Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas 9783787324170, 9783787324125

Die Frage nach Gott war seit Platon – und verstärkt im Denken Augustins – ein Hauptpunkt des philosophischen Fragens übe

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German Pages 295 [298] Year 2013

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Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas
 9783787324170, 9783787324125

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Norbert Fischer / Jakub Sirovátka (Hg.)

Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2412-5 ISBN E-Book: 978-3-7873-2417-0

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlagfoto: wikipedia.de. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: book factory, Bad Münder. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Jean Greisch »Phänomenologie des Unendlichen«. Levinas und der Cartesische Gottesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Norbert Fischer Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? Der Zugang zur Gottesfrage bei Levinas durch kritische Anknüpfung an Heidegger und Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Eduard Zwierlein Göttliche Komödie. Levinas zu Nietzsches Wort »Gott ist tot« . . . .

87

Bernhard Casper Entscheidung und Prophetie. Überlegungen zu Levinas mit besonderer Beachtung der ›Carnets de captivité et autres inédites‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Norbert Fischer Überlegungen zum systematischen Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Johannes Brachtendorf Der Andere als metaphysisches Prinzip in Levinas’ ›Totalität und Unendlichkeit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Reinhold Esterbauer Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹. Zur Konzeption von Transzendenz in ›Totalité et Infini‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Sarah Allen Der sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas. Von Ethik bis Gerechtigkeit in ›Totalität und Unendlichkeit‹ und ›Jenseits des Seins‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Branko Klun Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ bei Levinas . . . 205 Jakub Sirovátka Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott. Ethische Ungleichheit und »Illéité« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Ludwig Wenzler »Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden«. Die Möglichkeit, philosophisch von Gott zu reden – in der Spur eines abwesenden Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

anhang Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

6 | inhalt

Vorwort der Herausgeber

Emmanuel Levinas, der am 12. Januar 1906 in Kaunas geboren wurde und am 25. Dezember 1995 in Paris gestorben ist, hat neue Denkansätze vorgetragen, die weiterhin zu beachten sind. Das gilt schon für die Habilitationsschrift Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité von 1961, die seit 1978 in deutscher Übersetzung vorliegt und ein neues Vorwort von Levinas mit wichtigen geschichtlichen Hinweisen enthält (Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität). Levinas bedient sich, wie er dort erklärt, in Totalité et Infini noch der ontologischen Sprache. Ob dies ein Nachteil ist, wie das Levinas aus dem Blickwinkel seiner späteren Arbeiten zu meinen scheint, oder vielleicht doch ein Vorzug, der auch Leser anlockt, die an der großen abendländischen Philosophie Orientierung gefunden haben und in dieser Orientierung Zugang zu Levinas suchen, mag dahingestellt sein. Diese Frage war während des Seminars in Kloster Weltenburg (20. bis 27. August 2011), auf das die vorliegenden Beiträge zurückgehen, umstritten. Das vorliegende Buch schließt an jene Publikationen an, die auf Seminare zur ›Gottesfrage‹ in Kloster Weltenburg zurückgehen. Vorausgegangen waren Seminare zu Augustins Confessiones (2000– 2004), die in Publikationen der Verlage Meiner (Hamburg) und Schöningh (Paderborn) dokumentiert sind. Danach folgten Seminare zu Kants Kritik der reinen Vernunft (2005–2008), veröffentlicht in: Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹ (hg. von Norbert Fischer, Hamburg: Meiner 2010). Die Reihe zur Gottesfrage begann mit einem weiteren Seminar zu Kant. Dessen Frucht war: Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants (hg. von Norbert Fischer und Maximilian Forschner, Freiburg: Herder 2010); das Seminar des Jahres 2010 führte zu dem Buch: Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers (hg. von Norbert Fischer und Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Hamburg: Meiner 2011). | 7

Das neue Buch schließt gedanklich an diese früheren Veröffentlichungen an, insbesondere an die Bücher zur Gottesfrage Kants und Heideggers, aber indirekt auch an die Vergegenwärtigung der christlichen Tradition, wie sie im Denken Augustins besonders eindrucksvoll hervorgetreten ist. Emmanuel Levinas, der ausdrücklich (zustimmend und kritisch) an Kant und vor allem an Heidegger angeknüpft hat, führt im Blick auf die Gottesfrage gleichsam deren Ansätze weiter. Merkwürdigerweise fehlt im Werk von Emmanuel Levinas fast komplett der Bezug zum Denken des Mittelalters, zu dem sich jedoch vor allem im Hinblick auf die Metaphysik etliche Verbindungen herstellen ließen. Zwar mögen vom Zeitgeist benommene ›Philosophen‹ Rang und Sinn der Gottesfrage nicht mehr wahrnehmen: auf Kant und auf Heidegger können sie sich dabei jedenfalls nicht berufen. Ob aber derart ›gottloses‹ Denken der Aufgabe gerecht wird, die sich der Philosophie von ihren Anfängen her (z. B. bei Platon und bei Aristoteles) gestellt hat, kann kritisch hinterfragt werden. Womöglich wird die Philosophie, die Ausdruck der ›Liebe zur Weisheit‹ sein soll, als Studienfach und institutionalisierte Disziplin (mit großem Aufwand von Lehrstühlen an Universitäten) zunehmend überflüssig, wenn sie sich nicht mehr auf die zentralen Fragen bezieht, die Kant unter die Titel »Gott, Freiheit, Unsterblichkeit« gestellt hat (z. B. KrV B XXX). Auf die gegenwärtige Situation der Gottesfrage weist eindringlich schon die Untersuchung von Jean Greisch, der den Reigen der Beiträge des vorliegenden Bandes eröffnet. Wer das Fehlen des dritten Abschnitts des ›Ersten Teils‹ von Heideggers Sein und Zeit bedenkt, mag, wenn er gewahr wird, daß dieser fehlende Teil mit der Frage nach der ›Ewigkeit‹ und der ›Transzendenz‹ (folglich mit der ›Gottesfrage‹) hätte zu tun haben sollen, mit umso größerer Aufmerksamkeit auf die Überlegungen achten, die Levinas auf diesem Gebiet vorgetragen hat. Die Martin Heidegger Gesamtausgabe (Frankfurt a. M.: Klostermann 1975 ff.) belegt neu, wie Heidegger das ›Fehlen Gottes‹ auf seinen späteren ›Denkwegen‹ zur Sprache bringt, nachdem Sein und Zeit auch im inneren Sinn ein ›Fragment‹ geblieben war, das gleichwohl mehr als manche ›vollendeten‹ Werke philosophisches Fragen in Gang zu setzen und in Atem zu halten vermag. 8 | norbert fischer / jakub sirovátka

Heidegger knüpft an die denkerische Situation an, wie er sie im Verlauf der Geschichte der abendländischen Philosophie hervortreten sieht, vor allem im Neuansatz bei René Descartes, in der ›kritischen Metaphysik‹ Immanuel Kants und zuletzt im ›Atheismus‹ Friedrich Nietzsches. Für die Entfaltung der Gottesfrage durch Emmanuel Levinas steht die denkerische Situation der Gottesfrage in der abendländischen Philosophie – teilweise in Vermittlung durch das Denken Heideggers – ausdrücklich und unausdrücklich im Hintergrund. Einen zweiten Hintergrund des Denkens von Emmanuel Levinas bildet die jüdische (insbesondere die rabbinische) Tradition, aus der Levinas neue Impulse für das eigene philosophische Denken schöpft. Dies wird in den Beiträgen des vorliegenden Buches mehrfach deutlich, auch dort, wo der Zusammenhang nicht schon aus dem Titel eines Beitrags hervortritt. In dieser Hinsicht sei auf den ›Anhang‹ hingewiesen, der nicht nur ein Verzeichnis der zitierten Quellen, der benutzten Siglen und der zitierten Literatur bietet, sondern auch ein Personenregister. Die Herausgeber danken den Mitarbeitern des Eichstätter Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie, die an der Druckvorbereitung mitgewirkt haben, insbesondere der Sekretärin Anita Wittmann und den wissenschaftlichen Hilfskräften Maximilian Brandt, Joachim Braun, Sr. Hanna-Maria Ehlers OCist, Maria Muther, Florian Sassik und Elisabeth Wittmann, ihr erneut auch für die Mühen der Erstellung des Anhangs. Herzlicher Dank gilt ebenfalls Herrn OStRt Stephan Ehses für die Hilfe bei der abschließenden Korrektur. Eigens gedankt sei der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung des Seminars in Weltenburg. Herzlich danken die Herausgeber wiederum – und nun abschließend – dem Herrn Abt des Klosters Weltenburg, Thomas M. Freihart OSB, der die Weltenburger Seminare von ihrem Anfang an (im Jahr 2000) freundlich begrüßte und ihre Durchführung über alle zwölf Jahre unterstützt hat. Äußere Gründe haben eine Weiterführung der Seminare in Kloster Weltenburg 2012 verhindert. Das schon geplante Seminar zur Gottesfrage in der Dichtung Rilkes soll nun – mit freundlicher Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft – in der Akademie des Bistums Mainz vom 7. bis 11. März 2013 unter der Leitung von Norbert Fischer und AuVorwort der Herausgeber | 9

gust Stahl, dem Präsidenten der Rilke-Gesellschaft, mit Beiträgen renommierter internationaler Referenten durchgeführt werden (Thema: ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes). Die Herausgeber danken schließlich erneut dem Verlag Felix Meiner, insbesondere Herrn Horst D. Brandt, für die Aufnahme ins Verlagsprogramm. Norbert Fischer / Jakub Sirovátka

– Jean Greisch –

»Phänomenologie des Unendlichen« Levinas und der Cartesische Gottesbegriff

1. Suchen, Fragen, Untersuchen – eine phänomenologische Vorbetrachtung Eine alte indische Legende behauptet, daß das Fragezeichen das Erstgeborene der Schöpfung sei. Als Denkende ertappen wir uns – gleichsam in flagranti – beim Vollzug des Frageaktes, in dem wir ständig uns selbst übersteigen. Viele unserer Fragen sind Ausdruck einer Not. Wir stellen sie nicht, weil wir uns in der Rolle des Fragestellers gefallen, sondern weil sie sich uns aufdrängen und daher ›ausgetragen‹ werden müssen. Nur wer feinhörig genug ist, um die Not hinter einer Frage herauszuhören, versteht sie wirklich, denn er erkennt auch die Grundstimmung der Angst, die viele Fragen unterschwellig begleitet. 1. Gerade dort, wo es sich um die Entfaltung der ›Gottesfrage‹ handelt, lohnt es sich, zunächst einige Gedanken an das Phänomen des Fragens zu verschwenden, insbesondere jene Art des Fragens, die es uns ermöglicht, ›Probleme‹ zu formulieren und sie gleichsam ›auf den Punkt‹ zu bringen. In § 2 von Sein und Zeit kennzeichnet Heidegger das Phänomen des Fragens anhand der Unterscheidung: Gefragtes, Befragtes, Erfragtes.1 Weil es sich um eine formale Grundstruktur handelt, läßt sie sich ebenso auf die Gottesfrage wie auf die Seinsfrage anwenden. Heidegger betont (ebd.): »Jedes Fragen ist ein Suchen. Jedes Suchen hat seine vorgängige Direktion aus dem Gesuchten her. Fragen ist erkennendes Suchen des Seienden in seinem Daß- und Sosein. Das erkennende Suchen kann zum ›Untersuchen‹ werden als freilegendes Bestimmen dessen, wonach die Frage steht.«

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Nicht jede Frage wirft ein Problem auf – glücklicherweise! Aber jeder Wissenschaftler und Forscher weiß aufgrund seiner persönlichen Erfahrung, daß es Fragen gibt, die uns mit schwer zu lösenden Problemen konfrontieren. In meiner eigenen philosophischen Forschungsarbeit im Bereich der Phänomenologie ist mir die Bedeutung der Wie-Frage, die Frage nach der Gegebenheitsweise der Phänomene, immer deutlicher bewußt geworden. »Wie so etwas wie eine Frage oder ein Problem begegnet«, »ob Fragen so herumliegen wie Steine auf dem Wege«, schließlich »das Sein von ›Frage‹« selbst (EPF 73 f.), das alles sind Fragen, denen der Phänomenologe nicht ausweichen kann. Dies trifft auch auf die ›Gottesfrage‹ zu, die ganz gewiß nicht wie ein Stolperstein auf dem Wege herumliegt! Nur unter bestimmten, erst zu klärenden Bedingungen, können wir ihr begegnen, wobei dieses Verbum sehr verschiedene Bedeutungen erhalten kann. Alles echte Fragen ist Ausdruck eines ›Suchens‹, das nicht notwendigerweise auf eine theoretische ›Untersuchung‹ hinausläuft. Im Suchen drückt sich immer auch »eine bestimmte Sorge des Daseins« aus, die »eine bestimmte Seinsmöglichkeit des Daseins« reflektiert (EPF 74). Das ›Problem‹ definiert Heidegger als »Frage, die ausdrücklich der Antwort für bedürftig und würdig gehalten wird, eine ausdrücklich aufgabenmäßig gestellte Frage« (EPF 77). Gott und das Tier haben keine ›Probleme‹! ›Probleme‹ gibt es nur für ein Seiendes, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (SuZ 12), nämlich jenes Seiende, das Heidegger ›Dasein‹ nennt. Es gibt Menschen, die aus religiösen oder nicht-religiösen Gründen behaupten: ›Für mich ist Gott kein Problem‹, entweder weil ihr Glaube an seine Existenz in unmittelbarem Wissen gründet oder sie von der Nichtexistenz Gottes überzeugt sind. Für diejenigen aber, für die Gott ›ein Problem‹ ist, verwandelt sich die Gottesfrage in eine Aufgabe ›für forschende Erkenntnis‹, bzw., in der Terminologie Anselms: in eine ›fides quaerens intellectum‹. Das Vertrackte hierbei ist, daß eine ›Problemstellung‹ uns auch daran hindern kann, der ›Sache selbst‹ zu begegnen. Es gibt keine ganz und gar ›unschuldigen‹ Probleme, denn dort, wo es eine bestimmte Problemstellung gibt (etwa die der sogenannten ›Gottesbeweise‹), kann diese im Namen einer anderen Problemstellung hinterfragt werden. Probleme dürfen nicht fraglos von der Tradition übernommen werden. Sie 12 | jean greisch

sind kein ›Erbgut‹, das automatisch von einer Generation auf die nächste übergeht. Sie müssen ›geklärt‹ werden, was Heidegger zufolge besagt (EPF 79): Man muß sie »in der Frage und mit ihr das Befragte und Gefragte als eine Aufgabe mitergreifen, d. h. sich mitentscheiden für das Befragte, die Fragehinsicht und die Antworttendenz.« Die ›Antworttendenzen‹ sind ebenso unterschiedlich wie die Weisen des Fragens. Eine Antwort kann in einer Reihe ›gültiger Sätze‹ bestehen, aus denen sich eine ›Theorie‹ zusammensetzt. Sie kann aber auch in der Infragestellung des Fragenden selbst bestehen, der sich seiner eigenen Fragwürdigkeit bewußt wird. »In dieser Art des Fragens«, so Heidegger (EPF 76), »besteht die Möglichkeit, daß die Antwort gerade dann Antwort ist, wenn sie es versteht, in der rechten Weise zu verschwinden.« Gerade in »diesem Zurückschlagen dieses Fragens in immer neues Fragen konstituiert sich das, was wir Fraglichkeit nennen.« Wenn wir Heideggers formale Unterscheidung zwischen dem ›Gefragten‹, dem ›Befragten‹ und dem ›Erfragten‹ versuchsweise auf die Gottesfrage anwenden, zeigt sich, daß das ›Gefragte‹ sehr verschieden lauten kann, je nach dem Fragewort, auf das der Akzent gelegt wird: Was ist Gott?, Wer ist Gott?, Wo ist Gott (nicht zu vergessen Nietzsches Frage: Wohin ist Gott?), ›Wie fällt er ins Denken ein?‹ (Levinas), usw. Nicht weniger vielfältig ist das Befragte, anders gesagt, der ›Ansprechpartner‹, bei dem man sich Auskunft holt: Es kann die Welt, das Dasein, aber auch Gott selbst sein! Je nachdem, wie man das Gefragte und das Befragte bestimmt, rückt das ›Erfragte‹, anders gesagt, das, was in dieser Frage auf dem Spiel steht, in ein anderes Licht. 2. »La question ne se pose pas. Elle en est absolument incapable: il y a trop de vent«, lautet ein bonmot des französischen Dichters und Chansonniers Boris Vian. Um dem Wortspiel gerecht zu werden, könnte man den Spruch wie folgt übersetzen: ›Die Frage kann nicht zum Stillstand gebracht werden. Dazu ist sie absolut unfähig: denn der Wind ist zu stark.‹ Welcher Wind aber ist stark genug, um bestimmte Fragen zu unterdrücken, bzw. sie mit sich wegzutragen, ehe sie Gestalt annehmen können? Es ist der Wind der Geschichte. Manchmal weht er so stürmisch, daß es uns den Atem verschlägt. Manchmal zwingt er auch, in eine neue Richtung zu blicken, wie »Phänomenologie des Unendlichen« | 13

Descartes im Berufungstraum der Nacht des 10./11. November 1619 (vgl. AT X,181–186). Gegen diese Vorstellung könnte man einwenden, daß im luftleeren Raum des ›reinen Denkens‹ absolute Windstille herrscht. Dies entspräche dem Konzept einer philosophia perennis, die einen Grundbestand von ›ewigen‹, d.h. unwandelbaren Menschheitsfragen verwaltet, zu denen selbstverständlich auch die ›Gottesfrage‹ gehört. Die Geistes- und Ideengeschichte belehrt uns indessen darüber, daß dieses Konzept korrekturbedürftig ist. Aber inwiefern und bis zu welchem Punkt? Boris Vians bonmot kann man auf zwei verschiedene Weisen verstehen: a) Die Frage stellt sich nicht (mehr), weil sie ›vom Winde verweht‹ ist (geschichtlicher Relativismus). b) Die Frage stellt sich nicht, weil im Fragehorizont unserer Weltanschauung kein ›Landeplatz‹ für sie vorgesehen ist (weltanschaulicher Relativismus). Beide Antworten sind, mindestens in ihrer extremen Form, unhaltbar: a) Eine Frage, die dem ersten Anschein nach nicht mehr zeitgemäß ist, kann doch in einer neuen Situation wieder aktuell werden. Nichts deutet darauf hin, daß es Fragen gibt, die ein für allemal ›erledigt‹ wären, denn »Denkwege bergen in sich das Geheimnisvolle, daß wir sie vorwärts und rückwärts gehen können, daß sogar der Weg zurück uns erst vorwärts führt« (UzS; GA 12,94). b) Ebenso wenig kann man behaupten, daß gewisse Fragen im Horizont einer bestimmten Kultur überhaupt nicht gestellt werden können, weil sie an ihr ebenso abgleiten wie das Wasser am Gefieder einer Ente. Wer eine Weltanschauung verstehen will, muß sich nicht nur für ihr Wertesystem, ihre theoretischen Vorstellungen und praktischen Lebensziele interessieren, sondern auch für die Fragen, die sie sich stellt, denen sie ausweicht (die sie unter Umständen zensiert) oder die sie sich nicht stellen kann. Buddha z. B. verbietet seinen Schülern vierzehn ›müßige‹ Fragen, weil sie keine soteriologische, sondern nur eine ›rein spekulative‹ Bedeutung haben. ›Sage mir, 14 | jean greisch

welche Fragen dich umtreiben, und ich werde dir sagen, wer du bist!‹: Diese Maxime gilt nicht nur für die Individuen, sondern auch für die Weltanschauungen. Es gibt freilich keine hermetisch abgeschlossenen Kulturhorizonte, wie die Erfahrung der Übersetzung und des interkulturellen Dialogs zeigt. Auch wenn eine Frage nicht auf dem eigenständigen Boden einer Kultur gewachsen ist, kann sie an diese Kultur herangetragen und in sie hinein ›übersetzt‹ werden. 3. Auch wenn man Heideggers Hypothese einer in unterschiedliche Epochen gegliederten ›Seinsgeschichte‹ nicht vorbehaltlos übernimmt, kann man sich doch fragen, ob nicht jedes Zeitalter gleichsam die Gottesfrage hat, die es verdient. Epochenschwellen lassen sich nicht messerscharf voneinander trennen. Dennoch kann man auch in dieser Hinsicht mehrere Epochen unterscheiden, je nach dem Fragepronomen, das bevorzugt wird. a) Am Anfang seiner Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes beschreibt Hegel das ›Bildungsvorurteil‹ seiner Zeit, in der ›viel, unendlich viel‹ – in Klammern fügt er eine offensichtlich auf Schleiermacher gemünzte Formel hinzu: »oder vielmehr in unendlichen Wiederholungen doch wenig« (VPR II,382) – von Religion und sehr wenig von Gott selbst gesprochen werde, in einigen eindrucksvollen Sätzen, die sich unschwer auf die Geisteslage der Gegenwart übertragen lassen. Er sagt (VPR II,348): »Ein Unternehmen, jene morschen Stützen unserer Überzeugung davon, daß ein Gott ist, welche für Beweise galten, durch neue Wendungen und Kunststücke eines scharfsinnigen Verstandes aufzufrischen, die durch Einwürfe und Gegenbeweise schwach gewordenen Stellen auszubessern, würde sich selbst durch seine gute Absicht keine Gunst erwerben können; denn nicht dieser oder jener Beweis, diese oder jene Form und Stelle desselben hat ihr Gewicht verloren, sondern das Beweisen religiöser Wahrheit als solches ist in der Denkweise der Zeit so sehr um allen Kredit gekommen, daß die Unmöglichkeit solchen Beweisens bereits ein allgemeines Vorurteil ist, und noch mehr, daß es selbst für irreligiös gilt, solcher Erkenntnis Zutrauen zu schenken und auf ihrem Wege Überzeugung von Gott und seiner Natur oder nur von seinem Sein zu suchen.« »Phänomenologie des Unendlichen« | 15

Auch diesbezüglich müssen wir unser Postulat, daß entscheidende Fragen niemals ganz und gar ›erledigt‹ sind, ernstnehmen. Die Hypothese, daß das Zeitalter der Gottesbeweise zu Ende sei, kann auch bedeuten, daß wir alle Karten in der Hand haben, mit denen man diesbezüglich spielen kann. Was sind das für Karten, und welches Spiel wird hier gespielt? Die erste Frage ist verhältnismäßig leicht zu beantworten: Es sind die fünf klassischen Gottesbeweise. Die zweite Frage nach dem Spiel, das hier gespielt wird, ist weniger eindeutig, als man vermuten könnte. Das zeigen schon die unterschiedlichen Terminologien: ›quinque viae‹ (Thomas), ›itinerarium mentis in Deum‹, ›intellectus viator‹ (Duns Scotus), ›preuve‹, ›Beweis‹, usw. Es gibt eine augustinische, eine anselmianische, eine thomistische, eine franziskanische Art und Weise, sich auf diesen Weg zu begeben, auf einen Weg, in dessen Hintergrund auch bestimmte außerphilosophische Texte eine Rolle spielen. Selbst ein eindeutig metaphysischer Traktat wie Duns Scotus’ De primo Principio berührt sich in gewisser Weise mit dem Schwingungsbereich des Sonnengesangs des Heiligen Franz von Assisi. Ebenso gibt es in der Neuzeit eine spezifisch cartesianische, spinozistische und kantische Art und Weise, sich mit dem Problem der Beweisbarkeit Gottes zu beschäftigen. b) In seinem Buch Gott als Geheimnis der Welt, in dem er ähnlich wie Hegel gegen eine gewisse ›theologische Larmoyanz‹ (GGW 2) in bezug auf die Gottesfrage polemisiert, bestimmt der evangelische Theologe Eberhard Jüngel die Neuzeit als die Epoche der Geistesgeschichte, in der die radikale Frage der Denkbarkeit Gottes ausschlaggebend wird, eine Frage, die bei Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Fichte, Schelling und Hegel eine je verschiedene Antwort erhält. Jüngel stützt seine Überzeugung, daß »über dem Atheismus und über der Theologie der Neuzeit […] gleichermaßen der dunkle Schatten der Undenkbarkeit Gottes« liege (GGW XI), der uns zwinge, auch die Frage der Sagbarkeit und der Menschlichkeit Gottes in neuer Weise anzugehen (GGW 15), auf drei paradigmatische Texte: auf Fichtes Forderung: »Er [sc. Gott] soll […] überhaupt gar nicht gedacht werden, weil dies unmöglich ist«;2 auf Feuerbachs Behauptung: »Nur wo du Gott denkst, denkst du, rigoros gesprochen« (WC 86) und auf Nietzsches Herausforderung: »Könntet ihr einen Gott denken?«, bzw. »Könntet ihr einen Gott schaffen?«. Beide 16 | jean greisch

Fragen legt Nietzsche seinem Zarathustra in den Mund (vgl. Auf den glückseligen Inseln; in Also sprach Zarathustra II; KSA 4,109). Jüngel zufolge bewegen wir uns auch heute noch im Frageraum, den die Forderung Fichtes, die Behauptung Feuerbachs und die Herausforderung Nietzsches markieren (GGW 168). Das Zeitalter, in dem mit dem Problem der Denkbarkeit Gottes gerungen wird, wird von Descartes’ Metaphysischen Meditationen eingeläutet. c) Ist das Problem der Denkbarkeit Gottes noch unsere Hauptfrage, oder haben wir diesbezüglich eine neue Epochenschwelle überschritten? Jüngel zufolge fragt man heute »nicht mehr so sehr, ob ein Gott sei und wer oder was Gott sei, sondern vielmehr eher: wo denn Gott sei« (GGW 63). In dieser Frage »sind die alten quaestiones, die dem Wesen und der Existenz Gottes galten, in einer neuen und eigenartigen Weise zusammengefaßt« (GGW 63). Diese Frage, die ihre Wurzeln in der Sprache der Bibel hat, kennzeichnet Jüngel als »die unbestimmteste Weise, nach Gott zu fragen, die zugleich die konkreteste« ist (GGW 69). Unbestimmt ist sie, weil man nicht weiß, an wen sie gerichtet ist; zugleich aber fragt sie konkreter als jede andere. Ihren schärfsten Ausdruck erhält sie zweifellos in Nietzsches Lawine der Fragen des ›tollen Menschen‹ (FW Nr. 125; KSA 3,480 f.): »Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?« Auch wenn es sich hierbei nur um rhetorische Fragen handelt, die unsere Aufmerksamkeit auf ein Ereignis richten, dessen Konsequenzen wir uns noch nicht ganz bewußt geworden seien, sind »Phänomenologie des Unendlichen« | 17

es, Nietzsche zufolge, Fragen, die nicht nur die Gläubigen, sondern in gleicher Weise auch die Ungläubigen, nicht nur die Theologen, sondern in gleicher Weise die Philosophen betreffen. Die Frage »Wo ist Gott?« erhält ihre spezifische Konkretheit dadurch, daß ihr ›Erfragtes‹ die Antreffbarkeit Gottes ist. Vielleicht gibt es aber auch noch andere, nicht weniger unbestimmte Fragen, die doch auf ihre Weise konkret sind. Was die Gottesfrage der Gegenwart anbelangt, verdienen zwei, von Jüngel nicht im Detail erörterte Fragen, eine besondere Aufmerksamkeit. d) Die erste ist die Frage: ›Wer ist Gott?‹, deren Erfragtes nichts weniger als die Ansprechbarkeit Gottes ist. Auch sie hat ihre Wurzeln in der biblischen Rede von Gott. Wenn sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der philosophischen Theologie nicht die Beachtung gefunden hat, die sie eigentlich verdienen würde, dann mag das damit zusammenhängen, daß es der neuzeitlichen Philosophie, obschon sie sich seit Descartes grundsätzlich am Subjekt orientiert, ebenso wenig wie der mittelalterlichen und antiken Ontologie gelungen ist, eine eigenständige Ontologie der Selbstheit zu entwickeln. So lautet jedenfalls das Urteil, das Heidegger in Die Grundprobleme der Phänomenologie über die neuzeitliche Unterscheidung der Grundweisen des Seins als res extensa und res cogitans fällt (GA 24,175): Grundsätzlich, d. h. ontologisch gesehen, sei die »philosophische Umwendung der neueren Philosophie« »gar keine« gewesen! Erst wenn man sich der Frage: »In welcher Weise ist das Selbst gegeben?« ausdrücklich zuwendet und entdeckt, daß das Dasein qua Dasein »nicht durch die Washeit«, sondern »durch die Werheit konstituiert« ist (GA 24,169), kann die Eigenart dieser Frage anerkannt werden (ebd.): »Das Seiende, das wir selbst sind, das Dasein, kann als solches mit der Frage, was ist das?, überhaupt nicht befragt werden. Zu diesem Seienden gewinnen wir nur Zugang, wenn wir fragen: wer ist es?«, lautet Heideggers grundsätzliche These. Haben wir nicht Gründe, die Kategorie der Werheit auch auf die Seinsweise Gottes anzuwenden? Auch wenn Heidegger selbst diese Möglichkeit nirgendwo ausdrücklich erwogen hat, lohnt es sich, sie näher in Augenschein zu nehmen. e) Vielleicht gibt es aber noch eine weitere Möglichkeit, die Gottesfrage im Kontext des heutigen Denkens zu konkretisieren. Sie 18 | jean greisch

führt in diesem Fall über das Fragepronomen Wie? Im ersten Buch der Institutiones von Jean Calvin, der mehr als andere Theologen seiner Zeit die Wichtigkeit der Frage ›Wer ist Gott?‹ betonte, findet man eine Formel, die in der zeitgenössischen Phänomenologie einen gewaltigen Auftrieb erhalten hat (Institution de la religion chrétienne I,2,2): »Comment Dieu nous peut-il venir en pensée?« Das beste Beispiel für die Wichtigkeit Frage gibt der Titel einer Aufsatzsammlung von Emmanuel Levinas: De Dieu qui vient à l’idée. Auch hierbei handelt es sich um eine Frage, die dem ersten Anschein nach überaus unbestimmt ist. Wenn man aber bedenkt, daß die Konkretheit der Phänomenologie darin besteht, daß sie nach der Gegebenheitsweise der Phänomene fragt, kann man auch sagen, daß die Frage der ›Phänomenalität Gottes‹ überaus konkret ist.3 4. Wenn man diese Fragen konkretisieren will, findet man meines Erachtens einen vorzüglichen Gesprächspartner in Augustinus, der nicht zufälligerweise gerade in jüngster Zeit wieder stark ins Interesse der Philosophen gerückt ist. Der typisch Augustinische Akzent der Gottesfrage läßt sich anhand von fünf Fragen kennzeichnen: 1. Die (Vor-)Frage nach der rechten Art und Weise, wie man nach Gott fragen soll: »Wie nun suche ich dich, Herr? Denn wenn ich dich als meinen Gott suche, so suche ich das selige Leben. Ich will dich suchen, damit meine Seele lebe.«4 2. »quid dicit aliquis, cum te dicit?« (conf. I, 4): »Was sage ich, wenn ich ›Gott‹ sage? bzw.: »Wie redet einer, wenn er redet von dir?« Dies ist keineswegs eine rein semantische Frage nach der etymologischen oder linguistischen Bedeutung des aus vier Buchstaben und zwei Silben zusammengesetzten lateinischen Wortes ›deus‹. Es handelt sich vielmehr um eine grundsätzliche Verständnisfrage, die nur auf der Ebene des ›inneren Wortes‹ (verbum cordis) beantwortet werden kann (Io. ev. tr. 1,8): »quid factum est in corde tuo, cum audisses: deus? quid factum est in corde meo, cum dicerem: deus?« Die Antwort, die Augustinus in seinem ersten Traktat über das Johannesevangelium gibt, zeigt, daß es ihm um die Bestimmung des Erfragten der Frage geht (Io. ev. tr. 1,8): »Magna et summa quaedam substantia cogitata est, quae transcendat omnem »Phänomenologie des Unendlichen« | 19

mutabilem creaturam, carnalem et animalem«. Sie löst sofort eine Sturzflut neuer Fragen aus, welche die Fassungskraft des menschlichen Geistes betreffen (ebd.: »quomodo ergo potuisti scintillare in illud quod est super omnem creaturam, ut certus mihi responderes incommutabilem deum? quid est ergo illud in corde tuo, quando cogitas quamdam substantiam vivam, perpetuam, omnipotentem, infinitam, ubique praesentem, ubique totam, nusquam inclusam?« 3. Die Frage nach der ›Antreffbarkeit‹ bzw. der ›Auffindbarkeit‹ Gottes: ›Wo kann man Gott finden?‹; »Wo also fand ich dich, um dich zu lernen?« Vgl. conf. 10,37: »Ubi ergo te inveni, ut discerem te?« Augustinus stellt sie sich selbst, aber zugleich richtet er sie an Gott. ›Ubi Deus invenitur, cum cognoscitur?‹; »ubi ergo te inveni, ut discerem te, nisi in te supra me? ›Wo also fand ich dich, um dich zu lernen, wenn nicht in dir, über mir‹? Und nirgends ein Ort, wir mögen zurückgehen oder uns ihm nahen; und nirgends ein solcher Ort‹ (ebd.). 4. ›Was suche ich, wenn ich Gott suche?‹, bzw.: ›Was also liebe ich, wenn ich meinen Gott liebe? Wer ist jener, der über dem Haupte meiner Seele waltet?‹ (vgl. conf. 10,11: »super caput animae meae«). Die Antwort auf diese Fragen fällt nicht weniger deutlich als die Antwort auf die Wo-Frage aus (conf. 10,29): »cum enim te, deum meum, quaero, vitam beatam quaero.« 5. Schließlich die Werfrage: »Wer ist jener, der über dem Haupte meiner Seele waltet?« (conf. 10,11: »quis est ille super caput animae meae?«). Hierauf gibt Augustinus eine Antwort, deren volle Bedeutung bis heute noch nicht ausgeschöpft ist: ›id ipsum‹, ›Er selbst‹ (vgl. conf. 12,7). Im folgenden erörtere ich im Blick auf die eigentümliche Art und Weise, wie Levinas die Gottesfrage entfaltet, die Möglichkeit einer Verflechtung (oder mit einem Lieblingswort von Levinas bezeichnet, einer ›intrigue‹) der Wer- und der Wie-Frage. Dies verlangt einen Schritt zurück zu Descartes’ Meditationes de prima philosophia, näherhin zur Dritten Meditation.

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2. Descartes als Vorläufer und Wegweiser der zeitgenössischen Phänomenologie ›Unter den wenigen Gedanken, die in jedem Jahrhundert wiederauferstehend, jederzeit eine Exegese erfordern, weil sie zuallererst eine Hermeneutik auf uns ausüben‹, schreibt Jean-Luc Marion (vgl. SpmD 285), ›rühren die von Descartes, deren Stärke gerade in ihrer rätselvollen Einfachheit liegt, die eine scheinbare und eine wirkliche zugleich ist, ans Innerste der zeitgenössischen Philosophie, die ihrerseits das Lebendigste an ihnen in Frage stellt.‹ Nirgendwo läßt sich dieser Satz so gut verifizieren wie in der zeitgenössischen Phänomenologie, von Husserl und Heidegger bis zu Ricœur, Henry und Levinas, einschließlich Marion selbst, dessen Trilogie: L’ontologie grise de Descartes, La théologie blanche de Descartes, Sur le prisme métaphysique de Descartes mitsamt den sie flankierenden Aufsatzbänden Questions cartésiennes und Questions cartésiennes 2 ein exegetisches Meisterwerk der neueren DescartesInterpretation sind. ›Sage mir, was dein Descartes ist, und ich werde dir sagen, was für ein Phänomenologe du bist‹: Dieser Satz gilt fast ausnahmslos für alle Phänomenologen, unbeschadet der Tatsache, daß jeder von ihnen sich seine eigene Vorstellung von Descartes macht.

3. Descartes’ metaphysischer Durchbruch von 1630 und seine Bedeutung für die philosophische Theologie In seiner Untersuchung Sur la théologie blanche de Descartes beschäftigt Jean-Luc Marion sich ausführlich mit Descartes’ in seinen Briefen von 1630 an Mersenne vertretenen These der Erschaffung der ewigen Wahrheiten. Es sind sieben Thesen, die uns die Bedeutung verstehen lassen, die Marion in diesem Zusammenhang dem Ausdruck ›théologie blanche‹ gibt: 1. These der Permanenz: Die Grenzüberschreitung, die Descartes 1630 mit seiner These von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten vollzieht, und die ihn mit der unbegreiflichen Allmacht Gottes konfrontiert, hält sich von Anfang bis Ende seines Denkweges »Phänomenologie des Unendlichen« | 21

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durch, denn sie bildet den durchgängigen Horizont seiner Metaphysik (SthbD 445). Zugleich wird damit eine endgültige ›theologische‹ Entscheidung über das Problem der Denkbarkeit Gottes getroffen: Gott läßt sich nur als »puissance incompréhensible« denken, anders gesagt: Nicht die Vernunft entscheidet, was Gott ist; vielmehr begründet Gott die Rationalität selbst (SthbD 446). Die These von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten begründet eine philosophische Theologie, die im Dienst der Metaphysik als Begründungsdenken steht (SthbD 445). Descartes’ philosophische Theologie schreibt sich zwar in Heideggers Modell der Ontotheologie ein, sie gibt ihr aber zugleich eine neue Gestalt, in der die Begriffe ›causa sive ratio‹ und ›causa sui‹ eine wichtige Rolle spielen (SthbD 450). Diese Theologie ist ›farblos‹, weil es unentschieden bleibt, ob Gott, unabhängig von seiner ›Dienstleistungsfunktion‹ für die metaphysische Begründung der Physik, auch gleichsam für sich selbst interessant ist (SthbD 452). ›Farblos‹ ist sie auch, weil sie zwar mit der Univozität bricht, ohne aber den Gedanken der Analogie wiederaufzugreifen. Diese Unentschiedenheit ist Marion zufolge das Markenzeichen der Neuzeit überhaupt (SthbD 454). Was damit in Vergessenheit gerät, ist die Frage der Vermittlung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen (SthbD 454).

Im Blick auf die Frage der Genese von Descartes’ Metaphysik gehen die Ansichten der Interpreten weit auseinander. Beyssade zufolge sind sie um zwei extreme Positionen zu gruppieren. Entweder stützt man sich wie Charles Adam auf einen Passus des Briefs an Mersenne vom 15. April 1630 (AT I,144), und man vertritt die These, die Meditationen von 1641 seien nichts anderes als die Druckfassung des dort erwähnten kleinen Traktates. Nach dieser Interpretation ist Descartes ein radikaler Selbstdenker, der seine entscheidenden Einsichten sich selbst verdankt. Oder man vertritt mit Marion die Ansicht, daß die sechs Meditationen schon Antworten auf die gegen die ›Metaphysik‹ von 1637 (4. Teil des Discours) erhobenen Einwände sind.5 Marion vertritt eine ›kontinuistische‹ Auffassung des Zusammenhangs zwischen den Briefen an Mersenne und den Medi22 | jean greisch

tationen: Die 1630 gewonnenen Erkenntnisse über die Erschaffung der ewigen Wahrheit, die unbegreifliche Allmacht Gottes und die Möglichkeit eines Gottesbeweises bilden die Basis der Fragestellung von 1641 (SthbD 314). Alquié und Marion stimmen in der Annahme überein, daß der Discours de la méthode ein metaphysischer Übergangsdiskurs ist: Er entfaltet eine Metaphysik des Methodenideals, die nur auf einem einzigen Prinzip beruht, dem ›cogito ergo sum‹. Marion spricht von einer ›Metaphysik des cogito‹, welche freilich die Konsequenzen des Durchbruchs von 1630 (Erschaffung der ewigen Wahrheiten) noch nicht wirklich integriert hat (QC I, 70): »Im Discours setzt Descartes sich noch nicht als Metaphysiker mit der These auseinander, daß Gott aufgrund seiner unbegreiflichen Macht das Methodendenken der Wissenschaft ebenso transzendiert, wie das Unendliche und die Ursache das begriffliche und objektivierende Denken transzendieren.« Was die Frage des Aufbaus der Meditationen, insbesondere des Verhältnisses der sechs Meditationen zu den Objections et Réponses betrifft, kann man mit Guéroult unter Berufung auf die berühmte Unterscheidung des ›ordre des raisons‹ und der Reihenfolge der behandelten Themen6 die Auffassung vertreten, daß der ›ordre des raisons‹ der Cartesischen Metaphysik sich einzig und allein auf die sechs Meditationen beschränkt, und daß die Objections et Réponses nur rein äußerliche Zusätze sind. Man kann aber auch, unter Berufung auf die Absichtserklärung (AT VII, 10, 9–23: »les mêmes pensées par lesquelles je me persuade d’être parvenu à une certaine et évidente connaissance de la vérité, afin de voir si, par les mêmes raisons qui m’ont persuadé, je pourrai aussi en persuader d’autres«) eine mehr dialogische Auffassung vertreten, derzufolge die ›Metaphysik‹ der Meditationen bis zum Schluß auf dem Prüfstand bleibt (EsD 83–104).

4. Der Baum des Wissens und seine Wurzeln In der berühmten, 1647 geschriebenen Lettre-Préface zur französischen Übersetzung der Principia philosophiae durch Abbé Picot illustriert Descartes den inneren Zusammenhang seines Denkens anhand des Bildes des ›Baums der Wissenschaften‹ (AT IX /Teil 2,14): »Phänomenologie des Unendlichen« | 23

»Toute la philosophie est comme un arbre, dont les racines sont la métaphysique, le tronc est la physique, et les branches qui sortent de ce tronc sont toutes les sciences, qui se réduisent à trois principales, à savoir la médecine, la mécanique et la morale.« In der 1949 verfaßten Einleitung zu Was ist Metaphysik? greift Heidegger dieses Bild auf, weil es ihm eine willkommene Gelegenheit liefert, eine seines Erachtens ungefragte Frage aufzuwerfen (GA 9,365): »In welchem Boden finden die Wurzeln des Baumes der Philosophie ihren Halt? Aus welchem Grunde empfangen die Wurzeln und durch sie der ganze Baum die nährenden Säfte und Kräfte? Welches Element durchwaltet, in Grund und Boden verborgen, die tragenden und nährenden Wurzeln des Baumes? Worin ruht und regt sich das Wesen der Metaphysik? Was ist die Metaphysik von ihrem Grund her gesehen? Was ist im Grunde überhaupt Metaphysik?« Auffällig ist, daß Heidegger mehr an der Natur des Bodens, in dem der Baum des Wissens seine Wurzeln geschlagen hat, als an der Beschaffenheit des Baumes selbst interessiert ist. Unsere Frage ist demgegenüber eine andere. Sie betrifft die Vielheit der Wurzeln und die Einheit des Stammes, sowie die Frage, wo die in diesem Beispiel nicht namentlich genannte (philosophische) Theologie anzusiedeln ist: ein Nebenzweig im Geäst, oder gar nur ein Blatt, das beim ersten Frost zu Boden fällt, oder eine, vielleicht sogar die Hauptwurzel des Baumes? Ein Punkt scheint jedenfalls klar zu sein: Descartes spricht von mehreren, und nicht von einer einzigen Wurzel, deren Pluralität die ›Metaphysik‹ konstituiert (EsD 27). Wie ist diese Pluralität zu verstehen? 1. Wenn man die Metaphysik als Prinzipienwissenschaft bestimmt, weist das Bild der mehrfachen Wurzeln auf eine Vielzahl von Prinzipien, die Jean-Marie Beyssade in einer eindrucksvollen Analyse der dritten Meditation auf vier Wurzeln, drei positive und eine negative, zurückführt: 1. Die wurzelhafte Gewißheit der Existenz des cogito; 2. Die in ihr enthaltene ebenso wurzelhafte Gewißheit der sogenannten ›Evidenzregel‹; 3. Die oberste Gewißheit der Existenz Gottes; 4. Die gleichsam negative Wurzel des Zweifels.7 Daß diese unterschiedlichen Wurzeln denselben Baum tragen, versteht sich nicht von selbst. Sobald eine von ihnen ›verkannt‹ (bildlich gesprochen: ›abgeschnitten‹ wird), gerät der Baum selbst ins Wanken. 24 | jean greisch

Wenn man nur die immanente Selbstgewißheit des cogito beachtet, erhält man einen rein ›phänomenologischen‹ Descartes, der nur auf ein einziges Prinzip, nämlich das der Selbstaffektion schwört. Offenbar denkt Beyssade hier, ohne ihn beim Namen zu nennen, an das Descartesbild, das Michel Henry in den drei ersten Kapiteln seiner Généalogie de la pyschanalyse entwirft. Wenn man nur auf die Evidenzregel achtet, droht die Gefahr eines Formalismus und Positivismus ohne eigentliche metaphysische Grundlage. Wenn die Idee eines unendlichen und höchst vollkommenen Gottes als einziges Prinzip festgehalten wird, wie bei Spinoza, verwandelt sich der Cartesianismus in einen Naturalismus. Beyssade zufolge besteht die ›überraschende Aktualität‹ der Cartesianischen Philosophie gerade darin, daß er eine Auseinandersetzung mit allen drei ›Modernitäten‹ ermöglicht (EsD 147). Derselbe Interpret fügt eine noch gewagtere These hinzu, die Heideggers Interpretation die Stirn bietet: Das vierte, negative Prinzip, nämlich der Zweifel, ist nicht eine Wurzel der Metaphysik neben den drei anderen; er ist »der ursprüngliche Boden, in dem alle metaphysischen Wurzeln gründen, mithin auch der ganze Baum des Wissens und der modernen Technik« (EsD 148).

5. Die mehrfachen Aufgaben der Cartesischen Metaphysik In seiner dritten großen Descartes-Monographie: Sur le prisme métaphysique de Descartes geht Marion der Frage nach Descartes’ Stellung in der Geschichte der Metaphysik bzw. in der ›Ontotheologie‹ im Sinne Heideggers nach. Es handelt sich in dieser Untersuchung, die ihrerseits bezeichnenderweise den Ausgang mit dem Bild des Baums des Wissens nimmt (SpmD 10 f.) um eine Art von ›spektraler Analyse‹ der Grundtexte von Descartes (SpmD 7). Die große Anzahl von Monographien, die sich mit der ›Metaphysik‹ von Descartes beschäftigen, lassen uns leicht die Tatsache übersehen, daß Descartes uns keine ›Metaphysik‹, sondern ›nur‹ eine ›Erste Philosophie‹ hinterlassen hat, was ihn jedoch nicht daran gehindert hat, von ›seiner Metaphysik‹ zu sprechen (AT III,216: »ma Métaphysique«), von ›seinen metaphysischen Gedanken‹ (AT III,472: »mes pensées de Métaphysique«) und sogar von ›seinen »Phänomenologie des Unendlichen« | 25

metaphysischen Träumereien‹ (AT III,241: »mes rêveries de Métaphysique«). Meditationes de Prima Philosophia lautet der ursprüngliche lateinische Titel des 1641 erschienenen Grundwerkes, das sich mit zwei Hauptgegenständen befaßt: mit der Existenz Gottes und der Unterscheidung von Seele und Leib. Vergleicht man diese doppelte Zielangabe mit den verschiedenen Definitionen des Gegenstandes der Metaphysik bei Aristoteles, fällt sofort ein wichtiger Unterschied in die Augen: Die Erste Philosophie, die Descartes vor Augen schwebt, ist zwar noch eine ›Theologie‹, aber keine ›Wissenschaft vom Seienden als Seienden‹ mehr! Dennoch gibt es eine Brücke, die Descartes mit dem Aristotelischen Konzept der Ersten Philosophie verbindet: Beiderseits handelt es sich um eine Prinzipienwissenschaft, die sich mit den ersten Prinzipien des Erkennens befaßt (AT VIII,1). Dieses neue Verständnis der ›Ersten Philosophie‹, deren Gegenstand »toutes les premières choses qu’on peut connaître en philosophant par ordre« sind, bezeichnet Marion als ›epistemische Protologie‹ (SpmD 60 f.), die den Gegebenheiten der modernen Wissenschaft, insbesondere dem Ideal der Mathesis Universalis besser gerecht wird als die vormalige prw2th filosofía. Damit erfährt auch die ›ontotheologische‹ Grundfrage, wie Gott in diesen neuen philosophischen Kontext hineinkommt, eine grundsätzliche Wandlung. Am Ende seiner ausführlichen Erörterung dieser Frage (SpmD 73–136) kommt Marion zu einem eigentümlich zwiespältigen Ergebnis. Die ›Erste Philosophie‹ von Descartes ›schielt‹ gleichsam nach zwei Richtungen: die der cogitatio einerseits, die der causa anderseits. Alles Seiende, selbst Gott, ist dem Prinzip ›causa sive ratio‹ unterworfen. Jedes Seiende, selbst Gott, muß die Frage beantworten können: Was ist der Grund, warum du existierst? Das einzige Privileg, das Descartes Gott zugesteht, ist, daß er die Frage ›Warum?‹ mit einem ›Darum‹ beantworten kann, anders gesagt, mit dem Gottesnamen: Causa sui. Wenn man diese Interpretation übernimmt, zeigt sich, wie verzweigt die Wurzeln der cartesischen Ersten Philosophie sind: Prinzipienwissenschaft, Egologie, Theologie, die sich ihrerseits wieder in mehrere Wurzeln verzweigt, je nach dem Gottesnamen, der im Vordergrund steht. In der Immanenz des Bewußtseins sind alle Ideen prinzipiell gleichrangig. Als bestimmte Denkformen, d. h. als cogitationes, schei26 | jean greisch

nen sie allesamt meine Gedankengebilde zu sein (AT IX,31: »toutes semblent procéder de moi d’une même sorte«). Meine Vorstellung von mir selbst, vom Wachsstück, von einer Chimäre, von einem Engel und auch meine Vorstellung von Gott sind Ideen, die ich in mir vorfinde (ebd.): ›Insofern jene Vorstellungen lediglich eine gewisse Art des Denkens sind, finde ich zwischen ihnen keine Ungleichheit, und alle scheinen aus mir in gleicher Weise hervorzugehen.‹ Sobald wir aber die jeweiligen Vorstellungsinhalte betrachten, zeigt sich, daß Ideen einen mehr oder weniger großen Realitätsgehalt enthalten können, anders gesagt, mehr oder weniger ›substantiell‹ sind (ebd.): ›Insofern aber die eine diese, die andere jene Sache darstellt, sind sie offenbar sehr verschieden voneinander. Ohne Zweifel sind diejenigen, welche mir Substanzen darstellen, in gewisser Beziehung etwas Größeres; sie enthalten sozusagen mehr objektive [= vorgestellte] Realität in sich, als jene, welche nur Zustandsweisen d. h. Akzidenzien darstellen.‹ Dies ist der Schlüsselsatz, ohne den der Gedankengang der Dritten Meditation nicht nachvollzogen werden kann. Das, was Descartes als ›réalité objective‹ der Ideen bezeichnet, entspricht Alquié zufolge einer neuartigen Ontologie, für die er den Fachausdruck: ›Ideenontologie‹ (»Ontologie des idées«) geprägt hat. Die ›objektive Realität‹ der Ideen darf nicht mit der extramentalen Wirklichkeit verwechselt werden. Es handelt sich um eine ›Wirklichkeit‹, die sich bereits auf dem Immanenzplan des Bewußtseins etablieren läßt.8 In einer realistischen Ontologie ist das Kausalitätsprinzip, die einer Ursache mindestens ebenso viel Wirklichkeit als ihre Wirkung zumißt, auf der extramentalen Ebene angesiedelt. In Descartes’ Ideenontologie wird dieses Prinzip auf die Ideen selbst übertragen: »Nun wird aber durch das natürliche Licht offenkundig, daß in der vollständigen wirkenden Ursache mindestens ebenso viel Realität enthalten sein muß als in dem von dieser Ursache Bewirkten. Denn woher, frage ich, könnte die Wirkung sonst ihre Realität empfangen als von der Ursache? Und wie könnte die Ursache sie ihr geben, wenn sie sie nicht selbst hätte?«9 Damit läßt sich die Überlegenheit der Gottesidee begründen, anders gesagt, der dritte und stärkste Ring der Cartesianischen Kette der Gewißheiten schmieden, auf die sich alles begründete Wissen gründen läßt. »Phänomenologie des Unendlichen« | 27

Ebenso wie Descartes in der Zweiten Meditation eine doppelte – substantielle und phänomenologische – Definition des cogito entwickelt hatte, stellt er uns in der Dritten Meditation zwei Definitionen Gottes vor, von denen man sich fragen kann, ob sie deckungsgleich sind. Sie rahmen den Gottesbeweis ein, den man gemeinhin als ›preuve par les effets‹ bezeichnet: 1. die Idee eines höchsten Gottes, »der ewig, unendlich, allweise, allmächtig und der Schöpfer aller Dinge außer ihm ist«. 2. »Als Gott bezeichne ich eine unendliche, unabhängige, allweise, allmächtige Substanz, von der ich selbst und alles, was etwa noch außer mir existiert, geschaffen worden ist.« Wenn man beide Definitionen miteinander vergleicht, fällt auf, daß in der ersten Definition Gott das Subjekt einer gewissen Anzahl von Attributen ist, die es erlauben, ihn als Schöpfer aller Dinge zu bezeichnen. Die zweite Definition sagt uns, was der Name Gott bezeichnet: eine ›Substanz‹, die sich durch eine bestimmte Anzahl von Attributen auszeichnet. Im Anschluß an die erste Definition entwikkelt Descartes seinen ersten Gottesbeweis, das Argument der Vollkommenheit. Das Vollkommenere kann nie das Resultat eines weniger Vollkommeneren sein. Die unvollkommenste Idee ist die des Nichts, aus der man keinerlei objektive Realität ableiten kann. Die Stufenleiter der Vollkommenheit läßt sich aber nicht ins Unendliche verlängern. Sie muß bei einem höchsten Vollkommenen enden.10 Hiermit sind die Voraussetzungen geschaffen, uns vom Solipsismusverdacht zu befreien.11 Die Idee Gottes, und sie allein, liefert uns den Schlüssel, der es erlaubt, die Tore der Selbstimmanenz des cogito zu öffnen und uns die Existenz einer außermentalen Wirklichkeit zu garantieren (AT IX, 33): »S’il ne se rencontre point en moi de telle idée, je n’aurai aucun argument qui me puisse convaincre et rendre certain de l’existence d’aucune autre chose que de moi-même«. Descartes’ Gott ist kein ›Lückenbüßer‹ im Bonhoefferschen Sinn. Man könnte eher sagen, daß er die einzig mögliche Zugbrücke ist, die uns überhaupt zur Verfügung steht, um die Gewißheit der Existenz der außermentalen Welt zu erreichen. Hier stellt sich die entscheidende Frage: ›Woher nehmen und nicht stehlen?‹, anders gesagt: Bin ich imstande, eine solche Idee aus eigenen Kräften zu 28 | jean greisch

erzeugen? Descartes sagt (AT IX,35): »Partant il ne reste que la seule idée de Dieu, dans laquelle il faut considerer s’il y a quelque chose qui n’ait pû venir de moy-mesme.« Die Frage, ob die Idee Gottes nicht ein Erzeugnis des cogito sein könnte, beantwortet Descartes mit einem entschiedenen Nein (vgl. AT IX,36): ›Zwar habe ich eine Vorstellung von Substanz, weil ich selbst Substanz bin; dies kann jedoch nicht die Vorstellung von der unendlichen Substanz sein, da ich selbst nicht unendlich bin.‹ Ich bin meiner Existenz absolut gewiß und weiß, daß ich eine res cogitans bin. Darüber hinaus verfüge ich über die Evidenzregel. Nichts gewährleistet mir indessen, daß mein Denken, um eine Formel der Mersenne-Briefe wiederaufzugreifen, fähig ist, Gott umgreifend zu erfassen, ihn gleichsam denkend zu ›umarmen« (»embrasser de la pensée«). Daher kann die Antwort nur lauten, daß Gott selbst diese »wahrste, klarste und deutlichste aller meiner Vorstellungen« in mich gelegt hat: »si elle n’avait été mise en moi par quelque substance qui fût véritablement infinie«. Hier deutet sich eine Cartesianische Antwort auf Heideggers Frage: »Wie kommt der Gott in die Philosophie?« an. Sie setzt voraus, daß die Idee des Unendlichen nicht nur ›wirklichkeitsträchtiger‹ als die des Endlichen ist, sondern daß wir die lexikalischen Gegebenheiten gleichsam gegen den Strich lesen müssen. Lexikalisch gesehen enthält der Ausdruck ›infini‹ eine Negation: Das Unendliche ist das Nicht-Endliche. Wenn wir uns an den Wirklichkeitsgehalt der betreffenden Ideen halten, verhält es sich genau umgekehrt: Das Unendliche ist das positive und das ursprüngliche, demgegenüber alle anderen Ideen mit einer Negativität behaftet sind: »Ich erkenne vielmehr ganz klar, daß die unendliche Substanz mehr Realität enthält als die endliche; daß mithin in gewissem Sinne die Vorstellung des Unendlichen der des Ich vorausgeht.« Ein Gott, der nur die Negation des Endlichen wäre, wäre ein impotenter Gott. Marion bezeichnet dieses durch und durch positiv verstandene Unendliche als das ›wahre A priori‹ Descartes’ nicht nur in erkenntnistheoretischer, sondern auch in ontologischer Hinsicht, denn alle Auszeichnungen der Idee Gottes haben in ihm ihre Wurzeln: ›ganz und gar wahrhaftig‹ (»entièrement vraie«), ›überaus klar und deutlich‹ (»fort claire et fort distincte«), und mehr objektive Realität als alles Anderen enthaltend. »Phänomenologie des Unendlichen« | 29

Wissen wir, was wir sagen, wenn wir ›unendlich‹ sagen? – Ja und nein. In gewisser Hinsicht entzieht das Unendliche sich unserem Zugriff: »Es liegt nämlich im Begriff des Unendlichen, daß es von mir, der ich endlich bin, nicht verstanden werden kann«. Gerade das Unendliche bestätigt die Rede von der »puissance incompréhensible«. Damit stellt sich die Frage, ob der ›Unendliche‹ nur ein Gottesname neben anderen ist, oder derjenige Name, demgegenüber alle anderen nur Abwandlungen sind. Nichts ist verständlicher und einleuchtender als unser Unvermögen, das Unendliche voll zu erfassen.

6. Das Ich und Gott In der Dritten Meditation markiert ein neues: »vielleicht aber« einen weiteren wichtigen Einschnitt. Die neue Frage ist, wie das cogito sich im Licht der Idee des Unendlichen verstehen kann. Eine mögliche Antwort wäre: Was noch nicht ist, kann noch werden, anders gesagt: Das, was augenblicklich noch das Fassungsvermögen meines Geistes übersteigt, wird mir in einem späteren Entwicklungsstadium zugänglich sein. Dies ist ganz und gar nicht die Meinung von Descartes. Selbst wenn wir uns alle möglichen Fortschritte zumuten, ist es unvorstellbar, daß damit der Unterschied des Endlichen und des Unendlichen eingeebnet würde (AT IX,36): ›gesetzt auch, meine Erkenntnis nähme allmählich zu und vieles wäre als Möglichkeit in mir, was noch nicht zur Wirksamkeit gelangt ist, so gehört doch nichts von all diesen Vorzügen zur Vorstellung Gottes, in der überhaupt nichts potentiell ist.‹ Der Traum von einer allmählichen Einebnung des Unterschieds zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen ist nicht nur eine Chimäre; er ist der Alptraum des gnostischen ›Eritis sicut Deus‹, dem wir uns auf jeden Fall verweigern müssen (AT IX,36): ›Gott aber fasse ich in der Weise als aktual Unendliches auf, daß seiner Vollkommenheit nichts hinzugefügt werden kann.‹ Der Satz (AT IX,40): »Il me reste seulement à examiner de quelle façon j’ai acquis cette idée« (›Ich habe nur noch zu untersuchen, in welcher Weise ich jene Vorstellung von Gott erhalten habe‹) leitet den letzten Gedankengang der Betrachtung ein. Bisher hatte 30 | jean greisch

Descartes mehrmals behauptet, daß die Idee Gottes nicht von ihm selbst erfunden werden und daher nur ›in‹ ihn selbst ›gelegt‹ werden konnte. Damit bleibt die Frage ungeklärt, wie er diese Idee erworben hat. Wenn sie von Außen wie ein ›Kuckucksei‹ an ihn herangetragen worden wäre, würde sie den problematischen Charakter der Außenwelt teilen. Diese Lösung kann nicht die Descartes’ sein, denn er ist sich bewußt, daß die Idee Gottes nicht seinen Sinnen entstammt (AT IX,40): »je ne l’ai pas reçue par les sens«. Ebenso wie Spinoza kann er als Vertreter einer rationalistischen Metaphysik nicht von einer mehr oder weniger wechselhaften ›Gotteserfahrung‹ sprechen. Weil die Vorstellung Gottes aber auch keine reine Gedankenkonstruktion oder ein bloßes Produkt unserer Einbildungskraft ist (»elle n’est pas une pure production ou fiction de mon esprit«), bleibt nur eine einzige Antwort übrig, nämlich die Annahme, daß die Gottesidee ebenso ursprünglich wie ich selbst ist. Es ist eine ›angeborene Idee‹, die sich, obschon ich sie von Anfang an in mir finde, dennoch radikal von mir unterscheidet. Wie stringent die Beweisführung der Dritten Meditation auch sein mag, so bleibt sie doch eine ›Betrachtung‹, anders gesagt eine ›geistliche Übung‹ im antiken Sinn des Wortes, bei der man lange Zeit verweilen muß, um sie gleichsam ›genießen‹ zu können: »Doch bevor ich dies eingehender prüfe und zu den andern Wahrheiten, die sich daraus ergeben, vorzudringen suche, will ich hier noch ein wenig bei der Betrachtung Gottes verweilen. Ich will seine Eigenschaften bei mir erwägen und die Schönheit dieses unermeßlichen Lichts, soweit mein geblendetes geistiges Auge es zu ertragen vermag, anschauen, bewundern, anbeten.« »Anschauen, bewundern, anbeten«: Die Sprache, die hier gesprochen wird, ist nicht weit von der des Heiligen Augustinus entfernt. Descartes, der auf Distanz zur Offenbarungstheologie geht, spricht am Ende der Dritten Meditation die Sprache des christlichen Glaubens: »Wie nämlich unserem Glauben nach in der bloßen Betrachtung der göttlichen Majestät die höchste Seligkeit des jenseitigen Lebens besteht, so werden wir dessen inne, daß wir jetzt schon durch diese, wenn auch viel unvollkommenere Betrachtung die höchste Lust erfahren können, deren wir in diesem Leben fähig sind.« Auf seine Weise wird Descartes damit zum Wegbereiter der »Phänomenologie des Unendlichen« | 31

Unterscheidung Spinozas zwischen dem metaphysischen und den religiösen Wegen zu Gott.

7. Prismatische Brechungen: die drei Cartesischen Gottesnamen Was die philosophischen Theologien der Neuzeit mit dem Terminus ›Attribute‹ bezeichnen, entspricht dem, was frühere Denker und Theologen als ›göttliche Namen‹ bezeichnen. Besonders einflußreich ist der Traktat Peri theion onomaton des Pseudo-Dionysius Areopagita gewesen, in dem drei Möglichkeiten des Redens über Gott unterschieden werden: der erste besteht darin, daß Gott positive Eigenschaften zugeschrieben werden, der zweite – der Weg der negativen Theologie – spricht Gott Eigenschaften ab, die eigentlich nur Begrenzungen sind, der dritte superlativische Weg (via eminentiae) schreibt Gott Vollkommenheiten zu, indem er sie potenziert. Marion zufolge bildet diese Unterscheidung dreier Wege auch den Hintergrund von Descartes’ Beschäftigung mit den Attributen Gottes. Descartes bezeichnet Gott als ›eine Art von Substanz‹ (»quaedam substantia«). Diese Unbestimmtheit zeichnet alle Aussagen über Gott vor der Dritten Meditation aus. »Seit jeher tragen wir in uns eine gewisse Idee des Göttlichen« (»depuis toujours nous portons en nous une certaine idée du divin«), die so unbestimmt ist, daß man sie mit der Vorstellung des ›großen Täuschers‹ (le »grand trompeur«) verwechseln kann. »Vor dem Gottesbeweis aufgrund der Wirkursache«, schreibt Marion, »hat das Ego es nur mit einem Gegner zu tun, der sich hinter seiner eigenen Unbestimmtheit verbirgt.«12 Wenn wir uns den Gedankengang der Dritten Meditation diesbezüglich nochmals vor Augen führen, merken wir, daß sich die beiden Definitionen, die den Gottesbeweis einrahmen, aus drei Bestandstücken zusammensetzen: 1. Die Identifizierung Gottes als Substanz; 2. Eine Liste von Attributen, angeführt vom Attribut der Unendlichkeit; 3. Die Behauptung eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Gott und den übrigen Substanzen, in Gestalt einer Hervorbringung und Schöpfung, die zugleich eine ständige Erhaltung bedeutet. 32 | jean greisch

Im Unterschied zur ersten Definition Gottes identifiziert die zweite ihn als »eine unendliche, unabhängige, allweise, allmächtige Substanz, von der ich selbst und alles, was etwa noch außer mir existiert, geschaffen worden ist«. Implizit ist dieser Begriff aber schon in der ersten Definition vorausgesetzt, wo Descartes auf den ontologischen Unterschied von Substanz und Akzidenz verweist. Die erste Definition bereitet den Boden für die zweite vor, indem sie Substanz und Akzidenz voneinander unterscheidet. Die zweite identifiziert Gott ausdrücklich als unendliche Substanz. Auch wenn ältere Autoren, wie Johannes Damascenus bereits vom »unendlichen Meer der Substanz« sprachen und Thomas von Aquin Gott als »ipsum esse per se subsistens« (S.th. I 4, 3c) bezeichnete, ist diese Identifizierung keineswegs selbstverständlich. ›Substanz‹ (u3pokeímenon) ist Aristoteles zufolge jede Entität, der ein oder mehrere Eigenschaften (Attribute) zugeschrieben werden können. Das trifft natürlich auch auf Gott zu, aber mit einem gewaltigen Unterschied: Es handelt sich um keine Akzidenzien, die sich äußerlich mit Gott verknüpfen. In seiner Antwort an Gassendi erinnert Descartes daran, daß nicht alle Denker Gott der Kategorie der Substanz unterwerfen. Er überwindet diese Schwierigkeit, indem er dem Begriff der Substanz einen neuen Sinn gibt. Die ›Substanz‹ ist das, dem man Attribute zuschreiben kann und was für sich selbst subsistiert: »Id quod nulla alia re indiget ad existendum«. In den Principia (1,51) liest man folgende Definition (AT VIII,14): ›Unter Substanz können wir nur ein Ding verstehen, das so existiert, daß es zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf; und eine Substanz, die durchaus keines anderen Dinges bedarf, kann man nur als eine einzige denken, d. h. als Gott.‹ Streng genommen läßt dieser Satz sich nur auf Gott selbst anwenden. Spinoza zieht hieraus eine radikale Konsequenz: Es gibt nur eine einzige Substanz, der man eine unendliche Anzahl von Attributen zuschreiben kann, von denen wir aber nur zwei – Geist und Ausdehnung – erkennen können. Descartes erklärt weniger radikal, daß der Begriff ›Substanz‹ nicht ganz und gar univok zu verstehen sei. Absolut verstanden sei er nur auf Gott anwendbar; in einem relativen Sinn lasse er sich auf das cogito und die materiellen Dinge anwenden. Marion zufolge kann man sich allerdings fragen, ob es Descartes wirklich gelungen ist, diese Unterscheidung zu begründen. Wenn »Phänomenologie des Unendlichen« | 33

man ›Substanz‹ als dasjenige definiert, dessen Existenz von nichts anderem als ihm selbst abhängt, trifft dieser Begriff streng genommen nur auf Gott allein zu. Wenn man den Begriff der Substanz auch auf endliche Entitäten anwendet, dann muß er in bezug auf Gott durch den Zusatz ›unendliche Substanz‹ ergänzt und spezifiziert werden. Gott ist ›Substanz‹ in einem ganz anderen Sinn, als wir es sind. Marion weist darauf hin, daß im Begriffsvokabular von Descartes substantia infinita ein einziges Syntagma bildet, das man nicht in Subjekt und Attribut aufteilen kann. Insofern wäre es angemessener, von einem ›substantiellen Unendlichen‹ zu sprechen (SpmD 239), wobei ›Unendliches‹ das Substantiv und ›Substanz‹ das Attribut ist. Wenn man diese Interpretation übernimmt, ist das ›Unendliche‹ nicht sosehr das erste aller Attribute, die man Gott zuschreiben kann, sondern der wahre Gottesname. Unter dieser Voraussetzung kann man die verschiedenen Attribute Gottes im Rückgriff auf die Tradition auf drei Gruppen verteilen. An der Spitze der negativen Gottesattribute steht eindeutig das der Unendlichkeit, das »eine absolute Invariante im Cartesianischen Denken« ist, die ›höchste Wesensbestimmung Gottes‹, die ihn als Gott definiert.13 Wenn man dieses Attribut zu den negativen Attributen zählt, ist man zwar dem Wortlaut treu, aber nicht dem Geist der Cartesischen Theologie, denn was die Bedeutung des Namens anbelangt, handelt es sich um eine durch und durch positive Bezeichnung, wie alle Descartes-Interpreten immer wieder betont haben. Dies ist ein Punkt, den Descartes unermüdlich unterstreicht (AT IX, 36): ›Auch darf ich nicht etwa glauben, ich erfaßte das Unendliche statt durch eine [material] wahre Vorstellung nur durch Negation des Endlichen […] Ich erkenne vielmehr ganz klar, daß die unendliche Substanz mehr Realität enthält als die endliche; daß mithin in gewissem Sinne die Vorstellung des Unendlichen der des Endlichen, d. h. die Vorstellung Gottes der des Ich vorausgeht.‹ Die mit Augustinus anhebende Neubestimmung des Verhältnisses des Endlichen und des Unendlichen wird in gewisser Weise von Descartes zu Ende geführt.14 In einem Passus der Premières Réponses, reagiert Descartes auf die von Caterus aufgeworfene Frage, ob ein endliches Wesen eine klare und deutliche Vorstellung von der göttlichen Unendlichkeit haben kann. Hier greift Descartes auf mehrere in seinen Augen wesentliche Unterscheidungen zurück: 34 | jean greisch

– ›Comprendre‹ versus ›entendre‹: Wir verstehen (›entendre‹) zwar etwas von Gott, aber letzten Endes bleibt er uns unbegreiflich: »Je dirai ici premièrement que l’infini, en tant qu’infini, n’est point à la vérité compris, mais que néanmoins il est entendu inintelligible.« – ›Unbestimmtheit‹ versus ›Unendlichkeit‹: »Et je mets ici de la distinction entre l’indéfini et l’infini. Et il n’y a rien que je nomme proprement infini, sinon ce en quoi de toutes parts je ne rencontre point de limites, auquel sens Dieu seul est infini.« Im Vergleich zum wahren Unendlichen ist das Unbestimmte eigentlich nur ein Fluchtpunkt, den Hegel später als »Ziehen der Linien der Sehnsucht ins Leere hinaus« kennzeichnen wird. – ›Formalgrund‹ versus ›Sache selbst‹: »Je mets distinction entre la raison formelle de l’infini, ou l’infinité, et la chose qui est infinie. Car, quant à l’infinité, encore que nous la concevions être très positive, nous ne l’entendons néanmoins que d’une façon négative.« Der Formalgrund des Unendlichen ist ein positiver Begriff. Gerade deshalb entzieht sich das Unendliche als Unendliches unserem Zugriff. Gerade weil wir eine klare und deutliche Vorstellung vom Unendlichen haben, wissen wir, daß Gott für den menschlichen Verstand unbegreiflich ist. Marion zufolge ist dieses Attribut gegenüber allen übrigen vorrangig, sowohl in logischer (alle übrigen Attribute setzen die Unendlichkeit voraus), als in noetischer (es ist das klarste und deutlichste aller Attribute) und schließlich transzendentaler Hinsicht (es ist die Bedingung der Möglichkeit des Endlichen).15 Alle übrigen negativen Attribute (absolute Unermeßlichkeit, Unbegreifbarkeit, Unabhängigkeit, Unwandelbarkeit) lassen sich unschwer aus ihm deduzieren (Principia II § 37, 39, 41). 1. Das Attribut der Unbegreiflichkeit (›incomprehensibilitas‹) ist eine direkte Konsequenz der Idee der Unendlichkeit. ›Unbegreiflich‹ ist nicht gleichbedeutend mit ›irrational‹, denn paradoxerweise ist sie die Bedingung einer gewissen Verständlichkeit Gottes. Gott, so könnten wir im Rückgriff auf ein berühmtes Distichon von Angelus Silesius sagen, ist ›ohne Warum‹, nicht weil er durch und durch unverständlich wäre, sondern weil er die Quelle jedes Warum und die Urquelle der Vernunft selbst ist. Er ist übervernünftig, nicht unvernünftig (Principia 1, § 19): »Die Anerkennung der Unbegreiflichkeit Gottes bedeutet nicht, daß man darauf verzichtet, Gott mittels der »Phänomenologie des Unendlichen« | 35

Vernunft zu erkennen. Es handelt sich vielmehr darum, die Vernunft in eine Lage zu versetzen, die es ihr erlaubt, über die Objektivität hinaus, die sie mittels der Methode beherrscht, das Unendliche selbst, insofern es dem Endlichen unbegreiflich bleibt, zu erkennen.«16 In ähnlicher Weise betont Merleau-Ponty, »daß das Geheimnis des großen abendländischen Rationalismus in nichts anderem als in Descartes’ Idee eines positiven Unendlichen besteht«17. 2. In den Premières Réponses verknüpft Descartes das Attribut der göttlichen Allmacht mit dem Begriff der Causa sui. Auch in dieser Hinsicht setzt er einen neuen Anfang, den Spinoza aufgreifen wird. Damit scheint er Heideggers Verdacht zu bestätigen, daß der eigentliche Name für Gott im Rahmen der als Ontotheologie konstituierten Metaphysik Causa sui lautet. Das darf uns nicht daran hindern, mit Marion zu fragen, worin der Beitrag Descartes’ zur neuzeitlichen Gestalt der Ontotheologie besteht.18 Causa sui ist ein Begriff, der dasjenige zum Ausdruck bringt, was das endliche Wesen nicht ist und nicht sein kann. Zwar kann man in einer literarischen Fiktion versuchen, diesen Begriff auf den Menschen selbst anzuwenden, wie Amélie Nothomb das in ihrer Métaphysique des tubes getan hat; aber selbst in diesem Roman scheitert das Experiment kläglich. Wenn der Begriff Causa sui Gott allein vorbehalten werden muß, dann muß er ebenso positiv wie der Begriff der Unendlichkeit verstanden werden. Aus-sich-selbst-sein heißt soviel wie von nichts Anderem abhängen. Es handelt sich folglich um eine negative Bestimmung, die aber Descartes zufolge, positiv verstanden werden muß. Gott als Urheber der ewigen Wahrheiten ist die stärkste Ursache überhaupt, eine Wirkursache, die sich nicht nur gegenüber dem auswirkt, das von ihm abhängt, sondern auch gegenüber ihm selbst. Was für die Existenz gilt, gilt auch für die Erhaltung im Sein. Um sich im Sein erhalten zu können, bedarf Gott keiner anderen Wirkursache als sich selbst, denn wer mächtig genug ist, etwas anderes als sich selbst im Sein zu erhalten, verfügt auch über die nötige Macht, sein eigenes Sein zu erhalten. Dem Anschein zum Trotz deckt sich die Idee der Causa sui nicht mit der traditionellen Idee der göttlichen Aseität. Zwar impliziert die Idee des Aus-sich-seins die der Ursächlichkeit. Bei Descartes tendiert der Begriff der causa sui jedoch dazu, den traditionellen 36 | jean greisch

Gedanken der göttlichen aseitas zu verdrängen. Wie verhält sich die Unendlichkeit, die bei Descartes der eigentliche Name des Absoluten ist, zur Idee der Allmacht? Marion zufolge ist Unendlichkeit der eigentliche Name Gottes und Allmacht sein ursprünglicher Name. Daß sich Unendlichkeit und Causa sui nicht vollständig auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, ist in Marions Augen kein Zufall. Es handelt sich um eine ›architektonische Inkohärenz‹ (SpmD 251), die in der Art und Weise grundgelegt ist, wie Descartes den Begriff Gottes konstruiert. 3. In der Fünften Meditation, in der Descartes einen apriorischen Gottesbeweis entwickelt, den man fälschlicherweise als ›ontologischen Beweis‹ präsentiert, erscheint Gott in der Gestalt der Vorstellung des vollkommensten aller Seienden (»idée d’un être souverainement parfait«): »wenn ich auch niemals notwendig auf den Gedanken Gottes zu kommen brauche, so muß ich doch dem ersten und höchsten Seienden, sobald ich an es denke und seine Vorstellung gleichsam aus der Schatzkammer meines Geistes hervorhole, notwendig alle Vollkommenheiten zuschreiben, wenn ich sie auch nicht gleich alle aufnähme und einzeln ins Auge fasse.« Die Idee der Vollkommenheit und eines höchst vollkommenen Wesens ist ›konstruktivistischer‹ als die des Unendlichen. Während letzteres sich meinem Verstand gleichsam aufdrängt, muß erstere erst allmählich im Ausgang von der Erfahrung und der in ihr enthaltenen Vollkommenheiten konstruiert werden. Gott ist nicht nur die Summe aller möglichen Vollkommenheiten, er ist das Superlativ aller Vollkommenheit überhaupt. Wiederum stellt sich die Frage, wie die Definition Gottes als ›höchste Vollkommenheit‹ mit den beiden anderen Definitionen in Einklang gebracht werden kann (SpmD 285). Wenn wir mit Marion davon ausgehen, daß unter den von Descartes erörterten Wesenseigenschaften Gottes drei eine Vorrangstellung einnehmen (Unendlichkeit, causa sui und ens summe perfectum), die es uns gestattet, sie als Namen Gottes zu verstehen, dann lohnt es sich, zu prüfen, wie sie sich auf die drei Gottesbeweise verteilen. Diesbezüglich stehen wir vor folgender Alternative: Entweder vertreten wir mit Alquié19, der diesbezüglich schon Hegels Argumentation in den Vorlesungen Über die Gottesbeweise antizipiert, die Ansicht, daß die verschiedenen Gottesbeweise, die man bei Des»Phänomenologie des Unendlichen« | 37

cartes findet, eigentlich nur verschiedene Formulierungen eines einzigen Beweises sind; oder wir behaupten mit Marion, daß jeder der erwähnten Namen Gottes einem besonderen Gottesbeweis entspricht. Marions Interpretation des ›metaphysischen Prismas‹ Descartes’ mündet in die Herausstellung der bleibenden architektonischen Spannungen im Cartesischen Gottesbegriff (SpmD 276–292). ›Unendlichkeit‹, ›Causa sui‹ und ›ens perfectissimum‹ lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Diese Spannungen werden sichtbar, sobald man sich drei Fragen stellt: Ist Gott begreifbar?, ist er dem Begriff der Ursache unterworfen?, unterliegt er der mathesis universalis? 1. Während in der recht verstandenen Idee der Unendlichkeit das Gewicht auf der Unbegreiflichkeit Gottes liegt, ist das weniger beim Begriff der höchsten Vollkommenheit der Fall. Die Cartesische Metapher der Schatzkammer des Geistes (›ex mentis meae thesauro depromere‹) interpretiert Marion ziemlich martialisch als ›Kriegsbeute des cogito‹ (SpmD 277): »puisée dans le trésor de guerre du cogito«. Als angeborene Idee unterscheidet sich die des höchst vollkommenen Wesen in nichts von den Vorzügen der mathematischen Begriffe: Einfachheit, Unwandelbarkeit, Ewigkeit. Marion zufolge sind diese beiden Bestimmungen des Wesens Gottes und auch die entsprechenden Gottesbeweise nicht wirklich kompatibel.20 2. Was den Begriff der Causa sui anbelangt, macht Marion auf einen weiteren Widerspruch aufmerksam. In der Definition Gottes als ›Unendlichkeit‹ übt Gott die Kausalität aus, indem er alles, einschließlich der ewigen Wahrheiten, erschafft. In der Definition Gottes als Causa sui unterwirft er sich dem Kausalitätsprinzip. »Gott«, schreibt Marion, ›genügt einer Kausalität, die er zunächst erlitten hat‹ (SpmD 283): »Dieu satisfait à une causalité qu’il subit d’abord.« Der Begriff der Causa sui setzt die universale Gültigkeit des Satzes vom Grund (»causa sive ratio«) im Sinne von Leibniz voraus. Er verbietet es uns daher, das Distichon des Cherubinischen Wandersmanns wie folgt zu paraphrasieren: ›Gott ist ohne warum. Er existiert weil er existiert / Er ist grundlos, weil er den Satz vom Grund begründet.‹ Wird Gott als Causa sui verstanden, ist er einem ›Warum‹ unterworfen, so daß der Satz vom Grund über ihm steht. Marion faßt seine Kennzeichnung dieser Spannungen in einem hilfreichen 38 | jean greisch

Übersichtsschema zusammen (SpmD 285), das zwei verschiedene Lektüren zuläßt. Die horizontale Lektüre lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ›ein komplexes Netz von Widersprüchen, von denen keine Bestimmung ausgenommen ist und die tiefsten Schichten des cartesischen Gottesverständnisses betreffen‹.21 Die vertikale Lektüre stellt den Primat der Definition Gottes als Unendlichkeit heraus, eine Definition, ›die operativer, vollständiger und die einzig wirklich unbedingte‹ ist.22 Falls diese Interpretation zutrifft, kann man sich zwei Fragen stellen: 1. Ermöglicht das spannungsvolle Geflecht der drei Gottesnamen: ›Unendlichkeit‹, ›Causa sui‹ und ›ens perfectum‹ es nicht, den Cartesianischen Gottesbegriff mindestens zum Teil von Heideggers kanonischer Definition der ›Onto-theologie‹ zu unterscheiden? 2. Kann man dem ersten Cartesianischen Gottesnamen (›Unendlichkeit‹) nicht eine Art von ›metaphysischer Extraterriorialität‹ zuschreiben (SpmD 289), weil dieser Begriff weder bei Kant noch bei Heidegger, den beiden hauptsächlichen Theoretikern der ›Ontotheologie‹, eine Rolle spielt? Bedenkenswert ist jedenfalls, wie sich das Gleichgewicht der drei Gottesnamen in der Folgezeit verschoben hat. Bei Malebranche rückt das ens summe perfectum sosehr in den Vordergrund, daß es die Unendlichkeit gleichsam aufsaugt. Spinoza und Leibniz privilegieren jeder auf seine Weise den Begriff der Causa sui. Marion zufolge sind wir heute dazu aufgefordert, die Originalität des Cartesianischen Gottesnamens: ›Unendlichkeit‹ neu zu entdecken und zu überdenken: »Vor Gott hält sich Descartes, wahrscheinlich als einer von wenigen Metaphysikern, ehrfurchtsvoll verborgen. Er versteckt sich nicht und entzieht sich nicht, sondern er verhüllt sein Angesicht vor dem des Unendlichen.«23 Diese Interpretation, die sich mit der These verbindet, daß »Descartes’ philosophische Theologie aus der Sache heraus gescheitert ist«24 faßt Marion in einer modifizierten Version von Descartes’ Leibspruch zusammen, die man vermutlich auch auf den Interpreten selbst anwenden könnte: »Larvatus pro Deo«.

