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German Pages 304 Year 2015
Vittoria Borsò das andere denken, schreiben, sehen
2008-05-07 15-44-16 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02f1178126855484|(S.
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Vittoria Borsò (Prof. Dr. phil.) lehrt romanische Literatur- sowie Kultur- und Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben Lateinamerika- und Europastudien kulturelle Topographien, Migration, Transkulturalität und Hybridität, Medialität und Gedächtnis sowie die Ästhetiken von Barock, Neobarock und Moderne. Heike Brohm (Dr. phil.) ist Privatdozentin für italienische und französische Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die phänomenologische Theorie der Literaturwissenschaft, der italienische Neorealismus sowie die Theorie der Grenzräume in der italienischen und französischen Literatur. Vera Elisabeth Gerling (Dr. phil.) lehrt in den Studiengängen Romanistik, Literaturübersetzen sowie Medien und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Übersetzungstheorie, Literaturübersetzung, Gender Studies sowie Literatur aus Lateinamerika. Björn Goldammer (Dr. phil.) lehrt als Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in den Studiengängen Romanistik, Literaturübersetzen, Medien- und Kulturwissenschaft sowie »The Americas/Las Américas/Les Amériques«. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die hispanoamerikanische Literatur (insbesondere die mexikanische und argentinische Literatur der Moderne und »Postmoderne«), Theorie und Praxis der literarischen Übersetzung, Transkulturalität und Übersetzung. Beatrice Schuchardt (Dr. phil.) lehrt romanische Literatur-, Kulturund Medienwissenschaft an der Universität Siegen. Sie forscht zu intermedialen Grenzziehungen und -überschreitungen zwischen Lateinamerika und den USA, zu der Bedeutung des Mediums Bild für postkoloniale Geschichtsdarstellungen und zu weiblichem Schreiben im Kontext von Exil und Migration.
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Vittoria Borsò das andere denken, schreiben, sehen. schriften zur romanistischen kulturwissenschaft (hg. von Heike Brohm, Vera Elisabeth Gerling, Björn Goldammer und Beatrice Schuchardt)
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Der Druck dieser Publikation wurde aus Fördermitteln der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität e.V. ermöglicht.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Vera Elisabeth Gerling Lektorat: Heike Brohm, Vera Elisabeth Gerling, Björn Goldammer, Jenny Jensen, Beatrice Schuchardt Satz: Vera Elisabeth Gerling Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-821-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Vorwort 7
Zum Geleit: Anders als… BERNHARD WALDENFELS 9 DAS ANDERE DENKEN
Michel Foucault und Emmanuel Levinas – zum ethischen Auftrag der Kulturwissenschaften 23
Utopie des kulturellen Dialogs oder Heterotopie der Diskurse? 49
Foucault und Binswanger: der Traum, der Tod und der Andere 79 DAS ANDERE SCHREIBEN
Grenze und Entgrenzung. Konvergenzen der Moderne bei Giuseppe Ungaretti 97
Baudelaire, Benjamin und die Moderne(n) 127
Proposte della letteratura del Novecento per il nuovo millennio: Lezioni Americane di Italo Calvino 155
DAS ANDERE SEHEN
›Zeitbild‹ – Bildräume. Visualität und Zeitlichkeit in Gustave Flauberts Salammbô 183
Luis Buñuel: Film, Intermedialität und Moderne 209
Pasolinis Decameron oder eine kinematographische ›Divina Mimesis‹ – Mediale Schwellen zwischen Malerei und Film 233
Medienkultur: Medientheoretische Anmerkungen zur Phänomenologie der Alterität 261
Bibliographische Nachweise 299
VORWORT Dieser Band stellt eine Auswahl aus dem umfangreichen Werk einer Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaftlerin dar, welche die Debatten um die Wahrnehmung des Anderen nicht nur in den deutschen Geisteswissenschaften nachhaltig geprägt hat: Vittoria Borsò. Als Inhaberin eines Lehrstuhls für Romanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat sie ihre Forschungen ebenso dem anderen Denken wie dem Denken des Anderen gewidmet. Ihre Untersuchungen verschiedener Schreib- und Sichtweisen des Anderen, aber auch das Aufzeigen eines aus dem Fremdkontakt resultierenden anderen Schreibens und Sehens haben wesentlich zur Erkenntnis über all jene Erfahrungen beigetragen, die aus den radikalen Erschütterungen resultieren, mit denen das Andere den Menschen konfrontiert. Dabei haben Vittoria Borsòs Studien gezeigt, dass ein solches Tremendum nicht nur die Fremdbegegnung, sondern auch die Erkenntnis über das im Eigenen entspringende Fremde auszeichnet – ein Denkansatz, der in seiner Differenziertheit eine wesentliche Voraussetzung für den Dialog zwischen Kulturen und Individuen bildet. Dieser Band vereint in Form einer Essaysammlung die zentralen Beiträge Vittoria Borsòs zum anderen Denken, Schreiben und Sehen. Hier wird ersichtlich, dass die Autorin durch die frühe kulturwissenschaftliche Ausrichtung ihrer Schriften nicht nur an der Diffusion, vielmehr bereits an der Entstehung all jener wissenschaftlichen Diskurse beteiligt ist, welche nunmehr unter dem Kollektivum der »Cultural Turns« (Bachmann-Medick) zusammengefasst werden. Zum anderen offenbaren sowohl die zu Grunde gelegten theoretischen Ansätze Vittoria Borsòs wie auch ihre Wahl der Untersuchungsobjekte in konstanter Weise die Zielsetzung, neue, auch provokante Denkanstöße zu liefern und dabei zugleich ethischen Ansprüchen zu folgen. Im vorliegenden Band finden sich Texte, die sich europäischen Kontexten widmen, da eine Sammlung mit Schwerpunkt auf ihren Publikationen zu Lateinamerika später noch folgen soll. Die Artikel wurden leicht redigiert und aktualisiert. Zudem wurden Illustrationen hinzugefügt, die im Originalkontext nicht vorhanden waren. Auf den ursprünglichen Publikationsort wird jeweils in der ersten Fußnote hingewiesen, und am Ende findet sich zudem eine Auflistung der entsprechenden bibliographischen Hinweise. Auch bei Verweisen 7
