Medium zwischen den anderen Menschen und mich tritt, kann ich mich mit der Ausschaltung gerade dieses Mediums auch des Menschen und seines Anspruchs entledigen. Mit dem Wechsel des Senders oder mit dem Drücken einer Taste bringe ich mein Gegenüber eigenmächtig zum Verschwinden, das mich aus meiner geordneten Welt gerissen hat. Anders gesagt, ist der Durchbruch des Anspruchs an mich so sehr an die zugleich stattfindende Informationsvermittlung gebunden, dass die Unterbrechung des Informationsflusses mich des oder der Anderen entledigt. Wenn Levinas behauptet, dass »[d]as ursprüngliche Wesen des Ausdrucks und der Rede […] nicht in der Information [liege], die sie über eine innere und verborgene Welt geben / [l]’essence originelle de l’expression et du discours ne réside pas dans l’information qu’ils fourniraient sur un monde intérieur et caché« (TU/TI 287/174), so mag das auch für das angeführte Beispiel gelten, allerdings mit der Einschränkung, dass Ausdruck und Rede so eng an der Informationsweitergabe hängen, dass die Beendigung dieser auch den Anspruch jener zum Verstummen bringt. In der unmittelbaren Begegnung mit dem anderen Menschen kann ich mich seiner hingegen nicht auf eine so einfache Weise entledigen. Denn er oder sie steht leibhaftig vor mir und manifestiert sich mir gegenüber als leibliche Instanz, die ich nicht oder nur gewaltsam loswerde. 8 Er oder sie selbst »[…] steht seiner [oder ihrer] Manifestation bei und ruft mich infolgedessen zu Hilfe. Diese Assistenz ist nicht« – so Levinas – »das Neutrum eines Bildes, sondern ein Ersuchen, das mich in seiner Not und in seiner Erhabenheit betrifft. / […] assiste à sa propre manifestation et par conséquent en appelle à moi. Cette assistance, n’est pas le neutre d’une image, mais une solli8
Vgl. Sirovátka, Leib, 196–198.
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citation qui me concerne de sa misère et de sa Hauteur [sic].« (TU/ TI 287/174) Offenbar gilt dies vor allem und in der Regel für Menschen, die mir leiblich gegenübertreten, für Menschen, denen ich über Medien vermittelt begegne, aber nur in eingeschränkter Weise. Doch kann die Neutralität eines Bildes mitunter unterlaufen werden, sodass ich mich auch durch das Bild eines meist in seinem Elend vorgestellten Menschen ethisch herausgefordert und für ihn verantwortlich weiß. Auf die Frage zurückkommend, ob die ethische Intrige unter Umständen auch in medialer Vermittlung geschehen kann, ist also festzuhalten, dass dies möglich ist. Mitunter gewinnt das ins Bild gerückte Gesicht die Kraft eines Antlitzes. Da ihm aber seine leibliche Manifestation fehlt, steht seine ethische Erhabenheit auf wackeligen Beinen. Sie ist nicht absolut, wie sie es im Falle einer unmittelbaren Begegnung mit einem Menschen ist.
2.2 Antlitz und Tier Möchte man sondieren, inwieweit die ethische Intrige reicht, so kommt man neben der Frage nach der Möglichkeit medialer Vermittlung sehr schnell zum Problem, ob neben dem Menschen auch Tiere ein Antlitz haben. Man mag diesbezüglich zunächst an den Beginn der achten Duineser Elegie denken, wo Rilke dem Antlitz des Tieres eine besondere Bedeutung zumisst, nämlich die, dass allein das Tier das »Offene« erblicke, während die Menschen rückwärtsgewandt nur den Tod sähen. 9 Weil das freie Tier umgekehrt »seinen Untergang stets hinter sich und vor sich Gott« 10 habe, könnten die Menschen alles, »[w]as draußen ist«, nur »aus des Tiers Antlitz« wissen, nicht aber aus dem Antlitz des Menschen, das auf den Tod starre. Diese Hochschätzung des Antlitzes des Tieres drückt Rilke nicht bloß dadurch aus, dass allein das Tier Gott vor sich habe, sondern auch dadurch, dass es dann, wenn es verenden müsse, tatsächlich »in Ewigkeit« gehe. Hier scheint das Antlitz des Tieres über dem des Menschen zu stehen. Auch Levinas schätzt Tiere sehr hoch ein, doch geht er bei der Bewertung des Antlitzes des Tieres viel vorsichtiger vor als Rilke und 9 10
Diesen Hinweis verdanke ich Jean Greisch. Alle folgenden Zitate finden sich in: Rilke, Duineser Elegien, 49.
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nimmt eine andere Perspektive ein. Im Aufsatz mit dem Titel Le nom d’un chien ou le droit naturel, den er 1975 in einer Festschrift für den niederländischen Maler Bram van Velde publiziert hat, berichtet Levinas von einem Hund namens Bobby, der Levinas und die Mitgefangenen in einem Lager der Nazis für jüdische Kriegsgefangene immer wieder begleitet hat. Die Aufseher sowie Passantinnen und Passanten sahen die Gefangenen wie einen »Haufen von Affen / bande des singes« (NC 215) an – so Levinas. Er beschreibt sich und seine Mitgefangenen demgemäß auch als »Wesen ohne Sprache / êtres sans langage«. Denn es war einem dort nach Levinas nicht möglich, irgendeine »Botschaft seiner Menschlichkeit / un message de son humanité« (NC 216) weiterzugeben. Eines Tages kam ein Hund ins Lager, der in der Folge jeden Morgen beim Appell zugegen war und vor Freude bellte, wenn die Gefangenen von ihren Arbeitseinsätzen wieder zurückkamen. Nicht für die anderen Menschen hatten die Gefangenen also Würde, wohl aber für den Hund, der »Bobby« gerufen wurde: »Für ihn – das war unbestreitbar – waren wir Menschen. / Pour lui – c’était incontestable – nous fûmes des hommes.« (NC 216) Bobby, obwohl nur ein Hund, schien die Gefangenen als einziger als Menschen an- und ernstzunehmen. Levinas nennt ihn deshalb den »[l]etzten Kantianer Nazideutschlands / [d]ernier kantien de l’Allemagne nazie« (NC 216). Es sieht so aus, als habe der Hund Bobby das Antlitz der Gefangenen wahrgenommen, während die Menschen im Lager und außerhalb die ethische Forderung ignorierten und die Gefangenen zu Tieren degradierten. Für die angezielte Fragestellung ist aber das umgekehrte Verhältnis von Bedeutung, also nicht ob Tiere ein Antlitz wahrnehmen können, sondern ob sie im Gegenüber zum Menschen selbst ein Antlitz besitzen. In einem Interview stellen Studierende Levinas genau diese Frage. Er antwortet ausweichend und legt sich nicht fest. Zunächst gesteht er zu, dass Tiere ein Antlitz haben können, wenn er sagt: »One cannot entirely refuse the face of an animal.« (PM 169) Wieder bringt Levinas den Hund als Beispiel, den man über sein Antlitz verstehen könne. Er setzt aber sogleich hinzu: »Yet the priority here is not found in the animal, but in the human face.« (PM 169) Zudem betont er, dass das Antlitz nicht »in seiner reinsten Form (in its purest form)« im Hund zu finden sei. Levinas ist sich nicht sicher, ob ein Hunde-Antlitz wirklich die Gebrechlichkeit, die Autorität und die Sprachlichkeit aufweisen könne, wie es das menschliche Antlitz tue, 28 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
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sodass die Antwort darauf in Verantwortung gegeben wird und das Gegenüber – nun ein Hund – asymmetrisch über dem betroffenen menschlichen Ich zu stehen kommt. Auf die Frage, ob auch vom Gesicht des Tieres derselbe Befehl ausgehe wie von einem Menschen – nämlich das Gebot »Du sollst (mich) nicht töten!« –, legt sich Levinas ebenfalls nicht fest. Einerseits ist er unsicher, ab wann man jenseits des Menschen von einem Antlitz reden könne. Andererseits möchte er die Exklusivität des Menschen nicht aufgeben. 11 Die Frage, ob ein Tier ein Antlitz haben könne, bleibt letztlich offen. Während Levinas sich nämlich mit einem eventuellen Antlitz eines Hundes anfreunden kann, bekommt er mit dem Antlitz einer Schlange Zweifel: »I don’t know if a snake has a face. I can’t answer that question.« (PM 172) Auch in Bezug auf den Übergang vom Tier zum Menschen in der Evolution möchte Levinas sich nicht festlegen, ab wann es zu einem Antlitz gekommen ist. Er hält allerdings daran fest, dass es einen Unterschied zwischen Tier und Mensch gibt und dass seit dem Auftreten des Menschen über das bloße Existieren, dem er das Tier zuordnet, hinaus etwas Neues in die Welt getreten sei. Konkret bedeutet das, dass nach Levinas Darwins Idee vom Kampf ums Dasein (struggle for life) jede Ethik vermissen lasse. Sogar Heidegger bleibe in Sein und Zeit mit der Sorgestruktur des Daseins, dem es um sich selbst gehe, diesem Gedanken verhaftet. 12 Demgegenüber möchte Levinas das eigentlich Menschliche hervorkehren, das jenseits des Tierischen und daher jenseits des bloßen Kampfes ums Dasein und der steten Sorge um sich selbst angesiedelt ist. Er kann zwar die Grenze zwischen Mensch und Tier nicht angeben und auch die Frage nicht beantworten, ob Tiere ein Antlitz haben, möchte aber auf alle Fälle die Sonderstellung des Menschen betonen. Das Problem, ob Tiere ein Antlitz haben, ist nicht unwesentlich für eine Tierethik, sofern sie von Levinas’ Ansatz ausgehen möchte. Denn wenn Tiere nur bedingt ein Antlitz haben, scheint lediglich eine Tierethik übrigzubleiben, die anthropozentrisch den Tierschutz deshalb befürwortet, weil er letztlich auch dem Menschen nützt. Oder man versucht, mit der Hilfe von Analogien – etwa der LeidensfähigVgl. PM 171 f.: »I cannot say at what moment you have the right to be called ›face‹. The human face is completely different and only afterwards do we discover the face of an animal.« 12 Vgl. PM 172. 11
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keit – vom Menschen auf das Tier zu schließen. Doch auch hier liegt der Wert von Tieren nicht in ihnen selbst begründet, sondern wird vom Menschen abgeleitet. Diane Perpich schlägt deshalb vor, die ethische von der politischen Dimension bei Levinas zu unterscheiden. Nur auf der Grundlage einer Ethik des Antlitzes, die vom Antlitz exklusiv des Menschen ausgeht, sei nach Levinas eine humane Gesellschaft möglich, in der die Frage einer Gerechtigkeit, die über den Menschen hinausreicht, überhaupt erst gestellt werden kann. Diese Frage sei aber keine ethische mehr, sondern eine politische. So öffnet eine auf den Menschen bezogene Ethik eine Politik, die über den Menschen hinaus weiterer Andersheit Rechnung trägt und für andere Wesen um Gerechtigkeit bemüht ist. »Ethics opens up the world of politics, and opens it as a space in which we can be made aware of ever new others.« 13 Demgemäß gibt es bei Levinas im Bereich des Lebendigen eine Abstufung von Andersheit und von Antlitz. Das menschliche Antlitz steht im Zentrum der ethischen Intrige. Ob es hingegen ein tierisches gibt, lässt Levinas offen. So kann die Verantwortung für Tiere nicht direkt aus einem tierischen Antlitz abgeleitet werden, sondern ist im politischen Raum einer humanen Gesellschaft erst zu verhandeln. Das Antlitz des Menschen und das mögliche »Antlitz« des Tieres stehen nicht auf derselben Stufe.
2.3 Antlitz und Kunstwerk Auf der Suche nach der Reichweite der ethischen Intrige und damit auf der Suche, wer oder was denn ein Antlitz hat, stößt man bei Levinas weiterhin auf das Kunstwerk. Auch dort enthält sich Levinas eindeutiger Aussagen. Denn wie Tanja Stähler zu Recht bemerkt, ist die Kunst für Levinas ein »ambivalentes Phänomen« 14. Im frühen Aufsatz La réalité et son ombre von 1948/49 siedelt er das Kunstwerk in einem Bereich diesseits der Welt an. Nicht nur, dass es nicht im Jenseits der Welt zu stehen kommt, von woher das Antlitz einen ethischen Bruch in die intentionale Welt des Ich bringt – das Kunstwerk Perpich, Ethics, 176. Perpich nimmt den Beitrag von John Llewelyn mit dem Titel Am I obsessed by Bobby? auf und führt ihn mit ihrer Differenzierung zwischen ethischer und politischer Dimension weiter. 14 Stähler, Platon, 215. 13
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führt vielmehr ins Diesseits der Welt (»degagement en-deçà«; RO 773), weil es die Wahrheit der Fakten unterläuft und nur in den Schatten der Wirklichkeit führt. Das meint, dass ein Kunstwerk seinen Betrachter oder seine Betrachterin verzaubert oder verhext (»ensorcellement«; RO 775) und dadurch in einen vom Kunstwerk dominierten Rhythmus hineinzieht, der nicht der Rhythmus der Welt ist. Darüber hinaus ist das Kunstwerk nach Levinas ohne Sprache. Damit fehlt ihm ein weiteres entscheidendes Charakteristikum, das ein jedes Antlitz sein Eigen nennt. Erst Kritik und Interpretation fungieren gleichsam als »Parasiten«, die das Kunstwerk in die Welt zurückführen und es diskursfähig machen. 15 Mit der Welt- und mit der Sprachlosigkeit des Kunstwerks ist auch dessen »Verantwortungslosigkeit/irresponsabilité« (RO 787) verknüpft. Rezipient und Rezipientin bleiben dadurch, dass sie in eine Welt des Imaginären versetzt worden sind, untätig, handeln nicht und können deshalb auch nicht mit einem ethischen Anspruch konfrontiert werden. Dadurch, dass sie weltlos sind, haben sie auch keine Verantwortung zu übernehmen. Ähnlich wie in Platons Mimesis-Kritik im 10. Buch der Politeia 16 stört Levinas an der Kunst, dass ihre Schönheit nur Schein aufbaue, ohne die Differenz von gut und böse zu markieren. Ein Kunstwerk ist für den frühen Levinas folglich weit davon entfernt, ein Antlitz zu haben. Wie Françoise Armengaud bemerkte, hat sich Levinas im Laufe seines Lebens allmählich zu einer anderen Bewertung von Kunst durchgerungen. 17 Zunächst rückt er von seiner Behauptung der Weltund Sprachlosigkeit des Kunstwerks ab, vertritt aber noch dessen ethische Bedeutungslosigkeit. Allerdings fragt er bereits 1951 im Aufsatz L’ontologie est-elle fondamentale? vorsichtig, ob nicht die Kunst doch eine Aktivität sei, die den Dingen ein Antlitz verleiht. 18 In der Auseinandersetzung von Sacha Sosno und dessen Kunst der »oblitération«, also der Unkenntlichmachung, Entwertung oder der Verletzung, spricht Levinas schließlich 1990 davon, dass Kunst auch den Charakter eines Antlitzes haben könne. In den Skulpturen von Vgl. RO 771. Vgl. Platon, Politeia X, 602 a-b. 17 Vgl. Armengaud, Éthique et esthétique. Zum Verständnis von Kunst bei Levinas siehe auch: Bruns, Concepts of art and poetry. 18 Vgl. Levinas,SpA/Ontologie, 117 f./97: »Ist die Kunst nicht eine Tätigkeit, die den Dingen ein Antlitz verleiht? / L’art n’est-elle pas une activité qui prête des visages aux choses?« 15 16
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Sosno erkennt er, dass dort Kunstwerke mehr als nur etwas darstellen, sondern dass in der Darstellung zugleich eine Verletzung passiert, die das Kunstwerk mehr als »nur« ein Kunstwerk sein lässt, wie Levinas meint. 19 Beispielsweise hat Sosno, der seine Kunst selbst als eine Kunst der »oblitération« versteht, einen Bronzekopf geschaffen, der dem Kopf einer griechischen Statue gliche, wäre er nicht unkenntlich gemacht worden. Da Sosno ihn zwei Mal – einmal von vorne nach hinten und einmal von links nach rechts – durch rechteckige Durchbrüche verändert hat, fehlen Augen, Nase, Mund und Ohren. Der Bronzekopf, der den Titel Tête aux quatre vents – also in etwa Kopf nach den vier Windrichtungen – trägt, weist starke Blessuren von vier Seiten auf, er ist unkenntlich gemacht. Damit ist er für Levinas mehr als nur ein Kopf und bekommt dadurch eine ethische Dimension. Die Obliteration verkehrt also die Verzauberung, die Levinas in seinem frühen Aufsatz als wesentlich für Kunst angesehen hat, in ihr Gegenteil. 20 Solche Kunst, die von Verletzung und Zerbrechlichkeit geprägt ist, rückt dem, was Levinas »Antlitz« nennt, also näher. Für Levinas wird der Begriff der Obliteration zu einer wesentlichen Bestimmung, um ethisch relevante Kunst verstehen zu können, wie er in einem Interview zum Werk Sosnos festhält: »[…] l’oblitération deviendrait un concept essentiel pour comprendre l’art.« (OL 30) Es geht für Levinas nicht zuerst darum, dass Künstlerinnen und Künstler ein Gesicht darstellen und durch Blessuren zum Antlitz umformen, sondern darum, dass die Darstellung als Vorgang der Kunstproduktion selbst eine gebrochene ist. Die Perfektion des Gesichts der Mona Lisa macht sie nicht zum Antlitz, vielmehr bleibt sie für ihn etwas Unmoralisches in einer Welt voll von Leid und Bosheit. 21 Ein Kunstwerk kann nach Levinas nur dann Antlitz-Charakter bekommen, wenn es selbst gebrochen und unkenntlich ist. Wichtig dabei ist zu betonen, dass nicht das Sujet selbst den Ausschlag dafür gibt, ob das Kunstwerk zum Antlitz wird, sondern der Modus der Darstellung. Diese muss das Moment der Unkenntlichmachung wesentlich enthalten, unabhängig davon, was dargestellt wird, und in der Folge
Raphael Weichlein stellt Bezüge dieser Kunstauffassung von Levinas mit konkreten Kunstwerken der Berliner Ausstellungsreihe Sein.Antlitz.Körper aus dem Jahr 2016 her. Vgl. Weichlein, Spur. 20 Vgl. OL 22. 21 Vgl. OL 22. 19
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einfaches Zur-Schau-Stellen subversiv unterlaufen. Dann kann ein Kunstwerk selbst zum Antlitz werden, wie Levinas beispielweise in Bezug auf Rodin feststellt: Selbst ohne Mund oder Augen oder Nase sind Arme oder Hände, die Rodin geschaffen hat, »schon Antlitz / déjà visage« (OL 20). Die Unkenntlichkeit im Kunstwerk verschafft ihm eine ethische Sprache. So führt sie das Bild hin zu dem, was Levinas als den Anderen bezeichnet. »L’oblitération, je suis d’accord, fait parler. […] Dans ce sens-là, évidemment, l’oblitération mène à autrui.« (OL 28) Salomon Malka berichtet in seiner Levinas-Biographie, dass dessen Sohn, der Musiker Michael Levinas, ihm gesagt habe, sein Vater habe ihn immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass man Dinge auch in ihrer Unfertigkeit belassen müsse, und habe ihn dafür auf den Maler Charles Lapicque verwiesen, der Bilder bewusst als vollendet erklärt hat, obwohl sie unfertig waren. Michael Levinas sieht solche Brüche noch mehr als in den Bildern von Lapicque in den Figuren Giacomettis verwirklicht und sagt über diese: »Es ist im Grunde das, was er [= Emmanuel Levinas; R. E.] als Antlitz bezeichnet hat. Die Zerrissenheit ist das Antlitz.« 22 Wenn also, wie sich auch aus den Aussagen von Emmanuel Levinas selbst erheben lässt, mitunter ein Kunstwerk, das »sich zwischen den Extremen des es gibt und des Antlitzes« 23 bewegt, zu einem Antlitz wird, so nur deshalb, weil es das Moment der Unkenntlichkeit oder der inneren Zerrissenheit aufweist. Das bedeutet, dass nicht jedes Kunstwerk einen ethisch herausfordert, wohl aber, dass ethische Intrige auch im Kunstwerk möglich ist.
3.
Zwischen Antlitz und Gesicht
Wie die durchgeführten Untersuchungen zeigen, lässt sich die Frage, wie weit die ethische Intrige nach Levinas reicht, nicht eindeutig beantworten. Fest steht allerdings, dass das Gesicht des Menschen nicht nur Gesicht ist, also nicht bloß eine Physiognomie aufweist und Menschen sich so in unterschiedliche Raster einordnen lassen. Über Gesichter lässt sich in unterschiedlicher Weise verfügen. Über das Gesicht hinaus bricht der oder die Andere in die Welt des souveränen Ich 22 23
Malka, Lévinas, 251. Bahlmann, Kunstwerke, 75.
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ein und macht es zum ethisch Angesprochenen, der sich aufgrund dieses Anspruchs zu einer Antwort herausgefordert sieht, die nur in Verantwortung für das Gegenüber gegeben werden kann. Das ist der Grund, warum sich das Gesicht des anderen Menschen zugleich als dessen Antlitz erweist. Wie sichtbar geworden ist, lässt sich in mehrerlei Hinsicht fragen, ob das Antlitz auf den anderen Menschen begrenzt bleibt. In der Reflexion über die mediale Vermittlung eines menschlichen Antlitzes, über den ethischen Anspruch eines Tieres und über die ethische Kraft eines Kunstwerkes hat sich herausgestellt, dass Levinas für diese Bereiche gleichsam einen Zwischenraum zwischen Gesicht und Antlitz einführt. Er gesteht zu, dass in allen drei Begegnungsmöglichkeiten Momente festzustellen sind, die auf den Charakter eines Antlitzes verweisen. Zugleich hält Levinas eindeutige Zuordnungen aber für unzureichend und betont, dass uneingeschränkt von einem Antlitz nur in Bezug auf den Menschen gesprochen werden kann. Für eine Ethik, die sich auf Levinas beruft, heißt dieses Ergebnis, dass sie zwar einerseits ihr Fundament im anderen Menschen findet, andererseits aber ethische Ansprüche auch außerhalb des menschlichen Gegenübers erwartbar sind. Verantwortung erwächst einem also nicht nur aus der unmittelbaren Begegnung mit dem anderen Menschen, sondern mitunter auch aus der medialen Vermittlung eines Antlitzes oder im Gegenüber zu Tieren und Kunstwerken, dort aber nur unter bestimmten Bedingungen und nicht absolut.
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Verantwortung als Sinnfrage Über die Anforderungen an ein sinnerfülltes Leben bei Levinas
Abstract: Die Suche nach einem sinnerfüllten Leben wird in der philosophischen Ideengeschichte im Ausgang von Kant meist von der Autonomie und den moralischen Pflichten eines Subjekts getragen, das hofft, die empirische Welt der Erfahrung menschlicher zu gestalten. Diese Notwendigkeit aber, sein Gewissen, ja, sich selbst zu hinterfragen, bietet auch Anlass zu der Überzeugung, dass das autonome Subjekt mehr noch als dem Selbst verpflichtet, dem Anderen gegenüber verantwortlich ist, auf den sich sein selbstkritisches Bestreben mitunter letztlich richtet. Dass es im Leben daher vielmehr darum geht, sein Innerstes immer wieder hinter sich zu lassen, als es unaufhörlich zu befragen, das ist zumindest Levinas’ Gedanke, der von Kant den Ausgang nimmt. Der vorliegende Beitrag möchte die Verbindung von Kant und Levinas aufarbeiten und dabei auch die Frage nach den praktischen Implikationen stellen, die mit Levinas’ teils sehr radikalem philosophischen Neuanfang verbunden sind. »Ich spürte meinen Herzschlag: d. h., ich spürte in einem Anblick, draußen, mein Herz schlagen; ich sah in einer Baumgabelung in der Ferne mein Herz.« Peter Handke 1
Levinas nimmt mit Blick auf die Frage nach dem Grund des philosophischen Wissens eine zwar ungewohnte, doch hochinteressante Stellung ein. Das liegt zunächst daran, dass er einen Kontrapunkt zu jenen Strömungen setzt, die das Vermögen, sich den Sinn seiner Umwelt zu vergegenwärtigen, aus dem transzendentalen Selbst erklären. In vielen Punkten gleicht seine Gedankenbewegung dabei zudem derjenigen Descartes, der in seiner bekannten Dritten Meditation den 1
Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg 1982, 25.
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Grund allen Wissens nicht in sich selbst, sondern im transzendenten Anderen verortet. Der Unterschied liegt gleichwohl darin, dass Levinas dabei nicht nach der Gewissheit eines philosophischen Systems verlangt. Für ihn gilt es vielmehr, jene spezifisch menschliche Seinsweise zu beschreiben, die sich immer schon im Austausch mit ihrer Umwelt befindet. Er will also beschreiben, was das Verb sein bedeutet, das heißt, die Art, in der wir auf all das Andere antworten, das uns herausfordert und zugleich infrage stellt. 2 Für Levinas ist dies also das Epizentrum der Philosophie: die Art, wie der Mensch auf das antwortet, was ihn antreibt, indem es ihn infrage stellt. Dahinter steht ein recht simpler Gedanke: Was auch immer wir wissen, tun oder glauben, hat überhaupt nur dann eine Bedeutung für unsere Lebensweise, wenn es uns nicht zu uns selbst zurückführt, an den vermeintlichen Ausgangspunkt all unseres Tuns. Was wirklich von Bedeutung ist, muss vielmehr jenseits all dessen liegen, was wir sind, jenseits der Strukturen, in die wir eingebunden sind, der Sprache, die wir sprechen, ja überhaupt des Diskurses, der uns bezeichnet. Dieser Gedanke wirkt banal, ist aber von enormer Tragweite: Die entscheidende Konsequenz, die für poststrukturalistische Positionen ja schlechthin bezeichnend ist, liegt, darin, dass damit zumindest jeder philosophische Anspruch auf Orientierungswissen verloren zu sein scheint. Denn wovon soll die Philosophie noch handeln, wenn ihr die Sprache fehlt, die transzendente Bedeutung des Lebens und des Diskurses zu ermessen, in den wir eingebunden sind? Es scheint jedoch nur so, als liefere Levinas hier nicht einen einzigen Anhaltspunkt, wenn die Frage ist, was im Leben wirklich von Bedeutung ist. Ich jedenfalls denke, dass Levinas hier sehr konkrete Antworten gibt, die vielfach begeistern, manchmal auch befremden. Woran ich hierbei denke, soll im Folgenden verdeutlicht werden, wobei darauf eingegangen werden wird, was Levinas in diesem Kontext am kantischen Ideal der Aufklärung, das vom transzendentalen Selbst seinen Ausgang nimmt, kritisiert und warum für ihn gerade die gelebte Verantwortung für einen absolut selbsttranszendenten Anderen zur individuellen Sinnerfüllung führt. Descartes dahingegen hält Ausschau nach einem archimedischen Punkt, der in Rückbesinnung auf sich selbst zu finden ist, er versucht das eigene, innere Wesen, das, obgleich gottgegeben, zugleich Anfang und Ende all unserer Freiheit ist, nicht nur zu beschreiben, sondern diskursiv zu erfassen. Vgl. zu dieser Thematik meine Ausführungen in: Der Anfang vor dem Anfang. Ursprung und Epigenesis bei Descartes und Kant (im Erscheinen).
2
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Verantwortung als Sinnfrage
1.