»Phänomenologie des Unendlichen« | 39

8. Unterwegs zu einer ›Phänomenologie der Idee des Unendlichen‹ (Emmanuel Levinas) Für jeden Phänomenologen ist Descartes kein beliebig auswechselbarer sparring partner, sondern derjenige Denker, der ihn zwingt, sein Selbstverständnis zu klären. Wenn wir uns die Stellungnahmen der einzelnen Phänomenologen zu Descartes ansehen, dann zeigt sich alsbald, daß sie sehr unterschiedlich ausfallen. Unter den zeitgenössischen Phänomenologen hat niemand die Eigenart des Cartesianischen Gottesbegriffs besser erfaßt als Emmanuel Levinas, und zwar aus guten Gründen: Der Stellenwert, den er in seinem Hauptwerk Totalité et infini dem Begriff des Unendlichen einräumt, fordert geradezu zu einer Auseinandersetzung mit dem cartesianischen Begriff der positiv zu verstehenden göttlichen Unendlichkeit heraus. Der diesbezügliche Schlüsseltext von Levinas ist der Gott und die Philosophie betitelte Aufsatz in: De Dieu qui vient à l’idée, sowie das Vorwort desselben Bandes. Im Vorwort erklärt Levinas, in welcher Optik er an die Gottesfrage herangeht. Unabhängig von der Frage nach der Existenz oder der Nicht-Existenz Gottes handelt es sich für ihn um die präjudizielle Frage, wie das Wort ›Gott‹ überhaupt noch als ein bedeutsames Wort verstanden werden kann (DD 7): »possibilité d’entendre le mot Dieu comme un mot signifiant«. Ebensowenig, wie die Überlegungen, die Nikolaus Cusanus über den griechischen Terminus jeo2@ anstellte, keine rein etymologische oder linguistische Frage waren, ist das auch bei Levinas nicht der Fall. Ihm geht es um die phänomenologische Konkretheit dieses Wortes, anders gesagt, um die Bedingungen, unter denen das Wort ›Gott‹ einen konkreten Sinn erhält. Dahinter steht auch die Beunruhigung über die unzähligen Mißbräuche, die mit diesem Wort getrieben wurden und immer noch betrieben werden. Worauf es Levinas ankommt, ist die Idee Gottes und nicht die Frage seiner Existenz, anders gesagt die Frage, ob der Gott, von dem die positiven Religionen lehren oder verkünden, daß er sich den Menschen geoffenbart hat, tatsächlich zu ihnen gesprochen hat, oder um es hierbei nur um den falschen Namen eines malin génie oder einer Politik handelt. Der Verweis auf Descartes’ ›bösen Genius‹ und die beunruhigende Hypothese, daß Gott der größte aller Betrüger sein könnte, 40 | jean greisch

zeigt bereits, wie viel Levinas Descartes verdankt. Wer von dieser Unruhe umgetrieben ist, ist Levinas zufolge schon auf dem Weg zur Philosophie, weil sie ihn der Frage aussetzt, unter welchen Bedingungen man legitimerweise von Gott sprechen kann, ohne die Absolutheit, die das Wort ›Gott‹ zu bezeichnen scheint, zu beeinträchtigen (DD 8): Läuft nicht jeder Anspruch, über ein begrifflich ausweisbares Wissen über Gott zu verfügen, auf eine Verendlichung, eine ›Immanentisierung‹, eine Reduktion der Andersheit des Absoluten hinaus? Sind Begriffe nicht Greifwerkzeuge, mittels derer wir die Wirklichkeit in die Zange nehmen, auf die Gefahr hin, daß wir sie zerquetschen? Levinas ist auf der Suche nach einem Absoluten, das so neuartig ist, daß es sich nicht auf ein schon Bekanntes zurückführen läßt. Das verlangt seiner Ansicht nach den Verzicht auf jede Form des Korrelationsdenkens. Dieser Verzicht betrifft nicht nur das traditionelle Frage-Antwort-Schema, sondern auch die Metapher des Sehens und der intentionalen Zielsetzung (›visée‹) muß in Frage gestellt werden. Daß dies keine undurchführbare Aufgabe ist, hat Levinas zufolge Descartes mit seiner Idee des Unendlichen in uns bewiesen, anders gesagt, einer Idee, die das Fassungsvermögen des cogito sosehr übersteigt, daß Gott selbst sie als ›angeborene Idee‹ in uns gelegt haben muß. Sie übersteigt die Fassungskraft des Bewußtseins nicht, weil sie in den abgründigen Tiefen des Unbewußten verborgen ist, sondern weil sie die Selbstsicherheit und Selbstgewißheit des ego ins Wanken bringt. Für Levinas, ebenso wie für Descartes, ist die positiv zu verstehende Idee des Unendlichen ausschlaggebend. Wenn Descartes dennoch ihm zufolge ergänzungsbedürftig ist, dann nur, weil wir uns nicht mehr mit der klaren und deutlichen Idee des Unendlichen begnügen können, sondern eine explizite ›Phänomenologie der Idee des Unendlichen‹ benötigen (DD 11). Es ist eben jene Phänomenologie, die Levinas in Totalité et infini mit der Abgründigkeit der Verantwortung für den Anderen verknüpft, die sich uns offenbart, sobald wir mit der ›Epiphanie des Antlitzes des Anderen‹ konfrontiert sind. Für Levinas bedeutet das auch, daß in einer phänomenologischen Lektüre der Dritten Meditation die Besinnung auf die »außerordentliche Struktur der Idee des Unendlichen«, bzw. in der eigentümlichen Diktion von Levinas (DD 11): das ›à-Dieu‹, die Problematik der Gottesbeweise ausblenden kann. »Phänomenologie des Unendlichen« | 41

Dadurch, daß ich in der Verantwortung dem Anderen ›preisgegeben‹ (zur Verantwortung auserwählt) bin, erhält das Unvermögen des cogito, das Unendliche zu erfassen, seine volle phänomenologische Konkretheit. Der Aufsatz Dieu et la Philosophie ist ein Versuch, die ursprüngliche Erfahrung zu beschreiben, in der das, was Descartes als das Inmich-Gelegtsein der Idee (bzw. ihre ›Angeborenheit‹) des Unendlichen kennzeichnet, seine volle phänomenologische Konkretheit erhält. Dieser ›ökumenische‹ Vortrag, den Levinas vor verschiedenen religiösen Gemeinschaften in den Jahren 1973 und 1974 gehalten hat – als frischgebackener Assistent an der Philosophischen Fakultät des Institut Catholique hatte ich die Chance, Hörer dieses Vortrags zu sein –, ist in sechs Abschnitte und 17 Paragraphen gegliedert, die eine präzise Analyse verlangen. 1. In einem ersten Schritt hinterfragt Levinas die Priorität, welche die traditionelle Philosophie dem Seinsbegriff zuschreibt. Das Sein ist der primäre Gegenstand des Denkens (»primum quod cadit in intellectum«, in der Formel Avicennas), so daß es der universale Horizont aller Verständlichkeit überhaupt zu sein scheint, wie es die Gilsonsche ›Metaphysik des Exodus‹ postuliert. Demgegenüber stellt Levinas eine doppelte, philosophische und ›theologische‹ Frage. a) Ist es ausgemacht, daß wir uns »jenseits des Seins« (e4pe2keina th/@ ou4sía@) in der Wüste aller Verständlichkeit überhaupt befinden? Betreten wir nicht gerade hier den Raum der »Bedeutsamkeit, der Rationalität und des Rationalismus der Transzendenz« (DD 96) selbst? b) Läßt sich Gott restlos in den Horizont des Seins einschreiben, bzw.: Gibt es nicht die Möglichkeit eines vernünftigen Redens über Gott, das weder auf den Seinsbegriff rekurriert, noch sich damit begnügt, im Namen des Glaubens dem Gott der Philosophen den Rücken zu kehren, wie Jehuda Halevi und Pascal es tun? 2. Ebenso wie für Descartes sind Levinas zufolge die Fragen der Existenz Gottes und des Wesens Gottes unzertrennlich voneinander. Seine phänomenologische Interpretation der Dritten Meditation konzentriert sich ausschließlich auf die Idee Gottes, weil es ihm darum geht, diese in ihrer ›phänomenologischen Konkretheit‹ zu erfassen, was nur so geschehen kann, daß man sich mit Descartes fragt, ›wie Gott ins Denken einfällt‹, anders gesagt, wie wir zu dieser 42 | jean greisch

Idee gekommen sind, die wir nicht aus eigenen Kräften erzeugen können. Unter den drei zentralen Gottesattributen ist es gerade der positiv verstandene Begriff der ›Unendlichkeit‹, der, wie wir gesehen haben, das Unvermögen des menschlichen Geistes, die Gottesidee in eigener Regie zu erzeugen, am besten bezeugt. Als Phänomenologe stellt Levinas die Frage nach dem Wie der Gegebenheit, anders gesagt nach der Ausweisbarkeit der Cartesischen These. Er begnügt sich nicht mit der These, daß Gott selbst diese Idee in unser Bewußtsein eingepflanzt hat, sondern er zeigt, daß sich diese Idee in der ethischen Urerfahrung der Verantwortung für den Anderen uns aufdrängt. Meine Verantwortung für den Anderen ist so ›unendlich‹, daß ich diese Unendlichkeit mit dem Namen ›Gott‹ bezeichnen kann. 3. Etwas schwieriger ist die Frage, wieso der Gedanke des ›malin génie‹ hier ins Spiel kommt. Offensichtlich handelt es sich nicht um den hyperbolischen Zweifel, der uns mit der Möglichkeit konfrontiert, daß Gott der größte aller Betrüger sein könnte, der uns eine Welt vortäuscht, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Wer ist also der ›malin génie‹ von Levinas? Vielleicht könnten wir sagen, es sei ein Gott, der uns von unserer Verantwortung entbindet. 4. Levinas ringt mit dem Problem des rechten Gebrauchs des Wortes ›Gott‹, mit dem sehr oft Mißbrauch getrieben wurde, anders gesagt, das man so gebraucht hat, daß der in ihm enthaltene Absolutheitsanspruch in Vergessenheit gerät. Wenn wir die Frage im Rahmen einer Bewußtseinsphilosophie wiederaufgreifen, anders gesagt, einer Philosophie, für die ›Gott‹ ein intentionaler Gegenstand des Bewußtseins ist, der als solcher vom Bewußtsein konstituiert wird, scheint wiederum die Forderung nach Wissen in den Vordergrund zu treten: ›Was kann ich von Gott wissen?‹ Demgegenüber löst Levinas die bereits erwähnte Verknüpfung von ›Wissen‹ und ›Sehen‹ auf. Seines Erachtens werden weder die Metapher des Sehens (das Sehen vergegenständlicht und besteht auch auf der geistigen Ebene in einer Art von ›Blickfang‹) noch die der ›Abzielung‹ (Gott als ›Zielscheibe‹ meiner intentionalen Akte) der Wirklichkeit Gottes gerecht. Beide Metaphern stellen Levinas zufolge eine Bedrohung für den im Wort ›Gott‹ selbst enthaltenen Absolutheitsanpruch dar. »Phänomenologie des Unendlichen« | 43

In der Auffassung, die Levinas sich von der Philosophiegeschichte macht, gibt es drei große Ausnahmen von einer Regel, die er mit Rosenzweig teilt: Von »Ionien bis Iena« ist die Philosophie ein Totalitätsdenken, in Gestalt einer »Theo-Anthropo-Kosmologie«, die sich unfähig erweist, ›Gott‹, ›Mensch‹ und ›Welt‹ als elementare, selbstständige Wirklichkeiten zu verstehen, die nur unter bestimmten Bedingungen zueinander in Bezug gesetzt werden können. Diese drei Ausnahmen sind Platon (die Seinsüberlegenheit des Guten: ἐπέκεινα τῆς οὐσίας), Plotin (das Ureine ist ursprünglicher als das Sein), hauptsächlich aber Descartes mit seiner revolutionären Bestimmung der Positivität des Unendlichen. 5. Diese Idee beeindruckt Levinas so sehr, daß er die anderen beiden Gottesnamen: ›Causa sui‹ und ›ens perfectissimum‹ mit keinem Wort erwähnt! Die Sonderstellung, die Marion diesem Namen bei Descartes einräumt, wird hier noch verschärft, weil Levinas ihn zur Grundlage eines Denkens macht, in dem sich das Nachdenken über Gott in ein Andenken an Gott (›penser à Dieu‹) verwandelt, anders gesagt, ein Denken, das Gott zwar erreicht, ohne ihn ergreifen, bzw. ›begreifen‹ zu können: »Penser à Dieu, c’est-à-dire une pensée de l’absolu sans que cet absolu soit atteint comme une fin« (»An Gott denken, anders gesagt, ein Denken des Absoluten, ohne daß dieses Absolute als ein Ziel erreicht wird«). Levinas geht es darum, mit den Mitteln der Phänomenologie die spezifische Positivität der Idee des Unendlichen zu erschließen. Seines Erachtens kann das nur auf dem Weg der ›Epiphanie‹ des Antlitzes des Anderen geschehen: »L’idée de l’infini en moi me vient dans la concrétude de ma relation à l’autre homme dans la socialité qui est ma responsabilité pour le prochain« (»Die Idee des Unendlichen in mir drängt sich mir in der Konkretheit meiner Beziehung zum anderen Menschen und in der Sozialität meiner Verantwortung für meinen Nächsten auf«). Sobald ich einsehe, daß meine Verantwortung für den Anderen, der an meine Hilfe appelliert, eine unendliche ist, erhält der Begriff des Unendlichen eine durch und durch positive Bedeutung. Für den Gottesgedanken bedeutet das, daß das Antlitz des anderen Menschen der Knoten jener Verstrickung ist, in der Gott selbst die Idee Gottes überwindet (»Le visage de l’autre homme est le nœud de l’intrigue même du dépassement par Dieu de l’idée de Dieu«). 44 | jean greisch

Daß sich Levinas mit dieser These weit vom Wortlaut der Dritten Meditation entfernt, ist unbestreitbar. Die Rede von der Idee des Unendlichen, die in mich hineingelegt wurde, verwandelt sich hier in das Bild der ›Verstrickung‹ (intrigue), die bei Levinas ausschließlich als ›intrigue éthique‹, nämlich als Verstrickung der Verantwortung verstanden wird, die keinerlei Reziprozität zuläßt. 6. Wie kann man in diesem Fall das Augustinische ›in te supra me‹ verstehen? Levinas geht über Descartes hinaus, indem er zwei zusätzliche phänomenologische Motive einführt: a) Die Transzendenz, um die es sich hier handelt, impliziert ein bestimmtes Verständnis der Zeitlichkeit, in dem die ›Gleichzeitigkeit‹ (›Synchronie‹) der Bewußtseinsinhalte von einer ursprünglicheren ›Ungleichzeitigkeit‹ (›Dia-chronie‹) überwunden wird, die Levinas manchmal mit dem Terminus ›An-archie‹ (›Nicht-Ursprünglichkeit‹) bezeichnet. Solange wir uns auf dem Immanenzplan des cogito bewegen, sind alle Beziehungen der Bewußtseinsinhalte synchron. Diese Synchronie wird durch den Einbruch der Gottesidee durcheinandergebracht, die ›früher‹ als das Bewußtsein und das cogito ist. Gott ist ›früher‹ als ich selbst: Das ist keine rein ›chronologische‹ These – Er war schon da, ehe ich ›auf die Welt‹ kam, und er wird es auch noch sein, wenn ich sie verlassen habe –, sondern eine weit radikalere These: die Idee Gottes ist ursprünglicher als die des cogito. b) Levinas ersetzt Descartes’ Rede von der ›angeborenen‹ Idee durch die biblische Rede der ›Inspiration‹. Die Art und Weise, wie sich mir diese Idee aufdrängt, ist gleichsam das prophetische Urereignis, auf das man Hamlets Ausruf: »Oh my prophetic soul!« anwenden könnte. Das ist einer der Gründe, warum Levinas es in seinen beiden Hauptwerken vermeidet, vom ›Bewußtsein‹ (›conscience‹) zu sprechen und dieses Wort durch den Ausdruck ›psychisme‹ ersetzt. Das darf nicht als Rückfall in jene Art von ›Psychologismus‹ verstanden werden, der Husserl zufolge das phänomenologische Gegenstück der ›Sünde wider den Heiligen Geist‹ ist. Es geht vielmehr darum, das ›cogito‹ in ›Seele‹ zu verwandeln, was nur auf dem Weg der Ethik und mittels des Gottesbegriffs geschehen kann (Difficile liberté, 410): ›Bei Descartes besitzt das denkende Ich die Idee des Unendlichen: Die Andersheit des Un»Phänomenologie des Unendlichen« | 45

endlichen wird in der Idee nicht vermindert, wie es die Andersheit der endlichen Dinge tut, von denen ich Descartes zufolge, aus eigenen Stücken Rechenschaft geben kann. Die Idee des Unendlichen besteht darin, daß man mehr ›denkt als man denkt.‹ Die Art und Weise, wie Levinas sich die Dritte Meditation neuaneignet, indem er sich einzig und allein auf die Idee der Unendlichkeit stützt, und weder den Zusammenhang mit den beiden voraufgehenden noch den folgenden Meditationen beachtet, kann auch als Versuch verstanden werden, einen Hebel zu finden, mittels dessen Levinas sich an der Auseinandersetzung um den Begriff der Ontotheologie beteiligen kann. Descartes ist in seinen Augen der Denker, der die philosophische Theologie von der Abhängigkeit eines Denkens befreit, das den Anspruch auf letzte Verständlichkeit erhebt, eine Verständlichkeit, die im Seinsverständnis verwurzelt ist. Die Tatsache, daß das abendländische Denken einen ›ontologischen Gottesbeweis‹ ausgearbeitet hat, ist kein Zufall. Früher oder später mußte ein solcher Beweis erfunden werden. Demgegenüber pocht Levinas unermüdlich darauf, daß der Gott der Bibel auf eine unwahrscheinliche Art und Weise das Jenseits des Seins, anders gesagt die Transzendenz bezeichnet (»le Dieu de la Bible signifie de façon invraisemblable l’au-delà de l’être, c’est-à-dire la transcendance«). Von hieraus kann man verstehen, warum Levinas uns am Anfang seines zweiten Hauptwerks dazu einlädt, einen »nicht vom Sein infizierten Gott« (»un Dieu non contaminé par l’être«) zu denken, womit er zu einem der schärfsten Gegner der Gilsonsschen »Metaphysik des Exodus« wird.

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Anmerkungen

SuZ 5: »Das Fragen hat als Fragen nach … sein Gefragtes. Alles Fragen nach … ist in irgendeiner Weise ein Anfragen bei … Zum Fragen gehört außer dem Gefragten ein Befragtes. In der untersuchenden, d. h. spezifisch forschenden Frage soll das Gefragte bestimmt und zu Begriff gebracht werden. Im Gefragten liegt dann als das eigentliche Intendierte das Erfragte, das, wobei das Fragen ins Ziel kommt.« 2 Johann Gottlieb Fichte: Werke, Bd. 5, 266. (zit. bei Jüngel: GGW 67). 3 Vgl. hierzu die anregenden Überlegungen von Jean-Yves Lacoste: La Phénoménalité de Dieu, bes. 33–132. 4 Vgl. conf. 10,29 (Hvh. J.G.): »Quomodo ergo te quaero, Domine? Cum enim te, Deum meum, quaero, vitam beatam quaero.«. 5 Vgl. QC; die von Jean-Luc Marion wiedergegebenen Zitate sind nach den französischen Originalausgaben belegt, aber von Jean Greisch ins Deutsche übersetzt; vgl. EsD 84 f. 6 Vgl. Brief an Mersenne vom 24. 12. 1640 (AT III,266): »Et il est à remarquer, en tout ce que j’écris, que je ne suis pas l’ordre des matières, mais seulement celui des raisons«. Vgl. Méditations Métaphysiques (Secundes Responses) AT VII, 155; AT IX/Teil 1,121). 7 Vgl. Jean-Marie Beyssade: D’un premier principe l’autre. Descartes entre l’ego du cogito et la véracité divine. 8 Vgl. AT VII,181: »ostendo me nomen ideae sumere pro omni eo quod immediate a mente percipitur« /»Je prends le nom d’idée pour tout ce qui est conçu immédiatement par l’esprit«. Vgl. die Defi nitionen der Fachtermini ›Gedanke‹, ›Idee‹ und ›objektive Realität‹, die Descartes in seiner Antwort auf die Secondes Objections gibt. 9 AT IX, 106: »Car, qu’il n’y ait rien dans un effet qui n’ait été d’une semblable ou plus excellente façon dans sa cause, c’est une première notion, et si évidente qu’il n’y a point de plus claire.« 10 AT IX, 33: »Et encore qu’il puisse arriver qu’une idée donne la naissance à une autre idée, cela ne peut pas toutefois être à l’infi ni, mais il faut à la fi n parvenir à une première idée, dont la cause soit comme un patron ou un original, dans lequel toute la réalité ou perfection soit contenue formellement et en effet, qui se rencontre seulement objectivement ou par représentation dans ces idées.« 11 AT IX, 33: »Si la réalité objective de quelqu’une de mes idées est telle, que je connaisse clairement qu’elle n’est point en moi, (i.e. qu’elle ne vient pas de moi) ni formellement, ni éminemment, et que par conséquent je ne puis pas moi-même en être la cause, il suit de là nécessairement que je ne suis pas seul dans le monde, mais qu’il y a encore quelque autre chose qui existe, et qui est la cause de cette idée.« 1

»Phänomenologie des Unendlichen« | 47

»avant la preuve par les effets, l’ego n’aff ronte qu’un adversaire dissimulé par son indétermination même« (SpmD 225). 13 SpmD 240: »Nous atteignons ici un invariant cartésien absolu, qui demeure á l’oeuvre dans tous ses écrits. […] L’infi ni n’exprime pas seulement un de propres de Dieu parmi d’autres […], ni même directement l’essence divine […]; il défi nit Dieu comme tel.« 14 Geneviève Rodis-Lewis: Textes et Débats, 281. 15 SpmD 241: »il ne s’agit pas seulement d’une priorité logique (négation de la négation), ni d’une priorité épistémologique […], mais bien de la priorité d’un a prior: l’infi ni précède le fi ni, en ce qu’il rend possible l’expérience et les objets de cette experience; ainsi le doute, mais encore toutes les modalités (fi nies) de la cogitatio trouvent-elles leur condition de possibilité dans l’idee de Dieu comme idée d’infi ni«. 16 SpmD 244: »Il ne s’agit pas, avec l’incompréhensibilité divine, de renoncer á connaître rationnellement Dieu, mais de per mettre á la rationalité de connaître l’infi ni, donc de connaître, au-delà de l’objectivité qu’elle maîtrise méthodiquement, l’infi ni comme tel, comme incompréhensible au fini.« 17 Maurice Merleau-Ponty, Signes in Textes et Débats, S. 282 f. 18 Der Ausdruck aitia heautou fi ndet sich einmal bei Plotin, aber in einem Kontext, der sich schwerlich auf Descartes überträgen läßt. 19 Ferdinand Alquié: La Découverte métaphysique, S. 219. 20 SpmD 280: »Ainsi nous concluons, de ces trois arguments, à l’imcompatibilité de deux premières determinations fondamentales de l’essence de Dieu et aussi des deux preuves correspondantes de son existence.« 21 SpmD 286: »Ainsi la tension, allant jusqu’à un réseau complexe de contradictions, n’épargne aucune determination, ni aucun critère, mais traverse en profondeur les strates ultimes de la pensée cartésienne de Dieu.« 22 SpmD 287: »Nous posons donc, à partir de l’examen interne du réseau des contradictions croisées entre les trois déterminations cartésiennes de l’essence divine, le primat – comme plus opératoire, plus complet et seul inconditionné – de l’idée d’infi ni.« 23 SpmD 292: »Devant Dieu, révérentiellement, et l’un des rares sans doute parmi les métaphysiciens, Descartes se tient caché – il ne se dissimule pas, ni ne dérobe, mais cache sa face devant celle de l’infi ni – larvatus pro Deo.« 24 Wilhelm Weischedel: Der Gott der Philosophen, Bd. I,175. 12

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– Norbert Fischer –

Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? Der Zugang zur Gottesfrage bei Levinas durch kritische Anknüpfung an Heidegger und Kant1

»Das Leben kan allein den ersten Anfang machen«2

1. Hinführung zum Problem des ›Anfangs‹ bei Levinas Emmanuel Levinas ist ein an der westeuropäischen (vor allem der deutschen) Philosophie geschulter jüdischer Autor mit osteuropäischen Wurzeln, dessen Schriften inzwischen weit verbreitet sind.3 Er selbst hat besonders seine Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger hervorgehoben, später auch den Einfluß Kants und die Nähe zu ihm erwähnt. Hier wird der Versuch gemacht, seinen Zugang zur Gottesfrage als kritische Anknüpfung an Heidegger und Kant zu verstehen.4 Nachdem das Studium des ersten Hauptwerks von Levinas eingesetzt hatte, erwachte alsbald ein breiteres Interesse an seinem Denken, das er in späteren Arbeiten entfaltet und zugespitzt hat.5 Da die Lage inzwischen ruhiger geworden ist, kann die Besinnung auf das Bleibende einsetzen.6 Levinas hat sich in Totalité et Infini mehrfach kritisch zum Ansatz Martin Heideggers geäußert.7 Zu beachten ist insbesondere der Hinweis zu Beginn des ›Vorworts zur deutschen Übersetzung‹, Totalité et Infini sei »aus einer unablässigen Aufmerksamkeit auf ›Sein und Zeit‹ entstanden«.8 Zwar argumentiert er klar gegen eine ›Fundamentalontologie‹, wie Heidegger sie vorträgt,9 weil die ›Metaphysik‹, in seinem Sinne gedacht, jeder ›Ontologie‹ vorauszugehen habe (TU 49–58). Demgemäß sieht er die ›Ethik‹ als ›Erste Philosophie‹ und als »Königsweg der metaphysischen Transzendenz« (TU 32; 442). Mit Heidegger folgt er der phänomenologischen Methode, gegen ihn bestreitet er den ›Anfang‹ bei der theoretischen Philosophie als der ›Ersten Philosophie‹; dezidierter als Kant weist | 49

er der reinen praktischen Vernunft das Primat in der Philosophie zu.10 Seine Interpretation der Lehre Kants vom ›Primat der reinen praktischen Vernunft‹ hat Levinas auch in einer kleineren Abhandlung ausgearbeitet, die bisher kaum wahrgenommen worden ist.11 Er erklärt nicht nur, bei Husserl und Heidegger in die Schule gegangen zu sein (TU 7), sondern deutet auch an, daß Husserls phänomenologische Methode ihm die Verbindung von Ethik und ›metaphysischer Exteriorität‹ ermöglicht habe, die für ihn auch ein Weg zurück zu Kant wurde.12 In giftiger Diagnose, in der er Kernworte von Heideggers Nietzsche-Deutung aufgreift, durch die Heidegger Einsicht in das ›Wesen des Nihilismus‹ suchte, betitelt er die ›Ontologie‹ – nicht die von Heidegger beargwöhnte ›Metaphysik‹ – als »Philosophie der Macht«. Dazu erklärt er (TU 442): »Die Moral ist nicht ein Zweig der Philosophie, sondern die erste Philosophie.«13 Methodisch ist Levinas, wie er berichtet, in der Ausbildung seines Denkens an Heideggers Sein und Zeit orientiert, inhaltlich in wachsender Zustimmung an der praktischen Philosophie Kants; allerdings bezieht er sich auch auf andere Autoren, denen er wichtige Anregungen verdankt.14 Der Zugang zur Gottesfrage, den Emmanuel Levinas verfolgt, wird hier nun in einer Auslegung der denkerischen Situation gesucht, die sich bei Heidegger und Kant zeigt, auch wenn sich in ihr nicht das volle Spektrum der Einflüsse widerspiegeln sollte und sie der Ergänzung bedürfte.15 Kant und Heidegger arbeiteten auf höchstem Niveau an den Fragen der Metaphysik und maßen der Gottesfrage vom Anfang bis zum Ende ihres Denkwegs eine entscheidende Bedeutung zu.16 Sie verfolgten, entgegen den verfehlten Meinungen, die Verfechter ›wissenschaftlicher‹ Systeme dogmatischer Metaphysiken vortrugen, gerade nicht das Ziel, ›die‹ Metaphysik zu zerstören, sondern versuchten, deren Problemgehalt zu verstehen, vor allem im Blick auf die Gottesfrage.17 Heidegger sucht den ›göttlichen Gott‹, den er im Widerspiel zum ›Gott der Metaphysik‹ denkt.18 Seine Rede von der ›onto-theo-logischen Verfassung der Metaphysik‹, die auf der Auslegung Gottes als ›causa sui‹ gründet, kann zudem im Anschluß an die scharfe Kritik der Onto-Kosmo-Theologie verstanden werden, wie Kant sie in der Kritik der reinen Vernunft vorgetragen hat.19 Beider Suche nach dem ›lebendigen Gott‹ hat Levinas fortgeführt, sofern er Gott als den nennt, der in einer Inversion der Aktivität 50 | norbert fischer

›ins Denken einfällt‹ und sich gerade nicht als ›Produkt‹ der Suche im Rahmen einer ›panoramahaften Darstellung des Seins‹ vorstellen läßt.20 Im folgenden wird die Absicht, die Levinas auf den von ihm in Totalité et Infini begangenen Weg führte, einerseits als kritische Destruktion und als positive Fortführung von Ansätzen Heideggers ausgelegt,21 andererseits als zustimmende Rückkehr zu Motiven Kants, aber auch als kritisch-ergänzende, ›phänomenologische‹ Fundierung und Erweiterung des von Kant vorgetragenen Ansatzes.22 Obgleich Heidegger seine Aufgabe zuweilen als ›Überwindung der Metaphysik‹ bezeichnet und er Kants Anliegen, zum Glauben Platz zu bekommen, zu diskreditieren versucht hat,23 gibt es gute Gründe für die Annahme, es sei auch ihm stets um die ›Sache‹ einer Metaphysik gegangen, sofern diese von den Fragen nach Gott und dem wahrem menschlichen Leben zu handeln hat.24 Auch Levinas beginnt die Untersuchung mit uns als dem Seienden, das Fragen stellt und ihnen ausgesetzt ist. Für ihn lautet die entscheidende Frage aber alsbald, »ob wir nicht von der Moral zum Narren gehalten werden«.25 Diese Untersuchung ist Thema des zweiten Kapitels unter dem Titel ›Innerlichkeit und Ökonomie‹, in dem es wesentlich um die ›Selbstheit des Ich‹ geht.26 Das Thema dieses zweiten Kapitels von Totalité et Infini hat mit dem Thema der beiden ersten Abschnitte von Sein und Zeit zu tun, also mit dem, was ausgearbeitet und publiziert vorliegt.27 Im Zentrum des ersten dieser beiden Abschnitte geht es um das ›Inder-Welt-sein des Daseins‹ und das ›Verfallen des Daseins an die Welt‹,28 im zweiten um das ›eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins‹, also um die Frage, wie das Dasein ›ganz‹ und ›eigentlich‹ es ›selbst sein kann‹.29 Im dritten Abschnitt, der unter dem Titel ›Zeit und Sein‹ zwar geschrieben war, den Heidegger aber verbrannt hat, weil er ihn für unzureichend hielt, war es, wie es in einem Brief an Max Müller heißt, um die ›transzendenzhafte Differenz‹ und so auch um die Gottesfrage gegangen.30 Nachdem Heidegger daran gescheitert war, das Thema des dritten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit sachgemäß zu entfalten, kam es zur ›Kehre‹ seines Denkens, durch die er sich in neuen Ansätzen der Arbeit zuwandte, die dem Plan nach vom dritten Abschnitt gefordert war. Die Vermutung, daß Heidegger mit der ›transzendenzhaften Differenz‹ zuWomit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 51

gleich die Gottesfrage im Sinn hatte, ist nicht nur plausibel, sondern drängt sich auf.31 Levinas aber war wie Heidegger noch immer am Platonischen Stufenweg orientiert, wie Augustinus ihn weiter verfolgt hatte32 und der auch noch Kants Ausarbeitung der kritischen Philosophie zugrundelag.33 Heideggers Stellungnahmen zu Kants theoretischer Philosophie waren in Sein und Zeit zwiespältig,34 und sind es in seinen späteren Äußerungen geblieben.35 Die praktische Philosophie hat Heidegger (wenigstens vorerst) ausgeblendet oder übergangen,36 obwohl es Anknüpfungen gibt und Heidegger implizit die Forderung der Reinheit des Moralprinzips vorauszusetzen scheint.37 Explizit macht er den ›Leitfaden alles philosophischen Fragens dort fest, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt‹.38 Von diesem ›Anfang‹ aus fragt er (OVM 64): »Wie kommt der Gott in die Philosophie, nicht nur in die neuzeitliche, sondern in die Philosophie als solche?« Von Hegel, nach dessen spekulativer Einsicht ›das Resultat der Anfang ist‹, übernimmt er die These, daß Gott »das unbestrittenste Recht hätte, daß mit ihm der Anfang gemacht werde«.39 Obwohl Gott im spekulativen Denken stets »die Ursache als die Causa sui« sei, beharrt Heidegger auf dem Anfang beim fragenden Menschen, wie ihn auch Kant und Levinas bevorzugen. Zum Bedenken dieser drei ›Anfänge‹ wird zunächst Heideggers Anfang und die gegen diesen zielende Kritik von Levinas untersucht. Danach geht es um Kants Anfang und dessen Stellung bei Levinas. Nach einem Rückblick auf diese Anknüpfungen wird zum Schluß der Levinassche Anfang in der phänomenologischen Begründung der Ethik als Weg zur Gottesfrage verfolgt.

2. Heideggers Anfang mit der Fundamentalontologie und dessen Kritik durch Levinas Der Abbruch der Ausarbeitung von Sein und Zeit hatte auch äußere Gründe.40 Seltsam bleibt, daß Heidegger sich erst spät entschlossen hat, den Hinweis zu tilgen, daß die Publikation von Sein und Zeit nur den ›ersten Teil‹ enthält (und diesen nicht einmal vollständig), obwohl der fragmentarische Charakter im ›Aufriß der Abhandlung‹ klar hervortritt.41 Im zweiten Paragraphen, der die ›formale Struk52 | norbert fischer

tur der Frage nach dem Sein‹ zum Thema hat, heißt es: »Jedes Fragen ist ein Suchen. Jedes Suchen hat seine vorgängige Direktion aus dem Gesuchten.«42 Falls das letztlich Gesuchte auch für Heidegger notwendig mit Gott zusammenhinge, erschiene seine Philosophie insgesamt in anderem Licht. In der Struktur jeder Frage unterscheidet er das ›Gefragte‹, das ›Befragte‹ und das ›Erfragte‹.43 Wenn das ›Gefragte‹ das jeweils faktisch Untersuchte wäre (nämlich das Inder-Welt-sein des Daseins, so wie es »zunächst und zumeist und immer schon ist«: ›foris‹), könnte danach als ›Befragtes‹ das ›Dasein‹ neu in den Blick rücken, nämlich als das Seiende mit Seinsverständnis, das ist und die Aufgabe hat, ganz und eigentlich es selbst zu sein (›intus‹). Das ›Erfragte‹ könnte schließlich »das eigentlich Intendierte« sein, das auf die ›transzendenzhafte Differenz‹ verweist, die implizit schon »im Gefragten« intendiert war und sich dennoch zugleich auf Gott als den bezieht, der nach Augustinus ›interior intimo meo‹ ist.44 Da Heidegger nicht in der Lage war, im dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit »das eigentlich Intendierte«, das intendierte Resultat der Untersuchung, aus dem faktisch zugrundegelegten Anfang zu entfalten, ist seine Suche nach anderen Anfängen unvermeidlich geworden.45 Schon direkt nach dem Abschluß von Sein und Zeit, der für Heidegger ein Abbruch war, begann er, einen ›anderen Anfang‹ zu suchen, was schon in der Freiburger Antrittsvorlesung hervortritt, in der er sich unter dem Titel Was ist Metaphysik? unbestimmt dem Fragebereich nach der ›transzendenten Differenz‹ stellt, an deren Darstellung er in Sein und Zeit gescheitert war.46 Bald nach Sein und Zeit wandte Heidegger sich den Fragen der ›Metaphysik‹ zu, die sich auf die Frage nach dem ›Anfang‹ und indirekt auf die Fragen des fehlenden dritten Abschnitts beziehen. Am Beginn steht im Sinne von Sein und Zeit die ›Anweisung‹ (WiM 1): »das metaphysische Fragen muß im Ganzen und aus der wesentlichen Lage des fragenden Daseins gestellt werden.« Die Frage dieser Vorlesung lautet aber (WiM 4): »Wie steht es um das Nichts?« Daß Heidegger mit der Frage nach dem anfängt, »was ›es nicht gibt‹«, ist unerwartet und bedarf der Auslegung. Wenn uns nicht »versagt« bleiben soll, »das Nichts überhaupt zum Gegenstand zu machen« (WiM 5), setzt der ›Anfang‹ der Untersuchung, den Heidegger hier meint und der noch dem Ansatz Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 53

von Sein und Zeit entspräche, die Gegebenheit des zu Befragenden voraus (WiM 6): »Wenn das Nichts, wie immer, befragt werden soll – es selbst –, dann muß es zuvor gegeben sein.« Denn folgende Annahme scheint unstrittig zu sein (ebd.): »Zunächst und zumeist vermag der Mensch nur dann zu suchen, wenn er das Vorhandensein des Gesuchten vorweggenommen hat.« Da nun aber »das Nichts das Gesuchte ist«, das Gesuchte sich also nicht als Vorhandenes denken läßt, stellt Heidegger zaghaft die Frage nach einem gänzlich ›anderen Anfang‹: »Gibt es am Ende ein Suchen ohne jede Vorwegnahme, ein Suchen, dem ein reines Finden zugehört?«47 Solches Finden bezieht er nachträglich auf eine ›Offenbarung‹, die auch für Heidegger mit der Person des Anderen zusammenhängt.48 Ob der Ansatz mit der Frage nach ›dem Nichts‹ der Maßgabe entspricht, daß es um ›ein Suchen ohne jede Vorwegnahme‹ zu gehen habe, mag hier offen bleiben. Indem Heidegger im weiteren annimmt, ›das Nichts enthülle sich in der Angst‹ (WiM 10), knüpft er an die Existenzialanalytik von Sein und Zeit an, sofern er das Phänomen der Angst dort als ›Grundbefindlichkeit des Daseins‹ analysiert und charakterisiert hatte (SuZ 184–191). Festzuhalten ist, daß Heidegger, nachdem er mit dem ›Erfragten‹, das Thema im dritten Abschnitt von Sein und Zeit hätte sein sollen, nicht durchgekommen war, die Möglichkeit eines anderen Suchens, also eines ›gänzlich anderen Anfangs‹ in Erwägung gezogen hat.49 Auf diesem Weg bleibt für ihn die Annahme bedenkenswert, die sich bei Augustinus findet (und auch schon bei Platon), daß wir in der ›Gottsuche‹ auf die Inversion unserer Aktivität verwiesen sind.50 Sofern Heidegger in der ›Kehre‹ für einen ›anderen Anfang‹ offen wird, hätte Levinas die Kritik des fundamentalontologischen Ansatzes womöglich in prinzipiellem Einklang mit Heideggers Suche nach einem Neuanfang im Blick auf das ›eigentlich Intendierte‹ vortragen können.51 Der ›andere Anfang‹, den Heidegger in der Frage nach dem ›Nichts‹ ins Auge faßt, verweist unbestimmt auf ›ein Suchen ohne jede Vorwegnahme‹, auf ›ein Suchen, dem ein reines Finden zugehört‹, das beiläufig, aber markant, in der Nähe einer Art ›Offenbarung‹ steht (vgl. WiM 8). Nach Levinas ist ein solcher ›anderer Anfang‹ in der vorgängigen Beziehung zu finden, die im ›metaphysischen Ersehnen‹ des Anderen Transzendenz eröffnet und nach dem 54 | norbert fischer

absolut Anderem strebt (TI 3): »Le désir métaphysique tend vers tout autre chose, vers l’absolument autre.«52 Levinas verhält sich zur Phänomenologie Heideggers nicht nur negativ, sondern greift sie auch positiv auf,53 bestreitet jedoch, daß »deren letzter Sinn« darin liege, »erschließend zu sein«.54 Sofern das ›eigentlich Intendierte‹ in Sein und Zeit der ›höchste Sinn‹ des Seins des Daseins ist, müßte Heidegger manchen kritisch gemeinten Bemerkungen von Levinas zustimmen können. Und Levinas müßte ebenso die beiden ersten Abschnitte von Sein und Zeit als sachgemäße Untersuchungen anerkennen können, obwohl sie – was Levinas als Defizit von Sein und Zeit nennt – dort nicht explizit auf ihren Ursprung im Ersehnen eines ›total Anderen‹ zurückgeführt werden, das aber dennoch ungesagt als das ›eigentlich Intendierte‹ wirksam gewesen sein mag.55 Auf das ›eigentlich Intendierte‹ hat Heidegger wohl mit folgender Fußnote am Ende von Sein und Zeit hingewiesen. Dort heißt es: »Daß der traditionelle Begriff der Ewigkeit in der Bedeutung des ›stehenden Jetzt‹ (nunc stans) aus dem vulgären Zeitverständnis geschöpft und in der Orientierung an der Idee der ›ständigen‹ Vorhandenheit umgrenzt ist, bedarf keiner ausführlichen Erörterung. Wenn die Ewigkeit Gottes sich philosophisch ›konstruieren‹ ließe, dann dürfte sie nur als ursprünglichere und ›unendliche‹ Zeitlichkeit verstanden werden. Ob hierzu die via negationis et eminentiae einen möglichen Weg bieten könnte, bleibe dahingestellt.«56 Diese versteckte Fußnote weist auf das ›Treibende‹,57 das Heidegger entgegen seiner ursprünglichen Absicht am Ende von Sein und Zeit nicht zum Thema machen konnte, obwohl es, wenn auch verdeckt, im ›Anfang‹ (sofern ›das Resultat der Anfang ist‹), ebenso wie in der folgenden Durchführung wirksam gewesen sein muß, ohne jedoch dem Leser in die Augen zu springen.58 Sein und Zeit gelangt am Ende zur Offenheit für Augustins Hoffnung, nämlich die Hoffnung, am Ende Stand und Festigkeit zu gewinnen, die im Bedenken der ›distentio animi‹ emporkeimt.59 Dabei treten ›Transzendenz‹ und ›Ewigkeit‹ als gleichsam projizierte Ideen einer un-endlichen, vollendeten Zeitlichkeit auf, die göttlich zu nennen wäre, als ›Selbstsein‹ und ›Ganzsein‹ in der Nähe Gottes.60 Vor dem Empfang, in dem ›Gott‹ selbst sich in unser Leben brächte, kann nur die beunruhigende Wahrheit von Rilkes Augustinisch inspiriertem Wort Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 55

hervortreten: »Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt/ obdachlos die Unvergänglichkeit«.61 Heideggers Annahme, ›die Metaphysik‹ sei aus dem ›Willen zur Macht‹ geboren, weist indirekt und implizit auf eine ethische Dimension, obwohl sie als solche nicht deutlich entfaltet wird.62 Falls Heideggers Anfang (entgegen dem Anschein) doch versteckte ethische Motive enthielte, wäre der von Levinas gemachte Anfang als kritische Wiederholung von Heideggers Anfang zu lesen.63

3. Der Anfang der Philosophie Kants und dessen Umarbeitung im Denken von Levinas Levinas trägt gegen Ende von Totalité et Infini die eingangs schon erwähnte These vor, mit der er Kants These vom ›Primat der reinen praktischen Vernunft‹ zuspitzt (vgl. KpV A 215–219). Sie lautet: »Die Moral ist nicht ein Zweig der Philosophie, sondern die erste Philosophie.«64 Kant spricht die These vom ›Primat der reinen praktischen Vernunft‹ nicht in dieser Radikalität aus, sondern eher zögerlich (dazu überhaupt nur dieses eine Mal), nämlich in der ›Dialektik‹ der Kritik der praktischen Vernunft. Er tut es, um die ›Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut‹ zu entwirren. Dort heißt es im Kernstück (KpV A 216 f.): »Wenn praktische Vernunft nichts weiter annehmen und als gegeben denken darf, als was speculative Vernunft für sich ihr aus ihrer Einsicht darreichen konnte, so führt diese das Primat. Gesetzt aber, sie hätte für sich ursprüngliche Principien a priori, mit denen gewisse theoretische Positionen unzertrennlich verbunden wären, die sich gleichwohl aller möglichen Einsicht der speculativen Vernunft entzögen (ob sie zwar derselben auch nicht widersprechen müßten), so ist die Frage, welches Interesse das oberste sei (nicht, welches weichen müßte, denn eines widerstreitet dem andern nicht nothwendig): ob speculative Vernunft, die nichts von allem dem weiß, was praktische ihr anzunehmen darbietet, diese Sätze aufnehmen und sie, ob sie gleich für sie überschwenglich sind, mit ihren Begriffen als einen fremden, auf sie übertragenen Besitz zu vereinigen suchen müsse, oder ob sie 56 | norbert fischer

berechtigt sei, ihrem eigenen, abgesonderten Interesse hartnäkkig zu folgen und nach der Kanonik des Epikurs alles als leere Vernünftelei auszuschlagen, was seine objective Realität nicht durch augenscheinliche, in der Erfahrung aufzustellende Beispiele beglaubigen kann, wenn es gleich noch so sehr mit dem Interesse des praktischen (reinen) Gebrauchs verwebt, an sich auch der theoretischen nicht widersprechend wäre, blos weil es wirklich so fern dem Interesse der speculativen Vernunft Abbruch thut, daß es die Grenzen, die diese sich selbst gesetzt, aufhebt und sie allem Unsinn oder Wahnsinn der Einbildungskraft preisgiebt.«65 Obgleich Kant sich in der Frage des Primats von theoretischer und praktischer Vernunft vorsichtig tastend bewegt, ist Levinas mit gutem Grund überzeugt, das Gesamtgebäude der Philosophie Kants mit seiner weitergehenden Interpretation des Primats sachgemäß ausgelegt zu haben.66 Zwar mußte Kant sich auf dem Weg der Destruktion der dogmatischen Metaphysik erst mühsam zur ›kritischen Metaphysik‹ durchkämpfen (KGkM). Im Einschwenken auf den neuen Weg aber hatte sich seine Überzeugung vom Primat der praktischen Philosophie schon angekündigt: »Die ganze Zurüstung also der Vernunft in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kann, ist in der That nur auf die drei gedachten Probleme gerichtet. Diese selber aber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nämlich was zu thun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist. Da dieses nun unser Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellt.«67 Kants Denkweg begann mit so fester, persönlicher Überzeugung im Blick auf die ›erhabensten Fragen der Metaphysik‹,68 daß sie ihn zunächst hinderte, diese Fragen überhaupt zum Thema zu machen. Und 1763, als er sich ihnen in Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes zugewandt hatte, begann er die Vorrede mit einer abschätzigen Bemerkung zur Aufgabe dieses Buches, weil ihm die ›Demonstration des Daseins Gottes‹ eigentWomit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 57

lich keine Frage und Aufgabe war. Nachdem sie ihm dann doch zum notwendigen Thema geworden waren, mußte er – wie er sagt –, »das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX). Noch immer sprach er nicht eigens zu den Motiven, aus denen er »das Wissen aufheben« mußte. Im ›Anfang‹ von Kants Denkweg scheint ein ›Interesse‹ der Vernunft wirksam gewesen zu sein, dessen Legitimität unklar und noch zu prüfen war, bevor er es ins Auge zu fassen wagte. Faktisch hat Kant als Kind seiner Zeit in dem Bewußtsein begonnen, daß wir ›Mathematik und Naturwissenschaft‹ erfolgreich treiben können, dann aber gefragt, auf Grund welcher Bedingungen wir zu ihnen fähig sind. Erst damit vollzieht er den Übergang zur Philosophie (KrV B 297). Dieser Übergang im faktischen Beginn bezeugt, daß der wirkliche Anfang noch zu klären war. Äußerlich hat Kant seinen eigenen Denkweg mit der kritischen Untersuchung der Metaphysik begonnen; von ihr spricht er als »einer ganz isolierten Vernunftwissenschaft, die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt und zwar durch bloße Begriffe […], wo also Vernunft selbst ihr eigener Schüler sein soll« (KrV B XIV). Im Laufe der Untersuchung sah er sich zunehmend zum Eingeständnis der Endlichkeit der menschlichen Vernunft gezwungen, die er als ›intellectus ectypus‹ kennzeichnet, womit die Beziehung zur göttlichen Vernunft mitgedacht ist (die un-endliche Vernunft wäre in Platonischer Tradition als ›intellectus archetypus‹ zu denken).69 Solange Kant seine eigenen Motive, die ihn zur Metaphysik getrieben haben, nicht thematisiert hatte, erklärte er ironisch, daß er »das Schicksal habe«, in sie »verliebt zu sein« (vgl. TG A 115). Erst in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft fragt er explizit, woher »die Natur unsere Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht« hat, dem sicheren Weg zur Wissenschaft der Metaphysik »als einer ihrer wichtigsten Angelegenheiten nachzuspüren« (KrV B XV). Diese Frage ließ die Kritik der reinen Vernunft nicht nur ohne Antwort, sondern es erhob sich vielmehr durch die Kritik sogar eine neue, schwerer zu beantwortende Frage, die ihn fortan über mehrere Stufen begleitete, nämlich: »Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich?«70 Diese Frage ergab sich zwar schon unmittelbar aus den erkenntniskritischen Untersuchungen. Angesichts der Frage, ›wie reine Ma58 | norbert fischer

thematik und reine Naturwissenschaft möglich sind‹, stellt Kant fest, »daß sie möglich sein müssen«, weil das »durch ihre Wirklichkeit bewiesen« werde (KrV B 20 f.). Zu ihrer Beantwortung sind »zwei Grundquellen des Gemüths« vorauszusetzen, nämlich die »Receptivität der Eindrücke« und die »Spontaneität der Begriffe« (vgl. KrV B 74). Mit der ›Spontaneität‹ taucht ein Thema der Metaphysik auf, das mit ›Freiheit‹ zu tun hat, deren Nichtunmöglichkeit zur Brücke wird, die es erlaubt, die praktische Freiheit anzunehmen.71 Diesen »Begriff der Freiheit« denkt Kant letzten Endes als »den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft«, an den sich (vermittels der Postulate der reinen praktischen Vernunft) die »Begriffe von Gott und Unsterblichkeit« anschließen, weil »die Möglichkeit derselben […] dadurch bewiesen« wird, »daß Freiheit wirklich ist«; dazu erklärt Kant: »denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz«.72 Die kritische Philosophie führt Kant sowohl zur Einsicht, daß Freiheit ›nicht unmöglich‹ ist, als auch zur Einsicht, daß die Destruktion der ›Onto-Kosmo-Theologie‹ nicht schadet, weil sie nicht zum »lebendigen Gott« führt, an dem wir nach Kant »allein interessirt« sind (KrV B 660 f.). Was Kant suchte, ohne es am Anfang seiner »rastlosen Bestrebung« schon nennen zu können, und was alle Menschen faktisch suchen, tritt im Lauf seines Denkwegs immer deutlicher hervor. Nachdem er durch das Bewußtsein des moralischen Gesetzes zur Einsicht in die Wirklichkeit der praktischen Freiheit und zur Grundlegung der praktischen Metaphysik gelangt war,73 konnte er den ›Anfang‹, der sein Denken schon immer angetrieben hatte, in der ›Religion‹ suchen. In der Religionsschrift machte Kant zunächst den ›formalen Grund der bösen Tat‹ zum Thema und legte ihn im Sinne des ›peccatum originarium‹ aus, dann fragte er nach dem ›Reich Gottes‹, das als die höchste Verheißung der ›Offenbarungsreligion‹ bekannt ist und innerhalb der ›Vernunftreligion‹ in der Form des Ideals einer von Gott geliebten Menschheit zur Sprache kommt.74 Am Ende seines langen Denkweges – gleichsam in dessen ›Resultat‹ – zeigte er sich überdies überzeugt, daß »der Mensch [in Gott] etwas« sucht, »was er lieben kann« (RGV BA XII Fn). Dort spricht er dann auch (biblisch-Augustinisch) von der ›Liebe Gottes‹ im religiösen Sinn.75 Kant denkt in seinem ›Anfang‹, der erst am ›Ende‹ hervortritt, auf Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 59

eine Art göttlicher Liebe hin, die zugleich auf die Eröffnung der Transzendenz durch die Beziehung zu den Anderen weist.

4. Zu den Anknüpfungen an Kant und Heidegger im Anfang der Gottesfrage bei Levinas Weil der Begriff der »Autonomie der reinen praktischen Vernunft«, den Kant zur Grundlage der Moral und der praktisch fundierten Metaphysik genommen hat, für sich mißverständlich ist,76 mußte Kant ihn, nachdem er ihn als »das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten« an den Anfang gestellt hatte, klärenden Auslegungen unterziehen.77 Schon die Kritik der praktischen Vernunft trennt das Tun der spekulativen Vernunft, die »vom Abgeleiteten so hoch hinauf in der Reihe der Gründe« steigt, »wie ich will« (KpV A 256), vom Verfolgen »eines praktisch nothwendigen Zwecks des reinen Vernunftwillens«, sofern der Wille »hier nicht wählt, sondern einem unnachlaßlichen Vernunftgebote gehorcht« (KpV A 258). Zwar erklärt Kant das biblische Liebesgebot und die Vernunftmoral für kompatibel (KpV A 147 und Fn), fügt aber hinzu (KpV A 148): »Aber Liebe zu Gott als Neigung (pathologische Liebe) ist unmöglich; denn er ist kein Gegenstand der Sinne.« Die restriktive Deutung der Liebe Gottes, nach der sie bloß als »praktische Liebe« möglich sei, nach der »Gott lieben« lediglich heiße, »seine Gebote gerne thun«, hat Kant in der Religionsschrift korrigiert. Dort legt er seinen Überlegungen »die (uns schon durch die Vernunft versicherte) Liebe« Gottes »zur Menschheit« zugrunde, die Dank und somit Gegenliebe bei Menschen wecken kann (RGV B 176 = AA 6,120). Heutige Leser könnten in Kants Denkweg eine Annäherung an den einsehbaren Kern der biblischen Botschaft sehen, gemäß Augustins Leitwort (conf. 11,5): »audiam et intelligam.« Heidegger, der sich nicht explizit auf Kants Grundlegung von Moral und Metaphysik eingelassen hat, um sie interpretierend fortzuführen, obwohl er sie gewiß gut kannte, scheiterte im Blick auf die philosophische Neubegründung der (christlichen) Theologie, die er zunächst in selbstsicherem Gestus als Ziel genannt hatte,78 daran, daß er dem philosophischen Denken mit diesem überhohen 60 | norbert fischer

Ziel eine Aufgabe aufbürdete, die es allein aus eigner Kraft nicht zu lösen vermochte. Er sah von Anfang an die große Bedeutung der ›Liebe‹ für die Gottesfrage, mußte sich zu dieser Frage also nicht erst vorarbeiten, wie es Kant im Ausgang von seinem Anfang aufgegeben war. Die schon am Anfang gesehene Aufgabe ist im ›Schluß‹ der Habilitationsschrift genannt, in dem Heidegger als sein Ziel die Idee der »Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit« vorzeichnet.79 Daß er am Ende seines Wegs nicht vorgibt, dieses hohe Ziel erreicht zu haben, zeugt eher von Redlichkeit als von denkerischem Versagen. Levinas übersieht auf dem von ihm begangenen Weg, der sich nur auf den publizierten Teil von Sein und Zeit stützt und sich von ihm absetzt, sowohl Heideggers Anfang in der ›Gottinnigkeit‹, die durch eine von Liebe getragene Du-Beziehung befeuert war, als auch dessen Neuansätze seit der Freiburger Antrittsvorlesung, in der er neue Wege zum alten Ziel zu suchen anfing.80 Levinas begann seinen Weg gewiß mit dem Blick auf vermutete Defizite der Fundamentalontologie Heideggers und brachte, um diesen Defiziten zu entgehen, andere Perspektiven ins Spiel, die ihm die Aufgabe ursprünglichen Denkens mit dem Blick auf die Phänomene gestellt haben. Indem Levinas sich auf Verheißungen des biblischen Glaubens bezieht (jedoch mit Schwerpunkt auf dem Alten Testament), ist sein Anfang verwandt mit den Anfängen Kants und Heideggers, auch wenn für diese beiden das Neue Testament im Vordergrund gestanden haben mag. Obwohl Levinas ausdrücklich als ›Philosoph‹ spricht, erklärt er scheinbar distanziert (TU 21): »Die Philosophen mißtrauen der Eschatologie.« Doch weist er darauf hin, daß auch Philosophen »ihrerseits den Frieden anzukündigen« unternähmen, den sie »aus der Vernunft« deduzierten (ebd.). Indem sie »die Moral auf die Politik« gründeten, werde der Glaube aber eine »subjektive und willkürliche Divination der Zukunft, Ergebnis einer Offenbarung ohne Evidenz« (ebd.). Obwohl Levinas sich von dieser ›philosophischen‹ Optik frei halten will, sucht er den ›Frieden‹ auch auf die Weise der Philosophie und erklärt: »Aber damit wollen wir nicht sagen, der Friede sei, positiv und objektiv genommen, Sache des Glaubens statt Gegenstand des Wissens.«81 Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 61

Der ›Anfang‹ von Levinas ist nicht ohne die ›Anfänge‹ Heideggers und Kants zu verstehen, deren Denkwege eben nicht als Erzeugnisse einer ›Philosophie der Macht‹ auszulegen sind.82 Levinas hat zwar nur den Heidegger von Sein und Zeit im Auge – und dabei nicht einmal die Offenheit von Sein und Zeit für Heideggers spätere Wege beachtet (so wie er auch in Kants Kritik der reinen Vernunft nicht deren Offenheit für die ›praktische Metaphysik‹ gesehen hat). Obwohl der Angelpunkt für Kant das »einzige Factum der reinen Vernunft« ist, das »als gegeben anzusehen« sei, allerdings nicht als »empirisches« Faktum, hat Kant die Gegebenheitsweise dieses Faktums nicht weiter untersucht. An dieses Defizit konnte Levinas also mit Recht anknüpfen. Kant gesteht implizit, indem er nach dem »Grund« des als unbedingt gedachten Prinzips fragt, die Berechtigung der Frage nach einer weitergehenden Grundlegung und die vorerst bestehenden Mängel seiner Antwort, die Levinas dann aufgegriffen und zu vermeiden versucht hat.83 Die von Levinas bevorzugte Deutung der »Philosophie als Liebe zur Liebesweisheit« (TU 12), kennzeichnet seit Platon jede Philosophie, die im Bewußtsein der Endlichkeit vorgetragen wird. Indessen gab es immer wieder die Versuchung, das erreichbare Wissen autark abzusichern und die ›Philosophie‹, die vorher als Liebe zur Weisheit verstanden wurde, umzugestalten »mit dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein«.84 Levinas hat nicht bedacht, daß seine positive Stellungnahme zu Ludwig Feuerbach, die durch Martin Buber vermittelt war, von Hegel her mit größeren Problemen beladen ist, als er wahrgenommen hat.85 Mit Recht beharrt er jedoch auf der Eigenständigkeit der Untersuchung von Totalité et Infini und erklärt (TU 92): »Indem sie von der Idee des Unendlichen ausgeht, steht sie in einer anderen Perspektive.« Gewiß beginnt Levinas mit einer Phänomenologie des Endlichen, zudem im Wissen, daß dieser Anfang zwingend ist, weil er allein die Möglichkeit der Beziehung zum Unendlichen eröffnet. Das Treibende im ›Anfang‹ ist für Levinas – wie für Kant und Heidegger – das anziehende Ziel des Selbstseins und der Heiligkeit in einer Gemeinschaft mit Anderen durch reine Liebe.86 Der ›Anfang‹ liegt bei den hier ins Auge gefaßten Denkern, also bei Kant, bei Heidegger und bei Levinas im Ersehnen einer heiligen 62 | norbert fischer

ewigen Gemeinschaft mit den Anderen, die sich auf Gott als den liebenden Ursprung des Ganzen bezieht, wie schon Augustinus sie gesucht hat (conf. 11,3). Nur innerhalb dieses Kontextes ist Kants Überzeugung zu verstehen, daß »der Mensch etwas« sucht, »was er lieben kann« (RGV BA XII Fn). Aus dem Denkweg der hier betrachteten drei Autoren tritt die Einsicht hervor, daß der ›Anfang‹ mit dem höchsten Ziel gemacht werden muß. Das ›Ziel‹ aber wird dadurch ein Anfang, daß es auf das zeitliche Leben bezogen werden muß, in dem es noch der Verwirklichung harrt und nicht in verwirklichter Form begegne. Das läßt sich schon an der ›Hauptthese‹ sehen, die Levinas im Vorwort zu Le Temps et l’Autre vorgetragen hat. Nach Levinas ist die Zeit nämlich »nicht als eine Abwertung der Ewigkeit zu denken, sondern als Verhältnis zu demjenigen, was, als von sich aus Unangleichbares, absolut Anderes, sich nicht durch die Erfahrung angleichen läßt, oder als Verhältnis zu dem, was, als von sich aus Unendliches, sich nicht begreifen läßt.«87 Das gottgewollte Ziel bedarf also, obwohl Gott nicht verzeitlicht werden darf, der Zeit als des Mediums, in dem Menschen ihr Leben in ihrem Selbstsein vollziehen und dadurch einander mit dem Ziel des Friedens begegnen können. Mit Augustinus wäre das Ziel das »regnum tecum perpetuum sanctae civitatis tuae«.88

5. Der ›Anfang‹ der Gottesfrage in der metaphysisch ausgelegten Ethik im Denken von Levinas Ob Levinas mit seiner Fundamentalkritik an jeder Form von ›Ontologie‹, insbesondere an der ›Fundamentalontologie‹ Heideggers, wirklich den Lebensnerv aller früheren Philosophie trifft, weil sie ontologisch orientiert gewesen sei, mag ebenso fraglich sein wie die Fundamentalkritik, mit der Kant Platon besser hat verstehen wollen, als dieser Autor sich selbst verstanden habe89 und mit der Heidegger den Ursprung des Nihilismus schon in ›Platons Lehre von der Wahrheit‹ hat aufspüren wollen, obgleich dieser erst im ›Atheismus Nietzsches‹ offen zutage getreten sei.90 Es gab jedoch – daran ist gegen Levinas festzuhalten – in der Geschichte der abendländischen Philosophie schon immer Versuche, ›Transzendenz‹ zum Thema zu machen und das Denken für das Transzendente Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 63

zu öffnen, das dem Denken eben nicht allein durch sich selbst erreichbar ist. Auch Kants und Heideggers Denkwege sind Versuche, die Frage nach der Transzendenz kritisch reflektiert auszuarbeiten – im Geiste von Platons Philosophie und Augustins Gottsuche. Insofern muß der von Levinas vorgetragenen These widersprochen werden, ›die Geschichte der abendländischen Philosophie sei nicht zufällig eine Destruktion der Transzendenz gewesen‹.91 Die Untersuchung in Totalité et Infini beginnt ja selbst mit einer phänomenologischen Ontologie, in der Levinas die Konstitution des Ich als Selbst ausarbeitet, wobei er gegen die vermutete Intention von Sein und Zeit ankämpft und insinuiert, Heidegger analysiere das ›faktische Sein des Daseins‹ und die ›Idee des eigentlichen Ganzseinkönnens des Daseins‹ dort nur immanent. Levinas selbst legt das, was Heidegger im ›Resultat‹ der Untersuchung suchte und nach seiner späteren Erklärung die ›transzendenzhafte‹ oder ›theologische Differenz‹ zum Inhalt hätte haben sollen, seiner Untersuchung als ›Erste Philosophie‹ und damit als faktischen ›Anfang‹ zugrunde. Sein Verfahren im Umgang mit der Geschichte läßt sich wie das Kants und Heideggers als Dekonstruktion zur Erreichung desselben Ziels charakterisieren. Hinter Kants Destruktion der dogmatischen Metaphysik stand die Absicht, die »Cardinalsätze unserer reinen Vernunft«,92 an denen die spekulative Vernunft scheitert, vermittelst der reinen praktischen Vernunft zu retten und durch die Destruktion des Wissens »zum Glauben Platz zu bekommen«.93 Heidegger war es schon im Zurückschrecken vor der Aufgabe des dritten Abschnitts im ersten Teil von Sein und Zeit um die Frage nach dem ›göttlichen Gott‹ gegangen, die er im Rahmen der Fundamentalontologie nicht im intendierten Sinne ausarbeiten konnte, obwohl der göttliche Gott schon dort das ›eigentlich Intendierte‹ war.94 Obwohl Levinas die ›Anfänge‹ Heideggers und Kants zu destruieren versucht, bewegt er sich im Blick auf die philosophische Frage nach Gott doch auf Wegen, die Heidegger und Kant analog beschritten hatten, ohne auf ihnen allerdings eine abschließende Antwort finden zu können.95 Levinas präsentiert sich als Denker der Unbegreiflichkeit und Transzendenz Gottes, indem er in dieser Intention alle Versuche destruiert, ein ›panoramahaftes System des Seins‹ zu entfalten. Sofern er implizit und explizit Methoden und 64 | norbert fischer

Inhalte Heideggers und Kants teils zurückweist, teils aber auch positiv aufgreift, kann seine Beziehung zu diesen beiden Denkern – und zur abendländischen Philosophie überhaupt – unter den Titel der Dekonstruktion gestellt werden.96 Auf die Frage, ›womit der Anfang gemacht werden muß‹, hat Levinas in Totalité et Infini – im faktisch vorliegenden Anfang der Untersuchung im zweiten Kapitel97 – zunächst geantwortet: mit der Phänomenologie der ›Selbstheit des Ich‹ (»ipséité du moi«), das in ›Genuß und Unabhängigkeit‹ (»jouissance et indépendance«) und ›Trennung‹ von Anderem (»séparation«) lebt. Im Zentrum des letzten Abschnitts des zweiten Kapitels ist dann ›die Welt der Phänomene‹ (»Le monde des phénomènes«) Thema; und der letzte Unterpunkt hat den Titel ›Phänomen und Sein‹ (»Phénomène et être«). Levinas beginnt mit der Darstellung der Konstitution des endlichen Ich. Diesem faktischen Anfang folgt das zentrale dritte Kapitel mit dem Titel ›Das Antlitz und die Exteriorität‹ (»Le visage et l’extériorité«), das den ›Anfang‹ im Sinne der Einsicht entfaltet, daß die ›Ethik‹ als ›Metaphysik‹ und ›Erste Philosophie‹ zu sehen ist, gegen die Erklärung des Anfangs, wie er seit Aristoteles in der ontologisch fundierten Metaphysik gesehen worden sei.98 Im Zuge der Darstellung wird der Leser dann aber von einem neuen, anderen Anfang überrascht, in dem er mit einem Phänomen konfrontiert wird, das den natürlich scheinenden Vorrang des alten Anfangs stört, das diesen lange vorherrschenden Anfang außer Kraft setzt und als Bruch der Selbstbehauptung des Ich auftritt. Dieser andere Anfang, der sich auf kein äußerlich faßbares Phänomen stützt, tritt überraschend auf und entzieht sich somit allen Versuchen, ihn als ›Entwurf‹ des denkenden Ich auszulegen.99 Es ist derart mit dem ›einzigen Faktum der reinen Vernunft‹ verwandt, von dem Kant spricht. Dieses Faktum ist der ›Anfang‹ der Philosophie im Sinne der ethisch fundierten Metaphysik, die Transzendenz eröffnet, indem das Ich vom ›ersten Wort‹ (»premier mot«) getroffen wird, das in die panoramahaft gedachte Welt einbricht und den Blick auf sie von Grund auf ändert (TU 285). Dieser neue Anfang widerspricht allem, was der Mensch von sich aus wollen kann, und weist doch auf etwas, das er von Anfang an ersehnt hat. Der neue Anfang kann überdies als Antwort auf die Situation ausgelegt werden, die Heidegger zur ›Kehre‹ getrieben hat, in der Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 65

er auch nach dem Verhältnis von ›Dichten und Denken‹ fragt. Die ›Kehre‹ war zunächst von dem Motiv veranlaßt, ein ›Suchen ohne jede Vorwegnahme‹ zu vollziehen, ein Suchen, in dem Heidegger auf ein ›reines Finden‹ hoffte und das er nebenbei sogar selbst mit dem in Verbindung brachte, was mit dem Wort ›Offenbarung‹ gemeint ist. Ob der von Heidegger unter dem Motto ›Dichten und Denken‹ eingeschlagene Weg, der ›Wink und Weisung‹ in dichterischen Texten sucht (also in vorliegenden ›Schriften‹), auf eine zum Ziel weisende Spur führt, mag offen bleiben. Levinas ist überzeugt, in seinem Anfang ›Wink und Weisung‹ für ein Denken der Transzendenz gefunden zu haben: für ein Denken der Transzendenz Gottes und für eine neue Auslegung der innerweltlich begegnenden Transzendenz.100 Der Anfang mit der metaphysischen Ethik als der neuen ›Ersten Philosophie‹ läßt sich auch als korrigierende und verstärkende Bezugnahme auf Kants zweiten Anfang lesen, sofern Kant den neuen Anfang, unversehens nicht als ›Entwurf‹ denkt. Denn das Bewußtsein des moralischen Gesetzes benennt er, nachdem er es gefunden hat, als »das einzige Factum der reinen Vernunft«. Kants Neigung zur theoretischen Absicherung dieses Prinzips, führt nicht nur den Vorzug bei sich, daß es nicht als unvernünftig abgetan werden kann, sondern auch die Gefahr, daß das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft101 – analog dem Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch – als ›Produkt‹ der autarken Vernunft gepriesen oder denunziert werden kann.102 Denn an der Stelle der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, an der Kant zum ›Grund‹ des moralischen Prinzips spricht, wird noch nicht zureichend klar, daß es »als gegeben anzusehen« ist, was Levinas mit seiner Einführung verdeutlicht, die auf seine ›Transzendenz‹ hinweist.103 Die von Levinas gegen Ende von Totalité et Infini vorgetragene These, daß die »Moral […] nicht ein Zweig der Philosophie, sondern die erste Philosophie« sei, kann folglich als eigenständige Anknüpfung an Kant und als kritische Weiterführung von Gedanken Kants verstanden werden. Ein ethisch fundierter ›Anfang‹ scheint in den expliziten Thesen Heideggers zwar zu fehlen.104 Die Anknüpfungen an Heidegger und Kant zeigen dennoch, wie Levinas die abendländische Philosophie fortführt, indem er sie als ›Liebe zur Liebesweisheit‹ auslegt, die in ihrem ›Anfang‹ und in ihrem ›Ende‹ 66 | norbert fischer

von der Idee einer von Liebe getragenen Gemeinschaft aller Personen in Beziehung zur Liebe Gottes getragen ist. Mit dieser Idee muß der ›Anfang‹ gemacht werden.

Anmerkungen

Der folgende Beitrag bezieht sich nicht unmittelbar auf den Text von Georg Friedrich Hegel, den dieser seiner Wissenschaft der Logik vorangestellt hat (WL I,65–79): Womit muß der Anfang in der Wissenschaft gemacht werden? Angeregt wurde der Titel gleichwohl durch Heideggers Bezugnahme auf Hegels Reflexionen (vgl. OVM, bes. 56–77), vor allem durch den von Heidegger zitierten Gedanken Hegels (OVM 62): »›Das Resultat ist der Anfang‹. Mit dem Resultat muß, insofern aus ihm der Anfang resultiert, eigentlich angefangen werden.« Dessen Wahrheit wird hier aber im Ausgang vom nicht-spekulativen Denken von Kant, Heidegger und Levinas untersucht. 2 Vgl. Ergänzungen zu FM (AA 28,474). Der bei Kant oft mals hervortretende Gedanke des ›Lebens‹ und des ›lebendigen Gottes‹ spielt in den Schriften, Aufzeichnungen und Vorlesungen Kants eine bisher wenig beachtete Rolle. Der Kontext dieses Mottos lautet: »1 Durch speculation // a Das natürliche Urwesen. Oberste und ewige Ursache Substratum. // Einos Untergötter Landes Götter // b Frey handelnde Urwesen. Das Leben kan allein den ersten Anfang machen //– Der erste Beweger der Urheber Der Oberste Geist, lebendiger Gott. « Was Kant hier mit ›Leben‹ meint, ist nach Augustinus das ›wahre Leben‹. Dieses wahre Leben ist nach Augustinus nur in einer ›civitas sancta‹ zu verwirklichen (vgl. Confessiones 11,3; dazu Aurelius Augustinus: Was ist Zeit? Confessiones XI / Bekennntnisse 11, bes. XL f. Vgl. weiterhin Aurelius Augustinus: Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X / Bekenntnisse 10). Das ›wahre Leben‹ lebt nach Augustinus von der ›reinen Liebe‹; vgl. z. B. conf. 6.26; civ. 1,9. Indem Augustinus erklärt, daß er nichts als ›Gott und die Seele‹ zu wissen wünsche, ist indirekt schon das Ziel einer Gemeinschaft in reiner Liebe bezeichnet. Der Gedanke des Lebens, mit dem nach Kant allein der ›erste Anfang‹ gemacht werden kann, läuft auch bei Kant auf die Idee eines heiligen Reiches Gottes hinaus, das von der wechselseiten Achtung seiner Glieder bestimmt ist. 3 Durchaus angebracht ist der Titel eines Buchs von Branko Klun: Metaphysikkritik und biblisches Erbe. In der vorliegenden Untersuchung wird Levinas jedoch im Ausgang von philosophischen Arbeiten in den Blick genommen, in denen er eine besondere, aber durchweg positive Stellung zu einer undogmatischen ›Metaphysik‹ einnimmt, die von der ›Ethik‹ ausgeht. Vgl. auch Norbert Fischer; Jakub Sirovátka (Hg.): »Für das Unsichtbare sterben«. Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Levinas. 1

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Wichtig war schon die Darstellung von Stephan Strasser: Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Levinas’ Philosophie. Als ersten Versuch des Vf., diese drei Autoren miteinander in Verbindung zu bringen, vgl.: Suchen und Finden. Zur Inversion der Aktivität in der Beziehung zu Gott. Im Hintergrund stand damals (und steht auch hier wieder) das vom Vf. gemeinsam mit Dieter Hattrup vorgelegte Buch: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, dessen Kant-Teil (13–230) von Norbert Fischer verfaßt ist. 5 Zur Gottesfrage vgl. bes. Autrement qu’être ou au-delà de l’essence und De Dieu, qui vient à l’ideé. Die Beachtung seiner Schriften begann nach seinem Tod zu stagnieren, was nicht selten auch bei solchen Autoren eintritt, die zu Lebzeiten große Aufmerksamkeit erregt hatten. 6 Derzeit wird eine Gesamtausgabe vorbereitet (vgl. Literaturverzeichnis). 7 Einschlägige Stellen lassen sich mit Hilfe der Register zur Übersetzung von Wolfgang Nikolaus Krewani (TU) leicht aufspüren. Heideggers Denken steht für Levinas insofern im Zuge einer Fortsetzung der abendländischen Tradition, die seit Parmenides wirksam, aber von Levinas prinzipieller Korrektur für bedürft ig gehalten wird; er argumentiert formal parallel zu Heideggers Ansinnen, die Tradition seit Platon als Vorspiel des Nihilismus auszulegen und anfängliches Denken bei den Vorsokratikern zu suchen. Beide suchen die Rettung in Anfänglicherem, Levinas in der Ethik, die sich ihm als ›Metaphysik‹ zeigt, als ›Erste Philosophie‹. 8 TU 7; wichtig in diesem Kontext ist das schon erwähnte Buch von Stephan Strasser: Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Levinas’ Philosophie. 9 Vgl. SuZ 13: »Daher muß die Fundamentalontologie, aus der alle andern erst entspringen können, in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden.« Weiterhin z. B. SuZ 37: »In der gegebenen Erläuterung der Aufgaben der Ontologie entsprang die Notwendigkeit einer Fundamentalontologie, die das ontologisch-ontisch ausgezeichnete Seiende zum Thema hat, das Dasein, so zwar, daß sie sich vor das Kardinalproblem, die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, bringt.« Levinas äußert sich zwar kritisch zu Heideggers Projekt, folgt dessen Phänomenologie des faktischen Lebens aber mit großer Selbstverständlichkeit. 10 Vgl. Norbert Fischer: Kants These vom Primat der praktischen Vernunft. Zu ihrer Interpretation im Anschluß an Gedanken von Emmanuel Levinas. Das Stichwort ›Primat‹ fehlt im ansonsten nützlichen Sachregister von TU; folgende Fundstellen in TU sind dennoch bemerkenswert: 48: zum ›cartesischen Primat‹; 51: »Dieser Primat des Selben war die Lektion des Sokrates.«; 54: zum »Primat der Ontologie bei Heidegger«; 55: zum ›Primat der Freiheit‹ und zum »Primat des Selben‹, »in dem die ganze abendländische Philosophie nachwirkt und der sie defi niert«; 74: »Primat der Geschichte«; 108: »Eines der Ziele des vorliegenden Werkes ist es, diesen Primat des Ethischen, also der Beziehung 4

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von Mensch zu Mensch – der Bedeutung, der Unter weisung, der Gerechtigkeit –, herauszustellen«; 172: zur »Husserlschen These vom Primat des objektivierenden Aktes«; 296: zum »Primat des vernünft igen Denkens«; 426: zum »Primat des Panoramas«; 433: zum »Primat des Neutrums«; 439: gegen den »traditionellen Primat, den die Freiheit als Maß des Seins genießt«. 11 Vor dem Hintergrund der in Anm. 8 genannten Stellen vgl. Emmanuel Levinas: Le Primat da la Raison Pure Pratique. Das Primat der reinen praktischen Vernunft. Vgl. dazu auch Einleitung und Kommentierung zu diesem Text von Jakub Sirovátka (KMR 179–190; 203–205). 12 Levinas sagt (TU 33): »Die Husserlsche Phänomenologie hat diesen Übergang von der Ethik zur metaphysischen Exteriorität möglich gemacht.« Kants Philosophie ist in TU jedoch auch negativ konnotiert, sofern der Bezug auf die Ethik in ihr nicht zutage tritt (im Blick auf die Auslegung der KrV als Erkenntnistheorie, die aber nur ein Anfang der Neubesinnung auf Kant im 19. Jh. war; z. B. Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung). In Wahrheit ist auch die KrV keine Erkenntnistheorie, sondern die Grundlegung einer kritischen Metaphysik, die Kant das Tor zur praktischen Philosophie und zur Religionsphilosophie öff nete. Vgl. KMR und KGkM. 13 Vgl. TU 55: »Die Ontologie als Erste Philosophie ist eine Philosophie der Macht.« Noch schärfer als gegen Heidegger müßte Levinas sich indessen gegen Descartes’ Bild vom Baum der Wissenschaften wenden, das Heidegger in der Einleitung zu WiM in kritischer Absicht betrachtet (vgl. GA 9,365). Der Haupttext von WiM (GA 9,103–122) wird im weiteren nach der Originalpaginierung zitiert, die in GA 9 enthalten ist; zu Heideggers Descartes-Auslegung vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Descartes’ Meditationen, bes. 166–230 (Der bewußtseinsanalytische Gottesaufweis als Lösungsweg für die Frage nach der transzendenten Geltung der bewußtseinsimmanenten Vorstellungen [cogitata] von der materiellen Welt), vgl. dazu auch den Beitrag von Jean Greisch im vorliegenden Band. 14 Den Übergang zu Kant führt er, wie erwähnt, auf Husserl zurück, der für Levinas eine große, positive Rolle spielte. Levinas nennt als andere Ausgangspunkte seines Denkens zu Beginn des Vorworts zur deutschen Übersetzung (TU 7) Martin Buber, Gabriel Marcel und Franz Rosenzweig. Die Bevorzugung jüdischer Autoren, die zweifelsohne wichtige Beiträge zur deutschen und europäischen Kultur geleistet haben, hängt ebenso wie eine gewisse Marginalisierung deutscher Autoren gewiß auch mit dem auf unmittelbarer Betroffenheit gegründeten Entsetzen über die unsägliche Tyrannei des ›Dritten Reiches‹ zusammen (vgl. den Vorspruch in JS 7). 15 Sie fügt sich nach diesem Ansatz auch in die Reihe der Untersuchungen zur Gottesfrage bei Kant und Heidegger ein; vgl. dazu Norbert Fischer; Maximilian Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants; und: Norbert Fischer; Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers. Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 69

Kant wie Heidegger sind zwar beide mühsame Wege gegangen, die Wendungen und Brüche enthielten, sie können aber beide modifi ziert Augustins ›deum et animam scire cupio‹ mitsprechen. Zu bedenken ist, daß auch der Denkweg Augustins, des ›Vaters des Abendlandes‹, nicht ohne Spannungen und Brüche war. Dazu Norbert Fischer (Hg.): Die Gnadenlehre als ›salto mortale‹ der Vernunft. Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant. 17 Vgl. dazu KuK. Zur Vernachlässigung von Kants kritischer Metaphysik vgl. Georg Mohr; Marcus Willaschek (Hg.): Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, bes. Konrad Cramer: Die Einleitung (A1/B1–A16/B30), 57–79. Cramer marginalisiert die Bedeutung der ›metaphysischen Naruranlage‹ für Kants Projekt. 18 Vgl. dazu: Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik (in: GA 11), 62–79, bes. 62 mit der Auslegung eines Satzes von Hegel: »›Das Resultat ist der Anfang.‹ Mit dem Resultat muß, insofern aus ihm der Anfang resultiert, eigentlich angefangen werden.« 19 Vgl. KrV B 659–661 (»Kritik aller Theologie als speculativen Principien der Vernunft«). Vgl. im Vorfeld auch Pascals Reflexionen zum Gott der Philosophen und Gott des Glaubens; vgl. dazu PFG 325–344. 20 Vgl. TU 32; der Titel De Dieu qui vient à l’idée (Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz) verdeutlicht die Inversion der Aktivität, die nur von einem Lebendigen ausgehen kann. Zur Inversion der Aktivität vgl. Rilke (SO I 22): »Wir sind die Treibenden«; (SO II 5; KA 2,259): »Aber wann, in welchem aller Leben,/ sind wir endlich offen und Empfänger?«; aber auch (Gedichte von 1910–1922): »Solang du Selbstgeworfnes fängst« (vgl. KA 2,195). Im Blick auf Heidegger ist auf dessen Reserve gegenüber dem ›vorstellenden‹ Denken zu verweisen. Ein Vorgänger in dieser Hinsicht, den Levinas jedoch nicht wahrgenommen hat, ist Augustinus, z. B. mit der ›Inversion der Aktivität‹ in der Gottsuche in Confessiones 10,38: »vocasti et clamasti et rupisti surditatem meam, coruscasti, splenduisti et fugasti caecitatem meam, fragrasti, et duxi spiritum et anhelo tibi, gustavi et esurio et sitio, tetigisti me, et exarsi in pacem tuam.« Vgl. dazu die Einleitung. In: Aurelius Augustinus: Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X / Bekennntnisse 10; eingeleitet übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer. IX, XV–XVII, XXX, LIII–LXIV. 21 Zu dieser Destruktion und Anknüpfung gehört die Deutung der Ontologie als »Philosophie der Macht«; indem sein Denken auch in eine positive Beziehung zu Kant und Heidegger gebracht wird, richtet sich die vorliegende Auslegung gegen das Selbstverständnis von Levinas. 22 Im Hintergrund steht neben der Kant-Auslegung in MAA der erwähnte Text von Norbert Fischer: Suchen und Finden. Zur Inversion der Aktivität in der Beziehung zu Gott. Dazu hatte Friedrich-Wilhelm von Herrmann dem Autor als weiterführenden Hinweis geschrieben (in einem Brief vom 14. 12. 16

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2003): »Die Linie, die Sie zwischen Kant und Heidegger und Levinas herausgearbeitet haben, überzeugt mich sehr. Besonders aufschlußreich sind Ihre Auslegungen zum reinen Finden bei Heidegger, das im Ereignis-Denken noch stärker als in der Antrittsvorlesung betont wird. Das reine Finden ist die Erfahrung des ereignenden Zuwurfs, dem sich aller Entwurf verdankt.« 23 Vgl. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis); GA 67,92: »Der Versuch, dem ›Glauben‹ Platz zu machen (Kant), ist nur die letzte Verstrikkung in die Metaphysik und ihre Grundlosigkeit.« Vgl. dazu die kritischen Hinweise in GDMH 20 und 151 mit Anm. 14. 24 Vgl. Heidegger: Schelling. Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809). GA 42, 207: »Der Mensch muß sein, damit der Gott offenbar werde. Was ist ein Gott ohne den Menschen? Die absolute Form der absoluten Langeweile. Was ist ein Mensch ohne den Gott? Der reine Wahnsinn in der Gestalt des Harmlosen.« 25 Vgl. TU 19; Hinweise zum Aufbau von TU (I: Einleitung; II: Thesis, III: Antithesis; IV: Synthesis; V: Zusammenfassender Schluß). Als inhaltliche Bezeichnung der drei zentralen Kapitel können genannt werden: II: Konstitution des Selbst; III: Transzendenz des Anderen, IV: Zusammenleben von Selbst und Anderem. Dazu vgl. im vorliegenden Band auch die Überlegungen zum systematischen Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹. Der ›Anfang‹, sofern das Resultat der Anfang ist, wäre also das von Liebe getragene Zusammenleben von Selbst und Anderem. 26 Zum ›Bruch mit der Totalität‹ vgl. bes. TU 38–47. 27 Vgl. SuZ 52 f.: § 8. Aufriß der Abhandlung; dazu Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Nachwort des Herausgebers zu Sein und Zeit (GA 2), 581–583. Bes. Zu beachten ist die Randbemerkung ›a‹ in GA 2,55. Sie erläutert den Titel des ›ersten Teils‹ von SuZ: »Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein«; die Marginalie lautet: »Nur dieses in diesem veröffentlichten Stück«; der ›erste Teil‹ bietet also nur: »Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit«. Inwieweit die Marburger Vorlesung 1927 (Die Grundprobleme der Phänomenologie, vgl. GA 24) der ursprünglichen Aufgabe Inhalt des dritten Abschnitts gewidmet ist, dessen »erste Fassung« Heidegger »bald nach ihrer Niederschrift verbrannt« hat (vgl. GA 2, 532), mag dennoch unsicher sein. Friedrich-Wilhelm von Herrmann erklärt als Herausgeber von GA 24 (473), die Untersuchung der Grundprobleme der Phänomenologie entsprängen »einer ursprünglicheren Aneignung der abendländischen Überlieferung, ihrer metaphysisch-ontologischen Fragestellung, und nicht etwa existenzphilosophischen oder bewußtseins-phänomenologischen Motiven« (GA 24, 473). Schon die Marginalie in GA 2,53 gibt aber den Hinweis, was damit gemeint ist: »Die transzendenzhafte Differenz«. Diese hat Heidegger in einem Brief an Max Müller weiter erläutert. In diesem Brief vom 4. November 1947 heißt es (Martin Heidegger: Briefe an Max Müller und andere Dokumente, 15): »Was Sie von Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 71

der ontologischen Differenz sagen, trifft. Darum spreche ich möglichst wenig davon. Die Gefahr, fehl zu denken, ist hier besonders groß. In der ersten Ausarbeitung des III. Abschnittes des 1. Teils von Sein und Zeit, wo die Kehre zu ›Zeit und Sein‹ sich vollzieht, nannte ich das Gemeinte die ›transzendenzhafte Differenz‹ in Bezug auf die transzendentale (ontologische im engeren Sinn) und die transzendente (theologische) Differenz. Der Titel war eine Verlegenheit wie der ganze damalige Versuch, der mit der onto-theologischen Basis der Metaphysik nicht durchkam. Es sind immer nur seltene und langsame Schritte, die in diesem unbegangenen Feld bisweilen glücken und noch öfters mißglücken.« 28. Vgl. bes. § 38: Das Verfallen und die Geworfenheit (SuZ 175–180); vgl. auch schon SuZ 21. 29 Vgl. bes. die §§ 61–66 (SuZ 301–333). 30 Vgl. auch die Hinweise in GDMH, 14, 38 f., 150. 31 Vgl. auch SuZ 427 Fn 1 zum »Begriff der Ewigkeit«, die nach mündlicher Auskunft von Fried rich-Wilhelm von Herrmann vermutlich aus dem Text des vernichteten dritten Abschnitts des ersten Teils von SuZ stammt; vgl. auch den ›Natorp-Bericht‹ (GA 62,341–419, hier 363): »wenn […] Philosophie gesonnen ist, das faktische Leben in seiner entscheidenden Seinsmöglichkeit in Sicht und Griff zu bringen, das heißt, wenn sie bei sich selbst radikal und klar ohne Seitenblicke auf weltanschauliche Betriebsamkeiten sich dazu entschieden hat, das faktische Leben von ihm selbst her aus seinen eigenen faktischen Möglichkeiten auf sich selbst zu stellen, das heißt, wenn die Philosophie grundsätzlich atheistisch ist und das versteht – dann hat sie entscheidend gewählt und für sich zum Gegenstand erhalten das faktische Leben hinsichtlich seiner Faktizität.« In einer Fußnote fügt Heidegger hinzu (ebd.): »›A-theistisch‹ nicht im Sinne einer Theorie als Materialismus oder dergleichen. Jede Philosophie, die in dem, was sie ist, sich selbst versteht, muß als das faktische Wie der Lebensauslegung gerade dann, wenn sie dabei noch eine ›Ahnung‹ von Gott hat, wissen, das daß von ihr vollzogene sich zu sich selbst Zurückreißen des Lebens, religiös gesprochen, eine Handaufhebung gegen Gott ist. Damit allein aber steht sie ehrlich, d. h. gemäß der ihr als solcher verfügbaren Möglichkeit vor Gott; atheistisch besagt hier: sich freihaltend von verführerischer, Religiosität lediglich beredender Besorgnis. Ob nicht schon die Idee einer Religionsphilosophie, und gar wenn sie ihre Rechnung ohne die Faktizität des Menschen macht, ein purer Widersinn ist?« 32 Diesen Stufenweg (›foris‹ – ›intus‹ – ›interior intimo meo‹) hat Augustinus im Anschluß und in Abwehr gegen die ›scala mystica‹ Plotins entwickelt. Zu Augustins Neugestaltung dieses Wegs vgl. SwL, bes. XIX–XXX. Augustinus mindert im Verfolgen dieses Wegs, wie auch die späteren der hier untersuchten Autoren, die bei Plotin hervortretende Tendenz, Stoffl iches und Zeitliches geringschätzig zu betrachten. 33 Er kann jedoch auch schon in der ›Grundvision‹ der Philosophie Platons gefunden werden (vgl. z. B. Egil A. Wyller: Der späte Platon, bes. 9–28). 72 | norbert fischer

Vgl. z. B. auch die Anspielungen auf Kants Problem des ›intellectus archetypus‹ in SuZ 36 f.: »In der Idee der ›originären‹ und ›intuitiven‹ Erfassung und Expklikation der Phänomene liegt das Gegenteil der Naivität eines zufälligen, ›unmittelbaren‹ und unbedachten ›Schauens‹«. 35 Vgl. Anm. 21 mit Hinweisen zu Heideggers Kritik von Kants Absicht, ›zum Glauben Platz‹ zu bekommen. 36 Nach Gerold Prauss: Heidegger und die praktische Philosophie, 184, ist »Heideggers Kant- Auslegung […] dadurch verfehlt, daß er weder in erkenntnistheoretischer noch ontologischer Hinsicht dem Sinn seiner kopernikanischen Wende gerecht zu werden vermag«. Prauss beachtet zwar nicht Heideggers Vorlesung Die Grundprobleme der Philosophie und die dort vorgetragene Kant-Kritik (GA 24, 172–251), die den Zugang zu dessen praktischer Philosophie versperrt, rekonstruiert aber aus anderen Schriften die Hintergründe von Heideggers Kant-Kritik. Das Fehlen eines positiven Zugangs zu Kants praktischer Philosophie, sofern diese auf ›Achtung‹ der Person gründet (Achtung verstanden im Sinne der ›caritas‹), könnte das sein, was im dritten Abschnitt von SuZ fehlt und den Zugang zur Ausarbeitung der Gottesfrage verhindert. 37 Vgl. dazu Heideggers Ansätze zu einer »Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit« von denen er im ›Schluß‹ seiner Habilitationsschrift von 1915/16 erklärt, daß »deren allgemeine Richtpunkte nur angedeutet werden konnten«; vgl. Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (= KBDS): GA 1, 410 f. Vgl. dazu auch FriedrichWilhelm von Herrmann: Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers. Heideggers Nietzsche-Deutung in Nietzsches Wort »Gott ist tot« (vgl. Holzwege = GA 5, 209–267) scheint auch von moralischen Impulsen getragen zu sein (vgl. GA 5,259 f.): »Der letzte Schlag gegen Gott und die übersinnliche Welt besteht darin, daß Gott, das Seiende des Seienden, zum höchsten Wert herabgewürdigt wird.« Vgl. dazu auch die von einer impliziten Ethik getragenen Überlegungen in Wozu Dichter? (ebenfalls in Holzwege; GA 5, 269–320), bes. 314 f. zum Wesen des ›Kaufmanns‹; vgl. dazu Norbert Fischer: Das Gewagtsein des Menschen. Die Rilke-Deutung Heideggers als Spur seines Denkens auf dem Weg der Gottesfrage, bes. 164 f. Das Versagen im Denken Heideggers (und damit die Schwäche seines Denkens), also die Frage, mit der er nicht zurecht kam, mag darin bestehen, daß er in der praktischen Philosophie, die für seinen ›Anfang‹ gleichwohl von höchster Bedeutung war, nicht zu einem Ergebnis kam, das er hätte ausdrücklich vortragen können. 38 Vgl. SuZ 38: »Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.« Wenn das philosophische Fragen letztlich aus der Idee einer ›heiligen Gemeinschaft freier Wesen in der Beziehung zu Gott‹ entspringt, wie am Ende der folgenden Überlegungen erklärt wird, ergäbe sich eine konstitutionelle Nähe der Philosophie 34

Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 73

zur Theologie, die heutzutage indessen von beiden Seiten vernachlässigt wird. 39 OVM 62; dort heißt es weiter: »Mit dem Resultat muß, insofern aus ihm der Anfang resultiert, eigentlich angefangen werden.« Vgl. dazu Anm. 1. 40 Vgl. dazu jedoch die zutreffenden Hinweise von Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von ›Sein und Zeit‹. I ›Einleitung: Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein‹, hier bes. 404. 41 Sein und Zeit muß aus dem Gesamtplan verstanden werden, sofern dieser am Ende mit der Gottesfrage zu tun hatte. Dazu vgl. folgende Passage aus dem Brief Friedrich-Wilhelm von Herrmanns an den Vf. vom 29. Dezember 2006: »In den letzten zwei Jahren bin ich zu der sicheren philosophischen Einsicht gekommen, daß Heideggers 1919 konzipierter Ansatz der hermeneutischen Phänomenologie des faktischen Lebens und Daseins die neu gestellte christliche Gottesfrage nicht ausschließt, daß er vielmehr mit seinem eigenständigen Ansatz einen neuen Zugang zur christlichen Gottesfrage gesucht und gefunden hat. In diesem Sinne müssen die beiden Vorlesungen ›Einleitung in die Phänomenologie der Religion‹ und ›Augustinus und der Neuplatonismus‹ gelesen werden – was bisher für die Heidegger-Forscher keineswegs klar ist. Zu dieser abschließenden Einsicht meinerseits gehört nun aber, daß Heideggers Einklammerung der christlichen Gottesfrage seit dem Wintersemester 21/22, also gleich im Anschluß an die Augustinus-Vorlesung, nicht notwendig aus der von ihm gedachten und zu denkenden Sache hervorgeht, sondern ein anderes Motiv hat. Es handelt sich um ein rein existenzielles Motiv: entweder ist er plötzlich vom Entzug des christlichen Gottes heimgesucht worden oder er hat sich selbst von dieser glaubensgegründeten Frage gelöst. Das für mich Entscheidende besteht nun aber darin, daß die Gottesfrage ohne gedankliche Widersprüche sehr wohl durch das daseinsanalytische und fundamentalontologische Denken hätte durchgezogen werden können. Daraus folgt aber, daß der lebens- bzw. daseinshermeneutische Ansatz der Gottesfrage in jenen beiden Vorlesungen aufgegriffen und sowohl durch das fundamentalontologische wie durch das seinsgeschichtliche Denken Heideggers durchgezogen werden kann. Im seinsgeschichtlichen Denken müßten zwar einige Modifi kationen vorgenommen werden, die ich bereits durchdacht habe, ohne aber das geschichtliche Ereignisgefüge selbst in Frage stellen zu müssen.« 42 SuZ 5: in GA 2,7 lautet diese Stelle: »Jedes Fragen ist ein Suchen. Jedes Suchen hat sein vorgängiges Geleit aus dem Gesuchten her.« Vgl. dazu SwL (Einleitung) XVII: »Augustinus führt diese Einsicht im Gleichnis der Frau vor Augen, die eine Drachme suchte, die sie verloren hatte und wiederfi nden konnte, weil sie im Gedächtnis hatte, was sie suchte (27). Vor dem Beginn der Gottsuche aber haben wir laut Augustinus weder Gotteserkenntnis besessen noch ein erfülltes Leben in der Nähe Gottes geführt. Insofern sind Gottsuchende in gänzlich anderer Lage als die Drachmensucherin. Denn diese sucht 74 | norbert fischer

ein Produkt menschlicher Tätigkeit, das ihr bekannt war und abhanden gekommen ist. Gottsuchende sind aber auch in anderer Lage als Forschende, die wissenschaft liche Erkenntnis auf dem Gebiet der Natur oder menschlicher Angelegenheiten suchen. Für solche Forschung hat schon laut Augustinus zu gelten, was später Kant erklärt hat, daß nämlich ›die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt‹ – und daß das in einem solchen Entwurf Hervorgebrachte nicht Gott ist.« 43 Auch diese Dreiheit kann im Sinne des Augustinischen Dreischritts von ›foris‹ – ›intus‹ – ›interior intimo meo‹ ausgelegt werden. 44 SuZ 5. Vgl. conf. 3,11: insofern ist auch für Heidegger der Anfang das Resultat, im faktisch vorliegenden Text vielleicht am deutlichsten eine vollendete, gleichsam göttliche Zeitlichkeit. 45 Dann wäre die Notwendigkeit der ›Kehre‹ und die ihr folgenden ›Wege‹, die Heidegger teilweise als ›Holzwege‹ bezeichnet hat, schon aus dem Ansatz abzuleiten. 46 In diesem Neuanfang ist sowohl die Gottesfrage als auch die ›Idee eines eigentlichen Miteinanderseins‹ virulent, die sich auf die ›vorspringend-befreiende Fürsorge‹ beziehen mag (z. B. SuZ 298) und auf Heideggers Wort »amo: volo ut sis« bezogen werden kann; dazu vgl. Tatjana Noemi Tömmel: »Wie bereit ich’s, daß Du wohnst im Wesen?« Heidegger über Liebe und die Eigentlichkeit des anderen in den Marburger Jahren. Vgl. dazu auch Norbert Fischer: »Deum et animam scire cupio«. Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen. Auch das angestrebte Resultat von Heideggers Denken, mit dem er unausgesprochen den Anfang macht und machen muß, wäre also in eine Gemeinschaft der Liebe in der Gegenwart und im Angesicht Gottes. 47 WiM 6; vgl. die Hinweise in Anm. 18; weiterhin vgl. den Anfang eines Gedichts von Johann Wolfgang Goethe (HA 1, 254): »Ich ging im Walde/ So für mich hin,/ Und nichts zu suchen,/ War mein Sinn. // Im Schat ten sah ich/ Ein Blümlein stehn,/ Wie Sterne leuchtend,/ Wie Äuglein schön.« Nichts ein nebulöses Interesse am ›Nichts‹ ist der Ansporn dieser Fragen, sondern das Scheitern an der Aufgabe des dritten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit. Am ›Nichts‹, das es ja ›nicht gibt‹, dem man sich also nicht durch vorgefertigte Auffassungsweisen (gleichsam ›a priori‹) nähern kann, können gleichsam Vorübungen zur sachgemäßen Ausarbeitung der Gottesfrage vorgenommen werden, um die es Heidegger hier eigentlich geht. 48 Vgl. WiM 8: »Eine andere Möglichkeit solcher Offenbarung birgt die Freude an der Gegenwart des Daseins – nicht der bloßen Person – eines geliebten Menschen.« Von ›Offenbarung‹ hatte er vorher nicht gesprochen, aber am neuen Fall der ›Freude an der Gegenwart des Daseins eines geliebten Menschen‹ diese als ›andere Möglichkeit‹ genannt, so daß das Wort ›Offenbarung‹ auch auf das ›reine Finden‹ zu beziehen ist. Vgl. auch die Hinweise in Anm. 19. 49 Vgl. die unten zitierte Stelle TI 3: »Le désir métaphysique tend vers tout autre chose, vers l’absolument autre.« Faktisch hat Heideggers Suchweg zuWomit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 75

nächst zum Ansatz der Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis) geführt; zum dort gesuchten andersanfänglichen Anfang vgl. Paola-Ludovica Coriando: Seinsbedürfnis. Zum ›letzten Gott‹ in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹, bes. 93 (unter 3. Das Göttliche im anderen Anfang: Seinsbedürfnis) mit dem Hinweis, daß Heidegger hier »auf eine ›andersanfängliche‹ Annäherung an die Frage des Verhältnisses von Sein und Gott abzielt«. Es mag aber beachtenswert sein, daß Heidegger diese Beiträge nicht publiziert hat, aber kleinere Beiträge, in denen er andere Anfänge erprobt (z. B. in Holzwege). 50 Bei Platon geschieht das z. B. negativ durch den Hinweis, daß die ›Idee des Guten‹ e4pe2keina th/@ ou4sía@ bleibe (Politeia 509b); das Höchste tritt unversehens und plötzlich (e4xaífnh@) auf (Politeia 515a, 516a, 516e; vgl. Siebenter Brief 341c/d). Nach Augustinus verfehlt der Weg der Gottsuche im Äußeren wie im Inneren sein Ziel, was Augustinus in nüchterner Diagnose festhält (conf. 10,37): »Neque enim iam eras in memoria mea«; sie mündet bei ihm in die Frage (ebd.): »ubi ergo te inveni, nisi in te supra me?« Da er sich sicher ist, Gott gefunden zu haben, hält er fest, daß Gott bei ihm gewesen sein muß, auch wenn er nicht bei Gott gewesen ist (conf. 10,38): »mecum eras, et tecum non eram.« Das Gottfinden erfährt er als Inversion der Aktivität (ebd.): »vocasti et clamasti et rupisti surditatem meam, coruscasti, splenduisti et fugasti caecitatem meam, fragrasti, et duxi spiritum et anhelo tibi, gustavi et esurio et sitio, tetigisti me, et exarsi in pacem tuam.« Vgl. dazu Norbert Fischer: Einleitung (SwL, bes. LIII–LXIV). Was die Aktivität Gottes zum Inhalt hat, wird in Confesssiones 11,1 deutlich, wo Augustinus die Bergpredigt zitiert, in der dem Suchenden, der von sichaus zwar Klugheitsregeln aufstellen kann, von Gott her etwas zuteil wird, was er sich nicht selbst zu geben vermag. Diese Botschaft weckt unstillbare Sehnsucht nach dem »regnum tecum perpetuum ›sanctae civitatis‹ tuae« (conf. 11,3). 51 Mit Hilfe des Personenregisters in TU lassen sich die zahlreichen Referenzstellen zu Heidegger leicht auffi nden; vgl. also: TU 30, 54 f., 56, 58, 91, 104 f., 123 f., 150, 152, 157, 190 f., 196, 235 f., 245 f., 269, 271, 281, 296, 316, 345 f., 356, 391 f., 399, 402 f., 415, 425 f., 432 ff., 440. 52 »Le désir métaphysique« wird hier im Unterschied zu Krewanis Übersetzung nicht als »das metaphysische Begehren« verdeutscht, sondern als ›metaphysisches Ersehnen‹: ›Begehren‹ hat einen Beiklang, der sich leichter mit sinnlichen Erfüllungen zufrieden geben kann; ›Sehnen‹ zielt eher auf eine Wirklichkeit, die auf Unendliches zu weisen vermag (vgl. den Gebrauch von ›desiderium‹ in conf. 11,4). 53 Sähe er Heideggers Ansatz nur negativ, wäre seine ›unablässige Aufmerksamkeit auf Sein und Zeit‹ unverständlich. Bei Heidegger gäbe es weitere Anknüpfungspunkte, die Levinas aber – vermutlich mit Absicht – übersieht: z. B. die Phänomenologie des Anderen in der Analyse des (eigentlichen und uneigentlichen) Miteinanderseins; vgl. SuZ 123: »Nach der jetzt durchgeführten Analyse gehört aber zum Sein des Daseins, um das es ihm in seinem Sein 76 | norbert fischer

selbst geht, das Mit-sein mit Anderen. Als Mitsein ›ist‹ daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer. Das muß als existenziale Wesensaussage verstanden werden. Auch wenn das jeweilige faktische Dasein sich an Andere nicht kehrt, ihrer unbedürft ig zu sein vermeint, oder aber sie entbehrt, ist es in der Weise des Mitseins. Im Mitsein als dem existenzialen Umwillen Anderer sind diese in ihrem Dasein schon erschlossen.« 54 TU 30; Levinas fährt an dieser Stelle fort: »Die Phänomenologie ist eine philosophische Methode, aber die Phänomenologie – das Verstehen durch das Ans-Licht-Bringen – stellt nicht das höchste Geschehen des eigentlichen Seins dar. Die Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen läuft nicht immer auf die Erkenntnis des Anderen durch das Selbe hinaus, ja nicht einmal auf die Offenbarung des Anderen für das Selbe, obwohl auch dieses schon von der Erschlossenheit tief verschieden ist.« 55 Insofern leben die beiden ausgeführten Abschnitte des ersten Teils ungesagt und unvermerkt vom Inhalt des dritten Abschnitts, den Heidegger vernichtet hat, weil er ihn nach der Ausführung für unzureichend hielt. Dieser dritte Abschnitt, der nach der Analyse des alltäglichen In-der-Welt-Seins des Daseins und der Analyse des eigentlichen Ganzseinkönnens des Daseins womöglich des Ziel eines nur in der Transzendenz faßbaren und auf Gott weisenden eigentlichen, von Liebe bestimmten Miteinanderseins hatte, ist im dann in unterschiedlichen Ansätzen Ziel der späteren Denkwege geworden. Er ist der Anfang, von dem Heideggers Denkweg lebt. 56 Die Vermutung, daß diese Fußnote vom Ende des Textes von Sein und Zeit (SuZ 427 Fn) aus dem Zusammenhang des (von Heidegger vernichteten) dritten Abschnitts von Sein und Zeit stammen könnte, hat Friedrich-Wilhelm von Herrmann dem Vf. dieses Beitrags mündlich mitgeteilt. Vgl. dazu Norbert Fischer: Was ist Ewigkeit? Ein Denkanstoß Heideggers und eine Annäherung an die Antwort Augustins. 57 Im Sinne der von Augustinus genannten ›excitatio‹, die von Gott ausgeht, der insofern für ihn uns der Anfang ist, und uns auf einen langen Weg der Suche bringt; vgl. conf. 1,1: »tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te […]«. 58 In SuZ geht es um das ›Selbstsein‹ des endlichen Daseins (auch im Mitsein mit Anderen; vgl. Anm. 50; vgl. auch conf. 12,7 mit der dreifach wiederholten Betonung des Gottesnamens »id ipsum«; ›Selbstsein‹ und Liebe ›amor‹, ›dilectio‹, ›caritas‹ sind die ausgezeichneten Gottesnamen im Denken Augustins); implizit geht es Heidegger also um ein göttliches Leben der endlichen Existenz, um eine Philosophie des lebendigen Geistes, wie Heidegger sie in frühen Schriften genannt hat (z. B. KBDS; GA 1,406: »Die Philosophie kann ihre eigentliche Optik, die Metaphysik, auf die Dauer nicht entbehren.«; GA 1,416: zur »Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit, deren allgemeinste Richtpunkte nur angedeutet werden konnten«), aber auch in Briefen seine Braut Elfride Petri; vgl. Mein Seelchen, 29 Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 77

und 29 f.; vgl. dazu Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, bes. 1. Hermeneutische Analytik des faktischen Lebens und die wahrhafte Idee der christlichen Philosophie (1916–1921). In: GDMH 31–37. 59 Vgl. conf. 11,40: »et stabo atque solidabor in te, in forma mea, veritate tua«; AZ 57: »Dann werde ich Stand und Festigkeit in Dir gewinnen, in meiner Form, durch Deine Wahrheit.« Zur Erläuterung vgl. Fn 182 in AZ 109 f.: »In einem Brief vom 13. Mai 1908 an Abbé Wehrlé schreibt Maurice Blondel von der Einholung unserer gelebten Zeit in die Ewigkeit (Lettres philosophiques, 276): »Il me semble que les idées dont nous nous sommes entretenus ensemble sur la réintégration du temps dans l’éternité peuvent être facilement rattachées à la doctrine de saint Augustin, qui, dans les Confessions, notamment livre XI, développe avec une admirable richesse de sentiments et d’idées la simultanéité de tout ce que notre expérience présente nous amène à égrener sur le parcours de notre ascension progressive en Dieu.« Der Brief endet mit einer Wendung, die das ›in forma mea‹ aufnimmt (277): »Et, en ce qui touche la question particulière du temps, on peut ajouter: opportet duravisse ut vita nostra sit aeterna et maneat nostra.« Blondel wie Heidegger geht es in Augustinischer Tradition um Entflüchtigung des Zeitlichen und vervollkommnende Bewahrung des Endlichen in seiner besonderen Gestalt. 60 Der Gefahr einer subjektiv bedingten ›Projektion‹ des gesuchten Ideals entrinnen Kant und Levinas im Ernstnehmen des Anspruchs, der in moralisch relevanten Situationen hervortritt und der es dem in diese Situation Geratenen schließlich, wie Kant sagt, möglich macht, »so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden« (KpV A 54). 61 Aus dem Nachlaß des Grafen C.W. (KA 2,178); das Gedicht beginnt mit den Versen (KA 2, 177): »Wunderliches Wort, die Zeit vertreiben!/ Sie zu halten, wäre das Problem«. Angesichts dieser ›Projektion‹ stellt sich die Frage (SO II 5.; KA 2,259): »Aber wann, in welchem aller Leben,/ sind wir endlich offen und Empfänger?« Dazu Norbert Fischer: »Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in der Dichtung Rilkes, 297 f. 62 Heideggers Tendenz zu einer ›reinen‹ Moral zeigt sich in seiner Ablehnung des Kaufmannsdenkens; vgl. dazu Norbert Fischer: Das Gewagtsein des Menschen. Die Rilke-Deutung Heideggers als Spur seines Denkens auf dem Weg der Gottesfrage, bes. 165. 63 Transzendenz überhaupt ist entweder im Erzählen von Geschichten darstellbar (in denen die mensch liche Sehnsucht Erfüllung fi ndet = geschichtlicher Offenbarungsglaube); oder phänomenologisch in der Ethik gegenwärtig. Da die Ethik von jedem Handelnden Vergeschichtlichung des Gesollten fordert, gibt es die Möglichkeit, eine Brücke zwischen dem Offenbarungsglauben und der Ethik zu suchen. Heideggers Suche läßt sich womöglich gerade dadurch auf das auch von Levinas ersehnte Unendliche beziehen, weil er nicht zu einer griffigen Antwort kommt. 78 | norbert fischer

TU 442; vgl. TI 281: »La morale n’est pas une branche de la philosophie, mais la philosophie première«. Dazu Jakub Sirovátka: Einleitung (PRPP 178, Fn 1): »Als einer der wenigen Interpreten Levinas’ (und zwar schon sehr früh) hat Stephan Strasser gesehen, daß beide Denker – Kant und Levinas – in ihrer Grundausrichtung vom Primat der praktischen Vernunft beseelt sind. Vgl. Stephan Strasser: Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Levinas’ Philosophie, 325: ›Worin besteht dann ›der Zug‹ aus Kants Denkwelt, mit dem sich Levinas vollständig identifi zieren kann? Er fällt mit der Gesamttendenz zusammen, die die ersten beiden Kritiken beseelt: dem Primat der praktischen Vernunft in Bezug auf die theoretische Vernunft.‹« 65 Kants Lehre vom ›Primat‹ hat eine Überleitungsfunktion zu den ›Postulaten der reinen praktischen Vernunft‹; vgl. KpV A 219–241.Vgl. auch die Fortsetzung der im Haupttext zitierten Stelle (KpV A 217 f.): »In der That, so fern praktische Vernunft als pathologisch bedingt, d. i. das Interesse der Neigungen unter dem sinnlichen Princip der Glückseligkeit blos verwaltend, zum Grunde gelegt würde, so ließe sich diese Zumuthung an die speculative Vernunft gar nicht thun. Mahomets Paradies, oder der Theosophen und Mystiker schmelzende Vereinigung mit der Gottheit, so wie jedem sein Sinn steht, würden der Vernunft ihre Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut, gar keine zu haben, als sie auf solche Weise allen Träumereien preiszugeben. Allein wenn reine Vernunft für sich praktisch sein kann und es wirklich ist, wie das Bewußtsein des moralischen Gesetzes es ausweiset, so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft , die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Principien a priori urtheilt, und da ist es klar, daß, wenn ihr Vermögen in der ersteren gleich nicht zulangt, gewisse Sätze behauptend festzusetzen, indessen daß sie ihr auch eben nicht widersprechen, eben diese Sätze, so bald sie unabtrennlich zum praktischen Interesse der reinen Vernunft gehören, zwar als ein ihr fremdes Angebot, das nicht auf ihrem Boden erwachsen, aber doch hinreichend beglaubigt ist, annehmen und sie mit allem, was sie als speculative Vernunft in ihrer Macht hat, zu vergleichen und zu verknüpfen suchen müsse; doch sich bescheidend, daß dieses nicht ihre Einsichten, aber doch Erweiterungen ihres Gebrauchs in irgend einer anderen, nämlich praktischen, Absicht sind, welches ihrem Interesse, das in der Einschränkung des speculativen Frevels besteht, ganz und gar nicht zuwider ist.« 66 Vgl. Norbert Fischer: Kants These vom Primat der praktischen Vernunft. Zu ihrer Interpretation im Anschluß an Gedanken von Emmanuel Levinas. 67 KrV B 828 f.; dazu KrV B 827 f. Vgl. auch B 831 und 832; wo vom ›praktischen Interesse der reinen Vernunft‹ und von ihrem ›praktischen Gebrauche‹ die Rede ist. 68 Vgl. KrV B 883; vgl. auch KrV B 21 f. 69 Vgl. z. B. KrV B 723; vgl. auch Heidegger SuZ 36 f. (oben in Anm. 34 schon erwähnt). Vgl. dazu Norbert Fischer: Endlichkeit; ders.: Die Beziehung zwi64

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schen Unendlichem und Endlichem im Denken des Cusanus. Zu einem Grundproblem von »De docta ignorantia«. 70 KrV B 21; im Original fett gedruckt. 71 Vgl. dazu Norbert Fischer: Kants kritische Metaphysik und Ihre Beziehung zum Anderen. In: MAA 47–139. 72 Vgl. KpV A 4 f., zu beachten ist, daß auch bei Kant (wie bei Heidegger) in diesem Zusammenhang unversehens von einem ›Offenbaren‹ gesprochen wird. 73 Vgl. Norbert Fischer: Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft. In: KMR 111–130. 74 RGV B 219 ff./AA 6,145 ff.: »Obzwar aber jenes, alle genannte in einer Formel befassende, große Geheimniß jedem Menschen durch seine Vernunft als praktisch nothwendige Religionsidee begreifl ich gemacht werden kann, so kann man doch sagen, daß es, um moralische Grundlage der Religion, vornehmlich einer öffentlichen, zu werden, damals allererst offenbart worden, als es öffentlich gelehrt und zum Symbol einer ganz neuen Religionsepoche gemacht wurde. Solenne Formeln enthalten gewöhnlich ihre eigene, bloß für die, welche zu einem besondern Verein (einer Zunft oder gemeinen Wesen) gehören, bestimmte, bisweilen mystische, nicht von jedem verstandene Sprache, deren man sich auch billig (aus Achtung) nur zum Behuf einer feierlichen Handlung bedienen sollte (wie etwa, wenn jemand in eine sich von andern aussondernde Gesellschaft als Glied aufgenommen werden soll). Das höchste, für Menschen nie völlig erreichbare Ziel der moralischen Vollkommenheit endlicher Geschöpfe ist aber die Liebe des Gesetzes. // Dieser Idee gemäß würde es in der Religion ein Glaubensprincip sein: ›Gott ist die Liebe‹; in ihm kann man den Liebenden (mit der Liebe des moralischen Wohlgefallens an Menschen, so fern sie seinem heiligen Gesetze adäquat sind), den Vater; ferner in ihm, so fern er sich in seiner alles erhaltenden Idee, dem von ihm selbst gezeugten und geliebten Urbilde der Menschheit, darstellt, seinen Sohn; endlich auch, so fern er dieses Wohlgefallen auf die Bedingung der Übereinstimmung der Menschen mit der Bedingung jener Liebe des Wohlgefallens einschränkt und dadurch als auf Weisheit gegründete Liebe beweist, den heiligen Geist verehren; eigentlich aber nicht in so vielfacher Persönlichkeit anrufen (denn das würde eine Verschiedenheit der Wesen andeuten, er ist aber immer nur ein einiger Gegenstand), wohl aber im Namen des von ihm selbst über alles verehrten, geliebten Gegenstandes, mit dem es Wunsch und zugleich Pfl icht ist, in moralischer Vereinigung zu stehen.« 75 Die von Gott ausgehende Liebe (›Gottes Liebe‹ als genitivus subiectivus) ermöglicht in ihrer Beantwortung die auch affektive Gegenliebe der Geschöpfe (›Gottes Liebe‹ als genitivus obiectivus); vgl. RGV B 176/AA 6,120. Vor diesem Hintergrund ist folgende Überlegung zu bedenken (ebd.): »Der Satz: Man muß glauben, daß es einmal einen Menschen, der durch seine Heiligkeit und Verdienst sowohl für sich (in Ansehung seiner Pfl icht) als auch für alle 80 | norbert fischer

andre (und deren Ermangelung in Ansehung ihrer Pfl icht) genug gethan, gegeben habe (wovon uns die Vernunft nichts sagt), um zu hoffen, daß wir selbst in einem guten Lebenswandel, doch nur kraft jenes Glaubens selig werden können, dieser Satz sagt ganz etwas anders als folgender: man muß mit allen Kräften der heiligen Gesinnung eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels nachstreben, um glauben zu können, daß die (uns schon durch die Vernunft versicherte) Liebe desselben zur Menschheit, sofern sie seinem Willen nach allem ihrem Vermögen nachstrebt, in Rücksicht auf die redliche Gesinnung den Mangel der That, auf welche Art es auch sei, ergänzen werde.« 76 Er wird bis heute mit unterschiedlichen Intentionen mißdeutet, um den ›Subjektivismus‹ Kants (zustimmend oder ablehnend) zu belegen, was für die theoretische wie die praktische Philosophie Kants prinzipiell verfehlt ist. Teils geschieht das in Zustimmung zum Subjektivismus, vgl. Reinhardt Brandt: Der Gott in uns und für uns bei Kant, 305: »Wir sind das Volk, wir sind Gott.« Vgl. dazu Norbert Fischer: Kants Verhältnis zum christlichen Glauben, bes. 33–39. Teils geschieht dies in scharfer Gegenstellung; vgl. Giovanni B. Sala SJ: Das Reich Gottes auf Erden. Kants Lehre von der Kirche als »ethischem gemeinen Wesen«. Dazu die kritischen Hinweise: Einleitung des Herausgebers, bes. XX Fn 10. 77 Vgl. KpV A 58; Levinas führt das auch von Kant schon bearbeitete Problem im Ausdruck ›Autonomie‹ dazu, daß er die ›Heteronomie‹ im Gegensatz zu Kant zum Anfang und Ursprung der Moral erklärt. Vgl. Norbert Fischer: Autonomie und Heteronomie im Denken von Kant und Levinas. Zu dem von Kant berührten, aber nicht entfalteten Problem der ›Geschichtlichkeit‹ vgl. ders.: Zum Problem der Geschichtlichkeit in der Philosophie Kants. Eine Auslegung zum Bild der ›konzentrischen Kreise‹ in Kants Religionsschrift. 78 Vgl. Anm. 37 und 58 mit Hinweisen auf KBDS (GA 1,416). 79 Vgl. KBDS (GA 1, 410 f.); dieser ›Schluß‹ ist zur Publikation verfaßt worden. Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers. In: GDMH, 31–45, hier 31–37, besonders 31: dort heißt es: »Für die Veröffentlichung im Jahre 1916 verfaßte er einen Schluß mit dem Titel ›Das Kategorienproblem‹. Aus diesen abschließenden zwölf Seiten spricht unüberhörbar ein neuer Geist. Denn ihr Verfasser zeigt die Notwendigkeit auf, das und wie das Kategorienproblem in die ›Philosophie des lebendigen Geistes‹ einmünden muß«. Heidegger sagt dort (GA 1,406): »Die Philosophie kann ihre eigentliche Optik, die Metaphysik, auf die Dauer nicht entbehren.« Daß Friedrich-Wilhelm von Herrmann auf ›drei Wegabschnitten‹ im Denken Heideggers insistiert und das (gleichwohl berechtigte) Deutungsschema der ›Kehre‹ relativiert, wirft neues Licht auf den Denkweg Heideggers und macht diesen erst als Ganzen verständlich. Von Herrmann zitiert ebd. auch einschlägige Passagen aus Briefen Heideggers an seine Braut und spätere Frau Elfride: »Im Brief vom 1.1.1916 heißt es: ›Kind, ahnst Du nicht, daß nur der unendliche, persönlichste Geist Gottes in seiner absoluten Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? | 81

Fülle uns u. unserem Dasein letztes Ziel u. Ende sein kann.‹« Zwei Tage später schreibt Heidegger: »›wahres Gotterlebnis‹ ist eine wundersame, seltene Gnade, deren man nur würdig wird durch Leid, wie Du es geworden« (zitiert nach »Mein liebes Seelchen!« Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride (1915–1970), 29 f.). Zu ihrer Abschrift des berühmten Geburtstagsbriefs von 1918 (vgl. 315;), hat Elfride Heidegger später bissig und enttäuscht geschrieben (316): »Aus einem Brief v. Martin 1918 Modell für all seine Liebesbriefe an die vielen ›Geliebten‹.« Vgl. auch den Gesamtabdruck des Briefs im Heidegger-Jahrbuch 1,176 ff. 80 Diese Bemerkung, die auf Defi zite ›philosophiegeschichtlicher‹ Darstellungen weist, richtet sich nicht kritisch gegen die von Levinas gedachte Sache. Ebenso müßig wäre es, Kants abschätzige Bemerkungen zur antiken und der mittelalterlichen Philosophie (vgl. z. B. KrV B 370; Logik A 37 = AA 9,331) oder Heideggers überscharfe Urteile – z. B. zu Platon und Kant – einer beckmesserischen Kritik zu unterziehen. Heutige Leser sollten sich aber nicht eigener Lektüre großer Autoren entbunden wähnen. Weitere Hinweise zu diesen Fragen bei Norbert Fischer: Zur Kritik der Vernunfterkenntnis bei Kant und Levinas. Die Idee des transzendentalen Ideals und das Problem der Totalität. weiterhin: Einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstand. Kant, Schleiermacher und Heidegger zur Wahrheitssuche in überlieferten Texten. 81 TU 24; Levinas fügt hinzu: »In der Tat, seit die Eschatologie dem Krieg den Frieden entgegengesetzt hat, ist die Evidenz auf seiten des Krieges; sie ist es in einer Zivilisation, die wesentlich heuch lerisch ist; denn sie setzt gleichzeitig auf das Wahre und das Gute, die sich fortan bekämpfen. Es ist vielleicht an der Zeit, in dieser Hypokrisie nicht nur einen zufälligen häßlichen Fehler des Menschen zu erkennen, sondern die tiefe Zerrissenheit einer Welt, die zugleich auf die Philosophen und auf die Propheten hört.« Levinas fragt, ob sich die »Philosophie selbst« nicht als »der Versuch« bestimme, »ein Leben zu führen, das in der Evidenz anhebt und gegen die Meinung der Nächsten, gegen die Illusion und die Phantasie der eigenen Subjektivität aufbegehrt« (TU 24 f.). 82 Vgl. dazu TU 55. Die Erwähnung Augustins (vgl. TU 269) zeugt nicht von gründlicher Lektüre, sofern Augustinus selbst im entscheidenden Punkt der Gottsuche auf einer Inversion der Aktivität insistiert; z. B. conf. 10,38; dazu SwL: Einleitung des Herausgebers, LIII–LXIV. 83 Zu Kant vgl. GMS BA 66=AA 4,435 und KpV A 56; zu Heidegger WiM (GA 9,110): »Eine andere Möglichkeit solcher Offenbarung birgt die Freude an der Gegenwart des Daseins – nicht der bloßen Person – eines geliebten Menschen.« Zu beachten ist auch, daß Heidegger auf den ›Anfang‹ Kants in einem Brief an seine Frau anspielt; vgl. »Mein liebes Seelchen!«, 201. 84 Vgl. Phänomenologie des Geistes, 14. Dazu Norbert Fischer: Einleitung (KGkM), bes. 2. 85 Vgl. TU 92; dazu auch Norbert Fischer: Kants Refl exion der Vernunfterkenntnis im ›Anhang zur transzendentalen Dialektik‹. In: KGkM, bes. 320, Fn 11. 82 | norbert fischer

In diesem Sinne wäre auch eine Anküpfung an die metaphysische Theologie des Aristoteles möglich, die auf dem Gedanken gründet; kinei/ dh1 w3@ e4rw2menon (Mp XII, 1072b3f). 87 Vgl. Emmanuel Levinas: Die Zeit und der Andere, 9. Die zitierte Stelle des Vorworts zur Neuauflage lautet im Original (Le Temps et l’Autre, 9): »La thèse principale entrevenue dans ›Le Temps et l’Autre‹ consiste, par contre, à penser le temps non pas comme une dégradation de l’éternité, mais comme relation à ce qui, de soi inassimilable, absolument autre, ne se laisserait pas assimiler par l’expérience ou à de qui, de soi infi ni, ne se laisserait pas comprendre«. 88 Vgl. die erwähnte Stelle in conf. 11,3. Zu bedenken ist bei diesem Zitat auch der Ort, nämlich das elfte Buch der Confessiones, in dessen Zentrum die Frage nach dem Sein der Zeit steht. ›Sein‹ hat die Zeit nur durch die Aktivität des Menschen, die aber zugleich als von Gott gewolltes ›Ziel‹, das die Freiheit des Menschen voraussetzt, gedacht werden muß. 89 Vgl. KrV B 370; dazu die Hinweise in Anm. 76; vgl. auch das Dictum von Levinas (TI 38): »Aborder quelqu’un à partir des œuvres, c’est entrer dans son intériorité, comme par eff raction«; dazu Norbert Fischer: Zur Kritik der Vernunfterkenntnis bei Kant und Levinas. Die Idee des transzendentalen Ideals und das Problem der Totalität. 90 Insofern denkt Heidegger kritisch gegen Nietzsche, der mit seiner ›Metaphysik des Willens zur Macht‹ den Nihilismus nicht überwunden habe; zu Nietzsches Atheismus vgl. aber auch den Beitrag von Eduard Zwierlein: Göttliche Komödie. Levinas zu Nietzsches Wort »Gott ist tot«. 91 GuP 83; vgl. Dieu et la philosophie, 95: »Et ce n’est pas par hasard que l’histoire de la philosophie occidentale a été une destruction de la transcendance.« Mit dieser These folgt er cum grano salis der Geschichtsauslegung Heideggers, der Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ auf das Wesen der Metaphysik zurückführt, wie es seit Platon zutage getreten sei. 92 Vgl. KrV B 769; vgl. KrV B 82 f.,vgl. auch KrV A 356 f. 93 Weil es sich um den Weg der ›reinen praktischen Vernunft‹ handelt, geht Heideggers Insinuation fehl, hinter diesem Versuch stehe der Wille zur Macht; vgl. GA 67,92: »Der Versuch, dem ›Glauben Platz zu machen‹ (Kant), ist nur die letzte Verstrickung in die Metaphysik und ihre Grundlosigkeit«; (vgl. dazu GDMH 13 und bes. 20). 94 Immerhin hatte Heidegger seit dem ›Natorp-Bericht‹ seine Ziele im Blick auf die von ihm auszuarbeitende Philosophie zurückgenommen; vgl. FriedrichWilhelm von Herrmann: Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers (GDMH), bes. 38. 95 Aber gerade die Anerkennung der Grenzen des Wissens, des Faktums des Nichtfindens ist ein wesentliches Merkmal der abendländischen Philosophie seit dem Platonischen Sokrates, der das Wissen das Nichtwissens um das Höchste als das höchste Wissen verstanden und dazu die aporetische Elenktik als Methode ausgebildet hatte; und z. B. Augustinus hatte diese Methode im Blick auf 86

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die Gottsuche wieder aufgegriffen; z. B. ord. 2,44; »qui melius scitur nesciendo«; an. quant. 34, 77: »quo nihil sit secretius, nihil praesentius; qui difficile invenitur ubi sit, difficilius ubi non sit«. Thomas von Aquin: S.th. I 3 (introductio) : »de deo scire non possumus quid sit«; zu Nikolaus von Kues vgl. den sprechenden Titel: De docta ignorantia; Kant sagt, daß man »niemals Philosophie«, sondern »höchstens nur philosophiren lernen« könne (KrV B 865). 96 Obwohl das Wort ›Dekonstruktion‹ meist auf das Verfahren von Jacques Derrida bezogen wird, ist es das in der Philosophie unvermeidliche Verfahren, das vielleicht schon im Verhältnis Platons zu Parmenides und Heraklit – oder auch des Aristoteles zu Platon – bestimmend war. 97 Vgl. Intériorité et Économie (TU 150–266). Die Kennzeichnungen des Inhalts dieses Kapitels finden sich auch in seinen Zwischenüberschriften. 98 Zum Gedanken der ›ersten Philosophie‹ als ›gesuchter Wissenschaft‹ (prw2th filosofía, e4pisth2mh zhtoume2nh) vgl. Aristoteles: Metaphysik A (bes. 982b–983a), Aber auch die Metaphysik des Aristoteles könnte, sofern das Höchste und Erste wie ein Geliebtes bewegt (vgl. Mp 1072b), auch auf den Sinn der praktischen Philosophie hin ausgelegt werden. Zum Aufbau von TI vgl. im vorliegenden Band auch Überlegungen zum systematischen Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹. 99 Damit stimmt Platons Prinzip der ›sinnvollen Plötzlichkeit‹ (dazu Egil A. Wyller: Der späte Platon, 26) überein; das Höchste wird e4pe2keina th/@ ou4sía@ genannt (Politeia 509b). 100 Diese tritt auf in der ›Anderheit‹ des und der Anderen. Die Übersetzung von ›altérité‹ nicht als ›Andersheit‹, sondern sachlich treffender als ›Anderheit‹ geht auf Michael Theunissen und Ludwig Wenzler zurück; vgl. Michael Theunissen: Der Andere, 1965, 357 u. ö.; Ludwig Wenzler: Zeit als Nähe des Abwesenden. Nachwort zu Emmanuel Levinas: Die Zeit und der Andere, 67–92, hier 69, Anm. 6. 101 Der von Hegel erhobene und von Max Scheler ausgeführte Formalismusvorwurf (vgl. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik) trifft vielleicht die Formulierung des ›Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft‹ (KpV A 54), sofern es analog dem Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch bei Aristoteles formuliert ist; vgl. Mp 1005b (to1 ga1r au4to1 a²ma u3pa2rcein te kaì mh1 u3pa2rcein a4du2naton tö/ kata1 to1 au4to2), aber nicht Kants Hauptgedanken; richtig Reinhard Brandt (Die Bestimmung des Menschen bei Kant, 11), der zutreffend von der »Universalisierungsfalle« spricht; vgl. auch MAA 158, 163 f., 168–179. Zur Erläuterung des ›Factums‹ ist die Anmerkung Kants zu beachten; vgl. KpV A 56–58, bes. 58 zur Bedeutung der ›Heiligkeit‹, die »zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern, das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht, und welche das reine Sittengesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen beständig und richtig vor Augen hält.« 102 Zu beachten ist dazu KpV A 4 f.: durch dieses Factum ›offenbart‹ sich dann auch die ›Idee‹ der Freiheit – und in deren Gefolge dann die Ideen von ›Gott und Unsterblichkeit‹; diese neue Auslegung, die sich auf Levinas stützen kann, verdiente es auch, in der Kantforschung ausdrücklich beachtet zu werden, weil sie eine Fehlauslegung des Autonomie-Gedankens Einhalt gebietet; extreme und gegensätzliche Beispiele einer solchen Fehldeutung tragen einer84 | norbert fischer

seits Uwe Justus Wenzel (Anthroponomie) und andererseits Giovanni B. Sala vor (beide erwähnt in Einleitung zu KMR XX, Fn 10). 103 Die ›Transzendenz‹ der Herkunft des moralischen Prinzips ist die Grundlage zum Verständnis der ›Transzendenz Gottes‹. 104 Heideggers Versuch einer kritischen Zurückweisung von Kants Grundlegung der praktischen Philosophie (GA 24: Grundprobleme der Phänomenologie; Drittes Kapitel, bes. § 14: Phänomenologische Kritik der Kantischen Lösung und der Nachweis der Notwendigkeit einer grundsätzlichen Fragestellung) ist selbst kritisch zu untersuchen. Die Grundprobleme der Phänomenologie scheinen zudem weit davon entfernt zu sein, den Inhalt des vernichteten dritten Abschnitts des ersten Teil von SuZ sachgemäß im Blick auf die ›transzendenzhafte Differenz‹ vergegenwärtigen zu können.

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– Eduard Zwierlein –

Göttliche Komödie Levinas zu Nietzsches Wort »Gott ist tot«

1. Zielsetzung Der folgende Beitrag untersucht, in welcher Beziehung Levinas zu Nietzsches Satz vom »Tod Gottes« steht. Nietzsche selbst folgt Pascal, wenn er die entscheidende Dimension des menschlichen Lebens im Wertschätzen sieht, das auch dem Denken seinen Horizont eröffnet. In dieser Tradition steht auch Levinas, wenn er einen Primat der Ethik vertritt.1 Wenn wir dabei im folgenden Text so tun, als würden wir in der Betrachtung des Satzes »Gott ist tot« Nietzsches eigene Philosophie reflektieren, so handelt es sich dabei doch um eine gewisse naive Vereinfachung.2 Der Grund für die Vereinfachung liegt darin, daß die sie in Frage stellenden Überlegungen hier kein Thema sind. Die Gründe dafür, daß es sich um eine gewisse naive Vereinfachung handelt, kann man alsbald erkennen, wenn man sich an nur wenige bestimmte Dinge erinnert, die für Nietzsches Philosophie wichtig sind. So ist zunächst einmal deutlich, daß Nietzsche selbst kein Nihilist ist, sondern Diagnostiker des Nihilismus, der als ein »pathologischer Zwischenzustand« aufgefaßt wird. Des Weiteren wird das »ungeheure Ereigniss«,3 der Tod Gottes, nicht von Nietzsche selbst ausgesprochen, sondern von seinen literarischen Figuren, z. B. dem »tollen Menschen« oder »Zarathustra« oder dem »Teufel«, nach dessen Auskunft Gott »an seinem Mitleiden mit den Menschen« gestorben sei.4 Wie Nietzsche sich selbst zu den Proklamationen seiner Figuren verhält, ist damit noch nicht geklärt. Es taucht hier das grundsätzliche Problem einer esoterischen und exoterischen Philosophie bei Nietzsche auf. Was Nietzsche veröffentlicht und auch dabei oft genug in die Indirektheit poetischer Verstecke verlegt hat, ist | 87

nicht identisch mit der unveröffentlichten Welt seiner Denkstube, den nachgelassenen Schriften und ihren Hintergedanken. Schließlich glaubt Nietzsche mit aller Ironie an einen Gott, der allerdings tanzen können muß, an Dionysos.

2. Sinn und Funktion des ›Todes Gottes‹ bei Nietzsche Was Nietzsche der platonisch-christlichen Denk- und Moralauffassung vorwirft, ist ihr Kryptonihilismus. Wer die Welt verdoppelt in eine wirkliche, ewige, wahre Welt oder Hinterwelt und eine uneigentliche Diesseits-Welt der Erscheinungen und der vanitas, folgt einem dualistischen Konzept, das zur Entwertung und Schwächung dieser einen Welt, des Lebens und des Leibes führt. Der evident gewordene Nihilismus, der sich in der Um- und Entwertung aller bis dahin als heilig gehaltenen Werte anzeigt5 und im Tode Gottes vollendet, ist also nur, nach langer Inkubationszeit, der Ausbruch einer Krankheit, die im Dualismus platonisch-christlichen Denkens selbst angelegt ist. Der aktive Nihilismus der freien Geister vollendet sodann, was bereits da und ausgebrochen ist, auch wenn der Tod Gottes die Menschheit noch lange ›überschatten‹ wird.6 Was aber ist die absolute Veränderung, welche mit der Negation Gottes eintritt (vgl. NF 11 [33]; KSA 13,143)? An die Stelle des für tot erklärten Gottes tritt der gesundende Mensch, der sich unter den Bildern des ›Übermenschen‹ und des ›spielenden Kindes‹ eine beispiellose schöpferische Potenz zuspricht, die daraus erwächst, daß er vollständig und radikal der Erde treu zu sein versucht. Im abgründigen Gedanken der ›Ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ wird diese Treue ihrem entscheidenden Belastungstest ausgesetzt.7 Der Tod Gottes ist das Ende des metaphysisch-theologischen Dualismus. Er ist das Ende aller Zwei-Welten-Theorien und verweist somit in die eine verbliebene Wirklichkeit der Welt und die in ihr waltenden Dynamiken und Polaritäten zurück. Positiv ausgedrückt, bedeutet der Tod Gottes die Emanzipation des Menschen zu einer transzendenzlosen schöpferischen Potenz und radikalen Freiheit.8 Illustrieren wir uns diesen Gedanken an Nietzsches Metapher vom See (FW 4; KSA 3,528), der unsere eigenen schöpferischen Kräfte darstellt. Der Spiegel dieses Sees sinkt immer wieder ab, als 88 | eduard zwierlein

ob es unterirdische Abläufe gebe. In der Tat betrachtet Nietzsche den mit dem Gottesglauben gesetzten werthaften Dualismus von Diesseits und Jenseits als Grund dieses schwächenden Ablaufsystems. Wir finden gar nicht zu der uns möglichen Kraft und schöpferischen Potenz, weil wir in der Logik des Gottesglaubens das Diesseits ressentimental als vanitas entwerten und demütig auf ein Jenseits hoffen. Erst wenn wir lernen würden, der Erde nach dem Tode Gottes entschieden treu zu sein, könnte der See zu seinen ihm möglichen übermenschlichen Dimensionen anschwellen (NF 1882–1884; KSA 10,151). Im Sinne einer an Feuerbach erinnernden Religionskritik verlagern wir also unsere wesentlichen Eigenschaften und Kräfte in ein Jenseitiges, in ein göttliches ›Wesen‹, und bringen so Gott durch Dissoziation als Spiegel des Menschen hervor: »Wir müssen uns die Attribute zuschreiben, die wir Gott zuschrieben …« (NF 1887–1889; KSA 13,143). Die Religion ist ein Traum von uns selbst über uns selbst und was aus uns werden könnte in einer uns gegenüber gestellten Geschichte. Wollen wir aus diesem Traum erwachen und die Selbstverkleinerung aufheben, in der wir uns von uns selbst abspalten und unsere besten Kräfte an eine hypostasierte Projektion abgegeben haben, müssen wir diesen Mechanismus verstehen und überwinden. Gott müßte folglich im Namen menschlicher Freiheit geleugnet werden. Der Mensch wäre ein Nichts, wenn Gott existierte, und er wäre alles, wenn Gott nicht wäre. Das Reich der Menschen ist wiedergefunden, wenn das Reich Gottes verschwindet. Wenn alle Vorgabe verschwindet, d. h. wenn wir wirklich von Gott verlassen sind, kann alles zu unserer Angelegenheit werden. Im Nein zu Gott, findet der Mensch ein absolutes Ja zu sich. Erst der Tod Gottes ermöglicht den freien Selbstentwurf des Menschen; sein ästhetisches Projekt als eines absolut offenen, kreativen Projekts. Es geht folglich im Tode Gottes um eine prinzipielle Befreiung des Menschen zur Lebens-Kunst als radikal autonomer Selbstschöpfung. Der Mensch ist, in einem anthropologischen Sinne, erst dann Künstler und damit sowohl Künstler seines Lebens als auch aller hieraus hervorgehender spezieller Kunstprozesse, wenn er die uneingeschränkte Quelle aller eigenen Entwürfe sein kann. Der zu sich selbst als kunstschaffendem Wesen befreite Mensch ist aber erst Göttliche Komödie | 89

möglich, wenn Gott tot und der Mensch von aller Vorgabe entbunden ist.9 Dieser Unglaube oder neue Glaube ist der endlose Glaube des Künstlers an sich selbst. Er ist der Schöpfer, nicht ein zweiter Gott, sondern der erste und alleinige. Er ist kein Deus alter, sondern höchstselbst Deus solus. Der Mensch ist nicht mehr versucht, zu werden ›wie‹ Gott, sondern muß wählen, wieder der Gott zu sein und darin zu werden, der er ist.10 Das reine Ideal des Künstlertums ist in diesem Sinne das Lob der autonomen Kreativität, die wieder gewonnene Kraft, Produktivität, die dionysische Glut und die Souveränität, selbst Herr zu sein11 und das eigene freie künstlerische Spiel (der Lebens-Kunst) zu entfalten. Der autonome Lebens-Künstler spiegelt keine ewige Formen oder Ideale, er repräsentiert nichts, er symbolisiert nichts, er bildet nichts ab, er erinnert nichts: er schafft neu und neu, eine immer währende produktive Kraft, gleichsam ab ovo. Die Kunst, das Leben in unendlicher Transzendenz zu schaffen, ist das gottfreie und in diesem Sinne absolute kreative selbst-Tätigsein: eine schöpferische Selbstzeugung, in der sich der Mensch als vollendete Emanzipation und Autonomie irreduzibel12 ergreift und künstlerisch frei spielend zeugt, gestaltet und emporschafft. Der Mensch aber gleicht doch bei diesem Versuch einem Meer von Fragen und Fragezeichen. Er ist, in Augustins Worten, eine magna quaestio durch und durch. Dieses Fragesein verwandelt ihr Sein als Fragezeichen in ästhetische Ausrufezeichen. Alle Ausrufezeichen sind allerdings nur dionysische Versuche, ästhetische Experimente, die vorläufigen, fragmentarischen und provisorischen Charakter haben. Der Traum der schöpferischen Souveränität, die unauslöschliche Sehnsucht nach immer größerer Fülle, ungetrübter Vollkommenheit, nach Vollendung, Gelingen und Ganzheit steht im Blick auf die doch nur leistbaren Fragmente und Provisorien in einem erschreckenden Mißverhältnis. Es zeigt sich eine Disproportion zwischen den Kräften und den Resultaten. Homo und creator: das ist der existierende Widerspruch. Der Mensch verhält sich wie ein mißglückter Gott und ist ein vergebliches Streben danach, selbst Gott zu sein. Endliches versucht sich an Unendlichem. Alles schöpferische Bemühen schlägt sein kleines Schmiedeeisen über einem unendlichen Feuer, alle Kreativität schlägt seinen winzigen Hammer an einen ewigen Berg. Der kleine Funke, den sie dabei heraus 90 | eduard zwierlein

schlägt, ist das ganze Menschenglück; und der Funkenflug, der dabei herauskommt, ist die Ästhetik des Unglaubens – oder anders gesagt: der unendliche Glaube an sich selbst.

3. Der ›Tod‹ Gottes Gott, vor dem alle Menschen gleich sind, kann in dieser Hinsicht als Quelle der Indifferenz gelesen werden. Vor ihm nivelliert sich jede auszeichnende Differenz der Endlichen, aus ihm zeugt sich das Ressentiment, das der auf »Gleichmacherei« angelegten »Herden-« oder »Sklaven-Moral« eigen ist. In der Ethik des Antlitzes verweist Levinas auf einen »Logos der Nicht-In-Differenz«, die gegen die Vergleichgültigungstendenz des abendländischen Logos eine Ethik der Nicht-Gleichgültigkeit freilegt.13 Im Antlitz des Anderen kommt es zu einem Erscheinen, einer Epiphanie des Unendlichen, die in die Unterbrechung der Vergleichgültigung und damit in die Verantwortung ruft. Der positive Wert des Entzugs im Antlitz des Anderen, daß nämlich »anzieht, was sich entzieht«,14 wirft die Frage auf, ob sich mit ihm nicht ein Begehren nach Gott als dem »ganz Anderen« verbinden könnte. Aber wenn sich in der Andersheit des Anderen schon echter Entzug, Transzendenz und Negativität anzeigen würde, was sollte dann das Begehren Gottes noch wollen? Es ist ja nicht Gott, der im Antlitz des Anderen erscheint,15 sondern die eigene Unendlichkeit des Anderen, die eine Spur von sich selbst ist.16 Levinas versteht Nietzsches Wort »Gott ist tot« als Formel der Entmythologisierung: »›Gott ist tot‹ heißt Ende der Auslegungen, der Erklärungsfunktion von Mythen, Geschichten, Symbolen, an der Universität; Tod der sinntragenden Buchstaben, Tod dessen, was man allgemein – aber auch sehr exakt – Heilige Schriften nennen kann«.17 Daß die Formgestalt der Heiligen Schriften ein notwendiger Reflex dessen sein könnte, wovon sie erzählen wollen, kommt dem rationalistischen Logos allerdings nicht in den Sinn. Er betreibt vielmehr die genetische Rekonstruktion der Mythen und damit die Aufklärung ihrer funktionalen Bedingungen, indem er die Absolutheit Gott auf ein »schon Bekanntes« zurückführt.18 Die Reduktion von göttlichen Geltungsansprüchen auf ihre durchschaute Göttliche Komödie | 91

historische Genese macht sie als kausal-funktionale Produkte dieser Erklärung verständlich. Nach Nietzsche leistet diese Reduktion dasselbe wie ein Beweis, daß es Gott nicht gebe.19 Das »ontologische Abenteuer«, in das die »Rationalität des Selben« Gott verwickelt, ist ein »Abenteuer, das Nietzsche zufolge tödlich« für Gott endet.20 Der erste, der in diesem Sinne und gleichsam vollendet den Tod Gottes aussprach, ist Spinoza,21 in dessen metakritischer Tradition sich Nietzsche sehen konnte.22 Der Spinozismus ist das rationale System der Totalität eines völlig transparent und intelligibel erklärten Seins, in dessen universaler Begriffsmaschine es Exteriorität und Fremdheit nicht mehr gibt. Das seinen Gegenstand beherrschende Denken verurteilt gerade darin alles zum Tod, was über dieses Denken hinausgehen will. Indem so das einer unbeherrschbar neuen Absolutheit gemäße An-Denken23 Gottes suspendiert wird, ist auch Gott beseitigt. Es bleibt ein verstandener Gott übrig, der keiner mehr ist. Gott ist im Denken verstorben.

4. Welcher Gott ist tot? Der Tod Gottes erhält zugleich eine weitere Bedeutung, wenn man versteht, welcher Gott gemeint ist, von dem der Tod behauptet wird. Der bei Nietzsche verkündete oder festgestellte Tod Gottes ist bei Levinas näher spezifiziert. Mit Nietzsche geht es ihm um den Gott, der die ›Hinterwelten‹ bewohnt,24 den Gott, der dualistisch entzogen ist. Dieser ›bestimmte‹ Gott ist tot, dieser ›erlösende Gott‹25 und ›moralische Gott‹26 fallen unter das Verständnis des Todes.27 Der Tod Gottes ist damit mindestens das Ende einer spezifischen Konzeption des Gottesgedankens und der Gottesrede,28 vielleicht aber noch mehr einer solchen Konzeption überhaupt. Es ist nicht Gottes Aufgabe, sondern vielmehr die Freiheitsaufgabe der Menschen, das Werk der Erlösung, die Herstellung einer gerechten Welt, untereinander und miteinander unvertretbar, ohne Stellvertretung,29 zu verantworten. Es ist nicht Gottes Aufgabe, sondern die Aufgabe Gottes, die diese Aufgabe des Menschen ermöglicht. Gott ist das, was in den Dienst des Menschen ruft.30 Der unthematische Ausstand und Entzug Gottes ist die Rettung der ethischen Individualität und ihrer Verantwortung. Die Unendlichkeit, 92 | eduard zwierlein

die im Antlitz des Menschen aufleuchtet, und das Ethos, das sich aus ihm herausbildet, sind dem Antlitz des Humanen immanent und werden nicht mehr in die Abhängigkeit eines Gottes gebracht, der dieses gewähren oder vollenden müßte. Dieser Tod Gottes ist das Leben der Menschen. Wäre Gott in dieser Gestalt nicht tot, wäre eine Ethik des Antlitzes im Sinne von Levinas nicht möglich. Der Tod Gottes ist das Geschenk seiner anwesenden Abwesenheit an die Menschen, in der er sich zugunsten ihrer unendlichen Verantwortung füreinander entzieht. Der Tod Gottes ist Gottes Abwesenheit, durch welche er die Unendlichkeit im menschlichen Antlitz offen läßt als sein eigenes.

5. Die leere Spur – Spur in allen Spuren Im platonischen Sinne gewährt sich Gott als das Gute, das jenseits des Seins liegt.31 Dem entspricht ein »Denken, das mehr denkt als es denkt – oder es besser macht als zu denken. Dieses Denken geht hin zum Guten.«32 Einem solchen Denken schenkt sich Gott in theoretischer Unbeherrschbarkeit als das, was als »das Andere des Seins«33 alle Onto-Theo-Logie hinter sich läßt. Jenseits des Seins wäre ein Gott, der noch »nicht durch das Sein infiziert« ist.34 Dieser Gott wäre geschützt vor einer Theologie, »die im Logos das Transzendieren thematisiert und damit dem Passieren der Transzendenz einen Begriff zuweist, es zur ›Hinterwelt‹ erstarren läßt«.35 Der Name Gottes36 kann nur in der echten ›Unsagbarkeit‹ als das ›Unsagbare‹ selbst,37 das die Homogenisierungen und Totalisierungstendenzen der Ratio bricht, wieder erstehen. Der Name Gottes zeigt sich also nur dort, wo es ein ›Desinteresse‹ am Sein gibt, das sich vom Sein und der Seinslogik lösen kann.38 Ein ›Desinteresse‹, das aus dem ›esse‹ und der ›Ordnung‹ aussteigt.39 Über alle Onto-Theo-Logie hinaus läßt sich Gott von der Ethik aus als ›unendliche Transzendenz‹ denken,40 die auch in die Fassung der negativen Theologie nicht mehr eingerückt werden kann: »Von einem nicht-ontologischen Gott ist nur in der Annäherung zwischen der Nähe und Gott zu sprechen. […]. Es gibt kein Modell der Transzendenz außerhalb der Ethik.«41 So wie die Ethik vom Anderen her konzipiert die erste Philosophie ermöglicht, so eröffnet sie womöglich auch das Feld der Göttliche Komödie | 93

Theologie.42 Das Unendliche »ruft durch das Antlitz hervor. Ein Du schiebt sich zwischen das Ich und das absolute Es.«43 Der unterwerfenden Kraft des Denkens wird die Unterworfenheit im Anspruch des Antlitzes vorgezogen. Das Antlitz, das das »Nicht-von-hier-Sein« oder »Jenseits« bedeutet,44 verweigert als Fremdes und Transzendenz jede theoretische Beherrschbarkeit. Es wirft sich in ihm ein Feld des Enigmatischen auf, ein Reich der Unendlichkeit, das nicht einzuholen ist.45 Im Blick auf die Gottesfrage liefert das Antlitz »keinen Gottesbeweis, sondern das unabdingbare Umfeld des Wortes Gott, seiner ersten Nennung, des ersten Gebetes, der ersten Liturgie«.46 Im Kontext der ethischen Antlitzerfahrung kann auch der Deus absconditus aufscheinen.47 Er ist zwar dann aus diesem Kontext abstrahierbar, in ihm allein aber hat er seinen ursprünglichen Sinn.48 Die Spur Gottes im Antlitz des Anderen, das Bild Gottes,49 das sich als »Ebenbildlichkeit […] im ›Du‹« ankündigt,50 ist das Ereignis der reinen Transzendenz: »Dieselbe Bewegung, die zum Nächsten führt, führt zu Gott.«51 Die Bewegung, in der sich der Andere in prototoethischem Anspruch an mich ereignet, ist die Suspension des beherrschenden Denkens und die Öffnung für die an meine Verantwortung appellierende Unendlichkeit, welche mir aus dem Leib des Anderen entgegenströmt. In dieser Bewegung bildet sich der Verweis auf Gott als Spur des Vorübergegangenen aus,52 mindestens aber das Modell der Transzendenz in der Ethik des Dialogs, in der sich die Bewegung zum Nächsten zu Gott hin weitet. Das Gute, das ich dem Anderen schulde, die Liebe, nach der er ruft, ist der Deus absconditus in der Begegnung mit ihm.53 Wer auf den Anspruch der Liebe antwortet, legt zugleich »von der Herrlichkeit des Unendlichen Zeugnis« ab.54 Es ist jedenfalls »erlaubt, die Idee Gottes ausgehend von jenem Absoluten zu suchen, das sich in der Beziehung zum Anderen manifestiert«.55 Die Unendlichkeit des Anderen erzählt von einer Erkennen und Sein übersteigenden Herrlichkeit (JS 353). Gott wird sichtbar in dem, wovon mir die Transzendenz des Antlitzes des Anderen erzählt. Der andere Mensch ist zugleich die Spur Gottes in der Welt. Leben als »lebendiges Leben«, das in der Lage ist, »die Unbeweglichkeit der Begriffe und Grenzen« zu überschreiten, ist exakt in diesem Sinn »Religion«.56 Aber auch wenn die Religion in der 94 | eduard zwierlein

Bewahrung des Ethischen das irreduzibel Unendliche verteidigt, bleibt sie doch ein Gemälde Gottes, dem das si comprehendis non est Deus des Augustinus entgegengehalten werden muß. Die geschlossene Sprache wird folglich immer weiter fragend transparent auf ihren Übergang hin, durchlässig für eine Spur57 der Transzendenz (GTZ 206): »Vom Unendlichen zeugen, ohne es ins Sein zu holen, bedeutet eine Beziehung, wo das Unendliche nicht durch Präsuppositionen oder ein einfaches Prolongieren erlangt wird.« Die anwesende Abwesenheit Gottes,58 die »leere Spur« Pascals, fordert im Sprechen von Gott, eine Sprache der Aporie zu wählen. Es ist ein Sprechen und Schreiben an der Grenze des Unsagbaren erforderlich, die sich dem einzigartigen Eigennamen und maßlosen ›ProNomen‹ Gottes annähert.59 In diesem Sprechen drückt sich ein Warten aus, das nichts erwartet: »Geduld und Ertragen des Unmaßes, Zu-Gott, Zeit als Zu-Gott« öffnet sich für Gott als das ganz Andere, das, »was völlig anders« ist60 und uns in reiner Passivität als das Unfaßbare berührt.61 Von dieser Spur des Unsagbaren erzählt auch Nietzsches Sprache, sein prophetisches Sprechen, »in seiner Art und Weise, bis zum Wahnsinn zu sprechen, bis zum Wahnsinn als einer Transzendenz«.62 Das Antlitz des Anderen ist eine Spur,63 in der die Transzendenz des Menschen gegenwärtig ist. In dieser liegt eine zweite, eine leere Spur, die auf eine unendliche Weise mit der ersten verwoben scheint und die wir Gott nennen können.64 Die zweite Spur ist die Gottes als »transzendent bis hin zur Abwesenheit«.65 In dieser reinen Offenheit bleibt Gott »absolut anders«66 und seine »Idee« gewährt sich in einer »Affektion des Endlichen durch das Unendliche« (ebd. 181), »von Gott getroffen« (ebd. 183), als »anbetende Affektivität« und »Passivität der staunenden Bewunderung« (ebd. 182). In diesem Sinne kann man sagen, daß Gott nicht tot ist, sondern sich nur im Exil befindet (Les imprévus, 148). Er befindet sich im Exil dieser Spur. Dort ist er spürbar und werden wir von ihm aufgespürt. Auf diesen Gott gilt es wachsam und geduldig zu warten.67 Heben wir zum Schluß nur zwei zusammenhängende kritische Punkte hervor. Erstens: Entspricht die Verfassung des Menschen seiner Sehnsucht? Ist sie ihrer Aufgabe gewachsen? Macht die ›Natur‹ des Menschen seiner ›Ethik‹ nicht einen Strich durch die Rechnung? Folgt man dem Aristotelischen Gedanken natura non Göttliche Komödie | 95

deficit in necessariis, so könnte man auch Levinas in diesem Punkt folgen.68 Vertritt man aber die Ansicht, daß es der Gnade bedarf,69 die der menschlichen Natur hilfreich entgegenkommen muß, damit sie werden kann, was sie ist und sein soll, dann wird Levinas’ Gedanke utopisch. Das Mißverhältnis, das hier aufscheint, ist das einer Sehnsucht. Daß ein endliches Wesen ein Unendliches ersehnt, einen Hunger aufweist, den es sich selbst nicht stillen kann, bezeugt seine Disproportion. Der Mensch gleicht einer zerbrochenen Schönheit, einer promesse du bonheur, ein ›Anzeichen‹ für ein zukünftiges Gutes, wie die berühmte Fußnote in Stendhals Über die Liebe festhält, oder wie Hobbes in De homine formuliert: ein Versprechen, das sich nicht erfüllt. Immer bleibt ein Zu-wenig, ein Zurückbleiben, ein Seinsmangel, welcher nur die Rückseite der menschlichen Seinsbegierde ist. Nichts gefährdet die Verantwortung so sehr wie das Ausbleiben der Gnade. Aber könnten wir, zweitens, die Sicht nicht offen halten und zusehen, wie sich der Gang der Dinge selbst auslegen wird? Nichts jedoch ist offen. Alles zeigt sich und verschließt sich im Lichte jener geheimen Bilder, die wir uns zuletzt von uns und der Wirklichkeit wählen.70 Zuletzt muß man wetten und wählen und entscheiden und im Licht seiner eigenen Wahl sich den Blick geben, in dem dann die Welt uns ihr eigentümliches Gesicht zuwenden wird. Auch das Antlitz, das uns so anspricht, wie Levinas es darlegt, ist doch ohne einen ethischen Urakt, eine Pascalsche Wahl, nicht zu haben, der am Grund der Verantwortung zu liegen scheint: Wir müssen uns als solche sehen und wählen wollen. In dieser Wahl, uns als solche Wesen anzusehen und ansehen zu lassen, wählen wir die Möglichkeit Gottes mit.

Anmerkungen

Zur spannungsvollen Beziehung zwischen Nietzsche und Levinas orientiert: Bettina Bergo, Jill Stauffer: Introduction, 1–19, sowie David Boothroyd: Beyond Suffering I Have No Alibi, 160 f. 2 Vgl. Eduard Zwierlein: Existenz und Vernunft, 190 ff. 3 FW 3 (KSA 3,481); vgl. NF 1880–1882; KSA 9,632. 4 Za 2 (KSA 4,115); vgl. NF 1882–1884, KSA 10,151. 5 ZA 4 (KSA 4,324): »Wenn Götter sterben, sterben sie immer viele Arten Todes.« 1

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FW 3 (KSA 3,467). Vgl. dazu NF 1880–1882 (KSA 9,626). Vgl. dazu auch

JS 28. Zur damit notwendigen absoluten Verantwortung des Menschen für sein Schicksal vgl. Jill Stauffer: The Imperfect: Levinas, Nietzsche and the Autonomous Subject, 37 ff.; vgl. Bettina Bergo: The Flesh Made Word; Or, The Two Origins, 106–113. Zum Tod Gottes, also zur ›Grundlosigkeit‹ als Pendant dieser Verantwortung: Brian Schroeder: Apocalypse, Eschatology, and the Death of God, 233. 8 Vgl. Nietzsches Skizze zu »Gottes Todtenfest« in NF 1885–1887 (KSA 12, 128 f.). 9 Er kann und muß »der allmächtigste und heiligste Dichter selbst werden«; vgl. NF 1880–1882 (KSA 9,590). 10 Za 4 (KSA 4,325): »›[...] lieber selber Gott sein!‹« 11 NF 1887–1889 (KSA 13,143). 12 Vgl. Werner Stegmaier: Levinas, 82. 13 Vgl. Werner Stegmaier: Levinas, 147 ff. Vgl. dazu nur Außer sich, 65. 14 Werner Stegmaier: Levinas, 101: »Was das Denken nicht von sich aus denken kann, wird für es ›unendlich‹ interessant, unendlich, weil die Andersheit des Anderen – im ›es gibt‹, in der Zeit, im Anderen, in Gott – ihm unablässig zu denken gibt, ohne daß es damit zu Ende kommen kann.« 15 Vgl. ZU 140; auch wenn das vernehmbare Wort Gottes jenes ist, das »in das Antlitz des Anderen eingeschrieben« ist. Vgl. dazu Werner Stegmaier: Levinas, 107. 16 JS 210 f. Oder anders gefragt (vgl. ZU 93): »Mit welchem Recht kann denn der neben mir wahrgenommene Mensch den Platz jenes ›intentionalen Gegenstandes‹ einnehmen, der dem Wort ›Gott‹ entspricht, das ihn nennt oder anruft?« 17 Außer sich 81; vgl. auch: GuP 81. 18 Wenn Gott ins Denken einfällt, 15; vgl. auch: Von der Ethik zur Exegese, 13 f. 19 So spricht Levinas im Blick auf Nietzsches Ausführungen in Morgenröte I,95 (KSA 3,86 f.); vgl. Außer sich, 91 f. Philosophie ist in diesem Sinne ›Atheismus‹ oder ›Nichtreligion‹; vgl. SdA189; TU 66 ff., 123; ZU 158; Transzendenz und Verstehen, 180,183. Einem solchen Denken korrespondiert jener Atheismus der ›Seele‹, die »ihrer Natur nach atheistisch« sich im Willen und der Trennung artikuliert; vgl. TU 66 ff., 76, 210 f., wo Levinas die ›Seele‹ im Willen und als Phänomen der Trennung als »ihrer Natur nach atheistisch« kennzeichnet. 20 Wenn Gott ins Denken einfällt, 91, 143. Vgl. auch Ottmar Fuchs: Die Liturgie des Leibes, 126, 140. 21 Außer sich, 84. Für die Logik des Begehrens gilt (Wenn Gott ins Denken einfällt, 29): »Der Tod Gottes hat hier seinen Anfang genommen.« 22 Zu Nietzsches Spinozismus vgl. Richard A. Cohen: Levinas, Spinozism, Nietzsche, and the Body, 165 ff. Zu den geistesgeschichtlichen Bezügen: Georg Siegmund: Nietzsches Kunde vom »Tode Gottes«. 23 Wenn Gott ins Denken einfällt, 16. 24 JS 395,36. Siehe aber auch Fußnote 38. Von der ›Hinterwelt‹ grenzt Le7

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vinas das von ihm verwendete ›Jenseits‹ klar ab; vgl.: Dialog, 78. Vgl. Sylvia Benso: Levinas: Another Ascetic Priest?, 230. 25 Schwierige Freiheit, 143. Vgl. auch David Boothroyd: Beyond Suffering I Have No Alibi, 164. 26 Werner Stegmaier: Die Zeit und die Schrift, 68. Nietzsche spricht davon, »dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist« (FW 5; KSA, 573); vgl. auch NF 1884–1885 (KSA 11,425); Za 4 (KSA 4,326): der »alte Gott« ist »gründlich todt«. 27 ZU 78: »Damit die Andersheit, die die Ordnung stört, nicht sogleich an der Ordnung teilnimmt, damit der Horizont des Jenseits offen bleibt, muß die Demut des Erscheinens bereits Abwesenheit sein.« 28 Vgl. Brian Schroeder: Apocalypse, Eschatology, and the Death of God, 232, 235, 241, 246. 29 Denn es gibt nur die Stellvertretung der Geiselschaft füreinander; vgl. JS 395, 280, 30. Zur ›Stellvertretung‹ insgesamt das Kernkapitel IV JS 219–288. 30 JS 327, 352; Schwierige Freiheit,80; GuP 114 ff.; Transzendenz und Verstehen, 178. 31 Vgl. Josef Wohlmuth: Emmanuel Levinas und die Theologie, 156, Barbara Staudigl: Emmanuel Lévinas, 82. Um die Bewegung zum Guten jenseits des Seins nicht als Transzendenz zu kennzeichnen, »die das Seiende zu einem höheren Sein erhebt«, spricht Levinas auch von »Ex-zendenz«: vgl. Vom Sein zum Seienden, 9. Vgl. auch den Unterschied von ›metaphysischer‹ und ›absoluter‹ Transzendenz (TU 67). 32 Transzendenz und Verstehen, 181. 33 Vgl. GTZ 136; vgl. auch 206: »Die einzige Weise, in der ein ›Anders als Sein‹ bedeutsam sein kann, ist die Beziehung zum Nächsten.« 34 JS 19, 218; vgl. GuP 95, sowie Ausweg aus dem Sein, 63. Entsprechend versteht Jacques Rolland: Anmerkungen, 87, Levinas »als Denker des ›Todes Gottes‹«. 35 JS 29. Die ›Hinterwelt‹ entsteht, gleichsam kritisch zu Nietzsche gesagt, gerade aus einer »verkehrten Transzendenz«, die dem intentionalen Subjekt und seinem Willen zur Macht immanent ist: vgl. JS 382, sowie Transzendenz und Verstehen, 176. Vgl. auch Ethik und Unendliches, 59: »Der Begriff „Transzendenz« bezeichnet gerade die Tatsache, daß man Gott und das Sein nicht zusammendenken kann.« Vgl. Transzendenz und Verstehen, 180 f. 36 Also »Jenseits-des-Seins«; vgl. JS 341. 37 Außer sich, 89; JS 128; GuP 101 f.,107. 38 Vgl. JS 23ff.; Sozialität und Geld, 49–56. Dies ist eine andere Formulierung für Nähe, die mit dem Sagen, der unendlichen Verantwortung, der Herrlichkeit und Stellvertretung verbunden ist: vgl. JS 213, 29, 324, 342 ff., 352. 39 GTZ 136,139; Humanismus des anderen Menschen,141f.; Transzendenz und Verstehen, 179 ff. 40 GTZ 150; Wenn Gott ins Denken einfällt,179; vgl. Aicha Liviana Messina: Levinas’ Gaia Scienza, 200 f. 41 GTZ 206; JS 29, 182 ff. Vgl. Micha Brumlik: Phänomenologie und theologische Ethik,129. 98 | eduard zwierlein

Bernhard H.F. Taureck: Emmanuel Lévinas zur Einführung, 102 ff., argumentiert daher dafür, daß es sich bei der Ethik von Levinas um eine theologische Ethik eines gütigen Gottes handle. Vgl. Micha Brumlik: Phänomenologie und theologische Ethik, 131. 43 ZU 79; Dialog, 76: »Das Du ist keine ›Objektivierung‹, bei welcher man die Verdinglichung des anderen Menschen nur vermieden hätte. Die Begegnung gehört nicht derselben Ordnung an wie die Erfahrung.« 44 Außer sich, 65. 45 SdA 246, 256 f.; Wolfgang Nikolaus Krewani: Emmanuel Lévinas. Denker des Zwischen, 26ff. 46 Außer sich,65; ZU 212: »Einen Befehl hören, der Gottes Wort sein soll oder, genauer, Gottes Eintreten ins Denken und in unseren Wortschatz – wodurch Gott ›erkannt‹ und genannt wird, in jeder möglichen Offenbarung«. Vgl. auch Dialog 79 f., 83. 47 ZU 193. Allerdings sagt Levinas (JS 210 f.): »Das Gesicht fungiert hier nicht als Zeichen für einen verborgenen Gott, der mir den Nächsten aufnötigen würde. Als Spur seiner selbst, als Spur in der Spur eines Verlassens, ohne daß jemals die Zweideutigkeit sich auflöst, nimmt es das Subjekt in Beschlag, ohne eine Korrelation mit ihm einzugehen, ohne mir in einem Bewußtsein gleichzuwerden – indem es mir, bevor es erscheint, gebietet, nach dem von der Herrlichkeit bestimmten Anwachsen der Verpfl ichtung.« 48 Es geht darum zu verstehen (Der Humanismus des anderen Menschen, 139 f.), »daß das Menschliche nicht das Wissen über Gott ist, sondern der Ort, wo das Göttliche wirkt, wo Gott ›lebt‹. Also eine immanente Transzendenz«. 49 Thomas Freyer: Der Mensch als ›Bild Gottes‹?, 81–85; weiter Klaas Huizing: Physiognomisierte Urschrift, 36 ff. 50 Dialog, 80. 51 Dialog, 80. Mit Blick auf Matthäus 25, 31 ff. führt Levinas (ZU 140) aus: »Die Beziehung zu Gott wird dort vorgestellt als eine Beziehung zum anderen Menschen. Das ist keine Metapher: Im Nächsten ist reale Anwesenheit Gottes. In meiner Beziehung zum Anderen vernehme ich Gottes Wort. Das ist keine Metapher, das ist nicht bloß extrem wichtig, es ist wörtlich wahr. Ich sage nicht, daß der Nächste Gott ist, aber daß ich in seinem Antlitz Gott höre.« Vgl. ZU 148 sowie Dialog, 83. 52 SdA 228, 259 f. 53 Vgl. dazu auch die Dokumentation Gespräch mit Emmanuel Levinas am 20. Juli 1992 in Paris, 233–235. Es handelt sich um die Barmherzigkeit, die »für das Leiden des Anderen einsteht«; Levinas: Humanismus des anderen Menschen, 137; vgl. auch TU 10; ZU 95, 97, 137. 54 Ethik und Unendliches, 87, sowie JS 353. S. insgesamt auch JS 308 ff. Daß die Liebe zu Gott nicht primär eine unmittelbare Beziehung der Innerlichkeit zum Absoluten meint, sondern sich in der Liebe zum Anderen verantwortlich bewahrheitet, zeigt Wolfgang Nikolaus Krewani: Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen, 172 ff. 55 ZU 256. 56 Außer sich, 106. 42

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Zur Metapher der Spur bei Levinas vgl. Hans Hermann Henrix; Augenblick ethischer Wahrheit, 35 ff.; Micha Brumlik: Phänomenologie und theologische Ethik, 132 ff.; Rudolf Süsske: Abschied von der Intentionalität, 116 f. 58 Außer sich, 65. 59 JS 353, 395; vgl. dort auch 341: das Wort Gott als ›Hapaxlegomenon der Sprache‹. 60 GTZ 126; vgl. auch 151, sowie ZU 212: Gott erfüllt die Zeit als wahres Futur, als ›Hin-zu-Gott‹. 61 GTZ 228; vgl. Humanismus des anderen Menschen, 70. 62 Humanismus des anderen Menschen, 141, 70, 103. JS 36: »Man muß bis zum Nihilismus der poetischen Schreibweise Nietzsches gehen, der die unumkehrbare Zeit in ein wirbelndes Chaos stürzt – bis zum Lachen, das die Sprache verweigert.« Vgl. Aicha Liviana Messina, Levinas’ Gaia Scienza, 202 f. 63 Es ist die Spur, die »die Nähe Gottes im Gesicht meines Nächsten« ist; ZU 73: Vgl. 164 f.: »Begegnet mir das, was man Wort Gottes nennt, etwa nicht in dem Verlangen, das mich stellt und mich beansprucht und schon vor jeder Einladung zum Dialog die allgemeine Form, in der mir das Individuum, das mir ähnelt, erscheint, zerreißt und sich alleine mir zeigt, um Antlitz des anderen Menschen zu sein? Begegnet mir Gott nicht viel eher in dieser Vorstellung des Gestelltwerdens als in irgendeiner Thematisierung eines Denkbaren, eher als in jeder Einladung zum Dialog? Nimmt mich das Gestelltwerden nicht in ein nichtintentionales Denken des Nicht-Greifbaren, Nicht-Faßbaren auf?« Damit bleibt klar, daß diese Spur nicht als ein beweisendes Zeichen aufgefaßt werden darf; JS 210. 64 Zur Korrelation von meta-ethischer Transzendenz des Menschen und meta-physischer Transzendenz Gottes vgl. Außer sich, 107; ZU 138. 65 GTZ 236: »Damit diese Formulierung – ›transzendent bis hin zur Abwesenheit‹ – nicht bloß Formel bleibt, mußte sie der Bedeutsamkeit der ganzen ethischen Intrige zurückgegeben werden, der göttlichen Komödie, in die sich die Verantwortung verstrickt, und ohne die das Wort Gott hätte nicht erscheinen können.« Vgl. JS 29; SdA 247, sowie Transzendenz und Verstehen, 176, 182. 66 Transzendenz und Verstehen, 178. 67 Vgl. Wenn Gott ins Denken einfällt, 66 ff.; 128 f. Es ist eine »Transzendenz, die nur in der Ungewißheit möglich ist« (ZU 98). 68 ZU 139: Auch wenn die »Milde«, »daß Gott uns hilft , die Verantwortung zu tragen«, verdient werden muß, indem man tun will, »was auch ohne Gottes Hilfe getan werden müßte«. 69 Levinas selbst spricht von einer anderen Gnade (JS 345): »Allein dank göttlicher Gnade werde ich als mit dem Anderen wie die Anderen angesprochen, das heißt ›für mich‹.« 70 Zur letzten Wahlmöglichkeit des Philosophen bei Levinas vgl. JS 213 f. Daß wir wählen müssen, zeigt auch jenes ›vielleicht‹ in JS 341: »Offenbarung des Jenseits-des-Seins, die zwar vielleicht nur ein Wort ist«, ein ›vielleicht‹, das der ›Doppeldeutigkeit‹ oder ›Ambivalenz‹ in der Anarchie des Unendlichen geschuldet ist. 57

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Entscheidung und Prophetie1 Überlegungen zu Levinas mit besonderer Beachtung der ›Carnets de captivité et autres inédites‹

1. ›Entscheidung‹ als Sinn der Freiheit In der Frage, was ›Entscheidung‹ heiße, liegt die Frage verborgen, worin denn der Sinn von Freiheit als das den Menschen als Menschen Auszeichnende bestehe – mit Kant: seine ›Menschheit‹.2 Ohne Zweifel kann man bereits ein durch logische Operationen herbeigeführtes und in einem gegenständlichen Aussagesatz niedergelegtes Urteil als Entscheidung bezeichnen. Durch eine solche in einem sachlichen Urteil niedergelegte Entscheidung wird in einem geschlossenen System gegenständlicher Sachverhalte jeweils der einsichtig gewordene richtige Sachverhalt als der wahre zur Sprache gebracht und als solcher zweifelsfrei festgestellt. Aus derart zweifelsfrei richtigen Entscheidungen vernünftiger Erkenntnis folgen dann auch Entscheidungen, die eine Wahl zwischen mehreren finiten Möglichkeiten bedeuten, d. h. freie Handlungen, in denen wir unter verschiedenem jeweils in gleicher Weise möglichem Finiten schließlich jenes ergreifen, welches uns im Hinblick auf ein übergeordnetes finites Ziel dieses leichter, z. B. in kürzerer Zeit oder mit weniger Aufwand, erreichen läßt. Solchen Entscheidungen gegenüber eröffnet sich eine ganz andere Ordnung von ›Entscheidung‹ dort, wo wir uns als Menschen, die als sterbliche nur eine begrenzte Zeit haben, um sich in ihrem In-der-Welt-Sein zu verwirklichen, in die Frage gestellt finden, was wir als wir selbst in dieser unserer Endlichkeit als einer solchen überhaupt erstreben. Im Unterschied zu einzelnen Entscheidungen in einem Urteil oder einer Wahl unter verschiedenem bestimmtem Finiten kann man hier von Daseinsentscheidungen oder auch Lebensentscheidungen sprechen. Sie geschehen durch uns selbst mit | 101

uns selbst in eine offene Zukunft hinein, welche gerade erst durch diese unsere Entscheidung in ihrer Wirklichkeit als einer sinnvollen konstituiert wird. Da wir sterblich sind, haben wir nicht die Freiheit, eine solche Daseinsentscheidung überhaupt nicht zu treffen. Täten wir dies, so bedeutete selbst dies noch eine Entscheidung. Wir können als zeitlich Existierende mit der Antwort auf die Frage, was unser von uns selbst zu lebendes Leben letztlich als das ihm Sinn Gebende bestimmen soll, nicht im bloßen Verhältnis zu unendlich vielen uns sich darbietenden reinen Möglichkeiten verharren. Dies würde uns in den Zustand jener Lähmung führen, die Kierkegaard die »Verzweifelung der Möglichkeit« nannte (KzT 32 ff.). In ihr würden wir in der Verwirklichung unserer selbst aber gerade nicht zu der Freiheit unserer selbst als dem möglichen Einssein mit uns selbst finden. Dies stellt uns in die Notwendigkeit, uns selbst in unserer Sterblichkeit zu entscheiden, als die fundamentale »Ursache unserer selbst« im Umgang mit uns und mit der Welt, in der wir uns schon finden. Nach dem bekannten Axiom des Thomas von Aquin, das sich seinerseits von der Bestimmung der Seele des Menschen als au4tokinou/n in Platons Phaidros herleitet (245a), fallen Freiheit und Selbstbestimmung zusammen (S.c.g. II,48): »Liberum autem est quod sui causa est.« Aber worauf sind wir als sterblich Da-seiende dabei aus, denen es »in ihrem Sein um dieses Sein selbst geht« (SuZ 12)? Wozu stehen wir in der derart geschehenden ›Intentionalität‹ der Zeitigung der ›Menschheit‹ unseres Daseins, in einem ›Korrelationsapriori‹?3 Besteht das, was hier in unserem Selbstsein als solchem ins Spiel kommt, in jenem schon Bestimmten, zu welchem sich die Seele eines jeden Menschen »vor ihrer Inkarnation« schon entschieden hat? Diese Antwort, die Platon am Ende der Politeia (617e) als die hypothetische eines Mythos referiert, kann uns kaum genügen. Und es ist uns nach Kant und dem wissenschaftstheoretischen Fallibilismus, nach Heisenberg und seiner fundamentalen Einsicht, daß wir es in all unserem wissenschaftlichen Erkennen nie mit der Natur an sich zu tun haben, sondern stets nur mit dem Produkt unseres Umgangs mit der Natur,4 auch kaum mehr die Antwort möglich, welche in einer unkritischen, weil über ihre Leitgröße nicht mehr reflektierenden Weise unser Uns-entscheiden, dem es um die 102 | bernhard casper

Freiheit unserer selbst geht, unbesehen an dem festmachen will, was, wie man so sagt, ›die Natur‹ will. Diese, das Denken der Stoa aufnehmende Lösung, die im Naturalismus der Neuzeit wiederkehrt, ist eine zu einfache Antwort auf die Frage nach dem Geschehen unserer Daseinsentscheidung, mit welcher in einem dann auch die Frage nach der uns vor allem anderen Seienden auszeichnenden Würde des Menschseins hängt. Wenn die Postmoderne etwas auszeichnet, dann ist es die klare Einsicht in den ›naturalistischen Fehlschluß‹, der in einer solchen Antwort und dem aus ihr hervorgehenden Handeln läge. Eher stehen wir als Denkende heute dem Aristotelischen Bemühen um Aufklärung der Prohairesis nahe, dem Bemühen um eine sorgfältige Analyse des Geschehens des Weges und seiner Konstituentien, auf dem wir mit Vernunft zu unseren Entscheidungen gelangen; und so auch – und über einzelne Entscheidungen hinaus – zu der Entscheidung, in der wir uns so entscheiden, daß wir mit ihr unserer ›Menschheit‹ gerecht werden.