DAS ANDERE DENKEN, SCHREIBEN, SEHEN
von einem Text zum anderen werden die jeweiligen Seitenzahlen im vorliegenden Band genannt, um die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Texten aufzuzeigen. Unser besonderer Dank gilt der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf für die finanzielle Ermöglichung dieser Publikation. Für die freundliche Genehmigung zum Abdruck danken wir den Verlegern und Herausgebern der Erstausgaben. Großer Dank gilt auch Frau Jenny Jensen für umsichtige und engagierte Redaktionsarbeiten. Düsseldorf im Mai 2008 Die Herausgeber
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ZUM GELEIT: ANDERS
ALS…
BERNHARD WALDENFELS Gibt es nicht Augenblicke im Leben, wo auch der hartnäckigste Forscher in die Irre geht und sich die Frage stellt »ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht«1? Es ist der späte Foucault, der in der Einleitung zum Gebrauch der Lüste diese Frage aufwirft. Doch eine solche Frage versteht sich nicht von selbst. In Zeiten der Metaphysik, als das Denken sich auf eine allumfassende Ordnung stützte, war an tiefgreifende Änderungen nicht zu denken. Schon die Änderung der Tonarten und Rhythmen macht sich verdächtig, wenn wie in Platons Staat alles auf Harmonie und Eurhythmie abgestimmt ist. Als man sich dann in der Neuzeit um die Herstellung einer besseren Ordnung bemühte, wurden Abweichungen zwar begrüßt, aber nicht ohne selbst wieder zensiert zu werden. Es gab gute Abweichungen, die einen Fortschritt verhießen, und schlechte Abweichungen, die man eines Rückschritts verdächtigte. Was man bei Andersdenkenden tolerierte, war bestenfalls ein anderer Weg, kein anderes Ziel oder Gesetz. Heute, in Zeiten der so genannten Postmoderne, gibt man sich gern mit Ordnungen zufrieden, die einfach andere Ordnungen sind. Doch so bleibt es bei bloßen Möglichkeiten, die jederzeit durch andere zu ersetzen wären. »[…] Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein«2, so räsoniert Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, der sich in Musils frühen Entwürfen einfach Anders nennt. Ebenso gut auch anders? Die ästhetische Existenz im Sinne Kierkegaards hätte das letzte Wort, alles Weitere wäre Schall und Rauch. In Notfällen, die nicht ausbleiben, springt die altbewährte Wirklichkeit traditioneller Ordnungen in die Bresche oder eine flexible Wirklichkeit, die sich auf funktionale Ordnungsmechanismen stützt: Ein ›So und nicht anders‹ als Ausflucht. Es 1
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Michel Foucault: L’usage des plaisirs, Paris: Gallimard 1984, S. 14f.; dt.: Der Gebrauch der Lüste, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 15. Diese Schrift erschien in Foucaults Todesjahr. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders.: Gesammelte Werke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 3-1356, hier S. 19 (meine Hervorhebung). 9
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stellt sich die Frage, ob das Andere nicht letzten Endes mehr sein muss als ein bloßes Anderes, um dem Sog zur Normalisierung und Funktionalisierung zu widerstehen. Könnte es nicht sein, dass vom Anderen Ansprüche ausgehen, denen man nicht aus dem Weg gehen kann, die aber dafür neue Wege eröffnen? Kein anderer als Gilles Deleuze, ein Weggefährte Foucaults, schreibt in seinem Proust-Buch: »Das Leitmotiv der wiedergefundenen Zeit ist das Wort zwingen (forcer): Eindrücke, die uns hinzuschauen zwingen, Begegnungen, die uns zu interpretieren zwingen, Ausdrücke, die uns zu denken zwingen.«3 Gibt es vielleicht eine Kraft des Anderswerdens, die nicht mit Lyotards ›großen Erzählungen‹ steht und fällt? Foucault gebraucht das schlichte Adverb autrement. Dahinter steht keine ›naive Positivität‹, die sich dingfest machen ließe; denn dann wäre das Neue nur das Alte von morgen. Das autrement que… verweist jedoch auf Wissens-, Handlungs- und Lebensformen, von denen das Neue sich abhebt. Das Alte lässt sich weder im positiven noch im negativen Sinne aufheben. Hinter der positiven Aufhebung steht eine Dialektik, die alles Zeitliche seiner Atempausen, seiner Sprünge und Brüche beraubt, indem es Zeitliches auf den Begriff bringt. Hinter der negativen Aufhebung steht umgekehrt die naive Negativität einer Tabula rasa, die sich selbst ihrer Sprache beraubt. Maurice Merleau-Ponty, dem Foucault näher stand, als er es je zugeben mochte, spricht in Anlehnung an die russischen Formalisten von einer déformation cohérente, einer Verformung, die bestehende Formen umarbeitet. Die ›kritische Arbeit des Denkens an sich selber‹4, die Foucault anmahnt, ist immer auch eine kritische Arbeit an der Tradition, die wir uns sowenig aussuchen können wie unseren Leib oder unsere Vorfahren. Es stellt sich dann allerdings die Frage, was jeweils an der Zeit ist und was zur Umarbeitung ansteht. Wenn wir uns nicht auf das Urteil selbsternannter Auguren verlassen wollen, so bleibt nur die Diagnose, ein unterscheidendes Erkennen, das sich in den Zwischenräumen des Wissens bewegt. Doch seien wir hartnäckig. Woraus erwächst die Unruhe, die einen Umschwung oder einen Umbruch bewirkt? Aus der Neugier? Von der Neugier, der Hans Blumenberg so große Dinge zutraut, spricht auch Foucault. Doch würde die Neugier einer bloßen Assimilationslust folgen, so würde sie auf den Bahnen eines Wissenwollens verharren, dessen Antriebskräfte im Dunklen blieben. Sicherlich ist überall dort, wo Ordnungen mit Kontingenz behaftet sind und wo das ›Es gibt Ordnung‹ keine 3