Levinas’ Kritik an Kants »Sapere aude!«
Levinas’ Gedanken beinhalten wie gesagt einen radikalen Perspektivenwechsel. Im Fokus steht nicht, was man weiß, sondern, was das Wissen überschreitet. Besonders deutlich ist dabei seine Opposition zu Kant: Folgt man dem Duktus von Kants Vernunftkritik, so bemisst sich alles, was wir wissen, am Maßstab der Objektivität, also an der Form unseres Wissens, an etwas, das dem Wissen eben immanent ist und es gerade nicht überschreitet. Wissen scheint für Kant prima facie in der Sachlichkeit zu liegen, fernab des Glaubens, der Hoffnung oder gar der Idealität. Diese scheinbare Abstraktion von allem Subjektivem wirft natürlich schnell die Frage auf, ob man die Bedeutung des Wissens nicht gerade auf einer subjektiven Ebene erfahren muss, um den damit verbundenen Anspruch auf Unbedingtheit überhaupt verstehen zu können und in weiterer Instanz überhaupt etwas wissen zu wollen. 3 Kants Antwort auf diese Frage wirkt dabei sehr klar und überzeugend: Zunächst steht für ihn fest, dass jedes Interesse, das theoretische der Vernunft eigenschlossen, praktischer Natur ist und somit der Zwecksetzung eines Subjekts entspringt. 4 Der Witz ist aber, dass das Subjekt bei all seiner Zwecksetzung letztlich nur ein Ziel vor Augen hat: die Übereinstimmung seiner, ja überhaupt der menschlichen Art, die empirische Welt zu verstehen, mit den Bedürfnissen und Trieben, die auf ebendiese Welt zurückgehen, deren Teil es ist. Darauf hofft der Mensch nach Kant, 5 dass seine Auffassung der empirischen Hier möchte ich einerseits auf phänomenologisch motivierte Kritikstränge ansprechen, die hervorheben, dass das Gebiet des menschlichen Wissens nicht wie bei Kant durch universelle Begriffe der Objektivität abgesteckt ist, sondern durch die hermeneutische Sinnsuche des Subjekts (so bspw. die Kritik Heideggers und Levinas’ an Kant). Andererseits – aber auch in Verbindung damit – möchte ich hier lose auf die Kant-Kritik Schopenhauers verweisen (vgl. zu dieser komplexen Thematik etwa Margit Ruffing, »Muss ich wissen wollen?« – Schopenhauers Kant-Kritik, in: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, hg. v. Norbert Fischer, Hamburg 2004, 561–582). 4 Bekanntlich besteht für Kant im Blick auf die Interessen der Vernunft ein Primat des Praktischen, weil, so Kant, »alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist« (Kant, KpV, AA V 121). 5 Nach Kant ist die praktische Vernunft aufgrund ihrer Unterwerfung unter den kategorischen Imperativ in ihrer Ausübung bekanntlich an das Postulat gebunden, dass sich, was dieser auf rein rationaler Ebene fordert, mit der empirischen Lebenswelt dessen, der danach handelt, auch in Einklang bringen lässt (s. hierzu bspw. Kant, KpV, AA V 123 Anm. u. 128–132). Damit diese Unterwerfung unbedingt ist, muss sich, 3
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Welt bis in das kleinste Detail mit seinen Erfahrungen zusammenstimmt, sodass, was er denkt und wonach er sich in seinem Handeln richtet, auch dem entspricht, was er tatsächlich erfährt. Gerade an diesem Punkt entfaltet Kants »Sapere aude!« schließlich seine volle Tragweite. Um zu verstehen warum, ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass das Denken für Kant letztlich ein Urteilen ist. 6 In den drei Kritiken zeigt er deutlich, inwiefern das Urteil für ihn Verstandestätigkeit schlechthin ist und betont, dass deren einzig wirklicher Gegenstand die sinnliche Wahrnehmung ist. Dabei verhält es sich so, dass das Urteil nach Kant an der sinnlichen Wahrnehmung allererst hervorbringt, was es als deren Objekt erkennt. 7 Somit heißt zu denken für Kant zu urteilen, wobei sich das Urteil a priori auf die sinnliche Wahrnehmung bezieht, um dieselbe erst zum Objekt des Urteils zu erheben. 8 In Kants Augen ist es zwar möglich, sich über diesen a priori fest begrenzten Horizont des Verstandesapparates zu täuschen, 9 doch umso mehr ist es die Pflicht des Menschen, sich seines Verstandes nur innerhalb der Grenzen des sinnlich Erfahrbaren und a priori Möglichen zu bedienen, um dadurch seiner spezifischen Konstitution als Verstandeswesen gerecht zu werden. Das ist die Tiefendimension des kantischen Credos: Mit unserer Seinsweise ist die Pflicht verbunden, 10 die eigene Stellung im was dieser Imperativ fordert, jedoch auch mit allen Zwecksetzungen des betroffenen Subjekts vereinbaren lassen, ergo muss dasselbe bei all seinem Tun immer schon die Hoffnung haben, die genannten Bereiche irgendwann in Einklang zu bringen. 6 Vgl. hierzu ausführlich: »Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann. Denn er ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken. Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich als Prädikate möglicher Urteile auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande.« (Kant, KrV B94) 7 Im Blick auf die objektive Gegebenheit der sinnlichen Wahrnehmung in der Erfahrung hält Kant in der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe der Kritik der reinen Vernunft fest, »daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben« (Kant, KrV B130). 8 Vgl. hierzu meinen in diesem Punkt etwas ausführlicheren Beitrag: Die Zeit als Grenze des Verstandes. Zum Verhältnis von Zeit und diskursivem Denken bei Kant. In: Ausgehend von Kant. Wegmarken der Klassischen Deutschen Philosophie, hg. v. Violetta L. Waibel, Max Brinnich, Christian Danz, Michael Hackl, Lore Hühn, Philipp Schaller, Würzburg 2016, 75–82. Vgl. zur sinnlichen Wahrnehmung als schlechthinnigem Gegenstand des Denkens bei Kant ferner Kant, KrV A19/B33 u. B136. 9 Die Rede ist hier von Kants Begriff einer transzendentalen Illusion. 10 Zur Thematik der menschlichen Pflicht bei Kant, sich in der sinnlichen Welt der
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Kontext der Erfahrung den eigenen Vermögen gemäß zu beurteilen, um mit diesem Wissen der zu werden, der man kraft seiner ursprünglichen Konstitution immer schon gewesen ist. 11 Nach eigener Auskunft verhält sich Levinas’ Philosophie hier zur kantischen wie der Mythos des Odysseus zur Geschichte Abrahams: Während jener nach zehn Jahren an den Ausgangspunkt seiner Irrfahrt zurückkehrt, bricht dieser auf Geheiß Gottes in ein ihm unbekanntes Land auf, wissend, dass er niemals zurückkehren wird. In Analogie betont Levinas, dass der Mensch nicht deshalb auszieht, sein Wissen zu vermehren, um zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren und der ursprünglichen Konstitution seines Selbst gerecht zu werden. Vielmehr sei der Mensch dem Anderen, das sein Wissen immer schon enthält, auf eine Art und Weise ausgeliefert, dass dieses Andere ihn erst provoziert, sich seinen Sinn zu vergegenwärtigen und sich damit zu einer selbstbestimmten Freiheit zu erheben.
2.
Levinas’ Perspektive auf die Rolle des transzendenten Anderen
Levinas geht hier in nuce von folgender Überlegung aus: dass unsere Seinsweise an die hermeneutische Auslegung unsere Umwelt gebunden ist, heißt, dass das Andere, auf das diese Sinnsuche gerichtet ist, Erfahrung seinen apriorischen Vermögen gemäß zu orientieren und dabei zugleich unbedingt an den Grundsätzen der universellen Konstitution des Menschen als eines verständigen Wesens festzuhalten, bitte ich, die folgenden zwei überaus interessanten Aufsätze zu berücksichtigen: Alexander Gunkel, Die Autonomie endlicher Wesen bei Kant. Das Selbstdenken als Probierstein der Wahrheit. In: Ausgehend von Kant. Wegmarken der Klassischen Deutschen Philosophie, hg. v. Violetta L. Waibel, Max Brinnich, Christian Danz, Michael Hackl, Lore Hühn, Philipp Schaller, Würzburg 2016, 99–112. Bernd Dörflinger, Die Dignität des Erfahrungsurteils, in: prima philosophia 8/1 (1995), 125–138. 11 Besonders deutlich bildet sich dies meines Erachtens in den von Kant sogenannten drei Maximen der Vernunft ab (vgl. Kant, Anth, AA VII, 200 f.). Diese Maximen markieren bei Kant den Weg zur Weisheit und zu einem »gesetzmäßig-vollkommen [en]« (ebd.) Gebrauch seiner Vernunft. Die drei Maximen – erstens Selbstdenken, zweitens an der Stelle des Anderen und drittens jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken – lesen sich dabei als die Reise eines Selbst, das sein Wissen mit Erfahrung anreichert, um sich seinen Vermögen gemäß im Kontext seiner Umwelt zu verwirklichen. Dabei zeigen sich gewisse Parallelen zu Odysseus, auf die Levinas schließlich aufmerksam macht (s. u.): Auch dort kehrt ein Selbst aus, um zu werden, was es immer schon war.
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uns immer schon auf eine Weise anspricht, dass wir gar nicht anders können, als seinen Sinn zu suchen. Die phänomenale Umwelt muss von sich aus bereits eine Bedeutung in sich tragen, die nicht nur der Inhalt einer späteren Erkenntnis ist, sondern zuerst ein hermeneutisches Subjekt auf den Plan ruft. Für Levinas sind wir insofern nicht einfach in die Welt geworfen, vielmehr ist dieselbe von einer Bedeutung durchdrungen, die uns anspricht und uns infrage stellt, indem sie jenes Begehren nach dem Anderen weckt, das der hermeneutischen Auslegung unserer Umwelt zugrunde liegt. Die Idee eines Bewusstseins, das von seiner Umwelt nur affiziert und nicht zugleich infrage gestellt, der Frage unterworfen wird, bezeichnet Levinas entsprechend als einen »Mythos«. 12 In seinen Augen enthalten die Phänomene der Erfahrung eine Bedeutung, die uns derart anspricht, dass sie ein Bewusstsein erst erforderlich macht: Die Elemente der Erfahrung, so Levinas, bedeuten je schon »von der ›Welt‹ her und von der Position des Betrachtenden aus«, 13 das heißt, ein Phänomen wird dem Bewusstsein nicht einfach als Erfahrung gegeben, sondern tritt bereits als Erfahrung an es heran, als etwas, desVgl. Levinas, Sinn und Bedeutung, HAM 12/HAH 21, vgl. ebd.: »Se donner à la conscience […] demanderait que la donnée […] se place à un horizon éclaire; semblablement au mot qui reçoit le don d’être entendu à partir d’un contexte auquel il se réfère.« In deutscher Übersetzung: »Dem Bewußtsein gegeben sein, für es leuchten, dies verlangt, daß das Gegebene von vornherein in einem erleuchteten Horizont seinen Ort einnimmt; ähnlich dem Wort, das die Eigenschaft, verstanden zu werden, von einem Kontext her erhält, auf den es sich bezieht.« Vgl. hierzu auch Levinas, JS 143/ AQ 78 u. ö. 13 Vgl. Levinas, Sinn und Bedeutung, HAM 22 f./HAH 13 f. Im Folgenden wird deutlich werden, inwiefern der Umstand, dass die Elemente der Erfahrung je schon eine Bedeutung für uns haben, nach Levinas in einer sprachlichen Situation begründet ist, in der alles, was unserem Bewusstsein gegeben sein kann, uns je schon anspricht. Vor diesem Hintergrund hält Levinas an anderer Stelle fest, dass wir uns im »Schon-Gesagten« (ders., JS 94/AQ 48) aufhalten und dass unsere Sensibilität »je schon zur Sprache gekommen« ist. Er stellt dem die Vorstellung einer »stummen Welt« gegenüber, in der wir den Dingen erst einen Namen geben und sie vergleichen müssen, um ihre Bedeutung zu verstehen (ders., JS 88/AQ 44). Bedenkt man, dass die Bedeutung, welche die Elemente der Erfahrung nach Levinas immer schon haben, eine spezifisch menschliche ist und dass der Mensch für diese Bedeutung, die ihn in seiner Individualität übersteigt, folglich eine Verantwortung in sich trägt, so erklärt sich daraus auch, warum Levinas die Sensibilität des Menschen als Verwundbarkeit beschreibt, die den Menschen in seinem Innersten betrifft. Zum Zusammenhang von Verwundbarkeit und Sinnlichkeit bei Levinas vgl. auch Reinhold Esterbauer, Transzendenz»Relation«. Zum Transzendenzbezug in der Philosophie Emmanuel Levinas, Wien 1992, bes. 69. 12
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sen Bedeutung von der Welt her und der Position des Betrachtenden aus zu verstehen ist. Erfahren heißt für Levinas insofern, jenem Anderen zu antworten, dessen Spur die Erfahrung in sich trägt und das einen derart anspricht, dass es dazu auffordert, sich seiner selbst im Umgang mit seiner Umwelt erstmals bewusst zu werden. In der Erfahrung steht das Seiende somit in einer Beziehung zu einem Anderen, der nach ihm ruft und der es dazu auffordert, ihm als Subjekt zu antworten. 14 Die Situation gleicht dabei einem Gespräch, in dem der Eine vonseiten des Anderen stets aufs Neue absolut infrage gestellt wird, ohne selbst jemals die Möglichkeit zu haben, sich zur Frage zu erheben. Die Freiheit des Subjekts ist nach Levinas von daher schlechthin als eine Antwort auf den Anderen zu sehen: Erst durch den Anderen wird das Seiende zum Selbst, und entsprechend ist es für diesen Anderen auch auf eine vor-ursprüngliche Art verantwortlich. Dabei ist zu bedenken, dass grundsätzlich jedes Subjekt dieser Verantwortung unterworfen ist und dass daher das einzelne Subjekt, indem es für den Anderen verantwortlich ist, auch für die entsprechende Verantwortung seiner Nächsten verantwortlich ist. 15 Das erklärt nach Levinas, warum uns die Not unserer Nächsten zum Beistand ermahnt, nämlich weil wir in ihnen das Antlitz jenes Anderen erblicken, 16 für den wir verantwortlich sind. Die Verantwortung hat bei Levinas somit eine Bedeutung, die sich im Bereich des Zwischenmenschlichen zwar artikuliert, deren Ursprung jedoch absolut jenseits dieses Bereiches anzusiedeln ist, zumal sie für die menschliche Seinsweise schlechthin konstitutiv ist. Zumindest in Levinas’ späten Schriften wird daher
Vgl. dazu etwa Levinas’ Begriff einer »Erfahrung schlechthin« in: Levinas, TU 281/ TI 170 sowie seine Ausführungen zum Thema der Objektivität in: ders., TU 302–307/ TI 184–187. 15 Vgl. zur Verantwortung für die Verantwortung seiner Nächsten bspw.: Levinas, Humanismus und An-archie, HAM 78–83/HAH 78–82. Levinas nennt diese vor-ursprüngliche Form der Verantwortung sehr treffend auch eine Verantwortung, »die älter ist als der conatus der Substanz« (ders., Ohne Identität, HAM 101/HAH 99). 16 Die Verantwortung für den Anderen wird demnach dort bewusst, wo die Verantwortung für die Verantwortung unserer Nächsten ins Zentrum gerät, welche eben die Gegenwart Gottes offenbart: »Die eigentliche Epiphanie des Anderen besteht darin, uns durch sein Elend im Antlitz des Fremden, der Witwe und des Waisen zu fordern. […] Die Erhebung Gottes zu seiner höchsten und äußersten Gegenwart ist korrelativ der Gerechtigkeit, die wir den Menschen widerfahren lassen.« (Levinas TU 107/TI 51; vgl. TU 311 f./TI 190.) 14
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auch immer deutlicher, dass hinter dieser Verantwortung Gott steht, der sich im zwischenmenschlichen Bereich manifestiert und dem ein ethischer Gottesbegriff zugrunde liegt. Für mich gerät dieser Aspekt in der Forschung zu oft in den Hintergrund, es scheint dort manchmal fast so, als wäre Levinas nicht primär um die Suche nach Gott bemüht, obwohl er selbst nie müde wird, dies zu betonen. 17 Es ist vielleicht bezeichnend, dass ihn hier ein ähnliches Schicksal ereilt, wie vor ihm bereits Descartes, 18 an dessen Idee eines transzendenten Gottes er sich ja orientiert, mit dem wichtigsten Unterschied, dass Levinas, anders als Descartes und ganz eindeutig inspiriert von Kant, einen völlig neuen Gedanken einführt, wenn er die Suche nach Gott mit der Ethik beginnen lässt. 19
17 Dabei kann, blickt man auf die Vorbemerkung zu Levinas’ Spätwerk Jenseits des Seins und auf die Schlussätze dieser Monografie (s. hierzu weiter unten), darüber, dass gerade die Suche nach einem ethischen Gottesbegriff im Zentrum von Levinas’ Bemühungen steht, eigentlich kaum Zweifel bestehen. 18 Vgl. zu dieser Thematik die im Deutschen von Edith Stein herausgegebene Monografie von Alexandre Koyré, Descartes und die Scholastik. In: Edith Stein, Gesamtausgabe, Übersetzungen, Bd. 5, Freiburg 2005. 19 Norbert Fischer schreibt in diesem Kontext treffend: »Der Anfang mit der metaphysischen Ethik als der neuen ›Ersten Philosophie‹ läßt sich auch als korrigierende und verstärkende Bezugnahme auf Kants zweiten Anfang [= der nach Norbert Fischer mit Kants Kritik der praktischen Vernunft einsetzt, die der Autonomie der praktischen Vernunft unter der Schirmherrschaft der Moralität den Vorrang vor dem Theoretischen zugesteht] lesen, sofern Kant den neuen Anfang, unversehens nicht als ›Entwurf‹ denkt. Denn das Bewußtsein des moralischen Gesetzes benennt er, nachdem er es gefunden hat, als das ›einzige Factum der reinen Vernunft‹. Kants Neigung zur theoretischen Absicherung dieses Prinzips, führt nicht nur den Vorzug bei sich, daß es nicht als unvernünftig abgetan werden kann, sondern auch die Gefahr, daß das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft – analog dem Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch – als ›Produkt‹ der autarken Vernunft gepriesen oder denunziert werden kann. Denn an der Stelle der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, an der Kant zum ›Grund‹ des moralischen Prinzips spricht, wird noch nicht zureichend klar, daß es ›als gegeben anzusehen‹ ist, was Levinas mit seiner Einführung verdeutlicht, die auf seine ›Transzendenz‹ hinweist.« (Norbert Fischer, Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? Der Zugang zur Gottesfrage bei Levinas durch kritische Anknüpfung an Heidegger und Kant. In: Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg 2013, 49–85, 66.)
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Verantwortung als Sinnfrage
3.
Levinas’ Idee einer zur Verantwortung geschaffenen Freiheit
Um sich zu verdeutlichen, inwiefern die philosophische Suche nach Gott bei Levinas unter dem Stern einer ethischen Verantwortung steht, ist es wichtig, sich noch einmal zu verdeutlichen, dass, was wir wissen, nach Levinas bereits eine konstitutive Bedeutung für die Seinsweise des Erkennenden gehabt haben muss, der nun schließlich danach fragt, um sich den Sinn dieser Tatsache zu vergegenwärtigen. 20 Das Ereignis des jeweils ausgelegten Phänomens geht der Sinnsuche des erkennenden Subjekts also voraus. Es spricht das Seiende zudem auf eine Art an, die seine Freiheit vor-ursprünglich provoziert, das heißt, eine hermeneutische Auslegung seiner Umwelt erst erforderlich macht. Man kann daher sagen, dass der Prozess der Erkenntnis für Levinas darin besteht, sich die Bedeutung eines Phänomens zu vergegenwärtigen, das für die eigene, sinnsuchende Seinsweise und Freiheit immer schon konstitutiv gewesen ist. Levinas nennt diesen Vorgang Kritik und meint damit die Bewegung, »hinter den eigenen Ursprung zurückzufragen«, eine »Bewegung gegen die Natur«: »Die Theorie, in der die Wahrheit entspringt, ist die Haltung eines Seienden, das sich selbst mißtraut. Das Wissen wird erst zum Wissen einer Tatsache, wenn es gleichzeitig Kritik ist, wenn es sich selbst in Frage stellt, wenn es hinter seinen Ursprung zurückgeht (darin Bewegung gegen die Natur, sie besteht darin, hinter den eigenen Ursprung zurückzufragen und bezeugt oder beschreibt eine geschaffene Freiheit).« 21 »Das Wissen als Kritik, als Rückgang hinter die Freiheit – kann nur bei einem Seienden auftauchen, dessen Ursprung jenseits seines Ursprungs liegt – bei einem geschaffenen Seienden.« 22 Die Bezüge auf Kant fallen hier zwar ins Auge, anders als Kant meint Levinas mit Kritik aber nicht die Begrenzung des Gebiets, in dem wir über sicheres Wissen verfügen, sondern die Infragestellung, dass es überhaupt so etwas gibt – 23 ein Gebiet, das dem Subjekt ein »Wir meinen, daß nicht die Existenz für sich, sondern die Infragestellung der letzte Sinn des Wissens ist« (Levinas; TU 122/TI 60). 21 Levinas, TU 113/TI 54. 22 Levinas, TU 117/TI 57. 23 Vgl. hierzu Levinas’ paradigmatische Rede von einer »Umkehr der Kritik« (Levinas TU 120/TI 59): das Subjekt, das sich seiner Umwelt diskursiv bemächtigt und scheinbar selbst die Grenzen seiner Freiheit absteckt, seine Fragen an die Natur heranträgt, wird durch den Anderen in Form einer Infragestellung radikal begrenzt. 20
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sicherer Boden wäre. 24 Wissen als Kritik bedeutet für ihn einen »Rückgang hinter die Freiheit«, die stets aufs Neue infrage gestellt wird und sich daraufhin als Antwort konstituiert. Diese Art der Kritik offenbart also eine geschaffene Freiheit, geschaffen von einem transzendenten Anderen, auf den sie antwortet und für den sie insofern vor-ursprünglich verantwortlich ist, als ihr Dasein sich als Antwort auf dessen Frage konstituiert. Und weil es sich hiermit bei allen Menschen gleich verhält, sind wir nach Levinas schließlich auch für die Verantwortung unserer Nächsten verantwortlich: Deren Innerstes ist ja auch das unsere, der Andere, für den wir die Verantwortung tragen. Mehr noch: Da die Andersheit des Anderen für ein Selbst, das stets nur darauf antwortet, ohne je in eine symmetrische Gesprächssituation einzutreten, als solche unsichtbar bleibt, werden wir seiner überhaupt nur durch unsere Nächsten gewahr, die diese Andersheit ebenso in sich tragen. 25 Das heißt, erst die moralische Erfahrung, dass der andere Mensch sich nicht in den eigenen Horizont integrieren lässt – dieses »Ende allen Könnens« 26 –, schafft ein Bewusstsein für die Andersheit des Anderen, und zwar »als eine Forderung, die diese Freiheit dominiert«. 27 Dieses Bewusstsein für jene transzendente schöpferische Kraft, auf
Bezeichnenderweise arbeitet sich Levinas’ Kritik an Kant nicht selten an dem Bild eines sicheren Bodens ab, in welchem dem (transzendentalen) Subjekt eine sichere Orientierung möglich ist – bei Kant ist dies das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung – und der zugleich die Grundlage für ein (transzendental-)philosophisches System ist (Levinas, Humanismus und An-archie, HAM 82/HAH 82; vgl. ders., GZ 67–77, 196; JS 287/AQ 166). 25 Levinas spricht in diesem Zusammenhang von einer radikalen Asymmetrie, welche die Beziehung des Selbst zum Anderen auszeichnet, vgl. hierzu etwa: »In der Nähe nimmt der Andere mich in Beschlag, nach der Asymmetrie der Bedeutung, des derEine-für-den-Anderen: ich stehe für ihn ein, während doch niemand mich ersetzen kann und die Stellvertretung des Einen für den Anderen nicht die Stellvertretung des Anderen für den Einen bedeutet. […] ›Dank göttlicher Gnade‹, ›gottlob‹ bin ich Anderer für die Anderen. Gott ist dabei nicht ›im Spiel‹ wie ein sogenannter Gesprächspartner: Die wechselseitige Korrelation verbindet mich dem anderen Menschen in der Spur der Transzendenz, in der Illeität.« (Levinas JS 345/AQ 201 u. ö.) 26 Levinas’ Rede von einem »Ende allen Könnens« ist als Spitze gegen Heidegger zu verstehen. Der entscheidende Punkt ist hier Heideggers These, das Seiende zeichne sich dadurch aus, »[d]aß es ist und zu sein hat« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 134). Das Dasein des Seienden erklärt sich für Heidegger vor diesem Hintergrund eben nicht allein aus der Faktizität der Existenz, sondern schließt auch das Seinkönnen mit ein (vgl. etwa Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 144). 27 Levinas, TU 115–120. 24
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die unsere Freiheit zurückgeht, ist für Levinas schließlich der Ausgangspunkt der Philosophie, der Suche nach Gott und der Bedeutung des menschlichen Lebens: »Wenn die Philosophie darin besteht, in kritischer Weise zu wissen, d. h. für ihre Freiheit einen Grund zu suchen, sie zu rechtfertigen, dann beginnt sie mit dem moralischen Bewußtsein, in dem der Andere als Anderer gegenwärtig ist[.]« 28
4.
Metaphysik als Ethik und die Rolle des Metaphysikers bei Levinas
In nuce ereignet sich die moralische Erfahrung des anderen Menschen, der sich nicht in den eigenen Horizont integrieren lässt, nach Levinas also als eine Infragestellung des Selbst, die uns das wesentliche Moment der menschlichen Sinnsuche offenbart: die Bedeutung der Alterität. Für Levinas hat die Ethik den Stellenwert einer Ersten Philosophie und bildet den zentralen Orientierungspunkt, auf den das menschliche Handeln schlechthin gerichtet sein sollte. Sie tritt damit aus ideengeschichtlicher Perspektive an die Stelle der Ontologie, die traditionellerweise als metaphysica generalis betrachtet wurde, und überschattet mit ihrer daseinstranszendenten Bedeutung jede Rede vom Seinsverstehen: »Die Metaphysik, die Transzendenz, der Empfang des Anderen durch das Selbe, des anderen Menschen durch mich, ereignet sich konkret als Infragestellung des Selben durch den Anderen, das heißt, als Ethik; in ihr erfüllt sich das kritische Wesen des Wissens. Und wie die Kritik dem Dogmatismus, so geht die Metaphysik der Ontologie voraus.« 29 An dieser Stelle wird nicht nur deutlich, inwiefern die Ethik für Levinas der Ontologie vorausgeht. Der Duktus der Textpassage offenbart noch einen weiteren wichtigen Punkt: in dem Maße, in dem die Metaphysik mit der Infragestellung des Selbst anhebt, zielt sie auch nicht auf eine reflexive Wissenschaft, sondern auf eine je individuelle Hingabe an das, was jenseits des eigenen Horizontes liegt. Ähnlich wie bereits für Heidegger die Ontologie ist die Ethik für Levinas also keine abstrakte Disziplin, sondern bezeichnet eine bestimmte Seinsweise. Diese Seinsweise liegt für Levinas dabei in der Art, wie der Mensch seiner vor-ursprünglichen Verantwortung ge28 29
Levinas; TU 119/TI 59. Levinas, TU 51/TI 13.
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recht wird. Im Zentrum steht also die Frage nach dem Wer des Metaphysikers, nicht nach dem Was einer metaphysischen Erkenntnis. Gewissermaßen fallen die Metaphysik und die je individuelle Lebensführung bei Levinas zusammen.
5.