2. Zum Worumwillen der Zeitigung der Entscheidung nach Levinas Was heißt dies aber genauerhin? Worin besteht das Worumwillen dieser Entscheidung, in der wir zu unserer Menschlichkeit zu kommen suchen? Die folgenden Überlegungen versuchen im Rückgriff auf das Denken von Emmanuel Levinas, und hier insbesondere auch auf die seit 2009 veröffentlichten Texte aus dessen Nachlaß, zu der Frage nach dem Worumwillen der Zeitigung solcher Entscheidung einen Hinweis zu geben. Wir dürfen dabei voraussetzen, daß das Geschehen des Sich-entscheidens sterblichen Daseins angesichts seiner Menschlichkeit selbst immer zugleich dreierlei bedeutet: a) ein zeitliches Geschehen, das nicht nur in einer chronologisch gezählten und insofern apriori überschauten Zeit stattfindet, sondern vielmehr als im Augenblick frei geschehende Zeit selber, d. h. als Kairos, in welchem je eine durch menschliches Dasein als es selbst mitkonstituierte geschichtliche Epoche gründet. Es bedeutet so: Entscheidung und Prophetie | 103

b) ein Geschehen des je einzelnen sterblichen Daseins in welchem dieses nicht nur etwas, sondern – unvertretbar – sich als sich selbst entscheidet und annimmt. Diese autonome Zeitigung meiner selbst erweist sich gleichwohl aber c) als ein Geschehen, zu dem ich nicht nur meines eigenen Daseins als einer fensterlosen Monade bedarf, welche sich in ihrem In-der-Welt-sein in der »transzendentalen Seinssphäre als monadologische[r] Intersubjektivität« aufgehoben findet, so wie Husserl dies noch in der fünften Cartesianischen Meditation zu denken versuchte (vgl. Hua I,121). Vielmehr bedarf ich dazu jeweils des mir in keiner Weise im Vorhinein verfügbaren Anderen als dieses Anderen selbst, angesichts dessen und im Verhältnis zu dem Entscheidung geschieht. Das sind die Voraussetzungen, die Levinas mitbringt, wenn er im ersten seiner Carnets de captivité fragt,5 warum dieses ›ich selbst‹, das in seiner Selbstbezüglichkeit besteht, denn nun sein darf. Die reine Faktizität meiner selbst als des ›Seins‹ selbstbezüglichen sterblichen Daseins in seinem In-der-Welt-sein stellt ja zunächst einmal nur das Problem dar, daß ich für mich selbst in meinem Mich-entscheiden-können und Entscheiden-müssen bin (Œuvres I,59): »Finalement la relation avec mon existence n’est peut être pas l’assomption de cette existence, mais son problème seulement.« Nicht einfach schon die Hinnahme (›assomption‹) seiner Selbstbezüglichkeit macht das Dasein erschöpfend aus. Die Selbstbezüglichkeit stellt vielmehr zunächst einmal nur das Problem der als Selbst daseienden Existenz dar. Deshalb muß zwischen den Existenzialien einerseits und der Ordnung des Existenziellen andererseits unterschieden werden, worauf Levinas mit Heidegger bereits 1932 in einer ersten großen Abhandlung Martin Heidegger et l’ontologie aufmerksam macht. Die im Lichte der Seinsfrage, d. h. der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem gestellte Frage nach dem Sein jenes Seienden, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«, führt zwar zu der Einsicht in das zum eigentlichen Sein dieses Seienden gehörende Existenzial der Entschlossenheit. Von dieser muß aber der existenzielle Entschluß unterschieden werden.6 Das Nachdenken über diesen aber führt über die Grundfrage einer ontologischen (und onto-theologischen) Metaphysik »Warum 104 | bernhard casper

ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« hinaus zur Frage: »Aber warum darf ich als ich selbst denn sein?« Diese Frage aber, in welcher mich, so Levinas, allererst »Le mystère existentiel opposé à la lumière de la vision« angeht, kann nicht schon durch einen Rückgang auf den ›Ontologismus‹ der reinen Seinsfrage seine Antwort finden (EDE 70–71). In seiner knapp fünf Jahre nach dem Erscheinen von Sein und Zeit erfolgten Interpretation des epochalen Werkes Heideggers, das er auch später immer hoch schätzte,7 sieht Levinas Heideggers Verharren in einem derartigen ›Ontologismus‹ als das an, was zugleich ein Hinausgehen über die Fundamentalontologie von Sein und Zeit und deren Daseinsanalytik notwendig macht. Die im Lichte der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem geschehende Analyse des ›Daseins zum Tode‹ verbleibt in der Befangenheit durch den Horizont, der in dem als solchem unentrinnbaren zeitlosen8 transzendentalen Infinitiv ›Sein‹ zur Sprache gebracht und im Denken ausgelegt wird. In seinem tatsächlichen existenziellen Sich-Ereignen durch je bestimmte menschliche Freiheit bleibt dieser aber unbestimmt. Deshalb gelangt eine solche fundamentalontologische Analyse noch gar nicht zu dem ganzen tatsächlichen Geschehen sterblicher Freiheit. Daraus folgt (Œuvres I,59): »Dès lors la liberté du moi à l’égard du monde et à l’égard du soi – n’est pas l’être mais l’évasion de l’être […].« Dies ist der Grundgedanke, den Levinas in der 1935 erschienenen Schrift De l’évasion vorträgt. Im ersten der Carnets spricht sich diese Grundeinsicht in der Unterscheidung von ›être‹ und ›voie du salut‹ aus (Œuvres I,52): »Salut n’est pas l’être.« Was Levinas 1935 mit ›évasion‹ zur Sprache brachte, beschrieb er 1974 in Autrement qu’être, als ›de-claustration‹: Befreiung aus einer pathologischen Fixierung, die dem in der Fixierung Eingeschlossenen jede weitergehende Erfahrung verunmöglicht. Für diese Befreiung gebraucht er die Metapher des Sich-ereignens des Atmens, welches aus der Gefahr des Erstickens rettet: » – la respiration9 est transcendance en guise de dé-claustration; elle ne révèle tout son sens que dans la relation avec autrui, dans la proximité du prochain, qui est responsabilité pour lui […].«10 Wenn Levinas von dieser ›de-claustration‹ sagt (AQ 227): »Mon exposition à autrui, dans ma responsabilité pour lui se fait sans ›décision‹ de ma part […]«, so setzt er ›décision‹ in AnführungszeiEntscheidung und Prophetie | 105

chen, weil hier einerseits klargestellt werden soll, daß dieses primordiale Verhältnis der Verantwortung nicht in meiner ›décision volontaire‹ als letzter Ursache gründet. Andererseits aber kommt alles darauf an, der ›assignation‹ durch diese ›responsabilité préalable‹ in Freiheit zuzustimmen, um dadurch zu der ganzen, nicht mehr in einer ›claustration‹ befangenen Freiheit zu kommen. Man kann sich fragen, ob Levinas mit der Differenz, die er 1935 nur wenige Jahre nach dem Erscheinen von Sein und Zeit ausarbeitet, nicht sehr genau das Defizit dieses epochalen Werkes erkannte, das sich ja auch selbst nur als ›Erste Hälfte‹ verstand , über die Heidegger später in der ›Kehre‹ durch ein ›andersanfängliches Denken‹ hinauszukommen suchte. In dem ersten der Carnets beschreibt Levinas diese ›évasion‹ und ›de-claustration‹ als die Frage, in welcher das Dasein in das Ereignis seines tatsächlichen existenziellen Sich-entscheidens hineingerät als »la possibilité d’être comme si n’a pas encore été« und fügt dem im Original deutsch und hervorgehoben das Wort ›Wiedergeburt‹ hinzu (Œuvres I,59). Bereits in seiner Erstlingsarbeit von 1932 Martin Heidegger et l’ontologie besteht für Levinas ein entscheidender Einwand gegen den transzendentalen Ontologismus des abendländischen Denkens insgesamt, der auf einer transzendentalen Spekulation beruht, und dem Levinas auch Sein und Zeit noch verhaftet sieht, darin, daß dieser eine solche ›nouvelle naissance‹ nicht kenne (MHO 420): »Ce saut vers l’éternel ne transcende pas ce drame pour donner une nouvelle naissance aux personnages, il ne transfigure pas par un acte de grâce venu de l’extérieur.« Die von den Carnets in der Frage nach dem Sinn meines Selbstseindürfens selbst – d. h. der Tatsächlichkeit meiner Freiheit als solcher –, zur Anzeige der hier notwendigen nicht nur existenzialen, sondern existenziellen Epoche von Levinas gebrauchte Wendung »d’être comme si n’a pas encore été« steht dabei in einer auffälligen, geradezu wörtlichen Parallele zu der Wendung, die sich immer wieder in Predigten des Meisters Eckhart findet (Werke I,24 u. ö.): »ein mensche […] als er was, dô er niht enwas«. Ob Levinas Eckhart kannte oder auch die in den 30er Jahren sehr bekannte Arbeit der Heideggerschülerin Käte Oltmanns Meister Eckhart, muß hier offen bleiben. 106 | bernhard casper

Sachlich geht es in dieser Wendung darum, daß sich das selbstbezügliche sterbliche Dasein denkend mit der ab-gründigen Frage nach dem absoluten ›Warum‹ nicht nur des Seins überhaupt, sondern seines eigenen unvertretbaren sterblichen Selbst, d. h. seines sterblichen Daseins als Freiheit, einläßt. Die Antwort auf diese Frage kann es aber nur in dem Ereignis eines unergründlichen, absoluten Sich-gegeben-werdens als Selbst finden. Dieses Ereignis zeigt ihm aber zugleich, daß es sich gerade als Freiheit, immer schon in einem ihm vorgängigen Verhältnis zu dem für es schlechthin unverfügbaren Anderen als diesem Anderen selbst findet. Wollte man dafür die Husserlsche Rede von dem alles überhaupt erst fundierenden ›Korrelationsapriori‹ verwenden, so könnte man dies das eigentliche Korrelationsapriori in seinem freien Sich-ereignen selbst nennen. In den in einem Speziallager für jüdische Kriegsgefangene niedergeschriebenen Aufzeichnungen der Carnets de captivité findet Levinas endgültig zu diesem primordialen Geschehen als der Voraussetzung aller Voraussetzungen für die Frage nach der Menschlichkeit des Menschen (Œuvres I,134): »Un element essentiel de ma philosophie – ce par quoi elle diffère de la philo de Heidegger – c’est l’importance de l’Autre.« Dieses unaufhebbare mich als sterbliche Freiheit konstituierende Urverhältnis zu dem Anderen als dem für mich uneinholbaren Anderen selbst bedeutet aber gleichwohl nicht einfachhin das infinite und insofern nicht mehr weiter problematische ›Sein‹ meiner Freiheit. Vielmehr offenbart sich in ihm allererst die Herausforderung meiner Freiheit zu einem existenziell durch mich selbst geschehenmüssenden Ereignis der Entscheidung. Dieses Urereignis, durch das ich mir als ich selbst allererst gegeben bin, stellt mich in meiner Freiheit in eine Vorladung (›assignation‹)11 zur Verantwortung dem Anderen gegenüber und gründet derart allererst meine Freiheit als eine Freiheit zur Entscheidung (Œuvres I,257): »La responsabilité ne repose pas sur la liberté, elle fond la liberté sous la seule forme possible à un être en relation et qui demeure absolu en sein de la relation.« Das Warum meiner selbst als des sich – darin unvertretbar – selbst entscheiden Könnenden und entscheiden Müssenden besteht so in meiner Berufung zur Verantwortung gegenüber dem Anderen (Œuvres II,138): »C’est le paradoxe plus profonde du concept de la liberté que le lien synthétique Entscheidung und Prophetie | 107

qui le rattache à la responsabilité.« Die Zeitigung meiner selbst als der sich selbst aufgegebenen sterblichen Freiheit in ihrem In-derWelt-sein wird in ihrem anfanglosen Anfang zum Geschehen der ›responsabilité‹. Damit gewinnt Freiheit erst ihren wahren Sinn. Im Gegensatz zu einer bloßen ›liberté à regard de soi – liberté excluant responsabilité‹ wird sie zum Ereignis der ›liberté à l’egard des autres‹ – ›Liberté impliquant responsabilité‹ (Œuvres I,185). Eine bloß formal egologisch gedachte ›Autonomie‹ verwandelt sich in dieser ›liberté impliquant responsabilité‹ in die erfüllte Freiheit einer ›héteronomie priviligée‹ (vgl. TI 60.278.282). Das derart sich gebende Verhältnis, in dessen Sich-ereignen sterbliche Freiheit sich allererst in Wahrheit zutragen kann und dank dessen ich mir auch allererst als der sich selbst entscheiden Könnende und entscheiden Müssende gegeben bin, nennt Levinas von den Carnets de captivité an die ›felix culpa‹ (vgl. Œuvres I,71, 72, 81, 173, 175, 176, 184). Im Unterschied zu dem reinen Existenzial der ›Schuldigkeit‹ von Sein und Zeit erschöpft sich diese nicht darin, daß ich es mir selbst schuldig bin, ›eigentlich‹ zu werden. Die ›felix culpa‹ als das Urverhältnis, in welchem menschliches Dasein als menschliches geschieht, bedeutet vielmehr von Anfang an »être ôtage pour autrui«,12 Leib-bürgen-schaft für den Anderen. Dieses ›Geisel‹ und ›Leibbürge‹-sein für den Anderen (und das Andere) ereignet sich ursprünglich im Geschehen von Sprache. Dieses Geschehen von Sprache macht derart in der Tat erst das »Seiende, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«, zum Menschen.13 Die derart sich zutragende circuminsessio von selbstbezüglichem sterblichem Dasein als zur Verantwortung berufener und in deren Geschehen sich entscheidender Freiheit einerseits und Befähigung zur Sprache als das den Menschen in seiner Menschlichkeit Konstituierende andererseits tritt gerade in den Nachlaßtexten ganz besonders deutlich zutage.14 Sprache kann es in Wahrheit nur geben »comme s’adressant à autrui dans sa substance, acte de responsabilité suscitant la responsabilité« (Œuvres I,380).

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3. Entscheidung als prophetisches Geschehen und uneingeschränkte Verantwortlichkeit In diesem Zusammenhang wird schließlich deutlich, inwiefern die in Freiheit und durch diese sich ereignende verantwortliche Entscheidung als prophetisches Geschehen verstanden werden kann. Von den Carnets an wird Sprache als Geschehen des ›Dire‹, das sich zwischen dem Anderen und mir ereignet, für Levinas zur alles gründenden ›Ordnung‹,15 in der allein sich die Menschlichkeit des Menschen denken läßt. Sie ist die Ordnung einer ›Responsabilité illimitée‹ (DSS 139): ›Ein jeder von uns ist vor allen an allem schuldig, ich aber bin es mehr als alle anderen.‹ Das Ereignis meines Sprechens wird in seiner Wahrheit eben nicht durch eine von mir gesetzte ›décision volontaire‹ verursacht, einer reinen Setzung der Autonomie meiner selbst in absoluter Autarkie. Es ist zwar mein höchsteigenes Sprechen, in welchem ich in unvertretbarer Weise als ich selbst da bin. Aber sein erster Ursprung liegt, da es das Universum, in dem es sich findet, als Fülle des ursprünglich je Anderen nicht gesetzt hat, darin, daß es in seiner Wahrheit nur bleibt, wenn es aus einer »passivité plus passive que toute passivité antithétique à l’acte« hervorgeht (AQ 91 u. ö.). Es bleibt wahres Sprechen nur, wenn es sich als ein Hören voraussetzendes antwortendes Sprechen ereignet. Als solches erweist es sich als entscheidendes Sprechen, als »la parole, qui tranche« (Œuvres I,388). Ein Sprechen, das als absolute Privatsprache in schlechthin nichts anderem als nur einer alles ›Andere‹ ausschließenden ›décision volontaire‹ gründete, gibt es nicht. Es begegnet uns allenfalls in dem psychopathischen Grenzfall des Schizophrenen, der sich schlechthin niemandem gegenüber verständlich machen kann. Sprechen ist immer schon antwortendes Sprechen, das sich in seinem diachronen Geschehen der Begegnung mit dem Anderen verdankt. In dieser »obéissance pré-originelle« (HAH 82) erweist es sich als ernsthaftes Sprechen, dann allerdings als bestimmtes, entschiedenes Wort, in welchem durch mich als mich selbst, was wirklich ist und sein soll, zur Sprache kommt. In solchem Sprechen werde aber zugleich auch ich in meinem Selbstsein als solchem und das, worum es mir als mir selbst geht, zur Sprache gebracht. Aber worum geht Entscheidung und Prophetie | 109

es mir als mir selbst, in dem, in der ›relation préalable‹ der ›responsabilité‹ sich ereignenden Sprechen? Im Denken von Levinas wird immer wieder deutlich, daß ich mich mit der Frage nach dem letzten Worumwillen meines verantwortlichen und sich entscheidenden Sprechens in einer Infinition finde. Das Ereignis der Begegnung mit dem Anderen als dem Anderen führt mich in ein ständig neues Aufheben meines Gesagten (›dit‹) in ein neues Sagen (›Dire‹) hinein (vgl. AQ 58–76 und 195 ff.). Und dies ereignet sich zunächst einmal nicht nur deshalb, weil ich ständig neuem Anderen und neuen Anderen begegne, sondern auch, weil diese mir je neu anders begegnen. Innerhalb dieses, wenn man so will ›horizontalen‹, ständigen Sich-überschreitens und Überschrittenwerdens geschehenden Sprechens findet zugleich aber ein ›vertikales‹ Überschreiten statt: hin zu dem immer Bedeutenderen, das in meinem Sprechen, welches ein Tun ist,16 zur Sprache kommt. Franz Rosenzweig, auf dessen Denken Levinas sich ja ausdrücklich beruft (TI XVI), hat dies in seiner ›messianischen Erkenntnistheorie‹ verdeutlicht: »Von jenen unwichtigsten Wahrheiten des Schlages ›zwei mal zwei ist vier‹, in denen Menschen leicht übereinstimmen […] führt der Weg über die Wahrheiten, die sich der Mensch etwas kosten läßt, hin zu denen, die er nicht anders bewähren kann als mit dem Opfer seines Lebens, und schließlich zu denen, deren Wahrheit erst der Lebenseinsatz aller Geschlechter bewähren kann. Diese messianische Erkenntnistheorie [wertet] die Wahrheiten […] nach dem Preis ihrer Bewährung und dem Band, das sie unter den Menschen stiften«.17 In seiner Messiaserwartung bleibt dieses Verständnis eines den Menschen in seiner Menschlichkeit fundierenden Geschehens von Sprache aber unendlich offen auf den sich in der Geschichte zwischen sterblichen Menschen zwar immer wieder anzeigenden, aber in dieser Geschichte von Menschen nie erschöpfend zu erfüllenden absoluten und alles vollendet erlösenden Sinn solcher Geschichte.18 Im Lichte eines derartigen Verständnisses dessen, was sich je neu diachron zwischen dem Anderen als ihm selbst und mir selbst in Freiheit ereignet, d. h. sich durch mich entscheidet, geschieht für Levinas in dem ursprünglichen ›Dire‹, welches sich in der ›sincerité‹ der ›obeissance‹ und der ›responsabilité préalable‹ zuträgt, ein von dem Sprechenden selbst her nie zu Ende zu bringendes Sich-trans110 | bernhard casper

zendieren auf die ›gloire de l’Infini‹ hin. Das Sprechen hält sich im Hören. Insofern es Entscheidung bedeutet, hat Entscheidung dann zugleich auch immer den Sinn von ›liturgie‹; diese als das verstanden, wozu man sich nicht um eines bestimmten endlichen Nutzens willen entscheidet, sondern weil man dadurch in ein Verhältnis zu dem tritt, was überhaupt gut ist.19 Dem ›Dire‹ geht es um das, was über alles darlegbare Seiende hinaus überhaupt gut ist (e4pe2keina th/@ ou4sía@),20 die Gerechtigkeit (AQ 207): »Tout se montre et se dit dans l’être pour la justice et recoit les structures du thématisé et du dit.« Als die ernsthafte »parole, qui tranche« bedeutet Entscheidung derart dann aber ›témoignage‹, Zeugenschaft dafür, daß die ›gloire de l’Infini‹ mich vorgängig angeht und zu der ›responsabilité‹ erwählt hat. Sie geschieht in ›humilitè et aveu‹ als ›kerygme et prière‹. Dieses in der Entscheidung geschehende Zeugnis aber kann man prophetisches Zeugnis nennen: »On peut appeler prophétisme ce retournement où la perception de l’ordre coincide avec la signification de cet ordre faite par celui qui y obéit« – »prophétisme, le se passer de l’Infini«. Das im Ernste geschehende Sprechen, das ein Sichentscheiden bedeutet, – so wie denn auch jedes Sich-entscheiden sich als Sprechen zeigt –, erweist sich als eine »primordiale intrigue de l’Ethique et le language irréductible à un acte entre actes«. In diesem Sinne wohnt denn aber jedem im Ernste geschehenden menschlichen Sprechen ein prophetisches Moment inne (vgl. dazu AQ 190–194). Aufgrund dieses Momentes birgt ein jedes solches Sprechen, welches in unterschiedlicher Weise ein Sich-entscheiden bedeutet, die Verheißung in sich, ein Zeugnis für den Weg hin zu der endgültigen Erfüllung des vollendenden Sinnes menschlicher Geschichte überhaupt zu sein: eines ›temps achevé‹, einer ganz und gar ›erfüllten Zeit‹, die denn auch verfehlte menschliche Zeit erlösend in sich aufheben würde (TI 261): »un temps infini et un temps qu’elle pourrait sceller […] temps messianique où le perpétuel se convertit en éternel«. Prophetie, die derart in jedem ernsthaften Sprechen sterblichen Daseins als einem zur Verantwortung berufenen geschieht, bedeutet so verstanden dann freilich nicht, die ›Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen – aber vielleicht, sie zu meistern‹ (vgl. El Rostro).21

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Corollarium Gerade im Lichte dieser Zusammenhänge kann und muß dann jedoch zwischen wahrer und falscher Prophetie unterschieden werden. Die Inspiration des wahren Prophetischen wohnt dem sich entscheidenden Dire nur inne, wenn dieses sich in dem das eigene Sich-zeitigen richtenden Verhältnis zu dem in menschlicher Geschichte stets auch noch ausstehenden ›temps achevé‹ hält. Falsche Prophetie hat ihre Wurzel darin, daß sie sich selbst als solche und unter Leugnung des Vorbehalts des Auch-noch-ausstehens einer erschöpfend vollendeten messianischen Erfüllung hier und jetzt absolut setzt. Da jedem Sich-entscheiden sterblichen Daseins als eines im Dire antwortend-verantwortlich sich zeitigenden durch dieses Geschehen selbst das Moment des Prophetischen innewohnt, bringt Entscheidung schon einfachhin dadurch, daß sie geschieht, so etwas wie eine Heilsverheißung mit sich. Daraus erklärt sich, daß in geschichtlichen Ausnahmesituationen, in der alle bisherigen Ordnungen sich als unzureichend erweisen und menschliches Dasein als ›Dasein mit anderem Dasein‹ in eine Krise gerät, das entschiedene Sich-entscheiden schon einfachhin als solches oft zunächst einmal eine Legitimitätsvermutung für sich in Anspruch nehmen konnte. In der umfassenden Krise des abendländischen Selbstverständnisses führte diese zu einer Apotheose des handelnden Selbst – zunächst in einem Kult des Heroischen und Heldischen im 19. Jahrhundert und nach dem Ersten Weltkrieg denn auch zu einer Apotheose von Entscheidung einfachhin als einer solchen.22 Die Machtergreifung Hitlers und die Ermächtigung zu dieser – selbst durch eine christliche Partei wie das Zentrum – wären ohne die verführerische Kraft, die von dem Phänomen der Entscheidung als solchem in einem Ausnahmezustand ausging, nicht möglich gewesen. Die verführerische Kraft eines idolatrischen, weil aus einer alles erst gründenden ›re-sponsabilité préalable‹ gelösten Verständnisses von Entscheidung könnte heute aber die Existenz der Menschheitsfamilie insgesamt in Frage stellen.

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Anmerkungen

Die hier wiedergegebenen Überlegungen wurden zunächst für ein Kolloquium zum Thema »La Decisione« des Istituto Internazionale des Istituto di Studi Filosofici ›Enrico Castelli‹ in Rom verfaßt und dort am 6.1.2012 vorgetragen. Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers des Archivio di Filosofia. Archives of Philosophy (Pisa-Roma) Prof. Dr. Stefano Semplici, Rom, werden sie auch hier abgedruckt. 2 Im Sinne der 2. Fassung des kategorischen Imperativs (GMS BA 67 = AA 4,429). 3 Zu diesem als der Voraussetzung jeden phänomenologischen Denkens vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hua VI, 161 ff., bes. auch 168 und 169, Anm.1. 4 Vgl. Werner Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik,18: »Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst.« 5 Carnets de captivité et autres Inédits. Oeuvres I. Das erste der Carnets ist mit der Jahreszahl 1937 überschrieben. Levinas bewahrte es in einem Umschlag zusammen mit den anderen erst in deutscher Kriegsgefangenschaft niedergeschriebenen Carnets auf. Welche Texte des Carnets 1 Levinas bereits vor seiner Gefangenschaft in einem deutschen Speziallager für jüdische Kriegsgefangene niederschrieb, konnte der Herausgeber nicht klären. ›Captivité‹ bedeutet für Levinas auch schon die Gefangenschaft, in der sich das Denken fi ndet, wenn es von einer Voreingenommenheit unter Ausschluß gehalten wird. De l’évasion von 1935 handelt von dem Ausbruch aus solcher captivité. 6 Diese Differenz gerät in den Übersetzungen des Existenzials ›Entschlossenheit‹ durch ›resolution‹ ins Französische und ›decisione‹ ins Italienische in die Gefahr, eliminiert zu werden, da sowohl ›resolution‹ wie ›decisione‹ in der ›ordinary language‹ zumeist und zunächst den einzelnen existenziellen Akt des Entschlusses und der Entscheidung meinen. 7 Noch 1981 urteilt Levinas in einem Interview: »Heideggers Sein und Zeit […] Das ist ein Buch, das man nur dem Phaidros von Platon, der Kritik der reinen Vernunft von Kant und der Phänomenologie des Geistes von Hegel vergleichen kann«. Das Interview wurde bislang nur in spanischer Übersetzung veröffentlicht: Bernhard Casper: El Rostro , la primogenitura y la fecundidad. Dialogo con Emmanuel Levinas el 11 de junio de 1981 en Paris. 8 Selbst wenn dieser fundamentalontologisch als ›geschichtlicher‹, d. h. derart dann aber wiederum im zeitlosen Horizont von ›Geschichtlichkeit‹ gedacht wird. 9 In einer Bedeutungsnähe zu ›respiration‹ steht bei Levinas das für sein Denken zentrale Wort ›inspiration‹. 10 AQ 228. ›Claustration‹ ist ein Neologismus, der sich seit 1791 nachweisen läßt und zunächst meint, daß man eine Person in sicheren Gewahrsam nimmt, aus dem sie nicht entkommen kann. Er wird im 19. Jh. von Medizin und Psychopathologie und andererseits von der Dichtung (z. B. Baudelaire) 1

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übernommen. Das psychopathologische Eingeschlossensein in unentrinnbares Fixiertsein kann durch einen Menschen selbst in seinem Verhältnis zu sich selbst geschehen. Ein Mensch kann aber auch von außen, durch Erziehung oder soziale Systeme, in erstickende claustration festgesetzt werden. Die Schreibweise ›de-claustration‹ für die Befreiung aus einer solchen ›claustration‹ stammt offenbar von Levinas selbst. 11 Vgl. dazu EDE 213 und 215. Insbesondere in AQ wird dieses durch ›assignation‹ angezeigte Ereignis der Vorladung zu einem wichtigen Leitfaden für die Erschließung von Freiheit. Vgl. dazu das Stichwort ›assignation‹ bei Christian Ciocan und Georges Hansel: Levinas Concordance, 67. 12 Vgl. AQ 10 ff. und dieses Werk insgesamt; ferner EDE 233-236. Wie Levinas z. B. durch die Untersuchung Intentionalité et sensation (EDE 145–162) gezeigt hat, gilt dieses Verhältnis des ›être ôtage‹ aber auch schon für das Verhältnis zu dem ›sachlich‹ Anderen. Auch dieses kann nur in einer »passivité plus passive que toute passivité antithétique à l’acte« geschehen, weil es des Intervalls der diachron sich ereignenden Zeit bedarf. 13 Im Sinne des biologischen »Prinzips Eigennutz« (vgl. dazu Wolfgang Wickler: Das Prinzip Eigennutz) könnte man die Heideggersche Bestimmung des »Seienden, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (SuZ 12) sonst durchaus auch auf das nicht-menschliche Seiende beziehen. 14 Vgl. dazu auch Rodolphe Calin in Œuvres I,11. 15 Ich benutze hier bewußt nicht die Termini ›Horizont‹ oder ›transzendentaler Horizont‹, die von der Zeitigung des Sehens her ihre Bedeutung gewinnen, sondern den Terminus ›Ordnung‹, wie ihn etwa Pascal benutzte. Vgl. Blaise Pascal: Pensées oder Kant, wenn er die ›Ordnung der Natur‹ von der ›moralischen Ordnung‹ unterscheidet; z. B. KrV B 475, 844. 16 Vgl. dazu John L. Austin: How to do things with words. 17 Franz Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk, 159. 18 Daß sich das Levinassche Denken in einer Analogie sowohl zu Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte wie zu dem Schluß von Theodor W. Adornos Minima Moralia fi ndet, kann kaum übersehen werden. Zu beiden Denkern stand Levinas allerdings in keinerlei historischer Beziehung. 19 Vgl. dazu in der Levinas Concordance das Stichwort ›liturgie‹. 20 Platon: Politeia 509b; Levinas rekurriert auf diese Stelle immer wieder. Vgl. etwa TI 76, EDE 189, AQ 5;23. 21 Ich zitiere aus dem der spanischen Übersetzung zugrundeliegenden deutschen Inteviewtext. 22 Vgl. dazu das Material, das zusammengetragen wurde von Christian von Krockow: Die Entscheidung: eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger.

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– Norbert Fischer –

Überlegungen zum systematischen Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹ Wer sich Totalité et Infini im Blick auf den systematischen Gang dieses Werkes zu nähern versucht, den mag das Gefühl beschleichen, er nähere sich dem Autor wie bei einem Einbruch.1 Der Versuch kann also nur im Bewußtsein der Problematik des Vorhabens vorgetragen werden.2 Totalité et Infini spielt im ersten Kapitel auf die übergreifende Thematik des Gesamtwerks an: Le même et l’autre, in deutscher Übersetzung also: »Das (der) Selbe und das (der) Andere«.3 Dieses Kapitel hat vier Abschnitte, die (außer dem letzten) in Paragraphen unterteilt sind. Der erste Abschnitt unter dem Titel ›Metaphysik und Transzendenz‹ betrifft das Hauptanliegen des Werks, benennt also am Anfang das am Ende intendierte Resultat. Der zweite beginnt mit einer Skizze des Weges zu diesem Resultat und handelt von ›Trennung und Rede‹; dieser Weg fängt mit der ›Trennung des denkenden Ich‹ an, die Levinas kurzerhand als ›Atheismus‹ bezeichnet, womit keine ›weltanschauliche Position‹ gemeint ist, sondern etwas, das mit der ›Natur der Seele‹ zu tun hat. Den ›natürlichen Atheismus‹ versteht Levinas so wenig als ›Weltanschauung‹, daß er erklärt (TU 106): »Der Atheismus ist die Bedingung für eine wirkliche Beziehung mit einem wahren Gott kaj’ au3to2.« Er entfaltet im zweiten Abschnitt auch schon Thesen, die in die Transzendenz weisen, allerdings mit Bemerkungen, die spannungsvoll, zuweilen sogar widersprüchlich zu sein scheinen. Einerseits erklärt er (TU 109): »Unsere Analysen sind orientiert an einer formalen Struktur: der Idee des Unendlichen in uns.« Andererseits sagt er (TU 110): »Nun ist aber die Idee des Unendlichen die Transzendenz selbst, das Hinausgehen über eine adäquate Idee. Wenn die Totalität sich nicht zu konstituieren vermag, so deswegen, weil das Unendliche sich nicht integrieren läßt.« Damit knüpft Levinas unvermerkt an einen Gedanken Augustins an, der sich auch bei Kant und anderen findet, daß nämlich das Transzendente nicht | 115

in der Vernunft, im Inneren, zu finden sei, sondern »interior intimo meo«.4 Der dritte Abschnitt des ersten Kapitels wendet sich der Art der Gegebenheit der Transzendenz zu, die auf dem Vorrang der Gerechtigkeit vor der Wahrheit gründe, als »Kritik der Spontaneität«, »die durch das Bewußtsein der moralischen Unwürdigkeit hervorgerufen« werde (TU 115). Der das erste Kapitel abschließende vierte Abschnitt steht unter dem Titel »Trennung und Absolutes« und bezieht sich damit auf den ersten Abschnitt »Metaphysik und Transzendenz«. Das zweite Kapitel zielt auf die ›Innerlichkeit‹ des Selbst und verknüpft sie mit der ›Ökonomie‹. Das dritte Kapitel trägt gleichsam die Antithese zum zweiten Kapitel vor; im Original lautet die Überschrift: »Le visage et l’extériorité«. Die deutsche Übersetzung »Das Antlitz und die Exteriorität« ist problembeladen, da die Übersetzung ›Antlitz‹ für ›visage‹ das Gemeinte überhöht und womöglich in die Irre führt; ›Exteriorität‹ aber ist nichtssagend, da es keine Übersetzung darstellt.5 Besser wäre vielleicht: ›Der Blick des Anderen und das unerreichbare Äußere‹. Mit dem zweiten Kapitel beginnt die phänomenologische Sachuntersuchung, die das natürliche Ich im Blick hat, wie es sich in der Welt des Seins und der Phänomene vollzieht. Seine Abschnitte haben die Titel: »Die Trennung als Leben«, »Genuß und Vorstellung«, »Ich und Abhängigkeit«, »Die Bleibe« und im abschließenden und auch überleitenden Abschnitt: »Die Welt der Phänomene und der Ausdruck«. Der Beginn des letzten Paragraphen dieses Abschnitts charakterisiert rückblickend die Phänomenologie der Innerlichkeit des Selben und weist voraus auf die Epiphanie der dem Selben unerreichbaren Wirklichkeit des Anderen. Es heißt dort (TU 261): »Die Epiphanie der Exteriorität, die den Mangel der souveränen Innerlichkeit des getrennten Seienden offenbar werden läßt, versetzt nicht die Innerlichkeit als einen Teil, der durch einen anderen begrenzt ist, in eine Totalität.« Diese ›Epiphanie‹ wird im dritten Kapitel untersucht. Sie hat mit einer ›Unterweisung‹ zu tun, die dem ›Ersehnen des Anderen‹ entspricht (nicht – wie in der deutschen Übersetzung – dem ›Begehren des Anderen‹).6 Immerhin behindert der Zusatz, daß es sich um ein ›befremdliches Ersehnen‹ handele, die Gefahr von Mißverständnissen (im Original heißt es: »l’etrange désir d’Autrui‹). Die Übersetzung der ganzen Passage lautet (ebd.): »Es vollzieht sich als die Bezie116 | norbert fischer

hung zum Anderen oder als Idee des Unendlichen. Jeder kann es erleben in dem befremdlichen Begehren des Anderen, das durch keine Wollust gekrönt, zum Abschluß gebracht oder eingeschläfert wird. Dank dieser Beziehung stellt sich der Mensch, der aus dem Element zurückgezogen ist, der sich im Hause versammelt hat, eine Welt vor.« Nachdem das zweite Kapitel mit der ›Phänomenologie des Seins‹ die Thesis vorgetragen hatte, folgt im dritten Kapitel die Antithesis, die den Anspruch dieser ›Phänomenologie‹ hinterfragt. Das vierte Kapitel unter dem Titel Jenseits des Antlitzes läßt sich als Synthesis der beiden vorausgegangenen Kapitel verstehen, indem die Wirklichkeit des ›Seins‹ negiert und zugleich durch ihre Verbindung mit der Antithesis auf eine höhere Stufe gehoben wird. Das fünfte Kapitel bietet Reflexionen, die – wie das erste Kapitel – aus der Überschau auf den Gedankenweg des ganzen Buches gewonnen sind. Derart kann der Kern der Untersuchung in den drei zentralen Kapiteln nach dem dialektischen Schema der Hegelschen Philosophie gedacht werden. Das dritte Kapitel ist das eigentliche Zentrum des ganzen Werkes, der Ort, an dem Levinas seinen Neuansatz, seinen neuen ›Anfang‹ gegen alle frühere Philosophie zu entfalten versucht. Seine drei Abschnitte haben im Deutschen die Titel: »Das Antlitz und Sinnlichkeit«, »Antlitz und Ethik« und »Die ethische Beziehung und die Zeit«. Eine wichtige Aufgabe dieses Kapitels ist die Ausarbeitung der These, daß sich ›der Blick des Anderen‹ (also: ›le visage‹) weigert, in der Richtung meines Blicks enthalten zu sein. Daraus gewinnt Levinas die These (TU 277): »Der Andere ist nicht anders im Sinne einer relativen Andersheit.« Dieser Satz verdeutlicht, daß ›altérité‹ im Deutschen besser mit ›Anderheit‹ wiederzugeben ist.7 Levinas betont (TU 278): »Der Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd – aber sein Antlitz, in dem sich seine Epiphanie ereignet und das nach mir ruft, bricht mit der Welt, die unsere gemeinsame Welt sein kann, deren Virtualitäten implizit in unserer Natur enthalten sind und die wir ebenso durch unsere Existenz entfalten.« Den Ausgangspunkt hat dieses Ereignis, in dem ›der‹ Andere und zugleich ›das‹ Andere begegnet, im ersten Wort, das Unterweisung ist. Es lautet (TU 285): »Du wirst keinen Mord begehen« (im Französischen, wo das Futur auch imperativische BeZum Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹ | 117

deutung hat – die es auch im Deutschen haben kann (TI 173): »tu ne commettras pas de meurtre«). Schon das dritte Kapitel deutet an, daß die Begegnung des Selben mit dem Anderen nicht eine unversöhnliche Begegnung einander Fremder bedeutet, sondern als Ziel ›Friede‹ erhofft wird, der als Versöhnung des Blicks des Anderen (›visage‹) mit der Vernunft (›raison‹) zu denken ist.8 Diese Versöhnung ausdrücklich zu machen, ist sodann die Aufgabe des vierten Kapitels, das unsere Welt zum Thema hat, in der sich der Egoismus zu behaupten versucht, in die aber auch der Andere mit seiner ethischen Bedeutung schon eingetreten ist. Dieses Kapitel, das der Aufgabe dient, die Synthese darzustellen, handelt von der ›Zweideutigkeit der Liebe‹, vom ›Eros‹, von der ›Fruchtbarkeit‹, von der ›Subjektivität im Eros‹, von ›Transzendenz und Fruchtbarkeit‹, von ›Kindschaft und Brüderlichkeit‹ und schließlich von der ›Unendlichkeit der Zeit‹. Das abschließende fünfte Kapitel mit ›Schlußfolgerungen‹ (»Conclusions«, was vielleicht besser mit ›Schlußbetrachtungen‹ übersetzt würde) versucht noch einmal den Rückblick, weist aber auf Gedanken voraus, die Levinas erst nach dem Abschluß von Totalité et Infini ausgearbeitet hat. So scheint der Titel des zehnten Paragraphen (»Au delà de l’Être«) schon auf den Titel des zweiten Hauptwerks von Levinas anzuspielen (Autrement qu’être ou au delà del essence).

1. Die Phänomenologie des ›Seins‹ als Aufgabe des zweiten Kapitels Die Aufgabe des zweiten Kapitels, das mit dem Abschnitt ›Die Welt der Phänomene und der Ausdruck‹ endet und zum dritten Kapitel überleitet, besteht in der Darstellung der Konstitution der Selbstheit des Ich (»l’ipséité du moi«), die es in ›Trennung‹ und ›Genuß‹ vollzieht. In dieser Konstitution der Selbstheit des Ich baut das Selbe seine eigene, endliche Welt der Phänomene atheistisch als eine Welt des ›Seins‹ auf, als deren Zentrum es sich gewissermaßen etabliert. Ein wichtiges Motiv der von Levinas vorgetragenen Analysen ist die Bewahrung des Abstands, »der den Metaphysiker vom Metaphysischen trennt« und dem »Widerstand« des endlichen Ich gegen 118 | norbert fischer

mystische Tendenzen Auftrieb gibt, »gegen das Aufgehen in der Allheit« (TU 152). Levinas arbeitet an eben der Aufgabe, der sich die großen Denker seit Platon (bes. Kant und Heidegger) verpflichtet wußten, die zugleich die Endlichkeit und die Freiheit des Menschen bedacht haben. Gerade diesem Ziel dienen die Untersuchungen des zweiten Kapitels, in dem sich das Denken dagegen sperrt, in eine das Ich übersteigende, allumgreifende Totalität aufgehoben zu werden. Im Beharren des Ich auf seinem getrennten Sein, das Levinas auch ›Egoismus‹ nennt, betont er (TI 91): »La suffisance du jouir scande l’égoïsme ou l’ipséité de l’Ego et du Même.« Die Übersetzung (TU 165: »Die Genügsamkeit des Genießens gibt dem Egoismus oder der Selbstheit des Ego und des Selben den Rhythmus«) nimmt der Schärfe des Gedankens hier die Spitze. Nicht Genügsamkeit, die sich mit dem Dürftigen begnügt, das zur Hand ist, ist gemeint, sondern Genugsamkeit aus der Fülle des Genusses.9 Levinas erklärt (TU 166): »Der Bruch der Totalität, der sich im Genuß der Einsamkeit – oder in der Einsamkeit des Genusses – vollzieht, ist radikal.« Oder noch pointierter (TU 190): »Im Genuß bin ich absolut für mich.« Dieser Gedanke führt dazu, das ›Glück‹ als ›Individuationsprinzip‹ auszulegen (TU 210). Im Genuß bezieht sich das Ich radikal auf sich und trennt sich von allem in einer Weise, die Levinas ›atheistisch‹ nennt (TU 75). Er erklärt (TU 76): »Unter Atheismus verstehen wir also eine Position, die früher ist als die Verneinung oder Bejahung des Göttlichen; wir verstehen darunter den Bruch der Teilhabe, von dem aus das Ich sich setzt als das Selbe und als Ich.« Nur ›Getrenntes‹ kann eine Beziehung zur ›Transzendenz‹ haben. Wenn das ›Eine das Ganze‹ ( e n7 kaì pa/n) ist, wie Plotin annimmt,10 ist alles ›Gott‹ oder ›in Gott‹. Dagegen zeigt Levinas (TU 213): »In dem getrennten Seienden muß also die Türe nach Außen gleichzeitig offen und geschlossen sein.« Der erste Schritt, den Levinas geht, besteht im Hinweis auf faktische Lebensvollzüge (TU 152): »Wir leben vom ›guten Essen und Trinken‹, von der Luft, vom Licht, vom Schauen, von der Arbeit, von Ideen, vom Schlaf usw. … All dies sind keine Gegenstände der Vorstellung. Wir leben davon. Das, wovon wir leben, ist auch nicht ›Mittel zum Leben‹, wie die Feder ein Mittel ist in Bezug auf den Brief, den sie zu schreiben erlaubt; noch ein Zweck des Lebens, wie Zum Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹ | 119

die Mitteilung Zweck des Briefes ist.« Zu beachten ist hierbei die seltsame Mischung von Aktivität und Passivität im faktischen Leben, die Levinas mit den Begriffen ›Autonomie‹ und ›Heteronomie‹ in Verbindung bringt, die beide einschlägige Bedeutung in Kants Philosophie haben, aber mit dem Wortgebrauch bei Levinas in nicht leicht zu entwirrendem Zusammenhang stehen.11 Eine Klärung wird im Kontext der von Levinas verfolgten Hauptaufgabe möglich, die in der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Beziehung mit dem Anderen besteht.12 Diese Hauptaufgabe bezeichnet er so (TU 216): »Die vorliegende Arbeit richtet sich insgesamt darauf, eine Beziehung mit dem Anderen zu zeigen« (also zwischen dem Selben und dem Anderen). Diese Aufgabe ist nur zu lösen, wenn die »Innerlichkeit« endlicher Wesen »gleichzeitig verschlossen und offen« ist (TU 213). Nur dann lassen sich überhaupt echte Immanenz und echte Transzendenz denken, wie Levinas sie als ›Beziehung‹ versteht. Das Problem ist, wie sich die Pluralität vernünftiger Wesen verstehen läßt, obwohl die ›Vernunft‹ an sich keinen Plural hat. Denn, so fragt Levinas (TU 167): »Wie würden sich die zahlreichen Vernünfte unterscheiden? Wie wäre das kantische Reich der Zwecke möglich, wenn die vernünftigen Wesen, die ihm angehören, nicht ihre Forderung nach Glück als Prinzip der Individuation bewahrt hätten, ein Prinzip, das auf wunderbare Weise dem Zusammenbruch der sinnlichen Natur entkommen ist?« Obwohl schon Kant an der ›Apologie der Sinnlichkeit‹ gearbeitet hatte,13 spricht Levinas ihr einen noch höheren Rang für die Konstitution der ›Selbstheit des Ich‹ zu, ohne die keine Beziehung zu Anderem möglich ist. Die ›Trennung‹ denkt er als die »eigentliche Konstitution des Denkens und der Innerlichkeit, d.h. einer Beziehung in der Unabhängigkeit« (TU 147). Beziehung ist nur zwischen an sich unabhängigen Wesen möglich. Das Eintreten einer Beziehung zwischen Wesen, die eine Totalität um sich aufbauen, muß als traumatisches Ereignis gedacht werden. Es tritt in einem ›Trauma des Staunens‹ auf, das Levinas »als Erfahrung von etwas absolut Fremdem, reine ›Erkenntnis‹ oder ›Erfahrung‹« bezeichnet (TU 100). Sofern »der Genuß der eigentliche Wirbel des Selben« ist (TU 161), und sein Glück also »für seinen Egoismus selbst konstitutiv ist« 120 | norbert fischer

(TU 166), hat die Begegnung mit dem Anderen einen auch schmerzhaften »Bruch der Totalität« (»rupture de la totalité«) zur Folge (TU 166/TI 91). Die Transzendenz des Anderen tritt insofern als Störung der Selbstheit des Ich auf (TU 293): »Der vermeintliche Skandal der Ander[s]heit setzt die ruhige Identität des Selben voraus, eine selbstgewisse Freiheit, die in ihrer Ausübung keine Skrupel kennt und die durch den Fremden nur gestört und begrenzt wird.« Schon im zweiten Paragraphen des ersten Kapitels hatte Levinas gesagt (TU 44): »Das absolut Andere ist der Andere. Er bildet keine Mehrzahl mit mir. Die Gemeinsamkeit, in der ich ›Du‹ oder ›Wir‹ sage, ist nicht ein Plural von ›Ich‹. Ich, Du sind nicht Individuen eines gemeinsamen Begriffs. An den Anderen bindet mich weder der Besitz noch die Einheit der Zahl noch auch die Einheit des Begriffs. Es ist das Fehlen eines gemeinsamen Vaterlandes, das aus dem Anderen den Fremden macht, den Fremden, der das Bei-mirzu-Hause stört.« Diese Analyse der Selbstheit des Ich ist nun der Hintergrund für die Aufgabenstellung des dritten Kapitels. Dessen Kern ist die Darstellung der ›Epiphanie des Anderen‹, die nicht als »Projektion eines Entwurfs« auftreten kann, also »vor jeder Finalität« geschehen muß (TU 228). Sie geschieht laut Levinas durch eine ›Unterweisung‹, als ›enseignement‹ (TU 261/TI 155). Als solche Unterweisung legt Levinas eine ›Rede‹ aus, »in der der Meister dem Schüler beibringen kann, was der Schüler noch nicht weiß« (TU 262). Insofern versteht sich im übrigen der von Kants Sprachgebrauch abweichende Sinn von ›Autonomie‹ und ›Heteronomie‹ bei Levinas, wobei allerdings unentschieden bleibt, ob diese Abweichung gerechtfertigt ist. Immerhin wird Kants Rede von der ›Autonomie des reinen Willens‹ auch heute noch zuweilen mißverstanden.14 Kant spricht sowohl von der »Majestät des Gesetzes (gleich dem auf Sinai)«, das »Ehrfurcht« einflößt (RGV B11 = AA 6,23), als auch von der »Majestät des Gesetzes, welches ihm seine eigene Vernunft vorschreibt« (VTP A 417 = AA 8,402). Was Kant von der »Autonomie des Willens« und »der Autonomie der reinen praktischen Vernunft« sprechen läßt (KpV A 58 f.), ist das »Bewußtsein des moralischen Gesetzes«, das uns – gegen unsere natürlichen Neigungen, die nur zu hypothetischen Imperative führen – zur ›Heiligkeit des Willens‹ verpflichtet (KpV A 57 f.). Wie endliche Wesen, deren Verlangen nach Kant wie nach Levinas ›notwendig‹ darauf Zum Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹ | 121

zielt, ›glücklich zu sein‹ (KpV A 45), dennoch auf das Streben nach Heiligkeit verpflichtet sein können, ist eben die Aufgabe, die Levinas im dritten Kapitel zu lösen versucht.

2. Die ›Epiphanie des Anderen‹ als Eröffnung der Transzendenz im dritten Kapitel Zweifellos versucht Kant, den Charakter der ›Vernünftigkeit‹ dessen zu erweisen, was im ›Bewußtsein des moralischen Gesetzes‹ geboten wird. Klar tritt dies in seiner Formulierung des ›Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft‹ zutage, die zudem an der Formulierung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch in der Metaphysik des Aristoteles orientiert ist. Kants Formulierung dieses Grundgesetzes lautet (KpV A 54): »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Die Formulierung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch, das Aristoteles das sicherste von allen Prinzipien nennt (bebaiota2th a4rch2), lautet (Mp G 1005b19–23): to1 ga1r au4to1 a²ma u3pa2rcein te kaì mh1 u3pa2rcein a4du2naton tö/ au4tö/ kaì kata1 to1 au4to2 (deutsch: »Daß nämlich dasselbe dem-

selben in derselben Beziehung […] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann, das ist das sicherste unter allen Prinzipien«). Kants ›Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft‹ scheint das Aristotelische Grundgesetz der reinen theoretischen Vernunft also lediglich auf das Gebiet der Handlungsregeln zu übertragen. Unklar bleibt aber, warum ein handelndes Subjekt sich nach diesem Grundgesetz richten soll. Im Bereich der Theorie, in dem Aristoteles denkt, ist der Grund der Geltung des Prinzips klar: Wer es mißachtet, muß allen Anspruch auf Wahrheit seiner Aussagen preisgeben. Wer jedoch dem Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft zuwiderhandelt, schützt – wie die von Kant vorangestellten Beispiele lehren – durch Mißachtung des Prinzips vielleicht sogar sein Leben.15 Die bloße Verallgemeinerbarkeit von Maximen mag für handelnde Wesen ein (theoretisches) Vergnügen (oder im Blick auf die Folgen: ein Mißvergnügen) sein: ob diese Verallgemeinerbarkeit aber mit einer Verpflichtung verbunden ist, liegt wenigstens 122 | norbert fischer

vorderhand völlig im Dunklen. Solange der Verpflichtungscharakter des Grundgesetzes nicht klar hervortritt, scheint es in das Belieben der Einzelnen gestellt zu sein, sich an das Gesetz zu halten oder ihm zuwiderzuhandeln. Angesichts seiner Schilderung einer moralisch relevanten Situation, die für einen Menschen lebensbedrohend wird, erklärt Kant dennoch (KpV A 54): »Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.« Warum indessen ein Mensch nur nach verallgemeinerbaren Maximen handeln soll, wird dadurch aber gerade nicht erklärt. Kant selbst nennt ›die Sache befremdlich genug‹, daß »der Gedanke a priori von einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung, der also blos problematisch ist, […] ohne von der Erfahrung oder irgend einem äußeren Willen etwas zu entlehnen, als Gesetz unbedingt geboten« wird (KpV A 55). Um diese Maxime gegen Einwände zu sichern, hält Kant zunächst fest, daß »eine Regel, die blos den Willen in Ansehung der Form seiner Maximen a priori bestimmt, […] nicht unmöglich« ist (ebd.). Was ›nicht unmöglich‹ (also ›denkbar‹) ist, bedarf, um als ›wirklich‹ angenommen werden zu können, einer anderen Stützung. Weil Kant die Notwendigkeit einer solchen Stützung im Rahmen seiner Darstellung des ›Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft‹ nicht im Auge hat, nennt er an dieser Stelle – im Wissen, daß wir jederzeit in moralisch relevante Situationen geraten können – das »Bewußtsein dieses Grundgesetzes« einfach ein »Factum der Vernunft« (KpV A 56). Zur Erklärung fügt er hinzu (ebd.): »Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt.« Weswegen Kant in diesem Zusammenhang nicht auf die Überlegungen eingegangen ist, die er in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als Versuch vorgetragen hatte, den Grund dieses kategorisch geltenden Prinzips abzuleiten und zu rechtfertigen, ist nicht leicht zu beantworten. Vielleicht war ihm aufgefallen, daß er nicht imstande war, den ›Grund‹ des Prinzips nachzuweisen, also den Satz (GMS BA 66 = AA 4,429): »die vernunftige Natur existirt als Zweck an sich selbst«. Dieser Satz, dem gewiß jeder vernünftige Mensch im Zum Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹ | 123

Blick auf seine eigene Person gerne zustimmt und der folglich ein »subjectives Princip menschlicher Handlungen« ist (ebd.), geht erst dadurch in ein objektives moralisches Prinzip über, daß sich »auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt«, vorstellt (ebd.). Daraus erst ergibt sich ›notwendig‹ ein ›praktischer Imperativ‹. Er lautet (ebd.): »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Der Frage, wie dieses nicht unmögliche Gesetz, das uns jedoch als ›Factum‹ bekannt ist und das unsere Eigenliebe einschränkt,16 abzuleiten und zu rechtfertigen ist, scheint sich Levinas nun im dritten Kapitel von Totalité et Infini erneut in phänomenlogischer Methode zugewandt zu haben. Dieses Gesetz tut einerseits unserem subjektivem Verlangen nach Glückseligkeit Abbruch, zielt andererseits aber auf eine Gemeinschaft von Personen, die in ihr ›Zwecke an sich selbst‹ sind. Der bei Kant fehlende Übergang von einem bloß subjektiven Prinzip zu dessen Erfassung als ›Gesetz‹, das unbedingt geltende Imperative hervorbringt, kann bei Levinas gesucht werden, nämlich in dessen Darstellung der ›Epiphanie des Anderen‹, die im ›ersten Wort‹ geschieht. Nach Levinas ›öffnet sich das Sehen auf eine Perspektive‹, auf »einen Horizont«, es »beschreibt einen überbrückbaren Abstand« und »wandelt sich in Zugriff« (TU 273). Um die ›Beziehung‹, die auf ›Unterweisung‹ gründet, verstehen zu können, ist es erforderlich, »Sehen und Sprache, d. h. den Blick und den Empfang des Antlitzes, den die Sprache voraussetzt, zu unterscheiden« (TU 270). Wo sich das Sehen in Zugriff wandelt, kennt die Anschauung »keine Transzendenz«; denn sie »erschließt nichts, was jenseits des Selben absolut anders, d. h. an sich wäre« (TU 274). Folglich drückt der Blick des Anderen (›le visage‹) seine Weigerung aus, in irgendeiner Weise im Gesehenen enthalten zu sein (TU 277): »Der Andere ist nicht anders im Sinne einer relativen Andersheit«, sondern – so könnte man sagen – im Sinne seiner radikalen ›Anderheit‹, die nicht von irgendeiner Qualität abhängt, »die ihn von mir unterschiede« (TU 277 f.). Das Andere, das Transzendenz eröffnet, begegnet im Blick des Anderen (›visage‹), der zu mir spricht und mich so zu einer Bezie124 | norbert fischer

hung auffordert (TU 283). Er, »der mir souverän Nein sagen kann« (TU 285), bleibt für mich völlig unerreichbar und spricht in ursprünglichem Ausdruck das ›erste Wort‹ aus – als Imperativ und auch als Feststellung –, nämlich (ebd.): »Du wirst keinen Mord begehen.« Zwar ist ›der Andere‹ nach Levinas »das einzige Seiende, das ich kann töten wollen« (TU 284). Aber sein unendlicher Widerstand gegen den Mord ist nach Levinas »hart und unüberwindbar«, er »leuchtet im Antlitz« (im Blick) »des Anderen, in der vollständigen Blöße seiner Augen ohne Verteidigung, in der Blöße der absoluten Offenheit des Transzendenten« (TU 285 f.). In dieser ›Epiphanie des Blicks des Anderen‹ geschieht Unterweisung, durch die der Andere mir ohne äußeren Widerstand unüberwindbaren ethischen Widerstand entgegensetzt, da er sich als ›Zweck an sich selbst‹ präsentiert und ihm der Selbstzweckcharakter nicht geraubt werden kann. Das Wort, das der Blick des Anderen spricht, der auch vom Mord nicht überwunden werden kann, ist zugleich ein über den Tod hinausreichendes Angebot zu einer Beziehung im Frieden. Es ist die »erste vernünftige Unterweisung«, die »Bedingung aller Unterweisung« (TU 293).

3. Das ›Jenseits des Antlitzes‹ als Vermittlung von Innerlichkeit und Transzendenz Die ›Epiphanie des Blicks des Anderen‹, in dem sich mir die ›Selbstheit des Ich‹ des Anderen kundtut, der zu mir spricht und der mich unterweist, eröffnet die Transzendenz des Anderen, fordert von mir die Anerkennung des Anderen und ist das Angebot einer friedlichen Beziehung. In unserem alltäglichen Leben hat die Trennung in der Konstitution der ›Selbstheit des Ich‹ schon immer stattgefunden, aber auch die Unterweisung, die der Blick des Anderen hervorruft. Das zweite und das dritte Kapitel waren der Phänomenologie reiner Phänomenbereiche gewidmet, das vierte Kapitel faßt danach die vermischte Gegebenheit ins Auge, wie sie uns begegnet. Bei der Untersuchung dieser gemischten Wirklichkeit stehen Phänomene im Vordergrund, die mit alltäglichen Beziehungen in Verbindung stehen und unter den Titeln ›Liebe‹, ›Eros‹, Fruchtbarkeit‹, ›Kindschaft‹ und ›Brüderlichkeit‹ behandelt werden, wobei im ersten Zum Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹ | 125

Abschnitt in signifikanter Weise die ›Zweideutigkeit der Liebe‹ hervorgehoben wird. Diese Zweideutigkeit hat mit der ›Asymmetrie des Interpersonalen‹ zu tun (TU 311–313), die Levinas auch als ›metaphysische Asymmetrie‹ bezeichnet, nämlich als »radikale Unmöglichkeit, sich von Außen zu sehen und von sich und den Anderen in derselben Weise zu reden«, die sich von der »Unmöglichkeit der Totalisierung« herleitet (TU 67).17 Er betont zwar den Vorrang des Anderen, der Transzendenz eröffnet, erklärt aber auch (TU 307 f.): »In den Augen des Anderen sieht mich der Dritte an – die Sprache ist Gerechtigkeit. Nicht, als ob zuerst das Antlitz da wäre und sich anschließend das Seiende, das sich in ihm manifestiert oder ausdrückt, um Gerechtigkeit kümmerte. Die Epiphanie des Antlitzes als eines Antlitzes erschließt die Menschheit.« Das vierte Kapitel beginnt mit dem Hinweis (TU 366): »Die Beziehung mit dem Anderen hebt die Trennung nicht auf. Sie entsteht nicht im Rahmen einer Totalität; sie stiftet keine Totalität, der sich das Ich und der Andere integrieren würden. Ebenso wenig setzt die Konstellation des Von-Angesicht-zu-Angesicht die Existenz universaler Wahrheiten voraus, in denen die Subjektivität aufgehen könnte und deren Betrachtung genügen würde, um das Ich und den Anderen in eine Beziehung der Gemeinschaft treten zu lassen.« Obwohl die ›Beziehung‹ die Trennung nicht ›aufhebt‹, so daß keine ›Trennung‹ mehr bestünde, obwohl sie also keine neue integrierende ›Totalität‹ ins Werk setzt, hebt sie die ›Trennung‹ doch auf eine andere, höhere Ebene. Auf dieser höheren Ebene sind die Trennung des Selben und die Beziehung zum Anderen in einem doppelten, dialektischen Sinn aufgehoben: einerseits zwar gerettet und aufbewahrt, andererseits aber als ausschließlich gedachte, totalisierende Wirklichkeiten negiert. Zwar beginnt die »Beziehung zwischen mir und dem Anderen […] in der Ungleichheit der Termini, die einander transzendent sind« (TU 366); dennoch entsteht in dieser Ungleichheit Beziehung, in der »der Sprechende selbst mit dem Angesicht zum Angesicht des Anderen« steht (TU 367). Es geht also im vierten Kapitel um die Untersuchung der ›gemeinsamen Ordnung‹, die zunächst die radikale Trennung voraussetzt, sie auch nicht bestreitet, aber auf ein höheres Niveau hebt. Diese »den Gesprächspartnern gemeinsame Ordnung 126 | norbert fischer

er wächst aus dem positiven Akt, der für den Einen darin besteht, dem Anderen die Welt, seinen Besitz, zu geben« (TU 367). Diesen ›positiven Akt‹, der eine Antwort der Güte und der Liebe auf den sprechenden Blick des Anderen ist, der als »der Arme und Fremde, als Witwe und Waise, zugleich aber als Meister« begegnet (TU 366), deutet Levinas als ›Apologie des Selbstseins des Ich‹. Er sagt (TU 367): »Die Apologie ist nicht blinde Bejahung des Selbst, sondern schon Appell an den Anderen. In ihrer unübersteigbaren Bipolarität ist die Apologie das ursprüngliche Phänomen der Vernunft.« Diese ›Apologie‹ geschieht vor dem Hintergrund der ›Asymmetrie des Interpersonalen‹. Levinas sagt (TU 311): »Die Gegenwart des Antlitzes [also: die Gegenwart des Blickes des Anderen], das von Jenseits der Welt kommt, aber mich in der menschlichen Brüderlichkeit bindet, zermalmt mich nicht wie eine numinose Wesenheit, die mich zittern und fürchten läßt.«18 Weil der Blick des Anderen mir als einem getrennten Selbst Transzendenz eröffnet und weil der Blick nach Levinas von ›Jenseits der Welt‹ kommt, ermöglicht er mir auch die Apologie meiner Freiheit und meines Selbstseins. Dies vermag er, wie Levinas sagt, jedoch nur, sofern »diese apologetische Rede in die Güte einmündet« (TU 369). Zwar entwickelt Levinas keine Lehre von den ›Postulaten der reinen praktischen Vernunft‹, aber Kants Gedanken der praktischen Notwendigkeit einer Fortdauer der vernünftigen Freiheitswesen und sein praktisch gegründeter Glaube an das Dasein Gottes haben dennoch eine modifizierte Entsprechung in der Philosophie von Levinas. Am Ende der Einleitung des vierten Kapitels erklärt Levinas noch zuversichtlich (TU 369): »In meinem religiösen Sein bin ich in Wahrheit.« An diese Glaubensüberzeugung fügt er aber die Frage an, ob »die Gewalt, die in Gestalt des Todes in dieses Sein einbricht«, die religiös geglaubte Wahrheit unmöglich mache (TU 369 f.). Zunächst hält er im Blick auf diese Frage fest, daß ohne die ›Subjektivität‹ des getrennten Ich die religiös gedachte Wahrheit gar nicht gesagt werden könnte, daß sich ohne diese Subjektivität »die Wahrheit nicht zu ereignen« vermöchte (TU 370). Immerhin erhebt sich die scharfe Frage (ebd.): »Aber bringt die Gewalt des Todes die Subjektivität nicht zum Schweigen?« Die Antwort knüpft an die Apologie der Subjektivität an: Die Subjektivität könnte, so erklärt Levinas, »empört über die Gewalt Zum Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹ | 127

der Vernunft, die die Apologie zum Schweigen bringt […], nicht nur bereit sein, zu schweigen« und sich gleichsam dem Unverfügbaren unterwerfen (ebd.). Er hält es vielmehr sogar für möglich, daß das getrennte Ich »von sich aus auf sich verzichten, ohne Gewalt verzichten«, also »von sich aus der Apologie ein Ende setzen« könnte und erklärt dazu erläuternd (ebd.): »dies wäre kein Selbstmord, keine Resignation, sondern die Liebe.«19 Und er schließt mit einem Hinweis auf eine andere ›Ebene‹, mit der nur die Wirklichkeit Gottes gemeint sein kann (ebd.): »Wir müssen daher eine Ebene angeben, die die Erscheinung des Anderen im Antlitz gleichzeitig voraussetzt und überschreitet; eine Ebene, auf der das Ich über den Tod hinausgeht und sich über die Rückkehr zu sich selbst erhebt. Diese Ebene ist die der Liebe und der Fruchtbarkeit; hier setzt sich das Subjekt nach Maßgabe dieser Bewegungen.«20 Levinas verweigert sich damit der Postulatenlehre Kants, die für ihn wohl mit der »Unterwerfung unter ein universales Gesetz, das vernünftig sein mag«, zusammenhängt (ebd.). Er verweigert sich, weil diese Lehre der reinen praktischen Vernunft entstammt, weil sie »die Apologie beendet« und »die Wahrheit meines Seins«, die nur durch die Apologie möglich ist, gefährdet. Diese Wahrheit ist nach Levinas nur möglich im ›Geschehen der Transzendenz‹. Er sagt (ebd.): »Das metaphysische Geschehen der Transzendenz – der Empfang des Anderen, die Gastlichkeit – Begehren und Sprache – vollziehen sich nicht als Liebe. Aber die Transzendenz der Rede ist gebunden an die Liebe.« Damit spricht Levinas auch aus seinem religiösen Glauben, der ihn sagen läßt (TU 430): »Die Göttlichkeit wahrt ihren Abstand. Gemäß der Unterscheidung, die Platon im ›Phaidros‹ gemacht hat, ist die Rede Rede mit Gott und nicht mit meinesgleichen. Die Metaphysik ist die Essenz dieser Sprache mit Gott, sie führt über das Sein hinaus.« Nach Levinas sprechen wir, ohne es zu bemerken, unweigerlich mit Gott: durch unseren Lebensvollzug und durch unsere Beziehung zu Anderen. Dieser Beziehung können wir nicht entrinnen.

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Anmerkungen

TI 38: »Aborder quelqu’un à partir des œuvres, c’est entrer dans son intériorité, comme par eff raction.« 2 Er bezieht sich zugleich auf zwei frühere Arbeiten, nämlich erstens Norbert Fischer: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas. Gemeinsam veröffentlicht mit Dieter Hattrup; Kant-Interpretation von Norbert Fischer (13–26 und 47–230); Levinas-Interpretation von Dieter Hattrup (27–46 und 231–351). Zweitens Norbert Fischer: Zur Kritik der Vernunfterkenntnis bei Kant und Levinas. Die Idee des transzendentalen Ideals und das Problem der Totalität. 3 Vgl. TU 44: »Das absolut Andere ist der Andere.« 4 Vgl. conf. 3,11: »tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo.« Also: ›Du aber warst innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes.‹ Diese Stelle korrespondiert mit vera rel. 72 mit der Forderung an das suchende Ich, sich selbst zu übersteigen: »transcende et te ipsum« (also mit der Forderung, sich für den Empfang des Transzendenten zu öff nen) und mit conf. 10,38. Vgl. dazu insgesamt auch SwL: Einleitung, bes. XXI–XXX. 5 Mit diesen Hinweisen sei keine Mäkelei an der großen Leistung von Wolfgang Nikolaus Krewani betrieben: die Aufgabe war schwierig genug und ist im Ganzen auch hervorragend gelöst. Es wäre aber ein Wunder, wenn nicht Diskussionsbedarf geblieben wäre. 6 ›désir‹ kommt von ›desiderium‹: es richtet sich auf Unerreichbares (auf die ›sidera‹), das nur ersehnt, aber nicht begehrt werden kann; vgl. den Wortgebrauch ›desiderium‹ bei Augustinus, z. B. conf. 11,4 mit dem Aufdämmern der Einsicht, daß ein Begehren (›desiderium‹) in ihm wirkte, das mit Irdischem nicht zu stillen war, nicht mit Besitz, Ehre, Macht oder Sinnenlust; vgl. auch AZ: Einleitung XIV f. 7 Dieser Vorschlag geht auf Michael Theunissen (und Ludwig Wenzler) zurück: vgl. Michael Theunissen: Der Andere, 357 u. ö.; Ludwig Wenzler: Zeit als Nähe des Abwesenden. Nachwort zu Emmanuel Levinas: Die Zeit und der Andere, 67–92, hier 69, Anm. 6. 8 Levinas kämpft offenbar wie Heidegger gegen die ›rechnende‹ Vernunft , die sich laut Levinas in der ›Ontologie‹, laut Heidegger aber in der ›Metaphysik‹ dokumentiert. 9 So wie Kant von der ›Allgenugsamkeit‹ oder ›Selbstgenugsamkeit‹ Gottes spricht; vgl. bei Kant z. B. BDG A 42; KpV A 45, 214. 10 Vgl. z. B. Enneade V 3, 15: ἓν πολλὰ, πάντα καὶ ἕν. 11 Vgl. dazu Norbert Fischer: Autonomie und Heteronomie im Denken von Kant und Levinas. In: ›Kant et la France – Kant und Frankreich‹. 12 Insofern kann auch das von Levinas betriebene Vorhaben unter den Titel einer transzendentalen Phänomenologie gestellt werden. 1

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Vgl. auch den Beitrag von Clemens Schwaiger: Kants Apologie der Sinne. Die Erfindung der ›transzendentalen Ästhetik‹ im Kontext ihrer Zeit. In: KGkM 51–64. 14 Mißverstanden wird sie von Kantkritikern wie Giovanni B. Sala, von Kantbefürwortern wie Uwe Justus Wenzel (vgl. KMR: Einleitung, XX, Fn 10). 15 Vgl. KpV A 54; Kant fragt dort, ob einer, der vom Anspruch des moralischen Gesetzes getroffen worden ist, »so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen.« 16 Vgl. KpV A 129 f.: »Alle Neigungen zusammen (die auch wohl in ein erträgliches System gebracht werden können, und deren Befriedigung alsdann eigene Glückseligkeit heißt) machen die Selbstsucht (solipsismus) aus. Diese ist entweder die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst (Philautia), oder die des Wohlgefallens an sich selbst (Arrogantia). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendünkel. Die reine praktische Vernunft thut der Eigenliebe blos Abbruch, indem sie solche, als natürlich und noch vor dem moralischen Gesetze in uns rege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze einschränkt; da sie alsdann vernünftige Selbstliebe genannt wird. Aber den Eigendünkel schlägt sie gar nieder, indem alle Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohne alle Befugniß sind, indem eben die Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem Gesetze übereinstimmt, die erste Bedingung alles Werths der Person ist (wie wir bald deutlicher machen werden) und alle Anmaßung vor derselben falsch und gesetzwidrig ist.« 17 Vgl. dazu auch Dieter Hattrup: MAA, 252–264 (§ 14: Die Asymmetrie des Selben und des Anderen); zur Bedeutung des ›Dritten‹ vgl. dort § 14.3 (MAA 263 f.). 18 Vgl. auch die zwiespältig zu verstehende Stelle (TU 328): »Die Trennung sieht sich in eine Ord nung aufgenommen, in der sich die Asym metrie der interpersonalen Beziehung einebnet; in ihr werden das Ich und der Andere im Handel austauschbar; in der Geschichte erscheint der besondere Mensch, die Individuation der Gattung Mensch, und setzt sich an die Stelle des Ich und des Anderen.« 19 Vgl. dazu TU 422: »Das entsagungsreiche Glück der Güte würde seinen Sinn verkehren und sich selbst pervertieren, wenn es uns mit Gott verschmölze.« 20 Vgl. auch TU 430 f.: »Der Ausdruck oder das Antlitz geht über die Bilder hinaus, die meinem Denken immer immanent sind, als kämen sie von mir. Dieses Überschreiten, das nicht auf ein Bild des Überschreitens zurückgeführt werden kann, ereignet sich nach dem Maß – oder Unmaß – des Begehrens und der Güte als die moralische Asymmetrie zwischen mir und dem Anderen. Der Abstand von dieser Exteriorität erstreckt sich sogleich nach oben. Das 13

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Auge kann die Höhe nur dank der Position, dank der aufgerichteten Haltung, wahrnehmen, die Position macht als Ausrichtung von oben nach unten den elementaren Tatbestand der Moral aus.«

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– Johannes Brachtendorf –

Der Andere als metaphysisches Prinzip in Levinas’ ›Totalität und Unendlichkeit‹ 1. Einleitung Dieser Aufsatz ist ein Versuch, Levinas’ Totalität und Unendlichkeit als Entwurf einer Metaphysik im traditionellen Sinne einer ersten Philosophie zu deuten.1 Der Metaphysik geht es darum, die Wirklichkeit aus Prinzipien, wenn möglich aus einem einzigen Prinzip heraus, verständlich zu machen. Zumeist wird dabei Gott als Grund von allem in Anschlag gebracht. Meines Erachtens nimmt Levinas das klassische Metaphysikprojekt auf, verleiht ihm aber ein besonderes Profil. Dieses Profil bestimmt sich erstens negativ, nämlich durch Levinas’ Kritik an der Transzendentalphilosophie, genauer: an einer idealistisch oder subjektivistisch verstandenen Transzendentalphilosophie, die in Levinas’ Verständnis sowohl Kant und Hegel als auch Husserl und Heidegger einschließt.2 Die Transzendentalphilosophie beruht auf dem Gedanken, daß Gegenstände nur als vom Ich ›entworfene‹ oder ›konstituierte‹ möglich sind. Welt ist demnach ein Korrelat bzw. ein Konstitutionsprodukt transzendentaler Subjektivität. Daher hat eine Fundamentalphilosophie, die uns die Wirklichkeit erklären will, als Analyse der Subjektivität anzusetzen, nämlich als ›transzendentale Analytik des reinen Verstandes‹, wie Kant es in der Kritik der reinen Vernunft formuliert, oder als ›existenziale Analytik des Daseins‹ in Heideggers Sein und Zeit. Doch schon seit dem frühen 20. Jahrhundert wird der Einwand erhoben, der Konstitutions- oder Korrelationsgedanke möge zwar zur Erklärung von Gegenständen der Erfahrung zureichen, doch der Andere – als anderer Mensch – sei kein vom Ich konstituierbarer Gegenstand. Den Anderen erfahre man nicht wie einen Gegenstand, sondern man begegne ihm. Er stehe nicht innerhalb des vom transzendentalen Ich erschlossenen, umgrenzten und strukturier| 133

ten Bewußtseinsfeldes, sondern komme von außen. Die bereits von Autoren wie Buber und Rosenzweig gegen die transzendentale Phänomenologie Husserls behauptete Exteriorität des Anderen ist auch für Levinas ein Zentralthema. Zweitens liegt das Spezifikum von Totalität und Unendlichkeit positiv darin, daß Levinas den Anderen aufgrund seiner Exteriorität zum metaphysischen Prinzip erhebt, durch das die transzendentale Subjektivität nicht nur eine Begrenzung von außen erfährt, sondern auch eine Fundierung. Diese Prinziphaftigkeit des Anderen versucht Levinas vor allem am moralischen Bewußtsein aufzuzeigen. Von der zu erbringenden Begründungsleistung her rückt der Begriff des Anderen somit in die Nähe oder gar an die Stelle des klassischen Gottesbegriffs. Insgesamt verfolgt Levinas also ein Metaphysikprojekt. Dabei kritisiert er erstens die Transzendentalphilosophie, weil sie der Exteriorität des Anderen nicht gerecht werde, und zweitens macht er den Anderen in seiner Exteriorität zum Prinzip des Ich und seiner Welt.

2. Die sokratische und die cartesische Ordnung Levinas schreibt über sein Buch Totalität und Unendlichkeit (TU 262): »Die ganze vorliegende Arbeit hat nur die eine Bemühung, das Geistige gemäß der cartesischen Ordnung darzustellen; sie geht der sokratischen Ordnung voraus.« Er unterscheidet also erstens einen sokratischen Ansatz in der Metaphysik von einem cartesischen, und behauptet zweitens einen Vorrang des cartesischen Ansatzes vor dem sokratischen. Im folgenden soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden, was Levinas mit der sokratischen Ordnung meint, nämlich an der Vernunftkritik Kants und an der Existenzialanalytik Heideggers.3

2.1 Die sokratische Ordnung – Kritik der Transzendentalphilosophie als ›Ontologie‹ Der sokratischen Ordnung zufolge liegt das Wissen um die apriorischen Prinzipien, nämlich die Ideen, in jedem Menschen bereit. Die Aufgabe des Lehrers besteht deshalb nur darin, dieses Wissen ans 134 | johannes brachtendorf

Licht zu heben und demjenigen, der es unbewußt schon besitzt, zu Bewußtsein zu bringen. Dies ist die berühmte Maieutik, die Hebammenkunst, wie Sokrates sie am deutlichsten in Platons Menon vorführt. In der Transzendentalphilosophie bzw. der ›Ontologie‹ (in seinem Sinne) sieht Levinas die gleiche Grundvorstellung am Werk. Der Mensch, so die Grundthese der Transzendentalphilosophie, hat ein apriorisches Wissen um die Prinzipien der Wirklichkeit, seien dies Kantische Kategorien, seien es Heideggersche Existenzialien, und in allem Erkennen oder Verstehen von Wirklichem stößt er auf diese Prinzipien, weil er selbst sie zuvor in die Wirklichkeit hineingelegt hat. Grundsätzlich ist alle Realität im Lichte dieser Prinzipien verstehbar, weil sie durch diese Prinzipien erst zur Realität für uns wird. Levinas schreibt (TU 53): »Das Ideal der sokratischen Wahrheit beruht also auf der essentiellen Genügsamkeit des Selben, auf seiner Identität als Selbst, auf seinem Egoismus.«

2.1.1 Kants Idee transzendentaler Subjektivität Zwar hat Levinas sich nie eingehend mit Kant auseinandergesetzt, doch läßt sich am Beispiel der Kritik der reinen Vernunft verdeutlichen, worauf Levinas’ Kritik an der Transzendentalphilosophie zielt. Nach Kant ist Metaphysik als Lehre vom Seienden im Allgemeinen als transzendentale Analytik des reinen Verstandes zu fassen. Aussagen über die ontologische Struktur der Dinge sind nur dann möglich, wenn man unterscheidet zwischen einer empirischen Ebene, auf der die Erkenntnis sich nach den Dingen richtet, und einer transzendentalen Ebene, auf der der Verstand die Dinge allererst konstituiert. In der Erfahrung (a posteriori) begegnen uns Dinge so, wie wir sie kraft des reinen Verstandes vor aller Erfahrung (a priori) gemacht haben. Will die Metaphysik zeigen, wie Gegenstände der Erfahrung allgemein und notwendigerweise sind, dann muß sie die apriorischen Konstitutionshandlungen des reinen Verstandes analysieren. Die Konstitution bezieht sich nach Kant nicht auf die empirischen Qualitäten des Seienden, diese werden vielmehr als Material der Anschauung gegeben, sondern auf die Formung des Materials zu gegenständlichen Einheiten gemäß den Kategorien: Einheit, Vielheit, Substanz-Akzidenz, Kausalität etc. Der Andere als metaphysisches Prinzip in … | 135

Der berühmte Geltungsbeweis für die Kategorien, den Kant gegen Humes empiristische Kritik führt, besagt, daß Erfahrungsgegenstände notwendigerweise und immer kategorial ansprechbar sind, weil wir sie selbst vor der Erfahrung gemäß den Kategorien geformt haben. Ohne diese transzendentale Konstitution wären sie als Gegenstände der Erfahrung gar nicht möglich, unsere Welt wäre ein strukturloses Meer von Empfindungsqualitäten – weniger als ein Traum. Kant beschreibt die Prozesse transzendentaler Konstitution als synthetische Handlungen des Ich. Empfindungsqualitäten werden zusammengefaßt und synthetisiert, und zwar auf zwölf verschiedene Weisen, so viele Weisen, wie es Kategorien gibt. Denken heißt für Kant primär, Synthesen herstellen. Die kategorialen Synthesishandlungen stehen ihrerseits wieder unter einem höchsten Prinzip, an dem Kant zufolge die gesamte Transzendentalphilosophie hängt. Er nennt dies die ›ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption‹ (KrV B 135); man spricht auch vom transzendentalen Ich. Ein Ich zu sein, impliziert Selbstbewußtsein, und Selbstbewußtsein ist ein Prozeß des sich auf sich Beziehens und sich mit sich Vermittelns, d. h. ein Vorgang des Synthetisierens. Diese synthetische Struktur des transzendentalen Ich prägt nach Kant das gesamte Bewußtsein des Ich. Bewußtseinsinhalte sind nur dadurch für das Ich, daß sie durch dessen synthetisierende Handlungen in das Bewußtseinsfeld aufgenommen werden. Im Dienste seiner eigenen Synthesis-Struktur vollzieht das transzendentale Ich kategoriale Denkhandlungen am Anschauungsmaterial, durch die allererst Gegenstände für das Ich, d. h. Gegenstände des Bewußtseins, möglich werden. Somit ist der Gegenstand das, als was er vom transzendentalen Ich a priori konstituiert wird. Levinas deutet den transzendentalen Ansatz der Ersten Philosophie so, daß er auf einen Primat des Selben vor dem Anderen hinauslaufe. In der Tat, nach Kant gilt, daß die Wirklichkeit deshalb für uns verstehbar, d. h. kategorial als Einheit, Substanz, Ursache etc. ansprechbar ist, weil wir in diesen Strukturen uns selbst begegnen, nämlich jenen Synthesishandlungen, mittels derer wir kraft der synthetischen Einheit, die wir selbst als Ich sind, das Seiende (als Gegenstand der Erfahrung) konstituieren. In aller Erfahrung erfahren wir immer auch uns selbst. Wenn Kant sagt (KrV B 131): 136 | johannes brachtendorf

»Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können«, so heißt dies nach Levinas, daß das Ich in aller Verschiedenheit der Vorstellungen mit sich identisch ist, weil es eine ursprüngliche Leistung der Selbst-Identifikation vollzieht. Kants ›Ich denke‹ interpretiert Levinas als ›Ich kann‹ im Sinne von: Ich kann im Namen meiner ursprünglich-synthetischen Einheit das Andere zu einer Welt für mich seiender Dinge formen, in der ich mich stets wiedererkenne, oder: Ich kann das Fremde verstehen, indem ich es mir zu eigen mache. Ontologie, so sagt Levinas, zielt auf das Verstehen des Seienden, und dieses Verstehen vollzieht sich in der Transzendentalphilosophie als Reduktion des Anderen auf das Selbst (vgl. TU 50). Levinas’ Ausdruck ›Ich kann‹ zielt auf diese Fähigkeit zur Reduktion, die er auch als ›Freiheit‹ des Ich bezeichnet.4

2.1.2 Heidegger – das Dasein als Prinzip des Seins Levinas’ Kritik an der sokratischen Ordnung richtet sich besonders gegen Heideggers Sein und Zeit.5 Die allgemeine Kennzeichnung des transzendentalen Denkens als ›Ontologie‹ gewinnt Levinas in der Auseinandersetzung mit der von Heidegger selbst so genannten ›Fundamentalontologie‹. In der Tat weist Heideggers Sein und Zeit transzendentalphilosophische Züge auf, vor allem in der Generalthese, die besagt: Wer die Frage nach dem Sinn von Sein beantworten will, muß das Seinsverstehen des Daseins untersuchen. In Heideggers technischer Ausdrucksweise: Eine existenziale Analytik des Daseins muß vorgenommen werden. Das Sein zu verstehen ist nach Heidegger Wesensmerkmal des Daseins. Eine Analyse des Daseins führt daher zu den Prinzipien seines Seinsverstehens. Weil aber Sein das ist, als was es vom Dasein verstanden wird, führt die Daseinsanalyse zu einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein. Konkret heißt dies: Dasein versteht sich selbst und anderes Seiendes vom Sein, d. h. von der jeweiligen Seinsweise her. Es erkennt sich selbst als Existierendes, Gebrauchsdinge als Zuhandenes und bloß Vorliegendes als Vorhandenes. Diese Seinsweisen sind nach Heidegger wiederum als Manifestationen der Zeitlichkeit zu deuten. Denn insofern das Dasein vorlaufend auf sich zurückkommend bei den Dingen ist, ist es zutiefst zeitDer Andere als metaphysisches Prinzip in … | 137

lich im Sinne einer existenzialen Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart (vgl. SuZ §§ 67-71). Demnach versteht das Dasein das Seiende vom Sein (d. h. den Seinsweisen) her, und das Sein wiederum vom Horizont der Zeit her. Statt von Verstehen spricht Heidegger auch vom ›Entwerfen‹ des Seienden auf das Sein und des Seins auf die Zeit. Die Zeitlichkeit wird aber nicht noch einmal von einem weiteren Horizont her verstanden bzw. auf ihn hin entworfen. Sein und Zeit ist bekanntlich nicht vollendet worden. Von den geplanten drei Abschnitten des ersten Teils ist der dritte mit dem vorgesehenen Titel Zeit und Sein nicht publiziert worden, und der zweite Teil, der eine Destruktion der Geschichte der Ontologie enthalten sollte, fehlt ganz. Allerdings vermittelt Heideggers Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie von 1927 einen Eindruck dessen, was in den fehlenden Stücken von Sein und Zeit hätte dargelegt werden sollen. Hier erklärt Heidegger, daß Zeitlichkeit als Grundlage der Seinsweisen des Seienden letztlich auf einen ursprünglichen ›Selbstentwurf‹ des Daseins zurückgehe. Da das Dasein Seiendes von seinem Sein her versteht und das Sein von der Zeit her, gilt, daß der Sinn von Sein die Zeit ist. Die Zeit ist aber existenzial zu deuten als ›Temporalität‹, d. h. als ein sich selbst Zeitigen des Daseins.6 Somit ergibt sich eine ganz ähnliche Konsequenz wie bei Kant. Dasein versteht Seiendes, weil es in dessen Sein letztlich sich selbst begegnet. Es ist ja die eigene fundamentale Zeitlichkeit, die das Dasein in allem Welt- und Selbstverstehen wiederfindet. Obwohl Levinas sich nicht ausdrücklich auf die Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie bezieht, lassen sich an diesem Text doch diejenigen Tendenzen im Denken Heideggers aufweisen, die Levinas veranlassen, allen anderslautenden Erklärungen Heideggers zum Trotz Sein und Zeit einen subjektivistischen Charakter zuzuschreiben. Levinas schreibt (TU 54): »›Sein und Zeit‹ hat vielleicht nur eine These vertreten: Das Sein ist vom Seinsverständnis (das sich als Zeit entfaltet) untrennbar, das Sein ist schon Anruf der Subjektivität.« Anruf der Subjektivität ist das Sein insofern, als das Dasein sich selbst der Horizont ist, vor dem es Sein versteht. In diesem Sinne kann Levinas schreiben (TU 55): »Die Beziehung mit dem Sein, die sich als Ontologie abspielt, besteht darin, das Seiende zu neutralisieren, um es zu verstehen oder zu erfassen. Sie ist daher keine Beziehung zum Anderen als einem solchen, sondern 138 | johannes brachtendorf

die Reduktion des Anderen auf das Selbe.« Levinas’ Behauptung der Reduktion des Anderen auf das Selbe erscheint insofern begründet, als sowohl bei Kant als auch bei Heidegger die transzendentalphilosophisch konzipierte Ontologie ihr Fundament in der These hat, daß der Erkennende im Anderen letztlich sich selbst erkennt. Die Spontaneität in den Konstitutionshandlungen des transzendentalen Ich sowie in der ursprünglichen Selbstzeitigung des Daseins führt Levinas zur Charakterisierung der Ontologie als einer Philosophie, die auf dem Prinzip des ›Ich kann‹ und der ›Freiheit‹ beruht.

2.2 Die cartesische Ordnung Mit dem Begriff der cartesischen Ordnung zielt Levinas auf den Gottesbeweis der Dritten Meditation Descartes’.7 Dort argumentiert Descartes, daß alle Menschen eine Idee des Unendlichen und Vollkommenen besitzen, die sie aber nicht aus sich selbst heraus gebildet haben können. Vielmehr muß sie ihnen von Gott als unendlichem und vollkommenem Wesen eingegeben worden sein. Dieses Wesen muß also tatsächlich existieren. Levinas interessiert sich weniger für den Gottesbeweis, den er nicht für sonderlich geglückt hält, als für den Gedanken, daß Descartes über die Idee des Unendlichen eine Verbindung herstellt zwischen dem denkenden Ich und dem Unendlichen selbst, das als solches das Fassungsvermögen der res cogitans übersteigt (TU 62): »Der cartesische Gedanke der Idee des Unendlichen bezeichnet das Verhältnis zu einem Seienden, das seine vollständige Exteriorität in Bezug auf den bewahrt, der es denkt. Er bezeichnet die Berührung des Unberührbaren, eine Berührung, die die Unversehrtheit des Berührten nicht gefährdet.« Hier wäre ein Fall gegeben, und zwar der einzige Fall, in dem das Denken/ Erkennen/Verstehen nicht zu einer Assimilierung des Anderen an das Selbe, oder zu einer Interiorisierung des Anderen in den Verstehensbereich des Ich führt, sondern in dem die Exteriorität des Anderen gewahrt bleibt. Durch die Idee des Unendlichen ist das Ich zwar auf das Unendliche selbst bezogen, doch bleibt dieses seinem Erkennen zugleich entzogen. Dies nennt Levinas in der zitierten Passage ›Berührung des Unberührbaren‹.8 Die cartesische Ordnung unterscheidet sich also von der sokratischen Ordnung dadurch, daß Der Andere als metaphysisches Prinzip in … | 139

sie eine Beziehung zu einem absoluten Außerhalb zuläßt, während die letztgenannte nur ein Innerhalb kennt und deshalb eine ›Ontologie‹ darstellt.