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Gilles Deleuze: Proust et les signes, Paris: Pr. Univ. de France 1976, S. 117; dt.: Proust und die Zeichen, übersetzt von Henriette Beese, Frankfurt/Main: Ullstein 1978, S. 79. M. Foucault: Der Gebrauch der Lüste, S. 15. 10
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zureichenden Gründe auf seiner Seite hat, immer auch Macht im Spiel. Die Machtstrategie gehört geradezu zu den Markenzeichen des foucaultschen Denkens, wobei manche vergessen, dass für Foucault Macht niemals ohne Gegenmacht auftritt und dass auch Macht nicht ohne eine militante Form der Andersheit denkbar ist. Doch wäre dies alles, so wäre das Denken letzten Endes Sache eines reinen Kräftespiels. Foucault ist mit Nietzsche, dem er entscheidende Anstöße verdankt, nie ins Reine gekommen. In dem Text aber, aus dem wir hier zitieren, tut er, was er selten tut. Er siedelt das Andersdenken, Anderssehen und Anderswerden auf der Schwelle zwischen Eigenem und Fremdem an. Zustande kommt es nur, wenn es dem Erkennenden gelingt, »sich von sich selber zu lösen« und sein »eigene[s] Denken« an einem Wissen zu erproben, ›das ihm fremd ist‹: »Der ›Versuch‹ – zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selber [im Spiel der Wahrheit; B.W.] und nicht als vereinfachende Aneignung des andern [autrui; B.W.] zu Zwecken der Kommunikation«5. Nehmen wir Foucault beim Wort, so kündet sich der/die Andere (nicht nur das Andere) in dem an, was nicht assimilierbar und nicht kommunikabel ist. Doch reichen diese sparsamen Andeutungen aus, um dem Fremden Ansprüche und Einsprüche zuzugestehen, die unsere eigenen Möglichkeiten nicht nur verändern, sondern durchbrechen? Eine Selbständerung im und durch das Verstehen wird auch ein Hermeneutiker gern zugestehen, wenn nur der Sinn gewahrt bleibt. Also eine bloße ›Hermeneutik des Selbst‹, wie einer der späten Titel lautet? Foucault war an Qualifikationen, wie sie ein gutes College-Programm erfordert, nie sonderlich interessiert. Sein Kokettieren mit verschiedenen Begriffsregistern zwingt allerdings zur Selektion. Der Foucault, den Vittoria Borsò in der frühesten der vorliegenden Studien bei der Konfrontation von Dialog und Diskurs vorstellt, ist der Diskurstheoretiker, der den Diskurs zugleich als geregelte Wissensform wie als diskontinuierliche Wirkungsform beschreibt. Damit stößt die literarische Textanalyse über ihr literaturwissenschaftlich gewonnenes Wissen hinaus auf die ›Provokation des ›Anderen‹‹. Doch bedeutet dieses ›Andere‹, das durch die Anführungszeichen zusätzlich verunsichert wird, mehr als die Andersheit anderer Diskurse und wieder anderer Diskurse, die in einem »transzendentalen« oder gar »gnadenlosen Historismus« enden würde, wie Jürgen Habermas argwöhnt?6 Der Abschnitt aus dem Gebrauch der Lüste, aus dem wir zitiert haben, endet mit einer Berufung auf die pratiques de soi. Von ihnen wie auch von techniques, von exercise oder souci de soi ist immerfort die Rede, ohne 5 6
M. Foucault: Der Gebrauch der Lüste, S. 15f. Vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 296. 11
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dass die Selbstsorge durch Fürsorge ergänzt oder durch moralische Vorschriften abgesichert würde. Doch dann müsste die Andersheit auf andere Weise radikalisiert werden, um den Zirkel der Selbstsorge und die Schranken der Diskurse definitiv zu überschreiten. Unsere Autorin bemüht sich um eine solche Radikalisierung, indem sie gleich zu Anfang Foucault und Levinas auf ungewohnte Weise zusammenführt und die Ethik des Selbst in einer Ethik des Anderen gipfeln lässt. Die Irritation, die vom Anderen ausgeht, bedeutet mehr als eine weitere Möglichkeit des eigenen Selbst und mehr als ein zusätzlich zu bearbeitendes Thema. Andersdenken besagt nicht bloß anders oder Anderes denken, sondern vom Anderen her denken. Foucaults Destabilisierung der Diskurse nähert sich diesem Punkt auf indirekte Weise, indem sie Raum schafft für eine ›das Selbst in Frage stellende Ethik‹. Mit diesem Brückenschlag betritt die Autorin den Boden einer Phänomenologie des Fremden. Fremdes, das einer Fremderfahrung entspringt, die alle Möglichkeitsbedingungen überschreitet, ist kein bloß relativ Fremdes, dessen Tage gezählt sind, sondern ein radikal Fremdes, das weder aus eigenen Intentionen und Entwürfen gewonnen, noch in gemeinsame Regeln überführt werden kann. Es gehört im übrigen zu den Geheimnissen der Pariser Gesellschaftskulissen, wie es sein konnte, dass Foucault und Levinas beide zu einer Blanchot-Nummer der Zeitschrift Critique aus dem Juni 1966 einen Beitrag beisteuerten, ohne dass einer von beiden öffentlich je auch nur eine Silbe über den anderen verloren hätte. Die beiderseitige Anhängerschaft hält vielfach auch heute noch Abstand voneinander. Dass unsere Autorin zu denen gehört, die diese Apartheidpolitik nicht mitmachen, kann man nur begrüßen. Die schwierige Annäherung der Fronten, die hier versucht wird, schlägt sich nieder in einer sich wandelnden Terminologie. Wenn es um die Andersheit des Anderen geht, benutzt die Autorin durchweg die latinisierte Form ›Alterität‹, ähnlich wie man im Französischen auf ungewohnte Weise von altérité spricht, um der Vieldeutigkeit von différence zu entgehen. Alterität wird teilweise als Komplement der Identität und als Produkt eigener Projektion verstanden, teilweise aber auch als eine Form der Andersheit, die mit der Vorgängigkeit des Anderen und mit einem im Entzug befindlichen Weltbezug einhergeht. In der letzteren Bedeutung beträfe Alterität das, was unseren eigenen Verstehenshorizont überschreitet und unseren Aneignungsversuchen widersteht; diese Variante fiele mit dem zusammen, was ich selbst im Gegensatz zur Andersheit als ›Fremdheit‹ bezeichne, und sie wäre eng verwandt mit der derridaschen différance. Doch unabhängig davon, welche Sprache man verwendet, kommt es darauf an, die sachlichen Unterschiede nicht zu verwischen. Selbigkeit und Andersheit, dieses uralte platonische, von