Verantwortung als Sinnfrage: über ein gelingendes Leben nach Levinas
Damit ist nach meiner Ansicht bei Levinas aber auch ein Punkt angesprochen, der zumindest hochgradig unkonventionell und aus einer gewissen Perspektive auch befremdend ist: Für Levinas ist der Mensch durch seine selbstbestimmten Seinsweise von seiner Bedeutung, die im Anderen liegt, zugleich getrennt und aufgefordert, Verantwortung sowohl für die eigene Beziehung zum Anderen als auch für die seiner Nächsten zu übernehmen. Zwar steht einerseits fest, dass er dieser Verantwortung niemals völlig gerecht werden kann, da jeder Versuch, sich dem Anderen zu nähern, die Distanz noch vergrößert und die Position des Selbst gegenüber dem Anderen nur untermauert. 30 Das heißt aber nicht, dass es nicht dennoch darauf ankäme, es zu versuchen. Schließlich geht diese Verantwortung auf einen vor-ursprünglichen Befehl Gottes zurück, der dem Menschen zwar die Freiheit gibt, jedoch nur, um über sich und seine Nächsten mit der erforderlichen göttlichen Strenge zu wachen. 31
Levinas spricht in diesem Kontext sehr deutlich davon, dass sich mit zunehmender Distanz schließlich auch die Verantwortung vergrößert: »Je mehr ich antworte, desto verantwortlicher bin ich; je mehr ich mich dem Nächsten nähere, für den ich zu sorgen habe, desto weiter finde ich mich entfernt.« (Levinas, JS 210/AQ 119). 31 Der entscheidende Punkt ist hier, dass Gott mir zu meiner Verantwortung vorursprünglich den Befehl erteilt, was bedeutet, dass ich in seinem Auftrag und durch diese göttliche Legitimation wachsam gegenüber der Einhaltung dieses Gebots sein muss, und zwar im Blick auf alle Menschen, welche dieses Gebot in sich tragen, das mich als Einzelperson übersteigt: »Der natürliche conatus essendi (der Seinswille) eines souveränen Ich wird vor dem Antlitz des Anderen, in der ethischen Wachsamkeit, wo die Souveränität des Ich sich als verabscheuungswürdig und seinen Platz an der Sonne als ›Bild und Beginn der Usurpation der ganzen Erde‹ erkennt, infragegestellt.« Weiter unten: »Heteronomie des ethischen Gehorsams […] Unterordnung unter den im Antlitz des anderen Menschen ausgesprochenen Befehl, der nicht als Thema behandelt werden kann. Gehorsam gegen den absoluten Befehl – gegenüber der Autorität par excellence –, echter Gehorsam gegenüber der Autorität par excellence, gegenüber dem Wort Gottes unter der Bedingung, daß Gott nur durch diesen 30
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Verantwortung als Sinnfrage
Das möchte ich festhalten, dass man bei Levinas streng genommen nur vor Gott verantwortlich ist, 32 verantwortlich zwar für die Verantwortung seiner Mitmenschen, aber doch verantwortlich vor Gott. Prima vista hat das kaum einen Effekt, da Gott für Levinas ja absolut unbegreiflich ist. Doch in dem Maße, in dem diese Verantwortung auf Gott zurückgeht, enthält sie auch ein Gebot der Wachsamkeit. Man trägt sie schließlich deshalb, weil Gott der Freiheit des Menschen diese Bedeutung auferlegt hat, füreinander verantwortlich zu sein. Ihr gerecht zu werden heißt daher auch, ihr so gerecht zu werden, wie Gott sie einem gegeben hat, nämlich als Verantwortung für dasjenige, was Gott in den Menschen hineingelegt hat. Das göttliche Gebot zur Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen zu befolgen heißt von daher, die Verantwortung für deren Verantwortung zu übernehmen. Das macht einen großen Unterschied: ob ich nur die Verantwortung für meine Mitmenschen trage oder ob ich dabei zugleich verpflichtet bin, über das ihrerseits übernommene Maß an Verantwortung zu richten, und zwar gerade so, wie Gott es tät, der mir diese Verantwortung vor-ursprünglich auferlegt hat. 33 Dort, wo ich zwar die Verantwortung für sie trage, jedoch ohne die Pflicht, sie auch zu richten, stellt sich nämlich die Frage der Gerechtigkeit nicht; wo mir diese Pflicht allerdings obliegt, dort bin ich dem humanistischen Gedanken verbunden, dass eine bessere Menschheit möglich ist. 34 Für Levinas ist dieser Gedanke als sich stets erneuernde Verantwortung zu denken, an der Schnittstelle zwischen Humanismus und
gehorsam genannt wird.« (Levinas, Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit. In: ders., ZU, 167–193, hier: 188, 190). 32 Vgl. hierzu etwa: Levinas, Menschwerdung Gottes? In: ders., ZU 73–82, hier: 78. 33 Zu Levinas’ Begriff einer Pflicht, über seine Mitmenschen so zu richten, wie Gott es täte, vgl. auch Jakub Sirovátkas Beitrag Leben in Verantwortung in dem vorliegenden Band. Sirovátka betont, dass der Mensch nach Levinas durch die Tatsache definiert ist, so handeln zu müssen, als wäre er Gott, und beruft sich dabei unter anderem auf folgende Textpassage aus Levinas’ Schrift Schwierige Freiheit: »Gerade die Tatsache sich der Last, die das Leid der anderen auferlegt, nicht zu entziehen, definiert die Selbstheit. Alle Personen sind Messias. […] Und das bedeutet konkret, daß jeder so handeln muß, als wäre er der Messias.« (Levinas, SF 94 f.) 34 Levinas spricht im Zusammenhang der Verantwortung für die Verantwortung seiner Nächsten auch von einer »Unterwerfung in der Verpflichtung auf das Gute.« (JS 280/AQ 162).
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Max Brinnich
Anarchie, 35 also im Sinne des Aufbruchs zu einer besseren Menschheit, ohne die Verbindlichkeit einer Zielvorstellung. 36 Das heißt: sich der Verantwortung unterwerfen, als Individuum im Sinne der gesamten Menschheit zu handeln, und doch nicht wissen, was dies bedeutet und die höhere Instanz, die diese Verantwortung eigentlich implizieren würde, nicht einmal zu kennen. In nuce, so Levinas’ Gedanke, muss man sich im Bereich des Zwischenmenschlichen an einer Jenseitsvorstellung orientieren und versuchen, sich selbst und seine Nächsten an einer absolut lebensfernen höheren Instanz zu messen, die nach Levinas, wie hier gezeigt werden konnte, erst darüber entscheidet, inwieweit das eigene Leben auf einer metaphysischen Ebene eine Sinnerfüllung erfährt, inwieweit man selbst zum Metaphysiker wird. Um die Frage zu beantworten, was es bedeutet, ein von Sinn erfülltes Leben zu führen, muss man sich nach Levinas somit einfach nur die Frage stellen, wer im Diesseits bereit ist, seinen Platz an der Sonne dem Wohl seiner Nächsten zu opfern. 37 Anschauliche, eher positiv konnotierte Beispiele dessen, was er sich darunter vorstellt, liefert Levinas zur Genüge: sich für die Armen aufopfern, das Brot von den eigenen, hungrigen Lippen reißen oder den Mantel von den kalten Schultern, 38 sich für den Anderen verneinen, sich selbst fremd werden, 39 ihm stets auch die andere Wange hinhalten und für seine Nächsten die Verantwortung übernehmen, 40 auch und besonders im Falle ihres Todes, 41 für sie bluten und sie in das eigene Haus aufnehmen, jederzeit gastfreundlich sein oder eben 35 Vgl. zu dieser Thematik Levinas’ Aufsatz Humanismus und An-archie. In: ders., HAM/HAH. 36 Paradigmatisch für diese Vorstellung eines Aufbruchs ohne Ziel bei Levinas ist dessen Rezeption des Odysseus-Mythos gegen den derselbe die Erzählung Abrahams stark macht stark macht, dessen Tun sich dadurch auszeichnet, »darauf zu verzichten, die Ankunft am Ziel zu erleben, zu handeln, ohne das gelobte Land zu betreten« (Levinas, SpA 216 f./DEHH 191 f.) 37 Vgl. zur Infragestellung des eigenen Platzes an der Sonne bspw. Levinas TU 188. 38 Vgl. Levinas JS 133 f./AQ 71 f. u. ö. 39 Vgl. hierzu bspw. Levinas JS 207/AQ 117. 40 Vgl. Levinas JS 246 f./AQ 141 f. u. ö. 41 Levinas verfolgt hier den Gedanken einer vor-ursprünglichen Verantwortung für die Alterität, welche die Menschen auszeichnet und die über die Endlichkeit der einzelnen menschlichen Existenz hinausgeht. Man kann vor diesem Hintergrund sagen, dass der Tod des Anderen, verstanden als dessen Endlichkeit, genau genommen jenes Moment ist, für das der Mensch bei Levinas eigentlich die Verantwortung übernimmt (vgl. hierzu Levinas, Diachronie und Repräsentation, ZU 204; vgl. zur Pflicht gegenüber den Toten bei Levinas auch: ders., GZ 94).
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Verantwortung als Sinnfrage
seinen Platz an der Sonne opfern. Daneben finden sich in Levinas’ Werk aber auch Beispiele, die heutzutage vielleicht weniger positiv konnotiert sind und mitunter befremden. Die Rede ist von seinen Ausführungen zur Sanktion der Ungerechtigkeit, dem Krieg gegen den Krieg, zu dem die Pflicht zu richten, wie Gott es täte, 42 ja nicht minder auffordert. Levinas macht daraus kein Geheimnis: Gerechtigkeit und Strafe stehen für ihn auf derselben Ebene, in einem Atemzug, fragt er sich, wie es dazu kommt, dass man zu Strafe imstande ist, und präzisiert sogleich »Wie kommt es, daß es Gerechtigkeit gibt?« 43 Zwar bräuchten wir, wie er an anderer Stelle betont, »eine Gerechtigkeit ohne Henker«, doch können wir an dieser Vorstellung nicht festhalten: »Doch hier verschärft sich das Drama. Abscheu vor dem Blut, Gerechtigkeit des Friedens und der Sanftmut, diese notwendige und fortan einzig mögliche Gerechtigkeit – schützt sie den Menschen, den sie retten will? Denn es ist ein breiter Weg, der den Reichen offensteht! […] Für die Starken bleibt die Welt komfortabel. Vorausgesetzt, sie haben gute Nerven. Die Entwicklung der Gerechtigkeit kann nicht zu jener Ablehnung jedweder Gerechtigkeit führen, zu jener Verachtung des Menschen, dem sie Respekt verschaffen will.« 44 Was hier zum Vorschein kommt, ist die Kehrseite jener Tugenden, die Levinas so ausdrücklich lobt: der Schutz der Armen und die unbedingte Gastfreundlichkeit machen eine Sanktionsgewalt erforderlich, zumindest und besonders dann, wenn man nicht nur für sich selbst die Verantwortung trägt, sondern auch die Verantwortung für die Verantwortung der Anderen. Was das heißt, lässt sich mit Blick auf das Buch Ezekiel sehr gut erahnen. Dort wird diese Gewalt nämlich gerade im Kontext jener von Levinas ins Zentrum gerückten Tugenden besprochen, sodass es kein Zufall zu sein scheint, wenn Levi-
»Über die eigene Freiheit hinaus verantwortlich zu sein heißt gewiß nicht, ein bloßes Resultat der Welt zu bleiben. Das Universum tragen – erdrückender Auftrag, aber göttliche Mühsal.« (Levinas JS 272/AQ 157). 43 Emmanuel Levinas, Antlitz. In: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, aus d. Franz. von Dorothea Schmid, hg. v. Peter Engelmann, Graz 1986, 68. 44 Emmanuel Levinas, Das Gesetz der Wiedervergeltung (1963). In: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, hg. v. Pascal Delhom und Alfred Hirsch, Zürich 2007, 173–176, hier: 175. Zum Zwiespalt zwischen der gerechten Gewalt und der ungerechten Gewaltlosigkeit vgl. Stephan Strasser, Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Levinas’ Philosophie, Den Haag 1978, 363. 42
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nas sein Spätwerk Jenseits des Seins einleitend aus diesem Buch die folgende Passage zitiert: »Und der Ewige sagte zu ihm: ›Geh mitten durch die Stadt, mitten durch Jerusalem und mache ein Zeichen auf die Stirn der Männer, die seufzen und klagen wegen all der Greueltaten, die in ihr begangen werden.‹ Und zu den anderen sagte er vor meinen Ohren: ›Geht durch die Stadt hinter ihm her und schlagt zu. Bleibt hart und habt kein Mitleid. Greise, Jünglinge und Mädchen, Kinder und Frauen, tötet sie, macht sie nieder, die aber das Zeichen tragen, rührt nicht an, und beginnt mit meinem Heiligtum.‹« 45 Zwar ist es mir an dieser Stelle persönlich leider nicht möglich, diese Textpassage in religionswissenschaftlicher Hinsicht auch nur ansatzweise richtig einordnen zu können. Ich denke aber, dass dennoch schwer von der Hand zu weisen ist, dass der Gedanke eines gerechten Krieges zumindest in Levinas’ Spätwerk überaus präsent ist, ja, dass dieser Gedanke dieses Buch sogar wie ein roter Faden durchzieht. Jenseits des Seins endet in thematischer Hinsicht schließlich exakt dort, wo es beginnt: »Für das bißchen Menschlichkeit, das die Erde ziert, braucht es eine Seinsschwäche zweiten Grades [= eine Seinsschwäche, die über die bloße Abscheu gegen die mit dem sein verbundene Gewalt hinausgeht, MB]: im gerechten Krieg, der gegen den Krieg geführt wird, unablässig zittern – ja schaudern gerade um dieser Gerechtigkeit willen. Es braucht diese Schwäche. Es brauchte dieses Schwachwerden des Mannhaften, das nicht Feigheit ist, für das bißchen Grausamkeit, das unsere Hände verweigert haben.« 46 Dieser Aspekt in Levinas’ Philosophie – der gerechte Krieg – wird in der Forschung oft übersehen, was erstaunlich ist, weil er zeigt, dass Levinas’ Konzeption einer Ethik als Metaphysik, welche die metaphysische Sinnerfüllung des einzelnen Menschen ins Zentrum rückt, einerseits sehr konkrete praktische Implikationen hat und andererseits verdeutlicht, dass Levinas bestimmten ethischen Vorstellungen – wie etwa dem gerechten Krieg, aber auch dem Talionsgesetz 45 Zitiert in: Levinas, JS 8/AQ 8. Vgl. hierzu, die sehr treffende Analyse von John Llewelyn: »We must be watchful of the fact that Ezekiel is a watchman. This is what we are reminded of by the statement in the verse that Levinas adapts as his first epigraph: ›he shall die; because thou hast not given him warning‹. Not even the scales of justice can take from me the balance of responsibility that cannot be taken lightly, the weight (kabod) that is also glory and image. The computability of innocence and guilt with a view to judgement does not take the onus of final judgement from me.« (John Llewelyn, Emmanuel Levinas. The genealogy of ethics, London 1995, 189) 46 Levinas, JS 294 f./AQ 232.
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Verantwortung als Sinnfrage
– mitunter weit weniger abgeneigt ist, 47 als man auf ersten Blick vermuten möchte. Es geht daraus aber auch hervor, dass Levinas sich trotz einer ähnlich rigorosen Konzeption der Ethik doch weit vom Inhalt der kantischen Moralphilosophie entfernt. Für ihn führt der Weg zur Moralität eben nicht über die Aufklärung und die damit verbundene Konzentration auf das menschliche Vermögen, das Diesseits zu verstehen. 48 Im Gegenteil liegt der Schlüssel für eine verantwortungsbewusste und sinnerfüllte Lebensweise seiner Ansicht nach im festen Blick auf das Jenseits sowie in dem unermüdlichen Bemühen, den Horizont des je eigenen Daseins für das Gute infrage zu stellen. Dies kann, etwa im Falle eines Krieges gegen den Krieg, dann auch das bewusst eingegangene Risiko eines schlechten Gewissens miteinschließen.
Vgl. zu dieser Thematik auch Llewelyn, Emmanuel Levinas, 188–191. Kant bezeichnet den Krieg bekanntlich rigoros als »Quell aller Übel und Verderbniß der Sitten« (Streit der Fakultäten, AA VII, 86). Vgl. hierzu auch Beobachtungen über das Gefühl des Schönen u. Erhabenen (1764), AA XX, 106.
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Norbert Fischer
Zur »Person eines jeden andern« im Denken Immanuel Kants Vor dem Hintergrund der ›Heteronomie‹ bei Levinas und dem ›Seinsdenken‹ bei Heidegger Abstract: Die Rückführung des uns begegnenden Vielen auf ein einziges Prinzip war und ist verlockend. Gegen die alte Tendenz zur ›Henologie‹ hat Emmanuel Levinas die Aufmerksamkeit auf ›das Andere‹ und ›die Anderen‹ gelenkt und eine neue Lektüre früherer Autoren angeregt, die hier im Blick auf Kant und Heidegger versucht wird. Dabei werden das von Kant betonte ›Primat der praktischen Vernunft‹, der ›göttliche Grund der Würde des Menschen‹ und der ›Friede‹ als ›Ideal einer menschlichen Gemeinschaft‹ ins Auge gefasst. Ziel ist es, Emmanuel Levinas als Gesprächspartner im Blick auf die zentralen Themen der ›abendländischen Philosophie‹ und der ›christlichen Theologie‹ hervortreten zu lassen.
Die ›Anderen‹ spielen als ›freie Personen‹ in Augustins Auslegung Gottes als reiner Liebe 1 für das Ziel der Schöpfung in einer ›civitas dei‹ und für die Aufgabenstellung der Moral mit dem pluralischen Imperativ: »ut omnia sint ordinatissima« (lib. arb. 1,15) eine fundierende Rolle. Emmanuel Levinas stimmt im späten Rückblick explizit der praktischen Philosophie von Immanuel Kant und dessen These vom ›Primat der praktischen Vernunft‹ zu, die keinen »Formalismus« impliziert, dem Max Scheler seine ›materiale Wertethik‹ entgegengesetzt hat. Im Kontext solcher Fragen wird hier die grundlegende
1 Norbert Fischer: Amore amoris tui facio istuc. Zur Bedeutung der Liebe im Leben und Denken Augustins. Darin Hinweise auf Heideggers Wort »amo: volo, ut sis«. Zu beachten wären die Lehren von der göttlichen ›Trinität‹ und der ›Schöpfung‹ vieler Personen mit freier Willensentscheidung (vgl. De libero arbitrio). Zum Blick auf die ›civitas dei‹ vgl. auch Confessiones 11,3. Augustinus folgt nicht Plotins ›Henologie‹, sondern arbeitet an einer reflektierten personalen ›Heterologie‹. Vgl. Norbert Fischer: Sein und Sinn der Zeitlichkeit im philosophischen Denken Augustins.
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Norbert Fischer
Rolle der ›Anderen‹ für die praktische Philosophie Kants im Gespräch mit Levinas und Martin Heidegger untersucht. Wie der ›Neukantianer‹ Paul Natorp zu Beginn des 20. Jahrhunderts (also nach Nietzsche) einen neuen Zugang zu Platos Ideenlehre in einer Fortführung der Philosophie Kants gefunden hat, 2 so ist es möglich, im Ausgang von Fragen, die Levinas ins Bewusstsein gehoben und untersucht hat, neue Zugänge zu den ›großen Philosophen‹ zu suchen, zum Beispiel zu Immanuel Kant. Zu beachten ist im Blick auf Kant der Anknüpfungspunkt, den Levinas selbst betont hat, nämlich die These vom ›Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen‹ (KpV A 215–219), wozu Levinas einen immer noch wenig beachteten Aufsatz verfasst hat. 3 Die von Levinas zunehmend betonte Nähe zu Kant lenkt den Blick auch auf andere Fragen, die in der Kantforschung zuweilen übersehen werden, aber dennoch wesentlich zur Auslegung der Philosophie von Kant gehören. Nachdem die Nähe der Ansätze dieser beiden Autoren in den Fokus gerückt ist, können weitere Fragen verfolgt werden, die ihrem Denken entwachsen und der wechselseitigen Klärung dienen. Bernhard Casper, Freund und Kenner von Levinas, hat 1995 zu diesem Thema erklärt: »Soweit mir bekannt ist, wurde über das Verhältnis von Levinas zu Kant bis jetzt nicht ausdrücklich gearbeitet, obwohl man allgemein um die Bedeutung dieses Verhältnisses weiß.« 4 2 Der Neukantianer Paul Natorp sagt in Platos Ideenlehre (»Zur zweiten Auflage«), XII: »Für mich steht schon seit langem die Arbeit an Plato in genauem Zusammenhang mit der an meiner eigenen Philosophie. Ich vermöchte nicht zu sagen, ob mehr das tiefere Durchdenken der Systemfragen mir zum reineren Verständnis Platos geholfen hat, oder umgekehrt. Mein Glaube aber ist, daß dies das Schicksal nicht bloß meiner, sondern der Philosophie ist.« 3 Vgl. Levinas: Le primat de la raison pure pratique/Das Primat der reinen praktischen Vernunft. Erstveröffentlichung des französischen Originaltextes; mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Jakub Sirovátka. 4 In der Antwort auf ein Anschreiben von Norbert Fischer vom 15. 12. 1995 mit Schreiben vom 21. 12. 1995. Vgl. hierzu auch das Interview, das Bernhard Casper mit Levinas geführt hat: Geisel für den Anderen. Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas. Manuskript und Gesprächspartner Bernhard Casper. Genauer heißt es in der genannten Antwort von Bernhard Casper: »Soweit mir bekannt ist, wurde über das Verhältnis von Levinas zu Kant bis jetzt nicht ausdrücklich gearbeitet, obwohl man allgemein um die Bedeutung dieses Verhältnisses weiß und auch auf Kongressen immer wieder einmal darüber spricht. Daß Sie diese Frage aufarbeiten wollen, ist sicher sehr verdienstlich. Im Grunde ist es auch leicht. Denn man kann durch die guten Register der deutschen Levinas-Übersetzungen ja jetzt ohne Mühe die Stellen finden, an denen sich Levinas ausdrücklich auf Kant bezieht. Sehr wesentlich ist hier
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Zur »Person eines jeden andern« im Denken Immanuel Kants
Anregend war die Monographie von Catherine Chalier, die Kant und Levinas zusammen ins Auge gefasst hat (1998), 5 auch wenn sie den Text von Levinas zum Primat der reinen praktischen Vernunft nicht beachtet – vielleicht, weil er ihr nicht bekannt war. Die These, dass man »allgemein um die Bedeutung dieses Verhältnisses« wisse, ist offenbar erläuterungsbedürftig. Der Aufsatz von Levinas mit dem Titel Le primat de la raison pure pratique aus dem Jahr 1970 betrifft das Verhältnis der beiden Autoren, ist zudem erstmals 2004 im französischen Original erschienen (zusammen mit der deutschen Übersetzung und einem Kommentar von Jakub Sirovátka). Die Erstveröffentlichung des Textes von Levinas hatte in niederländischer Übersetzung des französischen Typoskripts durch C. P. HeeringMoorman 1970–71 den Titel: Het primaat van de zuivere praktische rede; B. Billings hat den Text 1998 dann ins Englische übersetzt und veröffentlicht: The primacy of pure practical reason (translation and annotations). 6 Der Originaltext von Levinas, der also erst 2004 publiziert wurde, ist ein Hauptbezugspunkt der folgenden Untersuchung, in der die Bedeutung des ›Anderen‹ für die praktische Philosophie von Kant ins Auge gefasst wird. Angeregt von einer persönlichen Begegnung 1990 in Paris 7 und der in Paderborn durchgeführten Levinas-Lektüre zu Totalité et Infini (1992–1995) entstand das mit Dieter Hattrup verfasste Buch Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas. Am »Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie« (Katholische Universität Eichstätt) hat danach die Zusammenarbeit mit Ja-
natürlich die 2. Fassung des kategorischen Imperativs und die These vom Primat der reinen praktischen Vernunft in Verbindung mit der spekulativen.« Ob die nötigen Untersuchungen leicht zu bewerkstelligen sind, mag eine andere Frage sein. Vgl. dazu die Arbeiten von Norbert Fischer, Jakub Sirováka und Max Brinnich; neuerdings Christian Rößner: Der »Grenzgott der Moral«. Eine phänomenologische Relektüe von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas. 5 Catherine Chalier: Pour une morale au-dela du savoir. Kant et Levinas. 6 Bibliographische Angaben und weitere Hinweise in N. Fischer (Hg.): Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, 203. 7 Damals hörte Levinas unerwartet den Vortrag Gott und Mensch in der Zeitbetrachtung des Cusanus zur interdisziplinären Forschungstagung ›Alltagserfahrung und religiöse Erfahrung‹ (22.–24. März 1990; in der Maison des Sciences de l’Homme, Paris). Danach sprach Levinas den Referenten auf diesen Vortrag an und berichtete Persönliches zu sich und seiner Frau. Vortrag auf Einladung von Bernhard Casper. Gehalten am 22. März 1990.
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kub Sirovátka das Studium zum Denken von Levinas zusätzlich befördert. 8 In einem gemeinsam herausgegebenen Band mit dem Titel: »Für das Unsichtbare sterben«. Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Levinas heißt es: 9 »Levinas betont schroff den Gegensatz […] zur Fundamentalontologie Heideggers. Es geht ihm nicht um die Erschlossenheit des Seins […], er bestreitet den heideggerschen Primat der Ontologie […], er sieht in der Ontologie als Erster Philosophie eine Philosophie der Macht […], er klagt sie als Philosophie der Ungerechtigkeit an […] und erklärt, Heidegger ordne das Verhältnis zum Anderen dem Bezug zum Sein unter – im Gehorsam gegenüber dem Anonymen […]. Er meint, sich Heidegger radikal entgegenstellen zu müssen, weil dieser die Beziehung zum Anderen der Ontologie unterordne (TI, 61)«. Dort ist der Blick auf Heideggers Metaphysikkritik noch zögerlich (vgl. dort N. Fischer: Ethik und Gottesfrage, 41): »Was Levinas zur Kritik getrieben hat, ist klar und nachvollziehbar. Ob er mit ihr Heidegger trifft, ist eine andere Frage, weil es möglich ist, daß Heideggers Denken, das vom Sein des Daseins ausgeht, wie es zunächst und zumeist und immer schon ist, und von dort auf den Sinn von Sein zugeht, am Ende also doch offener ist, als Levinas es wahrnimmt.« Das strukturelle Defizit von Heideggers ›Daseinsanalytik‹ in Sein und Zeit (= SuZ) ist so unleugbar, dass schon Levinas es mit Recht beklagt; es ist im Blick auf die Gottesfrage offenkundig, zumal Heidegger deren ausgeführte Darstellung nachträglich aus SuZ entfernt und im Hause von Karl Jaspers verbrannt hat (im Anschluss an die Nachricht vom Tod Rainer Maria Rilkes). 10 Indem Levinas sich für die Gottesfrage offenhält, bewegt er sich in der Kritik an Heidegger auf den Spuren des frühen Heidegger, der seit Beginn der 20er Jahre
8 Vgl. Jakub Sirovátka: Der Leib im Denken von Emmanuel Levinas. Ders.: Das Sollen und das Böse in der Philosophie Immanuel Kants Zum Zusammenhang zwischen kategorischem Imperativ und dem Hang zum Bösen. 9 Vgl. N. Fischer: Ethik und Gottesfrage. Zwei Zentren im ersten Hauptwerk von Emmanuel Levinas (›Totalité et Infini‹), a. a. O., 25–42, hier 40 f., vgl. dazu 28: »Die Levinassche Metaphysik ist durch viele Fegefeuer gegangen – und so auch durch das Fegefeuer von Kants und Heideggers Kritik.« 10 N. Fischer: Zum Sinn von Kants Grundfrage: »Was ist der Mensch?« Das Verhältnis der kritischen Philosophie Kants zur antiken Metaphysik und Ethik (im Blick auf Platon, Aristoteles und Augustinus und mit einem Nachtrag zu Heidegger). Offenbar wurde Heidegger von der Wucht von »Nietzsches Wort: ›Gott ist tot‹« erfasst und mitgerissen (vgl. GA 5,209–267).