3. Schöpfungsmetaphysik und metaphysischer Pluralismus Welches Metaphysikkonzept entwickelt Levinas selbst aus der cartesischen Ordnung? Generell gilt, daß Levinas weder einer radikalen Transzendenz des Absoluten zuneigt, wie sie etwa in der Tradition der negativen Theologie behauptet wird, noch einer Alleinheitslehre das Wort redet, wie sie von Parmenides begründet wurde. Levinas unterscheidet drei Arten von Philosophie, nämlich die Philosophie der Transzendenz, die Philosophie der Immanenz und die von ihm selbst geforderte ›eigentliche Metaphysik‹, die zwischen beiden liege (vgl. TU 66). Die Philosophie der Transzendenz ziele auf eine mystische Erhebung im Sinne einer Verabschiedung vom diesseitigen Leben, weil das wahre Leben woanders sei. Dagegen behaupte die Philosophie der Immanenz, daß das Ich alle Andersheit aneignen könne, so daß diese zumindest am Ende der Geschichte erlösche – hier ist offenbar Hegel gemeint. Die ›eigentliche Metaphysik‹ wollte jedoch – im Gegensatz zur Philosophie der Transzendenz – innerhalb der irdischen Existenz des Menschen eine Beziehung mit dem Anderen, d. h. dem Absoluten beschreiben, und diese Beziehung solle – im Gegensatz zur Philosophie der Immanenz – nicht auf eine göttliche oder menschliche Totalität hinauslaufen (vgl. ebd.). Es geht also um eine Verbindung von solchem, das unaufhebbar different bleibt, oder in Levinas’ Terminologie: um die ›Nähe‹ von solchem, das sich in unendlichem Abstand befindet. An anderer Stelle ordnet Levinas seine Metaphysik zwar eher dem Transzendenzmodell zu, unterscheidet aber mehrere Weisen der Transzendenz, wobei vor allem der Partizipationsgedanke negativ hervorgehoben wird. Die Partizipationslehre, wie sie sich bei Platon, aber auch bei Thomas von Aquin findet, setzt das Diesseitige und das Transzendente in ein Verhältnis der Teilhabe. Alles endliche Seiende hat demnach sein Sein nur dadurch, daß es an Gott als dem subsistierenden Sein selbst teilhat. Levinas sieht in der Partizipation ein immer noch zu enges Verhältnis zwischen beiden Gliedern, also zu viel Nähe und 140 | johannes brachtendorf

zu wenig Abstand. Er schreibt (TU 60): »Bei der Partizipation ist die Transzendenz schon untergetaucht in dem Sein, zu dem das Seiende strebt, das Sein hält das transzendierende Seiende in unsichtbaren Fängen, als wolle es ihm Gewalt antun.« Levinas meint, mit dem Gedanken der Transzendenz als Berührung des Unberührbaren, als unendlichem Abstand trotz Nähe, als Unmittelbarkeit bei absoluter Differenz, dem Schöpfungsgedanken philosophisch Rechnung tragen zu können. Denn die Idee einer creatio ex nihilo besage, daß das Geschaffene gegenüber dem Schöpfer ein absolut Anderes sei (vgl. TU 81; 123). Levinas sagt (TU 149): »[…] die Idee der creatio ex nihilo drückt eine Mannigfaltigkeit aus, die nicht in einer Totalität geeint ist. […] Die Schöpfung aus Nichts zerbricht das System, sie setzt ein Seiendes außerhalb jeden Systems […].« Mit der Anlehnung an die creatio ex nihilo erteilt Levinas den Alleinheitslehren Parmenides’, Spinozas und Hegels, denen zufolge die Differenz bloß ein auflösbarer Schein sei, eine klare Absage. Doch der Sache nach weist Levinas auch die Lösung des Thomas von Aquin zurück, auch wenn dieser namentlich nicht erwähnt wird (ebd.): »Das Wesentliche der geschaffenen Existenz besteht nicht im begrenzten Charakter seines Seins, und die konkrete Struktur der Kreatur leitet sich nicht aus dieser Endlichkeit ab. Das Wesentliche der geschaffenen Existenz liegt in ihrer Trennung vom Unendlichen.« Nach Thomas besteht die Endlichkeit der geschaffenen Seienden aber gerade darin, daß sie einen endlichen Seinsakt vollziehen, in dem sie am unendlichen Seinsakt Gottes partizipieren (vgl. S.c.g. I,22). Levinas will kein Analogieverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem (TU 107), auch keine analogia entis (TU 110 f.), die im Mittelalter doch gerade dazu diente, trotz der grundsätzlichen Verschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf eine Verbindung beider zu erhalten, die es ermöglicht, überhaupt von Gott zu sprechen. Nach Thomas meint das Sein Gottes keineswegs das Gleiche wie das Sein der Dinge, aber bei aller je größeren Unähnlichkeit besteht doch eine gewisse Ähnlichkeit, die es uns endlichen Wesen, deren Sprache der erfahrbaren Welt angemessen ist, erlaubt, die Worte unserer Sprache in modifiziertem Sinn auf Gott anzuwenden. Levinas lehnt jedoch unter Berufung auf seinen Kronzeugen Descartes die Analogielehre ab (TU 110): »Denn Descartes bestätigt, daß der Sinn, in dem der Terminus ›Sein‹ auf Gott Der Andere als metaphysisches Prinzip in … | 141

und auf die Kreatur angewandt wird, äquivok ist.« Nach Levinas ist Sein kein analoger Begriff, wie Aristoteles und Thomas meinten, sondern ein äquivoker Begriff. Demnach haben das Sein Gottes und das Sein der Dinge keine größere Ähnlichkeit als die Bank im Sinne einer Sitzgelegenheit mit der Bank im Sinne eines Geldinstituts. Gott und Welt stehen nach Thomas zwar ebenso in unendlichem Abstand wie der Andere und der Selbe nach Levinas. Dennoch ist es nach Thomas möglich, von der Welt her andeutungsweise über Gott zu sprechen, weil Gott die Welt geschaffen und so seine Spuren in ihr hinterlassen hat. Levinas scheint diese Möglichkeit des analogen Redens über den Anderen nicht zulassen zu wollen. Allerdings sieht Levinas in Platons Idee des Guten (vgl. Politeia 508e–509b) einen geeigneten philosophiegeschichtlichen Anknüpfungspunkt, und zwar deswegen, weil das Gute dem Sein gegenüber transzendent sei, nämlich e4pe2keina th/@ ou4sía@ – jenseits des Seins (vgl. TU 111; 146). Die Idee des Guten hätte nach Levinas das Fundament für eine pluralistische Philosophie abgeben können, die nicht auf dem Totalitätsgedanken beruht. Für Levinas, der das Seinsdenken als Totalitätsdenken deutet, ahnt Platon den Gedanken, daß die Totalität ein Jenseits zuläßt (vgl. TU 146). Das Gute ist jenseits des Seins. Deswegen ist es für Levinas nicht Gegenstand eines Bedürfnisses und befriedigt kein Streben des Ich. Es ist nicht Gegenstand einer Erschließung durch das Dasein, sondern es offenbart sich. Levinas schreibt (TU 146 f.): »Der Platz des Guten oberhalb jeder Art von Wesen ist die tiefste, die endgültige Lehre […] der Philosophie.« Allerdings handelt es sich bei dieser philosophischen Lehre Levinas zufolge um ein Paradox, nämlich das »Paradox eines Unendlichen, das außerhalb von sich ein Seiendes zuläßt, das es nicht in sich absorbiert – eines Unendlichen, das dank dieser Nachbarschaft zu einem getrennten Seienden gerade seine Unendlichkeit vollzieht – mit einem Wort, das Paradox der Schöpfung« (ebd.). Dieses Paradox verliere jedoch an Schärfe vor dem Hintergrund der These Platons, daß die Transzendenz (als Idee des Guten) die Totalität (des Seins) überschreite. Levinas kann den Schöpfungsgedanken auch im Sinne einer Selbstbeschränkung des Unendlichen formulieren (TU 148): »Das Unendliche ereignet sich, indem es in einer Kontraktion auf die Ausbreitung zu einer Totalität verzichtet und damit 142 | johannes brachtendorf

dem getrennten Seienden einen Platz läßt. So zeichnen sich Beziehungen ab, die einen Weg aus dem Sein hinaus bahnen. Ein Unendliches, das sich nicht kreisförmig mit sich zusammenschließt, sondern sich aus dem ontologischen Raum zurückzieht, um einem getrennten Seienden einen Platz zu lassen, existiert göttlich. Es stiftet oberhalb der Totalität eine Gemeinschaft.« Nach Levinas nimmt das Unendliche also eine Selbst-Verendlichung vor, um einem Anderen Platz zu lassen. Dieses Andere ist das Selbe, das bei sich zu Hause ist und eine Totalität des Seins konstituiert. Doch aus dieser Totalität heraus führen Wege zum Unendlichen, die eine Verbindung des Selben mit dem kontrahierten Unendlichen ermöglichen. So wird die Unendlichkeit nicht zur Alleinheit, sondern zur Stiftung der Gemeinschaft mit einem Getrennten (ebd.): »Die Beziehungen, die zwischen dem getrennten Seienden und dem Unendlichen entstehen, machen wieder gut, was in der schöpferischen Kontraktion des Unendlichen an Minderung lag. […] Die Gemeinschaft mit Gott ist weder eine Zutat zu Gott noch ein Verschwinden des Intervalls, das Gott vom Geschöpf trennt. […] Die Begrenzung des schöpferischen Unendlichen und die Mannigfaltigkeit – sind mit der Perfektion des Unendlichen vereinbar. Sie artikulieren den Sinn dieser Perfektion«. Die Gemeinschaft mit Gott nennt Levinas ›Religion‹.9

4. Das Andere als der Andere Das absolut Andere, das Transzendente und Unendliche, ist nach Levinas der Andere (TU 44): »Das absolut Andere ist der Andere«. Damit stellt er die Verbindung zu einer Debatte in der Sozialphilosophie her, die im frühen 20. Jh. intensiv geführt wurde.10 Hier ging es um die Stellung des Anderen als des anderen Menschen. Wenn das weltkonstituierende Ich mit dem je einzelnen Ich identifiziert wird, ergibt sich die unerwünschte Konsequenz, daß der Andere, also das Du, zu einem Konstitutionsprodukt oder einem bloßen Korrelat des Ich wird. Die Beziehung des Ich zum Du wird dann asymmetrisch in dem Sinne, daß das Ich Prinzip des Du und dieses somit vom Ich abhängig wird, statt ihm in eigenem Recht gegenüber zu stehen. Der zentrale Text des 20. Jhs. zu dieser Problematik ist wohl die fünfte von Husserls Cartesianischen Meditationen. Für Der Andere als metaphysisches Prinzip in … | 143

gewöhnlich wird Husserls Theorie transzendentaler Konstitution des Anderen als jener sozialphilosophische Sündenfall gesehen, demzufolge der Andere eben nur eine Seinsgeltung beanspruchen kann, die ihm vom transzendentalen Ich verliehen wurde.11 Levinas wendet sich gegen Husserl, weil eine Beziehung mit dem Anderen grundsätzlich zu unterscheiden sei von der Objektkonstitution (vgl. TU 90). Diejenige Gestalt, die die phänomenologische Sozialphilosophie in Heideggers Sein und Zeit annimmt, insbesondere im Existenzial des Mit-seins (vgl. SuZ § 26), verdient nach Levinas zwar den Vorzug gegenüber Husserl, weil hier klar werde, daß das Dasein von seiner Seinsweise her, und daher ›immer schon‹, auf anderes Dasein ausgerichtet und bezogen ist. Als Mitseiendes ist der Andere grundsätzlich von Seiendem anderer Seinsart, etwa dem Vorhandenen und Zuhandenen, über das ich verfügen kann, unterschieden. Dennoch weist Levinas Heidegger auch an dieser Stelle zurück, weil der Andere als Seiendes vom Typ Mitsein auf sein Sein hin verstanden, d. h. vor dem Horizont des Seins gedeutet wird. Dieser Horizont des Seins ist aber, wir wissen es schon, seinerseits vor dem weiteren Horizont der Zeitlichkeit als dem ursprünglichen Selbstentwurf des Daseins zu sehen. Somit hat der Andere, gedeutet als Mitseiender, nach Levinas doch wieder nur einen Ort in der Totalität des Seins und wird vom Selbstentwurf des Daseins abhängig. Weil Heidegger den Anderen als Mitseienden in das Sein einbezieht und somit seine Exteriorität verkennt, denunziert Levinas die sogenannte Ontologie als »Philosophie der Macht« und der »Ungerechtigkeit«, die der »Tyrannei des Staates« zuarbeite (vgl. TU 55 f.). Levinas verlangt im Namen der ›Gerechtigkeit‹, die Abhängigkeit des Anderen vom Selben, die er bei Husserl und Heidegger gegeben sieht, aufzuheben. Doch er fordert nicht etwa eine Gleichstellung beider, sondern – umgekehrt wie bei Heidegger – die Anerkennung der Herrschaft des Anderen über das Selbe. Nach Levinas besteht zwischen dem Ich und dem Anderen keine Reziprozität (TU 44): »Er [sc. der Andere] bildet keine Mehrzahl mit mir. […] Ich, du sind nicht Individuen eines gemeinsamen Begriffs.« Ich und Du sind Levinas zufolge nicht zwei Menschen, denen aufgrund ihres gemeinsamen Menschseins gleiche Würde und gleiche Rechte zukämen (ebd.): »[…] ich bin, wie er, ohne genus. Wir sind der 144 | johannes brachtendorf

Selbe und der Andere«. Der Selbe und der Andere sind nicht Wesen der gleichen Art. Sie fallen nicht unter einen gemeinsamen Begriff, sondern sie stehen in einem unendlichen Abstand. Zudem ist das Verhältnis radikal asymmetrisch (TU 328): »Das Ich ist nicht im selben Sinne transzendent im Verhältnis zum Anderen, wie der Andere transzendent ist im Verhältnis zu mir.« Der Selbe ist endlich, der Andere ist das Unendliche. Aufgrund dieser Asymmetrie gilt nach Levinas, daß der Andere kein Du ist, sondern ein Sie (TU 144): »Er offenbart sich in seiner Herrlichkeit. Die Exteriorität fällt also mit einer Herrschaft zusammen.« Exteriorität bedeutet Herrschaft des Anderen über den Selben, des ›Sie‹ über das Ich. Man muß deutlich sehen, wie groß die Differenz Levinas’ zur traditionellen Philosophie hier ist. Diese hat im anderen Menschen stets ein endliches Wesen gesehen, dem Rechte und Pflichten zukommen, weil es der Gattung Mensch angehört, und weil es als Geschöpf ebenso unter Gott steht wie alle anderen Menschen. Augustinus etwa fordert dazu auf, den Anderen wie auch sich selbst um Gottes willen und in Gott zu lieben (doct. chr. 1,20.28.39). Immanuel Kant hebt in der sogenannten Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs – »handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«12 – ausdrücklich auf die ›Menschheit‹ als Grund für die Würde ab, die jedem Menschen, d. h. nicht nur dem Anderen, sondern gleichermaßen auch der eigenen Person zukommt.13 Selbst das Universalisierungsprinzip des Utilitarismus, demzufolge nicht die Maximierung des Glücks des Handelnden, sondern des Glücks aller von der Handlung Betroffenen das Moralprinzip darstellt, zielt darauf, die Ansprüche des Anderen zur Geltung kommen zu lassen, indem das Ich ohne Vorordnung, aber auch ohne Nachordnung, in eine Reihe mit den Anderen gestellt wird. Für Levinas hingegen bedeutet Universalisierung in der Ethik bereits Ungerechtigkeit gegenüber dem Anderen durch Einbeziehung seiner in eine vom Ich gestiftete Totalität. Bei Levinas – »das absolut Andere ist der Andere« – tritt der Andere an die Stelle Gottes als des transzendenten und unendlichen Grundes. Der Andere wird zum höchsten Prinzip der Metaphysik.14 Levinas’ Metapher für die absolute Differenz und die Herrschaft des Anderen über den Selben ist das ›Antlitz‹ (visage) (TU 278): »Der Der Andere als metaphysisches Prinzip in … | 145

Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd – aber sein Antlitz, in dem sich seine Epiphanie ereignet und das nach mir ruft, bricht mit der Welt, […].« Die Exteriorität des Anderen, derentwegen dieser sich nur in der Offenbarung zeigen kann, manifestiert sich im Antlitz (TU 63): »Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz.« Als Antlitz ist der Andere nicht Thema und nicht adäquate Idee im Sinne Husserls, sondern an sich (kaj0 au3to2). Vom Antlitz her kehren sich alle aus der ›Ontologie‹ bekannten Verhältnisse um. Hier wird nicht ein Seiendes von seinem Sein her verstanden, sondern das Seiende – dieses Seiende – gewinnt einen Vorrang vor dem Sein. Der Andere wird nicht vom Selben thematisiert, sondern er spricht in der Rede das Ich an. Der Sinn entstammt nicht dem sinngebenden Akt des Ich, sondern liegt ihm voraus. Das Ich empfängt vom Anderen, und zwar über seine eigene Aufnahmefähigkeit hinaus. Es wird unterwiesen, aber nicht im Sinne der sokratischen Maieutik, sondern in der Weise, wie Descartes’ endliche, denkende Substanz vom Unendlichen selbst her die Idee des Unendlichen empfängt.

5. Der Andere (das Unendliche) als Prinzip Levinas’ Gedanke einer Kontraktion des Unendlichen zugunsten des Selben, mit dem es dann in Gemeinschaft tritt, läßt bereits erkennen, daß das Unendliche (oder der Andere) gegenüber dem Selben eine Prinzipfunktion ausübt, indem es dieses begründet. Von der ›metaphysischen Andersheit‹ des Anderen sagt Levinas, daß sie nicht bloß das »Ergebnis des Widerstandes gegen das Selbe« ist, sondern daß sie »aller Initiative, aller Herrschaft des Selben vorausgeht« (TU 43 f.). Demnach ist das Unendliche/der Andere nicht nur ein Hindernis oder eine Grenze, an die das Selbe in seiner Tätigkeit der Aneignung, des Verstehens und des Erkennens stößt. Vielmehr ist es der Grund dieser Tätigkeit des Selben. Der Andere als Unendlicher transzendiert die Subjektivität und beherrscht sie (vgl. TU 328). Levinas sagt (TU 363 f.): »Ein Ich sein […] heißt gerade […] das Antlitz zu sehen.« An anderer Stelle heißt es über die Freiheit als Grundvollzug des Selben (TU 122): »Die Gegenwart des Anderen 146 | johannes brachtendorf

[…] verletzt nicht die Freiheit, sondern setzt sie ein, ist ihre Investitur.« Das Ich ist abhängig von der Exteriorität (TU 123): »[…] aber das abhängige Seiende geht nicht unter, als sei es in unsichtbaren Netzen gefangen. Folglich ist es eine Abhängigkeit, die gleichzeitig die Unabhängigkeit bewahrt. Von dieser Art ist die Beziehung des Von-Angesicht-zu-Angesicht.« Für diese Konstellation eines Prinzips, das sein Prinzipiatum bedingt und ihm gleichzeitig (im Sinne einer Gemeinschaft oberhalb der Totalität) eine Unabhängigkeit beläßt, verwendet Levinas das Bild des Meisters, der sich in der Rede an das Ich wendet. Levinas macht hier sehr grundsätzliche Aussagen, die darauf zielen, daß der Andere ›Prinzip des Phänomens‹ (TU 129) im Sinne der Phänomenologie sei (TU 128 f.): »Die Welt wird unser Thema – und dadurch unser Gegenstand –, weil sie uns angeboten worden ist; sie hat ihre Herkunft in einer ursprünglichen Unterweisung […].« Demnach wäre die Welt nicht bloß intentum einer intentio, wie es Husserls Intentionalitätskonzept entspräche, sondern sie wird nur zum intentum aus einer Unterweisung durch den Anderen, den Lehrer, heraus. Bedeutung und Verstehbarkeit des Seienden gründen nicht darin, daß dieses vor dem Horizont gesehen wird, als den das Dasein sich selbst entwirft (TU 136): »Die Bedeutung oder die Verstehbarkeit liegt nicht an der Identität des Selben, das in sich bleibt, sondern am Antlitz des Anderen […].« Weiter heißt es (TU 137): »Die Bedeutung hängt vom Anderen ab, der die Welt sagt oder versteht; sein Sagen oder sein Verstehen thematisiert eigentlich die Welt.« Somit ist der Andere Lehrer nicht in dem Sinn, daß er etwas Bestimmtes lehrt, sondern in der fundamentalen Weise, daß erst durch ihn Bedeutung, Verstehbarkeit und Welt gestiftet werden. Die Herrschaft, die der Andere über den Selben besitzt, wird im Anruf ausgeübt, den er an die Aufmerksamkeit des Selben richtet. Die Aufmerksamkeit deutet Levinas als das Bewußtsein selbst, denn eines Gegenstandes bewußt zu sein, gründe darin, auf jemanden aufmerksam zu sein. Bewußtsein und Denken sind nach Levinas nicht primär Synthesishandlungen im Namen einer ursprünglichsynthetischen Einheit des ›Ich denke‹, sondern sie sind zunächst »Antwort auf einen Anruf« (TU 141). Hier zeigt sich nochmals der Vorrang der cartesischen vor der sokratischen Ordnung (TU 119): »Bei Descartes stützt sich das Cogito auf den Anderen; der Andere Der Andere als metaphysisches Prinzip in … | 147

ist Gott, er hat die Idee des Unendlichen in die Seele gelegt; er hat die Seele darin unterwiesen und nicht bloß, wie der platonische Lehrer, die Erinnerung an vergangene Anschauungen wachgerufen«.

6. Die Herrschaft des Anderen im moralischen Bewußtsein Für das Verhältnis des Selben zum Anderen ist nach Levinas das ›moralische Bewußtsein‹ entscheidend, das er auch den ›Empfang des Anderen‹ nennt. Mir scheint, daß Levinas hier zwei Vorgänge unterscheidet, nämlich die Begrenzung des Ich durch den Anderen und die Begründung des Ich durch den Anderen. Zunächst ist klar, daß die Gegenwart des Anderen nicht auf einer Thematisierung beruht. Kein a priori geht ihm voraus, weder eine Husserlsche Korrelation, noch Heideggers Existenzial des Mitseins, denn sonst würde die Transzendenz in Objektivität umschlagen und der unendliche Abstand ginge verloren. Der Empfang des Anderen ist nach Levinas eine absolute Erfahrung. Diese absolute Erfahrung hat nach Levinas einen moralischen Charakter. Das heißt zunächst, daß der Andere als Begrenzung der Spontaneität und der Freiheit des Selben erfahren wird. Spontaneität und Freiheit sind Ausdruck des ›Ich kann‹, nämlich des: Ich kann das Andere in mein Eigenes zurückbringen und darin wohnen. Doch der Andere in seiner prinzipiellen Exteriorität setzt dem ›Ich kann‹ eine Grenze. Die ›überfließende Gegenwart‹ des Anderen vollzieht sich »als Setzung im Angesicht des Selben […]. Diese Setzung im Angesicht von …, der Gegensatz schlechthin, ist nur als moralische Infragestellung möglich« (TU 280). Der Andere stellt die Spontaneität des ›Ich kann‹, die zur Ausbildung einer Totalität führt, von außen her in Frage (TU 51): »Eine Infragestellung des Selben – die im Rahmen der egoistischen Spontaneität des Selben unmöglich ist – geschieht durch den Anderen. Diese Infragestellung meiner Spontaneität durch die Gegenwart des Anderen heißt Ethik.« Demnach leistet der Andere sozusagen Widerstand gegen den Versuch, ihn zu objektivieren. Der Empfang des Anderen ist der Anfang des sittlichen Bewußtseins, und dieses ist, wie Levinas sagt, ipso facto die Scham der Freiheit über sich selbst. Zwar stellt die Freiheit mich schamlos dem 148 | johannes brachtendorf

(objektivierbaren) Nicht-Ich entgegen, denn sie besteht darin, »das Nicht-Ich zu verneinen oder zu besitzen«, doch »vor dem Anderen weicht sie zurück« (TU 120). Als Scham bezeichnet Levinas das Zurückweichen des Ich vor dem, was seine Vermögen überschreitet (TU 120): »Der Andere zwingt sich mir auf als eine Forderung, die diese Freiheit dominiert, und von daher als etwas, das ursprünglicher ist als alles, was in mir vorgeht. Die außergewöhnliche Gegenwart des Anderen drückt sich darin aus, daß es mir ethisch unmöglich ist, ihn zu töten; dadurch bezeichnet er das Ende der Vermögen. Ich kann ihm gegenüber keine Macht mehr haben, weil er jede Idee, die ich von ihm haben kann, absolut überschreitet.« Das ethische Verbot ist also in Wahrheit primär konstitutionstheoretisch zu verstehen in dem Sinne, daß ich den Anderen nicht konstituieren kann, sondern ihn vorfinde. Die Beschränkung der Spontaneität des Ich durch die Transzendenz des Anderen äußert sich dann sekundär als moralisches Gebot, genauer als Pflicht gegenüber dem Anderen, ihn nicht physisch zu töten, obwohl ich dies jederzeit könnte. In diesem Sinne schreibt Levinas (TU 311 f.): »Der Andere, der in seiner Transzendenz über mich herrscht, ist auch der Fremde, die Witwe und der Waise, gegen den ich verpflichtet bin.« Das ›Ich kann‹ des Selben stößt an eine Grenze, die nicht aufhebbare Exteriorität und Transzendenz des Anderen, die als Herrschaft des Anderen über das Selbe auftritt. Diese Herrschaft muß aber Raum lassen für eine Gemeinschaft zwischen dem Unendlichen und dem Ich. Daher äußert sie sich nach Levinas nicht als Zwang, sondern als Verpflichtung, dem Fremden, den Waisen und Witwen zu helfen. Der Andere ist »wesentlich in Not« (vgl. TU 311) und unterwirft das Ich dem moralischen Gebot der Hilfeleistung. Die Unendlichkeit des Anderen erweist sich nun als gleichbedeutend mit seiner Exteriorität, die sich in der Verpflichtung manifestiert. Die Begrenzung des ›Ich kann‹ durch den Anderen äußert sich insofern auf moralische Art. Im übrigen gilt das Gebot der Hilfeleistung nach Levinas nicht bloß gegenüber denjenigen Anderen, die materiellen oder sonstigen Mangel leiden, also Fremde, Witwen und Waisen im wörtlichen Sinn, sondern gegenüber dem Anderen als solchem, denn dieser ist »wesentlich in Not«. Wie denkt Levinas die Begründung des Ich durch den Anderen? Wir erinnern uns: Nach Levinas geht die ›Metaphysik‹ als BezieDer Andere als metaphysisches Prinzip in … | 149

hung zur Transzendenz der ›Ontologie‹ als Aufbau einer Totalität voraus. In diesem Sinne schreibt er (TU 289): »Der Enthüllung des Seins überhaupt als Voraussetzung der Erkenntnis und als Sinn des Seins geht die Existenz der Beziehung mit dem Seienden voraus, das sich ausdrückt; früher als die Ebene der Ontologie ist die Ebene der Ethik.« Enthüllung des Seins und Sinn des Seins sind Heideggers Ausdrücke, die Levinas borgt, um das Wesen der Ontologie, d. h. die Totalität des ›Ich kann‹, zu bezeichnen. All dem liegt nach Levinas die Beziehung mit dem Seienden, das sich ausdrückt, also mit dem Antlitz, das mir Pflichten auferlegt, zugrunde. Dies hat nach Levinas mit der Natur der Rede zu tun. Der Andere als Antlitz spricht das Selbe an und verpflichtet es zum Eingehen auf diese Rede.15 Das Ich muß antworten auf den ›Ausdruck‹16 des Anderen (vgl. TU 283). Das Antlitz wird weder angeschaut noch begriffen, sondern es offenbart sich im Wort, das eine Antwort verlangt. Darauf beruht nach Levinas alle Thematisierung, alles Erkennen und Verstehen durch das Selbe. Nach Levinas ist das erste, worin uns das Unterweisende unterweist, »seine Gegenwart selbst als die eines Unterweisenden; von ihr her kommt die Vorstellung« (TU 142). Somit wäre die Vorstellung als Sphäre der Totalität begründet durch die Präsenz des Anderen im moralischen Bewußtsein (TU 144): »Das moralische Bewußtsein oder das Begehren sind keine Modalitäten des Bewußtseins unter anderen, sondern die Bedingung des Bewußtseins.« Auf dem Weg über das moralische Bewußtsein wird der Andere zum metaphysischen Prinzip.

7. Kritiken an Totalität und Unendlichkeit Levinas’ Versuch, die Phänomenologie als angeblich bloß sokratische Ordnung der ›Totalität‹, des ›Seins‹ und des ›Ich kann‹ zu überschreiten und in der Begegnung mit dem ›Anderen‹ zu begründen, der dadurch die Stellung eines metaphysischen Prinzips ähnlich dem überkommenen Gottesbegriff erhält, ist in mehreren Hinsichten zu kritisieren und auch bereits vielfach kritisiert worden. Erstens erscheint mir die Ansetzung des Anderen als das metaphysische Prinzip in der cartesischen Ordnung insofern problematisch, als ich Levinas’ Buch über die programmatische Behaup150 | johannes brachtendorf

tung hinaus nicht habe entnehmen können, auf welche Weise der Andere den Selben begründet. Wie muß man sich den Vorgang der Konstitution des Ich durch den Anderen denken? Wieso führt die Begegnung mit dem Unendlichen eine Totalität herbei? Wie schafft die Exteriorität eine geschlossene Immanenz des Seins? Inwiefern ist die Entwicklung des ›Ich kann‹ als Antwort auf die Offenbarung des Antlitzes zu verstehen, wenn diese Totalität der Exteriorität doch gerade entgegengesetzt ist? Levinas scheint die von ihm erhobenen Begründungsansprüche nicht einzulösen, wodurch sein Ansatz im Ganzen prekär wird. Zweitens: In einer frühen Stellungnahme mit dem Titel Gewalt und Metaphysik hat Jacques Derrida Levinas’ Husserl- und Heideggerkritik einer einschneidenden Gegenkritik unterzogen.17 Zunächst verfehle Levinas Husserls Begriff des Konstituierens, wenn er diesen als Machen oder Herstellen interpretiere (187) statt als Sichtbar-werden-lassen. Weiterhin erklärt Derrida unter Bezugnahme auf Parmenides und Hegel, daß der Selbe und der Andere Wechselbegriffe seien, die sich gegenseitig implizieren und somit niemals in Levinas’ Sinne absolut getrennt sein können. ›Anders‹ heiße immer »anders als Ich« (191). »Der Andere ist also nicht, was er ist (mein Nächster als Fremder), wenn er nicht alter ego ist« (193). Aufgrund dieser wechselseitigen Implikation ist auch das Ich nach Derrida wesensmäßig der Andere des Anderen. Letztlich herrsche also ein symmetrisches Verhältnis zwischen dem Selben und dem Anderen, doch diese Symmetrie bleibe bei Levinas unberücksichtigt (vgl. 194). Zudem hält Derrida Levinas’ Begriff des Seins für verfehlt. Wenn Levinas das Sein als Totalität einem »Jenseits des Seins« gegenüberstellt, dann behandle er das Sein wie ein Seiendes und mißachte somit die von Heidegger angemahnte ontisch-ontologische Differenz (vgl. 209; 215). Derrida verteidigt Heideggers Position, indem er hervorhebt, daß gerade ein Vorverständnis des Seins es ermöglicht, den Anderen zu achten als das, was er ist – nämlich ein Anderer. Die Anerkennung des Anderen im Sinne des ›Sein-lassens‹, die wiederum ein Seinsverständnis voraussetzt, ist demnach Vorbedingung der Ethik (208). »Wenn Seinsverständnis sein-lassen-können heißt […], dann betrifft das Verstehen des Seins immer die Andersheit des Andern in seiner ganzen Originalität« (213). Nur innerhalb der Der Andere als metaphysisches Prinzip in … | 151

Dimension des Seins erschließt sich nach Derrida der Andere in seiner Freiheit. So stellt Levinas’ ethische Transzendenz nach Derrida eine bloß intra-ontische Bewegung dar, die getragen werden muß von der ontologischen Transzendenz des Seins gegenüber dem Seienden. Wenn Levinas von einem Anderen »jenseits des Seins« spricht, dann bleibe er mit seinem Versuch, das Sein zu durchbrechen, in Wahrheit im Seienden gefangen und mache sich der »Vergessenheit des Seins« (215) schuldig. Nach Derrida entspringt Levinas’ Bedürfnis, über die Phänomenologie hinaus zu einer Exteriorität zu gelangen, einem Fehlverständnis Husserls und Heideggers; es führe zu einem Rückfall in eine bloß ontische Perspektive. Drittens: Levinas’ sozialphilosophische Bestimmung des Verhältnisses von Selbst und Anderem ist Hauptgegenstand der Kritik von Paul Ricœur.18 Ricœur konfrontiert Husserls Weg, den Anderen vom ego aus als alter ego zu erschließen, mit demjenigen Levinas’, der umgekehrt von der Herrschaft des Anderen aus das ego konstituiert sein läßt. Er selbst lehnt beide Möglichkeiten als einseitig ab und schlägt stattdessen »eine überkreuzte Auffassung der Andersheit« vor, »die wechselseitig dem Primat der Selbstschätzung und dem des vom Anderen ausgehenden Aufrufs zur Gerechtigkeit gerecht wird« (398). Ricœur denkt an die Sprache als eine Dimension, die statt des einseitig gebietenden Blicks des Anderen einen Austausch von Frage und Antwort ermöglicht. So schreibt er: »Braucht es nicht eine Dialogik, die die vorgebliche ab-solute Distanz zwischen dem getrennten Ich und dem belehrenden Anderen durch eine Beziehung überlagert« (408)? Die Beachtung einer solchen Dimension sei umso dringender, als Levinas die in Totalität und Unendlichkeit gegebene Deutung des Anderen als des ›Meisters‹ in seinem Buch Jenseits des Seins auf skandalöse Weise radikalisiere, indem er den Anderen zum ›Angreifer‹ werden läßt, der für seine Gewalttätigkeit vom angegriffenen Ich Verzeihung und Sühneleistung fordern darf (407). Wodurch, so fragt Ricœur, unterscheidet sich der ›Meister‹ dann noch vom Sklavenhalter oder vom Henker (408)? Sowohl gegen Husserl als auch gegen Levinas behauptet Ricœur, »daß kein Widerspruch darin liegt, die Bewegung des Selben auf das Andere und die des Anderen auf das Selbe hin für dialektisch komplementär zu halten« (409). 152 | johannes brachtendorf

Ricœur sieht also, wie z. T. schon Derrida, bei Levinas eine Fehldeutung des Anderen. Sozialphilosophisch müsse irgendeine Art von Reziprozität zwischen dem Ich und dem Anderen in Anschlag gebracht werden. Gerade dies verweigert Levinas aber, indem er den Anderen als absolutes metaphysisches Prinzip ansetzt, das Ich hingegen bloß als Prinzipiat. Nach Ricœur führt Levinas’ Versuch, den Anderen als ein absolut Getrenntes zu verstehen, sozialphilosophisch – und infolgedessen auch ethisch – zu inakzeptablen Resultaten. Daß Gerechtigkeit nicht etwa die Anerkennung des Anderen als eines Wesens bedeutet, das wie ich legitime Ansprüche haben kann, sondern mit Levinas als Hinnahme seiner Herrschaft über mich zu deuten sei, leuchtet aus ethischer Perspektive einfach nicht ein. Viertens: Auf die Problematik der Verwendung des Gottesbegriffs in Totalität und Unendlichkeit wurde bereits hingewiesen. Vorausgesetzt, daß die Begegnung mit dem Anderen für das Ich tatsächlich ein Schock ist, bemüht sich Levinas um eine adäquate, ja geradezu phänomenologische Beschreibung der Folgen dieses Schocks im Ich. Doch daß in dieser Begegnung Gott im Spiel sei – etwa als die Höhe, von der herab der Andere dem Ich befiehlt, wird bloß behauptet, aber auf keine Weise begründet. Daher kritisiert Dominique Janicaud in seiner durchaus polemischen Schrift Phenomenology and the ›Theological Turn‹19 den Ansatz von Totalität und Unendlichkeit als ›religiösen Dogmatismus‹ (45). Bei Levinas werde die Phänomenologie von einer Theologie, die sich aber als solche nicht zu erkennen geben wolle, in Geiselhaft genommen (43). Janicaud schreibt über Totalität und Unendlichkeit: »It supposes a metaphysico-theological montage, prior to philosophical writing. The dice are loaded and choices made; faith rises majestically in the background. The reader, confronted by the blade of the absolute, finds him- or herself in the position of a catechumen who has no other choice than to penetrate the holy words and lofty dogmas« (27). Fünftens: Eine eingehende Auseinandersetzung mit Levinas’ Gottesbegriff, seinem Seinsbegriff und seinem erstphilosophischen Anspruch liefert Lorenz Puntel in seinem Buch Sein und Gott.20 Zunächst ist es nach Puntel verkehrt, wenn Levinas Erkenntnis und Theorie als Angleichung des Anderen an den Selben interpretiere. In Wahrheit sei Erkenntnis nämlich genau umgekehrt als Der Andere als metaphysisches Prinzip in … | 153

Anpassung des Denkens an die Sache zu verstehen (295). Levinas verwechsle Erkenntnis mit praktischem Handeln. Zufolge dessen verwickle er sich in einen performativen Selbstwiderspruch. Denn obwohl er erkläre, daß Erkenntnis keinen Zugang zum Ansich der Wirklichkeit besitze, versuche er doch selbst auf dem Wege der Erkenntnis zu bestimmen, was die Exteriorität des Anderen ist (298), und behaupte schließlich mit den Mitteln der Theorie, daß die Exteriorität nicht theoretisierbar sei (308). Besondere Aufmerksamkeit widmet Puntel dem Seinsbegriff in Totalität und Unendlichkeit. Wenn Levinas das Sein einschränke auf den geschlossenen Bereich der Totalität und ihm den Anderen bzw. Gott als ›Unendliches‹ gegenüberstelle, verkenne er den allumfassenden Charakter des Seins. In Wahrheit ist Sein nach Puntel als universaler Raum zu verstehen, innerhalb dessen erst Kommunikation und Begegnung mit dem Anderen möglich sei. In Levinas’ Behauptung, das Transzendente sei anders als Sein oder ›jenseits‹ des Seins, sieht Puntel – ähnlich wie schon Derrida – einen fundamentalen Irrtum (304–309). Er wirft Levinas vor, durch die Vorstellung der Getrenntheit Gottes von der Totalität des Seins seinerseits das Unendliche zu verendlichen, denn ein getrenntes Unendliches ist nur ein relativ Unendliches (310). Faktisch behandle Levinas sowohl die ›Totalität des Seins‹ als auch das ›Unendliche‹ wie zwei einander gegenüberstehende, sich wechselseitig begrenzende und somit endliche ›Dinge‹. Den wahren Begriff des Seins als offene Dimension verfehle er dadurch. Puntel schlägt dagegen vor, den »wirklich göttlichen Gott« im Sinne des Seins als solchen und im Ganzen zu verstehen (311). Dann könnte Gott als das Sein gedacht werden, ohne ihn dadurch in eine Totalität einzuschließen, und der Andere würde als Seiendes, d. h. als anderer Mensch, zusammen mit dem Ich in der Dimension des Seins stehen. Freilich würde dies bedeuten, daß der Andere nicht mehr das Andere im Sinne des alles begründenden metaphysischen Prinzips sein könnte.

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Anmerkungen

Levinas hat ein eigenes Verständnis von Metaphysik und Ontologie, das sich von unserem unterscheidet. Levinas’ Termini werden im folgenden durch Anführungszeichen markiert. 2 Zwar rückt Levinas im Vorwort zu TU sein eigenes Vorgehen in die Nähe der ›transzendentalen Methode‹ (TU 25), grenzt es aber sogleich vom ›transzendentalen Idealismus‹ ab. Für eine Diskussion um die Frage, in welchem Sinne Levinas’ eigenes Denken transzendental zu nennen ist, vgl. Theodore De Boer: The Rationality of Transcendence: Studies in the Philosophy of Emmanuel Levinas, sowie Michael Morgan: Discovering Levinas, 44–60. Meines Erachtens bietet TU insofern eine Transzendentalphilosophie, als hier die nichtintentionale Begegnung mit dem Anderen zur Möglichkeitsbedingung aller Arten von Intentionalität erklärt wird. Im Unterschied zur subjektivistischen Variante der Transzendentalphilosophie liegt diese Möglichkeitsbedingung aber nicht in der Struktur des Selbstbewußtseins oder des Daseins selbst, sondern sie erfordert die Exteriorität des Anderen. 3 Auf Levinas’ Auseinandersetzung mit der transzendentalen Phänomenologie Husserls kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Dieses Thema würde eine eigene Untersuchung erfordern. Grundsätzlich gilt, daß Levinas Husserls Konzept der Intentionalität und des sogenannten Korrelationsapriori zwischen ›intentio‹ und ›intentum‹ als Egologie versteht im Sinne eines Zurückbringens des Anderen auf das Selbe. Er deutet Husserls Phänomenologie also in einem idealistischen Sinn (vgl. dazu Branko Klun: Das Gute vor dem Sein. Levinas versus Heidegger, 104 f.), was einerseits der Absicht Husserls widerspricht, der in der Phänomenologie einen Weg zu den Sachen selbst sieht, andererseits aber insofern naheliegt, als Husserl dem Bewußtsein absolutes, sinngebendes Sein zuschreibt, den Gegenständen des Bewußtseins aber nur ein auf dieses relatives Sein (vgl. Husserl, Ideen I §§ 49; 50; 55). Über Levinas’ Auseinandersetzung mit Husserl informiert Michael Purcell: Levinas and Theology, 8–23. 4 Würde man die ›transzendentale Dialektik‹ der Kritik der reinen Vernunft mit ihrer Suche nach dem Unbedingten oder gar Kants praktische Philosophie mit einbeziehen, ergäbe sich möglicherweise ein anderes Bild. Vgl. Norbert Fischer: Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen (MAA 47–139), zum Problem des Anderen in Kants theoretischer Philosophie, sowie ders.: Ethik und Gottesfrage. Zwei Zentren im ersten Hauptwerk von Emmanuel Levinas (Totalité et Infini); vgl. auch Christian Rößner: Das Datum der Vernunft. Zur Rekonstruktion der Grundlegung von Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas. 5 Einen ausführlichen und eingehenden Vergleich zwischen Levinas und Heidegger bietet Branko Klun: Das Gute vor dem Sein. Levinas versus Heidegger, der auch über die Genese der Heidegger-Kritik in Levinas’ Schriften vor TU informiert (vgl. 67–94). Siehe auch die Kritik an Levinas’ HeideggerInterpretation bei Jacques Derrida: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas. 6 Vgl. Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24, 1

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§ 21,437): »Weil die ekstatisch-horizontale Einheit der Zeitlichkeit in sich der Selbstentwurf schlechthin ist, als ekstatische das Entwerfen auf … überhaupt ermöglicht und mit dem zur Ekstase gehörigen Horizont die Bedingung der Möglichkeit eines Woraufh in, Wozu-hinaus überhaupt darstellt, kann gar nicht mehr gefragt werden, woraufh in die Schemata ihrerseits entworfen seien, und so in infi nitum. Die früher erwähnte Folge der einander gleichsam vorgeschalteten Entwürfe: Verstehen von Seiendem, Entwurf auf Sein, Verstehen von Sein, Entwurf auf die Zeit, hat ihr Ende am Horizont der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit.« Etwas später erklärt Heidegger an Beispiel der Zuhandenheit als Seinsweise, wie alles Verständnis des Seienden letztlich auf den Selbstentwurf des Daseins zurückgeht (ebd. 438 f.): »Zuhandenheit des Zuhandenen, das Sein dieses Seienden, wird als Praesenz verstanden, welche Praesenz als unbegrifflich verständliche schon enthüllt ist im Selbstentwurf der Zeitlichkeit, durch deren Zeitigung so etwas möglich wird wie der existierende Umgang mit Zuhandenem und Vorhandenem«. Heidegger parallelisiert seine eigene Auffassung mit derjenigen in Platons Sonnen- und Höhlengleichnis, insbesondere mit der Idee des Guten (vgl. Politeia 508e–509b), die nach Platon ›jenseits‹ des Seins steht und dieses erhellt, so daß es verstanden werden kann. Nach Heidegger ist die ursprüngliche Zeitlichkeit dieses ›jenseits‹ des Seins, das Seinsverständnis allererst möglich macht. Diese Zeitlichkeit ist für ihn Selbstentwurf des Daseins. 7 Vgl. dazu Reinhold Esterbauer: Transzendenz-»Relation«. Zum Transzendenzbezug in der Philosophie Emmanuel Levinas’, 127–129. 8 Eine ähnlich paradoxe Formulierung ist diejenige der »TranszendenzRelation«, die Esterbauer im Titel seines Buches verwendet; vgl. auch Branko Klun: Das Gute vor dem Sein. Levinas versus Heidegger, 177, wobei Transzendenz im Sinne eines absoluten Jenseits zu verstehen ist, das keine Relation zuläßt. 9 Reinhold Esterbauer (vgl. Transzendenz-»Relation«) weist zu Recht darauf hin, daß Gemeinschaft mit Gott nach Levinas nur als Gemeinschaft mit dem anderen Menschen möglich ist. 10 Sie ist aber auch schon in Fichtes Lehre von der Aufforderung des Ich durch den Anderen anzutreffen, wo sie jedoch nicht auf phänomenologischem Boden steht. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo, § 16, 177. 11 Allerdings ist es für Husserl ganz unfraglich, daß der Andere gegenüber dem Ich ein eigenes Recht besitzt. Deshalb versucht er zu beschreiben, wie die transzendentale Konstitution des Anderen als eines alter ego von statten geht. Zur Kritik an Husserls Begriff des Anderen vgl. Michael Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 151 ff., insbesondere 176, wo die fehlende Gleichursprünglichkeit des alter ego mit dem ego und damit die Partnerlosigkeit des ego moniert wird. Dagegen sieht Jacques Derrida in Levinas’ Husserl-Kritik ein vollkommenes Mißverständnis von dessen Cartesianischen Meditationen (vgl. Gewalt und Metaphysik, 186–194). 12 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 66 f. 13 Die von Fischer (1999 und 2006) sowie von Rößner (2011) vorgelegten Versuche (vgl. Anm. 4), Levinas’ Herrschaft des Anderen über den Selben mit 156 | johannes brachtendorf

Kants kategorischem Imperativ abzugleichen, eröff nen interessante Perspektiven, müssen sich aber mit folgenden Einwänden auseinandersetzen: Erstens ist nach Kant die Vernunft selber in ihrer Spontaneität der Geber des Gesetzes, denn dies besagt der Begriff der Autonomie, während Levinas an eine Gesetzgebung durch den Anderen denkt, der gegenüber sich die Vernunft des Selbst rezeptiv zu verhalten hat. Zweitens zielt die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs bei Kant ausdrücklich auf die ›Menschheit‹, in der der Andere und das Ich übereinkommen, woraus bei Kant sowohl das Verbot des Mordes am Anderen als auch des Selbstmordes entspringt. Bei Levinas steht dagegen der Andere so weit über dem Ich, daß sie nichts gemeinsam haben können. Kants Bewußtsein der Pfl icht ist nicht – wie bei Levinas – ein Bewußtsein vom Vorrang des Anderen vor dem Ich. Drittens gilt eine Maxime nach Kant dann als moralisch gerechtfertigt, wenn sie vernünft ig, d. h. universalisierbar ist. Dagegen wäre eine Universalisierung als Übertragung auch auf den Anderen nach Levinas bereits eine ›Ungerechtigkeit‹ gegenüber dem Anderen durch Einbeziehung dessen in die Totalität. Viertens wäre zu fragen, ob Levinas’ Imperativ: »Du sollst (wirst) mich nicht töten«, nicht eher inhaltlich zu verstehen ist, während Kants kategorischer Imperativ formal sein will. 14 Das Verhältnis des Anderen zu Gott in TU ist schwer zu bestimmen, weil Levinas Gott ohne weitere Begründung und Argumentation einführt. Michael L. Morgan: Discovering Levinas, 177–183, analysiert Levinas’ Aussage, »der Andere ist nicht die Inkarnation Gottes; vielmehr ist er durch sein Antlitz […] die Manifestation der Höhe, in der Gott sich offenbart« (TU 108). Diese Höhe ergibt sich aber schon allein aus dem asymmetrischen Charakter der Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen. Daß in dieser Höhe noch eine Selbstoffenbarung Gottes stattfi ndet, wird durch kein philosophisches Argument gestützt. Nach Richard A. Cohen (Elevations: The Height of the Good in Rosenzweig and Levinas) ist Gott bei Levinas die moralische Kraft , die der Andere in seiner Höhe gegenüber dem Selben besitzt. Doch auch hier ist einzuwenden, daß die moralische Kraft schon in der Höhe des Anderen als des Unendlichen liegt. Sie gibt daher keinen Anlaß, von einer Gegenwart Gottes in der Begegnung mit dem Anderen zu sprechen. Nach Reinhold Esterbauer (Transzendenz-»Relation«, 186), läßt TU den Charakter der Verbindung zwischen Gott und dem Anderen im Dunkeln. 15 Vgl. Reinhold Esterbauer (Transzendenz-»Relation«, 143–150) über Levinas’ Unterscheidung des Sagens vom Gesagten. 16 Vgl. dazu Reinhold Esterbauer: Transzendenz-»Relation«, 155. 17 Jacques Derrida: Gewalt und Metaphysik. 18 Vgl. Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer. 19 Dominique Janicaud: Phenomenology and the ›Th eological Turn‹. The French debate. 20 Lorenz B. Puntel: Sein und Gott. Ein systematischer Ansatz in Auseinandersetzung mit M. Heidegger, E. Levinas und J.-L. Marion.

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– Reinhold Esterbauer –

Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ Zur Konzeption von Transzendenz in ›Totalité et Infini‹

Fragt man danach, wie Emmanuel Levinas ›Transzendenz‹ – in einem allgemeinen Wortsinn verstanden – begrifflich zu fassen versucht, so fällt einem auf, daß er verschiedene Ausdrücke dafür verwendet. Es begegnen einem neben ›Transzendenz‹ Begriffe wie ›Unendliches‹, ›Absolutes‹, ›Numinoses‹, ›Sakrales‹, ›Heiliges‹ und ›Gott‹. Wider den ersten Anschein, daß Levinas unscharfe Ausdrücke variiere, merkt man bei näherem Zusehen, daß sich der Sinngehalt dessen, was man im Ungefähren mit ›Transzendenz‹ bezeichnet, bei ihm je nach Zusammenhang, in dem darüber gesprochen wird, verändert, er aber feste Begriffsgrenzen zieht. Levinas verwendet je nach Bedeutung ein separates Wort und gibt ihm einen spezifischen Sinn. Ein für seine Begriffswahl wesentlicher Kontext ist der Zeitbegriff, auf den sich Levinas immer wieder bezieht. In Totalité et Infini (1961) spielen dabei unterschiedliche Auffassungen von Zukunft eine wichtige Rolle. Diesem Zusammenhang möchte ich im folgenden nachgehen. Dabei werde ich die These vertreten, daß Zeit- bzw. Zukunftsbegriff und jeweiliger Transzendenzbegriff eng miteinander korrelieren. Es lassen sich – wie ich meine – mehrere Typen solcher Entsprechungen herausarbeiten und die unterschiedlichen Transzendenzbezeichnungen bestimmten Zeitauffassungen zuordnen. Wenn man das Verhältnis von Transzendenz und Zukunft bei Levinas reflektieren will, muß man freilich mit der Zeitlosigkeit beginnen, der eine spezifische Form von Gottlosigkeit entspricht.

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1. Genuß: scheinbar zeitloses und gottloses Glück In Totalité et Infini geht Levinas bei seinem Unterfangen, das Verhältnis zwischen Ich und Welt zu beschreiben, von einem Zustand aus, in dem weder die Welt schon Welt oder das Ich schon Ich ist noch zwischen beiden eine Relation angesetzt werden kann, weil die Relata Welt und Ich in dieser Situation gar nicht bestehen und deshalb auch nicht als solche identifiziert werden können. Er setzt nicht bei einem Ich an, das die Welt als konkrete Dinge oder Menschen erfährt, die ihm gegenüberstehen, und auch nicht bei einem Denken, das alles, was über das Ich hinausreicht, in eine Ordnung bringt und auf diese Weise dem Ich zugänglich macht. Vielmehr beginnt Levinas bei der ›Sinnlichkeit‹ (›sensibilité‹), die seiner Meinung nach als ›Gefühl› (›sentiment‹) zu beschreiben und vor allem als ›Genuß‹ (›jouissance‹) zu bestimmen ist.1 Das Genießen ist nach Levinas nicht der Kategorie des Wahren unterzuordnen, sondern der des Nützlichen. Doch paßt es – wie Levinas in scharfer Abgrenzung zu Heidegger sagt – nicht zu dessen Bestimmung des Umgangs mit dem ›Zeug‹ (vgl SuZ § 15). Für Heideggers ›Dasein‹ ist das ›Zeug‹ zwar zuhanden, so daß man den Eindruck gewinnen könnte, als verbinde gerade die Nützlichkeit beide Ansätze. Levinas macht jedoch darauf aufmerksam, daß Heideggers ›Dasein‹ niemals Hunger habe und man die Nahrung nur in einer Welt der Ausbeutung als ›Zeug‹ deuten könne (TU 191/TI 108). Bei Levinas ist der Genuß nicht – wie er Heidegger vorwirft – bestimmt durch eine Distanz zum Genossenen, sondern – wie das Beispiel der Nahrung zeigt  – das ›Leben von …‹ (›vivre de…‹; TU 194/ TI 110). Man genießt das, wovon man lebt, noch bevor es einem zuhanden ist. So gehört der Genuß weder zur Ordnung des Wahren noch des Zeugs, sondern zu jenem Bereich des Nützlichen, zu dem man in einem unmittelbaren Bezug steht und das einem Glück bereitet (TU 156/TI 84): »Die letzte Beziehung ist Genuß, Glück.« / »La relation dernière est jouissance, bonheur«. Wie das Beispiel der Nahrung, von der man lebt, schon anzeigt, ist die Sinnlichkeit, die Levinas vom Genuß her denkt, ein genuin leibliches Geschehen, das ohne die Kenntnis von Mitteln auskommt, die nötig wären, um ein Ziel zu erreichen. Genuß ist demgegenüber die leibliche Unmittelbarkeit zur Welt, die keines Werkzeugs bedarf, 160 | reinhold esterbauer

sondern als ›reine Finalität‹ (›finalité pure‹) direkten Weltzugang hat (TU 194/TI 110). Was aber ist für Levinas dasjenige, was im Genuß genossen wird? Es ist weder ein Gegenstand, den man sich in der Vorstellung angeeignet hat, noch handelt es sich um eine Person, die man für sich vereinnahmt. Levinas hat vielmehr die Luft im Sinn, die man atmet, oder Essen und Trinken, an denen man sich erfreut, bzw. das Meer, die Erde, die Stadt oder das Licht. Im Genuß sieht er den Bezug zu etwas gegeben, das weder Gegenstand noch Ding ist, sondern ein ›Milieu‹ (›milieu‹) bildet, das es unmöglich macht, es zu besitzen oder zu umgreifen, also in die eigene Totalität einzuordnen. Levinas nennt das, wovon man im Genuß – den er nicht hedonistisch versteht – lebt, ›das Elementale‹ (›l’élémental‹; TU 184 f./TI 104). Das ›Elementale‹ bzw. ein ›Element‹ ist bestimmt als substanzlose, trägerlose reine Qualität (vgl. TU 195/TI 111 und TU 193/TI 109). Im Genuß kommt demnach kein gegenständliches oder personales Gegenüber zum Vorschein; vielmehr genießt man Qualitäten, die einen erfreuen und zu sinnlichem Glück verhelfen, ohne daß solche Qualitäten Eigenschaften von etwas wären. Insofern reine Qualität kein selbständiges Gegenüber ist, auf das man sich ausrichten kann, ist der Genuß nicht die aktive Aufnahme eines bestimmten Bezuges zwischen zwei isolierbaren Größen, sondern eine Verbindung eigener Art. Diese Relation, die keine Relation im Sinne des Bezugs zwischen zwei Gegenständen oder Substanzen ist – weder im Sinn der Wahrnehmung oder der Vorstellung noch des Denkens –, beschreibt Levinas als das SichHalten in einem Absoluten, das man zwar nicht als solches denkend umfassen, das man aber genießen kann.2 Derartiges Sich-Halten im ›Elementalen‹ bestimmt Levinas an anderer Stelle auch als ein ›Baden im Element‹ (›baigner dans l’élément‹; TU 194 f./TI 110). Das bedeutet, daß das Genießen weder eine Relation im Sinn des Bezugs zwischen Subjekt und Objekt ist noch ein Akt, durch den die Dinge in die Totalität der Vernunft gelangen; vielmehr meint Sinnlichkeit das Geschehen, durch das die Genießenden in einer Welt vor aller Vernunft leben (TU 196/TI 111), also in einer Welt, die noch keine Sinnganzheit bildet. Die eigenständige Art und Weise, im Genuß Kontakt mit der Welt zu haben, die von Levinas nicht im Sinne des Weltbegriffs Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 161

von Heidegger gedacht wird, sondern in Absetzung davon als das sinnlich Elementale, scheint auf den ersten Blick Zeitlosigkeit zu implizieren. Denn das Baden in den Elementen erweist sich als das fraglose Zur-Verfügung-Stehen der Elemente, die nicht als Mangel erscheinen, sondern einem zuströmen, ohne daß die Frage auftreten würde, woher das Elementale komme bzw. ob es als selbstverständlich angesehen werden könne, daß die Elemente weiterhin die Umgebung sein werden, in der man leben kann, ohne zu reflektieren. Im Unterschied zu den Dingen sind die Elemente nicht identifiziert, d. h. ihre Herkunft ist noch nicht Thema geworden; und niemand käme auf die Idee, die Möglichkeit ihres Verschwindens oder Versiegens zu überlegen. Dieser unmittelbare Bezug zu den Elementen ist ihr fragloser Genuß, der jenseits alles Vergehens und daher auch jenseits aller Zeit zu währen scheint.3 Während die Wahrnehmung eine Zeit hat, nämlich die Zeit der Identifikation von etwas als etwas Bestimmtem, erweist sich der Genuß als zeitlos, weil in ihm nichts bestimmt wird und die Genießenden im Elementalen aufgehen. Levinas bestimmt die Zeit, die in der Wahrnehmung zum Tragen kommt – also die Zeit der Identifikation – als die Erinnerung (TU 198/TI 113). Seiner Meinung nach muß man die Welt der Gegenstände in ihrem Bestand sichern, wenn man Gegenstände voneinander unterscheiden und bestimmen möchte. Daher sei es für die Wahrnehmung der Welt entscheidend, daß man sich an sie erinnert. Identifizierte Gegenstände haben eine Vergangenheit, weil man sie im wahrnehmenden Weltzugang immer neu vergegenwärtigen muß. Man kommt also nicht ohne Erinnerung aus, wenn es darum geht, Gegenstände, Dinge oder Personen in der Welt zu identifizieren. Die Zeitlosigkeit derer, die sich im Elementalen halten, besteht zunächst darin, daß wegen der nicht erforderlichen Identifizierung der Dinge und Gegenstände keine Erinnerung notwendig ist. Doch erweist sich das Baden in den Elementen als nicht unangefochten. Die Unsicherheit von puren Qualitäten zeigt sich darin, daß sie nicht Qualitäten von jemandem oder etwas sind – und wegen ihrer Substanzlosigkeit zunehmend in ihrem Bestand bedroht sind. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Elemente unablässig zur Verfügung zu stehen scheinen, wird fragil, weil sich weder ihr Quellpunkt noch ihr Träger feststellen oder gar fixieren läßt. Noch vor 162 | reinhold esterbauer

jeder Vorstellung, mit der man die Elemente zu erfassen versucht, geben und entziehen sich diese, was Unsicherheit verbreitet. Die Herkunftslosigkeit und die Ursprungslosigkeit dessen, wovon man lebt, stellt plötzlich die eigene Lebensgrundlage in Frage. Auf diese Weise wird einem – mit Levinas’ Worten gesprochen – der Genuß allmählich ›verdorben‹,4 insofern sich das Glück, sich in dem aufzuhalten, wovon man lebt, als brüchig erweist. Noch bevor man versucht, mit Hilfe von Vorstellungen über das Elementale dessen Herr zu werden, ›zerbröckelt‹ es in seinem bislang unhinterfragten Werden.5 Auf diese Art erweist sich die Zeitlosigkeit des Genusses als bloß scheinbare Zeitlosigkeit. Denn die Fragilität und Zerbrechlichkeit eines solchen Lebens eröffnet eine Zukunft, nämlich die Zukunft, die in der Unsicherheit des Genusses der Elemente beruht. Zeitlosigkeit verwandelt sich in Zukunft. Das bedeutet, daß sich Zeit einstellt, und zwar eine spezifische Form von Zeit, die Levinas die »Zukunft der Sinnlichkeit und des Genusses« nennt (»l’avenir de la sensibilité et de la jouissance«; TU 201/TI 114).6 Auffälligerweise handelt es sich noch nicht um die Vergangenheit, die sich durch die Identifikation der Dinge in der Welt zu erkennen gibt, welche ihrerseits die Erinnerung voraussetzt. Die Zeit, die Levinas an dieser Stelle ins Spiel bringt, ist vor aller Vorstellung, weil sie noch dem Genuß angehört. Dies ist auch der Grund, warum diese Zeit nicht Vergangenheitscharakter hat, der ihr über die Erinnerung zugewiesen werden müßte, sondern Zukunft ist, die solcher Erinnerung vorhergeht. Es handelt sich um eine Zukunft vor der Vergangenheit des Vorstellens. Darüber hinaus läßt sich diese Zeit des Genusses, also die primäre Zukunft, näher qualifizieren, nämlich als ungewisse, unsichere, unbestimmte und gefährdete Zukunft. Wenn die These stimmt, daß Levinas in Totalité et Infini bestimmte Manifestationen von Transzendenz mit bestimmten Arten von Zeit korrelieren läßt, so ist es angebracht zu fragen, ob Levinas eine Gottesvorstellung angibt, die dieser Konzeption von Zeit als brüchiger Zukunft entspricht. In der Tat deutet Levinas eine solche Gottesvorstellung an, die ich kurz skizzieren möchte. Im Genuß – so Levinas – sind die Dinge noch nicht ans Licht gebracht, sie sind noch nicht Gegenstände einer Welt. Vielmehr bleiben die Elemente im Dunkeln, was verhindert, sie als etwas Bestimmtes erkennen zu können. Im Genuß erkennt man keine Welt. Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 163

Es zeigt sich, daß die Zukunft des Genusses als brüchige und unsichere nach Levinas eine ›nächtliche Dimension‹ ist (›dimension nocturne‹; TU 203/TI 116), insofern sich im Genuß nichts offenbart, sondern alles im Finstern bleibt. Gerade dieser Entzug des Elementalen vor aller Identifikation und sein Aufenthalt in der Dimension der Finsternis, die Unsicherheit einschließt, machen das Element für Levinas zur Gottheit. Wenn jedoch das Meer, die Luft oder die Stille zu Gottheiten mutieren, ist der Götterhimmel ein mythischer. Daher kann Levinas sagen (TU 202/TI 115): »Die Zukunft des Elements als Unsicherheit wird konkret erlebt als mythische Gottheit des Elements« / »L’avenir de l’élément comme insécurité, se vit concrètement comme divinité mythique de l’élément.« Levinas reflektiert über einen Zustand diesseits einer Welt, in der sich etwas offenbart. Dazu brauchte es das Licht, durch das man Dinge oder Gegenstände als solche erkennen kann, das im Genuß aber keine Rolle spielt. Das Aufgehen in den Elementen wird zur ›Herrschaft der mythischen Götter‹ (›le règne des dieux mythiques‹; TU 203/TI 116), das jeder Konstitutionsleistung durch ein Ich zuvorkommt. Nicht besteht schon ein Ich, das durch die Brüchigkeit des Genusses verunsichert würde. Vielmehr gilt (TU 206/TI 118): »Das Ich bildet sich erst im Genuß« / »Dans la jouissance le moi se cristallise seulement.« Erst das Herausfallen aus der Fraglosigkeit des Lebens von den Elementen läßt ein Ich entstehen, das um seine Bedürftigkeit weiß. Genausowenig wie Genießende schon als Ich charakterisiert werden können, sind die mythischen Gottheiten der Elemente personale Götter. Ohne selbst einen Ursprung aufzuweisen noch selbst Ursprung zu sein, bleiben sie als sich gebende und zugleich entziehende reine Qualitäten diffus. Für Levinas ist entscheidend, daß solche Götter kein Antlitz haben. ›Götter ohne Antlitz‹ (›[d]ieux sans visage‹; TU 202/TI 115) aber bilden kein Gegenüber, an das man sich wenden könnte, noch stellen sie Ansprüche. Der fraglose Genuß als die basale Schicht menschlichen Lebens gelangt in Anbetracht mythischer Götter aber auch an sein Ende, denn die Identität von Genießendem und Genossenem hat durch die Gefährdetheit des Genusses einen Riß bekommen, der als unsichere Zukunft greifbar wird. Diese zeigt eine erste Differenz an, nämlich den Unterschied zwischen dem allmählich entstehenden Ich, das in den Elementen 164 | reinhold esterbauer

ein vages Gegenüber bekommt, und den sich als begrenzt erweisenden Elementen selbst, die als mythische Gottheiten zum Vorschein kommen. Diese Gottheiten konfrontieren die Genießenden mit den Grenzen des Genusses und zeigen eine erste Trennung an. Levinas bezeichnet diese Form des Gegenübers von Ich und antlitzlosen Göttern als das ›Heidentum‹ (›paganisme‹; TU 202/TI 115). Solches Heidentum umfaßt kaum greifbare, vom Ich getrennte Lebensgrundlagen, die sich zugleich entziehen und deshalb als göttlich erlebt werden. An dieser Stelle begegnet erstmals ein Begriff, der für Totalité et Infini zentral ist und auch für die Fragestellung nach dem Konnex von Zeit- und Gottesvorstellung eine wesentliche Rolle spielt, nämlich der Begriff der ›Trennung‹ (›séparation‹). Mit diesem Ausdruck geht Levinas daran, nicht nur Anderheit als radikale Anderheit zu denken, sondern solche Anderheit auch an das Antlitz des anderen Menschen zu knüpfen. Auf der Ebene des Genusses kündigt sich Anderheit in der Unverläßlichkeit der Elemente erst an, wenn der Genuß gestört und daher unsicher wird. Es handelt sich bei den mythischen Göttern noch um eine diffuse Anderheit, die antlitzlos bleibt und daher keine radikale Trennung impliziert. Doch schon auf der Ebene des Genusses bringt Levinas mit dem Begriff der Trennung Gottes- und Zeitbegriff in Zusammenhang, indem er Heidentum und Zukunft aufeinander bezieht. Zum einen bezeugt das Heidentum eine Trennung zwischen einzelnen Seienden, insofern sich in ihm eine erste Differenzierung zwischen Ich und den mythischen Göttern vollzieht. Zum anderen verbürgt die Zukunft Trennung, sofern in ihr das Element zum Gegenüber wird.7 Weil Trennung Zukunft eröffnet bzw. Zukunft Trennung bedingt, treten Ich, Welt und Götter auseinander.

2. Gebrochene Zukunft und Atheismus Die Art von Trennung, die er mit der Zukunft der mythischen Götter verbindet, ist für Levinas noch nicht Trennung im eigentlichen Sinn, sondern bloß deren vorläufige Form. Weil die Differenz zwischen Ich und Gott noch nicht radikal gedacht ist, sondern durch die Vermittlung über die Elemente geschieht, sind die heidnischen Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 165

Götter seiner Meinung nach nicht nur kein wahrhaftes Gegenüber – sie sind substanzlose Qualitäten –, sondern auch keine wirklichen Korrelate im zeitlichen Bezug des Menschen. Die als Götter gedachten Elemente bleiben in die Zukunft des Menschen und seiner Bedürfnisse eingeordnet. Über den Mythos hinauszukommen, bedeutet im Unterschied dazu, eine andere Zeit – genauer eine andere Zukunft – erschlossen zu erhalten. Erst dann werden die heidnischen Götter obsolet. In Absetzung von Husserl ist für Levinas eine solche andere Form von Zeit eine Zeit jenseits des Bewußtseins. Es geht ihm nicht um die dem inneren Zeitbewußtsein ›[i]mmanente[n] Zeitobjekte und ihre Erscheinungsweisen‹,8 sondern um eine Zukunft, die das Bewußtsein fundiert, ohne von ihm bedingt zu sein. Für Levinas ist eine solche Zeit zu erahnen, wenn man die Zukunft, die sich im Genuß manifestiert, zu Ende denkt. Denn die Zeit des Genusses läßt sich nicht nur anfanghaft im Genuß selbst eruieren, sondern auch in verwandten, aber fortgeschritteneren Formen des Umgangs mit der Welt. Da sich der Genuß nach dem ersten scheinbar zeitlosen Aufgehen in den Elementen als brüchig erweist, geht das Ich daran, die Elemente zu sichern und in Verfügung zu halten. Es ist ihm darum zu tun, über die unsichere Zukunft zu verfügen, indem es auf die Dinge Einfluß auszuüben beginnt. Diesen Versuch nennt Levinas ›Arbeit‹ (TU 230/TI 134): »Die Arbeit beherrscht oder unterbricht sine die die unbestimmte Zukunft des Elements.« / »Le travail maîtrise ou suspend sine die l’avenir indéterminé de l’élément.« Indem es arbeitet, versucht das Ich, die Dinge zu ergreifen und ihren Bestand zu sichern. Dinge sollen ›Möbel‹ / ›meubles‹ werden, wie Levinas sagt (ebd.), die man sich ins Haus bringt und dort bewahrt und nutzt, wo man wohnt. Man sammelt Besitz an, um die unvorhersehbare Zukunft doch vorhersehbar zu machen und über die Zukunft Macht zu gewinnen. Durch diesen Zugriff bleiben die Elemente keine frei schwebenden Qualitäten mehr, wie sie sich im Genuß präsentiert haben. Vielmehr produziert Arbeit Besitz; und Besitz ist etwas, das »in der Zeit bleibt und dauert« / »ce qui demeure permanent dans le temps«, nämlich ›Substanz‹ (›substance‹; TU 231/TI 134). Indem Dinge durch die Arbeit von Qualitäten zu Substanzen transformiert 166 | reinhold esterbauer

werden, sichert man Zukunft, insofern deren Bedrohtsein hinausgeschoben wird. Die Verfügbarkeit und Beständigkeit der Dinge vertagen die Zukunft, die das Leben gefährdet, und geben der Zeit dadurch Dauer. Auf diese Weise wird die Zeit der Arbeit die verlängerte Zeit des Genusses. Diese Zeitkonzeption bleibt an den Menschen und seine leibliche Bedürftigkeit gebunden. Denn nur kraft des Leibes kann man genießen; und wegen dessen Bedürfnissen braucht es die Sicherung der Elemente. Daher kann Levinas sagen, daß die Leiblichkeit des Menschen der Grund für dessen Zukunft ist (TU 326/TI 200): »Die Leiblichkeit ist die Existenzweise eines Seienden, dessen Gegenwart sich gerade im Augenblick seiner Gegenwart vertagt.« / »La corporéité est le mode d’existence d’un être dont la présence s’ajourne au moment même de sa présence.«9 Diese Vertagung generiert eine Zukunft, die der Leiblichkeit des Menschen geschuldet ist. Doch bestimmt sie auch das Bewußtsein, insofern es ohne dieses unmöglich ist, die Dinge zu ordnen, zu konservieren, in Besitz überzuführen und zu horten. Jedoch geraten die Dinge nicht deshalb in die Zeit, weil sie Gegenstand des Bewußtseins werden, sondern der durch den Leib gegebene Aufschub der Zukunft macht das Bewußtsein überhaupt erst möglich. Denn die Vertagung eröffnet dem Bewußtsein das Feld seiner Zugriffsmöglichkeiten. Bewußtsein zu haben ist deshalb ein Indikator dafür, Zeit zu haben,10 die allerdings ihren Grund nicht im Bewußtsein hat, sondern in der Leiblichkeit des Menschen. Das bedeutet, daß das Bewußtsein die von der Leiblichkeit her eröffnete Möglichkeit ist, die Zeit zu nutzen, die dadurch zur Verfügung steht, daß die Bedrohung vertagt wird.11 Levinas radikalisiert diesen Gedanken noch, indem er ihn auf den Tod ausdehnt, der das Leben in seiner Gesamtheit gefährdet. Anders als Heidegger, der zwar auch die Zukunft als zentral ansetzt,12 sieht Levinas im Tod nicht die letzte Möglichkeit des menschlichen Selbstvollzugs, sondern vielmehr das Ende jedes Könnens. In der Zeit zu sein, bedeutet für ihn umgekehrt den ›Aufschub des Todes‹ (›ajournement de la mort‹; TU 339/TI 208; vgl. TU 344/TI 212), also nicht das ›Sein zum Tode‹, sondern das Leben gegen den Tod – zeitlich ausgedrückt als Leben im ›Noch-nicht‹ / ›pas encore‹ des Todes.13 Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 167

Die Zukunft, von der Levinas spricht, wenn er von der Zukunft des Genusses über diejenige der Arbeit bis zu jener des Todes kommt, kann die Trennung nicht als Trennung im eigentlichen Sinn vollziehen. Diese wird erst im Tod manifest, in dem sich etwas Transzendentes ankündigt, nämlich etwas, das »nicht umgriffen werden kann« / »ce qui ne saurait être englobé« (TU 423/TI 269). Die Bemühungen, die eigene Existenz durch Arbeit zu sichern und sich in eine Bleibe oder Wohnung zurückzuziehen und mit der Hilfe von Besitz Zeit zu gewinnen, scheitern letztlich trotz aller Aufschübe am Tod, der sich nicht umgreifen läßt. Dennoch reicht die Trennung, wie sie sich in der Arbeit vollzieht, über die anfängliche Differenz im gefährdeten Genuß hinaus. Sie läßt mit dem Ich, das sich eine Wohnung und sein Leben einrichtet, nämlich eine ›Innerlichkeit‹ (›intériorité‹) entstehen, die der Unmittelbarkeit des Genießens noch fremd ist. Eine solche Innerlichkeit wird aber erst dann Trennung im eigentlichen Sinn, wenn der gemeinsame Zeitfaden zwischen dem Ich und den Dingen, der in der Arbeit noch gegeben ist, reißt, wenn also Ich und Welt die gemeinsame Zukunft abhanden kommt. Levinas ist es darum zu tun aufzuzeigen, daß eine radikale Trennung, die einhergeht mit einer Innerlichkeit, die nicht als Teil eines Ganzen verstanden werden kann, die historische Zeit aufbrechen muß. Das geschieht im Tod. Der eigene Tod zeigt, daß sterblich zu sein über die Geschichte hinausreicht (vgl. TU 72/TI 27). Was bedeutet das für die Frage nach den mythischen Göttern, die auf der Ebene des Genusses sichtbar geworden sind? Sie tauchten durch die Trennung zwischen Ich und genossenen Elementen als diese Elemente auf. Insofern sie dasjenige repräsentierten, was die Lebensfreude ausmacht, sich aber immer wieder entzieht, waren sie Götter, wenn auch nur mythische. Durch die Arbeit, die die reinen Qualitäten in Substanzen verwandelt, versucht der Mensch, ihrer habhaft zu werden. Sie sollen verfügbar gemacht werden, damit der Tod hinausgeschoben werden kann. Doch haben sie letztlich nicht die Macht, über die Unverfügbarkeit des eigenen Todes hinwegzuhelfen. Deshalb muß eine solche Gottesvorstellung scheitern, d. h. der Mythos gelangt an seine Grenzen. Was an seine Stelle tritt, ist ein Atheismus. Atheismus, wie Levinas ihn versteht, ist allerdings vor aller Ver168 | reinhold esterbauer

neinung oder Bejahung der Existenz Gottes angesiedelt (vgl. TU 76/ TI 29 f.). Auch widerstreitet er keinem oder begünstigt er keinen Gottesbeweis (vgl. TU 442/TI 281), sondern meint das Unterlaufen alles Numinosen und Sakralen (vgl. TU 105/TI 49).14 Dieses ist der Ausdruck für den Versuch, scheinbar Transzendentes wie die mythischen Götter in die menschliche Verfügbarkeit zu bringen und an die erfahrbaren Dinge zu binden. Gegen das Numinose und Sakrale setzt Levinas das Absolute bzw. das Unendliche als das von der Verfügungsmacht des Menschen völlig Getrennte. Daher kann er über die Trennung, die die des Genusses und der Arbeit übersteigt, weil sie jenseits der Bezüge des Ich zu den Dingen manifest wird, sagen (TU 75/TI 29): »Diese Trennung kann man Atheismus nennen«. / »On peut appeler athéisme cette séparation […].«15 Ein so verstandener Atheismus ist für Levinas die Voraussetzung dafür, das Transzendente als solches denken zu können, weil zum Transzendenten im vollen Wortsinn nicht gehören kann, daß es in der Machtsphäre des Ich steht. Levinas weiß sich in diesem Gedanken an die französische philosophische Tradition gebunden. Die Innerlichkeit, verknüpft mit der Idee des Unendlichen, sieht er nämlich schon durch Descartes entdeckt. Wenn dieser davon redet, daß »mir eine Vorstellung eines vollkommensten Wesens, d. i. Gottes, einwohnt« / »quaedamque idea entis perfectissimi, hoc est Dei, in me sit« (MPP III, 36) bzw. daß »Gott mir, als er mich schuf, diese Vorstellung eingepflanzt ha[be]« / »Deum me creando ideam illam mihi indidisse« (MPP III, 38), dann ist damit nicht bloß der Erhalt der Gottesidee jenseits der Verfügung durch das Ich angesetzt, sondern auch die Innerlichkeit dieses Ich mitgegeben. Zugleich ist für Levinas einsichtig, daß die Idee des Unendlichen im Ich schon bei Descartes nicht auf die Innerlichkeit reduziert bleibt, sondern über sie hinausreicht, ohne freilich das Ich ethisch zu fordern (vgl. TU 306/TI 186 f.). Levinas billigt Descartes zu, die Idee des Unendlichen (also Gottes) als vom Ich wahrhaft getrennte Idee und das Ich als Innerlichkeit gedacht zu haben, möchte aber insofern über Descartes hinausgehen, als er einen solchen ›Atheismus‹ nicht mehr als Bezug zwischen zwei Freiheiten bzw. in der Willkür der Freiheit denken (vgl. TU 306/TI 187), sondern im Hinblick auf den moralischen Anspruch an das Ich, den ein Antlitz stellt, übersteigen will. Der Atheismus, der damit erreicht ist, daß Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 169

die Zukunft als Dimension geschichtlicher Universalität ihre Geltung verliert, den sie im Genuß und in der Arbeit erlangt hat, kennt noch keinen moralischen Anspruch (TU 123/TI 61): »Das Wunder der Schöpfung besteht darin, daß ein moralisches Wesen geschaffen wird. Und genau das setzt den Atheismus voraus, aber zugleich, jenseits des Atheismus, die Scham über die Willkür der Freiheit, die den Atheismus konstituiert.« / »Le miracle de la création consiste à créer un être moral. Et cela suppose précisément, l’athéisme, mais, à la fois, par delà l’athéisme, la honte pour l’arbitraire de la liberté qui le constitue.« Bevor er Gott als Antlitz denkt, reflektiert Levinas den Atheismus als die Ebene der gestürzten mythischen Götter, auf der der Mensch zwar seine Innerlichkeit als Trennung von allem anderen gefunden hat, auf der er aber auch ohne moralische Vorgaben lebt. Ein gottloses – im Sinn des überwundenen Mythos – Freiheitssubjekt, das sich gegen den Tod behauptet, ohne sich seiner bemächtigen zu können, steht vor der Brüchigkeit der eigenen Zukunft, auch wenn diese bis zum eigenen Tod vorläufig gesichert erscheint. Dieser Atheismus, den der eigene Tod in Frage stellt, zeigt sich auch darin, daß Gott nur scheinbar Eingang in die Sprache findet, die ihn zu thematisieren versucht. Wenn nämlich etwas zum Gegenstand zu machen bzw. zu thematisieren bedeutet, »dem Anderen die Welt durch das Wort an[zu]bieten« / »offrir le monde à Autrui par la parole« (TU 302/TI 184), dann läßt sich Gott nicht zum Thema machen, solange er transzendenter Gott bleiben soll. Insofern Gott nicht mehr der mythische und wenigstens partiell immanente Gott ist, sondern als das Unendliche bestimmt wird, sprengt er die Fassungskraft des Bewußtseins und der Sprache. Daher gilt (TU 305/ TI 186): »Das Unendliche kann nicht thematisiert werden, und die Unterscheidung zwischen Schließen und Anschauung ist für den Zugang zum Unendlichen unpassend.« / »L’infini ne saurait être thématisé et la distinction entre raisonnement et intuition ne convient pas à l’accès à l’infini.« Die Überlegungen zur bewußt werdenden Fragilität der eigenen Zukunft im Genuß haben Levinas zu einer Zeitkonzeption geführt, der selbst die Vertagung bzw. der Aufschub des Bruches in der Zukunft nicht mehr genügen kann, da mit dem Tod eine Zukunft zu denken ist, die nicht mehr einer Zeitvorstellung entspricht, die Ver170 | reinhold esterbauer

gangenheit, Gegenwart und Zukunft als verschränkte Dimensionen derselben Zeit – gedacht als universale Geschichte – ansetzt. Vielmehr kündigt sich mit der Innerlichkeit des Ich eine Zukunft an, die nicht mehr ins Bewußtsein einholbar ist. Das versuchen nur die defizitären Gottesvorstellungen des Mythos und das Vorhaben, Gott in Genuß und Arbeit zu finden. Weil Gott als das Unendliche in mir nicht manipulierbar ist wie alles Sakrale oder Numinose und weil sich das Unendliche als solches in der von mir kontrollierten Zeit nicht finden läßt, führt die Vorstellung Descartes’ nach Levinas in einen Atheismus. Dieser ist charakterisiert als Gottes Fehlen in der historischen Zeit. Das Unendliche ist in der Zukunft, die das Bewußtsein überschaut, nicht zu haben.

3. Zwischenzeiten ohne Gott Levinas erblickt neben der Arbeit in den Versuchen der bildenden Kunst ein weiteres zweifelhaftes Unterfangen, das Unendliche als Idee in das Elementale einzufangen. Schlägt man die ästhetische Perspektive ein, so vermutet Levinas dahinter das Streben nach einem Genuß auf höherer Ebene. Genießerisch die Dinge dieser Welt zu konsumieren, insofern sie sich als schön erweisen, ist die Rückkehr in den Genuß, der mit dem Verzehr der Elemente begonnen hat. Levinas, der schon 1948/49 mit seinem frühen Aufsatz La réalité et son ombre analog zum Bilderverbot seine Kritik an der bildenden Kunst geäußert hat,16 meint, daß die Kunst der Wirklichkeit den Status eines Schattens verleihe und daher die Betrachter bzw. Rezipienten einlulle bzw. verzaubere (vgl. La réalité, 775: ›ensorcellement‹), was sie in ›Verantwortungslosigkeit/irresponsabilité‹ versetze (La réalité, 787). Die Dinge bekommen durch den schönen Schein für Levinas eine Fassade und werden zur Schau gestellt, so daß Wirklichkeit in ihrer Widerständigkeit nicht mehr begegnen kann (vgl. TU 276/TI 167). Geschieht eine solche Ästhetisierung auch mit dem Unendlichen, wird also versucht, Gott ins Bild zu bringen, so entsteht ein Idol.17 Dieses ist das ins Endliche eingeholte Unendliche, an dem Religiöse ihren Gefallen finden, das aber seinen Status als Unendliches verloren hat. Ein erfaßtes Unendliches ist nach Levinas ein Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 171

Widerspruch in sich. Das läßt sich auch an dessen seltsamem Zeitmodus erkennen. Die Zeit, in der sich die idolisierten Götter befinden, hat einen eigenen Charakter. Anders als im anfänglichen Genuß ist nämlich die Zukunft nicht mehr die das Ich verunsichernde Zukunft; vielmehr stehen die Idole im Genuß höherer Ebene, den die Kunst darstellt, in einer Zukunft, die ihre Zukünftigkeit verloren hat. Idole befinden sich »an der Schwelle einer Zukunft, die nie eintritt« / »au seuil d’un avenir qui ne se produit jamais« (TU 321/TI 197). Die Unendlichkeit verspräche eine unvordenkliche Zukunft, die allerdings dadurch, daß sie ins Bild oder in die Statue gebannt ist, nicht zum Tragen kommen kann. Das Mißlingen des Versuchs, über das Unendliche zu verfügen, das weder thematisiert noch in den eigenen Besitz überführt werden kann – was hieße, die Trennung aufzuheben –, manövriert das Idol in den Bereich einer ›Zwischen-Zeit/entre-temps‹, in eine verfügbare Gegenwart ohne Zukunft. Idole sind nicht mehr als »bewegungslose Götter in der Zwischen-Zeit der Kunst« / »dieux immobilisés dans l’entre-temps de l’art« (ebd.). Der Versuch, den Atheismus zu überwinden, der sich einstellt, wenn die Welt entmythologisiert wird, indem man sie ordnet und sich verfügbar macht, scheitert, wenn man Göttern ihre Zukunft nimmt und sie als Idole ihrer Zukunft zu entziehen versucht. Die Trennung und die Transzendenz ernst zu nehmen kann nur heißen, die Idole hinter sich zu lassen und davon abzusehen, Gott in die eigene Zeit zerren zu wollen. Es kommt darauf an, das Konzept von Zeit als universaler Dauer aufzugeben und die Brüche in der historischen Zeit in den Vordergrund zu rücken, also mehrere Zeiten zu denken, die nicht harmonisierbar sind. Levinas nennt einen solchen Bruch, der zwischen zwei Zeiten steht, ein ›Intervall‹ (›intervalle‹) und die Zeit des Intervalls ›tote Zeit‹ (›temps mort‹; TU 75/ TI 29). Das Intervall als tote Zeit ist der Abbruch des Kontinuums der Zeit, markiert also die absolute Trennung zwischen zwei Zeiten. Nach Levinas kann Gott nur auf die Weise zeitlich gedacht werden, daß er jenseits der Zeit des Ich in seiner eigenen Zeit verbleibt und sich weder als Idol in die Geschichtszeit bringen läßt noch im Atheismus untergeht. Gott läßt sich nicht ins Denken bringen, sondern fällt nur selbst ins Denken ein. ›Wenn [aber] Gott ins Denken einfällt‹,18 bleibt er in seiner Zeit und etabliert eine zeitliche Diffe172 | reinhold esterbauer

renz – das Intervall –, das zeitlich nicht zu überbrücken ist (TU 415/ TI 260): »Das Nichts des Intervalls – eine tote Zeit – ist das Ereignis des Unendlichen.« / »Le néant de l’intervalle – un temps mort – est la production de l’infini.« Die Zeit des Intervalls ist als tote Zeit selbst ohne Gott, aber die beiden Zeiten jenseits des Intervalls, also die Zeit Gottes und die Zeit des Ich, sind konstitutiv für eine Begegnung mit dem Transzendenten.