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Hegel dialektisch erneuerte Begriffspaar, hat in der Tat nicht das Geringste damit zu tun, dass mir selbst oder jemand anderem etwas fremd ist, dass etwas in die Ferne rückt und sich unserem Zugriff entzieht. Geschiedenheit bedeutet mehr als Unterschiedenheit. Damit beschränkt sich Fremdheit nicht auf den Anderen im Sinne einer anderen Person; auch der eigene Leib, die historische Vergangenheit, die Dinge und die Natur weisen Züge des Fremden auf. Da jede Sprache ihre eigenen Probleme aufwirft und da, wie diese Studien zu Genüge zeigen, beträchtliche Übersetzungsanstrengungen erforderlich sind, lassen sich Sprachregelungen nur ad hoc durchführen. Was die Sache selbst angeht, so hütet die Autorin sich mit gutem Grund, Levinas’ Ethik des Anderen gegen Foucaults Diskurstheorie auszuspielen. »Foucault macht jede Lösungsformel des Problems des Anderen fragwürdig und verdächtig.«7 Bei Levinas selbst, der seine zweite große Schrift unter den Titel Autrement qu’être ou au-delà de l’essence gestellt hat8, begegnen uns eine Reihe retardierender Momente, die einer Ethik unmittelbarer Präsenz des Anderen entgegenstehen. Dazu gehört ganz entscheidend die Rolle des Dritten, ohne die es keine politische, rechtliche und generell keine kulturelle Ordnung gäbe. Dazu gehört ferner die Konzeption des Fremden als eines Außerordentlichen, als eines Überschusses, der sich nur indirekt in der Störung und Überschreitung von Ordnungen bekundet. In dem Spalt, der sich zwischen der Fremdheit des Anderen und der Sphäre des Dritten auftut, berührt sich das Andersdenken, das bestehende Epistemen und Diskurse aufsprengt, mit einem Denken vom Anderen her, das in einer Phänomenologie des Fremden zum Zuge kommt. Foucaults Heterotopien, ›andere Orte‹ also, in denen die Ordnungsgrenzen sich verschieben, sind nicht identisch mit dem Anderswo als einem ›Ort des Anderen‹, aber eines ist ohne das andere nicht wirklich zu denken. Die Sache selbst bringt die Fronten in Bewegung, was nicht besagt, dass sie einfach verschwinden. Bei Foucault wird niemand ein letztes Wort suchen, aber auch die Phänomenologie des Fremden hat mit Levinas nicht ihr letztes Wort gesprochen.
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Im vorliegenden Band S. 44. Emmanuel Levinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag: Nijhoff 1974; dt.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übersetzt von Thomas Wiemer, Freiburg, München: Alber 1992. Vgl. dazu die kleine Schrift Autrement (Paris: Pr. Univ. de France 1997) von Paul Ricœur, in der das Anders als Sein als ein Anders gesagt gedeutet wird, als ein autrement dit, so die Überschrift des Schlussteils von Levinas’ Buch. 13
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Andersheit oder Alterität im Sinne der Fremdheit ist kein allgemeiner Begriff, der sich in Begriffspyramiden anordnen und in Gattungen zerlegen ließe. Das Wort ›fremd‹ ist vielmehr indexikalischen Ausdrücken wie ›ich‹ oder ›du‹ darin verwandt, dass es seine volle Bedeutung nur okkasionell und kontextuell entfaltet. Daraus resultiert eine Vielfalt von Fremdheitsregionen, Fremdheitsorten, Fremdheitsthemen und Fremdheitsstilen. In der Trias von Denken, Schreiben und Sehen, die der Rubrizierung dieser Studien zu Grunde liegt, spiegelt sich nur ein Bruchteil dieser Vielheit. Aber selbst so stellt sich die Frage, wie eines sich auf das andere bezieht. Eine Andersheit, die nicht geradewegs, sondern auf Seitenwegen entsteht, lässt erwarten, dass jede Instanz Spuren ihrer Andersheit in sich selbst enthält. Eine hegemoniale Einheitsinstanz, die alle Differenzen überstiege, wäre mit einer radikalen Andersheit ebenso wenig vereinbar wie ein kulturelles Fluidum, in dem alle Differenzen verschwömmen. Anderes, das innerhalb des spezifisch Eigenen auftaucht, eröffnet dagegen ein Feld wechselseitiger Resonanzen und Verflechtungen. Dies gilt in verstärktem Maße, wenn die jeweilige Verfertigung von Ideen, Worten und Bildern solche Wechselbezüge begünstigt oder gar erfordert. Ohne ausdrückliche Begründung hat unsere Interpretin eine geeignete Auswahl getroffen. Die Philosophen oder philosophienahen Theoretiker, die zu Wort kommen, sind solche, die wie Bachtin, Barthes, Bataille, Benjamin, Foucault, Krakauer, Lacan, Leiris oder MerleauPonty nicht nur über Literatur und Kunst geschrieben, sondern ihre eigenen Gedanken vielfach im Medium von Literatur und Kunst entwickelt haben. Was die Dichter und Literaten angeht, so begegnen uns bekannte Namen der literarischen Moderne und Nachmoderne, die zum Bereich der Romanistik gehören, so Baudelaire, Flaubert und Mallarmé, Calvino, Leopardi und Ungaretti, Borges, Jiménez und Paz. Schließlich öffnet sich die Medienlandschaft hin zu den Filmexperimenten von Buñuel und Pasolini, die ihrerseits auf malerische und literarische Motive zurückgreifen. Dass die moderne Kunst und Literatur in weitem Maße dazu übergangen ist, den Prozess des Schreibens und Darstellens mit in den Text und in das Bild aufzunehmen, sich selbst zu befragen und bis an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten zu gehen, erklärt, dass die Künste philosophischer geworden sind, ohne deswegen in Philosophie aufzugehen, und es erklärt auch, dass die Querverbindungen zwischen den Künsten zugenommen haben, ohne dass daraus Gesamtkunstwerke entstünden. All das ist bekannt, aber es wäre nicht spezifisch genug, um den vorliegenden Studien einen Zusammenhalt zu geben. Spezifisch ist dagegen ein gewisser Subtext, der sich quer durch alle Einzeltexte zieht und der von dem Leitmotiv der Fremdheit oder der Andersheit beherrscht ist.