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seine ursprünglichen Absichten zunehmend preisgegeben hat. 11 Die Hinweise in SuZ sind zwar nicht ganz eindeutig, lassen sich aber plausibel in Richtung der Gottesfrage auslegen, die dort nach der Vernichtung fast nur im Modus der Defizienz präsent ist. Gemäß dem Aufriß der Abhandlung »zerfällt« der erste Teil »in drei Abschnitte« (SuZ 39). Zum Inhalt des verbrannten dritten Abschnitts unter dem Titel »Zeit und Sein« bietet der Text zunächst keine klaren Erläuterungen. Immerhin lassen sich Indizien anführen, die Licht auf diese defizitäre Seite von SuZ werfen und überdies mit den von Levinas geäußerten kritischen Bedenken korrespondieren. Heidegger war ein intensiver Augustinus-Leser, aber für lange Zeit als solcher kaum bekannt. 12 Zwar waren die frühen Vorlesungen nicht völlig verborgen geblieben, liegen einem breiteren Publikum aber erst seit 1995 vor (Martin Heidegger Gesamtausgabe: Band 60: Phänomenologie des religiösen Lebens). Erst dort erschien die ›Frühe Freiburger Vorlesung‹: Augustinus und der Neuplatonismus, die Heideggers Vertrautheit mit Augustinus bezeugt. 13 Wichtige Hinweise zu Heideggers Beziehung zur Theologie hat außer dem erwähnten Karl Lehmann Bernhard Casper gegeben. 14 Vgl. dazu N. Fischer (in Vorbereitung): Zur Bedeutung der Person des Anderen in der praktischen Philosophie Kants. 12 Als einer der ersten hat Karl Lehmann nachdrücklich auf diese Seite Heideggers hingewiesen; vgl. Karl Lehmann: Christliche Geschichtserfahrung und ontologische Frage beim jungen Heidegger. Zunächst in der philosophischen Dissertation an der Gregoriana, Rom 1962 (publiziert jedoch erst Mainz 2003); dann im PhJb 74, 1966, 126–153; Nachdruck 1969 in Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks. 13 Durch die Auslegung des zehnten Buchs der Confessiones; vgl. Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens. GA 60; 157–299. 14 Vgl. Bernhard Casper: Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909–1923. Casper erklärt (535): »Aufgrund solcher Hinweise ist denn auch immer wieder von dem Verhältnis gesprochen worden, in dem der junge Heidegger zu der Theologischen Fakultät in Freiburg stand; ohne daß dieses Verhältnis freilich in seiner geschichtlichen Konkretion deutlicher faßbar gemacht wurde. Es soll deshalb im folgenden der Versuch unternommen werden, die insbesondere aus dem Freiburger Universitätsarchiv erhebbaren Daten zusammenzutragen, die dieses Verhältnis betreffen. Dabei soll freilich von Anfang an klargestellt werden, daß in der Geschichte des Denkens die historisch erhebbaren Daten nur einen Vordergrund darstellen. In die Bedeutung des historisch Erhobenen kann nur die Interpretation eindringen, die ihrerseits nie ohne Interesse an der Zukunft geschieht.« Casper schließt mit dem Abdruck von Heideggers Brief vom 9. Januar 1919 an Engelbert Krebs. In diesem Brief, der Heidegers innere Zerrissenheit bekundet, heißt es u. a. (541): »Sehr verehrter Herr Professor! Die vergangenen zwei Jahre, in denen ich mich um eine prinzipielle Klärung 11
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Norbert Fischer
Insgesamt wird die Verwurzelung Heideggers im ›katholischen Milieu‹ überaus deutlich; allerdings bleibt unklar, was zur Ablösung von den vormals als wesentlich gedachten Fragen geführt hat. Während der Arbeit an SuZ, welches Werk 1927 erschien, war Heidegger zunächst an der dreistufigen Aufgabenstellung der theoretischen Philosophie orientiert, die deutlich schon von Augustinus 15 und später von Kant 16 zur Sprache gebracht worden war und summarisch die Aufgabenbereiche »Welt«, »Seele« und »Gott« betrifft. Diesem Duktus entspricht der ursprüngliche Gesamtaufbau von SuZ (39 f.: »§ 8. Der Aufriß der Abhandlung«). Gegen Ende der Ausarbeitung war der Teil, der im ›Aufriß‹ noch unter dem Titel »Zeit und Sein« angemeiner philosophischen Stellungnahme mühte u. jede wissenschaftliche Sonderaufgabe beiseiteschob, haben mich zu Resultaten geführt, für die ich, in einer außerphilosophischen Bindung stehend, nicht die Freiheit der Überzeugung u. der Lehre gewährleistet haben könnte. // Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie geschichtlichen Erkennens haben mir das System des Katholizismus problematisch u. unannehmbar gemacht – nicht aber das Christentum und die Metaphysik (diese allerdings in einem neuen Sinne). // Ich glaube zu stark – vielleicht mehr als seine offiziellen Bearbeiter – empfunden zu haben, was das katholische Mittelalter an Werten in sich trägt u. von einer wahrhaften Auswertung sind wir noch weit entfernt. Meine religionsphänomenologischen Untersuchungen, die das m. A. stark heranziehen werden, sollen statt jeder Diskussion Zeugnis davon ablegen, daß ich mich durch eine Umbildung meiner prinzipiellen Standpunktnahme nicht habe dazu treiben lassen, das objektive vornehme Urteil u. die Hochschätzung der katholischen Lebenswelt einer verärgerten u. wüsten Apostatenpolemik hintanzusetzen. Daher wird mir auch in Zukunft daran liegen, mit katholischen Gelehrten, die Probleme sehen und zugeben u. in andersartige Überzeugungen sich hineinzufühlen imstande sind, in Verbindung zu bleiben. Es ist mir daher besonders wertvoll – u. ich möchte Ihnen recht herzlich dafür danken – daß ich das Gut Ihrer wertvollen Freundschaft nicht verliere. Meine Frau, die sie erst besucht hat, und ich selbst möchten das ganz besondere Vertrauen zu Ihnen bewahren. Es ist schwer zu leben als Philosoph – die innere Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber u. mit Bezug auf die, für die man Lehrer sein soll, verlangt Opfer u. Verzichte u. Kämpfe, die dem wissenschaftlichen Handwerker immer fremd bleiben. // Ich glaube, den inneren Beruf zur Philosophie zu haben u. durch seine Erfüllung in Forschung u. Lehre für die ewige Bestimmung des inneren Menschen – u. nur dafür das in meinen Kräften Stehende zu leisten u. so mein Dasein u. Wirken selbst vor Gott zu rechtfertigen.// Ihr von Herzen dankbarer Martin Heidegger«. 15 Zu Augustinus sei hier auf Confessiones 3,11 verwiesen: »tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo.« Vgl. dazu N. Fischer: Augustins Weg der Gottessuche (›foris‹, ›intus‹, ›intimum‹). Weiterhin N. Fischer: foris-intus. 16 Zu den Grundfragen von Immanuel Kant vgl. KrV B XXX; Logik (A 25 = AA 9, 25): »1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?« Zur Diskussion noch einmal N. Fischer: Zum Sinn von Kants Grundfrage: »Was ist der Mensch?«
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Zur »Person eines jeden andern« im Denken Immanuel Kants
kündigt war, für Heidegger so problembeladen geworden, daß er verbrannt wurde, obwohl er abgeschlossen war. Konzipiert ist der Aufbau von SuZ mit Augustinus und Kant also unter den Titeln ›Welt‹ (in-der-Welt-sein des Daseins), ›Seele‹ (eigentliches Selbstsein des Daseins) und ›Gott‹ (unendliche Zeitlichkeit). Im ersten Abschnitt (Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins) untersucht Heidegger »Das In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins« (›Welt‹), im zweiten sodann »Das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins und die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge« (›Seele‹). Zum fehlenden dritten Abschnitt gibt es immerhin eine unscheinbare Fußnote, die FriedrichWilhelm von Herrmann als versteckten, bewusst gesetzten Hinweis zum fehlenden dritten Abschnitt versteht. 17 In § 81. Die Innerzeitigkeit und die Genesis des vulgären Zeitbegriffes (SuZ 420–428) findet sich am Ende (wie aus heiterem Himmel) eine überraschende, ungelöste (unlösbare) Fragen hervorrufende These zum Ursprung der Zeitlichkeit (SuZ 427): »Das Jetzt geht nicht schwanger mit dem Noch-nicht-jetzt, sondern die Gegenwart entspringt der Zukunft in der ursprünglichen ekstatischen Einheit der Zeitigung der Zeitlichkeit.« 18 Eine erratische Fußnote dazu weist insgeheim auf den Inhalt des fehlenden Abschnitts »Zeit und Sein«, der nach ›Welt‹ und ›Seele‹ nun ›Gott‹ (als Ursprung der Zeitlichkeit) zum Thema hätte haben sollen (SuZ 427): »Daß der traditionelle Begriff der Ewigkeit in der Bedeutung des ›stehenden Jetzt‹ (nunc stans) aus dem vulgären Zeitverständnis geschöpft und in der Orientierung an der Idee der ›ständigen‹ Vorhandenheit umgrenzt ist, bedarf keiner ausführlichen Erörterung. Wenn die Ewigkeit Gottes sich philosophisch ›konstruieren‹ ließe, dann dürfte sie nur als ursprünglichere und »unendliche« Zeitlichkeit verstanden werden. Ob hierzu die via negationis et eminentiae einen möglichen Weg bieten könnte, bleibe dahingestellt.« Indem Heidegger hier auf das Augustinisch und Dionysisch fundierte, im Mittelalter verbreitete Schema von »via affirmativa«, »via negativa« und »via eminentiae« anspielt, gibt er einen klaren, wenn-
Dieser Hinweis Heideggers ist, wie F.-W. von Herrmann mir gegenüber berichtet hat, nur mündlich an ihn als damaligem Privatassistenten Heideggers erfolgt; ebenso mündlich hat F.-W. von Herrmann diesen Hinweis weitergegeben. 18 Vgl. dazu N. Fischer: Was ist Ewigkeit? Ein Denkanstoß Heideggers und eine Annäherung an die Antwort Augustins. 17
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gleich versteckten Hinweis, dass der verbrannte dritte Abschnitt die ›Gottesfrage‹ zum Thema hatte, und vergegenwärtigt dessen Aufgabe wenigstens im Modus der Defizienz. Weitere Klarheit verschafft schließlich ein Brief an Max Müller vom 4. 11. 1947. Nach recht freundlichem Anfang des Briefwechsels im September 1930 und einer längeren Pause beginnt die bedeutsame Korrespondenz nach Kriegsende mit Max Müllers überschwenglichem Brief zu dem mit Bernhard Welte im September 1947 durchgeführten Besuch bei Heidegger in Todtnauberg. 19 Müller hatte an Heidegger zum Verhältnis von »homo religiosus und philosophicus« geschrieben (12) und auch zur ›ontologischen Differenz‹ (10). Heidegger verknüpft in seiner Antwort beide Fragen und fügt eine erstaunliche Bemerkung hinzu (15): »Was Sie von der ontologischen Differenz sagen, trifft. Darum spreche ich möglichst wenig davon. Die Gefahr, fehl zu denken, ist hier besonders groß. In der ersten Ausarbeitung des III. Abschnittes des I. Teils von Sein und Zeit, wo die Kehre zu »Zeit und Sein« sich vollzieht, nannte ich das Gemeinte die »transzendenzhafte Differenz« in Bezug auf die transzendentale (ontologische im engeren Sinn) und die transzendente (theologische) Differenz. Der Titel war eine Verlegenheit wie der ganze damalige Versuch, der mit der onto-theologischen Basis der Metaphysik nicht durchkam.« Mit dieser Klarstellung im Brief an Max Müller steht die vom Autor Heidegger beabsichtigte und im Aufriss der Abhandlung ausdrücklich angekündigte inhaltliche Zuordnung der drei Abschnitte des ersten Teils von SuZ unter die überlieferten Grundfragen zu ›Welt‹, ›Seele‹ und ›Gott‹ fest. Der weitere Weg Heideggers nach der sogenannten »Kehre« (oder der differenzierteren Betrachtung seines dreistufigen Denkwegs, den von Herrmann erhellend dargestellt hat) 20 wird hier nicht betrachtet. Die Aufmerksamkeit richtet sich nun vor allem auf das Denken von Kant, das auch für Heidegger in unmittelbarem Anschluss an SuZ explizit zum Thema geworden ist, 21 aber in einer Weise, die sich von der moralorientierten Zuspitzung unterscheidet, die Levinas mit Kant gegen Heidegger befördert hat. Heidegger: Briefe an Max Müller und andere Dokumente; 9–14 (Brief Max Müllers vom 19. September 1947). 20 Vgl. F.-W. von Herrmann: Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers. 21 Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik (= GA 5) und Die Grundprobleme der Phänomenologie (= GA 24, 177–209), §13-§14: zur »Analyse der Achtung« im Blick auf die ›personalitas transcendentalis‹, ›psychologica‹ und ›moralis‹. 19
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Betrachtet werden dabei erstens Kants Überlegungen zum ›Grund‹ der unbedingten Geltung des kategorischen Imperativs, zweitens dessen Überlegungen zur »angebornen Würde des Menschen« (Metaphysik der Sitten A 68 = AA 6,420), und drittens – jedoch nur knapp – die von ihm und von Levinas gegebenen Hinweise zu einem »Reich Gottes« (›civitas dei‹).
1.
Kant und Levinas zum ›Grund‹ der unbedingten Geltung des kategorischen Imperativs
Max Scheler hat die ›Formulierung des kategorischen Imperativs‹ als »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« in § 7. der Kritik der praktischen Vernunft (A 54) für maßgebend erachtet und sie in die Nähe zum logischen ›Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch‹ gerückt. Aus dieser Perspektive lastet Scheler Kants praktischer Philosophie einen ›Formalismus in der Ethik‹ an, der auch nach Auffassung von Kant grundsätzlich verfehlt wäre, und stellt dem Formalismus seine »materiale Wertethik« entgegen. 22 Zur Erläuterung des ›Factums‹ ist Kants Anmerkung zur Heiligkeit zu beachten (vgl. KpV A 56–58, bes. 58), die »zum Urbilde dienen muss, welchem sich ins Unendliche zu nähern, das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht, und welche das reine Sittengesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen beständig und richtig vor Augen hält.« Ansonsten fehlte die moralische Relevanz: Warum soll es moralisch gut sein, nach Maximen zu handeln, die allgemeine Geltung haben können? 23 Im ›ersten Buch‹ der Kritik der praktischen Vernunft (KpV Vgl. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. Dazu N. Fischer: Epigenesis des Sinnes. Nicolai Hartmanns Destruktion einer allgemeinen Weltteleologie und das Problem einer philosophischen Theologie; Heideggers Kant-Buch ist Max Scheler gewidmet. Der schon von Hegel erhobene und von Scheler ausgeführte Formalismusvorwurf mag die Formulierung des ›Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft‹ treffen (KpV A 54), das analog dem Widerspruchsprinzip formuliert ist (Aristoteles: Metaphysik [= Mp] 1005b: τὸ γὰρ αὐτὸ ἅμα ὑπάρχειν τε καὶ μὴ ὑπάρχειν ἀδύνατον τῷ αὐτῷ καὶ κατὰ τὸ αὐτό; vgl. Reinhard Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, 11; Brandt spricht von der »Universalisierungsfalle«; vgl. auch N. Fischer: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen 158, 163 f., 168–179. 23 Die Befolgung allgemeiner Maximen könnte mit Friedrich Nietzsche auch für langweilig gehalten werden. Vom ›kategorischen Imperativ‹ ist in KpV nur an vier Stellen die Rede: A 38, A 57, A 71, A 241. Zum kritischen Ansatz Schelers vgl. N. Fi22
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A 35–191: »Die Analytik der reinen praktischen Vernunft«) handelt Kant zunächst allgemein »Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft« (KpV A 35–100). In deren Zentrum steht das ›Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft‹ und die berühmte, durch Scheler berüchtigt gewordene, ›formalistisch‹ scheinende Präsentation des ›kategorischen Imperativs‹. Diese Formel, die laut Scheler auf ›Logonomie‹ und ›äußerste Heteronomie der Person‹ hinausliefe, also ohne praktisch-moralische Bedeutung wäre, sofern sie lediglich ›Verallgemeinbarkeit der Maximen‹ zu fordern scheint, wodurch deren genuin moralische Relevanz unklar bliebe, lautet (KpV A 54): »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Schelers Auslegung verfehlt allerdings die Intentionen, wie sie in den von Kant vorgetragenen Skizzen moralisch-relevanter Situationen klar hervortreten (z. B. KpV A 54) und die den Leitsatz der Kritik der reinen Vernunft mutatis mutandis auch für die praktische Philosophie bestätigen: »Daß alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel«. 24 Zwar betont Kant häufig die »Autonomie des Willens« (z. B. KpV A 58 f., 64, 68, 156, 197, 226), aber in Zusammenhang mit etwas ›Gegebenem‹, einem »Factum«, zu dem er, »um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen«, erklärt: »daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt.« Nach Kant hat »Autonomie« stets mit »Anderen« zu tun, auch im lügenhaften »Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den [der Fürst] gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte« (KpV A 54). Zudem hatte Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den ›Grund des Prinzips‹ scher: Der formale Grund der bösen Tat. Das Problem der moralischen Zurechnung in der praktischen Philosophie Kants, bes. 28: »Aus der Stellung des reinen Vernunftwillens bei Kant ergibt sich nach Scheler ›nicht Auto-nomie (ein Wort, in dem das ›Auto‹ doch wohl auf die Selbständigkeit der Person hinweisen soll), sondern Logonomie und gleichzeitig äußerste Heteronomie der Person‹.« 24 KrV B 1; dort heißt es weiter: »Daß alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnißvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und theils von selbst Vorstellungen bewirken, theils unsere Verstandesthätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntniß der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? Der Zeit nach geht also keine Erkenntniß in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an.«
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mit dem Dasein der ›Anderen‹ in einer Weise verknüpft, daß es ein praktisches Gesetz ohne das Dasein der Anderen gar nicht gibt (GMS BA 66 = AA 4, 429): »Der Grund dieses Princips ist: die vernünftige Natur existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich nothwendig der Mensch sein eignes Dasein vor; so fern ist es also ein subjectives Princip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objectives Princip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können.« Und wenig später heißt es – ohne jede ›autistische‹ Konnotation (GMS BA 82 = AA 4,437): »Das Princip: handle in Beziehung auf ein jedes vernünftige Wesen (auf dich selbst und andere) so, daß es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst gelte«. Die Einsicht von Vernunftwesen, dass »die vernünftige Natur […] als Zweck an sich selbst« existiert, genügt zur Sicherung von ›Herrschaftswissen‹ und des theoretischen Gesetzes vom Ausschluss des Widerspruchs (Aristoteles: Metaphysik 1005b), nicht aber zur Begründung des praktischen Gesetzes. Die praktische Vernunft lenkt den Blick auch auf »andere vernünftige Wesen«, wodurch die Anderen als ›Zwecke an sich selbst‹ und ursprünglicher Grund von ›Pflichten‹ hervortreten. Die Gegenwart der Anderen ist das Zentralphänomen der praktischen Philosophie Kants, sie führt zum ›Primat der reinen praktischen Vernunft‹, wie Levinas es deutlich gemacht hat. Levinas berührt mit seinem Text Le primat de la raison pure pratique auch einige Defizite, die in der Auslegung der Philosophie Kants (und in der ›Kantforschung‹, aber auch durch Heidegger) hervortreten. Kant stand im Umkreis der Ausarbeitung von SuZ im Fokus der Fragen Heideggers (z. B. SuZ 40; weiterhin Kant und das Problem der Metaphysik aus dem Jahr 1929); zu beachten ist auch die »Marburger Vorlesung Sommersemester 1927« (publiziert 1975; GA 24): Die Grundprobleme der Phänomenologie mit verfehlten kritischen Betrachtungen zu »Kants Interpretation der personalitas moralis«. 25 Gegen die von Max Scheler und auch Heidegger beförderte Missdeutung des Ursprungs der moralischen Verpflichtung hat Levi25 Vgl. bes. § 14: Phänomenologische Kritik der Kantischen Lösung und der Nachweis der Notwendigkeit einer grundsätzlichen Fragestellung (GA 24, 199–218); vgl. dazu N. Fischer: Heideggers Auseinandersetzung mit Kant und die Zukunft der Metaphysik.
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nas mit der Betonung der Rolle des ›Anderen‹ angekämpft, die Kant allerdings schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten deutlich zum Ausdruck gebracht hatte: denn nur vermittels der Existenz der ›anderen vernünftigen Wesen‹ (weil sich nämlich »auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt«, »als Zweck an sich selbst« vorstellt) ist das ›praktische Gesetz‹ nicht nur »ein subjectives Princip menschlicher Handlungen«, sondern »zugleich ein objectives Princip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können« (GMS BA 66 = AA 4,429). Denn lediglich aus diesem Prinzip, das für Kants Philosophie im Verein mit dem »Primat der reinen praktischen Vernunft« grundlegend ist, ergibt sich der Imperativ (GMS BA 66 f. = AA 4,429): »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Schon in Totalité et infini betont Levinas dieses ›Primat des Ethischen‹ (»ce primat de l’ethique«) 26 und setzt es dem »Primat des Panoramas« (»primat du panoramique«) entgegen. 27 Der erwähnte Aufsatz von Levinas besteht aus fünf Abschnitten, die das Spektrum der Intentionen Kants von der theoretischen Philosophie über die praktische Philosophie bis hin zur Religionsphilosophie umfassen: 1 – Rien que Raison / 1. Nichts als Vernunft 2 – La raison théorétique ou spéculative / 2. Die theoretische oder spekulative Vernunft 3 – La Raison pure pratique / 3. Die reine praktische Vernunft 4 – Le primat de la raison pure pratique / 4. Das Primat der reinen praktischen Vernunft 5 – Le primat de la Raison pure pratique et la Religion / 5. Das Primat der reinen praktischen Vernunft und die Religion Ein kritischer Punkt der Deutung Kants durch Levinas mag in den Differenzen des Sprachgebrauchs zu »Autonomie« und »Heteronomie« liegen. 28 Diese Differenzen hat Max Brinnich neu betont TI 51; vgl. dazu Jakub Sirovátka: Einleitung (zu Levinas: Le primat de la raison pure pratique. Das Primat der reinen praktischen Vernunft. In: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie), 179–190. 27 TI 270; vgl. N. Fischer: Die Zeit als Problem in der Metaphysik Kants, bes. 429. 28 N. Fischer: Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft, 126; der Begriff der ›Autonomie‹ als Selbstgesetzgebung begünstigt Missverständnisse zwischen Levinas und Kant; vgl. Catherine Chalier: Pour une morale au-delà du savoir. Kant et 26
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und erklärt: »Levinas’ Autonomiebegriff ruht nicht wie derjenige Kants einer universal verbindlichen Gesetzgebung auf, sondern geht im Gegenteil auf die Heteronomie des Selbst und des Anderen zurück«. 29 Kants Einführung des Gedankens der ›Autonomie‹ muss wie sein Gebrauch bei Levinas bedacht werden. Denn bevor Kant das Wort ›Autonomie‹ in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten einführt und es der ›Heteronomie‹ entgegensetzt, 30 betont er (GMS BA 71 = AA 4,432): »Also würde das Princip eines jeden menschlichen Willens, als eines durch alle seine Maximen allgemein gesetzgebenden Willens, wenn es sonst mit ihm nur seine Richtigkeit hätte, sich zum kategorischen Imperativ darin gar wohl schicken, daß es eben um der Idee der allgemeinen Gesetzgebung willen sich auf kein Interesse gründet und also unter allen möglichen Imperativen allein unbedingt sein kann.« Kants Unterscheidung von »Autonomie« und »Heteronomie« betrifft die Frage nach dem Antrieb, der ›aus dem Willen selbst‹ stammen muß, um moralisch relevant sein zu können. 31 Kant nennt die ›Autonomie des Willens‹ in GMS erst, nachdem er »die vernünftige Natur […] als Zweck an sich selbst« ausgezeichnet hat, wobei er betont, dass dies nur »ein subjectives Princip menschlicher Handlun-
Levinas, 73–101: Autonomie et Hétéronomie. Levinas bekämpft nicht Autonomie und Freiheit, wo er zu Heteronomie spricht; TI 60: »La présence d’Autrui – hétéronomie privilégiée – ne heurte pas la liberté, mais l’investit.« Vgl. die prononcierte Darstellung bei Christian Rößner: Der »Grenzgott der Moral«. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas. 29 Dissertation an der Universität Wien: Zeit und Leben – Leben in der Zeit. Über Sinn und Bedeutung des Lebens in der Zeit bei Kant und Levinas, Ms. 23, Fn 50. 30 Vgl. GMS BA 74; 86; 87 f.; 95; 97–111; 120; 124 = AA 4,433; 439; 440; 444 f.; 446– 454; 458; 461. Modisch und unzulänglich rührt Horst Dreier an Fragen von Kant: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. 31 GMS BA 94 = AA 4,444: »Denn weil der Antrieb, den die Vorstellung eines durch unsere Kräfte möglichen Objects nach der Naturbeschaffenheit des Subjects auf seinen Willen ausüben soll, zur Natur des Subjects gehört, es sei der Sinnlichkeit (der Neigung und des Geschmacks) oder des Verstandes und der Vernunft, die nach der besonderen Einrichtung ihrer Natur an einem Objecte sich mit Wohlgefallen üben, so gäbe eigentlich die Natur das Gesetz, welches als ein solches nicht allein durch Erfahrung erkannt und bewiesen werden muß, mithin an sich zufällig ist und zur apodiktischen praktischen Regel, dergleichen die moralische sein muß, dadurch untauglich wird, sondern es ist immer nur Heteronomie des Willens, der Wille giebt sich nicht selbst, sondern ein fremder Antrieb giebt ihm vermittelst einer auf die Empfänglichkeit desselben gestimmten Natur des Subjects das Gesetz.«
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gen« sei. Nur weil sich auch »jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes« als ›Zweck an sich selbst‹ vorstelle, sei »es zugleich ein objectives Princip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können« (GMS BA 71 = AA 4,429). Dieses Prinzip hat zur Folge, daß die vernünftige Natur ›Zweck an sich selbst‹ ist; es wird aber erst durch das Dasein der Anderen als ebensolcher ›Zwecke an sich selbst‹ ein objektives, unbedingt verpflichtendes Prinzip.
2.