4. Zeit als Adieu Die Trennung von Gott, die – wie sichtbar geworden ist – als Transzendenz im Sinn von Unfaßbarkeit gedacht werden muß, auf der einen Seite und das Intervall, das als tote Zeit die Zeit des Ich und die Zeit Gottes strikt voneinander trennt, auf der anderen Seite sind von Levinas parallel konzipiert. Trennung ist nicht bloß die Differenz zweier Instanzen in derselben Zeit, sondern schlägt sich nieder als zwei Zeiten, nämlich als die eigene Gegenwart und eine Zukunft, die nicht in die Gegenwart geholt werden kann, sondern im Unterschied zur vergegenwärtigten Zukunft die ›echte Zukunft‹ (l’avenir authentique) ist.19 Zu fragen ist im Hinblick auf diesen Gedanken, wie Gott einem Ich überhaupt begegnen kann, wenn die Trennung vollkommen und Gottes Zukunft gegenwartslos ist. Bestimmt man das Ich nämlich als Innerlichkeit, wie Levinas es in Anlehnung an Descartes tut, so ist mit diesem Begriff noch keine Begegnung gedacht. Die Innerlichkeit des Ich vollzieht sich als Selbstbezug, der bis zum Atheismus reicht, aber nicht darüber hinaus (vgl. TU 434/ TI 275). Soll die Gottesbegegnung der vorgestellten Zeitkonzeption genügen, so kann die Innerlichkeit die Existenz des getrennten Ich nicht erschöpfen.20 Diese Situation scheint aporetisch zu sein. Denn wie kann es eine Begegnung ohne Beziehung in einer gemeinsamen Zeit geben? Trotz dieser Schwierigkeit will Levinas Religion als eine ›Beziehung ohne Beziehung‹ (›relation sans relation‹) denken und sich dieser Aporie stellen.21 Übersetzt man diese Fragestellung in zeitliche Begriffe, die auch Levinas verwendet, geht es darum, Zukunftsformen zu finden, die Zeitbrüche nicht ausschließen. Levinas fragt dabei vom Ich aus und sucht eine Zukunft, die nicht mehr Zukunft des Ich ist, Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 173

sondern von dieser durch ein Intervall getrennt ist. Dafür reicht die Zeit, die die Möglichkeiten eröffnet, die ein Ich hat, nicht aus, weil Möglichkeiten schon in der Gegenwart angelegt sind und von der Gegenwart ihre Bestimmung erhalten.22 Die Zukunft, die in der Möglichkeit liegt, entspricht folglich dem Kriterium der Trennung im eigentlichen Sinn nicht, weil sie Entwurfscharakter hat und von präsentischen Bedingungen bestimmt ist. Anders verhält es sich nach Levinas hingegen beispielsweise mit der Liebkosung in der erotischen Beziehung. Zärtliche Berührung faßt nichts an, sondern verliert sich endlos auf der Haut. Ziellos ist Liebkosung auf etwas aus, was sie nie erreichen wird, weil es das Gesuchte noch gar nicht gibt. Dieses Noch-Nicht eröffnet neuerlich eine Zukunft, ist aber abgelöst von jeder eigenen Möglichkeit, des Zukünftigen habhaft zu werden. So sucht Liebkosung, »was noch nicht ist, ein ›Weniger als nichts‹, das jenseits der Zukunft verschlossen ist und schlummert und daher ganz anders schlummert als das Mögliche, das sich der Antizipation preisgibt« / »ce qui n’est pas encore, un ›moins que rien‹, enfermé et sommeillant au delà de l’avenir et, par conséquent, sommeillant tout autrement que le possible, lequel s’offrirait à l’anticipation« (TU 376/TI 235). Im Unterschied zur medizinischen kommt die erotische Nacktheit aus »einer Zukunft, die jenseits der Zukunft liegt, in der das Mögliche sich abzeichnet« / »un avenir situé au delà de l’avenir, où scintillent les possibles« (TU 381/TI 238). Es taucht eine Zukunft jenseits der eigenen Zukunft auf. Ein anderes Beispiel für eine Zukunft jenseits der eigenen Möglichkeiten entdeckt Levinas in der ›Fruchtbarkeit‹ (›fécondité‹), also im Übersteigen seiner selbst im eigenen Kind. Für dieses gilt, daß seine Eltern zu ihm in einer Beziehung stehen, in der das Kind in einem ›Jenseits der Entwürfe‹ (›au delà des projets‹) der Eltern zu stehen kommt (TU 391/TI 245). An der Debatte darüber, ob es ein solches Jenseits gibt, mögen sich Generationenkonflikte entzünden – dennoch oder gerade deshalb gilt, daß die Relation der Eltern zur Zukunft ihres Kindes die »Beziehung zu einer solchen Zukunft [ist], die nicht auf die Macht über Mögliches zurückgeführt werden kann« / »relation avec un tel avenir, irréductible au pouvoir sur des possibles« (TU 392/TI 245). Zwar stammt das Kind von seinen Eltern ab und ist in diesem Sinn deren Zukunft, aber eine Zukunft, die 174 | reinhold esterbauer

deren Vorstellungen, Projekten und Möglichkeiten entzogen bleibt. Das Kind ist im Letzten nicht die Möglichkeit der Eltern. Vielmehr setzt die Fruchtbarkeit die Eltern in eine »Beziehung zur absoluten Zukunft oder zur unendlichen Zeit« / »rapport avec l’avenir absolu ou le temps infini« (TU 393/TI 246). Denn im Bezug zum Kind ist die Relation zur eigenen Zukunft zerbrochen. Die Zukunft des Kindes ist nicht die der Eltern, sondern die des Kindes, obwohl es das eigene Kind ist, zu dem die Eltern in Bezug stehen. Wie das Kind selbst ist Zeit ›wesentlich eine neue Geburt‹ / ›essentiellement une nouvelle naissance‹.23 Die beiden Beispiele zeigen, daß es mit der Trennung, die die Innerlichkeit hervorbringt, allein nicht getan ist. Solange das Ich bei sich bleibt – auch wenn es um das Intervall der toten Zeit weiß –, ist für es zwar radikale Beziehungslosigkeit gegeben, aber auch die Unmöglichkeit der Begegnung mit anderen Menschen fixiert. Bliebe Levinas bei der Innerlichkeit stehen, wäre das beschriebene Paradoxon der ›Beziehung ohne Beziehung‹ bloß einseitig aufgelöst. Es wäre zwar die Integration des Zukünftigen in das Bewußtsein – die eine Seite des Paradoxons – überwunden, aber nur zugunsten der Kehrseite, nämlich der Isolation. Fruchtbarkeit hingegen setzt einen in Bezug zu einer Zukunft, die je neu anhebt und durch die endlosen Zeitbrüche die Beziehungen immer wieder unterbricht.24 Liebkosung und Fruchtbarkeit zeigen darüber hinaus, daß die Zukunft, die nicht allein meine Zukunft bleibt, eine Zeitstruktur impliziert, die sich personal realisiert. Sowohl Liebkosung als auch Fruchtbarkeit setzen einen zweiten Menschen voraus, ohne den die eigene Zeit als universale Zeit nicht unterbrochen werden kann. Es ist immer ein anderer Mensch, der sowohl die bloße Innerlichkeit als auch die Einholung der Welt in das eigene Bewußtsein stört, insofern er eine zweite Zukunft eröffnet, die in die eigene nicht integriert werden kann. Die Begegnung mit dem anderen Menschen ist für Levinas der Ort, wo Beziehung und Trennung in einem geschehen.25 Das ist auch der Grund, warum er schon in Le Temps et l’Autre sagen kann, daß die Begegnung zwischen zwei Personen durch die ›Anwesenheit der Zukunft in der Gegenwart‹ ausgezeichnet sei (›la présence de l’avenir dans le présent‹; ZuA 51), ohne daß es möglich sei, »in der Gegenwart das Äquivalent der Zukunft zu finden« (»de Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 175

trouver dans le présent l’équivalent de l’avenir«; ZuA 52). Das gilt vor allem für die Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Begegnet mir das Antlitz eines Menschen, so wird damit Zeit neu eröffnet, ohne daß ich es vermöchte, das Antlitz und seine Zeit in meine Gegenwart einzufügen. Es entsteht eine zeitliche Asymmetrie: Der andere Mensch ist kraft seines Antlitzes eine eigene, meine Endlichkeit überragende unendliche Zukunft, die in meine Zeit tritt, ohne daß er Teil meiner eigenen Zeit wird. Seine Zeit bricht die Kontinuität meiner Zeit auf, noch ehe ich die Situation umkehren kann. Auf die Begegnung mit einem Antlitz zu antworten heißt deshalb immer schon, dies in der Gebrochenheit meiner eigenen Geschichte zu tun. In der »asymmetrische[n] Beziehung mit dem Anderen, der als unendlicher [sic] die Zeit öffnet« (»relation asymétrique avec l’autre qui, infini, ouvre le temps«; TU 327 f./TI 201), erscheint sein Antlitz nicht als Teil einer Universalgeschichte, sondern als deren Zerbrechen (vgl. TU 369/TI 231). Was die Frage nach der Transzendenz anbelangt, von der ich behauptet habe, daß Levinas sie als Bruch in der Zeit zu denken versucht, ist zu sagen, daß Transzendenz für Levinas schon in der Asymmetrie von Ich und Anderem bzw. Anderer gegeben ist. Das Treffen auf ein Antlitz ist bereits die Begegnung mit dem Transzendenten. Ist dann aber die Begegnung mit dem anderen Menschen – so wird man fragen – zugleich die Begegnung mit dem Göttlichen? Levinas’ Anwort deutet in diese Richtung, wenn er schreibt (TU 106 f./TI 50): »Die Dimension des Göttlichen öffnet sich vom menschlichen Antlitz aus.« / »La dimension du divin s’ouvre à partir du visage humain.« Mehr noch (TU 108/TI 51): »Der Andere ist […] für meine Beziehung zu Gott unerläßlich« / »Autrui est […] indispensable à mon rapport avec Dieu.«26 Er ist zwar nicht die ›Inkarnation Gottes‹ / ›incarnation de Dieu‹,27 aber »durch sein Antlitz […] die Manifestation der Höhe, in der sich Gott offenbart / par son visage […] la manifestation de la hauteur où Dieu se révèle« (ebd.). Der andere Mensch ist »dank seiner Bedeutung, die meiner Initiative vorausgeht, Gott ähnlich  / par sa signification, antérieure à mon initiative, ressemble à Dieu« (TU 424/TI 269). Levinas identifiziert den Anderen sogar mit Gott, wenn er in seiner Descartes-Deutung schreibt: » […] der Andere ist Gott […]. / […] 176 | reinhold esterbauer

l’Autre […] est Dieu […].«28 Damit verschärft er den ebenfalls im Zusammenhang mit seinen Reflexionen über Descartes, aber an anderer Stelle geäußerten, umgekehrt formulierten Satz (TU 306/ TI 186): »Gott, das ist der Andere.« / »Dieu, c’est l’Autre.« Während der zweite Satz auszudrücken scheint, daß man unabhängig vom anderen Menschen nicht von Gott sprechen kann, wird mit dem ersten die Anderheit des anderen Menschen an dessen Göttlichkeit gebunden. In späteren Schriften differenziert Levinas die Anderheit Gottes und die Anderheit des Menschen allerdings voneinander. So heißt es beispielsweise in Dieu et la philosophie, daß Gott im Bezug zum anderen Menschen ›in anderer Weise ein Anderer‹ sei (›autre autrement‹, vgl. GuP 108/DQVI 115). Obwohl Levinas den Bezug zwischen Gott und Anderem bzw. Anderer – in deren Verhältnis zum Ich – nicht genau klärt,29 kann man festhalten: Die Möglichkeit, die beiden Relationen Ich-Anderer und Ich-Gott, die eigentlich keine Relationen sind, zusammenzuführen und die Gottesbegegnung an die Begegnung mit dem anderen Menschen zu binden, ist bedingt durch die parallele Zeitstruktur beider ›Beziehungen ohne Beziehung‹. Beide Male steht eine Zukunft zur anderen quer und versperrt sich ihrer Integration in eine gemeinsame Zeit, sei es der eines einzigen Bewußtseins oder der einer gemeinsamen Geschichte. Gott begegnet einem – wie der oder die Andere – aus einer anderen Zukunft. Levinas denkt den Einbruch des anderen Menschen bzw. Gottes in die Zeit des Ich als ethischen Anspruch, der aus einer differenten Zukunft kommt und der, weil er nicht in die eigene Ordnung zu integrieren ist, nicht ungeschehen gemacht werden kann und mich deshalb unmittelbar betrifft. Gegen die intentionale Orientierung in der Welt setzt Levinas den unbedingten Imperativ vonseiten des fremden Antlitzes, der mir gegenüber ein Tötungsverbot verhängt, das ich nur übertreten, aber nicht unterlaufen kann. Auf diese Weise ist der Bezug zu Gott, der kein Bezug ist, die ethische Betroffenheit. Zeitlich gewendet, läßt sich solche Betroffenheit als ›Geduld/ patience‹ beschreiben. Sowohl das deutsche als auch das französische Wort lassen nicht bloß den zeitlichen Charakter anklingen, sondern verweisen auch auf das pathische Moment dieses Bezugs bzw. Unbezugs. Der zeitliche Aspekt besteht im Warten auf etwas, das nicht eintrifft – wie die Liebkosung als das Suchen von etwas, Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 177

das sich nicht finden läßt. Geduld ist ein Ausharren angesichts eines Zieles, das nicht aus eigenen Kräften zu erlangen ist, weil es nicht in der eigenen Macht steht. Pathisch bzw. passiv ist die Geduld als das (Er-)dulden von etwas, das über einen gekommen ist. Levinas verdeutlicht diese Situation in Totalité et Infini mit dem Schmerz. Im Unterschied zum Tod, der als Aufschub des Entzugs aller Vermögen ein Noch-Nicht bleibt, wird im physischen Schmerz das bislang aufgeschobene Übel Gegenwart (TU 349/TI 215). Man kann seiner nicht intentional Herr werden, denn es gibt keinen Zufluchtsort vor sich selbst, der es erlauben würde, zum eigenen Schmerz in Distanz zu treten, um ihn abzuschütteln. ›Geduld‹ (›patience‹) ist zum einen bestimmt als Zeit ohne Ziel und zum anderen als ›Passivität des Duldens‹ (›passivité du subir‹; TU 350/TI 216), also als Form von Betroffenheit in der Zeitstruktur der Ungleichzeitigkeit. Denn der Schmerz ist gegenwärtig, sonst müßte man nicht leiden. Leiden läßt er einen aber auch deshalb, weil er nicht Eingang findet in die Zeit, über die man verfügt. Die Zeit, in der unverfügbare Zukunft in die eigene Zeit einbricht, indem man vor einen ethischen Anspruch des anderen Menschen oder Gottes gestellt ist, manifestiert sich als ein solches Warten in Geduld. Das Dulden wird zum Aushalten des unabwendbaren Anspruchs; und warten muß man, weil kein Ziel die absolute Zeit des Anspruchs begrenzt. Da ein solcher Anspruch angesichts des Antlitzes des oder der Anderen Gott mitbegegnen läßt, kann Levinas später – in Totalité et Infini findet sich diese Formulierung noch nicht – sagen: »Die Zeit ist […] geduldiges Warten auf Gott […]« / »Il [= le temps] est […] attente patiente de Dieu […]«; oder kurz gefaßt: Zeit ist ein ›à-Dieu‹.30 Zu fragen bleibt noch, ob die Offenheit und Unabgeschlossenheit des Einbrechens uneinholbarer Zukunft nicht einmal zu Ende kommen müsse. Sonst bleibt Zeit unvollendet, und endgültige geschichtliche Wahrheit läßt sich niemals erreichen. Levinas behauptet konsequenterweise, daß der Tod diese Vollendung nicht sein könne, weil er selbst uneinholbare Zukunft, also zeitlich offen ist. Vollendung der Zeit ist erst dann gegeben, wenn »das Fortwährende sich in Ewigkeit verwandelt« / »le perpétuel se convertit en éternel« (TU 416/TI 261). Levinas nennt diese vollendete Zeit, die Ewigkeit ist, ›messianische Zeit / temps messianique‹, läßt aber offen, ob es 178 | reinhold esterbauer

sich dabei um ›eine neue Struktur der Zeit / une nouvelle structure du temps‹ handelt oder nur um ›eine äußerste Wachsamkeit des messianischen Bewußtseins‹ / ›une vigilance extrême de la conscience messianique‹.31

5. Gottes Zukunft Die durchgeführten Analysen zeigen, daß Levinas unterschiedliche Konzeptionen von Zeit – genauer von Zukunft – unterscheidet und beschreibt, die er mit differenten Transzendenzbegriffen in Beziehung setzt. Da er die Transzendenzbegriffe bewertet und ihnen unterschiedliche Ebenen zuweist, bekommen auch die Zeitauffassungen verschiedene Niveaus zugesprochen. Den Ausgangspunkt bildet die Zukunftslosigkeit, in der Zeit nicht auseinandertritt. Im Genuß geht das Ich völlig in den Elementen auf und hat einen distanzlosen Zugang zur Welt. Das ist für Levinas zugleich der Zustand der Gottlosigkeit in dem Sinn, daß sich die Frage nach Gott gar nicht stellt. Auf dieser Ebene geht es um keine Bekenntnisfragen, die eine Leugnung Gottes hervorrufen können, sondern um den Zustand diesseits der religiösen Frage. Zukunftslosigkeit im Genuß bedeutet Gottlosigkeit im Sinn von naiver religiöser Fraglosigkeit. Auf der zweiten Stufe, die durch den Mangel an Elementen und die Gefährdung des Genusses bestimmt ist, wird den Elementen, die sich in der Form reiner Qualitäten präsentieren, möglichst Substanzcharakter verliehen. Dadurch tut sich eine Form von Zeit auf, die als Aufschub des Todes und daher als Zukunft zu charakterisieren ist. Durch Arbeit und Güteraustausch läßt sich das gefährdete Leben auf Zukunft hin ausdehnen, indem man die Elemente, die sich als flüchtig erweisen, nach Möglichkeit so beeinflußt, daß man über sie verfügen kann. Dementsprechend sind die Götter, mit denen die Elemente identifiziert werden, numinose und sakrale Gottheiten. Sie sind beeinflußbar, weil Welt, Mensch und Götter in Bezug zueinander stehen und die Götter daher als manipulierbar erscheinen. Diese Art, Gott zu fassen, ist mythisch oder – wie Levinas auch sagt – heidnisch. Die Götter bilden kein personales Gegenüber, sondern sind die Vergöttlichung von Naturkräften und elementaren Lebensgrundlagen. Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 179

Vor dem eigenen Tod hingegen versagt das mythische Götterarsenal, insofern sich der Tod als stärker erweist als jede Form der Zukunftssicherung – und sei sie religiös. Der Tod konfrontiert mit einer Zukunft, die unverfügbar bleibt. Es zeigt sich also eine dritte Dimension von Zukunft, nämlich die Zukunft, die mit der eigenen, mehr oder weniger gestalt- und veränderbaren Zukunft keinen Konnex mehr hat, den das Ich in seiner Zeitmacht noch formen könnte. Das Ich gelangt in die Situation der Trennung, die es auf es selbst zurückwirft und zugleich einen Bruch des Zeitkontinuums der eigenen oder universalen Geschichtszeit markiert. Es ist eine Zukunft eröffnet, in die hinein die Sakralität der mythischen Götter nicht reicht. Die Folge ist der Atheismus, der seine Ursache in der doppelten Zukunft hat, vor der das Ich angesichts seines Todes steht: Die Götter der gestaltbaren Zukunft sind machtlos in der davon getrennten Zukunft des eigenen Todes. Eine weitere Form von Zukunft wird für Levinas in der bildenden Kunst sichtbar, wenn versucht wird – gleichsam in der Dimension des Genusses auf höherer Ebene –, unverfügbare Zukunft dennoch in der Gegenwart zu bannen. Dafür zahlt man nach Levinas’ inkonoklastischer Kunstkritik den Preis, daß gebannte Zukunft eine Zukunft ist, die nie eintreten kann. Der Versuch, die Offenheit der Zukunft zu erhalten und sie zugleich ins Hier und Jetzt zu verpflanzen, führt zu Zukunftslosigkeit. Diese ist die temporale Eigenschaft, die das Idol auszeichnet, insofern es dazu dient, Gott trotz seiner dem Tod analogen Unerreichbarkeit in die Zeit zu holen. Gott in Zukunft zu transferieren, die nicht eintreten kann, muß ihn zwangsläufig idolisieren. Eine fünfte Form von Zukunft ist für Levinas die Zukunft der Geduld. Sie zeichnet sich durch eine Betroffenheit aus, die jenseits aller zeitlichen Terminisierung dem Anspruch standhält, der von einer uneinholbaren Zukunft an das Ich ergeht. Die im strikten Sinn transzendente Zukunft ist in die eigene eingebrochen und bestimmt das Ich, ohne Aussicht auf ein Ende. Solche Zukunft ist personale Zeit, die sich als die Zeit eines ethischen Anspruches erweist, der vom Antlitz des anderen Menschen ausgeht und allen eigenen Totalisierungsversuchen entgegensteht. Der entsprechende Transzendenzbegriff ist Gott, insofern er sich im Antlitz des anderen Menschen bzw. in dem von dort ausgehenden unbedingten An180 | reinhold esterbauer

spruch des Tötungsverbotes offenbart und aus einer Zukunft heraus spricht, die nicht die des Ich ist. Ob diese Form von Zukunft, die aus der Sicht des Ich immer nur unhintergehbar offene Zukunft sein kann, letztlich in eine Zeit absoluter und nicht mehr revidierbarer Geltung mündet, handelt Levinas in Totalité et Infini nicht mehr ab, deutet aber an, daß eine solche sechste Form von Zeit Ewigkeit wäre und mit der Messias-Vorstellung in Verbindung gebracht werden müßte. An der Art und Weise, wie Zukunft gedacht wird, entscheidet sich bei Levinas die Konzeption von Transzendenz. Er denkt das Sakrale, das Absolute, das Unendliche oder Gott aus der Perspektive personaler Begegnung und nimmt für die Beurteilung der unterschiedlichen Formen, über Transzendenz zu denken, an der Zeit Maß, wie sie sich in den verschiedenen Konfrontationen mit anderem eröffnet. Gegenwart – noch dazu, wenn sie Gegenwart des eigenen Bewußtseins ist – zwingt für ihn Transzendenz in Immanenz und ist daher nicht die Zeit Gottes, den Levinas als wirklich jenseitig denken möchte. Die Zeit Gottes ist die Zukunft, die nicht gegenwärtig wird, sondern ihren Charakter der Zukünftigkeit bleibend behält. Ausgehend von der Zukunft der mythischen Götter, die noch nicht zukünftig genug gedacht ist, entwickelt er in Totaltité et Infini schließlich diejenige Zukunftskonzeption als Zeit Gottes, die als nicht in eine Zeittotalität integrierbare Zukunft Gottes Transzendenz denken läßt. Als Zeit Gottes kommen nur Zeitformen in Betracht, die Trennung und Transzendenz gewährleisten. Das ist neben der Zukunft auch eine Vergangenheit, die nicht durch Erinnerung in Gegenwart aufgehoben werden kann. Levinas entwickelt schon in seinen frühen Schriften den Begriff einer absoluten Vergangenheit – besonders im Zusammenhang mit Schöpfung und Offenbarung –, stellt den Gedanken der absoluten Vergangenheit aber erst in der Spätphilosophie in den Vordergrund seiner Überlegungen, während er in Totalité et Infini der absoluten Zukunft einen zentralen Stellenwert zumißt.32 Solche Zukunft oder Vergangenheit, die Levinas in seinen Arbeiten nach Totalité et Infini auch als ›Diachronie‹ (›diachronie‹) bezeichnet und beispielsweise in Autrement qu’être ou au-delà de l’essence als das ›Zersplittern der Zeit‹ (›éclatement du temps‹) definiert, ist dadurch gekennzeichnet, daß sie ›gemeinZeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹ | 181

same Gegenwart‹ (›présent commun‹) unmöglich macht, so daß ›nicht wiedereinholbare Vergangenheit‹ (›passé non rattrapable‹) und ›nicht ausdenkbare Zukunft‹ (›avenir inimaginable‹) in strikter Differenz zur Gegenwart des Ich verbleiben (JS 200/AQ 113). Es geht Levinas also nicht so sehr um die Zukunft als Zukunft, wenn er über die Zeit Gottes reflektiert, sondern um eine bestimmte Form von Zukunft. Vor allem ist es ihm darum zu tun aufzuzeigen, daß Gegenwart Transzendenz verfehlt, auch wenn sie zu einer Gegenwart der Vergangenheit oder zu einer Gegenwart der Zukunft wird. Nur eine unvordenkliche und nicht durch Erinnerung oder Retention faßbare Vergangenheit, eine unvordenkliche und nicht durch finale Erwartung oder Protention faßbare Zukunft und eine »absolute (d. h. aus jeder Beziehung losgelöste Gegenwart)« / »présence absolue‹ (c’est-à-dire dégagée de toute relation)« (TU 107/TI 50) – die Levinas auch kennt – sind demnach mögliche Zeitformen, mit denen Gott in Verbindung zu bringen ist. Levinas räumt trotz seiner relativ umfangreichen Ausführungen zur absoluten Zukunft in Totalité et Infini in einer Stellungnahme aus dem Jahre 1977 ein, daß er sich im Unterschied zur uneinholbaren Vergangenheit weniger mit der unfaßbaren Zukunft befaßt habe, stellt Zukunft im selben Text aber vor die Vergangenheit, indem er zeigt, daß Zukunft kaum Antizipation zulasse und anders als die erinnerbare Vergangenheit eigentlich immer Diachronie sei.33 Auf diese Weise bekommt Zukunft einen besonderen Rang auch für das Denken von Transzendenz. Deshalb spricht Levinas an anderer Stelle auch von einer ›Vergangenheit, ausgehend vom Futurum der Prophetie‹ (›passé […] à partir du futur de la prophétie‹),34 wenn es um Gott in seiner Unfaßbarkeit geht, obwohl in seinen späteren Schriften die unvordenkliche Vergangenheit in den Vordergrund tritt – nicht zuletzt durch das Konzept der ›Spur‹ (›trace‹). Wenn Begegnung mit Gott die Begegnung mit Gott in seiner Transzendenz ist und daher die Zukunft Gottes sich nicht in die Gegenwart des Ich integrieren läßt, ereignet sich die Gottesbegegnung als das Aufeinandertreffen zweier Zeiten. Deren Konfrontation generiert keine Gleichzeitigkeit, sondern versetzt das Ich in einen ethischen Anspruch, den es nicht mehr abschütteln kann, weil dessen Zukunft nie Gegenwart wird. Gott ist nach Levinas auf 182 | reinhold esterbauer

diese Weise immer schon vergangen oder bleibend zukünftig. Anders gesagt: Man kann Gott nicht erfahren, er kann einem nur begegnen.

Anmerkungen

Vgl. TU 191/TI 108: »Die Sinnlichkeit, die wir vom Genuß des Elements aus beschreiben, gehört nicht zur Ordnung des Denkens, sondern zur Ordnung des Gefühls, d. h. zum Bereich der Affektivität, in der der Egoismus des Ich sich bebend erhebt.« / »La sensibilité que nous décrivons à partir de la jouissance de l’élément, n’appartient pas à l’ordre de la pensée, mais à celui du sentiment, c’est à dire de l’affectivité où frissonne l’égoïsme du moi.« 2 Vgl. TU 195/TI 111: »Diese Beziehung meiner selbst mit mir vollzieht sich, wenn ich mich in der Welt, die mir wie ein Absolutes von unvorstellbarem Alter vorausgeht, halte. Gewiß kann ich den Horizont, in dem ich mich befi nde, nicht als ein Absolutes denken, aber ich halte mich in ihm wie in einem Absoluten.« / »Ce rapport de moi avec moi s’accomplit, quand je me tiens dans le monde qui me précède comme un absolu d’une antiquité irreprésentable. Je ne peux certes pas penser l’horizon où je me trouve comme étant un absolu, mais je m’y tiens comme dans un absolu.« 3 Vgl. TU 235/TI 137: »[i]m paradiesischen Genuß ohne Zeit und ohne Sorge« / »[d]ans la jouissance paradisiaque, sans temps ni souci«. 4 Vgl. TU 204/TI 117: »[d]ie Ungewißheiten der Zukunft , die den Genuß verderben […]« / »[l]es incertitudes de l’avenir qui gâtent la jouissance […].« 5 Vgl. TU 201/TI 115: ›bröckelndes Werden‹ (›eff ritement de devenir‹). 6 Man beachte, daß Levinas hier ›avenir‹ (vgl. à-venir) statt ›futur‹ verwendet. 7 Die beiden zentralen Sätze lauten (TU 202/TI 115): »Das getrennte Seiende muß die Gefahr des Heidentums eingehen; das Heidentum bezeugt die Trennung des Seienden und vollzieht diese Trennung« […] / »L’être séparé doit courir le risque du paganisme qui atteste sa séparation et où cette séparation s’accomplit […].« Und (TU 202/TI 116): »Das Nichts der Zukunft gewährleistet die Trennung […]« / »Le néant de l’avenir assure la séparation […].« 8 Vgl. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917), § 8. 9 Vgl. auch TU 238/TI 139: »Der Genuß als Leib, der arbeitet, hält sich in diesem primären Aufschub; dieser Aufschub öff net die eigentliche Dimension der Zeit.« / »La jouissance comme corps qui travaille, se tient dans cet ajournement premier, celui qui ouvre la dimension même du temps.« 10 Vgl. TU 239/TI 140: »Bewußtsein haben, genau das heißt, Zeit haben.« / »Avoir conscience, c’est précisément avoir du temps.« Siehe auch: Jakub Sirovátka: Der Leib im Denken von Emmanuel Levinas, 94. 11 Vgl. TU 239/TI 140: »Die Unbestimmtheit des Elementes, seine Zukunft , 1

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wird Bewußtsein, Möglichkeit, die Zeit zu nutzen.« / »L’indétermination de l’élément, son avenir devient conscience, possibilité d’utiliser le temps.« 12 Vgl. SuZ 436: »Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft.« 13 TU 325/TI 199: »[…] das Noch-nicht ist eine Weise, gegen den Tod zu sein […]« / » […] le ›pas encore‹ qui est une façon d’être contre la mort […].« 14 Zu Levinas’ Differenz zu Rudolf Otto vgl. Catherine Chalier: Atheismus und Nüchternheit, bes. 114–120. 15 Auf diese Weise wird der Atheismus zur Voraussetzung für den Monotheismus. Vgl. Norbert Fischer: Ethik und Gottesfrage. Zwei Zentren im ersten Hauptwerk von Emmanuel Levinas (Totalité et Infini), 38 f. 16 Emmanuel Levinas: La réalité et son ombre. Vgl. Ruud Welten: Image and oblivion: Emmanuel Levinas’ phenomenological iconoclasm. In einem späteren Interview ist Levinas’ zögerndes Abrücken von dieser strikten Mimesis-Kritik in Bezug auf die bildende Kunst zu bemerken. Siehe dazu: Emmanuel Levinas: De l’oblitération. 17 Vgl. TU 200/TI 114: »Die Welt der Dinge verlangt nach der Kunst; hier wandelt sich der intellektuelle Zugang zum Sein in Genuß, hier ist das Unendliche der Idee im endlichen, aber genügenden Bild Idol.« / »Le monde des choses appelle l’art où l’Infi ni de l’idée est idolâtré dans l’image fi nie, mais suffisante.« 18 Vgl. De Dieu qui vient à l’idée / Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. 19 Branko Klun: Das Gute vor dem Sein. Levinas versus Heidegger, 193. 20 Vgl. TU 329/TI 202: »Daher erschöpft die Innerlichkeit nicht die Existenz des getrennten Seienden.« / »L’intériorité n’épuise pas ainsi l’existence de l’être séparé.« 21 Der vollständige Satz lautet (TU 110/TI 52): »Für die Beziehung zwischen dem Seienden im Diesseits und dem transzendenten Seienden, die zu keiner begriffl ichen Gemeinsamkeit und zu keiner Ganzheit führt – Beziehung ohne Beziehung –, halten wir den Ausdruck Religion fest.« / »Nous réservons à la relation entre l’être ici-bas et l’être transcendant qui n’aboutit à aucune communauté de concept ni à aucune totalité – relation sans relation – le terme de religion.« 22 Vgl. TU 411/TI 258: »Die Zeit, in der sich das Sein ins unendliche [sic] ereignet, geht über das Mögliche hinaus.« / »Le temps où se produit l’être à l’infini va au delà du possible.« 23 Die Zeit und der Andere, 72. Schon in diesen frühen Vorlesungen (1946/47) bezieht Levinas die Zeit auf die Neuheit in der Geburt. Zum Zeitbegriff in Le temps et l’Autre siehe vor allem das Nachwort zur deutschen Ausgabe: Ludwig Wenzler: Zeit als Nähe des Abwesenden. Diachronie der Ethik und Diachronie der Sinnlichkeit nach Emmanuel Levinas. 24 Zum Begriff der Fruchtbarkeit als zeitlichem Gegenbegriff zur Innerlichkeit siehe TU 436/TI 277. 25 Vgl. TU 366/TI 229: »Die Beziehung mit dem Anderen hebt die Trennung nicht auf. Sie entsteht nicht im Rahmen einer Totalität; sie stiftet keine Tota184 | reinhold esterbauer

lität, der sich das Ich und der Andere integrieren würden.« / »Le rapport avec Autrui n’annule pas la séparation. Il ne surgit pas au sein d’une totalité et ne l’instaure pas en y intégrant Moi et l’Autre.« 26 Vgl. Michael L. Morgan: Discovering Levinas, 180: »[…] God must be something else before being God – indeed, […] God must be human before He is God.« 27 Zum Problem des Begriff s der Inkarnation bei Levinas siehe Menschwerdung Gottes? Vgl. ders.: Judaïsme et Kénose. Dazu Marcel Poorthuis: »Gott steigt herab«. Levinas über Kenose und Inkarnation. 28 TU 119/TI 58. Im Französischen ist der Satz als Relativsatz formuliert: ›[…] l’Autre qui est Dieu […]‹. 29 Vgl. Wolfgang Nikolaus Krewani: Es ist nicht alles unerbittlich. Grundzüge der Philosophie Emmanuel Lévinas’, 331. 30 Fragen und Antworten, 124 / Questions et réponses, 151. Im Sammelband Wenn Gott ins Denken einfällt / De Dieu qui vient à l’idée begegnet die Formulierung des ›à-Dieu‹ z. B. auch auf den Seiten 145/169 und 220/250. Vgl. auch Gott, der Tod und die Zeit, 126 und 151 / Dieu, la mort et le temps, 132 und 158. Jacques Derrida nimmt das Wort ›adieu‹ in seinem Nachruf auf Levinas wieder auf: vgl. Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas. 31 TU 416/TI 261. Zur Frage nach dem Messianischen bei Levinas vgl. David Plüss: Das Messianische – Judentum und Philosophie im Werk Emmanuel Levinas’. Zur messianischen Zeit siehe auch: Bernhard Casper: Zeit und messianische Zeit. 32 Vgl. Wolfgang Nikolaus Krewani: Es ist nicht alles unerbittlich, 87–90. Krewani unterscheidet drei Phasen von Levinas’ Denken in Bezug auf Transzendenz, nämlich die Phase erotischer Transzendenz in den Schriften vor Totalité et Infini, in der die absolute Zukunft im Vordergrund stehe, dann die Phase von Totalité et Infini, in der erotische und ethische Transzendenz ineinander übergingen, wobei die ethische Transzendenz vor allem mit absoluter Vergangenheit verbunden sei. In der Spätphilosophie herrschten schließlich ethische Transzendenz und absolute Vergangenheit vor. Aus meiner Sicht ist Totalité et Infini noch viel stärker von der absoluten Zukunft als Zeitform von Transzendenz geprägt als von der absoluten Vergangenheit. 33 Vgl. Fragen und Antworten, 126 / Questions et réponses, 152. 34 Vgl. Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, 265 / De l’Un à l’Autre. Transcendance et temps, 38. Es fällt auf, daß Levinas an dieser Stelle nicht ›avenir‹, sondern ›futur‹ setzt, also nicht auf das Zu-Kommende (à-venir) anspielt.

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– Sarah Allen –

Der sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas Von Ethik bis Gerechtigkeit in ›Totalität und Unendlichkeit‹ und ›Jenseits des Seins‹

Es ist unumstritten, daß ›Gott‹ einen Schwerpunkt in Levinas’ Denken bildet. Aber es ist eine ganz andere Frage, wie man diesen Gott verstehen soll. Im folgenden werden wir diese Frage auf zwei verschiedenen Niveaus angehen: erstens, welche Rolle Gott in der Levinas’schen ›Ethik‹ spielt, und zweitens, was Gott bei Levinas mit der ›Gerechtigkeit‹ zu tun hat. Danach werden wir die Verbindung zwischen Ethik und Gerechtigkeit genauer untersuchen und besprechen, was ich im Titel den ›sozialpolitischen Sinn Gottes‹ genannt habe. Eine beiläufige, aber wichtige Bemerkung zum Wortgebrauch: Levinas spricht in seinen Texten nicht von Sozialpolitik als einem Feld der Politik oder der Politikwissenschaft. Er benutzt aber auch nicht den Ausdruck ›sozialpolitisch‹, besonders nicht in Bezug auf Gott, sondern beschreibt eine zentrales Thema seines Denkens – die des ›Dritten‹, der menschlichen Pluralität und der Gerechtigkeit – zuweilen als ›soziale‹, zuweilen als ›politische‹. Deswegen werde ich diese Ebene und den ›Sinn Gottes‹ auf dieser Ebene als ›sozialpolitisch‹ beschreiben. Das ›Sozialpolitische‹ bezeichnet die Ebene der Öffentlichkeit und des menschlichen Gemeinschaftslebens. Die genannten Fragen zu Gott, Ethik und Gerechtigkeit werden durch Zusammenlesen zweier Texte von Levinas angegangen, nämlich: Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins. In Totalität und Unendlichkeit werden wir einen hauptsächlich ethischen Sinn Gottes und eine etwas unklare Beziehung zwischen den ethischen und sozialpolitischen Ebenen im Denken von Levinas entdecken. In Jenseits des Seins tritt eine deutlichere Unterscheidung zwischen der Ethik und dem auf, was Levinas dort eben ›Politik‹ nennt. Und | 187

damit können wir die Frage zur Rolle Gottes im Blick auf die Gerechtigkeit präzisieren und vertiefen.

1. Der ›Sinn Gottes‹ in ›Totalität und Unendlichkeit‹ Um den Sinn Gottes in Totalität und Unendlichkeit festzustellen, schauen wir am besten zuerst den Textabschnitt Die Metaphysik und das Menschliche an. Unter anderem ist die Beziehung mit Gott hier als ›metaphysische‹ und zugleich auch als ›soziale Beziehung‹ beschrieben. Levinas erklärt (TU 106 f.): »Das Transzendente als fremd und arm zu setzen, bedeutet, daß die metaphysische Beziehung mit Gott sich nicht in der Unkenntnis der Menschen und Dinge vollziehen darf. Die Dimension des Göttlichen öffnet sich vom menschlichen Antlitz aus. Eine Beziehung mit dem Transzendenten – die jedoch frei von jeder Aneignung des Transzendenten ist – ist eine soziale Beziehung.« Mit der Erwähnung des menschliches Antlitzes oder des Gesichts (le visage) denken wir sofort an die Levinas’sche Ethik, und tatsächlich, einige Sätze weiter beschreibt Levinas ausdrücklich die Beziehung mit Gott als Ethik. Er sagt, die ethische Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen wäre die eigene ›spirituelle Optik‹, die uns die Möglichkeit gäbe, einen unsichtbaren Gott zu sehen. Außer Ethik gibt es nach Levinas keinen anderen Weg zu Gott. Weiterhin scheint Levinas Ethik und Gerechtigkeit hier als eins, oder mindestens als eng verbunden, zu verstehen (TU 107 f.): »Positiv bedeutet der Atheismus des Metaphysikers, daß unsere Beziehung mit dem Metaphysischen ein ethisches Verhalten ist; weder die Theologie noch die Thematisierung […]. Die Erhebung Gottes zu seiner höchsten und äußersten Gegenwart ist korrelativ der Gerechtigkeit, die wir den Menschen widerfahren lassen. […] Der unsichtbare Gott – das bedeutet nicht nur einen Gott, der unvorstellbar ist, sondern einen Gott, der zugänglich wird in der Gerechtigkeit. Die Ethik ist die spirituelle Optik.« 188 | sarah allen

Ethik, Metaphysik, soziale Beziehung, Gerechtigkeit, Beziehung mit Gott oder dem Transzendenten: Wie sollen wir die Verbindung zwischen diesen verschiedenen Ausdrücken in Levinas’ Denken verstehen? Anfänglich legen wir sie alle beiseite, um die Art von Beziehung zu untersuchen, von welcher Levinas die Beziehung mit Gott zu unterscheiden versucht. Wir fragen also: Welche Art von Beziehung ist die echte Beziehung mit Gott nicht? Zunächst faßt Levinas zwei Kandidaten kritisch ins Auge. Erstens ist die echte Beziehung mit Gott keine mystische Partizipation oder Einheit, worin das Individuum sich durch das Denken und Lieben in Gott verlöre. Zweitens ist die echte Beziehung mit Gott keine theoretische Beziehung. Man kann Gott in keinem Konzept fassen, das dem Denker in der Einsamkeit seines Denkens zugänglich wäre (TU 105 f.): es gibt bei Levinas keine echte Beziehung mit Gott in der mystischen Partizipation oder im theoretischen Denken, also keinen individuellen Weg zu Gott. Kommen wir jetzt auf die Ethik, die Metaphysik, die Gerechtigkeit und die soziale Beziehung zurück, wo wir Levinas zufolge die echte Beziehung mit Gott finden können. Was alle diese Ausdrücke gemeinsam haben, ist der Anspruch der Anwesenheit des Anderen. Ganz kurz gesagt sind ›Ethik‹ und ›Metaphysik‹ zwei verschiedene Ausdrücke für die gleiche Beziehung. Die Ethik – eine Beziehung von Begehren (désire), Verpflichtung und Verantwortung des Ichs für den Anderen – ist auch die ›Erste Philosophie‹ oder die ›Metaphysik‹ bei Levinas. In Die Metaphysik und das Menschliche scheinen auch die Gerechtigkeit und die soziale Beziehung Beschreibungen der ethischen Beziehung zu sein. Aber wenn man einen weiteren Textausschnitt aus Totalität und Unendlichkeit berücksichtigt, und zwar Der Andere und die Anderen, wird deutlich, daß es verschiedene Niveaus der Gerechtigkeit für Levinas gibt. Deswegen sind die ethischen und die sozialen – oder sozialpolitischen – Ebenen seines Denkens zu nuancieren und zu unterscheiden. Wenn Levinas von der Ethik selbst spricht, beschreibt er die ethische Beziehung als eine Beziehung zwischen zwei, dem Ich und dem Anderen, wobei der Andere in seiner Not dem Ich immer übergeordnet ist. Anders gesagt beschreibt Levinas die ethische Beziehung als ›asymmetrisch‹. Es scheint zuerst, als gäbe es in der Levinas’schen Ethik keine Gleichberechtigung oder Gleichheit, Der sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas | 189

insbesondere nicht für das Ich. Es wäre aber ein Mißverständnis, die zweiseitige Natur der ethischen Beziehung zu isolieren und sie ohne die Mehrheit der Personen in der menschlichen Gesellschaft zu verstehen. Deshalb spricht Levinas in Der Andere und die Anderen von der Anwesenheit oder der ›Gegenwart‹ des Dritten in jeder ethischen Beziehung. Wer ist eigentlich der Dritte in Levinas’ Denken? Zuerst repräsentiert der Dritte die ganze Menschheit, die anderen Menschen, die immer an der erscheinenden Dualität der Ethik teilnehmen. Denn wir sind nie nur zu zweit, sondern immer zu dritt in der Ethik; d.h. meine asymmetrische Verantwortung für den Anderen, der mir gegenüber steht, ist immer durch meine Verantwortung für alle anderen Menschen vermittelt. Auf diese Weise soll die Ethik nach Levinas immer zur Gerechtigkeit führen. Man könnte sagen, daß Ethik und Gerechtigkeit, oder mit anderen Worten: die ethische und soziale Beziehung, zwei Seiten derselben Medaille seien. Levinas schreibt (TU 307 f.): »In den Augen des Anderen sieht mich der Dritte an – die Sprache ist Gerechtigkeit. Nicht, als ob zuerst das Antlitz da wäre und sich anschließend das Seiende, das sich in ihm manifestiert oder ausdrückt, um Gerechtigkeit kümmerte. Die Epiphanie des Antlitzes als eines Antlitzes erschließt die Menschheit.« Was bedeutet aber hier ›Gerechtigkeit? Lesen wir Levinas ein bißchen weiter (TU 308): »Das Antlitz in seiner Nacktheit als Antlitz präsentiert mir die Blöße des Armen und des Fremden; aber diese Armut und dieses Exil, die meine Vermögen aufrufen, mich meinen, liefern sich diesen Vermögen nicht wie Gegebenheiten aus; sie bleiben Ausdruck des Antlitzes. Der Arme, der Fremde präsentiert sich als Gleicher. Angesichts dieser wesentlichen Armut besteht seine Gleichheit darin, sich auf den Dritten zu beziehen; auf diese Weise ist in der Begegnung der Dritte gegenwärtig, und schon mitten in seiner Not dient ihm der Andere. Er verbindet sich mit mir.« Das heißt, die Gerechtigkeit ist als Gleichberechtigung oder Gleichheit zu verstehen, und zwar auf folgende Weise: Ich bin nicht allein 190 | sarah allen

in meiner Verantwortung für die Anderen. Der nächste Andere (›Der Nächste‹, le prochain), dem ich schon diene, ist auch verantwortlich für den Dritten, für alle anderen Menschen, und insoweit hilft er mir – »er verbindet sich mit mir.« Der Nächste hilft mir mit meiner schweren Last, nämlich: meiner Verantwortung für den Dritten, für die ganze Menschheit. »Aber«, schreibt Levinas noch weiter, »er verbindet mich mit sich im Dienst, er befiehlt mir wie ein Meister« (TU 308). Anders gesagt: ich soll dem Nächsten auch mit seiner Verantwortung für andere Menschen helfen. Ich bin nicht nur verantwortlich für alle Menschen durch den Eintritt des Dritten in die Ethik, sondern ich nehme auch an der Verantwortung von Anderen füreinander teil. So weit ist Levinas ziemlich klar zu verstehen; dennoch sind die folgenden Passagen in Der Andere und die Anderen m.E. etwas rätselhaft. Aber in diesen Abschnitten beginnen wir, den sozialpolitischen Sinn Gottes zu entdecken. Zum Beispiel schreibt Levinas über den Befehl des Nächsten (TU 308): »Der Befehl kann mich nur betreffen, sofern ich selbst Meister bin; infolgedessen befiehlt mir der Befehl zu befehlen.« Und weiter beschreibt er die Beziehung mit dem Anderen durch dieses Einander-Befehlen als ›prophetisches Wort‹ (TU 308 f.): »Das prophetische Wort antwortet wesentlich auf die Epiphanie des Antlitzes; es begleitet jede Rede, aber nicht als eine Rede über moralische Themata, sondern als irreduzibles Moment der Rede; es wird wesentlich hervorgerufen durch die Epiphanie des Antlitzes, sofern das Antlitz in den Augen, die mich ansehen, die Gegenwart des Dritten, ja der gesamten Menschheit, bezeugt.« Der Befehl und der Meister stellen das Konzept von Autorität vor. Der Andere ist mein ›Meister‹, der mir aus dieser Stellung von Superiorität befiehlt. Das ist schon der Fall bei der Ethik selbst. Aber mit dem Eintritt des Dritten (der in Wirklichkeit immer schon da ist) befiehlt mir der Andere nicht nur, ihm zu dienen, oder allen Anderen zu dienen, sondern auch, allen Anderen aus einer Stellung von Meisterschaft zu befehlen. Welche Art von Befehl befehle ich allen Anderen? Dies bleibt ein wenig unklar, aber vielleicht könnten wir diesen Befehl als einen Befehl verstehen, Anderen zu dienen: Gerade so, wie ich ihnen schon diene, würde ich allen Anderen beDer sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas | 191

fehlen, einander zu dienen. Wir sehen dann, daß eine Art von Reziprozität auftritt, wenn wir die ethische Beziehung innerhalb ihres sozialen Kontextes aufnehmen. Aber wozu nennt Levinas dieses Einander-Befehlen ›das prophetische Wort‹? Was ist ein Prophet und was heißt ›das prophetische Wort‹ (la parole prophétique) bei Levinas? Kurz gefaßt können wir sagen, daß ein Prophet jemand ist, der für Gott, durch die Inspiration Gottes, oder anstelle Gottes spricht. Das prophetische Wort ist das Wort (oder der Befehl) Gottes, das durch einen menschlichen Mund tönt. Auf diese Weise, obwohl Gott nie direkt in Der Andere und den Anderen genannt ist, richtet uns das prophetische Wort auf eine gemeinsame Quelle der sozialen Beziehung, oder vielleicht besser ausgedrückt, auf eine gemeinsame Verwandtschaft, die als soziale Beziehung selbst gilt. Wie die letzten Passagen dieses Textausschnittes zeigen (TU 309–11), könnten wir diese Verwandtschaft als eine Beziehung mit einem gemeinsamen Gott verstehen – dem Gott des Monotheismus –, für den wir alle sprechen und dem wir dienen, ein gemeinsamer Gott als gemeinsamer Vater der Menschheit. Genauer ausgedrückt sprechen diese letzten Passagen zur Vaterschaft und Brüderlichkeit. Levinas beschreibt hier die Menschheit als eine ›Gemeinschaft des Vaters‹ und unterscheidet diese Gemeinschaft des Vaters von einer gemeinsamen Ursache, einer Gattung, oder einem Genus des menschlichen Wesens. Ferner schreibt Levinas, daß die menschliche Gemeinschaft eher in der Brüderlichkeit (oder Verwandtschaft) aller Menschen als in einer Gemeinsamkeit des Wesens zu finden ist. Endlich bezieht er die menschliche Verwandtschaft auf den Monotheismus (TU 310 f.): »Der Monotheismus bedeutet diese Verwandtschaft der Menschen, diese Idee einer menschlichen Rasse; sie geht zurück auf das Ansprechen des Anderen im Antlitz, in einer Dimension der Erhabenheit, in der Verantwortung für sich und für den Anderen.« Diese Verwandtschaft oder Brüderlichkeit und ihre Quelle in einem gemeinsamen väterlichen Gott, dem wir alle dienen durch unser Einander-Dienen, erklärt, inwiefern alle Menschen gleich sind und warum die soziale Gerechtigkeit immer Gleichheit für Levinas impliziert, obwohl ich in der Ethik selbst meinem Bruder nie gleich bin. Um die Gerechtigkeit und ihre Beziehung zu Gott in Totalität und Unendlichkeit noch besser zu verstehen, lohnt es sich, eine 192 | sarah allen

letzte Stelle zu befragen, und zwar: Die Wahrheit des Wollens. In dieser Passage diskutiert Levinas das Urteil durch eine Gegenüberstellung von dem, was er einerseits ›Urteil Gottes‹ und andererseits ›Urteil der Geschichte‹ und ›objektives Urteil‹ nennt. Durch diese Gegenüberstellung erklärt und vertieft er sein Konzept von Gerechtigkeit. Diese Passage fängt mit einer Beschreibung der Sterblichkeit des subjektiven Willens an. Weil für Levinas echtes Urteil und echte Gerechtigkeit die Anwesenheit des Beurteilten benötigen, stellt die Sterblichkeit der Interiorität, d. h. des subjektiven Wesens des Menschens, ein Problem für ihn dar. Denn der Tod erscheint echte Gerechtigkeit unmöglich zu machen, weil die Geschichte und ihre Überlebenden immer das letzte Wort haben. Da die folgenden Generationen die Geschichte immer umschreiben können, kann die Stimme der Interiorität so zum Schweigen gebracht werden, als ob man nie gelebt hätte. Damit üben die Sterblichkeit und das Urteil der Geschichte eine Art von Tyrannei über den Mensch in seiner Interiorität aus (TU 352 f.). Um diese Tyrannei zu überwinden, denkt Levinas über Hegels Lösung dieses Problems nach, und zwar über die Verwirklichung des subjektiven Willens, der subjektiven Freiheit, in allgemeinen und vernünftigen öffentlichen Institutionen. Diese Institutionen – konstituiert zum Beispiel aus universalen (allgemeingültigen) Gesetzen – stellen dar, was Levinas das ›objektive Urteil‹ nennt, eine Objektivierung, Institutionalisierung, und Rationalisierung des Urteils der Geschichte (TU 353–355). Er schreibt (TU 355): »Die Existenz der vernünftigen Institutionen, durch die der Wille sich gegen den Tod und gegen seinen eigenen Verrat gesichert hat, spricht selbst das objektive Urteil. Es besteht in der Unterwerfung des subjektiven Willens unter die objektiven Gesetze; diese führen den Willen auf seine objektive Bedeutung zurück. In der Spanne, die die Vertagung des Todes oder die Zeit dem Willen läßt, vertraut er sich der Institution an. Von nun an spiegelt sich der Wille in der öffentlichen Ordnung, er existiert in der Gleichheit, die von der Universalität der Gesetze verbürgt wird.« Demnach empfinge der Mensch durch das objektive Urteil eine Art von Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit: optimalerweise würden alle Menschen nach den selben Gesetzen und Institutionen beurDer sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas | 193

teilt, und diese Gesetze und Institutionen wären allgemeingültig oder universal. Diese Hegelsche Lösung der Tyrannei der Sterblichkeit und des Urteils der Geschichte überzeugt Levinas aber nicht. Universale und objektive Urteile, Gesetze und Institutionen können nämlich Ausdruck der Totalität werden, wodurch sie eine andere Art von Tyrannei über die Interiorität auszuüben drohen. Nach Levinas hat zu gelten (TU 356): »Es gibt eine Tyrannei des Universalen und Unpersönlichen, eine unmenschliche, wenn auch vom Brutalen verschiedene Ordnung. […] Das Urteil der Geschichte ergeht immer in Abwesenheit des Betroffenen. Die Abwesenheit des Willens bei diesem Urteil besteht darin, daß der Wille beim Urteil nur in der dritten Person anwesend ist. Der Wille tritt in dieser Rede auf wie in einer indirekten Rede; in der indirekten Rede hat er schon seinen Charakter, einzig und Anfang zu sein, verloren, in ihr hat er die Sprache schon verloren.« Durch das Zusammenlesen mit Jenseits des Seins werden wir sehen, daß das Urteil und die Gerechtigkeit des öffentlichen Lebens und des objektiven Denkens sehr wichtig bleiben und bei Levinas nicht zu umgehen sind. Jedoch identifiziert er in Totalität und Unendlichkeit das echte Urteil und die echte Gerechtigkeit (oder mindestens deren Ursprung) mit ›einer religiösen Ordnung‹ (d. h. mit dem Urteil Gottes) – und auf diese Weise mit einer unendlichen ethischen Verantwortung für Andere (TU 35). Um ein echtes oder redliches Urteil finden zu können, soll der Mensch nach Levinas bei seinem eigenen Prozeß in seiner Einzelheit oder Singularität anwesend sein. Wie Levinas von einem unsichtbaren Gott, den wir allein durch die Ethik treffen können, in Die Metaphysik und das Menschliche gesprochen hat, redet er in Die Wahrheit des Wollens von einer unsichtbaren Dimension des Menschen in seiner Subjektivität, Einzelheit und Interiorität. Diese Dimension des Menschen ist im geschichtlichen Urteil verloren oder zum Schweigen gebracht, was für Levinas eine Kränkung oder Beleidigung gegen den Menschen in seiner Interiorität darstellt. Deshalb brauchen wir einen anderen Bereich des Urteils, der das Unsichtbare anrechnet. Dieser Bereich ist der Bereich des ›Gottesurteils‹ (TU 358 f.): 194 | sarah allen

»Die Idee eines Gottesurteils stellt die Grenzidee eines Urteils dar, das diese unsichtbare und wesentliche Kränkung berücksichtigt; die Kränkung ergibt sich für die Singularität aus dem Urteil (mag das Urteil auch vernünftig und von universalen Prinzipien eingegeben, also ein sichtbares und evidentes Urteil sein) […]. Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden. Aber wie vollzieht sich konkret diese Situation, die man Gottesurteil nennen kann […]?« Mit dem ›Gottesurteil‹ beschreibt Levinas die ethische Beziehung in anderen Worten. Das ›Gottesurteil‹ zeigt sich, wenn das Ich bei seinem eigenen Prozeß anwesend ist und für sich selbst sprechen kann – d.h. wenn es die Apologie als Möglichkeit hat, aber auch, wenn der Andere das Ich anklagt und demnach eine unendliche Verantwortung befiehlt. Das Gottesurteil verlangt, daß ich für den Anderen verantwortlich bin. Es ist nicht so sehr die Kränkung des objektiven, geschichtlichen Urteils, die meine eigene Singularität trifft, sondern die Singularität des Anderen, die im Gottesurteil gesehen und geschützt wird (TU 359f.). Mit diesem Konzept des Gottesurteils entdecken wir auch, inwiefern die Gerechtigkeit über die Gleichheit hinausgeht. Echte Gerechtigkeit – oder mindestens die Quelle aller Gerechtigkeit – fängt mit einer Verantwortung des Ichs für alle Anderen an, eine unendliche Verantwortung ohne Grenzen, wo ich nie fertig bin. Außerdem bin ich nie gleich mit den Anderen. In Totalität und Unendlichkeit scheinen Andere immer mehr Gewicht als ich in der Gerechtigkeit zu haben. Levinas schreibt (TU 360): »In der Gerechtigkeit, die meine willkürliche und vereinzelte Freiheit in Frage stellt, werde ich also nicht bloß aufgerufen, mein Einverständnis zu geben, zuzustimmen und die Verantwortung zu übernehmen; ich soll nicht nur schlicht und einfach meinen Übergang in die universale Ordnung besiegeln […]. In Wirklichkeit schließt mich die Gerechtigkeit nicht in das Gleichgewicht ihrer Universalität ein – die Gerechtigkeit nötigt mich, über die gerade Linie der Gerechtigkeit hinauszugehen, und nichts kann danach das Ende dieses Ganges bestimmen; hinter der geraden Linie des Gesetzes erstreckt sich unendlich und unerforscht das Land der Güte, das alle Hilfsmittel einer singulären Präsenz beDer sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas | 195

nötigt. Ich bin also für die Gerechtigkeit notwendig als derjenige, der über alle durch ein objektives Gesetz festgelegte Grenze hinaus verantwortlich ist.« Infolgedessen sind das Gottesurteil und die echte Gerechtigkeit in Die Wahrheit des Wollens kaum von der Ethik und dem Guten zu unterscheiden. Rekapitulieren wir jetzt die wichtigsten Punkte für unser Verständnis des sozialpolitischen Sinns Gottes und der Beziehung zwischen Ethik und Gerechtigkeit in Totalität und Unendlichkeit. Was haben wir über die Gerechtigkeit herausgefunden? Kurzgefaßt sieht man eigentlich zwei verschiedene Ebenen von Gerechtigkeit in diesem Text. Einerseits scheint es, als ob Levinas Gerechtigkeit mit einer gleichmäßig verteilten Verantwortung des Ichs für alle Anderen verbindet, einer Verantwortung, in der ich den Nächsten und den Dritten auf gleiche Augenhöhe stelle. Diese Gerechtigkeit wäre eine Art von sozialpolitischer Gerechtigkeit als Gleichheit. Andererseits vereinigt Levinas oft die Gerechtigkeit mit der ethischen Beziehung selbst, in der ich dem Anderen diene und ihm nie gleich bin. Wir könnten diese zwei Ebenen zusammenbringen, wenn wir die Gerechtigkeit als gleichzeitigen Dienst am Nächsten (ethisches Niveau) und am Dritten (sozialpolitisches Niveau) verstehen würden. Trotzdem bekomme ich keine gleichwertige Stellung. Solch eine Definition der Gerechtigkeit – Gleichberechtigung für alle außer mir – erscheint meiner Meinung nach sehr problematisch zu sein. Deshalb wenden wir uns nun Jenseits des Seins zu, das ein überzeugenderes Konzept der Gerechtigkeit enthält. Zuerst aber noch einige Gedanken zum sozialpolitischen Sinn Gottes: Um ihn zu beschreiben, müssen wir vor allem die ethische Begründung der sozialpolitischen Gerechtigkeit betrachten. Die sozialpolitische Gerechtigkeit ist mit der Gleichberechtigung verbunden, die durch öffentliche Gesetze und Institutionen gesichert ist. Nach Levinas greift Gott in diese Gerechtigkeit durch das ›Gottesurteil‹ ein, das die ethische Beziehung als Schutz gegen die Tyrannei der öffentlichen Gesetze und Institutionen hervortreten läßt. Als Ethik verleiht das Gottesurteil dem sterblichen singulären Menschen einen Ausdruck, der über gemeinsame Gesetze und Konzepte hinausgeht. Ich bezeuge den Anderen in ethischen Be196 | sarah allen

ziehungen über den Buchstaben der Gerechtigkeit hinaus, um dem Geist – dem echten Sinn – der Gerechtigkeit besser zu dienen. Diesen Geist der Gerechtigkeit nennt Levinas ›Gottesurteil‹. Deshalb können wir den sozialpolitischen Sinn Gottes als ethischen Geist der Gerechtigkeit verstehen. Oder wir können sagen, daß es keinen echten sozialpolitischen Sinn Gottes gibt, außer die ethische Unterbrechung der sozialpolitischen Gerechtigkeit durch das Urteil Gottes, eben durch die ethische Beziehung. Wir könnten den sozialpolitischen Sinn Gottes auch durch das ›prophetische Wort‹ angehen. Im ›prophetischen Wort‹, oder vielleicht besser aktiv übersetzt: im ›prophetischen Sprechen‹ ist meine Beziehung mit Anderen nicht nur Dienst, sondern auch Befehl; ich befehle allen Anderen, einander zu dienen. Man könnte sagen, daß das Ich im öffentlichen Bereich des menschlichen Lebens für Gott durch das prophetische Wort spricht. Anders gesagt: durch meine Rolle in der ethischen Beziehung und die Korrektur ihrer Asymmetrie mit dem Eintritt des Dritten bringe ich Gott ›prophetisch‹ in den öffentlichen, sozialpolitischen Bereich. In Totalität und Unendlichkeit scheint es, als ob Gott sich im sozialpolitischen Bereich nicht für sich und als sich selbst zeigen könnte, sondern nur als Geist und als Unterbrechung dieses Bereichs durch das Ich im ethischen Dienst und im prophetischen Befehlen des Anderen. Weder in der Ethik, noch in der Gerechtigkeitslehre von Levinas scheint es einen Platz dafür zu geben. Schauen wir aber jetzt, was Levinas über Gott, die Ethik und die Gerechtigkeit in Jenseits des Seins sagt.

2. Der Sinn Gottes in Jenseits des Seins Für unsere Fragen und Themen ist die wichtigste Passage aus Jenseits des Seins der Abschnitt Vom Sagen zum Gesagten oder die Weisheit des Begehrens. Im Kern dieser Passage steht die Frage: Wie sollen wir die Beziehung zwischen dem Jenseits des Seins und dem Sein verstehen? Anders gesagt: Wie können wir die Beziehung zwischen einer Ethik, die jenseits des Seins steht, und den Konzepten der Ontologie verstehen, dem Thematisieren und dem philosophischen Fragen, die zum Sein gehören? Unter anderem geht Levinas diese Frage durch eine Besprechung des Dritten und der GerechDer sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas | 197

tigkeit an, die beide zum Bereich des Seins gehören. Durch diese Besprechung entdecken wir, warum das Jenseits des Seins das Sein braucht, warum die Ethik das Thematisieren, die Ontologie und das sozialpolitische Niveau der Gerechtigkeit benötigt. Diese Beziehungen entstehen alle aus dem Eintritt des Dritten in die Ethik (JS 342): »Die Verantwortung für den Anderen ist eine Unmittelbarkeit, die der Frage vorausgeht: eben Nähe. Sie wird gestört und sie wird zum Problem mit dem Eintritt des Dritten.« Wenn wir weiter lesen, entdecken wir in mehr Einzelheiten als in Totalität und Unendlichkeit, wer der Dritte eigentlich ist und welches Problem er hereinbringt (JS 343): »Der Dritte ist anders als der Nächste [le prochain], aber auch ein anderer Nächster und doch auch ein Nächster des Anderen und nicht bloß ihm ähnlich. Was also sind sie, der Andere und der Dritte, was sind sie, der-Eine-für-den-Anderen? Was haben sie einander getan? Welcher hat Vortritt vor dem Anderen?« Das Problem des Dritten ist ein Problem des Vergleichs: Wenn der Dritte ein ›anderer Nächster‹ ist, für den ich auch unendlich verantwortlich bin, stellt sich die Frage, wie ich unendliche Verantwortung für zwei (und dann auch für alle) Menschen tragen, teilen und messen kann. Diese Frage ist eine Frage zur Gerechtigkeit im Sinne der Gleichberechtigung. Obwohl der Andere – der Nächste – und meine Verantwortung für ihn grenzenlos sind, weil es mehr als einen Anderen gibt, muß ich verschiedene Andere vergleichen und messen, muß ich, um Gerechtigkeit auszuüben, meiner ethischen Verantwortung Grenzen setzen. Deshalb brauchen wir sowohl das sozialpolitische Niveau der Gerechtigkeit (mit gemeinsamen Institutionen und vernünftigen Konzepten und Gesetzen) als auch die ethische Gerechtigkeit. Wir benötigen diese Institutionen, Gesetze und Konzepte, obwohl sie immer die Gefahr der Totalität und der Tyrannei enthalten, um uns zum gerechten Vergleich unvergleichbarer Anderer zu verhelfen. Trotz dieser Erklärung scheint es in Jenseits des Seins zunächst so, als ob es noch keinen gleichen Platz für das Ich weder in der sozialpolitischen, noch in der ethischen Gerechtigkeit gäbe. Zum Beispiel schreibt Levinas (JS 344): »Die Bedeutung bedeutet in der Gerechtigkeit, doch geht die Gerechtigkeit auch über die Gerech198 | sarah allen

tigkeit hinaus – und ist insofern älter als sie selbst und die durch sie bedingte Gleichheit – in meiner Verantwortung für den Anderen, in meiner Ungleichheit gegenüber dem, dessen Geisel ich bin.« Wir finden allerdings ein bißchen weiter einen gleichwertigen Platz für das Ich, wo Levinas über ›die Illeität‹ spricht. An dieser Stelle begegnen wir dann auch dem ›sozialpolitischen Sinn Gottes in Jenseits des Seins. Levinas beschreibt die Beziehung mit den Dritten, das sozialpolitische Niveau der Gerechtigkeit, als eine Korrektur und Übersetzung (oder als ein Zum-Ausdruck-Bringen), aber auch als einen »Verrat meiner […] Beziehung mit der Illeität« (JS 345). Was heißt ›Illeität‹ bei Levinas? Sie ist eine Beschreibung der ethischen Beziehung als asymmetrisch, wenn wir sie nicht nur in Bezug auf den Anderen, sondern auch auf Gott ansehen. Außerdem ist die Illeität die Abweichung zum Anderen meines direkten Begehrens nach Gott. Nach Levinas kann ich nie in einer direkten ›Ich-Du‹-Beziehung mit Gott stehen. Gott tritt im Sein nur als ein ›er‹ oder ›il‹ (eine dritte Person) ein, der seine rätselhafte Spur im Gesicht des Anderen und mir meine Verantwortung für ihn läßt. Derart erscheint Gott als der erste Dritte, der erste ›il‹, der immer schon da ist in meiner ethischen Beziehung mit dem Nächsten. Dieser erste göttliche Dritte befiehlt mir, meinem Nächsten direkt und unendlich zu dienen, in einer Verantwortung ohne Ende, ohne Grenzen. Gott fragt nichts für sich selbst, aber richtet mich völlig auf den Anderen. Aber Gott ist, wie wir schon wissen, nicht der einzige Dritte im Denken von Levinas. Der Eintritt anderer menschlicher Dritter, die – wie Gott – in der Ethik immer schon mitspielen, ›übersetzt‹ – d. h. thematisiert, vergleicht, mißt, begrenzt – meine ethische Verantwortung für jeden Anderen, und durch dieses Messen des Unmeßbaren wird sie verraten. Nach Levinas haben diese ›Übersetzung‹ und dieser ›Verrat‹ jedoch noch eine andere Dimension in Jenseits des Seins: Auf dem sozialpolitischen Niveau der Gerechtigkeit wird auch das Ich in Betracht gezogen, nämlich durch das, was Levinas ›die göttliche Gnade‹ nennt. Das Ich bekommt endlich auch ein Recht zur Gleichheit in der Gerechtigkeit (JS 345): »Verrat meiner anarchischen Beziehung mit der Illeität, aber zugleich eine neue Beziehung mit ihr: Allein dank göttlicher Gnade Der sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas | 199

werde ich als mit dem Anderen unvergleichbares Subjekt doch als Anderer wie die Anderen angesprochen, das heißt ›für mich‹. ›Dank göttlicher Gnade‹, ›gottlob‹ bin ich Anderer für die Anderen. Gott ist dabei nicht ›im Spiel‹ wie ein sogenannter Gesprächspartner: Die wechselseitige Korrelation verbindet mich dem anderen Menschen in der Spur der Transzendenz, in der Illeität. Das ›Vorübergehen‹ Gottes, von dem ich nicht anders sprechen kann als mit Verweis auf diese Hilfe oder diese Gnade, ist genau der Umschlag des unvergleichlichen Subjekts zum Mitglied der Gesellschaft.« Hier sehen wir eine weitere Entfaltung der sozialpolitischen Gerechtigkeit und des sozialpolitischen Sinnes Gottes. Durch die etwas rätselhafte ›Gnade Gottes‹ werde ich ›zum Mitglied‹ der menschlichen Gesellschaft, stehe ich auch auf gleicher Augehöhe mit allen Anderen. Der sozialpolitische Sinn Gottes ist dann nicht nur der ethische Geist der Gerechtigkeit, der uns durch die Unterbrechung der sozialpolitischen Gerechtigkeit vor der eventuellen Tyrannei der Institutionen und Konzepte schützt; er ist auch nicht nur die Inspiration des prophetischen Wortes, d. h. die Inspiration meines Befehls an Andere, einander zu dienen, sondern er ist ebenfalls die Quelle der Gleichstellung des Ichs mit allen Anderen. Gott sei Dank habe ich auch Rechte und nicht nur Pflichten bei Levinas, die mir Verantwortung auferlegen (JS 349f.): »Die Synchronisierung ist Bewußtseinsakt, der aufgrund von Vorstellung und Gesagtem und ›mit Gottes Hilfe‹ den Ursprungsort der Gerechtigkeit gründet, als mir und den Anderen gemeinsamen Bereich, in dem ich zu ihnen gezählt werde […] mit all den maßvollen und meßbaren Pflichten und Rechten«. Einerseits ist es erleichternd zu lesen, daß das Ich auch als ›gleich‹ in der sozialpolitischen Gerechtigkeit bei Levinas zählt – und nicht nur als Quelle der Generosität für Andere gilt. Andererseits fehlt dieser 180-Grad-Umkehrung der Rolle des Ichs doch etwas an Erläuterung. Wir können die Asymmetrie der ethischen Beziehung andeutungsweise zwar in der Erfahrung des Begehrens oder Verlangens und durch die Scham vor dem Gesicht des Anderen verstehen; diese sind zwei verschiedene Wege, auf denen Levinas die ethische 200 | sarah allen

Beziehung phänomenologisch zu erklären versucht (vgl. TU 35–38, 115–116). Durch einen Vergleich und die Beachtung unserer Verantwortung für alle Anderen können wir auch die Gleichstellung aller Anderen und eventuell die prophetische Dimension der sozialpolitischen Gerechtigkeit bei Levinas verstehen. Aber innerhalb seiner eigenen ›Logik‹, die eine etwas eigenartige und widersprüchliche Logik sein mag, erscheint die Gleichstellung des Ichs durch die Gnade Gottes als eine Art Wunder. Denn das Ich ist fast überall in Levinas’ Denken durch seine Stellung unter dem Anderen, durch seinen Dienst am Anderen, ›erwählt‹ und ›erhöht‹; das Ich trägt die Anderen, wie Atlas die ganze Welt oder wie der Messias die Sünden der ganzen Menschheit auf seinen Schultern trug. Plötzlich aber gibt es in den oben erwähnten Passagen eine Art Wunder: Gott sei Dank diene ich nicht nur den Anderen; sie dienen mir auch; auch ich bekomme ›einen Platz an der Sonne‹. Vielleicht ist es aber besser, von einem ›Rätsel‹ als von einem ›Wunder‹ zu sprechen, weil das ›Rätsel‹ einen wichtigen Platz in Levinas’ Denken hat, besonders in bezug auf Gott. Der Sinn Gottes, der Sinn der Transzendenz, kann nur ansatzweise durch die ethische Beziehung, durch das prophetische Wort und die zwei Ebenen der Gerechtigkeit erklärt werden. Aber dieser Sinn ist nie sicher, nie völlig durchschaubar. Gott zeigt sich nie direkt, sondern nur durch seine ›Spur‹ in der Ethik und der Gerechtigkeit. Diese Spur ist nicht nur leicht mißzuverstehen, sondern auch immer etwas verraten und verloren, unverstehbar, wenn wir sie – was sich uns aufdrängt – in thematische Sprache, philosophische Konzepte und Rede (und sozial-politische Institutionen und Gesetze) zu übersetzen versuchen. Ohne diese Unverstehbarkeit aber wäre Gott kein Gott, keine echte Transzendenz. Auch wenn uns diese Antwort, diese Einstellung des Rätsels und des Wunders Gottes in Levinas’ Denken, nicht zufriedenstellt, gibt es doch noch einen anderen Weg, die Gleichstellung des Ichs und die Rolle Gottes in der sozialpolitischen Gerechtigkeit zu verstehen. Wenn wir die Levinas’sche Behauptung ernst nehmen, daß der ursprüngliche Sinn Gottes und der Sinn der echten Religion in der Ethik zu finden sind, können wir sagen, daß sich die Beziehung mit Gott vor allem in meiner Verantwortung für Andere zeigt. Weil es eine Mehrheit von Anderen gibt, kann ich nicht alles, was ich habe, Der sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas | 201

dem Nächsten geben; ich muß immer etwas zurückhalten, um etwas den anderen Anderen geben zu können. Das heißt: wegen meiner Verantwortung für mehr als einen Anderen brauche ich meinen eigenen Bereich, meinen eigenen Platz, meine eigenen Rechte in der menschlichen Gesellschaft. Auch ich muß vor dem Unrecht geschützt werden, schon allein, um die Anderen schützen zu können, um die Anderen mit Gerechtigkeit behandeln zu können. Auf diese Weise führt meine Gleichstellung immer zurück auf meine Verantwortung für Andere und als solche auf den ursprünglichen Sinn Gottes und der Religion. Der sozialpolitische Sinn der Gerechtigkeit – der Buchstabe der Gerechtigkeit mit ihrer Gleichheit für das Ich und für Andere – führt immer zurück auf den ethischen Geist der Gerechtigkeit in der asymmetrischen ethischen Beziehung des Ichs mit dem Anderen. Levinas selbst schreibt, daß die echte Gerechtigkeit ihre Quelle in der ethischen Nähe haben sollte. Ohne die ethische Quelle ist die sozialpolitische Gerechtigkeit keine echte Gerechtigkeit (JS 347): »Die Gerechtigkeit ist unmöglich, ohne daß derjenige, der sie gewährt, sich selbst in der Nähe befindet. […] Die Gerechtigkeit, die Gesellschaft, der Staat und seine Institutionen […] bedeuten jeweils, daß nichts sich der Kontrolle der Verantwortung des Einen für den Anderen entziehen kann.« Um Gerechtigkeit zu erlangen, brauchen wir nach Levinas sowohl das sozialpolitische Niveau der Gerechtigkeit mit der Gleichstellung des Ichs (neu in Jenseits des Seins) und allgemeinen Konzepten, Gesetzen und Institutionen (schon erwähnt in Totalität und Unendlichkeit), als auch den ethischen Geist der Gerechtigkeit mit asymmetrischer Stellung des Ichs unter den Anderen. Die sozialpolitische Gerechtigkeit öffnet einen Bereich, in dem alle Menschen (einschließlich des Ich) gleiches Recht auf Gerechtigkeit haben. Der ethische Geist der Gerechtigkeit bindet die sozialpolitische Gerechtigkeit mit dem Guten zusammen und schützt uns vor der immer drohenden Gefahr, daß das Sozialpolitische sich in die Tyrannei und die Totalität wendet. In bezug auf Gott haben wir zwei neue Erklärungen unserer Beziehung mit Gott in Jenseits des Seins identifiziert: erstens, die Beziehung mit Gott als Illeität, die eigentlich eine andere Beschrei202 | sarah allen

bung der ethischen Beziehung und des ethischen Geistes der Gerechtigkeit ist; zweitens, die Gnade Gottes als eine Beziehung, die mir Reziprozität und Gleichheit mit Anderen im sozialpolitischen Bereich gibt. Wenn man die Rolle des sozialpolitischen Bereichs sowohl als Übersetzung und Korrektur, als auch als Verrat des ethischen Bereichs bedenkt, könnte man noch eine dritte Bedeutung Gottes hinzufügen und zwar alle thematischen, theoretischen und politischen (hier im alltäglichen Sinn, z. B. theokratischen) Gotteskonzepte. Man benötigt die Thematisierung Gottes, wie sie auch die Institutionalisierung der Gerechtigkeit erfordert: ohne Thematisierung und Institutionalisierung haben wir keinen öffentlichen und gemeinsamen Zugang zu Gott und zur Gerechtigkeit und auch keinen Zugang in der ausdrücklichen Sprache. Aber nach Levinas sind ausdrückliche sozialpolitische Interpretationen Gottes nicht nur mit dem ethischen Sinn Gottes als dem Geist hinter dem Buchstaben verbunden, sondern auch »zugleich rückbezogen […] auf einen Gott, den man immer verleugnen kann und der in permanenter Gefahr steht, zu einem Schutzherrn für alle Egoismen verwandelt zu werden« (JS 351). Wegen dieser Gefahr ist jeder sozialpolitische Sinn Gottes immer innerhalb eines ethischen Kontextes zu interpretieren. In ähnlicher Weise sollen wir immer bereit sein, alle sozialpolitischen Auslegungen der Gerechtigkeit durch die Ethik einzuschränken. Am besten versteht man die Beziehung zwischen den ethischen und sozialpolitischen Ebenen in Levinas’ Denken als eine gemeinsame Bestimmung, als eine stetige Hin-und-zurück-Bewegung, um uns zwar einen Zugang zu Gott und zur Gerechtigkeit zu eröffnen, aber uns auch vor ihrem Verrat zu schützen. Eine letzte abschließende Bemerkung: Interessanterweise, trotz (oder vielleicht auch wegen) der zentralen Rolle Gottes in seinem Denken, richtet Levinas uns in anderen Texten, wie seinem Aufsatz Der Laizismus und das Denken Israels, auf den Laizismus als besten politischen Rahmen für seine Ethik. Er schreibt (UG 157, Kursivierung von S. A.): »Das wahre Verhältnis zwischen Mensch und Gott beruht auf der Beziehung von Mensch zu Mensch, für die der Mensch allein die volle Verantwortung trägt, so als ob es keinen Gott gäbe, auf den man zählen könnte. Dies ist die Geisteshaltung, die den Laizismus bedingt«. Diese Interpretation des Laizismus und der menschlichen Verantwortung füreinander, »als ob es keinen Gott Der sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas | 203

gäbe«, ist nicht so sehr die Erschließung einer Ethik und einer Politik ohne Gott, sondern eher ein Kennzeichen, daß es bei Levinas keinen Weg zu Gott ohne ethische Verantwortung für andere Menschen gibt und wir darüber hinaus thematisierten und institutionalisierten sozialpolitischen Äußerungen im Blick auf Gott nie völlig vertrauen können, sofern diese zur ›Totalität‹ tendieren und dem Egoismus des Ichs dienen, anstatt den Bedürfnissen und Schwächen der Anderen.

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– Branko Klun –

Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ bei Levinas Die Gottesfrage ist in Levinas’ Denken allgegenwärtig. In seinen unlängst veröffentlichten Manuskripten bezeichnet er Gott als ›Orientierung aller Philosophie‹, wobei »das Problem seiner Existenz für die philosophische Problematik nicht wesentlich ist.«1 Insofern Levinas die Gottesfrage scharf von der ›Ontologie‹ abgrenzt, ändert sich aber die Bedeutung dessen, was mit ›Allgegenwart‹ gemeint wird. Gott kann nicht in die Seinspräsenz eintreten; er kann nicht als seiend erfahren und thematisiert werden. Diese methodische Vorgabe erklärt, warum Levinas so selten direkt von Gott spricht und warum sogar in den Schriften, die mit ihrer Überschrift eine Behandlung dieser Thematik versprechen, überwiegend von der ethischen Beziehung zum Mitmenschen die Rede ist. So bleibt Gott in Levinas’ Werken »transzendent bis hin zur Abwesenheit« (DMT 248). Dieser methodischen Schwierigkeit muß sich jeder Versuch bewußt sein, der eine Auseinandersetzung mit der Gottesfrage bei Levinas anstrebt. Der vorliegende Beitrag ist zuerst dem Ansatz des früheren Levinas gewidmet, wie er besonders in Totalität und Unendlichkeit zum Ausdruck kommt. In dieser Periode geht es vor allem um die Überwindung der ›Totalität‹. Gott wird dort nicht als der tragende und vereinende Grund der Totalität, sondern als der Inbegriff einer ursprünglichen ›Trennung‹ gesehen, eines ontologischen Pluralismus. Nach Totalität und Unendlichkeit ändert sich jedoch die methodische Problemstellung; die bisherige Außenperspektive der Betrachtung wird in die Innerlichkeit der ethischen Subjektivität verlagert. Gott ›geschieht‹ in der Unendlichkeit der Verantwortung, die das ethische ›Wesen‹ des Subjekts ausmacht. In diesem Zusammenhang wird vor allem Levinas’ Aufsatz Gott und die Philosophie berücksichtigt, der auf prägnante Weise die Merkmale seines späteren Werkes vergegenwärtigt und deren unmittelbare Relevanz für die Gottesfrage zeigt. | 205

1. Gott jenseits der Totalität Levinas’ philosophischen Ausgangspunkt bildet seine Kritik der Totalität. Die Idee der Totalität hat zwar verschiedene Erscheinungsformen und Ausdrucksweisen, doch lassen sich grob zwei Momente herausarbeiten: die Erstickung der Andersheit und eine alles nivellierende Neutralität. Vor allem in der unpersönlichen Neutralität des Ganzen (le tout) sieht Levinas die größte Gefahr für den Menschen, der in der allgemeinen Perspektive der Totalität seiner personalen Würde beraubt wird. Levinas zielt also nicht in erster Linie auf das ethische Problem der Gewalt, die in der Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze (die Totalität) am Werk ist, sondern meint vielmehr insgesamt die Herrschaft des Allgemeinen, des Neutralen, das die unaufhebbare Einzigartigkeit der Person unterdrückt. Nur so kann man das Ausmaß von Levinas’ Kritik verstehen, der beinahe die ganze abendländische Philosophie unterzogen wird. Diese Kritik betrifft nämlich die Vernunft, die das philosophische Denken von Anfang an bestimmt und trägt. Indem die Vernunft eine Erkenntnis des Ganzen sucht und um Universalität bemüht ist, wohnt ihr nach Levinas eine totalitäre Tendenz inne. Levinas verkennt dabei allerdings, daß das Streben der philosophischen Vernunft nach Allgemeinheit im Grunde ethisch motiviert ist. In der Suche nach dem Logos, der für alle gilt und keine Usurpation des Einzelnen auf Kosten der Anderen erlaubt, kann das Bemühen um Gerechtigkeit erkannt werden. Für Levinas hingegen bleibt die Universalität der Vernunft eine unpersönliche Instanz, die das eigentlich Menschliche einer anonymen Totalität unterordnet. Sofern die Vernunft in erster Linie zur Erkenntnis dessen berufen ist, was wahrhaft ist, also als Erkenntnis des Seins fungiert, stellt Levinas das Primat der Ontologie als ›Erster Philosophie‹ in Frage. Dies ändert sich auch nicht mit der ›zeitgenössischen Ontologie‹, wie Levinas Heideggers Philosophie nennt,2 obwohl die Frage nach dem Sein dort auf eine neue Weise gestellt wird. Levinas meint, daß das ›Sein überhaupt‹ (l’être en général), dessen Sinn bzw. Wahrheit Heidegger sucht, auch weiterhin eine unpersönliche Neutralität darstellt, die den Menschen unterdrückt. Das gesamte abendländische Denken mit seinen Grundpfeilern – Vernunft und Erkenntnis, Sein und Logos – entkommt bei Levinas nicht dem Vorwurf der 206 | branko klun

Totalität und Neutralität. Deshalb sucht Levinas von Beginn seines eigenen denkerischen Weges an nach Möglichkeiten, diese Totalität in Frage zu stellen. Die ersten Versuche unternimmt Levinas dabei gar nicht in die Richtung der von ihm später entwickelten Ethik, vielmehr beziehen sie sich auf die Themen der erotischen Differenz und der Fruchtbarkeit (Vaterschaft, Kindschaft). Levinas will gegen die unpersönliche Totalität eine Pluralität von Personen verteidigen, die sich nicht in eine übergeordnete Gemeinschaft oder Totalität überführen lassen. Es muß – so Levinas – eine derart ursprüngliche Differenz geben, daß sie durch keine nachträgliche Einheit oder Totalität aufgehoben werden kann. Bald wird ihm jedoch klar, daß die Postulierung einer solchen ursprünglichen Differenz, die einen so radikalen Pluralismus ermöglicht, zugleich an die Grenzen der Vernunft und des Denkens stößt. Wenn das Denken immer eine Synthese anstrebt, wenn das Eine als Bedingung der Möglichkeit für das Denken des Mannigfaltigen fungiert, dann wird der Logos selbst herausgefordert und Levinas wird sich ins para-logische und para-doxe Denken begeben müssen, wovon seine späteren Schriften reichlich Zeugnis geben. Ist aber Gott nicht die ursprüngliche Einheit, aus der das Ganze hervorgeht? Ist der Schöpfergott nicht derjenige Grund, der alles begründet und trägt? Gott als das höchste Seiende (summum ens), das das Ganze des Seins verursacht hat, ist der Gott der ›Ontotheologie‹. Heidegger spricht in diesem Sinne von der ›ontotheologischen Verfassung der Metaphysik‹ und kritisiert den metaphysischen Gott als Vergötterung eines bestimmten Seinsverständnisses und des Kausalitätsprinzips.3 Der metaphysisch konzipierte Gott dient der Beherrschung unseres geschichtlich bestimmten Seins und ist ein Ausdruck des Willens zur Macht. Levinas kann diese Kritik weitgehend teilen, wie seine Vorlesungen mit dem Titel Dieu et l’onto-théo-logie bezeugen,4 nur glaubt er nicht, daß die Überwindung der Ontotheologie durch eine neue Besinnung auf das Sein, wie Heidegger sie vorschlägt, möglich ist. Levinas stimmt mit Heidegger auch darin überein, daß ein Schöpfungsverständnis, das in Kategorien des Herstellens und der Ursächlichkeit artikuliert wird, das Ganze beherrschen will. Nur läßt sich für ihn die ›Totalisierung‹ auch nicht durch ein anderes Seinsverständnis vermeiden, die aus seiner Sicht jeder ›ontologischen‹ Interpretation der Schöpfung anGott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 207

haftet. Levinas weist jede ›analogia entis‹ zurück, die von der Erfahrung des diesseitigen Seins auf eine transzendente Ursache schließt, ungeachtet dessen, wie stark auch immer die Differenz des Schöpfers innerhalb der Analogie beteuert wird. Solange die Schöpfung anhand des Kausalitätsprinzips (in seinen mannigfaltigen Variationen) ausgelegt wird, bleibt die Deutung nach Levinas dem Denken der Totalität verpflichtet. Levinas interpretiert dagegen die Schöpfung vielmehr als den Ursprung der Differenz. Man darf eigentlich nicht einmal ›Ursprung‹ sagen, da wir uns immer schon im Zustand eines Geschöpfs befinden und zum Schöpfer in völlig asymmetrischem Verhältnis stehen. Zum Geschaffensein gehöre nämlich, sich des Ursprungs nicht bemächtigen, keine ursprüngliche Einheit rekonstruieren zu können. Wichtiger aber ist, daß das Geschöpf Selbstständigkeit, ja Andersheit im Verhältnis zum Schöpfer besitzt, und die Schöpfung in erster Linie als ›Trennung‹ (séparation) gedeutet wird. Demnach ist – mit Levinas’ Worten – »das Seiende, das getrennt und geschaffen ist, nicht bloß aus dem Vater hervorgegangen, sondern ihm gegenüber ein absolut Anderer« (TU 84). Die Andersheit des Geschöpfs bedeutet nicht bloß, ein vom Schöpfer verschiedenes Sein zu haben, sondern moralische Selbstständigkeit, eine ethische Souveränität, die den Pluralismus jenseits der ontologischen Totalität ermöglicht. Jedes Geschöpf wird »außerhalb jeden Systems [gesetzt], d. h. dort, wo seine Freiheit möglich ist« (TU 149). Es besitzt eigenen Willen, der sich auch gegen den Schöpfer wenden kann und durch den der Atheismus möglich wird. Die Schöpfung wird somit zum Inbegriff der Differenz und eines ›Pluralismus der Willen‹ (TU 322), die den Gegenpol zur ontologisch aufgefaßten Totalität darstellen. Aus den unlängst publizierten Manuskripten wird deutlich, daß sich Levinas von Anfang an mit der Idee der Schöpfung auseinandergesetzt hat (Œuvres 1, 443–455). Der Grund dafür, daß die Schöpfungsidee nicht systematisch entwickelt wird, liegt wahrscheinlich in ihrem methodischen Status. Wie kann von der Schöpfung eines ›moralischen Wesens‹ die Rede sein, wenn dabei nicht die moralische Erfahrung, die Begegnung mit dem Antlitz, vorausgesetzt wird? Später wird Levinas schreiben (LC 45): »Wir kommen auf die Idee der Schöpfung ausgehend von der Erfahrung des Antlitzes.« Die phänomenale Basis für die Rede über die Schöpfung stellt die 208 | branko klun

eigentümliche Erfahrung unseres moralischen Geschaffenseins dar. Nur durch diese Erfahrung kommen wir auch auf die Idee von Gott. Das ist Levinas’ Antwort auf das Problem der Ontotheologie und ihrer Überwindung. Die Erschließung des ethischen Geschehens vor dem Antlitz des Anderen bereitet den Weg, damit Gott ›ins Denken einfallen‹ kann. Der Weg zu Gott führt über die Andersheit des Anderen, und anstelle einer ›analogia entis‹ – im Sinne der Möglichkeit, daß wir das unendliche und transzendente Sein Gottes ausgehend von der Erfahrung unseres endlichen Seins erschließen und trotz seiner Transzendenz in einem analogen Sinne über Gott reden können – werden wir es bei Levinas mit einer ›analogia alteritatis‹ zu tun haben, wo die ›Erfahrung‹ der ethischen Alterität des Anderen eine ›entsprechende‹ (ana-loge) Bedeutung und Rede von Gott allererst ermöglichen wird. Gott wird nicht als Potenzierung des Seins, sondern als Verunendlichung des ethischen Geschehens im Verhältnis zum Mitmenschen verstanden.

2. Die ethische Transzendenz des Anderen In Totalität und Unendlichkeit bemüht sich Levinas, die spezifisch ethische Transzendenz des anderen Menschen zu beschreiben, die das ontologische Totalitätsdenken durchbricht und übersteigt. Zur Illustration der Argumentationsweise ziehen wir den Abschnitt mit dem Titel ›Antlitz und Ethik‹ (TU 283–289) heran, in dem Levinas einige zentrale Gedanken entwickelt. Die Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit dem anderen Menschen wird zuerst per negationem beschrieben. Das Gesicht des Anderen ist kein gewöhnliches Phänomen, das ich in phänomenaler Korrelation fassen kann (TU 283): »Das Antlitz entzieht sich dem Besitz, meinen Vermögen.« Obwohl der Andere auf sinnliche Weise erscheint (das Gesicht als das Sichtbare, das ›Gesichtete‹), wird er über diese Erscheinung hinaus gegenwärtig, was von Levinas auch ›Epiphanie‹ genannt wird und was die Übersetzung von ›visage‹ mit ›Antlitz‹ rechtfertigt. Diese Dimension stellt ein Novum dar, eine völlige Andersheit im Vergleich zu sonstigen Erscheinungen der phänomenalen Welt. Levinas ist sich zwar bewußt, daß sich auch andere Phänomene einer vollständigen Erkenntnis entziehen, doch verGott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 209

weist bei ihnen das Noch-nicht-Erkannte nur auf die Begrenzung unseres Erkenntnisvermögens. Was sich jedoch im Antlitz eröffnet, bietet meinem intentionalen Zugriff einen völlig anderen Widerstand. Meine Macht der Vereinnahmung, die ich durch Genuß und Erkenntnis in Bezug auf die Welt ausübe, wird vom Anderen nicht nur relativiert, sondern zur Gänze in Frage gestellt. Vor dem Antlitz, das mich anspricht und fordert, erfahre ich eine vollkommene Unmöglichkeit, es intentional zu fassen, es auf die Welt des Selben (der »egologischen« Totalität) reduzieren und beherrschen zu können. Aber gerade dieses Nicht-Können verleitet mich dazu, den Anderen völlig negieren, d. h. töten zu wollen. Diese Versuchung des Mordes entsteht aufgrund von zwei entgegengesetzten Erfahrungen: Einerseits kann ich den Anderen, der sich in der ethischen Dimension des Antlitzes ausdrückt, nicht beherrschen (die Ohnmacht vor dem Ethischen), andererseits aber ist seine leibliche Erscheinung meinem gewaltsamen Zugriff zugänglich (die Macht über das Sinnliche). Doch auch die gewaltsame Form des Mordes kann den Anderen nicht in seiner ethischen Transzendenz erreichen. Der Andere befindet sich jenseits der Logik des Seins und Nicht-Seins. Wenn bislang per negationem gezeigt wurde, daß das Antlitz nicht der phänomenalen Welt bzw. dem Sein angehört, dann stellt sich die Frage, was dieses Jenseits bzw. diese Andersheit des Anderen positiv bedeuten kann. Levinas spricht vom Ausdruck (expression) des Antlitzes. Dabei befinde sich der Andere nicht hinter dem Antlitz bzw. hinter seinem Ausdruck. Der Andere ›ist‹ bereits sein Ausdruck und Antlitz (TU 287): »Im Ausdruck präsentiert sich ein Seiendes selbst.« In diesem Ausdruck erhält auch die Dimension der Unendlichkeit eine positive Bedeutung. Obwohl der ›unendliche‹ ethische Widerstand des Anderen eine Negierung meines Könnens bedeutet und die Unendlichkeit eine negative Konnotation besitzt, muß sie in Wahrheit positiv gedeutet werden. Die absolute Transzendenz des Anderen, seine unendliche Andersheit, wird zum nieendenden, zum unendlichen Ausdruck seiner ethischen Forderung. Der Ausdruck »ist das erste Wort: ›Du wirst keinen Mord begehen‹« (TU 285). Dieses Wort ist keine Feststellung, kein Indikativ, sondern ein Gebot und Imperativ. Levinas will die Sprache in diesem ersten Wort begründet wissen und spricht vom »ethische[n] Wesen der Sprache«. Die Sprache ist demnach kein System und kein ›Haus des 210 | branko klun

Seins‹. Solange die Sprache als Werk des Logos, der Allgemeinheit und Universalität betrachtet wird, verkörpert sie die Totalität mit ihrer kalten, unpersönlichen Neutralität. Doch bevor etwas ausgesagt wird, wird es jemandem gesagt. Das Sprechen ist zuallererst in eine zwischenmenschliche Beziehung eingebettet, die selber nicht in der Totalität der Sprache zu fassen ist. Bevor der Andere etwas sagt, spricht mich sein Antlitz auf ethisch transzendente Weise an. Diese Anrede oder der Anruf des Antlitzes, dem ich mich nicht entziehen kann, verpflichtet mich »zum Eingehen auf die Rede« (TU 289), fordert mich zum Antworten bzw. zur Verantwortung auf. Es wird ein ethisches Geschehen eröffnet, das über die (onto) logische Funktion der Sprache hinausgeht. Die ethische Ebene transzendiert die Ebene der Ontologie und stellt aus der Sicht letzterer einen Widerspruch dar. Die paradoxe Logik des ethischen Ausdrucks vereint zwei Erscheinungsweisen des Antlitzes in sich. Auf der einen Seite spricht mich das Antlitz in seiner ›Nacktheit‹ an. Dies zeigt seine Aufrichtigkeit, seine völlige Exposition, die nichts verbergen kann. Die Nacktheit des Antlitzes konnotiert eine Fragilität und Verletzbarkeit, die sich »in der vollständigen Blöße seiner Augen ohne Verteidigung« äußert (TU 285). Sie steht aber auch für ein Sich-Ausdrücken ohne Vermittlung. Die Manifestation des Anderen in der Situation von Angesicht zu Angesicht erfolgt ohne Vermittlung eines Horizonts, der bei der intentionalen Erkenntnis unumgänglich ist. Das Antlitz drückt sich καθ’ αὑτό, von sich selbst aus, ohne Vermittlung jeglichen Kontexts. Sein ethischer Ruf zeigt eine Unabhängigkeit und Souveränität, die sich stärker als jede ›Objektivität‹ erweist. So haben wir es auf der anderen Seite mit der Erhabenheit (hauteur) des Antlitzes zu tun. Die Erhabenheit der ethischen Macht geht untrennbar zusammen mit der Nacktheit, die auch als sinnliche bzw. physische Ohnmacht, als Hunger und Not gedeutet wird. Der Andere verfügt über mich als Erhabener und Bedürftiger zugleich. Er ruft mich mit einer ethischen Souveränität, die ich nicht anfechten kann, und doch ist seine Macht gründlich verschieden von der Machtausübung, die der Logik des Seins angehört und den Anderen in seiner Freiheit beschränkt. Nun lassen sich gerade mit der Frage nach der Freiheit Bezüge zu unseren Überlegungen zur Schöpfung herstellen. In der UnmögGott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 211

lichkeit, sich dem ethischen Ruf des Antlitzes zu entziehen, wird die vermeintliche Souveränität des Ich bezweifelt. Ich werde mit etwas konfrontiert, was nicht in meiner Macht liegt, mir in gewisser Hinsicht vorgängig ist, mich aber zutiefst bestimmt. Wenn die Freiheit jedoch als völlige Unabhängigkeit des Subjekts gedeutet wird, dann wird der ethische Anspruch des Anderen als eine Bedrohung meiner Freiheit betrachtet werden. Levinas will sich dabei nicht nur von Sartre abgrenzen, sondern vor allem auch von Heidegger, dessen ›Geworfenheit‹ er mit einem ›Unsegen‹ oder mit einer ›Verfluchung‹ (malédiction) verbindet (Œuvres 2, 102). Der Andere, der mich ethisch verpflichtet, bedroht und begrenzt nicht meine Freiheit, sondern ermöglicht sie in Levinas’ Sicht überhaupt erst. Wenn ich vollkommen allein wäre (d. h. ohne jede echte Andersheit), könnte ich nicht einmal von Freiheit sprechen; die Freiheit hätte keinen Sinn. Levinas beschreibt eine solche Situation als Gefangenschaft im (eigenen) Sein. Erst wenn ich den ethischen Ruf vernehme, der vom Anderen kommt, werde ich zu meiner Freiheit erweckt, die sich dadurch wesentlich als Freiheit des Antwortens erweist. Diese Freiheit bekommt auch eine Rechtfertigung; sie ist frei für die Güte bzw. für die Gerechtigkeit, die ich dem Anderen widerfahren lassen kann. Um gut zu sein, muß ich frei sein, aber ich bin nicht frei in dem Sinne, daß ich mich dem vorgängigen ethischen Ruf entziehen könnte (auch wenn ich ihn nicht befolgen muß). Handelt es sich bei der Idee der Schöpfung nicht um eine ähnliche Struktur? Ich verdanke mein Sein einem Ursprung, der jenseits meiner Macht liegt, und doch ist dieses Bestimmtwerden vom Anderen her keine Verfluchung, sondern eine Einladung zur Beziehung, eine Befreiung aus der Gefangenschaft im eigenen Selbst und aus der zu ihm gehörigen Totalität (TU 288): »Das Unausweichliche hat nicht mehr die Unmenschlichkeit des Fatalen«, heißt es folglich bei Levinas, »sondern den strengen Ernst der Güte«. Die Schöpfung ist keine Verursachung, die über das Verursachte herrscht und seine Freiheit begrenzt, sondern das ›moralische‹ Geschöpf ist dazu berufen, einen unendlichen ethischen Sinn oder die ›Herrlichkeit‹ (gloire) des Guten zu bezeugen.