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Das Leitmotiv fächert sich solcherart auf in eine Reihe spezifischer Konstellationen, in denen die Fremdheit verschiedene Farben annimmt. Philosophie, Literatur und Kunst treffen sich von Anfang an darin, dass sie alle eine bestimmte Form der Epoché vollziehen, indem sie die Normalität des Denkens, Redens, Sehens oder Hörens durchbrechen und ein Andersdenken, Andersreden, Anderssehen oder Andershören inszenieren. Der Wechsel kann methodisch erfolgen wie bei Husserl, der in seiner Einleitung zu den Logischen Untersuchungen eine ›widernatürliche Anschauungs- und Denkrichtung‹9 fordert und das geradlinige Vorgehen durch eine Art ›Zickzack‹ ersetzt. Der Wechsel kann auch nach Art eines Erfahrungsschocks auftreten (Benjamin) oder als ein Bruch in der Schrift (Leopardi). Philosophie, die aus dem Erstaunlichen oder Erschreckenden erwächst und sich nicht auf bloße Problemlösungen verlegt, begegnet sich mit den Künsten, die eine gebrochene Sprache sprechen und Unsichtbares sichtbar, Unhörbares hörbar machen. Selbst Aristoteles stellt im ersten Buch seiner Metaphysik eine Verbindung her zwischen dem philosophos und dem philomythos, da beide sich mit dem Erstaunlichen (thaumasia) befassen. Die Frage ist allerdings, ob diese Initiation ihre revolutionierende Wirkung behält oder ob damit nur der erste Schritt in die Normalität vollzogen ist. Die Frage, welches Gewicht dem ›anders als…‹ zufällt, entscheidet sich in dem, was Foucault ›Geschichte der Wahrheit‹10 nennt. Resonanzen, zwischen den verschiedenen Erfahrungsbereichen treten hervor, wenn Foucault in den Meninas von Velazquez eine neue Blickordnung entdeckt, wenn er im Don Quijote die alte Welt aus den Fugen geraten sieht oder wenn Borges Flauberts aus Bouvard et Pécuchet die heterotopische Verrückung der gemeinen Topik des Wissens herausliest. Philosophie und Kunst verquicken sich auch dann, wenn die Philosophie die Form einer Ästhesiologie annimmt, wenn sie einem Logos folgt, der sich nicht den Sinnen auferlegt, sondern – mit den Worten Husserls – als »Logos der ästhetischen Welt«11 aus ihnen hervorgeht. MerleauPonty propagiert demgemäß eine Philosophie, die wie die Literatur
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Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, in: ders.: Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 19,1, Den Haag: Nijhoff 1984, S. 14. 10 Michel Foucault: Eine Geschichte der Wahrheit, hg. von Robert Badinter, Pierre Bourdieu u.a., übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, München: Raben 1987. 11 Edmund Husserl: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, in: ders.: Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 17, Den Haag: Nijhoff 1974, S. 297. 15
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»durch Worte sichtbar macht«.12 Dies wäre ein Denken, das sich nicht im Gesagten und Gesehenen einrichtet, sondern als ›schöpferischer Ausdruck‹ Ungesagtes zur Sprache bringt, und dies in einer Sprache, die sich als pré-langage selbst vorausgeht; es wäre ein Denken, das im Blick das Ereignis des Sichtbarwerdens und die Schatten des Unsichtbaren entdeckt. Die Autorin weist ausdrücklich darauf hin, wie viel die Problematisierung der »Visualität« dem Spätwerk Merleau-Ponty verdankt. Wenn Foucault vereint mit der modernen Poesie Mallarmés eine Kluft zwischen den Dingen und der Sprache aufreißt und diese Kluft durch den Widerstreit zwischen disseminal wirkender Literatur und systematisch angelegten Diskursen verschärft, so gerät er hart an die Grenze des Strukturalismus, den er später nahezu verleugnet.13 Die ›prädiskursive Erfahrung‹, gegen die Foucault anrennt, hat etwas von einem Popanz. In einer Phänomenologie, die sich selbst als Ästhesiologie versteht, geht es nicht um einen Primat der Sinne, sondern um deren Verfremdung und um eine gleichzeitige Verfremdung des eigenen Leibes. Verfremdungen sind nicht denkbar ohne die verfremdende Wirkung der Zeit, ohne das, was ich selbst ›Zeitverschiebung‹ oder ›Diastase‹ nenne. Diese Verschiebung bedeutet nicht, dass mir etwas vorausgeht, das schlicht von außen kommt, es bedeutet, dass ›ich mir selbst‹ vorausgehe in dem, was mich affiziert, was mir widerfährt und auf das ich mit einer unwiderruflichen Nachträglichkeit antworte. Nur so eröffnet sich mir eine Zukunft, die schon begonnen hat und die eben deshalb mehr bedeutet als die Erfüllung eigener Wünsche und die Verwirklichung eigener Entwürfe. Das ›anders als…‹ ist das, was die Gegenwart und mich selbst unwiderruflich spaltet und mich eben damit empfänglich macht für einen Anderen, der mehr ist als ein alter ego, und für ein Eingedenken, das tiefer reicht als jede Erinnerung. Die Autorin weist ausdrücklich auf die Vorlesungen von Levinas hin, die 1948 unter dem Titel Le temps et l’autre erschienen sind. Sie treffen den Kern der Sache zu einer Zeit als die Querelles zwischen Phänomenologen, Strukturalisten und Poststrukturalisten noch in den Sternen standen. Dieser Kern der Sache tritt in den vorliegenden Studien mit aller Deutlichkeit und in vielen Varianten hervor. Besonders eindringlich sind die textnahen Präsentationen von Gedichten Ungarettis und Baudelaires. Mit dem stupore dell’immensità nä12 Maurice Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible, Paris: Gallimard 1964, S. 319; dt.: Das Sichtbare und das Unsichtbare, übersetzt von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München: Fink 1986, S. 334. 