Kant und Levinas zum göttlichen Grund der Würde des Menschen
Ohne die Achtung der ›Anderen als Zwecke‹ an sich selbst, ohne die Anerkennung der Würde Anderer als Personen wäre das moralische Gesetz laut Kant kein ›objektives Prinzip des Willens‹. Den Begriff ›Zweck an sich selbst‹ hat Immanuel Kant in den frühen Werken nicht gebraucht, auch in der Kritik der reinen Vernunft nicht. 32 Erst in Vorlesungen der 1770er Jahre zur Metaphysik tritt das Thema bei Kant auf (Vorlesungen über die Metaphysik Pölitz 343): »c) Vom letzten Zwecke der Welt: ›Der letzte Zweck der göttlichen Schöpfung ist das höchste Gut.‹« 33 Von hier bahnte Kant sich seinen Weg, der ihn über mehrere Etappen zur ›Religionsschrift‹ führte und ihn die »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« betrachten ließ. 34 Bald 32 Vgl. aber KrV B 720 f.:: »Denn wenn man nicht die höchste Zweckmäßigkeit in der Natur a priori, d. i. als zum Wesen derselben gehörig, voraussetzen kann, wie will man denn angewiesen sein, sie zu suchen und auf der Stufenleiter derselben sich der höchsten Vollkommenheit eines Urhebers als einer schlechterdings nothwendigen, mithin a priori erkennbaren Vollkommenheit zu nähern?« 33 Vgl. weiter: Moral Mrongovius (Grundl.: 1774/75 bzw. 76/77; anonym mit späterer Bearb. von 1782 durch Mrongovius; Textabgleich mit Moral Collins): Von der Moralitaet. Von den Pflichten gegen sich selbst (AA 27,1481): »Es kann zwar der Mensch über seinen Zustand disponiren, nicht aber über seine Person, denn er ist selbst ein Zweck, und kein Mittel. Alles in der Welt, hat nur den Werth des Mittels, der Mensch aber ist nur eine Person und keine Sache, also auch kein Mittel, es ist ganz widersinnig, daß ein vernünftiges Weesen, welches ein Zweck ist, worum alle Mittel sind, sich als ein Mittel gebrauche.« Vgl. Moralphilosophie Collins (AA 27, 343). 34 Vorlesungen über die philosophische Religionslehre Pölitz 215: »Es wird auch hiebei von unserer Seite große Behutsamkeit nöthig seyn, damit wir nicht eine Naturbegebenheit für den göttlichen Zweck selbst halten, die doch nur ein Mittel entweder zu, oder eine Nebenfolge von einem höhern Zwecke ist.« Vgl. auch ebd., 135. Vgl. auch Moral Mrongovius (1774/75; AA 27,1399): »Die Klugheit ist die Fertigkeit im
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nach dem Erscheinen der KrV begann Kant also in Vorlesungen, Themen der ›Religionslehre‹ zu erörtern. 35 In einer Vorlesung von 1784 (folglich nach der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft) heißt es (Naturrecht Feyerabend; AA 27,1319): »Für den Willen des Menschen ist die ganze Natur unterworfen, soweit seine Macht nur reichen kann, außer andre Menschen und vernünftige Wesen. Die Dinge in der Natur durch Vernunft betrachtet, können nur als Mittel zu Zwecken angesehen werden, aber bloß der Mensch kann als Zweck selbst angesehen werden. Ich kann mir bei andern Dingen keinen Werth denken, als wenn ich sie als Mittel zu andern Zwecken betrachte zE: der Mond hat für uns einen Werth, sofern er die Erde beleuchtet, Ebbe und Fluth etc. hervorbringt. Das Daseyn der unvernünftigen Dinge hat keinen Werth, wenn nichts da ist, das sich dessen bedienen kann d:i: wenn kein vernünftiges Wesen sie als Mittel gebraucht.« Fragen nach ›Gott‹ (dem ›Grund der Welt‹) und ›Welt‹ (dem Inbegriff der ›Erscheinungen‹) und deren Kausalität waren im Rahmen der Frage, wie »Metaphysik als Wissenschaft möglich« ist (KrV B 22), von Anfang an zentrale Themen Kants, zu denen der moralphilosophisch fundierte ›Glaube‹ an Freiheit und Unsterblichkeit endlicher Vernunftwesen hinzutrat, der das Dasein Gottes voraussetzt und mit ihm verbunden werden musste. Diese Verbindung forderte in GMS die Lösung der Aufgabe, wie alle endlichen Vernunftwesen überhaupt als Zwecke an sich selbst zu verstehen seien – also die Untersuchung, wie diese Annahme möglich sei und welche Folgen sie hat. Mit ihr verknüpft ist die schon früh übernommene Aufgabe, »die Ehre der
Gebrauch der Mittel zum allgemeinen Zweck der Menschen d. i. zur Glückseeligkeit, es ist hier also der Zweck schon bestimmt, welches bey der Geschicklichkeit nicht ist. Zur Regel der Klugheit wird 2erley erfordert, der Zweck selbst, und denn der Gebrauch der Mittel um diesen Zweck zu bestimmen.« Vgl. dort weiterhin (AA 27,1481): »Es kann zwar der Mensch über seinen Zustand disponiren, nicht aber über seine Person, denn er ist selbst ein Zweck, und kein Mittel. Alles in der Welt, hat nur den Werth des Mittels, der Mensch aber ist nur eine Person und keine Sache, also auch kein Mittel, es ist ganz widersinnig, daß ein vernünftiges Weesen, welches ein Zweck ist, worum alle Mittel sind, sich als ein Mittel gebrauche.« 35 Auch in einer Stelle aus der Vorlesung Naturrecht Feyerabend (1784, folglich nach Erscheinen der Erstauflage der KrV) spielen die ›anderen Menschen‹ eine hervorragende Rolle; vgl. AA 27,1319: »Für den Willen des Menschen ist die ganze Natur unterworfen, soweit seine Macht nur reichen kann, außer andre Menschen und vernünftige Wesen.«
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menschlichen Vernunft« zu verteidigen. 36 Diese Aufgabe trieb Kant zur Ausarbeitung »einer nach Maßgabe der Kritik der reinen Vernunft abgefassten systematischen Metaphysik« an, die der Vernunft im ersten Schritt die Aussicht bot, »zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX); der zweite Schritt führte ihn sodann in GMS zur ›praktischen Philosophie‹, die ihn im dritten Schritt dann »unumgänglich« auf das Feld der »Religion« verwies, nämlich »zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen.« 37 Zwar gilt eindeutig (RGV B 3 = AA 6,IIIf.): »Die Moral […] bedarf also zum Behuf ihrer selbst […] keinesweges der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug.« Im Bedenken der für die Grundlegung der Moral nötigen Voraussetzungen (der ›Achtung‹ der ›anderen vernünftigen Wesen‹ als ›Zwecke an sich selbst‹) gelangt Kant »unumgänglich« auf das Feld der »Religion«, nämlich »zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen«, zu einem Gottesglauben, der durch das Dasein der ›Anderen‹ vernünftig ist. Obwohl das Wort ›Autonomie‹ den Bezug zu den ›Anderen‹ verdeckt, 38 besagt es in der Grundlegung der Moralität nicht die ›Selbstgenugsamkeit‹ (Autarkie) vernünftiger endlicher Wesen. 39 Im Übergang von der zunächst nur Vgl. die Frage, die in der Einführung zu Meister Eckhart als Denker als Eckharts Grundfrage ausgelegt wird und in Einklang mit Augustinus, aber auch mit Kant steht, der (wie erwähnt) schon früh und durchweg »die Ehre der menschlichen Vernunft vertheidigen« wollte (Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte A 194 = AA 1,149). Vgl. N. Fischer: »Wer sint, die got êrent?« (Predigt 6). Zur leitenden Grundfrage Meister Eckharts. Hinführung zum Zentrum seines Denken. 37 RGV B 6 = AA 6,VI: »Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.« Alle, die sich in freiem Glauben »zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen« bekennen, können als die gedacht werden, die im Sinne Meister Eckharts Gott die Ehre erweisen. 38 Kant führt das Wort »Autonomie« in GMS aber (wie erwähnt) erst nachträglich ein. 39 Zur »Selbstgenugsamkeit« vgl. KpV 45 f.: »Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenugsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es be36
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subjektiv fundierten Einschätzung meiner selbst als ›Selbstzweck‹, zu dem sich allerdings kein endliches Wesen selbst gemacht haben kann, verweist Kant zur Grundlegung der unbedingt gebietenden praktischen Gesetzgebung auf das unverzichtbare Motiv der Anerkennung der ›Anderen‹ als ebensolcher ›Zwecke an sich selbst‹, welche deren ›Würde‹ begründet und zugleich die ›Achtung‹ aller ›Personen‹ gebietet und auf diesem Weg zu einer unbedingt geltenden ›Verpflichtung‹ führt, die nicht durch bloß ›naturhaft‹ auftretende Gefühle (wie emotionales ›Mitleid‹ oder naturhaft bedingte ›Barmherzigkeit‹) zu erlangen ist. 40 Mit der Annahme, dass sich auch »jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt«, »als Zweck an sich selbst« vorstellt, weist Kant mit der Grundlegung der Moral unumgänglich auf den Glauben an Gott als den Schöpfer, 41 der freie Vernunftwesen aus reiner Liebe (»de nihilo«, ohne sekundäre Motive) geschaffen hat, 42 also um ihrer selbst willen dürftig ist, und dieses Bedürfniß betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens, d. i. etwas, was sich auf ein subjectiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das, was es zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird. Aber eben darum, weil dieser materiale Bestimmungsgrund von dem Subjecte blos empirisch erkannt werden kann, ist es unmöglich diese Aufgabe als ein Gesetz zu betrachten, weil dieses als objectiv in allen Fällen und für alle vernünftige Wesen eben denselben Bestimmungsgrund des Willens enthalten müßte.« 40 In dieser Hinsicht bliebe es doch bei bloß hypothetischen Imperativen (was auch ›Theologen‹ bedenken sollten); vgl. MS B 112 = AA 6,445 f.: »Welche [AA: Auf welche] von diesen physischen Vollkommenheiten vorzüglich, und in welcher Proportion in Vergleichung gegen einander sie sich zum Zweck zu machen es Pflicht des Menschen gegen sich selbst sei, bleibt ihrer eigenen vernünftigen Überlegung in Ansehung der Lust zu einer gewissen Lebensart und zugleich der Schätzung seiner dazu erforderlichen Kräfte überlassen, um darunter zu wählen (z. B. ob es ein Handwerk, oder der Kaufhandel, oder die Gelehrsamkeit sein sollte). Denn abgesehen von dem Bedürfniß der Selbsterhaltung, welches an sich keine Pflicht begründen kann, ist es Pflicht des Menschen gegen sich selbst, ein der Welt nützliches Glied zu sein, weil dieses auch zum Werth der Menschheit in seiner eigenen Person gehört, die er also nicht abwürdigen soll.« 41 Vor und nach der Zeit muss Gott strikt allmächtig sein; die Zeit aber lässt für die Freiheit endlicher Vernunftwesen Platz. Zu Kants Hinweis auf die ›Liebe‹ Gottes RGV B 176 = AA 6,120; dazu N. Fischer: Hinführung (Vernunftreligion und Offenbarungsglaube, 5–34, bes.16). 42 Heidegger hat Augustins Auslegung wahrer Liebe öfters in das Wort gefasst: »amo: volo ut sis«. Vgl. Briefwechsel Martin Heidegger – Hannah Arendt, 31: »Amo heißt volo, ut sis, sagt einmal Augustinus: ich liebe dich – ich will, daß du seiest, was du bist«. Dazu N. Fischer: Deum et animam scire cupio. Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen, 91; vgl. 94: »Das Andere, das der ewige Gott in der Fülle seiner Unbedürftigkeit (13,5) ›aus nichts‹ um des Anderen willen in der Zeit
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als ›Zwecke an sich selbst‹: zur Ermöglichung wechselseitiger Achtung, zugleich im Wissen um die bevorstehenden Leiden der Geschöpfe. 43 Levinas hat gerade in der Zeit bei Heidegger studiert (1927/28), als dieser den dritten Abschnitt des ersten Teils von SuZ, der sich thematisch klar auf ›Ewigkeit‹ und ›Gott‹ bezogen hatte, verbrannt hat. 44 Schon sehr früh, in der ersten philosophischen Arbeit (1932: Martin Heidegger et l’ontologie), hat er das Defizit von SuZ gesehen, 45 das sich in der zunehmenden, dem ursprünglichen Ansatz von Heidegger aber widerstreitenden Unterdrückung der Fragen nach ›Transzendenz‹, ›Ewigkeit‹ und ›Gott‹ zeigt. 46 Der von Levinas gewählte Weg, diesem Mangel zu entkommen, zielt (zwar im Ausgang von der am ›Selbstsein des Daseins‹ orientierten ›Phänomenologie des Endlichen‹ in SuZ) auf die Öffnung der Analysen von Heidegger in die Richtung des ›Unendlichen‹ und der ›Ander[s]heit‹, 47 woraus ihm die doppelte Aufgabe der 1961 vorgelegten Habilitationsschrift geschaffen hat, hat er in der Liebe geschaffen, die Sein verleiht, die will, dass Anderes eigenes Sein habe (c. Fel. 2,18): ›quod iam ipse ex nihilo creaverat, ut esset‹. Er hat es so geschaffen, daß es an sich selbst zu arbeiten hat, um zu seinem Ziel zu gelangen.« Philologisch treffende Einwände gegen diese These äußert Cornelius Mayer: Augustinus: ›Ich will, daß du bist. (?) Zum Problem der angeblich augustinischen Herkunft dieser Sentenz. Heidegger betont aber mit Recht gegen das »sola gratia«, dass Gott das Selbstsein freier Wesen, keine Marionetten will. Vgl. N. Fischer (Hg.): Die Gnadenlehre als ›salto mortale‹ der Vernunft? 43 Vg. civ. 14,7: »nam cuius propositum est amare deum et non secundum hominem, sed secundum deum amare proximum, sicut etiam se ipsum: procul dubio propter hunc amorem dicitur voluntatis bonae, quae usitatius in scripturis sanctis caritas appellatur; sed amor quoque secundum easdem sacras litteras dicitur.« 44 Vgl. F.-W. von Herrmann: Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, 38: »Auch in der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, die in ihrem Hauptteil eine vorlesungsmäßige Darstellung des Ersten Abschnitts von Sein und Zeit ist, betont Heidegger erneut (GA 20,109 f.): »Philosophische Forschung ist und bleibt Atheismus. « 45 Vgl. Levinas: Martin Heidegger et l’ontologie. 420: »Ce saut vers l’éternel ne transcende pas ce drame pour donner une nouvelle naissance aux personnages, il ne transfigure pas par un acte de grâce venu de l’extérieur.« 46 Diese Unterdrückung hat seit dem Natorp-Bericht von 1922 zugenommen; vgl. dazu noch einmal F. W. von Herrmann: Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Heideggers, 38. 47 Zur Diskussion um die Übersetzung von extériorité (›Andersheit‹ oder ›Anderheit‹) vgl. mehrere Beiträge in Norbert Fischer/Jakub Sirovátka (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, z. B. 84 (Fischer), 117, 124 (Fischer), 165, 177 (Esterbauer), 233, 236, 238 f., 243, 247, 249 f. (Sirovátka).
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Zur »Person eines jeden andern« im Denken Immanuel Kants
erwächst: Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité. Levinas bekämpft so Motive, die im Denken von Heidegger nach SuZ hervortreten. In der Form und in der Methode der Untersuchungen folgt er zwar der von Husserl und Heidegger vorgezeichneten ›Phänomenologie‹; in der Bestimmung des Inhalts der Aufgaben, die der Philosophie gestellt sind, widerstrebt er dem Defizit von SuZ – und später noch mehr den neuheidnischen Irrungen und Wirrungen, in denen Heidegger seine anfänglichen Ziele konterkariert. 48 Der von Levinas spät verfasste Text zum Primat der reinen praktischen Vernunft, der auch die Struktur seines eigenen Denkens skizziert, ist vergleichbar mit dem denkerischen Weg von Kant; er beginnt mit der Auslegung der Vernunft allgemein (1), erläutert den Sinn der theoretischen Philosophie (2), unterscheidet theoretische und praktische Vernunft (3), betont das Primat der praktischen Vernunft (4) und schließt mit dem Weg zur Religionsphilosophie (5). Im Ausgang von dem bei Heidegger eingetretenen ›A-theismus‹, der aus dem Unvermögen folgte, die vormals überschwengliche Gottesbegeisterung 49 denkerisch fortzuführen und Kants ›praktische PhiVgl. Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Dus Scotus (GA 1:189–411), bes. »Schluss« (399–411); vgl. 406: »Die Philosophie kann ihre eigentliche Optik, die Metaphysik, auf die Dauer nicht entbehren.« Gegen die von Heidegger später selbst beförderte Vernachlässigung der ›praktischen Philosophie‹ heißt es (ebd.): »Innerhalb des Reichtums der Gestaltungsrichtungen des lebendigen Geistes ist die theoretische Geisteshaltung nur eine, weshalb es ein prinzipieller und verhängnisvoller Irrtum der Philosophie als ›Weltanschauung‹ genannt werden muß, wenn sie sich mit dem Buchstabieren der Wirklichkeit begnügt und nicht, was ihres eigentlichsten Berufes ist, über eine immer vorläufige, die Gesamtheit des Wißbaren aufraffende Zusammenfassung hinaus auf einen Durchbruch in die wahre Wirklichkeit und wirkliche Wahrheit abzielt.« Hinweise zur gesuchten ›wahren Wirklichkeit und wirklichen Wahrheit‹ folgen am Ende. Heidegger sucht eine »Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit«, folglich das, was in SuZ fehlt (bzw. verbrannt wurde). Zum Vorfeld vgl. auch überschwenglich fromme Passagen in »Mein liebes Seelchen«. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfriede 1915–1970 – sodann Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis); dort heißt es (GA 65,403): »DER LETZTE GOTT./ Der ganz Andere gegen/ die Gewesenen, zumal gegen/ den christlichen.« Heidegger spricht hier ungeschützt und ungenau: denn wen meint er denn mit dem ›christlichen‹ Gott? Immerhin ist es möglich (und zunächst auch berechtigt), sich eines wertenden Urteils zum Weg Heideggers in der Gottesfrage zu enthalten; vgl. wiederum F.-W. von Herrmann: Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers. 49 Vgl. den Brief von F.-W. von Herrmann (zitiert bei N. Fischer: Zu Kants Frage: »Was ist der Mensch?«, 519). Zum »A-theismus« von Heidegger vgl. erneut F.-W. von Herrmann: Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Heideggers, 37. 48
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losophie‹ aufzugreifen, wird es für Levinas im Anschluß an Heidegger zur Kernfrage, wie ›Ethik‹ im Kontext der phänomenologischen Methode aus der ›Beziehung zum Anderen‹ denkbar wird und wie ›Gott ins Denken einfällt‹. 50 In dem methodisch an der ›Phänomenologie‹ Heideggers orientierten Weg hält Levinas zwar fest, spürt aber die (teils von Heidegger selbst eingestandenen) thematischen Defizite auf, sowohl im Blick auf die Analyse der Verpflichtung gegenüber Anderen als auch im Blick auf Brüche in der Gottesfrage. So ist es kaum überraschend, dass Levinas sein Denken in einem späten Rückblick explizit auf das ›Primat der reinen praktischen Vernunft‹ bei Kant bezogen hat. Levinas folgt souverän (angeregt von Methoden und Defiziten Heideggers) dem von Kant beschrittenen Weg und beginnt mit der bloßen Vernunft (Rien que Raison) – wie Kant, der von Anfang an vor allem »die Ehre der menschlichen Vernunft vertheidigen« wollte, fährt fort mit der reinen Vernunft (La raison théorétique ou spéculative); danach folgen wie bei Kant die ›reine praktische Vernunft‹ (La Raison pure pratique) und die ›Religionsphilosophie‹. In Umkehr des ›ordo cognoscendi‹, 51 nach dem sich die ›spekulative Vernunft‹ in der Zeit richtet, erlangt Levinas die Einsicht, dass den ›Anderen‹, deren Sein Kant und Levinas bedenken, in der praktischen Philosophie Vorrang zukommt. Den Abschluss des Gesamtgebäudes findet auch Levinas in der Religion (Le primat de la Raison pure pratique et la Religion). Indem Levinas seinen Text im Anschluss an Kant mit dem Blick auf den nur als göttlich denkbaren Grund der ›Würde des Menschen‹ beschließt, gehört sein Denken als wesentlicher Beitrag in den Gang der abendländischen Philosophie, die ihre Höhepunkte bei griechischen Denkern, bei christlichen Theologen – und schließlich bei Kant hatte.
Levinas, De Dieu qui vient à l’idée/Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. 51 Von dem von der Antike bis zum Mittelalter anerkannten Lehrsatz »Omnis cognitio incipit a sensibus«; bis hin zum Wort von Kant (KrV B 1): »Daß alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel.« 50
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Zur »Person eines jeden andern« im Denken Immanuel Kants
3.
Kant und Levinas zum »Frieden« als Ideal einer menschlichen Gemeinschaft (Reich Gottes)
Levinas beginnt TI mit dem trostlosen Wort aus Une saison en enfer von Arthur Rimbaud (TI 3): »›La vraie vie est absente‹.« (TU 35): »Das wahre Leben ist abwesend.« Rimbaud entweicht der Situation und bestreitet unser ›In-der-Welt-sein‹: »Nous ne sommes pas au monde.« 52 Dagegen hält Levinas fest (ebd.): »Mais nous sommes au monde.« / »Aber wir sind auf der Welt«. Als Grundlage seiner Zustimmung zu Rimbauds These der ›Abwesenheit des wahren Lebens‹ nennt Levinas nicht Rimbauds Annahme, daß ›wir nicht in der Welt seien‹. Obwohl das wahre Leben abwesend ist, gesteht Levinas doch, dass wir ›in der Welt‹ sind. Die Annahme der ›Abwesenheit des wahren Lebens‹ öffnet den Blick für die metaphysische Naturanlage der menschlichen Vernunft (»metaphysica naturalis«), von der Kant gesprochen hat. 53 Levinas verweist damit auf ›Aufgaben‹ der ›Metaphysik‹ als »metaphysica naturalis«, die sich vor dem Hintergrund unseres faktischen »In-der-Welt-seins« stellen. Dass deren kritische Destruktion durch Anti-Metaphysiker 54 ins Leere läuft, tritt schon mit der Einsicht in die ›Abwesenheit des wahren Lebens‹ hervor (TU
TI 3; zitiert wird Une saison en enfer (Délires I: Vierge folle. L’époux enfernal), 248. Rimbauds Wort kann jedoch, worauf mich Jean Greisch hingewiesen hat, auch so übersetzt werden: »Wir sind aber nicht an die Welt hingegeben.« Diese Übersetzung lässt sich ohne mythische Annahmen verstehen und auf Levinas beziehen, der insofern erklärt, dass wir in der Welt an die Welt hingegeben seien. Aus diesem Hingegebensein an die Welt werden wir durch die Begegnung mit den ›Anderen‹ gleichsam herausgerissen. 53 KrV B 21; zur ›metaphysischen Naturanlage vgl. N. Fischer (Hg.): Kants Metaphysik und Religionsphilosophie; darin besonders (77–110) Robert Theis: Zur Topik der Theologie im Projekt der Kantischen Vernunftkritik; weiterhin (111–130) N. Fischer: Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft. 54 Gleichgültig, ob der Atheismus erkenntnistheoretisch oder eher emanzipatorischexistenziell motiviert ist. Kant bekämpft nur die dogmatische spekulative Metaphysik; auch theoretisch bleibt es bei einer ›Metaphysik der Probleme‹, die ›festen Glauben‹ an das Dasein Gottes ermöglicht (KrV B 854 f.): »Der Ausgang meiner Versuche bestätigt auch so oft die Brauchbarkeit dieser Voraussetzung, und nichts kann auf entscheidende Art dawider angeführt werden, daß ich viel zu wenig sage, wenn ich mein Fürwahrhalten bloß ein Meinen nennen wollte; sondern es kann selbst in diesem theoretischen Verhältnisse gesagt werden, daß ich festiglich einen Gott glaube; aber alsdann ist dieser Glaube in strenger Bedeutung dennoch nicht praktisch, sondern muß ein doctrinaler Glaube genannt werden, den die Theologie der Natur (Physikotheologie) nothwendig allerwärts bewirken muß.« 52
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35/TI 3) 55: »La métaphysique surgit et se maintient dans cet alibi. Elle est tournée vers l’›ailleurs‹, et l’›autrement‹, et l’›autre‹.« / »Die Metaphysik erhebt und behauptet sich in diesem Alibi. Sie ist dem ›Anderswo‹ zugewandt, dem ›Andersartigen‹ und dem ›Anderen‹.« Levinas musste nicht erst durch die Kritik der dogmatischen Metaphysik »das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV BXXX), weil Kant diese Arbeit ja schon erledigt hatte. Er hätte sich auf Heideggers Kant-Buch von 1929 stützen können und überdies auf explizite Hinweise, die Heidegger später zur Gottesfrage als seiner ›eigentlichen Frage‹ gegeben hat. 56 Von der von Kant und Heidegger gedachten Höhe des Problemstandes aus sagt Levinas im Vorgriff auf die Hauptthese seines Aufsatzes zu Kant von 1970 schon in TI (52): »La métaphysique se joue dans les rapports éthiques.« Obwohl wir ›in der Welt‹ sind, ist die ›Metaphysik‹ unsere tägliche Aufgabe, die wir – ob wir wollen oder nicht – in der einen oder anderen Weise lösen. Denn ›Metaphysik‹ ist nach Levinas wie nach Kant keine dogmatische Wissenschaft vom Transzendenten: Sie erlaubt weder die Vernachlässigung existenzieller Aufgaben noch Weltflucht durch ›mystische Erfahrungen‹. 57 ›Metaphysik‹ ist nach Levinas wie nach Kant eine ›Naturanlage‹, die wir faktisch in der einen oder anderen Weise vollziehen. 58 Sie lässt uns ›Frieden‹ in Gemeinschaft mit andeÜbersetzt ist in Betonung der grundsätzlichen Aussage des Autors zur Metaphysik – ein wenig abweichend (vor allem in der Satzstellung) von Krewanis Übersetzung (TU 35). 56 Vgl. die Hinweise, die Heidegger im »Vorwort zur vierten Auflage« von Kant und das Problem der Metaphysik (1973; XII-XV) gegeben hat; diese Hinweise sind auf den genannten Brief an Max Müller vom 4. 11. 1947 zu beziehen. Sie lauten im entscheidenden Teil (GA 3, XIII): »In dem Handexemplar der ersten Auflage dieses Buches fand sich auf der Titelblattseite eingelegt ein Zettel, der, nach der Handschrift zu schließen, aus der Mitte der dreißiger Jahre stammt. Der Text lautet: // Kantbuch. // Mit S. u. Z. (»Sein und Zeit«) allein —; bald deutlich, daß man nicht einging auf die eigentl(iche) Frage [vgl. I 3. T. u(nd) Destr(uktion)] // eine Zuflucht – unterwegs u (nd) nicht neue Entdeckungen zur K(ant) Philologie. – // [S(ein)] Seiendheit – Gegenständlichkeit u(nd) »Zeit« Schematismus // aber zugl(eich): der eigene Weg versperrt u(nd) mißdeutbar gemacht // vgl. IV. Absch(nitt) // Beiträge – Anfang zu neuem Anfang – Refl. bgr. (Reflexionsbegriffe)«. Zu beachten ist vor allem der genannte Hinweis zur ›eigentlichen‹ Frage von SuZ (die Gottesfrage): »bald deutlich, daß man nicht einging auf die eigentl(iche) Frage [vgl. I 3. T. u(nd) Destr(uktion)«. 57 Vgl. dazu Wolfgang Erb; Norbert Fischer (Hg.): Meister Eckhart als Denker; Eckhart ist nicht unbestimmt als »Mystiker« zu verstehen, sondern als nüchterner Denker, der das ›faktische Leben‹ reflektiert. 58 Das gilt für Levinas wie für Kant – und eigentlich auch für Heidegger. Vgl. noch 55
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ren freien Wesen ersehnen, die mit Kant und Augustinus als ›Reich Gottes‹ (»civitas dei«) zu denken ist. Unser in die ›Metaphysik‹ weisendes Verhalten ist von der Beziehung zu ›den Anderen‹ initiiert, die sich in jeder singulären Begegnung mit Anderen als ›Zwecken an sich selbst‹ ereignet, konkret von ›Angesicht zu Angesicht‹. Ähnlich wie Kant, der »die vernünftige Natur […] als Zweck an sich selbst« kennzeichnet, als welchen »sich nothwendig der Mensch sein Dasein« vorstelle, beginnt Levinas nach einem Vorblick auf das Thema des Ganzen (Le même et l’autre) mit der Phänomenologie der Innerlichkeit (Interiorité et économie), gelangt von dort zum Gipfel der Abhandlung (Le visage et l’éxteriorité), sieht auf die Phänomenologie der Innerlichkeit zurück (Au dela du visage) und endet im Rückblick auf Schlussfolgerungen (Conclusions). 59 In den Analysen von Levinas, die seine neue Grundlegung zur Metaphysik der Sitten präsentieren, steht wie bei Kant zunächst ganz die Individualethik im Vordergrund, bei Levinas zugespitzt in der Begegnung mit dem ›Anderen‹. Formal zwar analog zur Phänomenologie Edmund Husserls 60 ist es bei Levinas der ›Blick des Anderen‹, der sich durch sein ›Antlitz‹ aktiv als anderer »Zweck an sich selbst« einführt und in diesem Blick zudem den zeitlichen Ursprung der ethischen Beziehung markiert. 61 Auch Heidegger arbeitet einmal N. Fischer: Heideggers Auseinandersetzung mit Kant und die Zukunft der Metaphysik. 59 »Friede« (mit den Anderen) ist ein wesentliches Thema in TU (z. B. 55, 292). Besonders zu beachten ist die Schlusspassage der Conclusions (442–447). 60 TU 103: »Dieser Blick, der bittet und fordert – der nur bitten kann, weil er fordert, dem alles mangelt, weil er ein Recht hat auf alles, den man anerkennt, indem man gibt (so wie man ›die Dinge in Frage stellt, indem man gibt‹) – dieser Blick ist nichts anderes als die Epiphanie des Antlitzes als Antlitz.« Analoge Passagen gibt es bei Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, vgl. 12; Husserl konzipiert zunächst »eine Wissenschaft vom ego, eine reine Egologie« (12); vgl. 26 mit der Konstitution der »Einheit des personalen Ich und seines personalen Charakters« (28 mit Hinweis auf »die allgemeine Dreifaltigkeit des Titels cogito«); Husserl will »eine »solipsistisch beschränkte Egologie« auf eine »intersubjektive Phänomenologie« und die »apriorischen Wissenschaften« hin erweitern (38); zentral ist die Aussage (141): »Paarung« als assoziativ konstituierende Komponente der Fremderfahrung (141–143), bes. 142: »Wir finden bei genauer Analyse wesensmäßig dabei vorliegend ein intentionales Übergreifen, genetisch alsbald (und zwar wesensmäßig) eintretend, sowie die sich Paarenden zugleich und abgehoben bewußt geworden sind; des näheren ein lebendiges, wechselseitigen Sich-überdecken nach dem gegenständlichen Sinn.« 61 Das »Miteinandersein« ist im Sinne des ›alltäglichen und durchschnittlichen Miteinanderseins‹ ein wichtiges Thema, z. B. SuZ 121, auch im Blick auf »das eigentliche
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zwar an einer Fortführung der philosophisch-theologischen Tradition und der Philosophie von Kant. Derart beginnt SuZ im ersten Abschnitt des ersten Teils (Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins) mit der Analyse des ›In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins‹ [= ›Welt‹], kommt im zweiten Abschnitt (Dasein und Zeitlichkeit) zum ›eigentlichen Seinkönnen‹ des Daseins [= ›Seele‹]. Und der dritte Abschnitt, den Heidegger verbrannt, aber dennoch den entscheidenden genannt hat, hatte als Thema ›Ewigkeit‹ und ›Gott‹. Bezieht man diese Aufgaben auf Kant, der mit der Tradition die Annahme von »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« als Ziel gedacht hatte, so sind diese Aufgaben bei Levinas (ohne ›Dogmatismus‹) neu zu finden, obzwar unbestimmt (aber auch die ›vorchristliche‹ Philosophie suchte keine dogmatischen Theorien, sondern eher Wege, mit Vernunft ›zum Glauben Platz zu bekommen‹). Levinas geht seinen Weg ursprünglich denkend in kritischem Bezug auf Heidegger, angeregt von Kant. Sein Resümee – unter dem Titel des ›Friedens‹ – ist mit Kant und Augustinus kompatibel, die beide die Vollendung des ›cor inquietum‹ im ›Reich Gottes‹ ersehnen (Confessiones 1,1; Kant: Moral Mrongovius; AA 27,1401: »das Gemüth ist also immer unruhig«) . 62 Levinas erklärt (TI 4/TU 36): »Le désir métaphysique a une autre intention – il désire l’au delà de tout ce qui peut simplement le compléter. Il est comme la bonté – le Désiré ne le comble pas, mais le creuse.«/»Das metaphysische Begehren hat eine andere Intention – es begehrt, was jenseits all dessen liegt, wodurch es nur ergänzt werden kann. Das Begehren ist wie die Güte – es wird vom Begehrten nicht erfüllt, sondern vertieft.«
Miteinander« (SuZ 298): Im ›eigentlichen Miteinander hätte die Achtung der Anderen als Personen als ›Zwecken an sich selbst‹ auch bei Heidegger ihren Platz haben können. 62 Kant greift die abendländische Tradition seit Platons Politeia auf und auch biblische Impulse; vgl. Augustinus schon in Confesssiones 11,3: »confitear tibi quidquid invenero in libris tuis et audiam vocem laudis [Ps 25,7] et te bibam et considerem mirabilia de lege tua [Ps 118,18] ab usque principio, in quo fecisti caelum et terram, usque ad regnum tecum perpetuum sanctae civitatis tuae.« Danach ist das Gesamtprojekt von De civitate dei zu beachten.