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3. Das Metaphysische und das Menschliche Für Levinas ist die Unterscheidung zwischen der »Ebene der Ontologie« und der »Ebene der Ethik« von entscheidender Bedeutung (TU 289). Die Analysen des Antlitzes wollen gerade die paradoxe Logik der ethischen Bedeutung herausarbeiten, die dem onto-logischen Denken fremd ist. Die Transzendenz, die im Antlitz eröffnet wird und die die ontologische Totalität sprengt, ist zugleich eine ursprüngliche ›Erfahrung‹ der Heiligkeit. Im Abschnitt Das Metaphysische und das Menschliche (TU 105–109), auf den wir uns hier näher beziehen, unterscheidet Levinas zwischen dem Heiligen und dem Sakralen. Der Weg zu Gott führt nur über die Heiligkeit des Antlitzes. Mehr noch: Es gibt keine andere Offenbarung Gottes als die eigentümliche Offenbarung der ethischen Transzendenz im anderen Menschen. Levinas erklärt (TU 106 f.): »Die Dimension des Göttlichen öffnet sich vom menschlichen Antlitz aus.« Das Göttliche, das sich nicht auf diese Erfahrung bezieht, erhält hingegen den Charakter des Sakralen. Für Levinas ist das Sakrale eine falsche Gottheit, die zur Idolatrie führt. Das Sakrale gehört der Ebene der Ontologie an, das Heilige der Ebene der Ethik. Beim Sakralen handelt es sich für Levinas um ein Mysterium, um das Numinose oder das Mythische, das als Potenzierung, als Superlativ eines bestimmten Seins(verständnisses) entworfen oder gesetzt wurde. Wahrscheinlich ist diese ›Setzung‹ des Sakralen bzw. des Mythischen auch der Grund dafür, daß Levinas von ›positiven‹ Religionen spricht. Ihnen gegenüber steht der »von den Mythen gereinigte Glaube, der monotheistische Glaube« (TU 106), der sich für Levinas – ohne daß er dies ausdrücklich erwähnt – nur auf das Judentum bezieht. Das Sakrale besitzt keine absolute Transzendenz, es gehört vielmehr der Totalität an und verspricht seinen Gläubigen, durch Teilhabe eine Vereinigung mit ihm zu erreichen. Nicht die Differenz, sondern eine Vereinigung mit dem Göttlichen steht hier im Vordergrund, und in diesem Streben nach Einheit verbirgt sich für Levinas das eigentliche Gewaltpotenzial des Sakralen. Zum Sakralen würde Levinas auch das Göttliche zählen, das Heidegger neu zu denken sucht. Bekanntlich fragt Heidegger nach demjenigen Sinn- bzw. Seinshorizont (Verständnis bzw. Wahrheit des Seins), der sich für das ›Wesen‹ des Göttlichen öffnen könnte. Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 213

Da aber die Ankunft des Göttlichen (in der Unbestimmtheit, ob es sich um einen oder mehrere Götter handelt) vom vorgängigen Ereignis des Seins abhängt und nach Levinas dieses Sein ein unpersönliches und anonymes Geschehen darstellt, kommt Heidegger aus Levinas’ Sicht nicht über das Sakrale hinaus und ebnet vielmehr den Weg zu einem neuen Heidentum. Die phänomenologisch relevante Frage nach dem vorausgehenden Horizont, der die ›ursprüngliche‹ Gegebenheit des Phänomens ermöglicht (in diesem Fall handelt es sich um das Phänomen des Göttlichen bzw. um Gott), bleibt jedoch auch für Levinas von Bedeutung. Diesen ›Horizont‹, der das Heilige ›erscheinen‹ läßt, bildet die ethische Dimension des Antlitzes. Gott kann nur innerhalb der ethischen Bedeutsamkeit einen Sinn bekommen, aber für Levinas ist die Rede von einem ›Horizont‹ nicht mehr zulässig. Das Antlitz durchbricht jeden Horizont, wenn dieser als transzendentale Bedingung für das Erscheinen eines Phänomens fungiert. Einer ontologischen Metaphysik, die nur zu einer unechten Transzendenz und zum Sakralen führen kann, setzt Levinas seine Metaphysik der ethischen Transzendenz entgegen. Diese Metaphysik beharrt auf einer radikalen Trennung vom Transzendenten, die die Dimension der Unendlichkeit eröffnet und mit dem unendlichen Begehren (désir) im Menschen korreliert. Die radikale Trennung von Gott erklärt zugleich den Atheismus, der sich für Levinas gerade der Idolatrie widersetzt und keine Antithese zur Religion darstellt, sondern »die Bedingung für eine wirkliche Beziehung mit einem wahren Gott καθ’αὐτό« ist, wie Levinas festhält (TU 106). Der transzendente Gott entzieht sich jeder Erkenntnis im Sinne einer intentionalen Objektivierung oder Thematisierung – wie es auch bei der Transzendenz des anderen Menschen der Fall ist. »Dem Blick, der sich auf ihn richtet«, so Levinas, »ist das direkte Verständnis Gottes unmöglich« (TU 107). Eine solche Erkenntnis würde nämlich die Herstellung einer Totalität bedeuten und die Trennung aufheben. Im Hintergrund von Levinas’ Kritik an der Erkenntnis steht auch die Gegenüberstellung von Sehen (Licht) und Hören (Ton).5 Im Sehen – das für Levinas paradigmatisch für die Erkenntnis bzw. für das Verständnis ist – entsteht eine Einheit, eine Totalität zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen, die auch eine zeitliche Simultanität einschließt. Das Gesehene wird vom Sehen214 | branko klun

den vereinnahmt. Beim Hören hingegen wird man zum Empfänger der Rede, die von einem Anderen stammt und die dem Empfänger im zeitlichen Sinne vorausgeht. Das Reden und das Hören setzen eine Trennung zwischen den Gesprächspartnern voraus, und die Rede – in ihrer ethischen Bedeutung als Anrede und Forderung – wird zu einer Modalität der Transzendenz-Beziehung. Keine Erkenntnis von Gott zu haben, bedeutet, daß Gott nie in die Präsenz des intentionalen Blickes überführt werden kann. Wohl aber bleibt er ein transzendenter Gott, der spricht. »Die Offenbarung ist Rede« (TU 106), schreibt Levinas und betont, daß durch die Rede die absolute Andersheit nicht preisgegeben, sondern vielmehr als soziale Beziehung (d. h. »[e]ine Beziehung mit dem Transzendenten – die jedoch frei von jeder Aneignung des Transzendenten ist«; TU 107) bestätigt wird. Gott redet im Antlitz des Anderen. Der ›Ort‹ seiner Offenbarung ist die ethisch verstandene ›Nähe‹, die den Anderen zu meinem ›Nächsten‹ macht (ebd.): Das »Elend im Antlitz des Fremden, der Witwe und des Waisen«, also der schwächsten Glieder der Gesellschaft, drückt die Tragweite und die Radikalität der ethischen Forderung aus. Diese ethische Offenbarung bzw. Epiphanie nennt Levinas auch ›absolute Gegenwart‹ und fügt hinzu, daß diese Gegenwart von jeder Beziehung losgelöst ist. Die Bezeichnung ist insofern interessant, als sich die Transzendenz nicht in der von mir vollzogenen Gegenwart ereignen kann; das würde nämlich eine Synchronie der Zeit (und damit eine ›Totalität‹) implizieren. Die Andersheit des Anderen bildet keine gemeinsame Gegenwart mit mir, weshalb Levinas an anderen Stellen entweder von einer absoluten Zukunft oder einer absoluten Vergangenheit der Transzendenz sprechen muß. Hier geht es ihm jedoch um die Angewiesenheit des transzendenten Gottes auf die ›Gegenwart‹ unserer Mitmenschen: Gott wird erst dann ›gegenwärtig‹, wenn wir den Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Levinas bestreitet, daß »die Attribute Gottes […] per analogiam erkannt werden« (ebd.). Auch wenn er ein Denken ›per analogiam‹ in bezug auf Gott zurückweist, kann er doch nicht umhin, selbst eine andere Analogie einzuführen.6 Er würde zwar argumentieren, daß die ethische Epiphanie im Anderen nicht auf einen seienden Gott jenseits des Antlitzes verweisen oder gar schließen will. Gott Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 215

›gibt‹ es nirgendwo ›im Sein‹ außer im (zwischenmenschlichen) ethischen Geschehen. Allerdings stellt sich dann die Frage, ob wir überhaupt zwischen dem Anderen (in seiner ethischen Transzendenz) und Gott unterscheiden können. Später wird Levinas schreiben, daß Gott »anders als der Andere, der andere Andere [autre autrement]« (DMT 253) ist, womit der Unterschied zwischen Gott und meinem Nächsten betont wird. Doch dann muß es aber zwischen dem Antlitz des Anderen und Gott eine ›analogia alteritatis‹ geben. Wenn wir die Analogie in einem weiteren Sinn deuten, betrifft sie eben den Bedeutungshorizont, aus dem heraus Gott gedacht werden kann – auch wenn sich dieses Denken in der paradoxen Lage befindet, daß es ›mehr denkt, als es denken kann‹. Dieser Bedeutungshorizont (im weitesten Sinne des Wortes) scheint genau das zu sein, was Levinas als ›die spirituelle Optik‹ der Ethik bezeichnet. In dieser ›Optik‹ wird der Zugang zu Gott eröffnet (TU 108): »[D] ie ›Vision‹ Gottes ist hier eins mit diesem Werk der Gerechtigkeit.« Levinas grenzt sein Verständnis von anderen Bedeutungshorizonten ab, die auf je eigene Weise Gott zu denken versuchen: Gott als der ontotheologische Superlativ eines Seinsideals, Gott als die Sublimation des Objektiven und Gott als die Sublimation eines Du. Bei Letzterem (die Anspielung auf Buber ist unüberhörbar) handelt es sich um den Horizont der Liebe, der für Levinas als Gegenseitigkeit der Liebenden eine spezifische ›Totalität‹ darstellt und aus ethischer Sicht problematisch ist. Die ethische Beziehung, wie sie Levinas deutet, ist für ihn der einzige Zugang zu Gott. Der ursprüngliche Sinn der Metaphysik wie der Religion liegt in der Ethik. Der Verweis auf Kant am Ende des hier behandelten Abschnittes kommt dabei sehr gelegen; bei Levinas könnten wir von einer ›Religion in den Grenzen der bloßen Ethik‹ sprechen. Die theologischen Begriffe sind ohne ethische ›Anschauung‹ leer, und was an diesen Begriffen über die ethische Bedeutung hinausgeht, setzt sich der Gefahr des Sakralen, Mysteriösen, Mystischen aus. Eine Religion, die – in Levinas’ Verständnis – mehr als Ethik sein will, stellt nicht die »höhere Form der Religion dar, sondern ihre auf immer primitive Form« (TU 109). Da in Totalität und Unendlichkeit die Transzendenz als Exteriorität begriffen wird – im Gegensatz zur Innerlichkeit des Subjekts –, wird auch Gott mit einem ›Außen‹ assoziiert. In dieser Konstella216 | branko klun

tion läuft Levinas Gefahr, die Transzendenz jenseits des Seins als eine Entfernung zu verstehen, die durch die ›absolute Gegenwart‹ in der ethischen Beziehung nicht zureichend kompensiert wird. Die nach Totalität und Unendlichkeit veränderte Perspektive verlegt das Augenmerk auf das Subjekt, das immer schon vom Anderen durchdrungen wird und in seiner Innerlichkeit Gott begegnet.

4. Die methodische Wende nach Totalität und Unendlichkeit Auch wenn hinsichtlich einer mit Heideggers ›Kehre‹ vergleichbaren Wende bei Levinas Uneinigkeit besteht, ist eine Akzentverschiebung in seinem Denken unbestreitbar, die nach Totalität und Unendlichkeit und der Kritik durch Derrida erfolgte. Levinas wird sich zunehmend bewußt, daß seine bisherige Perspektive, die eine Überwindung der ontologischen Totalität anstrebte, immer noch von ontologischen Voraussetzungen gekennzeichnet ist.7 Der Aufbau von Totalität und Unendlichkeit zeigt, daß Levinas zuerst die Innerlichkeit und die Ökonomie des Eigenen (das im Genuß und in der Erkenntnis hypostasierte Subjekt) sichert, um diese nachträglich von der paradoxen, ethisch bedeutsamen Erscheinung des Anderen her in Frage zu stellen. Kann aber eine absolute Andersheit ausgehend vom Eigenen erreicht werden? Ist es nicht vielmehr so, daß die Begegnung mit dem Anderen dazu führt, daß er sich als derjenige erweist, der sich meiner Macht entzieht und in seiner Souveränität immer schon vor mir gewesen ist? Das ›vor‹, das ich vor dem Antlitz des Anderen erfahre, meint sowohl einen ethischen Vorrang als auch eine zeitliche Priorität. Wenn der Andere aber immer schon vor mir ist, dann kann das getrennte Subjekt des frühen Levinas nicht mehr den methodischen Ausgangspunkt eines ethischen Denkens darstellen. Die Priorität des Anderen verlangt, daß dieser nicht erst am Ende einer phänomenologischen Analyse entdeckt wird, sondern daß er immer schon am Anfang steht – an einem Anfang, der dem Anfang bzw. der Konstitution des Subjekts vorausgeht. Die Notwendigkeit einer Umkehrung der methodischen Ausrichtung, die nicht mehr ›von mir zum Anderen‹ führt, sondern die paradoxe Situation ›vom Anderen zu mir‹ einnehmen Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 217

muß, kann am Beispiel der zeitlichen Implikationen eines radikalen Transzendenzdenkens verfolgt werden. Die Zeit des Selben bzw. der Totalität ist eine unaufhörliche Vergegenwärtigung der Gegenwart. Das ›praesens‹ im doppelten Sinne der räumlichen und der zeitlichen Präsenz beherrscht die Modalitäten der Vergangenheit und der Zukunft. Beide ›sind‹ nur im Bezug auf die Gegenwart, sei es als Erinnerung des Vergangenen, sei es als Antizipation des Künftigen. Der Einbruch der Transzendenz erschüttert diese Totalität der Gegenwart. Die wahre Transzendenz muß einer anderen Zeit angehören, die sich nicht in die Gegenwart überführen läßt. Wenn wir vom Subjekt ausgehen und nachträglich dem Anderen begegnen, erweist sich der Andere als eine Zukunft, die jenseits der Gegenwart liegt und ausgehend von dieser nie antizipiert (und damit nicht beherrscht) werden kann. Bereits in seinen frühesten Werken spricht Levinas von einem Horizont der Zukunft, der die Transzendenz des Anderen charakterisiert.8 Auch in Totalität und Unendlichkeit wird die Transzendenz in erster Linie mit der Zukunft zusammengedacht, die eine unendliche Zeit jenseits meines Selbst eröffnet und im Wunder der Fruchtbarkeit ihren konkreten Ausdruck findet. Die Umkehrung der Prioritätsverhältnisse zwischen mir und dem Anderen führt dann aber zu einer wachsenden Bedeutung der Vergangenheit als dem primären Zeitmodus der Transzendenz. Der Andere ist früher als ich und dieses Früher bedeutet eine Vergangenheit, die kein in der Erinnerung einholbares Gewesensein des Anderen impliziert. Die ›vor-ursprüngliche‹, ›anarchische‹ Vergangenheit (JS 39) ähnelt der Struktur der Schöpfung, bei der der Schöpfer einer Vergangenheit angehört, die vom Geschöpf nie rekonstruiert, nie durch eine Repräsentation in die Präsenz bzw. in die Gegenwart des Denkens gebracht werden kann. Aus der Periode nach Totalität und Unendlichkeit stammt auch die Kategorie der ›Spur‹ (trace), die es Levinas ermöglicht, eine Beziehung mit der absoluten Vergangenheit der Transzendenz herzustellen, ohne ihre Andersheit zu beeinträchtigen oder zu relativieren. Auch wenn ich dem Anderen in der ›Exteriorität‹ des Antlitzes begegne, entdecke ich dabei, daß er mich immer schon in meinem Innersten bestimmt hat. Seine absolute Priorität und die zu ihr gehörende Vergangenheit besagen, daß er schon vor mir in mir war und daß mein vermeintlich souveränes Bewußtsein keinen Anfang 218 | branko klun

darstellt. Die bislang äußerliche Transzendenz wird in die Innerlichkeit versetzt, wo sie das Fundament der Subjektivität erschüttert. Levinas wird von einer Struktur (oder ›De-Struktur‹) der Subjektivität sprechen, die als »der[das]-Andere-im-Selben« (l’Autredans-le-Même; JS 246), als ›Transzendenz in der Immanenz‹, als ›das Unendliche in mir‹ oder als ›das Mehr im Weniger‹ beschrieben wird. Die Phänomenologie einer souveränen und auf sich gestellten Innerlichkeit, die in Totalität und Unendlichkeit noch einen beträchtlichen Teil der Ausführungen einnimmt und einen Gegenentwurf zu Heideggers Existenzialanalyse liefern will, rückt später in den Hintergrund. Mehr noch, es gibt keine Außenperspektive mehr, von der her der ontologischen Totalität ein ethischer Pluralismus entgegengesetzt werden könnte. Das im Kern der eigenen Subjektivität Bestimmtwerden vom Anderen her ändert den methodischen Status des Subjekts und der philosophischen Argumentation. Das Denken ist nun gezwungen, sich auch seiner eigenen ethischen Bedingtheit bewußt zu werden, obwohl es diese Bedingtheit nie aufheben kann. Der-Andere-in-mir als unaufhörliche Beunruhigung des Selben durch den Anderen läßt keine Konstitution eines unabhängigen und souveränen Subjekts zu. Das einstige Interesse an einem Jenseits des Seins, das über jede phänomenale Erscheinung hinausgeht, wird nun zur Frage nach der Transzendenz diesseits des Bewußtseins, nach der vor-ursprünglichen Bedingtheit der Subjektivität. Die veränderte Sichtweise, die die Konsequenzen eines ethischen Differenzdenkens bis ins Äußerste treibt, findet ihren Höhepunkt in Levinas’ zweitem Hauptwerk Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Levinas verzichtet zwar nicht auf seine früheren Analysen und manchmal kommt es auch zur Vermischung zwischen den beiden methodischen Zugangsweisen, die Bernasconi einerseits als ›empirisch‹ und andererseits als ›transzendental‹ bezeichnet hat.9 Der Andere, dem ich im Antlitz ›empirisch‹ begegne, unterscheidet sich vom Anderen in mir, der mich vor meinem Bewußtsein ›transzendental‹ bedingt. Dennoch liegt der Akzent des späteren Levinas auf der ethisch gedeuteten Subjektivität, die ausgehend vom ›Anderen-in-mir‹ um eine Sprache ringt, die die Bedeutung der ethischen Transzendenz zum Ausdruck bringen könnte. Aus jener Zeit stammt auch der Aufsatz Gott und die Philosophie, in dem der Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 219

methodische Ansatz und die Begrifflichkeit von Jenseits des Seins mitklingen. Der Text kann uns als Basis für die Gottesfrage beim späteren Levinas dienen, obwohl wir hier nur einige Aspekte seines denkerischen Reichtums hervorheben werden.

5. Das Zeugnis des Unendlichen Der Aufsatz beginnt und endet mit der Frage nach dem Sinn von Bedeutung. Wie Levinas im Vorwort zu De Dieu qui vient à l’idée (DQVI 7) schreibt, soll nach der Möglichkeit gesucht werden, das Wort Gott als ein Wort mit Bedeutung (un mot signifiant) zu vernehmen bzw. zu verstehen (entendre). Diesbezüglich unterscheidet sich sein Anliegen nicht von früheren Texten. Dennoch können wir eine Entwicklung seines Denkens beobachten, die sich in einer wachsenden Sensibilität für und einer verschärften Reflexion über die paradoxen Ansprüche seiner eigenen Position zeigt. Auf die an ihn gerichtete Kritik reagiert Levinas nicht mit einer Abmilderung, sondern mit einer Radikalisierung der ursprünglich verfolgten Intention: Eine absolute Transzendenz, die zwar aus logischen Gründen nicht ›sein‹ kann, muß trotzdem eine Bedeutung haben. Der philosophische Logos und das Sein können kein exklusives Anrecht auf den Sinn von Bedeutung beanspruchen. So beginnt Levinas seinen Aufsatz mit der Kritik an der philosophischen Rationalität, die in strenger Korrelation mit dem Sein steht. Was sich vernünftig denken läßt, deckt sich mit dem, was ist bzw. was als ›seiend‹ betrachtet werden kann. Und umgekehrt: Zu ›sein‹, besagt, für das Denken ›erschlossen‹ zu sein, sich in der Wahrheit bzw. Intelligibilität zu manifestieren. Diese Identifikation von Denken und Sein wird aber erst dann zum Problem, wenn sie zum alleinigen Maß des Sinnhaften wird. In diesem Fall bleibt alles, was einen Sinn haben möchte, auf die onto-logische Sinnhaftigkeit angewiesen. Auch Gott, wenn er sich nicht außerhalb des Sinnhaften befinden soll, muß diesen Anforderungen der ontologischen Bedeutung entsprechen. Er muß zum Sein eine Beziehung unterhalten, auch wenn es seine Transzendenz erfordert, daß dieses sein Sein einen besonderen Status erhält und zum höchsten Sein oder zum Sein schlechthin (par excellence) erklärt wird. Levinas fragt daher, ob »der Sinn, welcher in 220 | branko klun

der Philosophie Sinn ist, nicht bereits eine Restriktion von Sinn ist« (GuP 84). Ihm liegt deshalb daran, eine andere Möglichkeit des Sinnes, des Bedeutens, der Bedeutsamkeit (signifiance), der Rationalität zu finden, die die vermeintliche Totalität der ontologischen Bedeutsamkeit in Frage stellt und in ihre Schranken weist. Das Zur-Wahrheit-Kommen, das Sich-Präsentieren des Seins erfolgt im Bewußtsein. Die Koinzidenz zwischen dem Bewußtsein (qua Denken) und dem Sein scheint in der intentionalen Korrelation ihren vollkommenen Ausdruck zu finden. Levinas kann erst jetzt, da mit dem Bewußtsein die Subjektivität eingeführt wird, die ontologische Totalität hinterfragen. Dabei charakterisiert er das Bewußtsein als Wachsamkeit bzw. Schlaflosigkeit. Bewußt zu sein, bedeutet im gewöhnlichen Sinn, wach, achtsam zu sein. Auch die philosophische Metapher der Offenheit des Bewußtseins oder der ›Erschlossenheit‹ kann als Modalität einer ursprünglichen Wachsamkeit betrachtet werden. Levinas betont, daß die Wachsamkeit einen weiteren Sinn hat als die intentionale Offenheit und daß Erstere von Letzterer vorausgesetzt wird. Die Wachsamkeit besitzt für Levinas eine unüberhörbare ethische Konnotation, die eine Sensibilität, ein Wachsein für den Anruf des Anderen einschließt. Sie wird zu jener Bestimmung der Subjektivität, die dem intentionalen Bewußtsein vorausgeht. Dabei ist interessant, daß der frühe Levinas die Schlaflosigkeit (insomnie) noch als Metapher für die erdrükkende Erfahrung eines anonymen und unpersönlichen Seins (Il y a) verwendet hat, die das einsame Subjekt gefangen hält (VS 79–82; ZA 23). Jetzt wird sie jedoch positiv gedeutet. Die Schlaflosigkeit bzw. Wachsamkeit bleibt zwar weiterhin eine passive ›Erfahrung‹, der ich mich nicht entziehen kann, aber diesmal ist es der Andere, der mich im Kern meiner Subjektivität ruft und dadurch weckt (GuP 88): »Gerade darin beruht der irreduzible kategoriale Charakter der Schlaflosigkeit: Der Andere im Selben [l’Autre dans le Même], welches das Selbe nicht entfremdet, sondern es gerade weckt.« Die ethisch gedeutete Schlaflosigkeit bezeichnet ein ›Wachen ohne Intentionalität‹, die sowohl die Passivität des Erleidens meint als auch die Abwesenheit der Intention, demnach eine absichtslose (›selbst-lose‹), ›des-interessierte‹ ethische Wachsamkeit. Die Unterscheidung zwischen der ontologischen und der ethischen Ebene wiederholt sich somit innerhalb der Subjektivität als Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 221

Unterscheidung zwischen dem intentionalen Bewußtsein und einer tiefer liegenden ethischen Wachsamkeit. Die Spannung zwischen den beiden Ebenen bestimmt nun das Subjekt selbst. Auch wenn die ursprüngliche Differenz auf der Ebene des Bewußtseins durch Synthese und Vergegenwärtigung überwunden wird und eine »Identität des Selben, Gegenwart des Seins« (GuP 89) zustande kommt, kann die tiefer liegende ethische ›Spaltung‹ im Subjekt nicht verdeckt oder überbrückt werden. Das Betroffenwerden vom Anderen her besagt eine Affektivität, die jeder Bewußtwerdung vorausgeht und von ihr nicht übernommen werden kann. Levinas weist darauf hin, daß es sich dabei um keine Erfahrung handelt, weil diese immer schon eine aktive Leistung des Subjekts voraussetzt. Deshalb lehnt er auch die Möglichkeit ab, daß die Bedeutung von Gott ausgehend und damit von einer religiösen Erfahrung her erschlossen wird. Die Erfahrung gehört für Levinas vielmehr zur ontologischen Ebene und operiert »in Begriffen des Seins, der Gegenwart und der Immanenz« (GuP 94). Wie kann dann aber die Transzendenz, die das Subjekt zutiefst bestimmt und doch nicht erfahren werden kann, zum Denken gelangen? Hier verweist Levinas wiederholt auf Descartes und seine Idee des Unendlichen, die er bereits in Totalité et Infini ausführlich behandelt hat. Ungeachtet der Tatsache, daß Descartes dem ontologischen Paradigma verpflichtet bleibt, entdeckt er in Bezug auf die Idee Gottes ein Paradoxon, das zur Erschütterung des Cogito führt. Gott ist keine Idee, die ich bezüglich ihres ›Inhalts‹ adäquat denken könnte. Vielmehr kommt es zu einer Subversion des Denkens, wo diese außerordentliche Idee vorherrschend wird, und das Denken wird in eine passive Rolle versetzt. In der Unmöglichkeit, die Idee des Unendlichen aktiv zu denken, stößt das Cogito an das Ende seines Könnens – und doch unterhält es eine paradoxe Beziehung zu dieser Idee, die sich als ihm vorgängig und transzendent erweist. Für Levinas ist diese subversive Struktur die beste Artikulation der ethischen Subjektivität. Ich werde von einer Transzendenz berührt, die ich nicht aktiv übernehmen kann, und doch werde ich von ihr ständig in der ›Wachsamkeit‹ gehalten. Wir werden also mit einer paradoxen Bedeutungsstruktur konfrontiert, in der die Idee des Unendlichen, so Levinas, »mit einer Bedeutsamkeit bedeutet, welche der Gegenwart, jeder Gegenwart, jedem Ursprung im Bewußtsein vorausgeht und somit an-archisch zugänglich ist in ihrer 222 | branko klun

Spur« (GuP 99). Ähnlich ›geschieht‹ auch das Bedeuten Gottes auf eine Weise, die keine Überführung ins Sein bzw. Bewußtsein erlaubt und doch das Bewußtsein nicht in Ruhe läßt. Die ethische Bedeutung erfolgt als ein unaufhörliches Erleiden des Bewußtseins, bevor überhaupt erst eine ontologische Sinngebung zustande kommen kann. Ähnlich wie Levinas bei einer äußerlich aufgefaßten Transzendenz des Antlitzes ihr ontologisches ›Nicht-Sein‹ als ethische Positivität gedeutet hat, will er auch hier zeigen, daß die scheinbare Negativität des ›Un-Endlichen‹ einen ethisch positiven Exzeß darstellt (GuP 101): »Das Unendliche affiziert das Denken, indem es das Denken zugleich verwüstet und ruft.« Das Denken wird in seiner Unmöglichkeit bloßgestellt, das Unendliche zu begreifen, zugleich aber wird es vom Unendlichen »wach gerufen« und zu einer maßlosen, unendlichen Sehnsucht erweckt. Levinas verschärft seine Analyse des ›désir‹ (Sehnsucht, Begehren), weil das Begehren trotz der Abgrenzung zum Bedürfnis immer noch eine ›intentionale‹ und (egoistisch) ›interessierte‹ Komponente in sich tragen könnte. Diese Komponente begleitet das Begehren im Bereich der Liebe, die sich auch aus diesem Grund nicht für das eigentliche ›Geschehen‹ der Transzendenz eignet. Eine des-interessierte Sehnsucht nach dem Unendlichen wird nur dann möglich, »wenn das Ersehnenswerte mich auf das ausrichtet, was das Nicht-Ersehnenswerte ist, auf das Nicht-Ersehnenswerte schlechthin, den Anderen« (GuP 105). Levinas fährt fort (ebd.): »Die Verweisung auf den Anderen ist ein Wekken, Wecken zur Nähe, welche Verantwortlichkeit für den Nächsten bedeutet, die bis zur Stellvertretung für ihn geht.« Die Positivität der ethischen Unendlichkeit äußert sich in der Berufung zur unendlichen Selbstlosigkeit (désintéressement) der Verantwortung. Die ursprüngliche Differenz des Anderen-in-mir schlägt in eine ethische Nicht-Indifferenz dem Anderen gegenüber um. Die Wachsamkeit wird ins Unendliche gesteigert – bis hin zur Geiselhaft und Stellvertretung für den Anderen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß diese Steigerung ein passives Erleiden darstellt und sich nicht auf die Aktivität des Subjekts bezieht. Die Unendlichkeit der Verantwortlichkeit ist bei Levinas keine aktive Leistung des Subjekts, das hinsichtlich seiner Kräfte immer endlich ist (auch sein ›Können‹ der Verantwortung ist begrenzt), sondern Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 223

eine Unendlichkeit der Passivität. Das Unendliche ›passiert‹ (was im Französischen ein Vorbeigehen impliziert) in der maßlosen ethischen Berufung eines endlichen Subjekts, das aber gerade aufgrund dieser Berufung einen unendlichen Sinn ›erhält‹. Der Ort, wo Gott geschieht, wo sich die ›Göttliche Komödie‹ (GuP 100) abspielt, ist die ethische Subjektivität, das Geschehen der Transzendenz in mir. Er kann jedoch nie zu einem ›Du‹ werden und kann auch nicht thematisiert werden. Er ist für Levinas »[w]eder Objekt, noch Gesprächspartner« (GuP 107). Er bleibt die dritte Person, die ›Illeität‹, die sich dem Denken entzieht, auch wenn sie dieses Denken ethisch verpflichtet. Indem mich Gott als das Unendliche-in-mir zum Anderen sendet, wird auch der Unterschied zwischen Gott und dem anderen Menschen betont. Gott ist »in anderer Weise ein Anderer«, heißt es bei Levinas, »ein Anderer, dessen Andersheit der Andersheit des Anderen, der ethischen Nötigung zum Nächsten hin, vorausliegt und der sich von jedem Nächsten unterscheidet, [transzendent] bis in die Abwesenheit« (GuP 108). Gott ist »interior intimo meo« (vgl. conf. 3,11), er ist – bedingt gesagt – der ›Grund‹ der Subjektivität, was aber nicht ontologisch, sondern in ethischer Subversion zu verstehen ist: als Grundlosigkeit der Güte, als Unendlichkeit der abgründigen ethischen Sendung. Dennoch aber kann dieser Gott gar nicht zur Bedeutung gelangen, wenn meine Subjektivität nicht zu seinem ›Tempel und Theater‹ wird. Aus dieser Darstellung von Gott und die Philosophie wird ersichtlich, daß Levinas’ Analysen nun nicht mehr vom Antlitz ausgehen und Gott nicht in einer Analogie zur ethischen Transzendenz des Anderen gedacht wird. Er ›manifestiert‹ sich vielmehr in der ethischen Subjektivität, die dem intentionalen Bewußtsein vorausgeht. Und doch kann Levinas auch hier nicht auf eine Außenperspektive verzichten. Er schreibt, daß die scheinbar »abstrakte passive Subjektivität« auf ein »empirische[s] Ereignis« bezogen werden muß – nämlich auf die Unmöglichkeit, »angesichts des Unglücks und der Mängel des Nächsten indifferent zu bleiben« (GuP 109 f.). Die Verantwortlichkeit, die zur Grundbestimmung der ethischen Subjektivität erhoben wird, antwortet auf das Antlitz »in der Nacktheit eines im Stich Gelassenen« (GuP 112). Auch wenn mich der Andere in der Tiefe meiner Subjektivität bestimmt, ist er kein abstrakter Anderer, sondern bekommt das Antlitz des jeweils Anderen ›empirische‹ 224 | branko klun

Konkretion. Die Subjektivität ist berufen, für den konkreten Anderen da zu sein. Die transzendentale Perspektive des Anderen-in-mir hängt mit der ›empirischen‹ Leibhaftigkeit des Anderen untrennbar zusammen. Was kann aber die Verantwortung für den Anderen konkret bedeuten? Gerade diese paradoxe Weise des ›Seins‹ der Subjektivität, die für den Nächsten da ist und sich in der Stellvertretung für den Anderen ihres eigenen Seins ›entledigt‹, zeigt nach Levinas die Eigenart der ethischen Bedeutung jenseits der ontologischen Sinnhaftigkeit. Am besten kann man die beiden Ebenen der Bedeutung mit Levinas’ Charakterisierung der ethischen Subjektivität als ›me voici‹ (›hier bin ich‹) veranschaulichen (GuP 111, 113).10 Das Hierbin-ich als Antwort auf den Anruf der Transzendenz (was Levinas aus dem biblischen Kontext herleitet) wird einer Seinssetzung des Subjekts oder dem Heidegger’schen ›Dasein‹ entgegengesetzt. Das (ontologische) feststellende und reflexive ›Ich bin (da)‹ (Da-sein, Erschlossenheit im Sein), in dem sich das Subjekt seiner selbst bewußt wird, befindet sich auf einer ganz anderen Ebene als das (ethische) antwortende ›Da bin ich‹, wo sich das Subjekt völlig dem Anderen öffnet, indem sein Sein derart für den Anderen da ist, daß es für ihn (auf)gegeben wird. Die ethische Subjektivität jenseits – oder besser: diesseits des (Bewußt-)Seins ist kein Akt der Synthese und Selbstbestätigung, sondern eine vollkommene Exposition, ein Dem-Anderen-Ausgesetzt-Sein (GuP 115). Das ›Hier bin ich‹ der unendlichen Verantwortung für den Anderen – als ethischer »Bedeutungsvollzug« – läßt zugleich die Bedeutung von Gott verstehen. In der ethischen Unendlichkeit der Subjektivität ›passiert‹ die Herrlichkeit Gottes; dort kommt Gott zur Bedeutung. Ich bin »Zeugnis – oder Spur, oder Herrlichkeit – des Unendlichen« (GuP 117), schreibt Levinas, wenn ich in der Verantwortung für den Anderen aufgehe. Die ethische Bedeutung hat eine andere Struktur als die ontologische Sinnhaftigkeit. »Der eigentliche Tropus der Bedeutsamkeit der Bedeutung heißt: Der-Eine-für-den-Anderen [l’un-pourl’autre]« (GuP 120), formuliert Levinas, wobei zwischen dem Einen und dem Anderen eine asymmetrische und unaufhebbare Differenz besteht,11 die als ethische Nicht-Indifferenz für das Bedeuten konstitutiv ist. Die ontologische Bedeutung hingegen erfolgt als Aufhebung der Differenz, als Synthese und Totalität. Aus der Sicht einer Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 225

ontologischen Rationalität hat so eine absolute Transzendenz keinen Sinn. Solange sich deshalb die Philosophie mit dieser Rationalität identifiziert, kann die Transzendenz Gottes »weder gesagt noch gedacht werden« (GuP 121). Ähnlich, wie sich Levinas bemüht, vor dem intentionalen Bewußtsein eine tieferliegende ethische Subjektivität zu erschließen, will er auch in der Sprache, die eng mit der ontologischen Rationalität verbunden ist, die ursprünglich ethische Berufung (und Sinnbedeutung) des ›Logos‹ entdecken. Vor dem Gesagten, das in Worten erfolgt, die eine (onto)logische Bedeutung haben, gibt es ein Sagen als ethische Exposition der Subjektivität dem Anderen gegenüber. Dieses Sagen vor dem Gesagten trägt eine ethische Bedeutung, die sich nie auf die ontologische Sinnhaftigkeit reduzieren läßt. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes (Logos) ist nach Levinas nicht seine (onto)logische Intelligibilität, sondern daß es zum ›Wort für den Anderen‹ wird, daß es in der Verantwortung dem Anderen gegeben wird. Diese Priorität des ethischen Sagens (dire) vor dem ontologisch Gesagten (dit) betrifft aber auch die Rede von Gott. Gott kann nie ins Gesagte, in Worte überführt und so thematisiert werden. Dennoch kann er im Sagen des Gesagten gehört werden und zur ethischen Bedeutung jenseits der ontologischen Manifestation gelangen. Gott spricht in jedem Sagen, das mich dem Anderen gegenüber öffnet. Und insofern die ethische Unendlichkeit des Sagens alles Gesagte inspiriert, ist nach Levinas das ethische ›Wesen‹ der Sprache die ›Inspiration‹. Die tiefste Berufung und zugleich Bedeutung der Sprache ist eine inspirierte, ›prophetische‹ Rede als reines Zeugnis des Unendlichen.

6. Schluß: Die ›analogia alteritatis‹ bei Levinas Wenn wir uns die Rede von einer ›analogia alteritatis‹ bei Levinas erlauben, so verbirgt sich darin nicht der Versuch, mit einer Levinas fremden und von ihm kritisierten Konstellation der ›analogia entis‹ Parallelen zu ziehen. Es handelt sich vielmehr um eine grundlegende Frage, wie die gegenseitige Angewiesenheit, zugleich aber auch der Unterschied zwischen Gott und dem anderen Menschen gedacht werden soll. Levinas’ Denken oszilliert zwischen zwei 226 | branko klun

entgegengesetzten und dennoch zusammenhängenden Extremen. Auf der einen Seite wird Gott bei Levinas so eng mit dem Anderen (Menschen) verbunden, daß er vom Anderen kaum unterschieden werden kann.12 Der Unendliche (l’Infini) ›passiert‹ überall, wo der ethische Anspruch vernommen und ihm in der Verantwortung entsprochen wird. Dennoch aber beteuert Levinas, daß Gott nicht mit dem Anderen identifiziert werden darf. Er ist – wie bereits zitiert – »anders als der Andere [autre qu’autrui], der andere Andere [autre autrement]« (DMT 253), wobei ›autre autrement‹ auch als ›anders auf eine andere Weise‹ übersetzt werden könnte. Gott ist daher nicht mit dem Anderen identisch und muß von ihm unterschieden bleiben. Im Unterschied zu Gott ist der Andere auf seine leibliche Erscheinung angewiesen, wenngleich er diese immer schon ethisch transzendiert. Die Transzendenz des Anderen (wie auch die ethische Bedeutung des Antlitzes) kann von seiner Leiblichkeit nie vollkommen abstrahiert werden. Gott hingegen ist auf eine andere, potenzierte Weise (autrement) transzendent. Gott geht nicht in der Transzendenz des Anderen auf, sondern muß seine eigene Transzendenz und Alterität behalten. Sonst hat auch die Rede von der Schöpfung als Stiftung der Pluralität und Beziehung keinen Sinn. Wenn aber Levinas an einer unaufhebbaren Differenz zwischen dem Anderen und Gott festhalten muß, dann kann die Rede von einer ›Analogie‹ doch eine Rechtfertigung bekommen. In der ursprünglichen Bedeutung von ›analogia‹ geht es um eine Rede ›nach demselben Logos‹ bzw. ›demselben Logos entsprechend‹ (Platon: Politeia 509d: a4na1 to1n au4to1n lo2gon). Nach Bernhard Welte heißt ›analog‹ dieser älteren Bedeutung nach, »was sich durch denselben Sinnbereich hin von einem zu einem anderen hinbewegt«.13 Wenn nun der Logos im Lichte von Levinas’ ethischer Deutung eine neue ›Logik‹ aufweist, wenn es sich um eine neue Weise und um einen neuen ›Begriff‹ des Sinnes (une nouvelle notion du sens – DMT 142) handelt, dann kann auch die Analogie diese neue Logos-Bedeutung wiedergeben. Sie würde dann bedeuten »dem ethischen Logos entsprechend«, wobei dieser Logos in sich eine (ethisch bedeutsame) Differenz (»Der-Eine-für-den-Anderen«) verkörpert. Eine solche Analogie wäre dann nicht mehr eine ›Proportion‹ (wie eine andere mögliche Übersetzung für den klassischen Begriff der ›Analogie‹ lautet), sondern eine ›Dis-proportion‹ (DMT 192) des ethischen Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 227

Überschusses, die die ethische ›Logik‹ (Bedeutung) charakterisiert. Tatsächlich denkt Levinas Gott ›durch denselben Sinnbereich‹, den er im ethischen Geschehen der zwischenmenschlichen Beziehung erschließt. Dieser Sinnbereich liegt vor der Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz Gottes und ist somit unabhängig von ihr (DQVI 7). Die ethische, ja göttliche Logik vereint die absolute Transzendenz Gottes mit seiner unendlichen Nähe. Er spricht im Antlitz des Anderen und doch muß er trotz aller ›Ähnlichkeit‹ mit dem Antlitz in einer noch größeren ›Unähnlichkeit‹ – verstanden als ethische Disproportionalität – bewahrt werden.14 Sind wir mit solchen Vergleichen zu weit gegangen? Will sich Levinas nicht absichtlich von jeder Rede über Gott und von der Gefahr seiner Thematisierung abgrenzen? Jacques  Rolland ist überzeugt, daß wir nicht versuchen sollen, die schwere Tür, die uns Levinas in die Richtung der Gottesfrage nur einen Spalt weit geöffnet hat, durch Kommentare weiter zu öffnen; wir müssen vielmehr die nicht wegzudenkende Ambiguität der göttlichen Transzendenz – nachdem diese in jedem Übersetzungsversuch verraten wird – aushalten.15 Aber vielleicht ist das Gegenteil nicht weniger wahr: Jeder Versuch einer ›Übersetzung‹ oder Kommentierung, auch wenn dabei der Verrat in Kauf genommen wird, zeugt davon, daß die von Levinas gesuchte Transzendenz unser Denken nicht in Ruhe läßt und daß sie durch diese Inanspruchnahme des Denkens bestätigt wird.

Anmerkungen

Vgl. Œuvres 1, 232: »Dieu – orientation de toute philosophie sans que le problème de son existence soit l’essentiel de la problématique philosophique.« 2 Vgl. den Aufsatz von Levinas: Ist Ontologie fundamental? (In: SdA 104). 3 Martin Heidegger: Identität und Differenz, GA 11,53. Zur »Vergötterung des Ursacheseins« vgl. u.a. Besinnung, GA 66, 240 und Beiträge zur Philosophie, GA 65 438. 4 Erschienen als zweiter Teil in DMT, 135–254. 5 Vgl. Œuvre 2, 83. Einige Seiten später beginnt Levinas seine Analysen einer »phénoménologie du son« (89 ff ). 6 Statt Analogie verwendet der frühe Levinas den Ausdruck ›Metapher‹; vgl. Œuvre 1,236: »Die Metapher par excellence ist Gott.« 7 Die Transzendenz nennt Levinas manchmal auch das wahre ›Seiende‹ (l’être extérieur) außerhalb des Subjekts und in dieser Wortwahl spiegelt sich 1

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die Nähe zur ontologischen Begriffl ichkeit wider (vgl. TU 418). Eine der ersten Versionen des Titels von TU (im Manuskript) lautet: »Le tout ou l’infi ni. Essai sur l’extériorité de l’Etre métaphysique« (Œuvres 2, 266). 8 Vgl. ZA 61: »Das Verhältnis zum Anderen ist die Abwesenheit des Anderen; nicht bloße und einfache Abwesenheit, nicht Abwesenheit des reinen Nichts, sondern Abwesenheit in einem Horizont der Zukunft, eine Abwesenheit, die die Zeit ist.« 9 Vgl. Robert Bernasconi: What is the question to which ›substitution‹ is the answer?, 247. 10 Im Unterschied zur deutschen Übersetzung verwendet der französische Ausdruck ›Me voici‹ nicht das Verb ›sein‹ und heißt wortwörtlich: ›Hier, sieh mich‹. Auch das ›ich‹ steht nicht im Nominativ wie im deutschen: ›Hier bin ich‹, sondern im Akkusativ. 11 ›Der Eine‹ (l’un) darf nicht im allgemeinen Sinne (jedermann) verstanden werden, sondern als ›Einzigkeit‹ (Einmaligkeit, Einzigartigkeit), als ›unicité‹ des eigenen Selbst (Ich). Zur Bedeutungsstruktur ›Der-Eine-für-denAnderen‹ vgl. Didier Franck: L’un-pour-l’autre. Lévinas et la signification. 12 In einem Interview sagt Levinas, daß er im Gespräch mit Christen gerne die Stelle aus Mt 25 zitiert: »Was ihr dem geringsten unter meinen Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.« Dabei betont er, daß es sich um keine Metapher handele, sondern es im Anderen eine ›reale Präsenz‹ Gottes gibt (ZU 140). 13 Vgl. Religionsphilosophie, 180. 14 Vgl. DMT 192: »A vrai dire, seul Dieu est métaphore suffi sante pour dire la dis-proportion.« 15 Vgl. Nachwort von Jacques Rolland: De l’autre homme. Le temps, la mort et le Dieu (DMT 273).

Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ … | 229

– Jakub Sirovátka –

Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott Ethische Ungleichheit und »Illéité«

1. Einleitung Das ganze Werk von Emmanuel Levinas läßt sich bekannterweise als ein groß angelegter Versuch lesen, die Ethik als die ›erste Philosophie‹1 zu erweisen (TU 442): »Die Moral ist nicht ein Zweig der Philosophie, sondern die erste Philosophie (la philosophie première)«. Levinas geht es in seinem Denken jedoch nicht um eine rationale, universalistische Begründung von moralischen Vorschriften oder etwa um das Entfalten eines Systems von ethischen Regeln, an denen sich alle Menschen orientieren könnten. Seine Philosophie führt auf eine Ebene, die alle moralischen Regeln bereits voraussetzt: auf das Aufweisen eines ethischen Anspruches überhaupt, auf die Erfahrung eines moralischen Bewußtseins, das in der Begegnung mit einem anderen Menschen erwacht. Levinas’ Versuch zielt auf die Freilegung des Grundes und der Quelle der Moralität als solcher. Seinen Entwurf entfaltet Levinas im Ausgang von der Beziehung zwischen dem Ich, das in seiner egohaften Identität als das Selbe (›le Même‹) bezeichnet wird, und dem Anderen (›l’Autre‹/›l’Autrui‹). Dieser Beitrag erörtert die Charakteristik der Beziehung zu einem anderen Menschen – der eine fundamentale Bedeutung zukommt – und der Beziehung zu Gott im Denken von Levinas. Beide Arten dieser Beziehungen sind miteinander aufs Engste verknüpft und beide sind nach Levinas asymmetrisch verfaßt. Die konkrete Anwesenheit des Anderen ist immer mit der Anwesenheit des nichtanwesenden Gottes verbunden, der allein in der ›Spur‹, in einer Nicht-Gegenwart gegenwärtig ist.2 Der Andere ist unauflöslich mit der Gegenwart des Unendlichen verwoben, er ist jedoch weder Gott noch seine Inkarnation.3 Er hält sich lediglich in seiner Spur. Die | 231

interpersonale Beziehung wird von vornherein und grundsätzlich als eine zutiefst ethisch relevante Beziehung angesehen. Alle Arten der sozialen, gesellschaftlichen, der alltäglichen Beziehungen haben eine ethische Basis, die ihnen zugrunde liegt. Ich bin mir zwar dieses ethischen Grundes nicht immer bewußt oder verhalte mich zu meinen Mitmenschen in der Weise, daß ich sie im konkreten Verhalten auch als Mittel für meine Zwecke ›einsetze‹. Letzendlich müssen sich jedoch alle Arten der Beziehungen auf einen ethischen Grund rückführen lassen, in dem der Andere als ›Zweck an sich‹ behandelt und ihm mit Güte und Respekt begegnet wird. Diese fundamentale ethische Beziehung zum Anderen müsse als ›Verherrlichung des Unendlichen‹ verstanden werden in dem Sinne, daß sich in ihr das Selbstbewußtsein und zugleich das Bewußtsein von Gott vereint: »Die Ethik ist nicht die Folge von Gottesschau, sie ist diese Schau selbst. Die Ethik ist eine Optik, so daß alles, was ich von Gott weiß, und alles, was ich von Seinem Wort hören und Ihm vernünftigerweise sagen kann, einen ethischen Ausdruck finden muß.«4 Umgekehrt ist eine Beziehung zu Gott ohne die ethische Beziehung zum Anderen für Levinas undenkbar. Der Weg zu Gott führt alleine über den anderen Menschen (TU 108): »Eine ›Erkenntnis‹ Gottes, die getrennt wäre von der Beziehung mit den Menschen, kann es nicht geben. Der Andere ist der eigentliche Ort der metaphysischen Wahrheit und für meine Beziehung zu Gott unerläßlich.« Für Levinas vollzieht sich in der Annäherung der Güte gegenüber dem Anderen die einzig richtige Beziehung zum Unendlichen. So ist die Beziehung zu Gott nicht in einer visio oder in einem inneren Erlebnis zu suchen, sie ist nach Levinas auch nicht in dem Satz enthalten: »ich glaube an Gott«. Sie ereignet sich einzig und allein in der reinen Güte des Ich zum Anderen (JS 327): »Gott bezeugen heißt gerade nicht dieses außer-ordentliche Wort aussprechen, als könnte die Herrlichkeit einziehen in ein Thema und sich als These darstellen oder Geschehen des Seins werden. Das ›hier, sieh mich‹ […] bedeutet mir im Namen Gottes den Dienst an den Menschen, die mich angehen […].«5 Gottes ›Einfall‹ ins Denken ist »stets an die Verantwortung gekoppelt, und alle religiösen Gefühle konkretisieren sich erst in der Beziehung zum Nächsten; Gottesfurcht wäre konkret erst als Sorge [Furcht] um den Nächsten (la crainte de Dieu serait concrètement ma crainte pour le prochain)«.6 232 | jakub sirovátka

Nachdem die unauflösliche Verbindung der Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott vorerst einführend verdeutlicht wurde, soll im folgenden die asymmetrische Verfassung der beiden Beziehungen näher beleuchtet werden.

2. Die Trennung als Voraussetzung einer Beziehung Eine Relation hat zu ihrer unersetzlichen Bedingung die Existenz von zwei selbständigen Polen, die überhaupt in eine Verbindung gesetzt werden können. So setzt auch eine echte Beziehung zu einem anderen Menschen und zu Gott eine radikale Trennung voraus. Diese Trennung muß Levinas zufolge in der Weise gedacht werden, daß sie sich jedweder Totalisierung widersetzt. Allein eine solch vollständige Trennung ermöglicht eine Beziehung, die nicht zu einer Verschmelzung oder dem Aufgehen des Einen im Anderen führt. Das Ich, das sich im Prozeß der Herausbildung der eigenen Identität als das ›Selbe‹ konstituiert, behauptet sich gegen die Totalität der Welt, indem es sich leiblich in der Welt hält und zugleich alles im Genuß auf sich bezieht und so unabhängig wird.7 Die antitotalitäre Tendenz im Bezug auf die faktische Existenz des Ich findet Levinas bei Franz Rosenzweig, von dem er sich inspirieren läßt. Der Mensch als ein existierendes Einzelwesen hat der Allheit der Welt seine Identität abgetrotzt: »Nun hat gegen diese Allheit, die das All als Einheit umschließt, eine eingeschlossene Einheit gemeutert und sich als eine Einzelheit, als Einzelleben des Einzelmenschen, den Abzug ertrotzt. Das All kann also nicht mehr behaupten, Alles zu sein.«8 So wie das Ich gegenüber der Welt seine eigene Identität herausbildet und sich in ihr hält, so sperrt sich der Andere gegen jede Vereinnahmung durch den Selben und zwar schon allein aufgrund seiner Anderheit. Der ›panoramahafte Blick‹ (›regard panoramique‹; TI 195) des Ich, der auf den Anderen im Vollzug des Erkennens fällt, vermag ihn nicht in seiner Einzigartigkeit zu fassen, da er den Anderen stets aus der Perspektive des eigenen Horizonts ansieht. Der Andere als Andere entzieht sich der Macht des Selben. Allein eine nicht-vereinnahmende, ›nicht-allergische‹ Beziehung läßt eine Relation entstehen, in der die Trennung nicht aufgehoben, sondern Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 233

bewahrt wird. Ebenso setzt die Idee des Unendlichen eine Trennung voraus (fordert sie sogar), eine Trennung, die von Levinas als ›atheistisch‹ bezeichnet wird, im Sinne eines A-Theismus, der zuerst nur für sich ohne Bezug zur Transzendenz existiert (TU 76): »Man lebt außerhalb von Gott, bei sich zu Hause, man ist Ich, Egoismus. Die Seele – die Dimension des Psychischen, der Vollzug der Trennung – ist ihrer Natur nach atheistisch. […] Für den Schöpfer liegt gewiß ein großer Ruhm darin, ein Seiendes auf die Füße gestellt zu haben, das zum Atheismus fähig ist.« Im Denken der Idee des Unendlichen wird eine Relation zwischen dem Selben und Gott gestiftet, in der beide voneinander getrennt und doch verbunden bleiben. Neben dieser theoretischen ›religiösen‹9 Beziehung zum Unendlichen wird das Unendliche in noch tieferer Weise praktisch ›verherrlicht‹: in der Güte gegenüber einem Anderen, die die Idee des Unendlichen entformalisiert und konkretisiert (vgl. TU 62 f.). Ohne diese Beziehung der Verantwortung für die Anderen ist der Bezug zu Gott für Levinas undenkbar.

3. Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen Die Beschreibungen der Beziehung zu einem anderen Menschen werden von Levinas in Treue zu seinem Lehrer Edmund Husserl zunächst mit Hilfe der phänomenologischen Methode entfaltet.10 Zugleich wird diese Methode überstiegen, um auf Phänomene hinzuweisen, die nicht mehr phänomenologisch in voller Evidenz aufweisbar sind, sich jedoch trotzdem in der sinnlichen Welt ›ausdrücken‹ und sie mit einem Sinn aufladen. Der Bruch mit der phänomenologischen Methode ist folglich dem Charakter des zu beschreibendem Sachverhalts geschuldet. Der andere Mensch – der Andere – ist absolut und unendlich anders (TI 9): »L’absolument Autre, c’est Autrui.« Das Ich und das Du sind nicht ›Individuen eines gemeinsamen Begriffs‹, ihnen fehlt ein ›gemeinsames Vaterland‹ (vgl. TU 44). In der Beziehung zum Anderen – die bei Levinas stets allem voran als eine ethische Beziehung zu verstehen ist – stehen der Selbe (das Ich) und der Andere nicht auf einer Ebene. Zwischen ihnen besteht eine ›asymétrie métaphysique‹ (TI 24).11 Zwischen dem Ich und dem Anderen besteht eine ›ethi234 | jakub sirovátka

sche Ungleichheit‹12 – eine ›inégalité éthique‹, oder wie Levinas es auch ausdrückt – eine ›dissymétrie de l’espace intersubjectif‹ (Hors sujet, 62). Bei der Charakterisierung dieser Asymmetrie beruft sich Levinas auf konkrete moralische Erfahrung.13 Er sagt (TU 67): »Was ich von mir selbst fordern darf, kann mit dem, was ich vom Anderen zu fordern das Recht habe, nicht verglichen werden. Diese moralische, so banale Erfahrung bezeugt eine metaphysische Asymmetrie.« Die ›erste Gegebenheit des moralischen Bewußtseins‹ ist ›das Bewußtsein des Vorranges des Anderen vor mir‹. Das Bewußtsein dieses ethischen Vorranges läßt mich wahrnehmen, daß der Andere ›Gott näher sein‹ muß als das Ich (vgl. SdA 200).14 Ich bin in einer moralischen Situation gefordert, ohne zu fragen, was der Andere für mich tun könnte. Die Gegenseitigkeit bleibt in dieser primären asymmetrischen Verfassung der Relation zum Anderen vorerst aus dem Spiel. Ob der Andere ebenfalls für mich einstehen wird, ist seine Angelegenheit (Éthique et Infinie, 95): »La réciproque, c’est son affaire.« Die Erfahrung des moralischen Bewußtseins stellt jedoch nicht eine Erfahrung unter anderen, beliebigen Erfahrungen dar. Es handelt sich um eine ›Erfahrung ohne Begriffe‹ (TU 143), um eine Erfahrung schlechthin. Das Bewußtsein eines ethischen Anspruchs bedeute nicht so sehr eine ›Erfahrung von Ungleichheit‹, sondern ein ›Ereignis der Transzendenz‹, ein Wachhalten des Selben durch die lebendige Gegenwart des Anderen (vgl. ZU 114). Es handelt sich eher um eine Heimsuchung (›visitation‹), die von außen kommt und über die das Ich keine Macht ausüben kann.15 Um die Ausführungen von Levinas richtig zu verstehen, scheint mir wichtig zu betonen, daß es ihm nicht um das Entfalten einer systematischen Ethik geht. Seine phänomenologischen Beschreibungen wollen m. E. – gerade auch im Bruch mit der phänomenologischen Methode – die Quelle aller Moralität freilegen. Erst das Bewußtsein von einem ethischen Sollensanspruch, dem ich mich unversehens in konkreten Lebenssituationen ausgesetzt sehe, stellt den systematischen Ausgangspunkt einer Reflexion über Ethik dar. Jede ethische Reflexion rekurriert (bewußt oder unbewußt) auf die vor-philosophische Erfahrung der ›ethischen Situation der Verantwortung‹.16 Für Levinas ist das Auftreten eines unbedingten ethischen Anspruchs mit der konkreten Anwesenheit eines anderen Menschen verbunden. Die zwischenmenschliche Beziehung stellt Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 235

die Ursprungssituation der Moralität dar. Auch wenn die ethische Beziehung zu einem anderen Menschen allen anderen Arten der Beziehungen zugrunde liegt, befindet sich das Ich im konkreten Leben nicht ständig in dieser exponierten Stellung: die ethische ›Asymmetrie der Subjektivität‹ bleibt die ›Ausnahmesituation des Ich‹ (ZU 134). Der Andere als anderer Mensch erscheint in einer Dimension der Erhöhung und der Erniedrigung zugleich. Der Andere präsentiert sich in seinem Antlitz (›visage‹). In dem, was Levinas als Antlitz bezeichnet, drückt sich dasjenige aus, was den Anderen in seiner unendlichen Differenz, seiner unendlichen ›Anderheit‹17 als Anderen ausmacht. Der andere Mensch wird selbstverständlich in der Welt, innerhalb des Kontextes der Welt wahrgenommen, sonst wäre eine Beziehung zu ihm unmöglich. Das Antlitz übersteigt jedoch diesen Kontext, indem es über die plastische Form der sinnlichen Welt hinausgeht. In diesem Sinne kann das Antlitz als ›Entsensibilisierung, als Entmaterialisierung‹ bezeichnet werden (ZU 49): »Die sinnliche Gegenwart entsinnlicht sich hier, um direkt denjenigen hervorscheinen zu lassen, der sich nur auf sich bezieht, den Identischen.« Das Antlitz des Anderen präsentiert sich in einer Höhe, von der aus das Gebot kommt »du wirst mich nicht töten.« »Du wirst keinen Mord begehen« – das ist ›das erste Wort‹, das das Antlitz in seiner sprachlosen Epiphanie ausdrückt (vgl. TU 285). In diesem Sinne gleicht jedes Antlitz dem biblischen Berg Sinai, der den Mord verbietet, wie Paul Ricœur überaus treffend anmerkt.18 Der ethische Anspruch des Anderen, der aus der Höhe des Unendlichen kommt, fordert mich auf, ihm in seiner Not zu Hilfe zu kommen, Verantwortung19 für ihn zu übernehmen (TU 108): »Der Andere ist nicht die Inkarnation Gottes; vielmehr ist er durch sein Antlitz […] die Manifestation der Höhe, in der sich Gott offenbart.« Obwohl die ethische Forderung aus der Höhe kommt, erscheint der Andere als ›Fremder, Witwe und Waise‹ (vgl. TU 107). Der Andere fordert mich durch seine Not heraus, in seiner Ausgesetztheit an den Tod, in seiner Entblößung. Der Andere bittet und fordert zugleich (TU 103): »Den Anderen anerkennen, heißt, einen Hunger anerkennen. Den Anderen anerkennen – heißt geben. Aber man gibt dem Meister, dem Herrn, man gibt dem, den man in einer Dimension der Erhabenheit mit ›Sie‹ anredet.« 236 | jakub sirovátka

Aus den Beschreibungen der ethischen Asymmetrie im Verhältnis zu einem anderen Menschen geht deutlich hervor, daß sich Levinas (wie auch Kant) letztlich auf die Erfahrung eines ethischen Imperativs beruft, der unversehens in konkreten menschlichen Situationen auftritt. Diese existentielle Seite eines moralischen Bewußtseins wird von einem anderen Autor unterstrichen, der in einer existentiellen ›Grenzsituation‹20 einen Text von Levinas liest: Václav Havel. Während seines abermaligen Aufenthalts im kommunistischen Gefängnis im Jahre 1982 bekommt Havel von seinem Bruder Ivan eine Abschrift der Levinasschen Abhandlung Sans identité aus der Schrift Humanisme de l’autre homme zugeschickt.21 Havel sieht sich durch die Lektüre des Artikels von Levinas in seinem eigenen Denken und in seiner eigenen Erfahrung bestätigt, die er unabhängig von dieser Lektüre gemacht hat. Er schildert eine alltägliche, fast banale Situation, in der er sich ethisch verantwortlich für etwas fühlt, wofür er eigentlich nichts kann: bei einer Wetteransage im Fernsehen verschwindet plötzlich aufgrund einer technischen Panne der Ton. Die Wetteransagerin ist völlig verwirrt, errötet, versucht die Fassung zu wahren, weiß sich jedoch nicht zu helfen, sie kämpft mit den Tränen. In diesem Moment wird Havel unvermittelt von einem Gefühl der Verantwortung für die Wetteransagerin erfaßt (von dem er selbst überrascht ist), er schämt sich und fühlt ebenfalls den Drang zum Weinen. In der Reflexion über diese Begebenheit verneint Havel den selbsterhobenen Einwand, daß er sich nur von einem einfachen Gefühl des Mitleids überwältigen ließ. Denn er hätte ebenso eine Schadenfreude empfinden können: er, der im kommunistischen Gefängnis sitzt und staatlich verordnete Nachrichten schaut, hätte sich freuen können, daß die Partei doch nicht alles steuern kann. Havel interpretiert jedoch diese reale Situation als eine exemplarische Erfahrung der menschlichen Ausgesetztheit und Verletzlichkeit und zugleich als eine Erfahrung einer unvermittelt empfundenen ethischen Verantwortung. Wir finden uns in bestimmten Situationen vor, in denen wir leiden, die wir nicht völlig erfassen können und trotzdem können wir diesem moralischen Bewußtsein nicht ausweichen. Die Unausweichlichkeit des ethischen Anspruchs macht Havel daran fest, daß ihm das Gefühl der Verantwortung eher fremd war; er nennt es ›unsinnig‹ und schämt sich nachträglich dafür, daß er sich geschämt hat. Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 237

So bestätigt er die These von Levinas, daß wir uns verantwortlich fühlen, noch bevor wir Verantwortung bewußt ›übernehmen‹ können.22 Das Bewußtsein der Verantwortung ist für Havel (wiederum im Einklag mit dem Denken von Levinas) mit einer Verantwortung vor einem Unendlichen verbunden. Havel scheut sich, dieses Unendliche als ›Gott‹ zu bezeichnen und spricht lieber von einem ›absoluten Horizont‹, das ihn jedoch in Situationen der ethischen Verantwortung ›persönlich‹ anspricht.23

4. Plädoyer für Symmetrie: Buber und Ricœur24 Die starke Betonung der asymmetrischen Verfassung der Beziehung zu einem anderen Menschen führte zu einer Auseinandersetzung mit zwei weiteren Denkern, die im Gegensatz zu Levinas die Dimension der Symmetrie in der interpersonalen Beziehung im Vordergrund sehen: mit Martin Buber und Paul Ricœur. Diese Auseinandersetzung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sowohl Buber als auch Ricœur dem Levinasschen Denken sehr nahe stehen. Der ganze ›Streit um die Asymmetrie‹ scheint doch eher der Hervorhebung einer jeweils anderen Perspektive geschuldet zu sein, als daß es sich um eine echte Kontroverse handelt. Zwischen dem Denken von Martin Buber, der ganzen sog. ›Dialogphilosophie‹, und der Philosophie von Levinas besteht eine große Affinität mit etlichen inhaltlichen Übereinstimmungen. Levinas würdigt Bubers Einsicht in die Nichtverfügbarkeit des Anderen in der Grundbeziehung zwischen dem Ich und dem Du, die sich von der zweiten fundamentalen Beziehung Ich-Es unterscheidet. Der Mensch befindet sich nach Buber in einer ›zwiefältigen Haltung‹ zum Es und zum Du (Ich und Du, 10): »Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es.« Das Du, der andere Mensch wird nicht erfahren; er ist kein Etwas wie das Es in der Welt der Erfahrung. Das Du begegnet mir unmittelbar. Das Ich wird in der Beziehung zum Du einem ›radikal anderen Wesen gegenübergestellt‹, in der ›der adäquate Zugang zur Anderheit des Anderen‹ nicht eine Wahrnehmung sei, sondern das ›Du-Sagen‹.25 Buber habe richtig gesehen, dass die interpersonale Beziehung einen doppelten Charakter auf238 | jakub sirovátka

weist: sie spielt sich grundsätzlich auf einer nicht erkenntnistheoretischen Ebene ab und ihr wohnt stets eine religiöse Dimension inne (vgl. Außer sich, 12 f.). Bubers Charakteristik bejaht Levinas in seinem Sinne, wenn er hervorhebt, Buber eliminiere das gnoseologische Fundament der Begegnung, da das unbedingte Ereignis der Begegnung Denken und Sein übersteige (a. a. O. 22). Angesichts der denkerischen Nähe beider und im Wissen um die Verdienste des Denkens von Buber26 wirkt die Kritik von Levinas zunächst überraschend. Levinas scheint sich selbst zu widersprechen, wenn er Buber vorwirft, die Ich-Du-Beziehung spiele sich doch im Rahmen einer Erkenntnistheorie ab. Zwischen dem Verhältnis zu den Dingen und dem Verhältnis zum Menschen existiere doch ein gemeinsames Maß, sodaß die Verantwortung nie einen streng ethischen Sinn annehme. Die zwischenmenschliche Beziehung bleibe ›mit ihrem ethischen Widerhall‹ lediglich ›ein Sonderfall der Begegnung‹.27 Diese Kritik geht aber an Bubers Bestimmung der Ich-Du-Beziehung vorbei, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß die Ich-DuBeziehung nach Buber eben keinen Zusammenhang in Raum und Zeit hat. Die Ich-Du-Beziehung biete keine Erkenntnis des Du, sie »kann uns zu einem echten Kontakt mit dem Sein des Anderen verhelfen, aber nicht zu einer objektiv gültigen Erkenntnis dieses Seins. Das Sein des Anderen können wir in der Begegnung erreichen, und dann kommunizieren wir nicht mit einer Erscheinung, sondern mit ihm selber.«28 Die stärkste Kritik übt Levinas an der Gegenseitigkeit des Ich-Du, die die Trennung zwischen den beiden nicht ernst genug nehme und die letzten Endes verhindert habe, daß Buber nicht bis zum ethischen Grund jedweder zwischenmenschlichen Relation vorstoßen konnte. Zwar sind in seinem Denken ›reichlich ethische Elemente‹ vorhanden, diese seien jedoch nicht letztlich bestimmend.29 Levinas’ Kritik entzündet sich daran, daß das Ich seine Einzigartigkeit durch sein Korrelativ, durch das Du-Sagen erhalte: »Bei Buber wird das ›du‹, das das ›ich‹ anruft, in diesem Anruf bereits als ein anderes ›ich‹ verstanden, das zu mir ›du‹ sagt. Der Anruf des ›du‹ durch das ›ich‹ wäre also schon immer für das ›ich‹ die Errichtung einer Wechselbeziehung, einer Gleichheit oder Gerechtigkeit.«30 Levinas bezweifelt, daß das Verhältnis zur Anderheit des Anderen beschrieben werden kann, ohne einen »paradoxalen Niveauunterschied zwischen dem Ich und dem Du einzuführen«.31 Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 239

Zwischen Ich und Du besteht keine ›égalité initiale‹, sondern eine ›inégalité éthique‹ (Hors sujet, 61). Gegen diese Ungleichheit im Bezug zum Anderen wendet sich ebenso Paul Ricœur, der sich vor allem in seinem Werk Soi-même comme un autre für die Idee der Gegenseitigkeit stark macht. Im Rahmen seines Entwurfs, eine eigene Konzeption der Andersheit zu entwickeln, die zwischen dem Primat der Selbstschätzung und dem Primat der Aufforderung zur Gerechtigkeit stehen würde, setzt sich Ricœur mit der Frage nach der Verfassung der interpersonalen Relation auseinander. Für ihn muß die Annahme der Asymmetrie innerhalb einer Beziehung zurückgewiesen werden, da es sich aufgrund der radikalen Exteriorität des Anderen um eine Unterbrechung der Beziehung handelt und somit nur schwer über eine Relation gesprochen werden kann.32 Auch wenn Ricœur mit Levinas die Überzeugung teilt, der ethische Anspruch trete notwendig auf dem Weg über den Anderen auf, müsse es zu einer Kompensation der ethischen Asymmetrie kommen, wenn ein gegenseitiges Verhältnis zwischen dem Selben und dem Anderen möglich sein soll. Vor allem die hyperbolische Ausdrucksweise in den Levinasschen Beschreibungen wird bei Ricœur einer scharfen Kritik unterzogen. Die Hyperbel der Trennung auf der Seite des Selben und die Hyperbel der Epiphanie auf der Seite des Anderen in Totalité et Infini steigert sich in Autrement qu’être bis zu einem pathologischen Vokabular (aus dem Anderen als dem ›Meister der Gerechtigkeit‹ wird ein ›Angreifer‹),33 so daß Ricœur sich genötigt sieht, über einen ›terrorisme verbal‹ zu sprechen.34 Zu Recht kann man die Frage stellen, ob der Versuch einer entontologisierten Sprache im späteren Werk von Levinas seiner eigenen Intention zuträglich ist: der Beschreibung einer radikal ethischen Subjektivität. Auch wenn sich Levinas in diesem Zusammenhang gewissen Einseitigkeiten nicht entziehen kann, bleibt sein Beharren auf der Asymmetrie für das Plausibelmachen des ethischen Anspruchs meiner Ansicht nach unverzichtbar. Demgegenüber betont Ricœur die Notwendigkeit einer Gleichheit, die die ethische Antwort der Güte gegenüber dem Anderen ermöglicht und den Austausch zwischen Geben und Nehmen wieder herstellt. Mit den Schlüsselbegriffen der Fürsorge (sollicitude) und der wohlwollenden Spontaneität (›spontanéité bienveillante‹)35 sieht Ricœur die begrifflichen Mittel gegeben, um in seinem Konzept sowohl der 240 | jakub sirovátka

Selbstschätzung des Subjekts als auch dem Anspruch des Anderen gerecht zu werden: »Aufgrund dieser wohlwollenden Spontaneität wird das Empfangen mit dem Geben des Zur-Verantwortung-Ziehens gleichgestellt, so daß das Selbst die Überlegenheit der Autorität anerkennt, die ihm ein Handeln gemäß der Gerechtigkeit gebietet. […] Vielmehr kompensiert [die Gleichheit] als Gegenbewegung der Anerkennung die ursprüngliche Asymmetrie, die sich aus dem Primat des Anderen in der Unterweisungssituation ergibt.«36 Ricœurs Konzeption einer dritten Modalität der Andersheit definiert sich als eine Mittelposition zwischen der starken Betonung des Subjekts bei Husserl und dem absoluten Vorrang des Anderen bei Levinas. Das ›Aufgefordertsein als Struktur der Selbstheit‹ (›l’être-enjoint en tant que structure de l’ipséité‹)37 ist nach Ricœur das Phänomen, das sowohl die Empfänglichkeit auf Seiten des Subjekts als auch den berechtigten Anspruch des Anderen zu denken ermöglicht. Es ist aus der Philosophie von Levinas ersichtlich, daß sich der Mensch nicht permanent im Zustand der Asymmetrie gegenüber dem Anderen befindet. Wenn Levinas so vehement (bis zur Ungerechtigkeit) die Gegenseitigkeit in der Ich-Du-Beziehung im Denken Bubers kritisiert, möchte er auf ein bestimmtes, jedoch entscheidendes Moment in der interpersonalen Beziehung hinweisen. Sowohl Buber als auch Ricœur scheinen dieses Moment übersehen zu haben. Die starke Hervorhebung der asymmetrischen Verfassung des Verhältnisses zum Anderen zeigt, daß auch innerhalb einer symmetrischen Beziehung etwa der Freundschaft immer noch ein asymmetrisches Moment eine wichtige Rolle spielt, nämlich das Vorhandensein des ethischen Elements. Mit Hilfe von Levinas läßt sich plausibel machen, daß sich das Auftreten eines moralischen Anspruchs eben nicht denken läßt, ohne einen ethischen Niveauunterschied anzunehmen. Es wird nicht bestritten, daß eine interpersonale Beziehung auch symmetrisch verfaßt ist und auf Gegenseitigkeit beruht. Die Sinnspitze der ethischen Bestimmung des Verhältnisses zum Anderen scheint darin zu liegen, daß sich die höchste Form der Beziehung in der reinen Güte gegenüber dem Anderen abspielt, einer ›gratuité totale‹ und einem ›désintéressement absolu‹,38 das im konkreten Moment alles für den Anderen will und somit asymmetrisch ausgerichtet ist. Die höchste Bewährungsprobe einer Beziehung liegt in einer vollkommen uneigennützigen HalDie Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 241

tung, die mit dem Begriff der Heiligkeit umschrieben werden kann und in der das ethische Fundament der Beziehung zum Vorschein kommt. Wenn ich eine Handlung der Güte einem Freund gegenüber vollziehe, befinde ich mich im Rahmen dieser Handlung in einem asymmetrischen Verhältnis zu ihm, da sonst nicht zu erklären wäre, warum ich ihm nun Gutes erweise und meine Interessen hintenanstelle. Eine Handlung aus reiner Güte – als eine reine Gabe für den Anderen verstanden – geschieht nicht aus der Überlegung heraus, daß ich bei der nächsten Gelegenheit entschädigt werde. Die tiefste ethische Motivation – und zwar auch in alltäglichen ›symmetrischen‹ Beziehungen – will geben ohne Rücksicht auf das zukünftige Verhalten des Anderen, ohne zu fragen, was der Andere für mich getan hat oder tun wird.39 Die entscheidende Frage ist in der Tat die, ob sich das Auftreten der Moralität überhaupt ohne den ethischen Anspruch, der von der konkreten Gegenwart des Anderen ausgeht, denken läßt. Das moralische Bewußtsein läßt mich den asymmetrischen Charakter der Beziehung zum Anderen wahrnehmen. Die These lautet also, daß sich Moralität ohne Asymmetrie grundsätzlich nicht denken läßt.

5. Die Asymmetrie im Bezug zu Gott Der Beschreibung der Beziehung zu Gott eignet im Denken von Levinas eine ähnliche Struktur, die in der Relation zum anderen Menschen ausgemacht worden ist. Beide – sowohl der menschliche Andere als auch der göttliche Andere – befinden sich in Bezug auf das identische Subjekt des Ich in einer ›äußersten Exteriorität‹. Die fundamentale Frage von Levinas, wie sich überhaupt das Verhältnis zwischen der Identität des Selben und der Transzendenz schlechthin denken läßt, erhält eine eindeutige Antwort. Will der Mensch die Unendlichkeit als Unendlichkeit denken, sieht er sich stets auf einen Sinn-Überschuß verwiesen, der ihn unendlich übersteigt. Die Radikalität des Levinasschen Ansatzes im Denken der Transzendenz liegt in der Betonung der äußersten Unendlichkeit des Unendlichen und in der Verknüpfung der Gegenwart des Unendlichen im Antlitz des Anderen. Im Geiste des Satzes ›Finiti ad infinitum nulla est proportio‹ eines Nikolaus von Kues, daß also das Endliche von 242 | jakub sirovátka

sich aus in keinem Verhältnis zum Unendlichen stehen kann,40 hebt Levinas hervor, die Beziehung zu Gott kann nur in einem asymmetrischen Verhältnis bestehen. Der Weg zu Gott führt nicht einmal direkt zu ihm, sondern nur vermittelt durch den Umweg über den Anderen. Das Unendliche ist uns ausschließlich im Antlitz des Anderen gegeben, sodaß der Zugang zum Unendlichen stets unter dem Primat des Praktischen steht.41 Im Antlitz des Anderen – das für die Person in ihrer ganzen Anderheit steht – trifft mich nach Levinas die Unendlichkeit. In der Anderheit des Anderen leuchtet die Unendlichkeit des absolut Anderen und die mit ihr auf rätselhafte42 Weise verwobene Unendlichkeit selbst auf. Der unendliche Gott, der sich in der Beziehung zum anderen Menschen ankündigt, wird von Levinas mit dem Begriff Illéité bezeichnet. Der von Levinas gebildete Neologismus ›Illéité‹ ist von dem französischen Personalpronomen der dritten Person Singular ›Il‹ – ›Er‹ abgeleitet.43 Mit der Bildung dieser neuen Bezeichnung versucht Levinas das unmöglich Aussagbare der Unendlichkeit der Transzendenz in der endlichen Sprache doch zu sagen. Gleichwohl soll das neue Abstraktwort auch sprachlich anzeigen, daß es sich um einen absoluten Grenzfall im Denken und Sprechen handelt. Vielleicht läßt sich das Wort ›Illéité‹ ebenfalls als eine sprachliche Spur des Unendlichen lesen, als Platzhalter für die unendlich andere Wirklichkeit des Unendlichen. Wie das Unendliche im Antlitz des Anderen lediglich im Entzug, in der Spur zu vernehmen ist, so drückt das Abstraktwort ›Illéité‹ die ganze Ungeheuerlichkeit, die Maßlosigkeit der Unendlichkeit des absolut Anderen aus. In der Spur Gottes wird die Wirklichkeit der Welt auf ein ihr immer schon Vorangehendes und sie Überschreitendes zurückgebunden. Die ›ursprüngliche Vorgängigkeit Gottes‹ kann diese Welt nie adäquat fassen (SdA 259 f.). In diesem Sinne verbleibt das Unendliche stets ab-solut, ab-gelöst von der Gegenwärtigkeit des Endlichen, da es sie transzendiert. Das Unendliche fordert mich durch das Antlitz des Anderen hindurch. Zwischen das Ich und den absoluten ›Il‹ schiebt sich das Du. Es ist nach Levinas also vergeblich, ein absolutes Du zu postulieren, wie es zum Beispiel Gabriel Marcel und Martin Buber getan haben, denn das Unendliche zieht sich aus der erhellten Gegend – aus der ›Lichtung der Gegenwart‹ – zurück (vgl. SdA 259). Erneut grenzt Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 243

sich Levinas bewußt von Buber ab, obwohl er eher einen anderen Akzent setzt als daß er sich in einem unüberwindbaren Gegensatz zu Buber befindet. Buber sieht alle Beziehungen zum Du eines anderen Menschen sich im ›ewigen Du‹ als dem letzten Fluchtpunkt zu schneiden.44 Wenn man Gott als ›Er‹ oder als ›Es‹ charakterisiert, handelt es sich immer nur um eine Allegorie. Gott ist laut Buber sicher auch der ›ganz Andere‹, jedoch zugleich auch der ›ganz Gegenwärtige‹, zu dem das Ich eine unmittelbare Beziehung haben kann.45 Bubers Intention läuft darauf hinaus, allem voran den persönlichen und ›nahen Gott‹46 zu vermitteln. Levinas sieht sich dagegen in der Rede über Gott genötigt, Rückgriff auf eine dritte Person zu nehmen, damit die unendliche Transzendenz auch sprachlich bewahrt bleibt.47 Und diese Transzendenz wird nach Levinas besser durch das Wort ›Illéité‹ zum Ausdruck gebracht als durch den Begriff des ›ewigen Du‹: »Wir dagegen waren weniger überzeugt davon, daß, was wir Göttliches Wesen nennen, im Du des Dialogs Platz findet und daß Gebet und Frömmigkeit Dialoge sind. Wir mußten sogar auf die dritte Person ausweichen, indem wir das Unendliche und die göttliche Transzendenz, um sie von der alteritas (Andersheit) des Anderen zu unterscheiden, illeitas (Jenheit) nannten.«48 Damit soll jedoch nicht eine Anonymität des Unendlichen behauptet werden. An der Personalität Gottes besteht auch im Denken von Levinas kein Zweifel, nur äußert sie sich in der Weise, daß Gott »interpersonelle Beziehungen zwischen mir und meinem Nächsten herstellt«.49 Die ›Illéité‹ bezeichnet die Art und Weise, in der mich das Unendliche angeht, ohne mit mir eine Verbindung aufzunehmen, die sich in einem ontologischen Rahmen abspielt. Da das Unendliche vom Jenseits-des-Seins kommt,50 ist es von mir alleine in der Weise des Abschieds, des Entzugs vernehmbar. Der Negativität dieses göttlichen Entzugs wohnt jedoch eine positive Bedeutung inne. Seine Positivität äußert sich in der Bewegung der Verantwortung für den Anderen. Die unendliche Exteriorität des Absoluten wird quasi zur Innerlichkeit des Subjekts in seiner Haltung der Güte gegenüber dem Anderen. Die Bezeichnung ›Illéité‹ drückt die Losgelöstheit des Unendlichen vom Denken, das es zu thematisieren sucht, Losgelöstheit auch von der Sprache, die das Unendliche im Gesagten behalten will. Das Unendliche als ›Illéité‹ ist demzufolge nicht aussagbar, sondern alleine in der Verantwortung für den An244 | jakub sirovátka

deren bezeugbar. Somit stiftet das Antlitz des Anderen nicht nur eine Beziehung zwischen sich und dem Selben, sondern auch zwischen dem Selben und dem Absoluten, das sich schon aus dieser Beziehung ab-gelöst hat. Die Asymmetrie gegenüber dem Unendlichen zeigt sich nicht nur durch die Beziehung zum Anderen hindurch, sondern auch im Denken des Unendlichen, das jedoch letztendlich erneut auf den Anderen verweist. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe der Totalität und Unendlichkeit bezieht sich Levinas auf die Idee des Unendlichen, wie sie in der Dritten Meditation der Meditationes de prima philosophia bei René Descartes51 zu finden ist. Mit der Idee des Unendlichen ist Levinas zufolge mitnichten eine Vorstellung des Unendlichen gegeben. Sie wird, »statt sich der Einsicht der Intuition einzufügen, dem Philosophen zur Blendung« (TU 11). Das Unendliche ist »nicht Gegenstand einer Kontemplation, d. h. es ist nicht nach dem Maße des Denkens, das es denkt. Die Idee des Unendlichen ist ein Denken, das in jedem Augenblick mehr [und ›besser denkt‹ (ebd.)] denkt, als es denkt« (SdA 201). Levinas nimmt zwar den Gedanken der Idee des Unendlichen von Descartes auf, deutet ihn indes um. Denn für ihn handelt es sich bei der Idee des Unendlichen letztlich nicht mehr um einen bloß theoretischen Gedanken, sondern um Begehren (désir).52 Die Beziehung mit dem Unendlichen kann, so sagt Levinas (TU 26), nicht »in Termini der Erfahrung ausgedrückt werden – denn das Unendliche überschreitet das Denken, das es denkt. In diesem Überschreiten geschieht gerade seine Infinition, die Unendlichung des Unendlichen selbst; dergestalt, daß man die Beziehung mit dem Unendlichen in anderen Ausdrücken wird ausdrücken müssen als denen der objektiven Erfahrung. Aber wenn Erfahrung gerade Beziehung mit dem absolut Anderen besagt […] dann vollzieht die Beziehung mit dem Unendlichen die Erfahrung schlechthin.« Levinas bezieht sich hier auf eine Tradition, die im Denken Platons ihren Ursprung besitzt. Zur Charakterisierung der höchsten Einsicht (μέγιστον μάθημα; Politeia 505a), deren der Mensch fähig ist, greift Platon auf Gleichnisse zurück, um die Unsagbarkeit des Höchsten auch formal anzuzeigen. Das Unendliche wird als ›Idee des Guten‹ (ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ) bestimmt und im Sonnengleichnis (Politeia 506b–509b) mit dem Bild der Sonne (ἥλιος) verdeutlicht. Wie die Sonne zwar der ganzen Wirklichkeit durch Ausstrahlung Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 245

des Lichtes Erkennbarkeit verleiht, selber jedoch nicht direkt einsehbar ist, so vermag auch das endliche Denken des Menschen im Gedanken des Unendlichen nichts Objektivierbares festzuhalten. Das Unendliche wird dem Denken zur Blendung: es denkt darauf hin, es schaut zu ihm hinauf, ohne ihn fassen zu können. Diese transzendierende Kraft besitzt das Unendliche für das Endliche jedoch nicht nur im theoretischen, sondern auch im praktischen Bereich. Indem die Idee des Guten von Platon zugleich als ›überschwengliche Schönheit‹ (αμήχανον κάλλος)53 gezeigt wird, die alles Seiende an ›Würde und Kraft‹ überragt, ist sie nicht nur ein Ideal, auf das sich alles theoretische Denken als ihren Fluchtpunkt bezieht, sondern ebenso ein praktisches Ideal, das als das Ziel aller menschlichen Sehnsucht verstanden wird. Für Levinas bleibt der ›Einfall Gottes ins Denken‹ stets ›an die Verantwortung gekoppelt‹, sodaß sich ›alle religiösen Gefühle erst in der Beziehung zum Nächsten konkretisieren‹ (vgl. Außer sich, 46 f.). Levinas erweist sich in diesem Zusammenhang somit in seinem eigenen genuinen Denken als ein echter ›Platoniker‹, weil er sich weigert, die Idee des Unendlichen als ein bloß theoretisches Ideal anzunehmen. Das Unendliche weckt ein unendliches ›Begehren‹, sodaß sich ›Einsicht und Leidenschaft‹54 auf ein gemeinsames Ziel aus zwei unterschiedlichen Richtungen beziehen. Die ὁμοίωσις θεῷ (Theaitetos 176b) konkretisiert sich in meinem praktisch-moralischen Verhalten, indem ich dem Anderen Gerechtigkeit widerfahren lasse, ihn als Anderen respektiere und mit Güte begegne.