13 Ich verweise auf meine Wiederlektüre Foucaults: »Kraftproben des Denkens«, in: Bernhard Waldenfels: Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 116-146, hier S. 119. 16
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hert Ungaretti sich einer »Schwelle zwischen ›Früher und Jetzt‹«, einem ›Un-endlichen‹, das – wie bei Levinas – das Endliche sprengt und nicht überhöht. An den Grenzen des Sichtbaren und an seinen eigenen Grenzen entdeckt das Selbst eine ›Porosität zum Anderen‹, eine Alterität, die der narzisstischen Selbstbespiegelung entrinnt. Ähnliches fördert die Interpretation von Baudelaire zutage. Das Vorüberziehen der Wolken und der blitzartige Auftritt der Passantin offenbaren sich in der Schönheit des Flüchtigen, und sie leben fort nicht als »Vergegenwärtigung des Vergangenen, sondern als Vergegenwärtigung des Entzugs und des Vergehens«. Das Fremde wird in flagranti erfasst, aber mit einem winzigen Hinterdrein. Die Passantin tritt auf en passant. Von da aus ergeben sich Bezüge zu Benjamins Verfremdung der historischen Vergangenheit, zur ›Ruine‹ als einer nicht zu integrierenden Vergangenheit oder zur ›Schwelle‹ als einer unüberschreitbaren Grenze. Schließlich bleibt als letzte Alteritätsprobe die Wirkung der Medien, die in Gestalt von Fotographie und Film und in ihrer Deutung durch Benjamin und Kracauer vertreten sind. Die ›Phänomenologie der Alterität‹ wird kritisch gegen eine instrumentalistische und kommunikative Medientheorie ins Feld geführt. Dies besagt, dass Sinn durch die Medien nicht lediglich vermittelt, sondern ermöglicht wird, unter anderem durch die Schaffung eines eigenen ›Bildraums‹. Die Alterität tritt nicht als Gegenstand auf, als ließe sie sich selbst identifizieren, sie dringt vielmehr in die Medien ein als eine ›Andersheit des Blicks des Apparats‹, die unseren Blick transformiert. Mediales Sehen bedeutet mithin ein spezifisches Anderssehen, in dem nicht bloß Botschaften übermittelt werden, sondern Abwesendes, das nicht repräsentiert werden kann, bezeugt wird. Die ›taktile Rezeption‹, die dabei ins Spiel kommt und die im Schock ihre gesteigerte Wirkung entfalten, wäre meiner Auffassung nach nicht bloß dem spezifischen Tastsinn zurechnen, sondern einer ›pathischen Erfahrung‹, die mit ihren Widerfahrnissen alle Intentionalität und Regularität unterwandert. Diese Radikalisierung der Erfahrung verleiht dem Begriff der Affektion Bedeutung, von der die schulmäßigen Formen einer transzendentalen, intentionalen oder sprachanalytischen Analyse sich nicht träumen lassen. Damit eröffnen sich neue Perspektiven für eine spezifische Medienästhetik, die über die Formalitäten einer Bild- und Textsemiotik, aber auch über die Sinngespinste einer Bild- und Texthermeneutik hinausgeht. Dazu gehört Pasolinis imsegno, das kinematographische Spiel mit den Dingen, bei dem diese sich gleichsam selbst vertreten – in der paradoxen Form einer ›originären Substitution‹, die an Derridas ›originäres Supplement‹ erinnert. Den technischen Anteil dieser Medialisierung würde ich selbst einer ›Phänomenotechnik‹ zuordnen. Diesen Ausdruck, den ich der Epistemologie Gaston Bachelards entlehne, verstehe
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ich in dem Sinne, dass Techniken und so auch technisch verfasste Medien an der Konstitution der Phänomene ursprünglich beteiligt sind. Es sind Zwischeninstanzen, deren Wirksamkeit weder auf objektive Gegebenheiten noch auf subjektive Leistungen zurückgeführt werden kann. Sie sind verankert in der Zwischeninstanz unseres Leibkörpers, der kein reiner Eigenleib ist, sondern in seiner Eigengewichtigkeit und Materialität Züge eines Fremdkörpers annimmt. Die Fremdheit des leiblichen Selbst, dieses genuine ›anders als ich selbst‹, bewahrt uns davor, die Apparatur der Medien zu ontologisieren oder zu funktionalisieren, nur um – wie nun schon so oft – dem ›Subjekt‹ den Garaus zu machen. Die Autorin warnt ausdrücklich vor einem ›Realfunktionalismus‹, in dem manche von uns noch die Spuren der von Marx dekuvrierten ›Realabstraktion‹ des Kapitals wiedererkennen. * Wo aber finden all diese Anregungen und Einsichten, mit denen Vittoria Borsò uns so reichlich beschenkt, ihren Platz? In einer ›romanistischen