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Jakub Sirovátka
Leben in Verantwortung Extremer Humanismus von Emmanuel Levinas – mit einem Seitenblick auf Jan Patočka und Václav Havel
Abstract: Der Beitrag stellt den radikalen und extremen Humanismus von E. Levinas dar, um nach einem positiven Sinn eines so verfassten Humanismus zu suchen. Dieser positive Sinn kann nur dann gefunden werden, wenn die negative, hyperbolische Ausdrucksweise mit der positiven gleichzeitig gelesen wird. Die »harte« Verantwortung muss als ein Ideal der Heiligkeit und der absoluten Güte verstanden werden. Zugleich versucht der Beitrag die Überlegungen zu Levinas ins Gespräch mit dem Denken von J. Patočka und V. Havel zu bringen, die beide über ein »Leben in Verantwortung« nachgedacht haben und eine »Philosophie der Tat« vertreten. Patočka spricht über die heroische Existenz des Menschen und über die Fraglichkeit, die das eigene Leben bestimmt und zur Solidarität mit den Anderen führen soll. Havel sieht sich wiederum auf eine ähnliche Erfahrung der Verantwortung verwiesen, wie sie Levinas beschreibt: auf eine Erfahrung, die mich wider Willen überfällt und der ich mich nicht entziehen kann.
1.
»Extremer Humanismus« von Emmanuel Levinas
Bekannterweise gilt das gesamte Denken von Emmnanuel Levinas als ein großangelegter Versuch, die Ethik als die erste Philosophie zu erweisen: Nicht Wissen, sondern das Gewissen ist das Erste. Es handelt sich um eine Ethik der Verantwortung gegenüber dem Anderen. Diese Verantwortung wird jedoch – insbesondere in den späteren Schriften von Levinas – in immer sich steigernder hyberbolischer Art beschrieben. Die grenzenlose Verantwortung für den Anderen bedeutet »Geisel« des Anderen (JS 253) 1 zu sein bis zur »Entker1 Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von Thomas Wiemer, Freiburg/München 21998.
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Jakub Sirovátka
nung« der eigenen Identität; Verantwortung ist Sühne (JS 264), Verwundbarkeit, Trauma, absolute Passivität, Stellvertretung, Beunruhigung, »Sich-selbst-Entrissenwerden-wider-Willen« (JS 168), Ausgesetztheit etc. Levinas wurde deshalb zuweilen vorgeworfen, seine Ethik sei zu hart und zu radikal, sie überfordere den Menschen. Sicherlich lässt sich über eine »Härte der Ethik« bei Levinas sprechen: Levinas sagt selber zum Beispiel, dass der Begriff der Verantwortung ein hartes Wort für Liebe darstellt. 2 Levinas spricht über den Ernst der Ethik im Gegensatz zum unverbindlichen Spiel des Seins (vgl. JS 29 f.). Es handelt sich im Denken von Levinas in der Tat um einen »extremen Humanismus […], der dem Menschen viel abverlangt« (SF 41), wie es in der Schrift Schwierige Freiheit heißt. 3 Und Levinas fügt hinzu: Nach Ansicht vieler verlangt dieser extreme Humanismus dem Menschen zu viel ab. 4 Auf Ablehnung stieß sowohl die drastische Wortwahl von Levinas, als auch die inhaltliche Charakterisierung der radikalen ethischen Verantwortung. Paul Ricœur etwa spricht von einem »terrorisme verbal«, mit dem Levinas die ethische Subjektivität des Subjekts zu beschreiben sucht. Ricoeur begegnet der Steigerung der Sprache vom Pathetischen bis zum Pathologischen mit Unverständnis. 5 Eine »gemartete Subjektivität« und ein Martyrium des Subjekts bei Levinas meint auch Kelly Oliver vorzufinden. 6 Am Ausführlichsten hat sich mit der »traumatischen« Dimension im Denken von Levinas wahrscheinlich Elisabeth Weber auseinandergesetzt, die von der Psychoanalyse her kommend, eine anamnetische Lektüre und Interpretation des zweiten Hauptwerkes Autrement Emmanuel Lévinas: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München 1995, 213: »Unterwerfung unter den Befehl, der dem Menschen – dem Ich – verordnet, für den Anderen geradezustehen, ist vielleicht ein strengerer Ausdruck für Liebe.« 3 Emmanuel Lévinas: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 21996. 4 Zum extremen Humanismus vgl. u. a. Bernhard Taureck, Lévinas zur Einführung, Hamburg 1991, 24–35. 5 Vgl. Paul Ricoeur: Autrement. Lecture d’Autrement qu’être ou au-delà de l’essence d’Emmanuel Levinas, Paris 1997, 26. Vgl. auch 21: »Pourquoi cette montée aux extrêmes: obsession, blessure, traumatisme? Pourquoi cette surenchère du pathique en pathétique et pathologique?« 6 Vgl. Kelly Oliver: Perversion, Kriminalität und Märtyrertum in Philosophien der Anerkennung: Sartre, Althusser und Levinas, in: Thomas Bedorf/Andreas Cremonini (Hg.): Verfehlte Begegnung. Levinas und Sartre als philosophische Zeitgenossen, Paderborn/München 2005, 198 ff. 2
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qu’être ou au-delà de l’essence/Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht vorgenommen hat. 7 Weber liest Autrement qu’être als eine »Philosophie nach Ausschwitz«, als den Versuch einer »Trauerarbeit«, die »keinen Gewinn, kein Resultat verspricht, […], die aber dennoch nicht ›umsonst‹ wäre«. 8 Da die Philosophie nach Weber keine Begriffe zur Beschreibung der Trauerarbeit kennt, muss sich die philosophische Reflexion der Psychoanalyse und ihrer Terminologie öffnen, auch wenn sie betont, dass es nicht darum geht, »Lévinas’ Text psychoanalytisch zu interpretieren«. 9 Weber kritisiert das pathologische Vokabular in den Texten von Levinas, die eine »Affirmation des Martyriums« 10 nahe zu legen scheinen. Ihr Fazit lautet, dass aus philosophischer Perspektive den Begriffen von Obsession und Trauma kein richtiger Sinn abzugewinnen ist und das »gebrochene« Subjekt, das einem »unendlichen Martyrium« ausgesetzt ist, sich letztlich nicht mehr aufrichten kann und so auch den Anderen als Anderen nicht zu begegnen vermag. 11 Levinas selbst hat sich gegen diese oder ähnliche Vorwürfe gewehrt. Es gilt zuerst festzustellen, dass die traumatische Art und Weise des Sprechens keineswegs die Forderung eines fremden Martyriums bedeuten soll. Levinas spricht vom Propagieren von Menschenopfern, wollte man die ethische Forderung auch vom Anderen verlangen: »Doch wollte man dem Anderen einreden, er solle sich für die Anderen opfern, hieße in der Tat das Menschenopfer propagieren.« (JS 282) Der ethische Anspruch, von dem Levinas spricht, darf nämlich nicht im Sinne eines universalen moralischen Prinzips verstanden werden: Der ethische Anspruch richtet sich immer nur an mich. Nicht an den Menschen, nicht an das Ich, sondern einzig und allein an mich. Und es stimmt, dass Levinas eine ethische Haltung fordert, die gegebenfalls auch zur Hingabe des eigenen Lebens führen könnte. Diese Feststellung ist jedoch etwas anderes als die These, Levinas fordere das eigene Martyrium vom Subjekt. Auch wenn zum Entwickeln einer Ethik bei Levinas »nicht nur positive, wertkonstitutive Erfahrungen, sondern auch negative, erschütternde, traumati-
Vgl. Elisabeth Weber: Verfolgung und Trauma. Zu Emmanuel Lévinas’ Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Wien 1990. 8 Vgl. Weber: Verfolgung und Trauma, 15 und 153. 9 Vgl. Weber: Verfolgung und Trauma, 37. 10 Vgl. Weber: Verfolgung und Trauma, 88 f. 11 Vgl. Weber: Verfolgung und Trauma, 239 f. 7
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sierte Erfahrungen eigenen und fremden Leids« 12 gehören, wäre es meines Erachtens verfehlt, die Ethik von Levinas ausschließlich als eine Art Trauerarbeit angesichts des Grauens der Shoah zu lesen. Es soll damit nicht vernachlässigt werden, dass Levinas in der Tat über den »Tumor in seinem Gedächtnis« und über den Schatten des Nazigrauens spricht, der über seiner Biographie hängt. 13 Auch wenn die schreckliche Erinnerung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Denken von Levinas hat, scheint jedoch die unerbittlich radikale Ausdrucksweise der Beschreibung die Subjektivität als eine Subjektivität der Güte aufzeigen zu wollen, samt den darin enthaltenen Anspruch der Heiligkeit. Die Deutung von Elisabeth Weber mag psychologisch verständlich sein, sie trägt jedoch meiner Meinung nach weniger zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Art der Ethik bei, wie sie von Levinas entfaltet worden ist. Die Frage nach der Genese eines Denkens darf die Geltungsfrage, die Frage nach der Sachhaltigkeit einer Philosophie, nicht überlagern. Ungeachtet dessen, wie man zu dem Ansatz einer radikalen Ethik bei Levinas steht, ist festzuhalten, dass Levinas mit aller Entschiedenheit die Meinung vertritt, dass der einzige Grund zur Kritik am Humanismus darin besteht, dass er nicht human genug ist: »Der Humanismus verdient nur deshalb Kritik, weil er nicht human genug ist.« (JS 284) Trotz der zum Teil berechtigten Kritik an der Sprache von Levinas, lässt sich vielleicht dennoch den Beschreibungen eines radikalen Humanismus ein positiver Sinn abgewinnen, wenn man nämlich die negativen Umschreibungen mit den positiven zusammenliest. Denn für sich allein ergeben die negativen Ausdrücke wie Verfolgung und Besessenheit sicherlich keinen positiven Sinn im Rahmen der Ethik von Levinas.
Vgl. Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2015, 20. Der zitierte Satz bezieht sich bei Joas auf die Geschichte der Menschenrechte, lässt sich jedoch in unserem Zusammenhang auf die Entfaltung der Ethik bei Levinas übertragen. 13 Vgl. Emmanuel Levinas: Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, München/Wien 1988, 102 und 108. 12
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Leben in Verantwortung
2.
Welcher Humanismus?
Welchen Humanismus vertritt also Emmanuel Levinas? Schauen wir uns etwas genauer an, was Levinas unter Humanismus versteht und wie er ihn beschreibt, wobei im Zentrum der Überlegungen allem voran die Schrift Humanismus des anderen Menschen 14 stehen wird. In diesem Werk setzt sich Levinas sowohl mit unterschiedlichen Arten von Humanismus, als auch mit dem Anti-Humanismus auseinander und entwickelt eine eigene, spezifische Art des Humanismus, die er – wie schon der Titel des Werkes anzeigt – als einen »Humanismus des anderen Menschen« versteht. Der Humanismus besteht darin, den Menschen »von der Verantwortung her zu denken« (HAM 101). Es handelt sich jedoch um keinen Humanismus des guten Gewissens, sondern um einen Humanismus des »unruhigen Herzens«, der unaufhörlichen Unruhe, die vom »Stachel des Fremden« kommt, wie Bernhard Waldenfels formuliert. Es handelt sich zugleich um einen jüdischen Humanismus, der sich aus den Quellen des Judentums speist. Wenn man jedoch über einen jüdischen Humanismus spricht, muss man, glaube ich, zugleich über einen »griechischen« Humanismus bei Levinas reden. Denn die Ethik von Levinas lässt sich ebenso als eine praktisch-ethische Reformulierung von Platons Idee des Gutens im Sinne der Vorgängigkeit des Jenseits lesen. Levinas verbindet ausdrücklich beides, wenn er schreibt: »Das Unsichtbare der Bibel ist die Idee des Guten jenseits des Seins.« (HAM 77) Die Hauptaufgabe, die sich Levinas auf der Suche nach einem neuen Humanismus stellt, lässt sich mit Bernhard Taureck so formulieren: »Gibt es eine Bedingung der Möglichkeit dafür, Verantwortung als Faktum zu denken, und worin besteht diese Möglichkeitsbedingung?« 15 Levinas sucht nach einer Verantwortung, die auf einer Verpflichtung gegründet ist. Die Verantwortung ist schon eine Antwort auf den ethischen Anspruch, der mich unversehens trifft, wenn der Andere die Szene betritt. Levinas versucht in seinem Denken zu zeigen, dass die Verpflichtung als ein faktisches moralisches Bewusstsein zu verstehen Emmanuel Levinas: Humanismus des anderen Menschen, übers. von Ludwig Wenzler, Hamburg 1989. 15 Taureck: Levinas zur Einführung, 30. Die verwendete kantische Ausdrucksweise von den »Bedingungen der Möglichkeit« legt die Vermutung nahe, dass Taureck auch mit dem Begriff des »Faktums« auf die Kritik der praktischen Vernunft A 55 f. anspielt, wo das Bewusstsein des Moralgesetzes als »das einzige Faktum der Vernunft« genannt wird. 14
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ist: die Erfahrung des Anspruchs des Anderen stellt eine »konkrete moralische Erfahrung« (TU 67) 16 und »die erste Gegebenheit des moralischen Bewußtseins« (SpA 200) 17 dar. Der klassische Humanismus ist für Levinas unzureichend, da er in seinem Ausgang von der absoluten Aktivität des Subjekts ausgeht, letztlich nie zum Anderen vordringen kann, da er die Differenz zwischen sich selbst und dem Anderen nicht beachtet. Die Aktivität des Ich wird nach Levinas immer gewaltsam gegenüber dem Anderen sein. Und da, wo der Mensch »auf ein Medium reduziert [wird], das für das Sein notwendig ist« (HAM 69), spricht Levinas von einem Anti-Humanismus. Levinas richtet sich also u. a. gegen Fichte, Hegel, aber auch gegen Heidegger (und Foucault). Taureck spricht davon, dass Levinas sowohl den Humanismus, als auch den Anti-Humanismus radikalisiert. 18 Levinas sieht, dass beide – Humanismus und Anti-Humanismus – etwas Wahres aussagen, jedoch in einer unzureichenden Art und Weise und so werden letztendlich beide in seinem eigenen Konzept eines Humanismus des anderen Menschen überstiegen. Levinas sucht nach einem Humanismus, in dem die Verantwortung meine eigene Freiheit übersteigt. Wie sollen wir diese Forderung verstehen? Sie widerspricht fundamental dem klassischen Grundsatz: »Ultra posse nemo obligatur« – keiner kann über das eigene Können hinaus verpflichtet werden. Levinas scheint jedoch gerade dies andeuten und behaupten zu wollen: ich bin verantwortlich über die eigene Freiheit hinaus. Ich soll so handeln, als ob ich die Last der ganzen Welt tragen müsste: »Gerade die Tatsache sich der Last, die das Leid der anderen auferlegt, nicht zu entziehen, definiert die Selbstheit. Alle Personen sind Messias. […] Und das bedeutet konkret, daß jeder so handeln muß, als wäre er der Messias.« (SF 94 f.) Um richtig zu verstehen, wie der extreme Humanismus von Levinas verstanden werden soll, ist es meiner Meinung nach unabdingbar, dass die negative, traumatische Ausdrucksweise mit den positiven Beschreibungen der Güte und der Heiligkeit zusammen gelesen werden. 19 Denn es handelt sich um zwei unterschiedliche Seiten 16 Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. von Wolfgang N. Krewani, Freiburg/München 21993. 17 Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München 31998. 18 Vgl. Taureck: Lévinas zur Einführung, 26. 19 In den folgenden Ausführungen zur Kongruenz von Güte und Heiligkeit stütze ich mich auf Jakub Sirovátka: Ethik als Anspruch der Heiligkeit in: N. Fischer/J. Sirovát-
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derselben Medaille: um zwei Charakterisierungen der menschlichen Subjektivität. Die negative Ausdrucksweise betrifft das Aufgeben der eigenen ontologischen Identität, das für Levinas die Voraussetzung sine qua non für das Erlangen der ethischen Subjektivität der Güte darstellt. Der radikale Humanismus von Levinas versucht ein Subjekt zu beschreiben, dessen Identität ausschließlich in und aus Güte besteht. Und diese Güte wird vor allem in den späteren Schriften – in denen sich ebenfalls die gesteigerte ›pathologische‹ Sprache findet – mit der Heiligkeit identifiziert. Die Perspektive des Opfers, des Opfers für den Anderen ist eine »Perspektive der Heiligkeit«. 20 So berichtet auch Jacques Derrida in seinem Abschiedsbuch Adieu, Levinas habe ihm in einem Gespräch gesagt, dass ihn alle mit der Ethik verbinden, er jedoch die Heiligkeit suche: »Wissen Sie, man spricht oft von Ethik, wenn man beschreiben will, was ich mache, doch was mich letzten Endes interessiert, ist nicht Ethik, nicht Ethik allein, es ist das Heilige, die Heiligkeit des Heiligen.« 21 Wie schon erwähnt, das Trauma, das mit der Haltung der Verantwortung verbunden ist, hängt mit der ›Entkernung‹ der ontologischen Identität zusammen, die dem Anderen gegenüber immer gewalttätig ist. Die reine Güte des Subjekts wirkt sich auf der ontologischen Ebene als Trauma aus, denn sie ist dem natürlichen Vollzug der eigenen Identität entgegengesetzt. Das Subjekt muss sich vollkommen von seinem Selbstgefallen reinigen, um eine neue ethische Subjektivität zu erhalten. Ist diese radikale Sprache von Levinas der Einsicht in die tiefe Verwurzelung unserer ontologischen Identität in dem ›Genuss‹ geschuldet, wie sie in Totalität und Unendlichkeit beschrieben ist? Sah sich Levinas gezwungen, ein pathetisch-pathologisches Vokabular zu verwenden, um dem Aufblähen des Ego zu entkommen? Denn das ethische Subjekt darf außer der Güte keine anderen Identitätsattribute haben, da die Güte nach Levinas das einzige Attribut darstellt, das das Ich nicht verdoppelt: »Die Güte ist […] das einzige Attribut, das in den Einen, den das Subjekt bildet, keine Vielfalt einführt, weil sie vom Einen verschieden ist. Sobald sie sich dem Einen zeigt, wäre sie nicht mehr Güte in ihm.« (JS 262) Die ka (Hg.): »Für das Unsichtbare sterben«. Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Levinas, Paderborn u. a. 2006, 12–18. 20 Vgl. Emmanuel Lévinas: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München/Wien 1995, 9. 21 Vgl. Jacques Derrida: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas, München/Wien 1999, 12.
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Bewegung des Ich auf den Anderen hin darf nie in die Versuchung kommen, sich selber statt den Anderen anzuschauen. In dem Moment, wo ich irgendetwas für mich erhoffe – und sei es Dankbarkeit oder das Gefühl der Selbstzufriedenheit – , hat sich laut Levinas schon die Bewegung vom Anderen abgewandt und kehrt zu sich selbst zurück: »Folglich ist das radikal gedachte Werk eine Bewegung des Selben auf das Andere hin, die niemals zum Selben zurückkehrt. Das bis zu Ende gedachte Werk fordert eine radikale Großzügigkeit der Bewegung, die im Selben auf das Andere hinführt. Sie fordert folglich eine Undankbarkeit des Anderen. Die Dankbarkeit wäre genau die Rückkehr der Bewegung zu ihrem Ursprung.« (HAM 34) Die höchste Form der Güte muss nach Levinas auf den Moment verzichten, in dem sie Zeuge des eigenen Triumphes sein könnte. Die Güte agiert, ohne selber in das gelobte Land zu gelangen, um biblisch zu sprechen: »Ein Aufbruch jedoch, der nicht zu sich zurückkehrt und der dennoch nicht ins Leere läuft, verlöre gleichermaßen seine absolute Orientierung, wenn er eine Entschädigung in der Unmittelbarkeit seines Triumphes suchen, wenn er, ungeduldig, den Triumph seiner Sache erwarten würde. […] Sofern es absolute Orientierung auf das Andere hin ist – sofern es Sinn ist –, ist das Werk nur möglich in der Geduld, die, bis zum Ende getrieben, für den Handelnden bedeutet: darauf zu verzichten, der Zeitgenosse des Ans-Ziel-Kommens zu sein, zu handeln, ohne in das Verheißene Land einzutreten.« (HAM 34 f.) Es ist bezeichnend, dass sich Levinas in seinen Antworten auf den Vorwurf der Härte seiner Ethik auf ›das Gute‹ im Sinne Platons beruft, da bei Platon die Idee des Guten immer auch mit dem Göttlichen verbunden ist. Levinas seinerseits verknüpft die Umschreibung der ethischen Subjektivität mit der Aufforderung zur Heiligkeit. Der Anspruch der Heiligkeit gehört nach Levinas zutiefst zum menschlichen Subjekt, da sie »das Anthropologische jenseits der Gattung Mensch« (JS 140) definiert. Levinas beharrt unermüdlich darauf, dass die Haltung der Güte zwar auf einer »heteronomen Autonomie« gründet, jedoch keine Entfremdung bedeutet: »Die Subjektivität ist geheiligt in ihrer Anderheit, vor der ich, aus meiner Souveränität entlassen, in einer unabweisbaren Verantwortung meine ›Position‹ finde. Paradoxerweise ist der Mensch als alienus – Fremder und Anderer – nicht entfremdet. Eine solche Heiligkeit versucht das vorliegende Buch auszuarbeiten. Nicht um damit eine Art Heilsweg zu predigen […], vielmehr […] um Rechenschaft zu geben von der möglichen Indifferenz gegenüber dem Menschlichen.« (JS 141) In 84 https://doi.org/10.5771/9783495820445 .
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bewusster Absetzung von Martin Heidegger betont Levinas, dass sich meine Sorge um das eigene Sein in die Sorge um den Anderen verwandeln muss und dass der Sinn des eigenen Daseins nicht meine ›Ganzheit‹ darstellt, sondern meine ›Heiligkeit‹. Die Heiligkeit der Güte besteht nach dem extremen Humanismus von Levinas darin, Verantwortung für alle zu tragen, letztlich »das Universum zu tragen«. Diese für den Menschen sicherlich zermalmende Last ist jedoch nach Levinas’ Überzeugung besser als die egoistische Sorge um sich selbst, da das Tragen dieser Last eine »göttliche Aufgabe« darstellt: »Das Universum tragen – erdrückender Auftrag, aber göttliche Mühsal.« (JS 272) Diese Charakterisierungen sind als der Versuch zu verstehen, ein ›altrozentrisches‹ Subjekt in Absetzung von einem ›egozentrischen‹ zu beschreiben. 22
3.
Jan Patočka und Václav Havel – Leben in Verantwortung
Im Folgenden möchte ich danach fragen, ob es Berührungspunkte zwischen dem von Levinas entfalteten extremen Humanismus und dem Denken des tschechischen Phänomenologen Jan Patočka (1907– 1977) und dem Dramatiker, Schriftsteller und dem späteren tschechischen Präsidenten Václav Havel (1936–2011) gibt. Denn sowohl bei Patočka als auch bei Havel finden wir ebenfalls eine Ethik der Verantwortung, die für die Situation des Dissidententums formuliert wurde. 23 Sicherlich fällt ihre Ausgestaltung bei beiden Denkern unterschiedlich aus. Die Authentizität der Stimmen von Patočka und Havel wird dadurch gesteigert, dass beide für ihre Gedanken mit dem Einsatz des eigenen Lebens gebürgt haben: Patočka hat letztlich sein Engagement mit seinem eigenen Leben bezahlt, Havels Preis waren sich wiederholende Aufenthalte im Gefängnis und eine ständige Überwachung und Gängelung. Das konkrete Praktizieren eines Lebens in der Verantwortung ist bei beiden unzertrennlich mit der Charta 77 verbunden – einem Dokument, das die Einhaltung der Menschenrechte in der damaligen Tschechoslowakei eingefordert Srv. Taureck: Lévinas zur Einführung, 33. Vgl. dazu z. B. den kurzen Text von Patočka Čím je a čím není Charta 77 [Charta 77 – was sie ist und was sie nicht ist] in: Patočka: Češi I. Sebrané spisy Jana Patočky 12 [Tschechen I. Gesammelte Schriften Jan Patočkas 12], Praha 2006, 428–431. 22 23
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hat und maßgeblich von Václav Havel beeinflusst war. 24 Jan Patočka gehörte zu den ersten Sprechern von Charta 77 und starb nur drei Monate nach der Veröffentlichung der Charta 77 im Krankenhaus nach den sich wiederholenden, zermürbenden Verhören durch die kommunistische Staatssicherheit. 25 Sowohl an Patočka, als auch an Havel kann man sehen, dass das Denken von Levinas eine politische Dimension aufweist, die sich zeigt, wenn die ethische Verantwortung gelebt wird und das Wort von der »Geisel des Anderen« im Sinne des Bürgens mit dem eigenen Leben ernst genommen wird.
3.1. »Heroische Existenz«: Berührungspunkte zwischen Patočka und Levinas Beginnen wir zuerst mit einigen äußerlichen Feststellungen: Patočka kannte die Dissertation von Levinas Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl, und wie der tschechische Philosoph, Übersetzer von Totalität und Unendlichkeit und anderer Texte von Levinas und zugleich der Schwiegersohn von Patočka, Jan Sokol berichtet, stand in Patočkas Bibliothek ebenfalls die Originalausgabe von Totalité et Infinie, die Patočka von Pater van Breda erhalten hatte. 26 Sonst gibt es in seinem Werk und dem Nachlass eigentlich nur eine mehrmalige Erwähnung der Dissertation und in zwei auf französisch geschriebenen (unveröffentlichten) Briefen findet sich ein Hinweis darauf, dass Patočka den Inhalt von Totalität und Unend24 Die kommunistische Führung versuchte die Gruppe um Charte 77 zu denunzieren und organisierte u. a. eine feierliche Versammlung von Künstlern am 28. Januar 1977 und von Musikern am 4. Februar (Charta 77 wurde am 1. Januar veröffentlicht) in Prag – eine sog. Anti-Charta – die öffentlich und im Fernsehen übertragen die ganze Bewegung von Charta 77 verurteilte. Einer der Hauptredner bei diesen äußerst unwürdigen Veranstaltungen war Karel Gott. 25 Auch das Begräbnis von Patočka wurde von der kommunistischen Führung behindert: die Straßenbahn wurde umgeleitet, der Verkehr gesperrt, der Lärm von Motorrädern und Helikoptern störte das Begräbnis. Der Nachlass von Patočka musste in einer nächtlichen Aktion auf eine ähnlich spektakuläre Art und Weise vor dem Zugriff des totalitären Regimes gerettet werden wie der Nachlass von Patočkas Lehrer Edmund Husserl. Der Nachlass und die Herausgabe der Schriften von Patočka wird vom Patočka-Archiv am Zentrum für theoretische Studien (Centrum pro teoretická studia) in Prag betreut. 26 Für etliche Hinweise und erhellende Gespräche über das Denken von Jan Patočka danke ich sehr herzlich Jan Frei vom Patočka-Archiv.