6. Schluß Das Genuine des Denkens von Emmanuel Levinas mag in seinem Bemühen liegen, die Verknüpfung von Ethik und Metaphysik aufzuweisen. Die Humanität des Menschen läßt sich ohne die ethisch fundierte Beziehung zu anderen Menschen nicht denken. Diese zwischenmenschliche Relation verbleibt nicht in einem rein immanenten Rahmen, sondern verweist stets auf die Transzendenz des Absoluten, die ihr innewohnt. Die Bewegung, die in mir das Absolute weckt und ausführen läßt, führt stets zum Anderen. Zu Gott hingehen bedeutet nicht, seiner Spur folgen, »sondern auf 246 | jakub sirovátka

die Anderen zugehen, die sich in der Spur halten« (SdA 235). Die Asymmetrie der absoluten Exteriorität des Unendlichen und die Asymmetrie der radikalen Anderheit des Anderen muß aus sachlichen Gründen angenommen werden. Wenn das Unendliche in seiner Absolutheit ernstgenommen werden soll, versagt jedes theoretische Begreifen, da das Zu-Denkende hier das Begreifen überragt. Das endliche Denken kann per se das Unendliche nicht definieren,55 sondern sich nur auf das Unendliche hin infinieren (JS 333): »Das Unendliche würde in dem Beweis, den das Endliche bezüglich seiner Transzendenz führen wollte, sich selbst Lügen strafen […] Das Unendliche verlöre damit seine Herrlichkeit. Die Transzendenz ist sich selbst schuldig, ihre eigene Bekundung zu unterbrechen.« Ebenso wird die asymmetrische Verfassung des Verhältnisses zum Anderen für das Entstehen des moralischen Imperativs als konstitutiv angesehen. Ohne diesen ethischen Niveauunterschied bliebe der faktisch auftretende ethische Anspruch unverständlich. Die letzte Konsequenz des ethischen Denkens besteht in der Einsicht, daß die Höhe, aus der der Anspruch kommt, zugleich als die Höhe des Unendlichen gedacht werden muß. Die ethische ›Autorität‹ des Antlitzes des Anderen ist aufgrund ihrer absoluten Anderheit ebenso als Autorität Gottes anzusehen. Das Jenseits des Unendlichen ›spiegelt sich wider innerhalb der Totalität und der Geschichte, innerhalb der Erfahrung‹ (TU 22). Die Antwort auf diese ›doppelte‹ Unendlichkeit besteht in der Güte gegenüber dem Anderen. Mit der Betonung der unerläßlichlichen Konkretion der Güte im materiellen Geben erteilt Levinas jedem Spiritualismus eine eindeutige Absage. In der Notwendigkeit der konkreten Gabe äußert sich das ›ewige Recht des Materialismus‹. Die unermüdlichen, an manchen Stellen sicher auch zu extremen Beschreibungen der Verantwortung für den Anderen bis zur Geiselschaft, die ethische Erwählung, das Immer-schon-Stehen unter dem ethischen Anspruch des Anderen zielen auf den Aufweis des Ethischen als ›Grundcharakteristikum der Person des Menschen‹ (ZU 138). Die eigentliche Subjektivität des Subjekts besteht in der Güte gegenüber einem anderen Menschen und gibt der Subjektivität ›ihre irreduzible Bedeutung‹(JS 57). Dieser ethische Kern des Menschseins überhaupt wird mit dem Begriff der Heiligkeit bezeichnet.56 Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 247

Anmerkungen

Der Ausdruck der ›Ersten Philosophie‹ geht auf Aristoteles zurück – prw t2 h filosofía (Mp IV, 1026a16) – und bezeichnet die ontologisch verfaßte Metaphysik. Descartes nimmt ihn ausdrücklich in den Titel seiner Meditationes de prima philosophia. Bei Levinas ist wahrscheinlich auch eine Absetzung gegenüber der ›Fundamentalontologie‹ Heideggers mitgedacht (zum Vorrang der Seinsfrage bei Heidegger vgl. SuZ, 8–14). Levinas beschreibt letztendlich in transzendentaler Art die ›moralischen Bedingungen des Denkens‹ (Zwischen uns, 29). 2 Vgl. Die Spur des Anderen, 230: »Die höchste Anwesenheit des Antlitzes ist untrennbar von jener höchsten und unumkehrbaren Abwesenheit, die die eigentliche Erhabenheit der Heimsuchung begründet.« Das Antlitz des Anderen hält sich in der Spur des Unendlichen und weist so auf das Unendliche hin. 3 Vgl. Michaël de Saint Cheron: Entretiens avec Emmanuel Levinas 1983– 1994, 50: »je ne dis pas qu’autrui est l’incarnation de Dieu«. 4 Vgl. Schwierige Freiheit, 29. Die unerläßliche Verknüpfung der zwischenmenschlichen Beziehung mit der Beziehung zu Gott stellt für Levinas den Kern der jüdischen Religion dar. Vgl. ebd., 32: »Daß die Beziehung zum Göttlichen über das Verhältnis zu den Menschen führt und mit der sozialen Gerechtigkeit zusammenfällt, eben dies ist der Geist der jüdischen Bibel.« Daß diese ethische Forderung genauso dem Geist des Christentums entspricht, liegt auf der Hand. 5 Levinas steht mit seiner Ansicht nicht alleine da, sondern im Einklang mit der Position von Kant etwa. Kant zeigt sich ebenso überzeugt, daß sich die wahre und einzig richtige Beziehung zu Gott alleine durch das ethische Verhalten gegenüber den Anderen ereignet. Die Menschen begreifen laut Kant nicht, daß wenn sie »ihre Pflichten gegen Menschen (sich selbst und andere) erfüllen, eben dadurch auch göttliche Gebote ausrichten, mithin in allem ihren Tun und Lassen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, beständig im Dienste Gottes sind, und daß es auch schlechterdings unmöglich sei, Gott auf andere Weise näher zu dienen« (RGV B 146). Damit nimmt Kant in der Religionsschrift die Bestimmung vom ethischen Leben als dem allein richtigen Dienst Gottes aus der Kritik der praktischen Vernunft auf (A 236): »Denn nichts ehrt Gott mehr, als das, was das Schätzbarste in der Welt ist, die Achtung für sein Gebot, die Beobachtung der heiligen Pfl icht, die uns sein Gesetz auferlegt.« 6 Außer sich, 46 f./Hors sujet, 64. 7 Das Entstehen und Bewahren der Identität des Ich wird im Kapitel Innerlichkeit und Ökonomie in TU 150–266 beschrieben. Zur leiblichen Dimension der Identität vgl. J. Sirovátka: Der Leib im Denken von Emmanuel Levinas, 41– 99. Die phänomenologisch entwickelten Beschreibungen besitzen eine große Ähnlichkeit mit Heideggers Charakterisierung der Verfassung des Daseins, die jeder Relation vorangehen muß. Vgl. dazu Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, 240 f.: »Der ontologische Satz – zum Wesen des Daseins gehört es, daß sein eigenes Sein in seinem Umwillen steht – schließt so wenig aus, daß es faktisch dem Menschen gerade um das Sein des 1

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Anderen geht, daß er, dieser ontologische Satz, gerade den metaphysischen Grund der Möglichkeit dafür angibt, daß so etwas wie Dasein ein Mitsein mit Anderen, für diese und durch diese sein kann. […] In diesem Satz und in allem, was mit ihm zusammenhängt, handelt es sich nicht um einen existentiellen, ethischen Egoismus, sondern um die ontologisch-metaphysische Kennzeichnung der Egoität des Daseins überhaupt. Nur weil das Dasein primär durch Egoität bestimmt ist, kann es faktisch für ein anderes Dasein und mit ihm als ein Du existieren. Das Du ist nicht eine ontische Dublette eines faktischen Ich; aber ebensowenig kann ein Du als solches existieren und für ein anderes Ich als Du es selbst sein, wenn es nicht überhaupt Dasein ist, d.h. in der Egoität gründet. Die zur Transzendenz des Daseins gehörige Egoität ist die metaphysische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Du existieren und eine Ich-Du-Beziehung existent sein kann. […] Diese Selbstheit aber ist seine Freiheit, und diese ist identisch mit der Egoität, aufgrund deren das Dasein allererst je egoistisch oder altruistisch sein kann.« 8 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 12. 9 TU 109 f.: »Um die Idee des Unendlichen zu haben, muß man in der Trennung sein. […] Für die Beziehung zwischen dem Seienden im Diesseits und dem transzendenten Seienden, die zu keiner begriffl ichen Gemeinsamkeit und zu keiner Ganzheit führt – Beziehung ohne Beziehung – halten wir den Ausdruck Religion fest.« 10 Vgl. z. B. TU 30 ff. oder JS 390. 11 In der ethisch-metaphysischen Asymmetrie des Anderen spielt sich die eigentliche metaphysische Störung des Subjekts ab. Alleine durch diese Störung eröff net sich in der Levinasschen Konzeption für das Ich ein Zugang zur Ethik und Religion. Vgl. dazu Christoph von Wolzogen: Emmanuel Levinas – Denken bis zum Äußersten, 75–82. 12 Es handelt sich um eine für einen Dritten unsichtbare Ungleichheit (vgl. TU 366). 13 Vgl. ebenso die Beschreibungen Kants von ›moralische relevanten Situationen‹, in denen Kant das Auft reten des moralischen Bewußtseins verdeutlicht. Diese Interpretation entwickelt Norbert Fischer in seinem Werk Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 151, 155, 176, 223. Die Nähe der Ansätze von Levinas und Kant in Bezug auf die Ethik wird nicht nur von Norbert Fischer, aber z. B. auch von Christoph von Wolzogen gesehen. Vgl. dazu Christoph von Wolzogen: Emmanuel Levinas – Denken bis zum Äußersten, 162–178. 14 Vgl. auch ZU 140: »Im Nächsten ist reale Anwesenheit Gottes. In meiner Beziehung zum Anderen vernehme ich Gottes Wort. Das ist keine Metapher, das ist nicht bloß extrem wichtig, es ist wörtlich wahr. Ich sage nicht, daß der Nächste Gott ist, aber daß ich in seinem Antlitz Gottes Wort höre.« 15 Zur ›Heimsuchung‹ vgl. SdA 221 ff. 16 Vgl. dazu JS 268. Dieses ganze zweite ›Hauptwerk‹ liest sich als ein einzigartiger Versuch, die ethische Subjektivität zu beschreiben, die sich aus der asymmetrischen Beziehung zum Anderen ergibt. Jenseits des Seins entwickelt »die Bedeutung der Subjektivität aus der außer-ordentlichen Alltäglichkeit meiner Verantwortung für die anderen Menschen« (JS 309). 17 Ich folge an dieser Stelle dem Vorschlag und der Begründung von LudDie Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 249

wig Wenzler. Wenzler übersetzt das französische Wort ›altérité‹ mit ›Anderheit‹ statt mit ›Andersheit‹. So wird bei der Beschreibung der Andersartigkeit des anderen Menschen auch sprachlich deutlich, »daß es nicht um ein bloßes Anders-sein, sondern um das ›ein Anderer sein‹ geht.« Vgl. Ludwig Wenzler: Zeit als Nähe des Abwesenden, 69, Anm. 6. Auch Thomas Wiemer verwendet ›Anderheit‹ in seiner Übertragung von Autrement qu’être ins Deutsche, in Jenseits des Seins. Über die ›Anderheit des Anderen‹ spricht explizit Michael Theunissen in Der Andere, 357. Das Wort ›Anderheit‹ fi ndet man jedoch schon bei Martin Buber: Werke I, 445. 18 Vgl. Paul Ricœur: Soi-même comme un autre, 388: »Chaque visage est un Sinaï qui interdit le meurtre.« 19 Für die Beschreibung der ethischen Beziehung zum anderen Menschen verwendet Levinas bevorzugt den Begriff der Verantwortung. In seiner späteren Philosophie überwiegen hyperbolische Ausdrücke wie ›Geisel‹ des Anderen oder eine absolut passive Ausgesetztheit an den Anderen. Es handelt sich um ›strengere‹ Ausdrücke für denjenigen Sachverhalt, der traditionell mit Liebe zum Nächsten oder caritas bezeichnet wird. Vgl. dazu ZU 213. Die ethische Ordnung, die Ordnung der Heiligkeit ist somit identisch mit »l’ordre de la miséricorde, ou l’ordre de l’amour ou l’ordre de la charité«. Vgl. François Poirié: Emmanuel Lévinas. Essai et entretiens, 110. 20 Zu ›Grenzsituationen‹ als einem tieferen Ursprung der Philosophie vgl. das Kapitel Grenzsituationen in Karl Jaspers: Philosophie II. Existenzerhellung, 201–254. 21 Vgl. Václav Havel: Dopisy Olze [Briefe an Olga], 301 Anmerkung. Es handelt sich um eine Auswahl von Briefen, die Havel zwar an seine Frau Olga adressiert hat, die sich jedoch im Laufe der Korrespondenz zu einem Gespräch auch mit anderen Freunden oder Denkern entwickelt hat. Allem voran ist Havels Bruder Ivan zu nennen, der in Briefen unter dem Namen von Havels Frau Olga auf Fragen reagiert oder andere Freunde antworten läßt. Die bisher unveröffentlichten Briefe befi nden sich in der Bibliothek Václav Havel in Prag. Vgl. dazu Martin C. Putna: Václav Havel. Duchovní portrét v rámu české kultury 20. století [Václav Havel. Ein geistiges Porträt im Rahmen der tschechischen Kultur des 20. Jahrhunderts]. 22 Václav Havel: Dopisy Olze [Briefe an Olga], 315 ff. 23 Vgl. dazu Václav Havel: Dopisy Olze [Briefe an Olga], 333 ff. und 341 f. In einer anderen Wendung spricht Havel von einer ›Stimme des Seins‹. Durch eine gewisse transzendente Personalisierung dieser Stimme verbindet Havel die Gedanken von Heidegger und Levinas miteinander, ohne sich auf eine streng philosophische Diskussion einzulassen. 24 Im Hintergrund der Überlegungen des folgenden Kapitels stehen Jakub Sirovátka: Gott im Denken von Martin Buber und Emmanuel Levinas. Ein Du oder eine dritte Person (›Illéité‹)?; weiterhin ders.: Der Leib im Denken von Emmanuel Levinas, 191–196. 25 Vgl. Martin Buber und die Erkenntnistheorie, 125. 26 Vgl. z. B. ebd., 30: »Das ganze Bubersche Werk ist eine Erneuerung der Ethik.« Oder 39: »Diese Aufwertung der dia-logischen Beziehung und ihrer phänomenologischen Nichtreduzierbarkeit, ihrer Fähigkeit, eine autonome 250 | jakub sirovátka

Sinnordnung zu konstituieren […] wird der unvergeßliche Beitrag Martin Bubers zu Philosophie bleiben.« 27 Martin Buber und die Erkenntnistheorie, 130. 28 Martin Buber: Antwort, 601. 29 Vgl. Martin Buber und die Erkenntnistheorie, 129. 30 Außer sich, 42. Buber selber hat den Vorwurf von Levinas nicht gelten lassen wollen (Antwort, 596): »Man führt meinen Satz an, das Ich werde am Du, und folgert: also verdanke ich meinen Platz meinem Partner. Nein; sondern der Beziehung zu ihm. Nur in der Beziehung ist er mein Du, außerhalb der Beziehung zwischen uns existiert dieses Du nicht. Es ist somit falsch zu sagen, die Begegnung sei umkehrbar. Weder ist mein Du identisch mit dem Ich des Anderen noch dessen Du mit meinem Ich. Der Person des Andern verdanke ich, daß ich dieses Du habe; aber mein Ich – worunter hier das Ich des Ich-Du-Verhältnisses zu verstehen ist – verdanke ich dem Du-Sagen, nicht der Person, zu der ich Du sage.« 31 Levinas: Martin Buber und die Erkenntnistheorie, 131. 32 Vgl. Paul Ricœur: Soi-même comme un autre, 221 f. 33 Vgl. ebd., 390: »Le paroxysme de l’hyperbole me paraît tenir à l’hypothèse extrême – scandaleuse même – que l’Autre n’est plus ici le maître de justice, comme c’était le cas dans Totalité et Infini, mais l’offenseur«. 34 Vgl. Paul Ricœur: Autrement. Lecture d’Autrement qu’être ou au-delà de l’essence d’Emmanuel Levinas, 26. Vgl. auch 21: »Pourquoi cette montée aux extrêmes: obsession, blessure, traumatisme? Pourquoi cette surenchère du pathique en pathétique et pathologique?« 35 Vgl. Paul Ricœur: Soi-même, 222. 36 Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, 231. 37 Vgl. ebd., 425/Soi-même, 409. 38 Vgl. Michaël de Saint Cheron: Entretiens, 35 f. 39 Selbstverständlich bedeutet dies nicht, daß alle Handlungen, die aus freundschaft licher Zuneigung geschehen, keinen Charakter der Güte aufweisen. Falls ich jedoch in eine Situation geraten würde, wo ich für den Freund etwas tun soll, was sich gegen meine ureigensten Lebensinteressen richtet, kommt ein ethisches Moment ins Spiel, das deutlich werden läßt, auch eine symmetrisch verfaßte Beziehung der Freundschaft basiert letztendlich auf einem ethischen Fundament. 40 Nikolaus von Kues: De Visione Dei 23, 101. Dieser Grundsatz steht jedoch bereits bei Thomas von Aquin in der Summa theologica I,2,2: finiti autem ad infinitum non est proportio. 41 Vgl. dazu SdA 198 ff. 42 Vgl. SdA 255: »Das Rätsel ist die Weise des Absoluten.« Das Unendliche bleibt für das Erkennen ein Rätsel, weil es vollkommen anders ist, als dasjenige, was im Licht der Erkenntnis erscheint. Das Absolute bricht in die synchrone Zeit der Weltwirklichkeit ein, um eine andere Zeit hinzuweisen und zwar in der Weise einer Spur. 43 Vgl. die Anmerkung von Nikolaus Krewani in SdA 229. In diesem Sinne spricht Levinas auch darüber, daß das Unendliche als Illeität das ›Profi l einer Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 251

dritten Person‹ aufweist (HAM 54): »Jenseits des Seins ist eine Dritte Person, die nicht durch das Sich-Selbst, durch die Selbstheit defi niert werden kann. Sie ist die Möglichkeit dieser dritten Richtung der radikalen Ungeradheit […]. Das Profi l, das die nicht rückgängig zu machende Vergangenheit durch die Spur annimmt, ist das Profi l des ›Er‹.« Die Rede von der dritten Person im Sinne der Illeität unterscheidet sich aber von dem Begriff des dritten Menschen (dem Dritten/le tiers), der nach Levinas die exklusive Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderem unterbricht. Mit der Anwesenheit des Dritten, eines dritten Menschen beginnt für Levinas die Gerechtigkeit im Sinne der vernünft igen Überlegung der Ordnung einer Gemeinschaft . Der Dritte stellt eine ›unablässige Korrektur‹ der asymmetrischen Interpersonalität dar. Mit ihm beginnt ›Abwägen, Denken, Objektivieren‹, das nicht nur dem einen Anderen, sondern allen Anderen gerecht zu werden versucht. Die Verantwortung für den Anderen weitet sich zur Brüderlichkeit mit weiteren anderen Menschen aus. Vgl. JS 344 f. 44 Vgl. Buber: Ich und Du, 91. 45 Vgl. ebd., 95 und 118. 46 Vgl. dazu Buber: Antwort, 611: »Ich habe mich stets gegen die von der ›dialektischen Theologie‹ geübte Vereinfachung gewehrt, Gott sei der ganz Andere. Man darf ihn nur dann so nennen, wenn man im gleichen Atemzuge weiß und bekennt, daß er der Nichtandere, der Hiesige, der Jetzige, der Meine ist.« 47 In diesem Zusammenhang bezweifelt Levinas ebenso, daß der Frömmigkeit und dem Gebet eine dialogische Struktur innewohnt. In Éthique et Infini, 102 nimmt er Bezug auf die jüdische Mystik, indem er auf bestimmte alte jüdische Gebetsaufzeichnungen verweist, in denen der Gläubige am Anfang Gott als ›Du‹ anredet, im Verlauf des Betens jedoch – aufgrund der Transzendenz Gottes – zu der Anrede ›Er‹ übergeht. 48 Außer sich, 46. 49 Vgl. ebd. 50 Levinas nimmt an dieser Stelle auf eine wirkmächtige Denkfigur Platons Bezug, die am Anfang der abendländischen Philosophie steht. In der Politeia 509b wird das Göttliche in der Gestalt der ›Idee des Guten‹ als ›jenseits der Seiendheit‹ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας) charakterisiert. Als transzendenter Ursprung der gesamten Wirklichkeit liegt er eben jenseits dieser. 51 Vgl. R. Descartes: Meditatio de prima philosophia III, 22–39. In dieser dritten Meditation unterscheidet Descartes drei Arten von Vorstellungen, die er in seinem Bewußtsein faktisch vorfi ndet: angeborene (ideae innatae), erworbene (ideae adventiciae) und von mir selbst gemachte (ideae a me ipso factae). Die idea Dei kann nur als angeboren angesehen werden, da ich in ihr einen solchen vollkommenen, unendlichen Bedeutungsgehalt denke, den ich nicht allein aus einem endlichen Denken heraus zu denken vermag. Das Unendliche kann nicht vom Endlichen begriffen (III,25), sondern gleichsam nur im Gedanken berührt (›attingere‹) werden (III, 8), so daß der menschliche Blick die ›Schönheit des unermeßlichen Lichts‹ nur zum Teil ertragen kann (III,39). 52 Vgl. dazu Éthique et Infini, 85 ff. 252 | jakub sirovátka

Vgl. auch Symposion 210e–212b oder Phaidros 246d, wo Platon das Göttliche mit dem Schönen, Weisen und Guten identifi ziert (ϑεῖον, καλόν, σοφόν, ἀγαϑόν). 54 Vgl. dazu Gerhard Krüger: Einsicht und Leidenschaft. 55 Angesichts des Unendlichen müßte man nach Levinas eher über ›Infi nition‹ – ›l’infinition de l’infi ni‹ – reden, um dem Unendlichen auch begriffl ich gerecht zu werden (TI XV). Zum Gedanken der Infi nition vgl. auch PFG. 56 Der Begriff der Heiligkeit defi niert ›das Anthropologische jenseits der Gattung Mensch‹ (JS 140). Zur Heiligkeit bei Levinas vgl. Jakub Sirovátka: Ethik als Anspruch der Heiligkeit, 12–18. Auch Kant hat die ›Heiligkeit des Willens‹ als ›praktische Idee‹ bestimmt, »welche notwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige [Hervor. durch den Verf.] ist, was allen endlichen vernünft igen Wesen zusteht« (KpV A 58). 53

Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott | 253

– Ludwig Wenzler –

»Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« (TU 359) Die Möglichkeit, philosophisch von Gott zu reden – in der Spur eines abwesenden Gottes

In der gegenwärtigen intellektuellen und religiösen Situation stellt sich mit besonderem Nachdruck die Frage: »Wie steht es grundsätzlich um die Möglichkeit eines Redens von Gott, das ihn nicht ohne eine Welt denken will, die auf ihre Autonomie und Säkularität pocht und somit ohne Gott gedacht werden will? Welcher theologische Denk- und Sprachstil ist dieser Herausforderung am ehesten gewachsen?«1 Eine Antwort auf diese Frage ist nicht in erster Linie durch kirchliche Verkündigung zu geben, sondern durch philosophisch kommunizierbare Reflexion.

1. Die Problemlage: Vernunft als Weg zu Gott – Gott jenseits der Vernunft? Was läßt sich in einem Denken, das streng philosophisch bleiben möchte, von Gott sagen? Muß nicht in die ernsthafte Rede von Gott ein Akt des Glaubens, der persönlichen Überzeugung mit eingehen, zumindest dann, wenn die Wirklichkeit Gottes behauptet wird? Aber kann dann eine solche Rede noch als rein philosophische bezeichnet werden? In der Geschichte des philosophischen Denkens kann man – etwas vereinfachend – zwei Reihen von Aussagen zu diesen Fragen feststellen. Einerseits besteht man darauf, daß die Vernunft einen Zugang zum Phänomen Gott finden könne; sogar die Wirklichkeit oder Existenz Gottes lasse sich mit der Vernunft aufweisen. Andererseits – und oft bei denselben Denkern, die einen Zugang der Vernunft zum Phänomen ›Gott‹ behaupten – wird betont, daß Gott | 255

über jedes Begreifen hinausgehe, daß er unfaßbar sei.2 Exemplarisch sind die Aussagen eines Augustinus: »si enim comprehendis, non est deus« – ›wenn du begreifst, ist es nicht Gott‹ (s. 117,5); oder eines Thomas von Aquin: »de Deo scire non possumus quid sit«: ›von Gott können wir nicht wissen, was er ist‹ (S.th. I 2,1c). Empfiehlt es sich also, wie Heidegger sagt, »im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen« (OVM = GA 11,63), weil durch das Denken, insbesondere das onto-theologisch verfaßte, die Göttlichkeit Gottes nicht zu erreichen ist? Mit radikaler Deutlichkeit hat Immanuel Kant das Verhältnis zwischen Denken und Gott geklärt. Kant zeigt, daß der Bedeutungsgehalt oder die Idee ›Gott‹ mit Notwendigkeit zur ›Naturanlage‹ der menschlichen Vernunft gehört, für die ›Gott‹ eine ›transzendentale Idee‹ ist. Aber mit der Idee ist noch nicht über die Wirklichkeit Gottes entschieden. Eine solche Entscheidung kann nur die Beziehung des Glaubens treffen. Deshalb wollte Kant die Grenzen des Wissens aufzeigen, um für den Glauben Platz zu machen (vgl. KrV B XXX).3 Ernstzunehmen sind die Behauptungen des religionskritischen Denkens, daß jede Rede von Gott nur menschliche Projektion sei, daß der mündig gewordene Mensch die Hypothese ›Gott‹ nicht brauche, daß Gott vielmehr tot sei. Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ gilt zumindest für jenen Gott, der sich als notwendiges Moment menschlicher Gedankengebäude erweist; es gilt auch für den zur Aufrechterhaltung einer Moral postulierten Gott. Sobald man die ›Grammatik‹ erkennt, die dazu nötigt, von einem solchen Gott zu sprechen, ist er gestorben. Fragt man, was philosophisches Denken dennoch über Gott ausmachen kann, so ist vor allem zu berücksichtigen, daß Denken ein komplexes Geschehen ist. Immer sind Wertungen, Entscheidungen, unbewußte Motive beteiligt. Der Begriff ›reine Vernunft‹ bezeichnet eine Abstraktion aus den konkreten Vollzügen der Vernunft. Deshalb kann man nicht von vornherein ausschließen, daß in allen diesen Denkvollzügen, auch in dem, was als menschliche Projektion erscheint, doch auch das Berührtwerden von einer Wirklichkeit jenseits der rein menschlichen Möglichkeiten und Gebilde mitschwingt, eine Spur, eine Ahnung des Göttlichen. Läßt sich philosophisch klären, was in den menschlichen Gedankengängen menschliche Projektion und was vielleicht doch Selbst256 | ludwig wenzler

kundgabe des Göttlichen ist? Unbestreitbar dürfte sein, daß jeder Mensch – oder zumindest die meisten Menschen – auf irgendeine Weise die Idee eines höheren, eines göttlichen Wesens hat. Die offene Frage ist, welche Wirklichkeit dieser Idee entspricht und ob sich etwas von dieser Wirklichkeit erfahren läßt, wie eine solche Erfahrung strukturiert wäre und wie man verständlich davon sprechen könnte. Es gibt sicher keinen unmittelbaren Übergang des bloßen Denkens zu Gott. Auf dem Weg des bloßen Denkens gelangt man zwar zu einem ens a se oder zu einer causa sui, zu einem primum movens, einem höchsten Seienden – aber das ist nicht der göttliche Gott, zu dem man beten könnte. Was man in solchen Entwürfen findet, ist nicht wirklich Gott, sondern eher eine Sicherungs-Instanz gegen unsere tiefen Daseinsängste und oft genug schlicht ein »Schutzherr […] für alle Egoismen« (JS 351). Solche Denkweisen sind verständlich, aber sie liefern eben keine philosophisch gültigen Gründe, sie haben eher eine beruhigende, therapeutische, beschwichtigende Funktion. Gerade das unreflektierte Sich-Berufen auf Gott, das sich nicht vor dem Forum einer sich ihrer Möglichkeiten wie ihrer Grenzen bewußten Vernunft rechtfertigt, ist ein Symptom der gegenwärtigen ›Gotteskrise‹, die zugleich »eine Krise der Gottessprache« ist.4 Bis heute hat man sich in weiten Kreisen die Brisanz und den Ernst dieser Situation nicht klar gemacht, auch nicht, daß das keinen ›Verlust‹ bedeuten muß, die verschiedenen Formen des Redens von Gott einer kritischen Befragung zu unterziehen, sondern daß man auf diese Weise dazu gelangen kann, Gott auf eine ihm gemäßere Weise zu denken. Dies wäre vor allem heilsam gegenüber einer gewissen ›Gottprotzigkeit‹ (Elias Canetti), mit der in fundamentalistischen Kreisen gerne gegen die sogenannte Gotteskrise angegangen wird. Was also läßt sich in einem aufmerksamen, vorurteilsfreien, begründeten und reflektierten Denken über Gott sagen?

2. Die Grundsituation des Menschseins nach Levinas Levinas will zeigen, daß gerade auch für das philosophische Denken ›Gott‹ ein legitimes Thema ist, allerdings für ein Denken, das sich verwandeln läßt durch die Erfahrung des ganz Anderen, des schlechthin Anderen. Levinas versucht, »das Wort Gott als ein Wort »Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« | 257

zu verstehen, das bedeutet« (WG 13). Um nachvollziehen zu können, auf welchem Weg und in welchem Kontext Levinas zu seinen Aussagen über Gott gelangt, seien in möglichster Kürze einige wesentliche Elemente seines Denkens und einige grundsätzliche Einsichten erinnert, die er vermitteln möchte.5 Als Denker, der wesentlich inspiriert und geprägt ist von der Phänomenologie Husserls, geht Levinas vom ›Phänomen‹ aus, also von dem, was sich im Bewußtsein zeigt, was im Bewußtsein gegeben ist, und zwar nicht einfach als Gedanke, sondern als Inhalt und Ergebnis einer Erfahrung. Zu diesen Bewußtseinsinhalten gehören immer auch die zunächst ungedachten und unbeachteten Horizonte und Verweise jedes Phänomens. Jedes Phänomen ist wiederum Moment eines größeren Zusammenhangs, einer Geschichte. Levinas betrachtet deshalb nicht ein isoliertes Phänomen, sondern versucht, »die komplexe Situation zu inszenieren« (IEA 142). Er will möglichst alle entscheidenden Faktoren in den Blick bekommen, weil sie als Mitspieler in ihrer Wechselwirkung den Sinn einer Situation ausmachen. Häufig geht Levinas so vor, daß er zuerst so etwas wie eine reine Struktur der menschlichen Existenz herausarbeitet; er entflicht die komplexe Situation der menschlichen Existenz auf ›ontologische‹ (gewissermaßen vor der konkreten Existenz bzw. verdeckt in ihr stattfindende) Ereignisse hin, die sich aber immer schon zum Drama der menschlichen Existenz ›verknüpft‹ haben (exemplarisch dazu VS; zur Weiterführung in die ethische Betrachtungsweise: IOf). Das Sein des Daseins ist zunächst ein ›inter-esse‹, ein Sich-imSein-Behaupten, Kampf ums Dasein. Sich behaupten heißt sodann, sich alles, was anders ist, anzueignen, mit sich zu identifizieren. Dies bedeutet Gewalt gegenüber anderem Seienden. Diese ontologische Gewalt begegnet jedoch einem Widerstand, der selbst nicht von der Art der Gewalt ist, sondern gewaltlose, gutartige ›Gewalt‹. Das sich behauptende Ich begegnet dem ›Antlitz‹ des Anderen, das in seiner Verwundbarkeit und Schwäche die wortlose Bitte ausdrückt, ihn nicht zu töten. In diese verletzliche Existenz des Anderen hat das Ich durch seine bloße Existenz immer schon eingegriffen. Aufgrund der Tatsache, daß sowohl das Ich wie der Andere verwundbar, sterblich sind, ist das Ich immer schon für den Anderen verantwortlich: Es muß auf dessen Existenz reagieren, antworten, 258 | ludwig wenzler

ob es will oder nicht. Es ist unentrinnbar ver-antwortlich für Wohl und Wehe des Anderen. Damit es Beziehung zum Anderen geben kann, ist für das Ich aber Innerlichkeit, intériorité, In-sich-Stehen, notwendig. Das Ich will und muß unabhängig, selbstständig sein; nur so ist ihm ein Antworten als freier Akt möglich. Um der Verantwortung für den Anderen zustimmen zu können, muß ich zuerst autonom sein. Selbstsein muß Getrenntsein, séparation, beinhalten. Diese ›erste‹ Autonomie geschieht als ›Leben von den Elementen‹, Genießen, Bei-sich-Sein, Wohnen. Dies bildet eine Subjektivität ersten Grades. Sie wird aber sogleich in eine Totalität hinein aufgehoben – wenn nicht ›von außerhalb‹ eine Einsetzung als Subjekt hinzukommt. Die Einsetzung erfolgt dadurch, daß ich verantwortlich werde für den Anderen, der mir jeweils als ›Nächster‹ begegnet. Dieser Verantwortung kann ich mich nicht entziehen, sie ist unentrinnbar und ich bin darin unvertretbar, einzig. Ich erhalte gerade dadurch meine Identität. Die Verantwortlichkeit habe ich mir nicht gewählt, ich übernehme sie auch nicht aus Großzügigkeit, aus einem Entschluß des Ego, auch nicht wegen einer äußeren Autorität, die sie mir auferlegt, nicht aus Berechnung, nicht aus Erwägungen der Nützlichkeit. Solche Motive können mit einfließen, Levinas hat sie beschrieben unter dem Begriff des ›commerce‹, des Handels nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit, des ›do ut des‹; aber solche Motive sind nicht entscheidend, sie machen noch nicht das ethische Verhältnis im strengen Sinne aus. Die Verantwortung für den Anderen wird mir vielmehr auferlegt geradezu gegen meinen Willen, ›malgré moi‹, ich werde als Geisel, Leibbürge, für den Anderen genommen. Durch die Berührung mit dem Anderen bekommt das Bewußtsein eine neue Qualität. Es erfährt sich nicht mehr als sich selbst konstituierend, sondern als seinerseits vom Anderen her konstituiert, als durch den Anruf des Anderen ›erweckt‹. Es wird zum Antworten genötigt; es kann nicht nicht antworten. Doch wie es antwortet, ist Sache seiner Freiheit, einer Freiheit, die erst durch den Anruf des Anderen zu sich selbst ermächtigt wird. Erst dadurch, daß sie zur Verantwortung für den Anderen wird, erhält die Autonomie des Ich eine Richtung, einen Sinn, eine Identität. Ein entscheidender Zug bei dieser Verantwortung besteht darin: Ich werde nie mit ihr fertig werden, sie ist unbedingt und unend»Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« | 259

lich. Sie besteht in einer atemlosen Verpflichtung, die ihrem Auftrag nie ganz gerecht wird. Genau dies gehört zum Wesen solcher Verantwortung: nicht beruhigt im Genuß seiner eigenen Wohlanständigkeit stehenzubleiben.

3. Unendliche Verantwortung – »Gott kommt in den Sinn« Im Verlauf der bisherigen Überlegungen stand von Anfang an die Frage im Hintergrund, an welchem Punkt denn genau Gott ins Spiel komme und zwar ins Spiel des philosophischen Denkens im strengen Sinne. Wir haben gesehen: Durch die Begegnung mit dem Anderen wird das Ich in eine unbedingte, grenzenlose, nie ganz zu erfüllende Verantwortung gerufen. Das autonome Selbst wird der Verantwortung nie ganz gerecht, es hat nie genug getan. Das Denken gerät in eine unendliche Beunruhigung. Das bedeutet: Die Verantwortung hat für das Bewußtsein, conscience, das als ethisches Bewußtsein das Gewissen ist, eine Bewegung der infinition, der ›Unendlichung‹ zur Folge. In der Erfahrung der unendlichen Verpflichtung wird das Bewußtsein selbst in gewissem Sinne unendlich, es hat nicht nur die Idee des Unendlichen, es ist – in seinem Vollzug – geradezu diese Idee. Diese Idee hat das autonome Subjekt nicht selbst ausgedacht, sie ist ihm eingegeben, auferlegt, in Gestalt der unendlichen Verantwortung. Sie ist keine Projektion der eigenen Unendlichkeit.6 Und genau da, wo ich die Forderung des Anderen als ›aus der Höhe‹ ergehend erfahre – aus einer Dimension, die ich nicht in Begründung und Vorstellung einfangen kann –, da kann mir ›Gott einfallen‹, in den Sinn kommen, da kann der Begriff ›Gott‹ für mich einen Sinn bekommen – einen Sinn, der nicht mehr aus meinem Denkvermögen gespeist wird, der nicht Ergebnis meines intentionalen, eine Begründung oder höchste Autorität suchenden Denkens ist, einen Sinn, der absichtslos und ungewollt einfällt (GuP 96): »Die Idee Gottes, das ist Gott in mir, aber bereits Gott, sofern er das auf Ideen abzielende Bewußtsein bricht und sich von jedem Inhalt unterscheidet.« Das Unbedingte oder Absolute, das sich in der unbedingten Verantwortlichkeit zeigt, ist nicht unmittelbar Gott, aber – es läßt an 260 | ludwig wenzler

Gott denken. Gott ›fällt mir ein‹ in diesem Augenblick. Er kommt in mein Bewußtsein, ›vient à l’idée‹, er tritt ein in das Denken. Religion ist »das ursprüngliche Zusammentreffen von Umständen, in denen das Unendliche in den Sinn kommt.«7 Diese ›Umstände‹ bestehen eben in der Tatsache, daß es den Anderen und die Anderen gibt, daß wir aufgrund unserer Leiblichkeit-Sterblichkeit immer schon kommunizieren. Aus diesem ›Einfallen‹ Gottes kann und darf man keinen Gottesbeweis machen. Man sollte es auch nicht als Zwangsvorstellung deuten. Denn ich muß in dieser Situation nicht an Gott denken, aber ich kann es und darf es. Das Entscheidende an dieser Situation: Die Art, wie ich denke, entspricht hier auf merkwürdige Weise dem Inhalt. Der Denkakt, die Noesis, antwortet auf den Denkinhalt, das Noema, wird von ihm hervorgerufen. Ich ›denke‹ das Unendliche auf unendliche Weise (EDE 174): »Die Idee des Unendlichen ist ein Denken, das in jedem Augenblick mehr denkt, als es denkt.« Daß die Idee ›Gott‹ in diesem Zusammenhang nicht Projektion des Menschen ist, dies zeigt Levinas auch dadurch, daß er aufweist: Es gehört zur Konstitution des Menschen als eines freien Wesens, gerade nicht von sich aus religiös zu sein, sondern so unabhängig, so autonom, daß er von Natur aus ›atheistisch‹ ist (TI 29): »Die Seele – […] der Vollzug der Trennung – ist von Natur aus atheistisch.«8 Getrennt-sein des Subjekts war schon für die Beziehung zum Anderen unabdingbar, erst recht ist es Bedingung für ein wirkliches Verhältnis des Menschen zu Gott (TI 50): »Der Atheismus ist die Bedingung für eine wirkliche Beziehung zu einem wahren Gott καϑ᾿ αὑτό.« Das Wesen Gottes selbst fordert diesen ›ontologischen‹ Atheismus. Denn nur dann kann die Antwort des Menschen auf den Anruf Gottes eine freie Entscheidung sein (TI 31): »Allein die atheistische Unabhängigkeit des getrennten Seienden […] macht dieses Verhältnis möglich. Das atheistische Getrenntsein wird von der Idee des Unendlichen gefordert.« Gott muß so ab-solut sein, daß er auch durch keinerlei Vorbegriff den Menschen an sich bindet (TI 78): »Das Wesentliche der geschaffenen Existenz besteht in ihrer Trennung vom Unendlichen. Diese Trennung ist nicht einfach Negation. Indem sie sich als seelisch-geistiges Leben vollzieht, öffnet sie sich genau der Idee des Unendlichen.« Dies ist die Situation, in der das, was mit dem Wort »Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« | 261

›Gott‹ gemeint ist, auf die seiner Bedeutung entsprechende Weise gedacht wird, nämlich als unendlich – auf die Weise des unendlichen Verantwortlichseins, des unendlichen Verlangens, des désir infini, das Verlangen oder Wünschen für den anderen, nicht für sich ist.9 Die Idee des Unendlichen ist nicht ergreifbar, sondern ergreift mich, sie ist nicht wählbar, sondern erwählt mich. In der Idee des Unendlichen »geht die Bewegung vom Gedachten und nicht vom Denkenden aus« (TI 33). In der Tatsache, daß das Gebot der Verantwortung, mit dem die Idee des Unendlichen ins Denken kommt, nicht gewählt werden kann, sondern mir auferlegt wird, erweist sich, daß diese Idee keine Projektion des menschlichen Bewußtseins ist. Die Idee des Unendlichen kommt von selbst ins Bewußtsein, und zwar gerade dann, wenn sie nicht gesucht wird, wenn vielmehr die ganze Aufmerksamkeit der Verpflichtung gegenüber dem anderen Menschen gilt (TI 170; vgl. TI 33): »Die Idee des Unendlichen überschreitet meine Vermögen […]. Sie kommt nicht aus unserem apriorischen Fundus. Und dadurch ist sie Erfahrung schlechthin.« Die Situation, in der ich mich dem Anruf des Anderen stelle, ist die einzige Situation, in der das Wort ›Gott‹ seine wahre Bedeutung erhält. Denn wenn mir hier ›Gott einfällt‹, dann fällt er mir ein als der, der mir Güte gegenüber dem Nächsten gebietet. Was ließe sich Größeres von Gott denken und sagen als dies, daß er der sei, der mir den anderen Menschen anvertraut, indem er mich für den Anderen verantwortlich macht? Die Transformation meines Bewußtseins entspricht zugleich einem Übergang im semantischen Status dessen, was hier gedacht wird. Man kann dies als einen Übergang oder Durchbruch vom Begriff Gottes zum Namen bezeichnen. Natürlich habe ich das Wort ›Gott‹ schon vorher gekannt, bevor es mir in der Situation der unbedingten Verantwortung wieder ›einfiel‹. Aber es hat jetzt einen neuen Klang für mich, es bekommt eine andere Qualität. Wenn mir im Zusammenhang des ethischen Verhältnisses Gott einfällt, dann darf ich das so verstehen, daß ich von dieser Idee berührt werde, daß ich persönlich angesprochen werde. Ich höre nicht mehr andere über Gott sprechen, sondern ich höre ihn selbst, seine ›Stimme‹. Gott offenbart mir seinen ›Namen‹, indem er mich mit der Verantwortung für den anderen Menschen betraut. ›Gott‹ erscheint in diesem Verhältnis nicht als Korrelat eines Begriffs, sondern als 262 | ludwig wenzler

Ursprung eines Rufs. Wenn der Mensch ihm antwortet, dann wird in der Antwort der Ausdruck ›Gott‹ nicht gebraucht als Begriff, sondern als Name. ›Name‹ meint den Ausdruck für die Tatsache, daß Gott hier in einer ganz persönlichen, nur mich betreffenden und mich meinenden Beziehung gegenübersteht. Eine solche Interpetation dürfte gedeckt sein durch Aussagen wie die folgende (DL 22; ebenso EDE 172–174): »Ein Antlitz sehen, das heißt schon hören: ›Du wirst nicht töten.‹ Und hören: ›Du wirst nicht töten‹, das heißt hören: ›soziale Gerechtigkeit‹. Und alles, was ich von Gott und zu Gott, der unsichtbar ist, hören kann, muß mir durch diese selbe einzige Stimme kommen.« Durch meine lautlose Zu-stimmung wird meine eigene Stimme – und das meint mein ganzes psychisch-geistiges Leben – zum Ort und Organ des lautlosen Sprechens Gottes. Das ist das Grundgeschehen von Inspiration und Prophetie (GTZ 209; Hervorh. von L.W.): »Das Unendliche bildet die Ausnahme zum Seinsvollzug, und dennoch betrifft es mich und bedrängt mich und bestimmt mich durch meine eigene Stimme. Das unendliche Äußere10 wird zum unendlich Inneren als meine Stimme […].«11

4. Kein Zeichen, nur eine Spur – Nähe durch Abwesenheit Es läßt sich verstehen, daß man eine solche Erfahrung nicht festhalten kann. Ich kann Gott, der mir den anderen Menschen anvertraut, nicht zur Gegenwart machen (GTZ 209): »Keine Gegenwart ist des Unendlichen fähig.« In der Glaubenserfahrung des Alten Testaments ist dieser Sachverhalt ausgedrückt in der Geschichte von Mose, der verlangt, das Antlitz Gottes zu sehen (Ex 33,19): »Laß mich doch deine Herrlichkeit sehen!« Doch Mose darf nur die ›Rückseite‹ Gottes sehen, nachdem Gott vorübergegangen ist (vgl. Ex 33,12–22). Auch bei dieser Episode ist bemerkenswert, daß sie im Zusammenhang steht mit der Führungsaufgabe des Mose, also mit seiner Verantwortung für das Volk Israel.12 Gott ist immer schon vorübergegangen, wenn ich sein Gebot höre. Das Antlitz spricht das Gebot, »von dem man nicht weiß, woher es gekommen ist« (WG 19). Das Gebot, verantwortlich zu sein für seinen Nächsten, begründet sich selbst. Es berührt und leuchtet »Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« | 263

ein – wenn das nicht geschieht, wird keine Begründung und keine Autorität ihm Geltung verschaffen. Gott kann mir in den Sinn kommen, wenn ich meine Verantwortung wahrnehme, aber nicht um Gottes willen soll ich das Gebot erfüllen, sondern um des Nächsten willen. Gott zieht sich sofort wieder aus dieser Berührung zurück, sowohl um des Menschen willen, demgegenüber er Achtung gebietet, wie um meinetwillen, dem die Verantwortung für den anderen aufgetragen wird. Er zieht sich zurück um des anderen willen, damit ich ihn nicht zum bloßen Mittel meiner Gottesbeziehung mache, damit ich ihm nicht wegen einer erhofften Belohnung diene, sondern um seiner selbst willen. Gott zieht sich zurück um meiner selbst willen, damit meine Zuwendung zum anderen aufrichtig bleibt und in Freiheit geschieht. Obwohl das Eintreten oder Einfallen der Idee Gottes in mein Bewußtsein als Offenbarung des Namens Gottes verstanden werden darf, wird zugleich jede Gewißheit, die mir Gott verfügbar machen würde, entzogen. Das einzige ›Zeichen‹, das mir gegeben ist, ist meine Verantwortlichkeit. Von ihr aus läßt sich keine direkte Linie zu Gott ziehen. Sie bleibt nur als zweideutiges Zeichen, daß hier etwas geschehen ist, das, obwohl unsichtbar, ›nicht nichts‹ ist, sondern ›mehr als Sein‹. Es ist etwas geschehen, passiert, passé, vorübergegangen (vgl. Ex 33,12–22). Für dieses Sich-Bemerkbarmachen des Abwesenden, das in seinem Angehen dennoch nicht Gegenwart wird, findet Levinas die Metapher der Spur (HAM 53): »Das Jenseits, von dem das Antlitz herkommt, bedeutet als Spur.« Was die Spur als Spur auszeichnet, ist dies, daß das, worauf sie möglicherweise verweist, nur vermutet, aber nicht rekonstruiert werden kann. Es ist unwiederbringlich vergangen. Aber es wirkt in der Gegenwart als rätselhafte Beunruhigung. »Die begriffliche Figur, welche die Doppeldeutigkeit – oder das Rätsel – dieses Anachronismus zeichnet, in dem sich ein Eintreten vollzieht, das später ist als der Rückzug und das folglich niemals in meiner Zeit enthalten war und das dergestalt unvordenkbar ist, nennen wir Spur.«13 Um die Metapher der Spur in ihrem spezifischen Sinn zu verstehen, muß man sehen, worin sie sich vom Zeichen unterscheidet. Dieser Unterschied wird zunächst nicht auffällig. Was wir normalerweise eine Spur nennen, etwa die Fährte eines Wildes, einen Fin264 | ludwig wenzler

gerabdruck, einen Kratzer auf einer Oberfläche, das ist gar nicht Spur im eigentlichen Sinn, sondern das ist immer noch Zeichen. Es läßt sich eindeutig einer Ursache zuordnen. Beim Zeichen gibt es eine eindeutige, geradlinige Verbindung zwischen der Wirkung und ihrer Ursache oder ihrem Urheber, ob diese Wirkung nun als aktueller Ausdruck oder als hinterlassener Abdruck hervorgebracht wird. Auch wenn Ursache oder Urheber im faktischen Fall unbekannt sein sollten, so sind sie doch grundsätzlich auffindbar. Kennzeichnend für die Spur dagegen ist, daß sie gerade nichts anzeigen will. Die Spur wird hinterlassen ohne Absicht oder sogar gegen die Absicht dessen, der sie verursacht hat (vgl. HAM 54 f.). So hinterläßt der Einbrecher eine Spur im eigentlichen Sinne erst dadurch, daß er seine Spuren verwischt; oder dadurch, daß er absichtlich falsche Spuren legt und man diese Absicht gegen seinen Willen erkennt. Die ohne Absicht hinterlassene Spur gibt keine eindeutigen Hinweise mehr. Dennoch ist eine Veränderung zurückgeblieben; durch das Verwischen der ursprünglichen, eindeutigen Spuren oder Zeichen ist etwas geschehen, auch wenn nicht mehr eindeutig festzustellen ist, was es war. Geblieben ist nur eine Störung der ›normalen‹ Ordnung, das heißt, der Ordnung, wie sie ohne diesen Eingriff bestehen würde. Man kann nur noch feststellen: Hier ist etwas ›passiert‹, hier ist jemand gewesen, er ist vorbeigegangen (passé), aber unwiderruflich weggegangen. Die ›Nicht-Direktheit‹ der Spur kehrt den natürlichen Zeitablauf um: Etwas tritt ein in mein Bewußtsein, nachdem und obwohl es sich schon wieder entzogen hat, es ist »auf aposteriorische Weise apriori« (HAM 57; vgl. EDE 201): »Die Spur ist die Gegenwart dessen, was, eigentlich gesprochen, nie dagewesen ist, was immer schon vorübergegangen ist.« Die Spur drückt genau das unzurückholbare Weggegangensein dessen aus, von dem sie ›verursacht‹ wurde. Der Gedanke an Gott fällt erst ein, nachdem wir geantwortet, nachdem wir gehorcht haben. Wenn mir Gott jedoch tatsächlich in den Sinn gekommen ist, dann kann der Gedanke an ihn nicht mehr ungeschehen gemacht werden; dann hat er mein Denken berührt; zugleich aber hat er sich aus jeder Gegenwart gelöst, er ist im radikalen Sinne ab-solut, vorübergegangen. Er ist zu groß für jede Gegenwart. Nur eine unsichere Spur ist geblieben. Es liegt an uns, wie wir die Spur lesen. »Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« | 265

Im Fall der Spur des Unendlichen besteht das ›Lesen‹ nicht darin, daß man ihr zu ihrem Ursprung folgt. Der Ursprung bleibt unerreichbar. Man folgt also nicht der Spur, sondern man folgt ihrem Geheiß (HAM 59): »Der geoffenbarte Gott unserer jüdischchristlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit, die in der personalen ›An-Ordnung‹ selbst liegt. Er zeigt sich nur durch seine Spur, wie im Kapitel 33 des Buches Exodus. Auf ihn zugehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen. Es heißt, auf die Anderen zugehen, die sich in der Spur dieser Illeität halten.«14 Weshalb verbirgt sich Gott? Gerade in seiner Abwesenheit zeigt sich eine andere Art von Nähe. Man kann dies so interpretieren: Wenn Gott sich nicht mit seiner sichtbaren Autorität hinter den Anderen stellt, dann vertraut er uns gerade darin den Anderen an und schenkt mit diesem Vertrauen eine Nähe, die mehr ist als jede Gegenwart. Gott sendet uns den anderen Menschen, doch er selbst will unbekannt bleiben, er will nicht gesehen werden. Nur den anderen Menschen sollen wir sehen. Nicht einer Spur, die zu Gott hinführt, sollen wir folgen, sondern einem Gebot, das uns auf den Nächsten verweist. Gott will sich uns in der Tat offenbaren, aber Gott will sich uns nicht in der Weise mitteilen, daß wir gar nicht anders können, als ihn anzuerkennen. Er verbirgt sich, um sich offenbaren zu können. Wenn Gott die Freiheit des Menschen nicht durch sein Übermaß überwältigen soll, dann muß er sich verbergen. Und ebenso verbergen muß er sich um des anderen Menschen willen; dieser soll als er selbst und nicht wegen einer befürchteten Sanktion oder einer erhofften Belohnung geachtet werden (HAM 54): »Die höchste Anwesenheit des Antlitzes ist untrennbar von dieser höchsten und unumkehrbaren Abwesenheit [sc. Gottes], welche die eigentliche Überlegenheit der Heimsuchung begründet.« ›Heimsuchung‹ meint sowohl die Last, die mir Gott mit der Verantwortung für den Anderen auferlegt, wie den ›Besuch‹, den er mir damit abstattet.15 Alle Rede von Gott sollte aus der Situation entspringen, in der Gott mir den Anderen anvertraut, selbst aber verborgen und gerade darin nahe bleibt – oder sollte sich auf diese Situation beziehen. Alles andere wäre Ideologie oder Idololatrie.

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5. Das unsichtbare Gottesurteil – gegen das Vernichtungsurteil der Geschichte Ein der Nicht-Phänomenalität der Spur vergleichbares Bedeuten Gottes hatte Levinas auch schon in Totalität und Unendlichkeit beschrieben (vgl. besonders TU 19–28; 318–358).16 Er analysiert dort die ambivalente Situiertheit des Subjekts angesichts der Totalität der Welt und der Geschichte. Einerseits gewinnt das Subjekt in seinem Sich-selbst-Behaupten eine gewisse Selbstständigkeit gegenüber der Welt, der Totalität alles Seienden, doch zugleich ist das Subjekt durch seine Herrschaft über das Seiende ebendiesem Seienden ausgeliefert. Eine Öffnung seiner Einsamkeit, ein Transzendieren, ein Ausbrechen bietet nur die Begegnung mit dem Anderen, nur das ethische Verhältnis, an. Was im alltäglichen Zusammenleben der Menschen geschieht, die Versuchung, dem Anderen Gewalt anzutun, das geschieht mit geradezu tödlicher Konsequenz in der Geschichte. Geschichte ist das Werk der Identifikation schlechthin, das Werk der absoluten Totalisierung (TU 66): »Wenn die Geschichte vorgibt, mich und den Anderen einem unpersönlichen Geist zu integrieren, so ist diese vorgebliche Integration Grausamkeit und Ungerechtigkeit, das heißt, sie kennt den Anderen nicht.« Levinas geht es darum, eine Geschichte zu denken, »der die Besiegten und die Verfolgten einen gewissen gültigen Sinn verleihen könnten« (DL 361). Die Geschichte geht einfach über das Individuum hinweg (TU 266): »[D]ie Geschichte […] erkennt nur den toten Menschen an.« In der Geschichte, die den Tod des Individuums voraussetzt, gibt es kein ethisches Verhältnis, kein ›Sprechen‹ mehr (TU 353): »Das Verdikt der Geschichte wird vom Überlebenden ausgesprochen; der Überlebende spricht nicht mehr mit dem Seienden, das er richtet.« Das ethisch handelnde Subjekt macht die kränkende Erfahrung, daß es von der Geschichte einfach stumm gemacht, ausgelöscht wird. Diese Kränkung ist innerhalb der Geschichte unsichtbar (vgl. TU 358). Sie wird einfach nicht bemerkt. So ist die Forderung des Subjekts nach einem Beistand gegen das Ausgelöschtwerden durch die Geschichte verständlich. Für seine Hoffnung auf ein Ausbrechen aus der Totalität sucht das Ich einen Anhaltspunkt, eine Bestätigung, es fordert ein gerech»Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« | 267

tes Urteil, eine ›Apologie‹.17 In der Apologie geht es nicht um eine Bestätigung des Willens zur Selbstbehauptung, sondern um eine Verteidigung jenes Ich, das durch seine ethische Beziehung zum Anderen sein ›für sich sein‹ aufgegeben hat; es will wissen, ob es wirklich ›richtig‹ handelt, wenn es scheinbar gegen seine Vernunft handelt; es will wissen, ob sein ethisches Handeln ›wahr‹ ist, ob es nicht durch die Moral und ebenso durch die Geschichte ›zum Narren gehalten‹ (TI IX) wird; ob es einen Sinn hat, ›gut‹ zu sein – auch gegen den Augenschein, gegen den offensichtlichen ›Triumph‹ der Geschichte (TI 218): »Der Wille, dessen Spontaneität und Meisterschaft der Tod bestreitet, […] strebt von sich aus danach, sich einem Urteil zu unterstellen und von dem Urteil die Wahrheit über sein eigenes Zeugnis zu erfahren.« Das Subjekt hat das Verlangen, es möge eine Instanz geben, die es gegen die Grausamkeit der Geschichte verteidigt. So kommt ihm der Gedanke in den Sinn, daß zumindest Gott diese unsichtbare Kränkung sehen und daß er mit seinem Urteil dem Opfer Gerechtigkeit verschaffen müsse (TI 221; Hervorhebungen durch L.W.): »Die Idee eines Urteils Gottes stellt die Grenzidee eines Urteils dar, das diese unsichtbare und wesentliche Kränkung berücksichtigt; […] andererseits ist die Idee des Urteils Gottes die Idee eines Urteils, das zutiefst diskret ist und die Stimme und die Revolte der Apologie nicht durch seine Majestät zum Schweigen bringt. Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden.« Diese Formulierung macht auf geradezu ironische Weise die Problematik, philosophisch von Gott zu reden, sichtbar. Das Denken findet sich einer zweifachen Unsichtbarkeit gegenüber. Die eigene Situation des denkenden Subjekts ist innerhalb der Geschichte unsichtbar – und jene Instanz außerhalb der Geschichte, die allein das Unrecht, das in der Totalität zugefügt wird, sehen könnte, ist ihrerseits unsichtbar. Im Bereich der Geschichte selbst ist die Apologie unsichtbar und unwirksam. Sie ist aber spurhafter Hinweis auf eine in einer geradezu tollkühnen Hoffnung zu erwartende Rechtfertigung durch ein Urteil Gottes. Levinas unterscheidet hier nicht zwischen der Forderung nach Gerechtigkeit für sich selbst und für den Anderen. Aus dem Kontext wird deutlich, daß die Forderung einer Apologie sowohl für den Anderen wie auch für das Subjekt, aber letzten Endes auch für die268 | ludwig wenzler

ses um des Anderen willen, erhoben wird (TU 367): »Die Apologie ist nicht blinde Bejahung des Selbst, sondern schon Appell an den Anderen.« Die Bedingungen dafür, daß dieses Urteil ›in Wahrheit‹ ergeht, daß es nicht eine Illusion ist, liegen in der Tatsache, daß es das ethische Verhältnis gibt, daß ein Sprechen mit dem Anderen möglich ist (TU 66): »Die Geschichte ist durchsetzt von den Brüchen der Geschichte, in denen ein Urteil über sie gefällt wird. Wenn der Mensch wahrhaft den anderen Menschen anspricht, wird er aus der Geschichte herausgerissen.« Doch dies geschieht eben nicht im Bereich der Sichtbarkeit, der feststellbaren Geschichte, sondern unsichtbar. Es gibt nur die ›Spur‹ – der Ausdruck wird in diesem Kontext noch nicht verwendet – der Hoffnung, der Hoffnung, daß ein unsichtbar bleibender Gott diese unsichtbare Apologie und Rechtfertigung des Opfers bestätigt. Für das Außerhalb (l’extériorité), das Jenseits der Geschichte, gibt es keine Garantie, es ist das Unsichtbare, die Utopie der Güte (TU 24): »Vom Frieden kann es nur eine Eschatologie geben.« Diese Eschatologie ist kein Heilsversprechen, sondern Ausdruck einer Hoffnung, die mir um des Anderen willen geboten ist (HAM 35): »Darauf zu verzichten, der Zeitgenosse des Triumphes seines [eigenen] Werkes zu sein, das heißt, diesen Triumph in einer Zeit ohne mich zu erblicken, diese Welt ohne mich zu erstreben, auf eine Zeit jenseits des Horizonts meiner Zeit auszusein: Eschatologie ohne Hoffnung für sich selbst […]. Sein für eine Zeit, die ohne mich ist, für eine Zeit nach meiner Zeit, jenseits des berühmten ›Seins zum Tode‹ – das ist kein banaler Gedanke […], sondern der Übergang in die Zeit des Anderen.« In jeder ethischen Beziehung scheint das unsichtbare Außerhalb der Geschichte auf: mit der ihm eigenen Evidenz, der Überzeugungskraft einer ›schwachen‹, gewaltlosen, ›gutartigen Gewalt‹. Deshalb ist Verantwortung letzten Endes ein »Sterben für das Unsichtbare« und genau »das ist die Metaphysik« (TU 38), nämlich ein Hinausgehen über das Sichtbare: e4pe2keina th/@ ou4sía@.

»Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« | 269

6. Gott ist abwesend im Leiden der Opfer – aber es bleibt seine Weisung (Tora) Noch einmal verschärft erfahren wird die Unsichtbarkeit und Abwesenheit Gottes in der Situation des Leidens, das den Unschuldigen widerfährt. Nach gerechtem Empfinden muß Gott hier eingreifen, darf er sich nicht zurückhalten. Trotzdem schweigt er. Gerade die Frage, warum Gott so viel Leid und Leiden zulasse, darf durch den Verweis auf die Unsichtbarkeit und Unbegreifbarkeit Gottes nicht abgewürgt, nicht als unzulässig erklärt und auch nicht beschwichtigend beantwortet werden. Levinas stellt sich dieser Situation in mehreren Aufsätzen; besonders eindrucksvoll ist ein kurzer Text von 1955 Aimer la Thora plus que Dieu.18 Levinas knüpft darin an die fiktive Erzählung eines damals noch anonymen Autors an: »Jossel, Sohn des Jossel Rakover aus Tarnopol, spricht zu Gott«.19 Der Autor des Textes spricht zu Gott in der Rolle eines Menschen, der im Warschauer Ghetto als einziger die unmenschliche Verfolgung und Qual seiner jüdischen Angehörigen durch die Naziherrschaft überlebt hat; ihm selbst bleiben nur noch wenige Augenblicke zu leben. Zusammen mit dem Autor des Textes stellt Levinas die Frage (DL 190; vgl SF20 110): »Was hat dieses Leiden der Unschuldigen zu bedeuten?« Muß es nicht verstanden werden als Beweis für eine Welt ohne Gott? Ist nicht die einzig mögliche Antwort auf die offensichtliche Abwesenheit Gottes der Atheismus (vgl. ebd.)? Das wäre die vernünftigste und normalste Reaktion für alle jene, »denen ein etwas einfältiger Gott bisher Preise verteilte, Sanktionen auferlegte oder Fehler verzieh und der, in seiner Güte, die Menschen als ewige Kinder behandelte« (ebd.). Jossel gibt eine andere Antwort. Denn genau unter diesem leeren Himmel erfährt er die Gewißheit Gottes »mit einer neuen Kraft«. Aus der Abwesenheit Gottes schließt er nicht auf dessen Nicht-Existenz. Vielmehr fühlt er sich gerade durch die Abwesenheit Gottes verpflichtet, die Verantwortung für den abwesenden Gott zu übernehmen (ebd.): »Denn wenn er [Jossel] so allein existiert, dann deshalb, um auf seinen Schultern alle Verantwortlichkeiten Gottes zu spüren.« Der Gedankengang, den Levinas vom Verfasser übernimmt, stellt eine äußerste Herausforderung für die Reife des Gläubigen 270 | ludwig wenzler

dar (ebd.): »Gerade durch die Leere des kindlichen Himmels manifestiert sich ein Gott für Erwachsene. Es ist der Augenblick, da Gott sich von der Welt zurückzieht und sein Antliz verhüllt (nach Jossel ben Jossel).« Für Jossel wie für Levinas offenbart das Leiden der Opfer »einen Gott, der, indem er auf jede hilfreiche Manifestation verzichtet, eben dadurch an die volle Reife des ganz und gar verantwortlichen Menschen appelliert« (DL 191; SF 111). Der Gedanke erscheint fast zu kühn, als daß ein Mensch wagen dürfte, ihn zu denken. Die Verantwortung für den abwesenden Gott zu übernehmen, das scheint zu viel verlangt, als daß man es einem Menschen zumuten dürfte. Der Gedanke kommt jedoch nicht aus dem Kampfesmut des Menschen, sondern gerade aus der Situation des Leidens, des Leidens, gegen das der Mensch im Namen der Gerechtigkeit protestiert. Gerade in diesem Widerstand kann dem Menschen »Gott in den Sinn kommen« – um den Ausdruck zu gebrauchen, den Levinas erst später prägen wird; hier formuliert Levinas noch »er kommt von innen« (ebd.): »Doch alsbald kommt dieser Gott, der sein Antlitz verhüllt und der den Gerechten seiner Gerechtigkeit ohne Triumph überläßt, – dieser ferne Gott – er kommt von innen.« Man kann fragen (ebd.): »Ein Gott, sein Antlitz verhüllend und [zugleich] als gegenwärtig und als mir innerlich erkannt – ist er möglich?« Er ist dann möglich, wenn man das unbedingte Gebieten des Gesetzes, das Gebot der Gerechtigkeit, als die eigentliche Offenbarung dieses Gottes betrachtet (DL 192; SF 112): »Das Vertrauen auf einen Gott, der sich durch keinerlei irdische Autorität kundgibt, kann nur auf der inneren Evidenz und dem Wert einer Unterweisung beruhen.« Dieser Gedanke ist die einzige ›Spur‹, die es erlaubt, in einer solchen Situation noch von Gott zu reden, ohne daß Gott als zynisch oder der Gedanke an ihn als absurd oder inhuman bezeichnet werden müßte. Das Gebot Gottes hat seine eigene Evidenz, die Evidenz des Guten. Diese »Evidenz der Moral, welche die Thora bringt« (ebd.), bleibt auch dann, wenn Gott selbst sich nicht manifestiert, wenn er abwesend ist. Deshalb muß man die Tora, die Lehre des abwesenden Gottes, mehr lieben als Gott selbst. Es ist eine gewaltlose Evidenz, sie zwingt nicht, sie läßt jeden Augenblick den Zweifel zu, aber sie läßt auch und noch mehr an »Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« | 271

Gott denken (ebd.): »Gott ist konkret nicht durch die Inkarnation, sondern durch das Gesetz; […] Seine Größe ruft nicht Furcht und Zittern hervor, sondern erfüllt uns mit überaus erhabenen Gedanken.« Deshalb wird der Mensch Gott lieben »trotz allem, was Gott versucht haben wird, um seine Liebe zu entmutigen« (DL 193; SF 113). Mit den Worten Jossels (DL 192; SF 112): »Ich liebe ihn, aber noch mehr liebe ich seine Thora … Und selbst dann, wenn ich von ihm enttäuscht oder gewissermaßen eines Besseren [über ihn] belehrt wäre, würde ich deswegen die Vorschriften der Thora nicht weniger beachten.« Die Tora, die gebietet, »jede Kreatur, die nach seinem [Gottes] Gleichnis gebildet ist, zu lieben« (ebd.), hat eine solche innere Überzeugungskraft, daß sie jedes Vertrauen auf den abwesenden Gott rechtfertigt. Es ist, in einem mit leidenschaftlicher Überzeugung und in nüchterner Ehrlichkeit geschriebenen Text, dieselbe Einsicht, die Levinas später in den philosophischen Überlegungen zur Spur aufweisen wird: Das Gebot der Verantwortung für den anderen läßt an Gott denken, mehr noch, läßt auf ihn vertrauen, auch dann, wenn er abwesend ist. Denn auch dann, wenn er unsichtbar bleibt und schweigt, spricht das Gebot, das an ihn denken läßt. Ein solches – bei aller religiösen Inspiration – nüchtern philosophisches Denken, für das nur die unbestreitbare Tatsache des Verantwortlich-Seins gilt, legitimiert eine Rede von Gott, die keine Behauptungen macht, keine Vertröstungen und keine Versprechungen gibt, die also keine ›Predigt‹ ist, aber einen Gott ahnen läßt, der dem Menschen zutraut, das Gute zu lieben – ohne Versprechen einer Belohnung. So kann Levinas – gewissermaßen als Resumée seiner philosophischen Überlegungen – die Frage wagen: »Treten wir in einen Augenblick der Geschichte ein, in dem das Gute geliebt werden muß ohne Versprechen? Das ist vielleicht das Ende aller Predigt. Befänden wir uns am Vorabend einer neuen Form von Glauben, eines Glaubens ohne Triumph, wie wenn der einzige unbestreitbare Wert die Heiligkeit wäre, wie wenn das einzige Recht auf die ausgleichende Belohnung das wäre, sie nicht zu erwarten? Die erste und die letzte Kundgabe Gottes wäre die, ohne Versprechen zu sein.«21

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Anmerkungen

Hans-Joachim Höhn: Gottes Fremde. Theologie in postsäkularen Konstellationen, hier: 181. 2 Vgl. zu den verschiedensten Positionen ausführlich und differenziert Norbert Fischer: Die Gottesfrage als Aufgabe der Metaphysik. 3 Vgl. Norbert Fischer: Vom Rang und vom Sinn der Gottesfrage in der Philosophie Kants. 4 Vgl. Peter Zeillinger: Jacques Derridas »Grundlegung« einer Theologie? (»Eine Theologie wäre sie möglich«), 172 f. mit Berufung besonders auf Johann Baptist Metz. 5 Ausführlicher bei Ludwig Wenzler: Menschsein vom Anderen her; ders.: Emmanuel Levinas. 6 Den Aufweis, wie das Unendliche als Unendliches im strikten Sinn gedacht werden kann, ohne daß dadurch das Denken des endlichen Menschen aufhört, Denken zu sein, und ohne daß die Unendlichkeit des Unendlichen durch das Gedachtwerden aufgehoben wird, entfaltet Levinas erstmals ausführlich 1957 in Die Philosophie und die Idee des Unendlichen. 7 Sur l’Idée de l’infini en nous, in: EN 245. 8 Wenn im folgenden nur die Stelle des französischen Textes angegeben ist, stammt die Übersetzung vom Verfasser. Da in Totalität und Unendlichkeit die Paginierung des französischen Textes aufgeführt ist, läßt sich der Kontext eines Zitates leicht feststellen. – Levinas formuliert die zitierte Aussage in bewußtem Gegensatz zu dem in der christlichen Theologie jahrhundertelang vertretenen Satz des Tertullian »anima […] naturaliter Christiana […]« (Tertullian: Apologeticum. Verteidigung des Christentums, hier: 17,6); vgl. Karl Rahner: »Anima naturaliter christiana«; beide Aussagen sind gültig, je nach der Perspektive, in der man sie liest; das ›naturaliter‹ meint keine abstrakte Wesensnatur, sondern die Tatsache, daß der Mensch schon immer in einer Geschichte lebt, in der ihm durch sein Gewissen eine Begegnung mit dem Anruf Gottes möglich ist. 9 Vgl. SdA 200–202; hier und auch in anderen Übersetzungen wird ›désir‹ mit ›Begehren‹ übersetzt; uns scheint die Übersetzung mit ›Verlangen‹ oder ›Sehnsucht‹ jedoch mehr dem von Levinas intendierten Sinn zu entsprechen. Désir ist hier nicht ein Begehren oder gar eine Begierde, die aus der Bedürft igkeit des Menschen entsteht, sondern ein Wollen für den anderen. 10 ›L’extérieur‹; besser wäre die Übersetzung ›das unendlich außerhalb Seiende‹ im Sinne von ›das Uneinholbare‹, ›l’ab-solu‹. 11 Zum ganzen Phänomen vgl. Ludwig Wenzler: Erfahrungen mit Gott. 12 Wenn sich Levinas in seinen philosophischen Texten auf die hebräische Bibel bezieht, dann führt er sie nicht an als religiöse Autorität, sondern als den Ausdruck einer ursprünglichen Erfahrung. 13 Un Dieu Homme?, in: EN 73. 14 Mit dem Neologismus ›Illeität‹ (illéité, wörtlich: Erheit, Jenerheit) will Levinas ausdrücken, daß es zu Gott keine direkte Beziehung wie zu einem gegenwärtigen Du geben kann; man kann von ihm eigentlich nur in der drit1

»Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden« | 273

ten Person sprechen; er ist immer ER, Jener, immer schon weggegangen, in einer Dimension uneinholbarer Vergangenheit; vgl. Bernhard Casper: Illéité. Zu einem Schlüssel»begriff« im Werk von Emmanuel Levinas. 15 In Diskussionen hat Levinas immer wieder auf die Gerichtspredigt Mt 25,31–46 hingewiesen. Auf die Frage: »Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben?« antwortet Jesus: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« 16 Zum ganzen Komplex vgl. Ludwig Wenzler: Ausbrechen aus der Totalität der Geschichte. 17 Das Verlangen des Ich nach Apologie wurde von Levinas in seinen späteren Schriften nicht weiter ausgeführt. 18 DL 189–193; deutsche Übersetzung: Die Tora mehr lieben als Gott, in: SF 109–113. 19 Zu der Zeit, als Levinas seinen Text schrieb, war der Autor unbekannt. Es handelt sich um Zvi Kolitz; vgl. Paul Badde: Zvi Kolitz. Der Text selbst, obwohl wenig bekannt, gehört nach der Meinung vieler zum Erschütterndsten und Bedenkenswertesten, was in der Weltliteratur zu fi nden ist. 20 Die Übersetzung von Eva Moldenhauer ist im allgemeinen zuverlässig; ich verwende dennoch meist eine eigene Übersetzung, die m. E. besser – und sei es nur in Nuancen – die Intention des Textes von Levinas trifft; in solchen Fällen nennen wir jeweils zuerst die Stelle des französischen Textes, danach erst deren deutschen Übersetzung. 21 La proximité de l’autre, in: Altérité et transcendance, 119.

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Siglenverzeichnis

1. Siglen zu Schriften von Levinas

AQ DD DE DL DMT DQVI DSS EDE GuP HAH HAM JS LC MHO Œuvres I Œuvres II PRPP SF SdA TI TU UG VS WG ZA ZU

Autrement qu’être ou au-delà de l’essence De Dieu qui vient à l’idée De l’évasion Difficile liberté Dieu, la mort et le temps De Dieu qui vient à l’idée Du sacré au saint En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger Gott und die Philosophie Humanisme de l’autre homme Humanismus des anderen Menschen Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht Liberté et commandement Martin Heidegger et l’ontologie Carnets de captivité et autres inédits Parole et silence et autres conferences inédits Le primat de la raison pure pratique Schwierige Freiheit Die Spur des Anderen Totalité et Infini Totalität und Unendlichkeit Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte Vom Sein zum Seienden Wenn Gott ins Denken einfällt Die Zeit und der Andere Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen

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2. Weitere Siglen

AA an. quant. AT AZ conf. EPF EsD FM FW: GA GDMH GGW GMS HA Hua Ideen I Io. ev. tr. KA KBDS KGkM KMR KpV KrV KSA KuK Logik MAA Mp ord. OVM PFG Principia QC RGV s.

Kant: Akademie-Ausgabe Augustinus: De animae quantitate Descartes: Œuvres de Descartes. Hg. von Adam und Tannery Augustinus: Was ist Zeit? Confessiones XI / Bekenntnisse 11 Augustinus: Confessiones Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17) Beyssade: Etudes sur Descartes Kant: Fortschritte in der Metaphysik (AA 20) Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (KSA 3) Heidegger: Gesamtausgabe Fischer/von Herrmann (Hg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Goethe: Hamburger Ausgabe Husserliana (Edmund Husserl: Gesammelte Werke) Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie Augustinus: In Johannis evangelium tractatus Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe Heidegger: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus Fischer (Hg.): Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik Fischer (Hg.): Kants Metaphysik und Religionsphilosophie Kant: Kritik der praktischen Vernunft Kant: Kritik der reinen Vernunft Nietzsche: Kritische Studienausgabe Fischer (Hg.): Kant und der Katholizismus Kant: Logik (AA 9) Fischer/Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas Aristoteles: Metaphysik Augustinus: De ordine Heidegger: Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik (GA 11) Fischer: Die philosophische Frage nach Gott Descartes: Principia philosophiae Marion: Questions Cartésiennes Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Augustinus: Sermones

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S.c.g. SO SpmD SthbD: SuZ SwL TG UzS VPR VTP WC WiM WL

Thomas von Aquin: Summa contra gentiles Rilke: Sonette an Orpheus Marion: Sur le prisme métaphysique de Descartes Marion: Sur la théologie blanche de Descartes Heidegger: Sein und Zeit Augustinus: Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X / Bekenntnisse 10 Kant: Träume eines Geistersehers (AA 2) Heidegger: Unterwegs zur Sprache Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton (AA 8) Feuerbach: Das Wesen des Christentums Heidegger: Was ist Metaphysik? (GA 9) Hegel: Wissenschaft der Logik

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Literaturverzeichnis

1. Zitierte Ausgaben der Werke, Schriften und Briefe von Emmanuel Levinas (1906–1995)

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und Christoph von Wollzogen am 20. Dezember 1985 in Paris. In: Levinas, Emmanuel: Humanismus des anderen Menschen. Übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Wenz ler. Hamburg: Meiner 1989, 131– 150. Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. La Haye: Nijhoff 1974. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Aus dem Franz. übers. von Thomas Wiemer. Freiburg/München: Alber 1992; 42011. Noms propres. Montpellier: Fata Morgana 1976. Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur. Textauswahl und Nachwort von Felix P. Ingold. Aus dem Franz. von Frank Miething. München/Wien 1988. Du sacré au saint. Paris: Minuit 1977. Le temps et l’Autre. Montpellier: Fata Morgana 1979; Paris: PUF ²1983. Die Zeit und der Andere. Übers. und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. Hamburg: Meiner ³1995. Dialog. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Hg. von Franz Böckle u.a., Freiburg/Basel/Wien: Herder 1981, 61–85. De Dieu qui vient à l’idée. Paris: Vrin 1982; 21992. Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. Aus dem Franz. übers. v. Thomas Wiemer. Mit einem Vorwort v. Bernhard Casper. Freiburg/München: Alber 31999. Gott und die Philosophie. In: Casper, Bernhard (Hg.): Gott nennen. Phänomenologische Zugänge. Freiburg/München: Alber 1981, 81–123. [Franz.: De Dieu qui vient à l’idée. Paris: Vrin ²1992, 93–127.] Éthique et Infini. Dialogues avec Philippe Nemo. Paris: Fayard 1982. Ethik und Unendliches. Gespräche mit P. Nemo. Hg. von Peter Engelmann, übers. von Dorothea Schmidt. Wien: Passagen-Verlag 42008. De l’évasion. Montpellier: Fata Morgana 1982. Ausweg aus dem Sein. Fr./dt. Mit den Anmerkungen von Jacques Rolland. Übers., mit einer Einleitung und Anm. hg. von Alexander Chucholowski. Hamburg: Meiner 2005. Transzendenz und Verstehen. In: Michalski, Krzysztof. (Hg.): Der Mensch in den modernen Wissenschaften. Castelgandolfo-Gespräche 1983. Stuttgart: Klett-Cotta 1985, 171–184. Hors sujet. Montpellier: Fata Morgana 1987. Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie. Hg. und aus dem Franz. übers. von Frank Miething. München/Wien: Hanser 1991. À l’heure des nations. Paris: Minuit 1988. De l’oblitération. Entretien avec Françoise Armengaud. Paris: La Différence 1990. Von der Ethik zur Exegese. In: Parabel. Lévinas. Schriftenreihe des Evangelischen Studienwerks Villigst, Bd. 12. Gießen: Focus 1990, 13–16. Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre. Paris: Grasset 1991. 280 | Literaturverzeichnis

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3. Weiterhin zitierte Literatur

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292 | Literaturverzeichnis

Personenregister

Adam, Charles 22 Adorno, Theodor W. 114 Alquié, Ferdinand 23, 27, 37, 48 Angelus Silesius 35 Anselm von Canterbury 12, 16 Aristoteles 26, 33, 65, 83 f., 95, 103, 122, 142, 248 Augustinus 16, 19 f., 31, 34, 45, 52 ff., 59 f., 63 f., 67, 70, 72, 74–78, 82 f., 90, 95, 115, 129, 145, 256, Austin, John, L. 114 Avicenna 42 Badde, Paul 274 Benso, Sylvia 98 Bergo, Bettina 96 f. Bernasconi, Robert 219, 229, 285 Beyssade, Jean-Marie 22, 24 f., 47 Blondel, Maurice 78 Boothroyd, David 96, 98 Brandt, Reinhardt 81, 84 Brumlik, Micha 98 ff. Buber, Martin 62, 69, 134, 216, 238 f., 241, 243 f., 250 ff. Buddha 14 Calin, Rodolphe 114 Calvin, Jean 19 Canetti, Elias 257 Casper, Bernhard 113, 185, 274 Caterus 34 Chalier, Catherine 184 Ciocan, Christian 114 Cohen, Hermann 69

Cohen, Richard A. 97, 157 Coriando, Paola-Ludovica 76 Cramer, Konrad 70 Cusanus / Nikolaus von Kues 40, 80, 84, 242, 251 De Boer, Theodore 155 De Saint Cheron, Michaël 248, 251 Derrida, Jacques 84, 151–157, 185, 217, 273 Descartes, René 14, 16 ff., 20–34, 36–42, 44–48, 68 f., 104, 134, 139 ff., 143, 146 f., 150, 156, 169, 171, 173, 176 f., 222, 245, 248, 252 Dionysius Areopagita 32 Dionysos 88 Eckhart (Meister Eckhart) 106 Esterbauer, Reinhold 156 f. Feuerbach, Ludwig 16 f., 62, 89 Fichte, Johann Gottlieb 16 f., 47, 156 Fischer, Norbert 67–70, 73, 75–83, 129, 155 f., 184, 249, 273 Forschner, Maximilian 69 Franck, Didier 229 Franz von Assisi 16 Freyer, Thomas 99 Gassendi 33 Goethe, Johann Wolfgang Greisch, Jean 47, 69 Guéroult, Martial 23

75

| 293

Hansel, Georges 114 Hattrup, Dieter 68, 129 f. Havel, Ivan 250 Havel, Václav 237 f., 250 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15 f., 35, 37, 52, 67, 70, 84, 113, 133, 140 f., 151, 193 Heidegger, Martin 11 ff., 15, 18, 21 f., 24 f., 29, 36, 39, 49–56, 60–83, 85, 104–107, 113 f., 119, 129, 133 ff., 137 ff., 144, 148, 150 ff., 155 ff., 160, 162, 167, 184, 206 f., 212 ff., 217, 219, 225, 228, 248, 250, 256 Heidegger, Elfride (geb. Petri) 77, 81 f. Heisenberg, Werner 102, 113 Henrix, Hans Hermann 100 Henry, Michel 21, 25 Heraklit 84 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 69–74, 77 f., 81, 83 Hitler, Adolf 112 Hobbes, Thomas 96 Höhn, Hans-Joachim 273 Huizing, Klaas 99 Humes, David 136 Husserl, Edmund 21, 45, 49 f., 104, 113, 133 f., 143 f., 146 ff., 151 f., 155 f., 166, 183, 234, 241, 158 Janicaud, Dominique 153, 157 Jaspers, Karl 250 Jehuda Halevi 42 Johannes Damascenus 33 Johannes Duns Scotus 16, 73 Jüngel, Eberhard 16 ff., 47 Jünger, Ernst 114 Kant, Immanuel 16, 39, 49 ff., 56–71, 73, 75, 78–85, 101 f., 113 ff., 119–124, 126–130, 133–139, 145, 155 ff., 216, 237, 248 f., 253, 256, 273 Kierkegaard, Sören 102 294 | Personenregister

Klun, Branko 67, 155 f., 184 Kolitz, Zvi 274 Krewani, Wolfgang Nikolaus 68, 76, 99, 129, 185, 251 Krockow, Christian von 114 Krüger, Gerhard 253 Lacoste, Jean-Yves 47 Leibniz, Gottfried Wilhelm 38 f., 248

16,

Malebranche, Nicolas 39 Marcel, Gabriel 69, 185, 243 Marion, Jean-Luc 21 ff., 25 f., 29, 32–39, 44, 47 f., 157 Matthäus (Evangelist) 99 Merleau-Ponty, Maurice 36, 48 Mersenne, Marin 21 f., 29, 47 Messina, Aicha Liviana 98, 100 Metz, Johann Baptist 273 Mohr, Georg 70 Moldenhauer, Eva 274 Morgan, Michael L. 155, 157, 185 Mose 263 Müller, Max 51, 71 Nietzsche, Friedrich 13, 16 ff., 50, 63, 73, 83, 87 f., 91 f., 95–98, 100, 256 Nikolaus von Kues / Cusanus 40, 80, 84, 242, 251 Nothomb, Amélie 36 Oltmanns, Käte 106 Otto, Rudolf 184 Parmenides 68, 84, 140 f., 151 Pascal, Blaise 42, 70, 87, 95 f., 114 Picot, Claude (Abbé Picot) 23 Platon 44, 52, 54, 58, 62 ff., 68, 72, 76, 82 ff., 88, 93, 102, 113 f., 119, 128, 135, 140, 142, 148, 156, 227, 245 f., 252 f.

Plotin 44, 48, 72, 119 Plüss, David 185 Poirié, François 250 Poorthuis, Marcel 185 Prauss, Gerold 73 Puntel, Lorenz 153 f., 157 Purcell, Michael 155 Putna, Martin C. 250 Rahner, Karl 273 Ricœur, Paul 21, 152 f., 157, 236, 238, 240 f., 250 f. Rilke, Rainer Maria 55, 70, 73, 78 Rolland, Jacques 98, 228 f. Rosenzweig, Franz 44, 69, 110, 114, 134, 157, 233, 249 Rößner, Christian 155 f. Sala, Giovanni B. 81, 85, 130 Sartre, Jean-Paul 212 Scheler, Max 84 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 16, 71 Schleiermacher, Friedrich 15, 82 Schmitt, Carl 114 Schroeder, Brian 97 f. Schwaiger, Clemens 130 Semplici, Stefano 113 Siegmund, Georg 97 Sirovátka, Jakub 67, 69, 79, 183, 248, 250, 253 Sokrates 68, 83, 135 Spinoza, Baruch de 16, 25, 31 ff., 36, 39, 92, 141

Staudigl, Barbara 98 Stauffer, Jill 96 f. Stegmaier, Werner 97 f. Stendhal 96 Strasser, Stephan 68, 79 Süsske, Rudolf 100 Taureck, Bernhard H.F. 99 Tertullian 273 Theunissen, Michael 84, 129, 156, 250 Thomas von Aquin 16, 33, 84, 102, 140 ff., 251, 256 Tömmel, Tatjana Noemi 75 Vian, Boris

13 f.

Welte, Bernhard 227 Welten, Ruud 184 Wenzel, Uwe Justus 85, 130 Wenzler, Ludwig 84, 129, 184, 250, 273 f. Wickler, Wolfgang 114 Wiemer, Thomas 250 Willaschek, Marcus 70 Wohlmuth, Josef 98 Wolzogen, Christoph von 249 Wyller, Egil A. 72, 84 Zeillinger, Peter 273 Zwierlein, Eduard 83, 96

Personenregister | 295

Weitere von Norbert Fischer herausgegebene Bücher Augustinus – Spuren und Spiegelungen seines Denkens Band 1 Von den Anfängen bis zur Reformation 2009. 283 Seiten. 978-3-7873-1922-0. Kartoniert (eBook 978-3-7873-2046-2) Band 2 Von Descartes bis in die Gegenwart 2009. 358 Seiten. 978-3-7873-1923-7. Kartoniert (eBook 978-3-7873-2047-9) Aurelius Augustinus Suche nach dem wahren Leben Confessiones X / Bekenntnisse 10. Lateinisch-Deutsch. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Norbert Fischer. PhB 584. 2010. XCI, 188 Seiten. 978-3-7873-1991-6. Kart. (eBook 978-3-7873-2007-3) Was ist Zeit? Confessiones XI / Bekenntnisse 11. Lateinisch–deutsch. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Norbert Fischer. PhB 534. 2. Aufl. 2009. LXIV, 142 S. 978-3-7873-1942-8. Kart. Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹. 2010. 431 Seiten. 978-3-7873-2126-1. Kart. (eBook 978-3-7873-2206-0)

Hrsg. von Norbert Fischer und Friedrich-Wilhelm von Herrmann Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers 2011. 239 Seiten. 978-3-7873-2191-9. Kartoniert Heidegger und die christliche Tradition Annäherungen an ein schwieriges Thema. 2007. 288 Seiten. 978-3-7873-1816-2. Kartoniert (eBook 978-3-7873-2048-6)

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