Kulturwissenschaft‹. Über die Romanistik sind nicht viele Worte zu verlieren. Sie ist der gebürtigen Italienerin gewissermaßen angeboren. Dass sie diese mit weitgeöffneten Türen betreibt, sieht jeder, sobald er eine Schrift von ihr zur Hand nimmt. Doch die hinzukommende Kulturwissenschaft ist mehr als ein Etikett, sie gilt als Programm. Ich gestehe, dass ich bei dem Wort ›Kulturwissenschaft‹ oder gar ›Kulturphilosophie‹ immer leicht zusammenzucke. Brauchen wir nach dem Regiment der Vernunft, der Geschichte, der Gesellschaft noch einmal ein überwölbendes Dach, und brauchen wie nach den vielen turns und returns nun auch noch einen cultural turn? Glücklicherweise legt sich das Unbehagen beim Lesen der vorliegenden Texte, mag auch eine vorsichtige Zurückhaltung bleiben. Kulturwissenschaft? Sie sollte jedenfalls, ähnlich wie die Interdisziplinarität, nicht als Sammelbecken eingesetzt werden, sondern eher wie ein Orchester, dessen Mitglieder jeder für sich ein Instrument mit Kunst und Phantasie zu spielen vermögen. Kultur? Sie ist ein Lebens-, Denk- oder Schreibhorizont, bevor sie als Rahmen benutzt und in Kulturgüter verwandelt, in Kulturaktien angelegt wird. Doch entscheidend ist letzten Endes, dass die Kultur, so wie sie hier präsentiert wird, sich nicht gegen den Einbruch des Fremden und Andersartigen abschirmt. Die intra- wie auch interkulturelle Fremdheit, mit der wir konfrontiert werden, ist von jeder kulturellen Selbstgefälligkeit so weit entfernt wie nur etwas. Sofern Kulturwissenschaften es nie mit bloßen Kulturobjekten, sondern immer auch mit dem Anderen zu tun haben, wohnt ihnen ein ethischer Impuls inne. Diese Provokation ist von einer
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ZUM GELEIT: ANDERS ALS…
moralischen oder auch politischen Indienstnahme wohl zu unterscheiden. Fremdes kommt ungerufen, wenn es kommt. Fremdheit begegnet uns zunächst in der diachronen und synchronen Vielfalt europäischer Traditionen, die sich bis in die Sprache hinein gegen eine Vereinheitlichung sperrt. In weiterer Ferne leuchten die Spuren Afrikas auf, begleitet von dem Phantom Afrika, das Leiris in seinen Tagebüchern festgehalten hat. Vor allem aber öffnet sich das immense Feld lateinamerikanischer Literaturen, in denen die Autorin des Buches Mexiko jenseits der Einsamkeit (1994) besonders bewandert ist. Damit betreten wir einen Kulturbereich, auf den seit Jahrhunderten die Schatten Europas fallen. Todorov ist gegenwärtig mit der Schrift Die Eroberung Amerikas (1982), in der das Bild des Anderen aus kulturhistorischer Perspektive problematisiert wird. Die Faszination Europas durch die lateinamerikanische Literatur wird nicht ohne Skepsis betrachtet, da sie nicht frei ist von Projektionen und Gegenübertragungen. Doch leugnen lässt sich wohl nicht, dass es dieser Literatur, die ja ihren Proust, Joyce und Kafka durchaus kennt, immer wieder gelingt, dem sozialen Imaginären im Sinne von Castoriadis zur eigenen Stimme zu verhelfen. Die Interkulturalität, die hierbei ins Spiel kommt, widersetzt sich nicht nur einem hegemonialen Monokulturalismus, sondern auch einer bloßen Multikulturalität, in der die Spannungen und Differenzen zwischen den Kulturen und Kulturbereichen überspielt werden. Bei der Artikulation der Zwischensphäre, die Interkulturalität erst zur veritablen Inter-kulturalität macht, würde ich Bachtin mehr Kredit einräumen, als die Autorin es tut. Der ›allumfassenden Dialogizität‹, mit der die Vielfalt der Stimmen mimetisch gebündelt und, ähnlich wie in Gadamers Hermeneutik, eine ›Überwindung der Fremdheit des Fremden‹ angestrebt wird, steht eine Vielstimmigkeit gegenüber, in der es eine asymmetrische ›Antwortlichkeit‹ (otvestnost’), die den Zirkel von Frage und Antwort durchbricht, in der sich Stimmen überlagern und sprachliche Hybride entstehen, ähnlich den kulturellen Hybriden, die von der heutigen Ethnologie entdeckt werden.14 Doch letzten Endes kommt es darauf an, dass die fragliche Kulturwissenschaft die Fremdheit der eigenen Kultur und die der fremden Kulturen nicht verleugnet und für ein ›wildes Denken‹ Raum lässt, das als transkultureller Überschuss nicht hinter uns liegt, sondern vor uns. Dies würde besagen, dass das ›anderes als…‹ den Kern einer jeden Kultur durchdringt. Eine Kultur, die es vermeidet, in einen kulturalistischen Schlaf zu versinken, ist nicht nur anders als andere Kul14 Ich erlaube mir, auf meine Studie »Hybride Formen der Rede« hinzuweisen, veröffentlicht als Kapitel 7 in: Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 4, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 152-170. 19
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turen, sondern anders als sie selbst. Wahrmachen lässt sich diese Einsicht auf den literarischen Streifzügen durch eine vielfältige Kulturlandschaft, zu denen uns die Texte von Vittoria Borsò einladen.