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lichkeit gekannt hat. Er war jedoch sicherlich nicht von Levinas in seinem eigenen Denken beeinflusst. Inhaltliche Berührungspunkte zwischen Levinas und Patočka lassen sich also nicht so sehr auf der Oberfläche finden, sondern sie liegen ein wenig tiefer. 27 Zuerst soll die bereits angedeutete Einsicht genannt werden, dass beide Philosophen das Philosophieren im sokratischen Sinne als eine Art Lebenspraxis verstanden haben. Patočka spricht an einigen Stellen seines Werkes von der »heroischen Existenz des Menschen«, wie zum Beispiel in einem Aufsatz aus dem Jahre 1934 Několik poznámek o mimosvětské a světské pozici filosofie [Einige Anmerkungen zur außerweltlichen und weltlichen Position von Philosophie]. 28 Das Motiv einer heroischen Existenz stellt vielleicht einen unterirdischen Strom, einen verborgenen Hintergrund von Patočkas Denken dar. Das Heroische dieser Existenz besteht darin, dass der Mensch in seinem diesseitigen Tun ohne Transzendenz auskommt. Der Verzicht auf die Verankerung in einer Transzendenz als eines großen Sinnes macht die heroische Dimension des menschlichen Lebens aus, die mit einem Gefühl der Heimatlosigkeit in der Welt verbunden ist. Es handelt sich um keine Situation der Absurdität wie bei Albert Camus – bei Patočka gibt es doch einen Sinn, der jedoch durch das ursprüngliche Tun des Menschen aufscheint. Patočka hat eine gewisse Scheu – wie auch Václav Havel –, sich der Transzendenz anzuvertrauen (diese Scheu spiegelt sich wider in seinem ambivalenten Verhältnis zum Christentum), da er fürchtet, dass sich dadurch der Mensch seine Grundsituation erleichtern möchte. Die fundamentale Situation der Endlichkeit des menschlichen Lebens soll laut Patočka nicht von der ›Anlehnung‹ an Gott verdeckt werden. Ein »metaphysisches Happy-end« lehnt Patočka ab. Auch wenn Patočka die menschliche Existenz anders beschreibt als Levinas, der auf die Transzendenz nicht verzichtet und nicht verzichten kann, führen jedoch im Ergebnis die Überlegungen bei beiden zu einem nicht unähnlichen Resultat: auch Levinas appelliert an eine letztlich heroische Existenz – ich soll wie Atlas die Last der Welt tragen, ich soll wie Messias sein. Das heißt, dass die Transzendenz bei Dass es dennoch bestimmte Verbindungen zwischen Patočka und Levinas gibt, bemerkt z. B. Emilie Tardivel: Levinas et Patočka: La liberté en question in: R. Burggraeve, J. Hansel, M.-A. Lescourret, J.-F- Rey, J.-M. Salanskis (eds.): Recherches Levinassiennes, Louvain-Paris 2012, 355–368. 28 Der Aufsatz befindet sich in Jan Patočka: Péče o duši I. Sebrané spisy Jana Patočky 1 [Sorge um die Seele I. Gesammelte Schriften Jan Patočkas 1] Praha 1996, 58–67. 27
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Levinas gerade nicht zur Entlastung des Menschen in seiner Aufgabe führt, sondern umgekehrt zur einer strengen Verantwortung, zu einer »Religion für Erwachsene«. 29 Eine Religion für Erwachsene fordert vom Menschen einen unermüdlichen Einsatz mit der Einsicht, dass mich Gott eben nicht in meiner Verantwortung zu ersetzen vermag. Patočka spricht ähnlich wie Levinas davon, dass die Philosophie keinen Trost spenden kann, denn das wäre die Aufgabe der Religion. In weiteren Texten aus den Jahren 1975 entfaltet Patočka – um eine weitere, mögliche Parallele mit Levinas zu nennen – die Denkfigur der Infragestellung des autonomen Subjekts: bei Patočka jedoch nicht durch den Anderen, sondern durch die Welt. Besonders Erfahrungen der Entfremdung, der Nichtselbstverständlichkeit der Welt sind Erfahrungen, vor denen der Mensch nicht zurückschrecken darf. Der Mensch soll eben diese Infragestellung des Selbstverständlichen annehmen: So wird der Mensch durch dieses In-Frage-stellen durch die Welt in Unruhe gehalten, die eine Heimatlosigkeit nach sich zieht und die jedoch positiv gesehen wird als eine echte, menschliche Art und Weise zu existieren. Auch Levinas spricht in einem ähnlichen Ton von der Heimatlosigkeit als der »Freiheit gegenüber der seßhaften Formen der Existenz«, die die »menschliche Art und Weise, auf der Welt zu sein« bedeutet (SF 36). Am ausführlichsten hat sich Patočka zur Thematik, die uns hier interessiert, im dritten Teil seiner Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte geäußert. Wie wir bereits gesehen haben, spricht Patočka über eine heroische Existenz des Menschen, die mit der Erschütterung eines naiven Sinnes verbunden ist und die ebenso den grossen Sinn in der Transzendenz ablehnt. Ohne Sinn, »ohne den absoluten und ganzheitlichen« Sinn, kann der Mensch aber nicht wahrhaftig leben, wie Patočka selber sagt. Aber – so fragt er weiter: »Aber bedeutet dies, er könne nicht im gesuchten und fraglichen Sinn sein Leben verbringen?« 30 Die ur29 Vgl. Lévinas: Eine Religion für Erwachsene in: Schwieriger Freiheit, 21–37. Die Religion für Erwachsene impliziert für Levinas die grundsätzliche Einsicht, dass es keine Beziehung zu Gott ohne die Beziehung zu anderen Menschen geben kann. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass der Himmel leer ist, jedoch durch die Barmherzigkeit der Mensch von Gott erfüllt ist. Vgl. Michaël de Saint Cheron, Entretiens avec Emmanuel Levinas 1983–1994, Paris 2010, 28: »Dieu n’est pas dans le ciel. Il est dans le sacrifice des hommes, dans la miséricorde des hommes les uns envers les autres. Le ciel est vide mais la miséricorde des hommes est pleine de Dieu.« 30 Jan Patočka: Péče o duši III. Sebrané spisy Jana Patočky 3 [Sorge um die Seele III. Gesammelte Schriften Jan Patočkas 3] Praha 2002, 584. Es wird nach der von Patočka
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sprüngliche Erschütterung des akzeptierten Sinns bedeutet jedoch keinen Absturz in die Sinnlosigkeit: Es ist vielmehr der »paradoxe Versuch, aufgrund der Erschütterung eine freiere und anspruchsvollere positive Sinnerfülltheit zu erwerben«. 31 Die Entdeckung der Fraglichkeit ist nach Patočka etwas, »wodurch die gemeinschaftliche Existenz der Menschen zutiefst bestimmt werden muß«. 32 Da, wo Menschen in der Fraglichkeit einen neuen Sinn suchen, entsteht nach Patočka eine »Brüderlichkeit der in der Naivität Erschütterten«, von denen eine grundsätzliche Solidarität gefordert wird. 33 Lässt sich diese »Solidarität der Erschütterten« als eine ähnlich strukturierte Erfahrung wie die Erschütterung der eigenen ontologischen Identität lesen? Vielleicht berührt sich hier der heroische Humanismus von Patočka mit dem extremen Humanismus von Levinas.
3.2. Erfahrung der Verantwortung bei Havel und Levinas Die Begegnung von Václav Havel mit dem ethischen Denken von Levinas ist zwiefach dokumentiert und zwar in zwei Briefsammlungen: in den Briefen an Olga 34 und in den Briefen von Olga. 35 Bei den Briefen an Olga handelt sich um eine Auswahl von Briefen (die bisher unveröffentlichten Briefe befinden sich in der Bibliothek Václav Havel in Prag) aus dem Zeitraum von Juni 1979 bis September 1982, in dem Havel im kommunistischen Gefängnis saß. Havel adressiert zwar die Briefe an seine Frau Olga, im Laufe der Korrespondenz haben sie sich jedoch zu einem Gespräch mit anderen Freunden ausgeweitet. Allen voran ist Havels Bruder Ivan zu nennen, der in Briefen unter dem Namen von Havels Frau Olga auf Fragen reagiert oder andere Freunde antworten lässt. Havels Briefe stellen jedoch keine rein private Briefe dar, sondern waren von Anfang an auch zur Verbreitung und zum Publizieren bestimmt. 36 In dieser Hinsicht gehören selbst angefertigten Übersetzung der Ketzerischen Essays zitiert, die im zitierten Band abgedruckt ist. 31 Patočka: Péče o duši III, 573. 32 Patočka: Péče o duši III, 571. 33 Vgl. Patočka: Péče o duši III, 584. 34 Vgl. Václav Havel: Dopisy Olze [Briefe an Olga], Praha 1983. 35 Ivan M. Havel a kol.: Dopisy od Olgy [Briefe von Olga], hrsg. von Jan Heller u. Martin C. Putna, Praha: Knihovna Václava Havla 2011. 36 Vgl. dazu die einleitende Studie von Martin C. Putna Dopisy od Olgy – vlastně od
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die Briefe in die literarische Gattung, die ihren Ursprung bei Seneca und seinen Briefen an Lucilius besitzt. Zugleich soll der Titel Briefe an Olga Kafkas Briefe an Milena Jesenská evozieren. 37 Inzwischen wurden auch die Briefe ›von‹ Olga veröffentlicht, das heißt Briefe, die eben Václavs Bruder Ivan oder einer seiner Freunde an Havel geschrieben und ins Gefängnis geschickt hat. Die Briefe an und von Olga sind also letztendlich zu einem kollektiven Gespräch von mehreren Personen angewachsen. So lässt sich erschließen, wie Václav Havel das Denken von Emmanuel Levinas kennengelernt hat. Die entscheidende Rolle als Vermittler spielt Václavs Bruder Ivan, 38 der Václav Havel ins Gefängnis eine Übersetzung des Textes Sans identité/Ohne Identität aus der Schrift Humanismus des anderen Menschen geschickt hat, die von Miloš Rejchrt und Jan Sokol angefertigt worden war. In einem Brief an Václav vom 24. März 1982 berichtet Ivan in verschlüsselter Form von den Vorträgen des flämischen Philosophen Theodore de Boer, die in der Privatwohnung des tschechischen Philosophen und Dissidenten Ladislav Hejdánek stattfanden und die zum Inhalt das Denken von Levinas hatten. 39 Ivan Havel charakterisiert sehr zutreffend die zentralen Gedanken von Levinas anhand von eigenen Notizen, die er sich bei den heimlichen Vorlesungen von Theodore de Boere gemacht hat. Es ist bereits aus dem ersten Brief von Ivan zu sehen, dass er richtig vermutet, die Philosophie von Levinas könnte seinen Bruder interessieren, vor allem aufgrund des zentralen Begriffs der Verantwortung. In weiteren Briefen folgt dann die Abschrift des Textes Ohne Identität. Nach der mündlichen Auskunft von Ivan Havel handelt sich es um einen reinen Zufall, dass ausgerechnet dieser Text von Levinas übersetzt wurde. Der levinassche Text hinterlässt bei Václav Havel einen tiefen Eindruck. Auch wenn Ivan Havel meint, dass die positive und ausführliche Reaktion von Václav auf den Text von Levinas auch von äußeren Bedingung und momentaner Verfassung abhängig war, kann man meiner Meinung nach nicht übersehen, dass Ivana – vlastně od Zdeňka. Rozkrývání skryté kapitoly českých intelektuálních dějin [Briefe von Olga – eigentlich von Ivan – eigentlich von Zdeněk. Aufdecken eines verborgenen Kapitels der tschechischen intellektuellen Geschichte] in: Ivan M. Havel a kol.: Dopisy od Olgy [Briefe von Olga], 9–25. 37 Vgl. ebd., 14. 38 Für einige Hinweise und für das Beleuchten von Hintergründen der ganzen Briefkorrespondenz danke ich sehr herzlich Ivan Havel selbst. 39 Vgl. Ivan M. Havel a kol.: Dopisy od Olgy [Briefe von Olga], 193 ff.
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Havel in Levinas einen »Bruder im Geiste« sehen musste. Denn Levinas beschreibt mit anderen Worten eben jene vorphilosophische Erfahrung der Verantwortung, die faktische und konkrete Erfahrung von moralischem Bewusstsein, die auch Václav Havel verspürt hat. Dies zeigt sich in den Beschreibungen, die sich in den Briefen an Olga wiederfinden. In mehreren Briefen von Mai 1982 schildert Václav Havel seine Eindrücke von der Lektüre des Aufsatzes von Levinas und seine Gedanken dazu. 40 Im ersten Brief vom 8. Mai, der ausdrücklich auf das Denken von Levinas Bezug nimmt, sieht sich Havel von Levinas herausgefordert und versucht, ihn zu verstehen und zugleich seine eigenen Gedanken zum Thema der Identität und der menschlichen Subjektivität für sich zu klären. 41 Die entscheidenden Passagen, die das Verhältnis von Havel zu Levinas beleuchten, finden sich im Brief vom 29. Mai. Havel schildert eine alltägliche, fast banale Situation, in der er sich ethisch verantwortlich für etwas fühlt, wofür er eigentlich nichts kann und diese Situation interpretiert er im Lichte seiner Lektüre von Levinas. 42 Es passierte Folgendes: Havel schaut im Gefängnis Nachrichten im Fernsehen, und bei der Wetteransage verschwindet plötzlich aufgrund einer technischen Panne der Ton. Die Wetteransagerin, die vom Meteorologischen Institut kommt und somit keine professionelle Fernsehmoderatorin ist, bemerkt die Störung und ist mit einem Schlag völlig verwirrt. Sie hört auf zu sprechen, erwartet Hilfe, die nicht kommt, errötet, kämpft mit den Tränen. In dieser Situation wird Havel nach seinen eigenen Worten von einem Gefühl der Verantwortung für die Wetteransagerin erfasst, er errötet ebenfalls, fühlt auch den Drang zum Weinen. Bei der Analyse seines Erlebnisses der Verantwortung schreibt Havel, dass er die peinliche Situation der Wetteransagerin als eine exemplarische Situation der »Nacktheit der menschlichen Ohnmacht«, als eine Situation einer grundsätzlichen menschlichen Ausgesetztheit versteht. Havel verneint zugleich den selbsterhobenen Einwand, dass er sich nur von einem einfachen Gefühl des Mitleids überwältigen ließ. Dagegen spricht seiner Meinung nach die Tatsache, dass er sich gegen dieses
Ich beziehe mich zum Teil auf Jakub Sirovátka: Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott in: N. Fischer/J. Sirovátka (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, Hamburg 2013, 237 f. 41 Vgl. Václav Havel: Dopisy Olze [Briefe an Olga], 301 f. 42 Vgl. Václav Havel: Dopisy Olze [Briefe an Olga], 315 ff. 40
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Gefühl der Verantwortung gewehrt hat, er schämt sich nachträglich für sein Schämen. Er ist auch vom Gefühl der Verantwortung überrascht, da man im Gefängnis dazu neigt, alles im Fernsehen Gezeigte als einen Teil der feindlichen Welt draußen zu sehen. Havel interpretiert somit im Sinne der Ethik von Levinas sein Erlebnis als eine konkrete Situation einer exemplarischen Erfahrung der menschlichen Ausgesetztheit und Verletzlichkeit und zugleich als eine Erfahrung einer unvermittelt empfundenen ethischen Verantwortung: Wir finden uns in bestimmten Situationen vor, die wir nicht völlig erfassen können, und trotzdem können wir diesem moralischen Bewusstsein nicht ausweichen. Der Beschreibung einer grenzenlosen und ›unmotivierten‹ (vom Subjekt nicht übernommenen) Verantwortung fühlt sich Havel sehr nahe, denn er meint, er habe eine solche Verantwortung immer gespürt, ohne sie jedoch so benennen zu können. Somit bestätigt er die These von Levinas, dass ich mich unvermittelt in bestimmten Situationen verantwortlich fühle, und zwar bevor ich mich entscheiden konnte, ob ich bewusst Verantwortung übernehme oder nicht. Das Bewusstsein der Verantwortung ist für Havel zugleich, im Einklag mit dem Denken von Levinas, mit einer Verantwortung vor einem Unendlichen verbunden. Havel hat eine gewisse Scheu, dieses Unendliche als ›Gott‹ zu bezeichnen und verwendet lieber die Wendung von einem »absoluten Horizont« (oder auch von der »Stimme des Seins«), das ihn in Situationen der ethischen Verantwortung »persönlich« anspricht. 43 Aus dem bereits Gesagten lässt sich darauf schließen, dass Havel zwar von dem Text von Levinas berührt ist, jedoch nicht im strengen Sinne des Wortes beeinflusst. Einerseits hat ihn dieser Text deshalb berührt, weil er aus einer ähnlichen Erfahrung des Eingesperrtseins im Gefängnis geschrieben ist. Havel schreibt ausdrücklich, dass er bei Levinas nicht nur die Erfahrung des jüdischen Volkes vorfindet, sondern auch die Erfahrung eines Menschen, der im Gefängnis saß. Und vielleicht sei auch das einer der Gründe dafür, warum ihn der Text so anspricht. 44 Auf der anderen Seite sieht man aber die große Nähe des Denkens von Havel und Levinas, die sich im Motiv des Lebens der Vgl. dazu Václav Havel: Dopisy Olze [Briefe an Olga], 333 ff. und 341 f. Da Havel kein systematischer philosophischer Denker ist, sieht er keine Schwierigkeit darin, den Gedanken der Verantwortung bei Levinas mit dem Gedanken der »Stimme des Seins« bei Heidegger zu verbinden, wogegen sich Levinas selbst wahrscheinlich lebhaft zur Wehr gesetzt hätte. 44 Vgl. Václav Havel: Dopisy Olze [Briefe an Olga], 302. 43
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Verantwortung kristallisiert. Havel sieht sich durch die Lektüre des Artikels von Levinas in seinem eigenen Denken und in seiner eigenen Erfahrung angeregt und bestätigt, die er unabhängig von dieser Lektüre gemacht hat. Diese Erfahrung findet bei Levinas ihren Ausdruck in dem Satz: »Die ethische Situation der Verantwortung läßt sich nicht von der Ethik her verstehen.« (JS 268) Die ethische Situation der Verantwortung läßt sich deshalb nicht von der Ethik her verstehen, weil sie die Quelle der Ethik selbst ist, und als solche rührt sie von einer nicht-philosophischen, vor-philosophischen Erfahrung her. Und eben diese Erfahrung ist dasjenige, was Levinas mit Havel zutiefst verbindet.
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Jean Greisch
»Blickfang«: von Levinas zu Deleuze und zurück
Abstract: Der Beitrag fragt nach der Verbindung und nach der Relevanz einer »Phänomenologie« des Antlitzes bei Levinas in der heutigen visuellen Kultur. Levinas betont in seinen Überlegungen zur Gegenwart des Antlitzes des Anderen die Tatsache, dass das Antlitz stets den Kontext übersteigt, in dem es sich zeigt. So bricht Levinas mit der phänomenologischen Methode, um auf die Bedeutung hinzuweisen, die im Antlitz präsent ist, sich jedoch nicht deskriptiv beschreiben lässt. Der Beitrag konfrontiert Levinas’ Philosophie des Antlitzes mit Deleuzes Nachdenken über das Antlitz im Medium des Films, das um die Bestimmung des Antlitzes als eines Affektbildes kreist.
Im vergangenen Jahr war in der Londoner Saatchi Gallery eine unter dem Titel: From Selfie to Self-Expression in Zusammenarbeit mit dem Mobile-Phone-Hersteller Huawei veranstaltete Ausstellung zu sehen, in der zehn prämierte Selfies mit Selbstportraits Künstler früherer Generationen wie Velasquez, Rembrandt und Van Gogh verglichen werden. Der Werbeprospekt der Ausstellung enthält eine These, die, falls man sie aus dem Blickwinkel der levinasschen Phänomenologie des Antlitzes betrachtet, mehr als nachdenklich stimmt: »Die Selfie-Generation verwandelt sich in die Generation des Selbstausdrucks, insofern jeder von uns bestrebt ist, seine innere Kreativität mittels des einzigen künstlerischen Werkzeugs, das uns allen zugänglich ist, nämlich dem Smartphone, zu erkunden und mitzuteilen.« Wie immer man den künstlerischen Ertrag der Experimentierfreudigkeit der Selfie-Generation auch beurteilen mag, die uns von Tag zu Tag mit einer wahren Sintflut von Selbstporträts überschüttet, so kommen wir nicht an der Frage vorbei, ob diese nicht den Zugang zum Phänomen ›Antlitz‹ im Sinne von Levinas verstellen oder mindestens doch erschweren.
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Jean Greisch
1.
Zur Einführung: ein kleines Gedankenexperiment
Als Einstieg in das Thema meines Beitrags schlage ich Ihnen ein kleines Gedankenexperiment in Form einer imaginären Variation im Sinne Husserls vor. Sie alle kennen vermutlich Raffaels berühmtes, im Auftrag von Papst Julius II. zwischen 1510 und 1511 entstandenes Fresko in der Stanza della Signatura im Vatikan. Das Fresko vereinigt 21 Vertreter der Athenischen Philosophenschule, die sich eindeutig um die Hauptfiguren Platon und Aristoteles gruppieren, welche in gewisser Hinsicht den Apostelfürsten Petrus und Paulus in der christlichen Ikonographie ähneln. Jeder der beiden Philosophenfürsten ist mit einer Grundschrift gewappnet und zeichnet sich durch eine besonders ausdrucksvolle Gebärde aus: Platon trägt den Timaios unter dem linken Arm, und seine rechte Hand verweist mit ausgestrecktem Arm auf die übersinnliche Welt der Ideen. Aristoteles dagegen stützt seine Ethik auf sein linkes Knie, während seine rechte Hand mit ausgespreizten Fingern die Komplexität der durch vernunftgemäßes Handeln zu gestaltenden und zu verwandelnden Wirklichkeit zu erfassen versucht. Stellen wir uns nun vor, Papst Franziskus gäbe einem zeitgenössischen Künstler den Auftrag, die Hauptfiguren der Philosophie des letzten Jahrhunderts auf einem Fresko zu vereinigen und nehmen wir an, der Künstler würde zum Ärgernis vieler noch lebender Philosophen, Martin Heidegger als neuen Aristoteles und Emmanuel Levinas als neuen Platon darstellen. Heidegger hielte in diesem Fall ebenso herausfordernd Sein und Zeit vor seinem Knie wie Raffaels Aristoteles seine Ethik, und Levinas trüge Totalité et Infini unter dem Arm, anstelle von Platons Timaios. Dieser Tausch der Bücher hätte weitreichende Folgen für die Interpretation der Gebärden der beiden Philosophen: Die Welt, die Heidegger mit vollen Fingern umgreift, ist in diesem Fall das In-der-Welt-Sein des Daseins, bzw. die Vieldeutigkeit des Seins; der ausgestreckte Zeigefinger des französischen Philosophen verweist nicht in erster Linie auf den gesternten Himmel über uns, vielmehr deutet er eine Höhe an, die wie bei Platon vom Lichtglanz der überwesentlichen Idee des Guten erhellt wird, die aber erst in der Begegnung mit dem Antlitz des Anderen eine konkrete Gestalt gewinnt, womit auch die Ethik das Lager wechselt.
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2.
Die Epiphanie des Antlitzes: ein Grenzfall der Phänomenalität?
Zu Beginn meiner Erörterungen möchte ich mich mit einigen Schlüsselaussagen zum »Phänomen des Antlitzes« begnügen, die ich aus Levinas’ Darstellung in seiner Rundfunksendung mit Philippe Nemo entnehme, die 1982, ein Jahr vor De Dieu qui vient à l’idée, unter dem Titel Ethique et infini publiziert wurde. 1 1. »Worin besteht und wozu dient diese Phänomenologie des Antlitzes, anders gesagt die Analyse dessen was sich ereignet, wenn ich den Anderen von Angesicht zu Angesicht ansehe?«, fragt Nemo. Diese Frage ist für mehrere Missverständnisse anfällig, auf die Levinas sofort aufmerksam macht. Das erste betrifft den Ausdruck »Phänomenologie des Antlitzes«. Bei weitem nicht jede Phänomenologie wird der eigenartigen Phänomenalität des Phänomens gerecht, mit dem wir es hier zu tun haben. Eine rein deskriptive Phänomenologie, die sich mit einer möglichst präzisen Beschreibung des Sichzeigenden begnügt, kann sehr vieles in den Gesichtszügen eines Menschen erfassen, aber sie entzieht sich gerade dem entscheidenden Ereignis des Angeblickt- und Angesprochenwerdens, und sie verkennt folglich auch die spezifische Unverfügbarkeit des Antlitzes. Falls der Ausdruck »Phänomenologie des Antlitzes« überhaupt Sinn macht, dann nur wenn man ihn, in Analogie zum Terminus »negative Theologie«, als »negative Phänomenologie des Antlitzes« versteht. 2. In der heutigen Werbung und in den visuellen Medien ist der Ausdruck ›Blickfang‹ (englisch: ›Eyecatcher‹) geläufig. Er bezeichnet ein Bild oder ein Piktogramm, das die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich lenkt und sein Interesse an einer Ware oder einer Marke erweckt. Rein empirisch betrachtet, begegnen wir dem Antlitz häufig in der Rolle des ›Eyecatchers‹. Gerade hier aber lauert ein fundamentales Missverständnis, auf das Levinas aufmerksam macht, wenn er sich fragt, inwiefern man überhaupt von einem Blick sprechen kann, der sich dem Antlitz zuwendet. Erblicken, ins-Auge-Fassen, sich etwas näher ansehen, usw.: Dies alles sind Einstellungen, die sich gut ins Primat des visuellen Sinns einfügen, den Aristoteles am Anfang seiner Metaphysik unterstreicht, und die der theoretischen Neugierde Vorschub leisten. Demgegenüber betont Levinas, dass die Zuwendung zum Antlitz von vorneherein einen ethischen Sinn hat, so 1
Emmanuel Levinas, Ethique et infini, Paris 1982, 89–97.
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dass der Ausdruck ›Blickfang‹ einen völlig anderen Sinn als in der Werbesprache erhält, einen Sinn, der über alles Wahrnehmbare und Beschreibbare hinausführt. »Die beste Art und Weise, dem Anderen zu begegnen«, betont Levinas, »besteht darin, dass man nicht einmal die Farbe seiner Augen bemerkt!« 3. Ein Gesicht, dessen man ansichtig wird, und ein Antlitz, das uns anblickt und uns betroffen macht, sind grundverschiedene Phänomene. Einer Phänomenologie, die sich ausschließlich oder hauptsächlich als Phänomenologie der Wahrnehmung versteht, und folglich wie bei Husserl die Wahrnehmung als primären Ort der leibhaften Gegebenheit der Sache selbst bestimmt, fällt es schwer, dem phänomenalen Tatbefund gerecht zu werden, auf den Levinas Wert legt: die ›Aufrichtigkeit‹ (droiture) des Antlitzes, das sich uns schonungslos und ungeschützt darbietet. Das Antlitz, könnte man im Rückgriff auf eine geläufige Redensart sagen, »trägt seine Haut zu Markte«, bzw., in Levinas’ Worten, es ist nackter als jede andere Art der Entblößung, weil es sich eine Blöße gibt, die seine wesensmäßige Armut aufdeckt. Gerade deshalb sind wir ständig versucht, uns eine Contenance zu geben, um zu verhindern, dass diese Armut ausgebeutet und instrumentalisiert wird. 4. Anschließend formuliert Levinas seine für unsere Überlegungen wichtigste These: »Das Antlitz ist Bedeutung und zwar eine kontextlose Bedeutung«, weil »der Andere aufgrund der Aufrichtigkeit (rectitude) seines Antlitzes keine Persönlichkeit innerhalb eines Kontextes ist«. Um die Tragweite dieser These zu ermessen, ist es hilfreich, sich an die einschlägigen Paragraphen 15 bis 18 von Sein und Zeit zu erinnern, in denen Heidegger seine Analyse der Umweltlichkeit darlegt. Die Umwelt zeichnet sich durch ihre eigentümliche Verweisungsmannigfaltigkeit aus. 2 Erst wenn diese gestört bzw. hinfällig geworden ist, machen sich die Dinge in ihrer Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit 3 bemerkbar. Wichtig ist ferner die Einführung des Terminus ›Bewandtnis‹, durch den der Seinscharakter des Zuhandenen sich in seiner Bedeutsamkeit erschließt, und zwar einer Bedeutsamkeit, die die ontologische Bedingung der Möglichkeit der Erschließung der »Bedeutungen« ist, »die ihrerseits wieder das mögliche Sein von Wort und Sprache fundieren« 4. Nichts verbietet uns, 2 3 4
Martin Heidegger, Sein und Zeit, 68. Ebd., 74. Ebd., 87.
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dieselben Termini auch als Schlüssel für die knappe Analyse der Grundstrukturen der Mitwelt zu verwenden, die Gegenstand der Paragraphen 25 bis 27 von Sein und Zeit ist. Auch auf dieser Ebene gibt es Verweisungen und Bewandtniszusammenhänge unterschiedlichster Art, weil, so Heidegger, »der Andere […] in seinem Mitdasein in der Welt« 5 begegnet. Wie aber begegnet er uns? Zunächst in der Rolle des Lieferanten und Handwerkers, des Verkäufers und des Postbeamten usw., sodann als Gegenstand unserer Fürsorge im doppelten Modus der »einspringend-beherrschenden« und der »vorspringend-befreienden« 6 Fürsorge. »Der Andere begegnet in seinem Mitdasein in der Welt« (Heidegger); »Das Antlitz ist Bedeutung und zwar kontextlose Bedeutung« (Levinas). Sehr viel hängt davon ab, welches Gewicht man diesen unterschiedlichen Thesen zumisst. Heideggers Mitwelt ist ›gesichtslos‹, auch dort, wo sie sich nicht mit der Diktatur des ›Man‹ deckt. Worauf es Heidegger ankommt, ist die Tatsache, dass »das Dasein […] als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen« steht. »Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen« 7. Der Ausdruck: »Botmäßigkeit« hat hier einen eindeutig negativen Sinn: Sie unterbindet bzw. verunmöglicht jeden Zugang zur eigentlichen Selbstheit. 5. Dass jede Bedeutung im üblichen Sinn immer kontextgebunden ist, gibt Levinas ohne weiteres zu, aber mit einer entscheidenden Einschränkung: Das Antlitz hat eine Eigenbedeutung, die jede Kontextgebundenheit übersteigt, so dass es trotz seiner Sichtbarkeit grundsätzlich unsichtbar bleibt. Diese eigentümliche Unsichtbarkeit erläutert Levinas folgendermaßen: »Es ist dasjenige, das kein Inhalt werden kann, den unser Denken erfassen könnte; Es ist das Unfassliche, es ist jenseitig. Gerade hierdurch entzieht die Bedeutung des Antlitzes es dem Sein als Korrelat eines Wissens. Demgegenüber besteht das Sehvermögen in der Suche nach einer Adäquatheit, die in vorzüglicher Weise das Sein absorbiert. Der Bezug zum Antlitz dagegen ist von vorneherein ethisch.« 8 »In Wirklichkeit«, folgert Levinas, »ist das Aufscheinen dieser ›ethischen Befremdlichkeiten‹ inmitten des Seins – der Menschlichkeit des Menschen – eine Unterbrechung des Seins. Sie bleiben bedeutsam, selbst wenn das Sein sich 5 6 7 8
Ebd., 120. Ebd., 122. Ebd., 91 f. Ethique et infini, 91.
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wieder mit sich selbst verknotet und sich zurücknimmt.« 9 Ebenso wie Heidegger unterstreicht Levinas die Vorgängigkeit der Bedeutsamkeit gegenüber den sprachlich artikulierten Bedeutungen. Antlitz und Rede lassen sich nicht voneinander trennen, nicht weil der Mund ein Bestandstück des Antlitzes ist, sondern weil das Antlitz als solches schon eine beredte Sprache spricht, der keine Worte wirklich gewachsen sind. Ursprünglicher als alle Antwort ist die Verantwortung, die ihren Ausgang mit dem Antlitz nimmt. In diesem Zusammenhang führt Levinas die für sein Denken überaus wichtige Unterscheidung zwischen dem Gesagten (le dit) und dem Sagen (le dire) ein. Inhaltlich betrachtet ist jedes Antlitz nichtssagender als jede Aussage, denn es ermöglicht keinen Erkenntnisgewinn und kein zusätzliches Wissen. Dennoch ist es vielsagender als jede noch so ausdrucksstarke und inhaltreiche Aussage, weil es keine Angriffsfläche für eine theoretische Betrachtung bietet, die sich in einer Aussage der Art: »Die Katze ist auf der Matte« niederschlägt. Es verlangt eine Antwort, aufgrund derer Heideggers Ausdruck ›Botmäßigkeit‹ einen positiven Sinn erhält. »Das Sagen ist eine Art und Weise den Anderen zu grüßen, aber den Anderen grüßen bedeutet bereits Verantwortung für ihn zu übernehmen.« 6. Dass es uns schwerfällt, dem Anderen gegenüber zu schweigen, hat Levinas zufolge seinen Grund in der Eigenbedeutung des Sagens, wie unbeholfen auch das Gesagte sich ausnimmt: »Man muss über etwas sprechen, sei es auch nur über das gute und schlechte Wetter, wie auch immer, aber sprechen, ihm antworten und schon Verantwortung für ihn übernehmen.« 10 Platons ausgestreckter Zeigefinger erhält eine neue Bedeutung, wenn man ihn als Gebot versteht, das uns in Botmäßigkeit nimmt. »In der Erscheinung des Antlitzes liegt ein Gebot, als ob ein Gebieter zu mir spräche.« 11 Levinas zufolge ist das kein Widerspruch zur Blöße des Antlitzes, denn der Andere ist zugleich »der Arme, für den ich alles vermag und dem ich alles schulde.« 12 Poros und Penia: Reichtum und Armut sind, Platons Symposion zufolge, die beiden Wesensmerkmale des Eros. Etwas von dieser Polarität findet sich auch in Levinas’ Analyse des Antlitzes wieder, aber 9 10 11 12
Ebd., 126. Ebd., 93. Ebd., 93. Ebd., 94.
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mit dem entscheidenden Unterschied, dass in diesem Fall der PorosPol als Imperativ verstanden werden muss. Dies bestätigt die Formulierung, »dass die Herrschaft des Anderen, in Verbund mit seiner Armut, sowie meine Unterwerfung in Verbund mit meinem Reichtum« der Grund aller übrigen menschlichen Beziehungen ist. Die Unmenschlichkeit beginnt mit der Unfähigkeit, angesichts des Anderen ein »Après vous, Monsieur!« auszusprechen. Für Levinas ist das keine bloße Höflichkeitsformel, sondern eine Urstruktur, die über die Menschlichkeit des Menschen entscheidet. 7. Wer sich von ihm eine Grundlegung der Moral erwartet, ist an der falschen Adresse, denn seinen eigenen Worten zufolge geht es ihm nicht um die Ausarbeitung einer Ethik, sondern nur um die Bestimmung des Sinns aller Ethik. Vielleicht könnte man diesbezüglich von einer levinasschen »Metaphysik der Sitten« sprechen, denn ebenso wie bei Kant ist seine Ethik unzertrennlich von einer Metaphysik, und zwar einer Metaphysik, die auf den cartesischen Begriff des Unendlichen rekurriert. Descartes zufolge übersteigt die positiv verstandene Idee des Unendlichen das Fassungsvermögen des cogito. Levinas zufolge erhält diese Unfasslichkeit des Unendlichen ihre konkrete Gestalt in der Begegnung mit dem Antlitz des Anderen, eine Begegnung in der sich der Umschlag (wortwörtlich: die ›Bekehrung‹) der Freiheit in die Verantwortung vollzieht.
3.
Das Antlitz als Affektbild
Lässt sich die levinassche These der Kontextlosigkeit des Antlitzes in Blick auf das Medium des Films verifizieren und vielleicht sogar vertiefen? So befremdlich die Frage auch klingen mag, drängte sie sich mir kurz nach dem Erscheinen von Ethique et infini im Rahmen einer vergleichenden Besprechung von Gilles Deleuzes zweibändiger Abhandlung Cinéma 1–2 und von Paul Ricoeurs Trilogie Zeit und Erzählung auf. 13Ethique et infini erschien 1982. Ein Jahr später veröffentlichte Gilles Deleuze den ersten Band seiner Untersuchung in der er in Rückgriff auf Bergson (insbesondere auf das 1896 erschienene Matière et Mémoire) und auf die Semiotik von Charles Sanders 13 Les métamorphoses de la narrativité. Le récit de fiction selon P. Ricoeur et le cinema selon G. Deleuze (Bulletin): Revue des Sciences philosophiques et théologiques 69 (1985), 87–100.
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Peirce eine philosophische Taxinomie der Bilder und Zeichen im Medium des Films entwarf. 14Aus dieser inhaltsreichen und anspruchsvollen Untersuchung greife ich nur die Kapitel 6 und 7 heraus, in denen Deleuze sich mit dem Phänomen ›Antlitz‹ im Medium des Films beschäftigt. Zuvor einige einführende Bemerkungen über den philosophischen Rahmen der Abhandlung. 1. Deleuze zufolge sind die großen Filmregisseure nicht nur Malern, Architekten oder Komponisten vergleichbar; jeder von ihnen leistet eine eigenständige Denkarbeit, deren Material nicht Begriffe, sondern Bilder und Töne sind. 2. Bergson und Peirce: Man könnte Deleuze vorwerfen, dass der Spagat zwischen einer Philosophie der lebendigen Dauer und einer allgemeinen Semiotik unnachvollziehbar ist. Seines Erachtens erlaubt die Assoziation der beiden Autoren die Vermeidung einer doppelten Engführung: einerseits die einer Phänomenologie, die wie die Merleau-Pontys, grundsätzlich dem Paradigma der Wahrnehmung verpflichtet bleibt, und anderseits einer Semiologie, die den Film als eine besondere Art der Sprache betrachtet. Zwar kann man, etwa unter Berufung auf Robert Bresson, den Film als eine neue Art von Sprache verstehen, weil die Filmbilder ebenso wie Wörter nur aufgrund ihrer Verbindung verständlich bzw. lesbar sind, so dass jede Kameraeinstellung einem Wort und jede Sequenz einem Satz vergleichbar ist. Diese Analogie ist umso suggestiver, als Film und Sprache im Dienst des Erzählens stehen. 3. Deleuze zufolge hinkt dieser Vergleich, weil er der Eigenart der Filmbilder nicht wirklich gerecht wird. Trotz Bergsons harscher Kritik an der »kinematographischen Illusion«, die den Blick auf die reale Bewegung und die konkrete Dauer verstellt, entnimmt Deleuze dem ersten Kapitel von Matière et mémoire mehrere Motive, die vor dem Hintergrund einer Philosophie, deren Hauptthema nicht die Ewigkeit, sondern das Neue, das Bemerkenswerte und das Singuläre ist, den Schlüssel zu einem neuen Verständnis der Bewegung liefern. Der Film (auf Englisch: das ›movie‹) bewegt keine Bilder, vielmehr konfrontiert er uns mit dem Phänomen der Bewegtheit als solcher, in der doppelten Form des Bewegungsbildes, das Gegenstand des ersGilles Deleuze, Cinéma 1. L’image-mouvement, Paris 1983; dt.: Kino 1, Das Bewegungsbild, übersetzt von Ulrike Bokelman und Ulrich Christians, Frankfurt/Main 1989; Das Zeit-Bild. Kino II. ebd., 1990.
14
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ten Bandes der Untersuchung, und des Zeitbildes, das Gegenstand des zweiten Bandes ist. 4. Die fundamentale Bedeutung dieser Unterscheidung weist Deleuze zunächst anhand einer ausführlichen Analyse des Werkzeugkastens der Filmemacher nach, in dem die Begriffe der Einstellung (plan) des Bildfeldes (cadrage), der Perspektive, der Tiefenschärfe, der Montage und des Schnitts eine Hauptrolle spielen. Eine Einstellung (ein Begriff, der nebenbei bemerkt, auch eine Schlüsselrolle in der Phänomenologie spielt!), kann mehr oder weniger total sein. Entsprechend unterscheidet man zwischen totalen (long shots) und nahen Einstellungen (close-ups), bzw. zwischen Supertotale, Totale, Halbtotale, Amerikanischer Einstellung, Halbnaher, Nahe, Groß-, Detailaufnahme, Italienischer Einstellung, wobei nur die Augen oder ein Teil des Gesichts des Schauspielers sichtbar sind, wie etwa in Sergio Leones Western C’era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod). Deleuze legt ein besonderes Gewicht auf den unter Filmwissenschaftlern strittigen Begriff des hors-champ, als Bezeichnung des nicht-sichtbaren Feldes der dargestellten Wirklichkeit, etwa in Form eines Tons, der wie bei Bresson, ein Bild interpretiert. Weil jede Rahmung zugleich ein hors-champ bestimmt, kann dieses horschamp als mögliche Einbruchsstelle für das Unräumliche, Unsichtbare und Spirituelle fungieren. Schon hier weist Deleuze auf das geniale Filmschaffen des dänischen Regisseurs Carl Theodor Dreyer hin, dessen ›asketische‹ Methode der Bildgestaltung gerade dadurch, dass sie das manchmal auf zwei Dimensionen reduzierte Bild räumlich umschließt, eine vierte Dimension (die der Zeit) und sogar eine fünfte, die des Geistes (nämlich die der geistig-geistlichen Entscheidungen) öffnet. 15 5. »Die Einstellung ist das Bewegungsbild«: 16 Diese lapidare These lädt dazu ein, das Bewegungsbild als »indirektes Zeitbild« zu verstehen. Wie das bewerkstelligt wird, erläutert Deleuze anhand einer Analyse von vier unterschiedlichen Montagetechniken, denen ebenso viele Denkbewegungen entsprechen: die organische Struktur des klassischen amerikanischen Films (D. W. Griffith), der die Parallelmontage bevorzugt; die dialektische Montage des sowjetischen Films (Eisenstein), die alternierende Montage des französischen Impressionismus (Epstein, Vigo, Renoir), in dem alles, selbst das Licht 15 16
Ebd., 31. Ebd., 36.
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im Dienst der Bewegung steht, 17 schließlich der dramatische Konflikt von Licht und Schatten im deutschen Expressionismus (Murnau), den Deleuze als »Kino des Erhabenen« 18 versteht. Schon auf der Ebene des Bewegungsbildes wird die aristotelische Definition der Zeit als »Maß der Bewegung nach dem Vorher und Nachher« zugunsten eines perspektivischen Zeitverständnisses überwunden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern es dem Film gelingt, spezifische Zeitphänomene wie die lebendige Dauer, das Altern, die Dekadenz (Visconti), die Verjüngung (Fellini), Geduld und Ungeduld in Zeitbildern zu veranschaulichen, eine Leistung, welche die Überlegenheit des Films gegenüber dem Medium der Sprache begründet. 7. Ehe wir uns der Tragweite dieser These für die filmische Behandlung des Phänomens ›Antlitz‹ zuwenden, noch eine kurze Bemerkung zu Deleuzes Kritik an der Phänomenologie. Im Gegensatz zu vielen Filmtheoretikern die die Analogien zwischen dem intentionalen Bewusstsein und der Kameraführung unterstreichen, verweist Deleuze die Phänomenologie in die Grenzen einer Phänomenologie der Wahrnehmung. Seines Erachtens wird die normative Rolle, welche die Phänomenologen letzterer einräumen, dem Wesen des Filmbildes nicht wirklich gerecht. Zwar kann man das intentionale Bewusstsein, das sich auf einen Gegenstand zubewegt, sich ihm zuwendet oder sich von ihm abwendet, ihn unter neuen Bedingungen (etwa die der primären oder sekundären Erinnerung) wiederfindet usw., mit den Bewegungen einer Kamera vergleichen, aber die Kamera vollzieht Bewegungen, die kein Gegenstück in der natürlichen Wahrnehmung haben. Deleuze zufolge bedeutet das, dass das Kino sich gegenüber anderen Darstellungsformen grundsätzlich dadurch unterscheidet, dass es nicht wie diese ein Weltbild produziert, sondern die Welt in ihr eigenes Bild verwandelt. 19 Ob seine Kritik allen Formen der Phänomenologie gerecht wird, ist eine Frage, die ich hier nicht weiter verfolgen werde, obschon sie ihren Niederschlag in einem langen Brief fand, in dem Deleuze auf meine Besprechung seiner Abhandlung reagierte. Ausschlaggebend ist einzig und allein, dass in seinen Augen Bergsons Ansatz gerade in dieser Hinsicht grundsätzlich dem der husserlschen Phänomenologie überlegen ist. 17 18 19
Ebd., 66. Ebd., 72. Ebd., 84.
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8. Anschließend führt er wiederum im Rückgriff auf Bergson die überaus wichtige Unterscheidung dreier Typen des Bewegungsbildes ein, denen eine je eigene Ontologie und ein besonderes Zeitverständnis entsprechen, selbst wenn in der Alltagserfahrung, ebenso wie im Medium des Films, die drei Bildtypen sich ständig miteinander verkreuzen: Wahrnehmungsbild, 20 Handlungsbild 21 und Affektbild. 22 Das Wahrnehmungsbild steht im Dienst der Vergegenständlichung eines Gegenstandes, zugleich aber vernachlässigt es diejenigen Aspekte des Gegenstandes, die für das wahrnehmende Subjekt ohne Interesse sind. Zwar erfasst die Wahrnehmung den Gegenstand, aber das was sie erfasst, ist niemals die volle Wirklichkeit. Das Handlungsbild steht im Dienst der Wirklichkeitsgestaltung, nämlich einer Wirklichkeit, die sich im Idealfall nur aus Handlungsvollzügen aufbaut. Ein Denken, das sich vom traditionellen Subjekt-ObjektSchema leiten lässt, mag sich mit der Unterscheidung von Wahrnehmungsbildern und Handlungsbildern begnügen. Was dabei unterschlagen bzw. übersehen wird, ist die fundamentale Tatsache, dass die Wirklichkeit, unbeschadet davon, ob sie wahrgenommen oder ›behandelt‹ wird, uns je schon auf die eine oder andere Weise affiziert hat. Das Wirkliche ist das Wahrgenommene (Berkeley: esse est percipi): Das Wirkliche ist das im Handeln Erschlossene (›l’action‹ im Sinne Blondels); Das Wirkliche ist aber auch das uns Ergreifende! Deshalb führt Deleuze einen dritten Bildtypus ein: das Affektbild, dessen Analyse das Thema der Kapitel 6 und 7 seiner Untersuchung ist. 9. Der Titel des 6. Kapitels lenkt sofort unsere Aufmerksamkeit auf die Schlüsselrolle des Antlitzes für die Bestimmung des Affektbildes. Zwar können Gegenstände aller Art in einer Detailaufnahme erfasst werden, aber unter Berufung auf Eisenstein unterstreicht Deleuze, dass die Detailaufnahme nicht nur ein Bild neben vielen andern ist, sondern dass es eine affektive Lektüre eines ganzen Films ermöglicht, insbesondere dann, wenn das Affektbild ein Antlitz ist. Ein Antlitz in der Funktion und Gestalt eines Affektbildes ist mehr als ein Gesicht im Großformat, das den ganzen Bildrahmen ausfüllt. Eigentlich gibt es keine Detailaufnahme eines Antlitzes, weil das Antlitz als solches sich als Detailaufnahme, als close-up darbietet, anders gesagt
20 21 22
Ebd., 94. Ebd., 95. Ebd., 94.
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als etwas, das uns affiziert und betroffen macht. 23 Diese Betroffenheit kann zwei verschiedene Formen annehmen: einmal die der Bewunderung, die Descartes zufolge die menschliche Grundleidenschaft ist und die, Deleuze zufolge, auch die negative Form der Verachtung annehmen kann; ferner das Begehren sowie, innerlich damit zusammenhängend, die Beunruhigung oder Verstörung. Hier bereits stellt sich die Frage, ob bei Levinas der erste dieser beiden unzertrennlichen Pole nicht etwas zu kurz kommt. Deleuze zufolge kann man zwei Fragen an ein Antlitz richten: »Woran denkst Du?« und »Was empfindest Du?«. 24 Entsprechend unterscheidet er zwischen einem ›reflektierenden‹, bzw. ›intensiven‹ und einem expressiven Antlitz. In einer zusammenfassenden Tabelle stellt sich dieser Gegensatz wie folgt dar: Empfindsamer Nerv Unbewegliche rezeptive Platte Antlitzförmige Konturen Wonder (Bewunderung, Erstaunen) Qualität Ausdruck einer Qualität, die mehreren Gegenständen gemeinsam ist
Tendenz zur Bewegung Mikroskopische Ausdrucksbewegungen Gesichtszüge Begehren (Liebe-Hass) Potenz Ausdruck einer Potenz, die von einer Qualität zu einer anderen überleitet
Jeder Filmregisseur privilegiert den einen oder den anderen Aspekt, wobei er sich gleichzeitig die Mittel gibt, auch dem anderen Aspekt gerecht zu werden. Im Blick auf Levinas ist Deleuzes Unterscheidung zwischen dem Antlitz und dem ›Teilobjekt‹ besonders wichtig. Auch wenn das Antlitz nur ein Teil des menschlichen Leibes ist, hat es eine Eigenbedeutung, insofern es von sämtlichen raumzeitlichen Koordinaten abstrahiert und sich in seiner Selbstgenügsamkeit darbietet. Ein Zitat Jean Epsteins erfasst diesen Sachverhalt besonders scharf, in einer Formulierung, die sich mit der levinasschen Bestimmung der Kontextlosigkeit des Antlitzes überschneidet: »Der Ausdruck eines isolierten Antlitzes ist ein von sich aus verständliches Ganzes, wir brauchen ihm keine Gedanken unsererseits hinzuzu23 24
Ebd., 126. Ebd., 127.
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fügen, weder was den Raum, noch was die Zeit betrifft. Wenn ein Antlitz, das wir mitten in einer Menschenmenge bemerkt haben, sich aus seiner Umgebung herauslöst, und sich profiliert, so ist es, als ob wir ihm plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber stünden. Oder auch: Wenn wir es zuvor in einem großen Zimmer erblickt haben, so denken wir nicht mehr an dieses, wenn wir das Antlitz in einem close-up betrachten. Der Ausdruck eines Antlitzes und die Bedeutung dieses Ausdrucks haben keinerlei Bezug oder Verbindung mit dem Raum. Angesichts eines isolierten Antlitzes nehmen wir den Raum nicht mehr wahr. Unser Raumgefühl ist aufgehoben. Eine andersartige Dimension eröffnet sich uns.« 25 Im Gegensatz zu Levinas erörtert Epstein nicht die Natur dieser andersartigen Ordnung. Mit Deleuze kann man sie als eine »Entterritorialisierung« besonderer Art bezeichnen, die das Affektbild, das den reinen Affekt zum Ausdruck bringt, als solches kennzeichnet. 26 In diesem Zusammenhang beruft Deleuze sich auf C. S. Peirces Kategorienlehre, in der er zwischen der Erstheit (Qualität), der Zweitheit (Tatsächlichkeit) und Drittheit (Gesetzlichkeit) unterscheidet. Streng genommen drücken die Affektbilder nur reine Qualitäten bzw. das, was Max Scheler als »materiales« bzw. »affektives Apriori« bezeichnet, aus. 27 Ingmar Bergman zufolge beginnt die Arbeit des Filmemachers mit dem menschlichen Antlitz, weil »die Möglichkeit, sich dem menschlichen Antlitz zu nähern, die erste Originalität und die unterscheidende Qualität des Kinos ist«. 28 Heideggers Bestimmung der Verweisungs- bzw. der Bewandtniszusammenhänge kann man für eine Bestimmung der Handlungsbilder heranziehen. Sie eignet sich aber nicht für die Kennzeichnung der Selbstgenügsamkeit des Affektbildes, das unter Absehen von den raumzeitlichen Koordinaten ideale Singularitäten, die ihren Ausdruck in einem Antlitz finden, in den Blick nimmt. Im Gegensatz zum Charakterbild vollzieht das Affektbild eine Entindividualisierung besonderer Art. Ein ›Charakterkopf‹ ist eine Maske oder eine Fratze, die uns den Blick auf das Antlitz verstellt, wie wir weiter unten am Beispiel von Dreyers Passion der Jungfrau von Orléans sehen werden, einem der größten Filmwerke aller Zeiten. »Das close-up verwandelt das Antlitz in die reine Mate25 26 27 28
Jean Epstein, Ecrits I, Paris 146–147; zitiert in: Cinéma 1, 136. Cinéma 1, 137. Ebd., 140. Ebd., 141.
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rie eines Affektes, in seine Hylè« 29 und offenbart damit die Komplexität eines Affektes, der sich aus vielerlei Arten von Singularitäten zusammensetzt: Empfindungsqualitäten, Gefühlsqualitäten und Handlungsqualitäten, die aber jeweils als reine Virtualitäten bzw. als reines ›Vielleicht‹ im peirceschen Sinn zu verstehen sind. Deleuze veranschaulicht sein Verständnis des Affektbildes anhand von Carl Theodor Dreyers französischem Stummfilm La Passion de Jeanne d’Arc (Die Passion der Jungfrau von Orléans) der 1928 in Kopenhagen uraufgeführt wurde, mit Renée Falconetti in der Rolle der Hauptdarstellerin. Der Film, der 1995 in die 45 Filme umfassende offizielle Filmliste des Vatikans aufgenommen wurde, hatte ein eigentümliches Schicksal, das dem der Rezeptionsgeschichte der Gestalt der Jeanne d’Arc nicht unähnlich ist. Schon im Dezember 1928 verbrannte die in Berlin gelagerte Urfassung und ein Jahr später auch die Neufassung. 1981 wurde in einer norwegischen Irrenanstalt die dänische Version der Urfassung aufgefunden, deren restaurierte Fassung, untermalt von Jo van den Boorens Jeanne d’Arc Suite, am 27. Juni 1996 hier in Mainz uraufgeführt wurde. Deleuze kennzeichnet Dreyers Film, der in vielfacher Hinsicht ein Meilenstein der Filmgeschichte ist, als »den affektiven Film par excellence«, 30 weil er sich einzig und allein auf den Prozess der Jungfrau von Orléans konzentriert und diesen unter ständigem Verweis auf die Passionsberichte der Evangelien als eine Passionsgeschichte interpretiert. Der weiße Hintergrund, vor dem sich die Gesichter der Hauptdarsteller abheben, hat eine ähnliche Funktion wie der Goldhintergrund der mittelalterlichen Tafelbilder. Nicht der historische Kontext, sondern die Ewigkeitsbedeutung des Geschehens ist das Entscheidende, ohne dass die Ewigkeit als Über- oder Unzeitlichkeit verstanden wird. Unter Rückgriff auf Péguys Unterscheidung von ›éternel‹ und ›internel‹ spricht Deleuze vom Geheimnis einer Gegenwärtigkeit, aufgrund derer der Prozess, dessen unerbittliches Räderwerk Dreyer anhand von ausdrucksvollen Bewegungsbildern veranschaulicht, sich in eine Passion verwandelt. Folgendes längeres Zitat ist für unsere Fragestellung besonders aufschlussreich: »Die aktiven Ursachen sind vom Sachverhalt determiniert; aber das Ereignis selbst, das Affektive, die Wirkung überbordet seine eigenen Ursachen und verweist lediglich auf andere Wir29 30
Ebd., 147. Ebd., 150.
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»Blickfang«: von Levinas zu Deleuze und zurück
kungen, während die Ursachen auf sich selbst zurückfallen. Es besteht in der Wut des Bischofs und dem Martyrium der Jeanne; aber von den Rollen und den Situationen wird nur das zurückbehalten, was es dem Affekt ermöglicht, sich zu entfalten und seine Verbindungen zu bewirken, etwa die ›Wirkmächtigkeit‹ des Zorns oder der Tücke, oder die spezifische ›Qualität‹ des Opfers und der Marter. Aus dem Prozess wird die Passion herausgezogen, aus dem Ereignis der unerschöpfliche und blitzartige Anteil, der seine eigene Aktualisierung überbordet, die Erfüllung, die ihrerseits niemals ganz erfüllt ist. Der Affekt ist gleichsam das Ausgedrückte des Sachverhaltes, aber dieses Ausgedrückte verweist nicht auf den Sachverhalt, es verweist lediglich auf die Gesichter, die es ausdrücken, und die dadurch, dass sie sich verbinden oder voneinander trennen, ihm eine eigene bewegliche Materie verleihen. Der Film, der sich aus kurzen close-ups zusammensetzt, stellt den Anteil des Ereignisses dar, der sich nicht in einem bestimmten Milieu aktualisieren lässt.« 31 Die raffinierten Montagetechniken, derer Dreyer sich bedient, stehen allesamt im Dienst dieser Absicht. Dort wo das Wahrnehmungsbild das Antlitz in ein Wahrnehmungsfeld mit seiner atmosphärischen Tiefenschärfe einschreiben und das Handlungsbild einen Bezug zwischen den Gesichtern herstellen würde, zeigt Dreyer jedes Antlitz isoliert für sich, das dadurch eine zeitliche und geistige Tiefe erhält, die sich keinen raumzeitlichen Koordinaten mehr verdankt. Wenn man, wie Deleuze, Dreyers Behandlung des Themas mit dem von Robert Bresson in seinem Procès de Jeanne d’Arc vergleicht, dann kann man sich fragen, ob trotz aller offensichtlichen Gemeinsamkeiten – beide Regisseure behandeln den Affekt als »eine komplexe geistige Größe« 32 und beide sparen nicht mit Anspielungen auf die Passion Jesu – Dreyers Film sich nicht besser für eine levinassche Lektüre als der Bressons eignet. Bressons Jeanne ist eine Gefangene, die Widerstand leistet; die Dreyers ist reines Opfer, das sich dem Zuschauer in seiner Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, Erschöpfung und Blöße darbietet und ihn gerade dadurch betroffen macht und in Frage stellt. Wer sich Dreyers Film näher ansieht, hat gute Gründe, den Unterschied zwischen ›Gesicht‹ und ›Antlitz‹ im Auge zu behalten. Das Gesicht des englischen Hauptmanns mit seinem kantigen Kinn ist der Ausdruck der selbstgenügsamen Macht, das des Bischofs 31 32
Ebd., 151. Ebd., 153.
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Jean Greisch
Cauchon reine Tücke, die Gesichter der Richter spiegeln jedes auf seine Weise eine selbstherrliche Überlegenheit wieder, die keinen Blick für das Leiden hat, die der Folterknechte sind bestialische Fratzen usw. Jedes dieser Gesichter lässt sich auf eine Rolle bzw. eine Funktion zurückführen. Nur Jeanne hat ein Antlitz, das den Zuschauer anblickt und ihn betroffen macht, weil es Qual und Qualität zugleich ist. Es wäre verfehlt, wenn man ihre aufgerissenen Augen oder den geneigten Kopf als Ausdruck einer mystischen Verzücktheit verstehen wollte. Wenn es sich in der Tat um eine authentische Frömmigkeit handelt, so lässt diese sich, ebenso wie bei Levinas, in keiner Weise in Konkurrenz zum ethischen Anspruch bringen.
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