L i t e r at u r Deleuze, Gilles: Proust et les signes, Paris: Pr. Univ. de France 1976; dt.: Proust und die Zeichen, übersetzt von Henriette Beese, Frankfurt/Main: Ullstein 1978. Foucault, Michel: L’usage des plaisirs, Paris: Gallimard 1984; dt.: Der Gebrauch der Lüste, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986. Ders.: Eine Geschichte der Wahrheit, hg. von Robert Badinter, Pierre Bourdieu u.a., übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, München: Raben 1987. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985. Husserl, Edmund: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, in: ders.: Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 17, Den Haag: Nijhoff 1974. Ders.: Logische Untersuchungen, in: ders.: Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 19,1, Den Haag: Nijhoff 1984. Levinas, Emmanuel: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag: Nijhoff 1974; dt.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übersetzt von Thomas Wiemer, Freiburg, München: Alber 1992. Merleau-Ponty, Maurice: Le visible et l’invisible, Paris: Gallimard 1964; dt.: Das Sichtbare und das Unsichtbare, übersetzt von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München: Fink 1986. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders.: Gesammelte Werke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 3-1356. Ricœur, Paul: Autrement, Paris: Pr. Univ. de France 1997. Waldenfels, Bernhard: »Hybride Formen der Rede«, in: ders.: Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 4, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 152-170. Ders.: »Kraftproben des Denkens«, in: ders., Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 116-146.
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DAS ANDERE DENKEN
M I C H EL F O U C A U L T
EMMANUEL LEVINAS ZUM ETHISCHEN AUFTRAG DER KULTURWISSENSCHAFTEN* UND
Das Motiv, das mich getrieben hat, ist sehr einfach. Manchen, so hoffe ich, könnte es für sich selber genügen. Es war Neugier –die einzige Art Neugier, die die Mühe lohnt, mit einiger Hartnäckigkeit betrieben zu werden: nicht diejenige, die sich anzueignen sucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es gestattet, sich von sich selber zu lösen.1 Die Metaphysik, die Transzendenz, der Empfang des Anderen durch das Selbe, des anderen Menschen durch mich, ereignet sich konkret als Infragestellung des Selben durch den Anderen, das heißt als Ethik; in ihr erfüllt sich das kritische Wesen des Wissens.2 Ich ist ein anderer. Aber die anderen sind auch Ich. Subjekte wie Ich, die nur mein Blickwinkel, aus dem alle dort sind und ich allein hier bin, tatsächlich von mir trennt und unterscheidet.3 *
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Ein anlässlich der im Sommersemester 1993 von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität gegen Ausländerfeindlichkeit organisierten Vorlesungsreihe »Humanwissenschaft und Widerstand« gehaltener Vortrag. Erstmals erschienen in: Jürgen Link/Rolf Parr (Hg.), kultuRRevolution 31 (1995), S. 22-30. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber. Michel Foucault: »Einleitung«, in: ders., Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 7-46, hier S. 15. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg, München: Alber 1987, S. 51. Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas: das Problem des Anderen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 11. 23
DAS ANDERE DENKEN, SCHREIBEN, SEHEN
L i t e r at u r al s P r o v o k at i o n : Z u r R e l e v a n z e i n e r e th i s c h e n P e r sp e k t i v i e r u n g d e s D e n k e n s F o u c au l t s a u s d e r S i c ht d e r L i t e r a t u r Obige Zitate stellen gewissermaßen den roten Faden meiner Überlegungen dar. Es geht mir um die Seite des foucaultschen Denkens, die mit der Kritik der Macht und der Diskurse auch zur Kritik der Alterität und eines epistemologisch gedachten Anderen führt. Das Andere ist zwar keine Denkfigur Foucaults, es motiviert jedoch sein Denken – so lautet die Hauptthese dieses Beitrags. Tatsächlich verbindet der Grundsatz, das Andere sei nicht als epistemologische, sondern nur als ethische Frage zu begreifen, Foucault mit Emmanuel Levinas. Meine Absicht, Michel Foucault unter der Perspektive eines ethischen Auftrags der Kulturwissenschaften zu sehen, mag die meisten Leser verwundern. Handelt es sich doch bei Michel Foucault um den Denker, der die Macht hypostasiert, diese als dem Bewusstsein und dem Subjekt gegenüber übergeordnet ansieht und damit – so Jürgen Habermas4 – die letzte Möglichkeit der Kritik durch die Vernunft ausschaltet, oder wie dies Manfred Frank unterstellt5, in die Aporie verfällt, das Subjekt (der Diskurs-Analyse) selbst vom Objekt (dem Diskurs) vergewaltigen zu lassen. Wie kann moralisches Handeln noch begriffen werden, wenn nach der Entlarvung des Scheins des Moralismus die Sprache selbst als das moralische Instrument einer kritischen Analyse dem Totalitarismus der Macht unterliegt und zur bloßen Manifestation geregelter Praktiken wird, durch welche die Macht der Diskurszwänge und ihrer jeweiligen historischen Apriori zum Ausdruck kommt? Ich möchte hier – gewissermaßen als Entgegnung auf die FoucaultKritiker – einige Aspekte im Denken Michel Foucaults hervorheben, die mit weniger Resonanz aufgenommen und weitergedacht wurden, die aber in meinen Augen die Tragweite des foucaultschen Denkens erst deutlich machen. Dabei geht es mir nicht um eine – verspätete – Rehabilitation von Michel Foucault vor den Augen seiner Kritiker, sondern um den Versuch, die in seinem Ansatz enthaltenen Anregungen für die Kulturwissenschaften zu rezipieren; Anregungen, die in der heutigen internationalen Situation bedauerlicherweise zunehmend an Aktualität gewinnen. 4 5
Vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. Vgl. Manfred Frank: »Zum Diskursbegriff bei Foucault«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 9-24. 24
MICHEL FOUCAULT UND EMMANUEL LEVINAS
Ich lese also Foucault auf der Basis und mit dem hermeneutischen Rahmen einer ethischen Fragestellung und verbinde Foucault mit dem französischen Philosophen Emmanuel Levinas. Dieses Unternehmen ist durch das Denken Foucaults nicht nur in seiner Legitimität ausreichend begründet, sondern aus der Sicht seines Denkens geradezu notwendig. Ich meine Folgendes: Indem ich versuche, Foucault jenseits der zentralen Linie seiner Interpreten zu lesen, nehme ich die Hauptanregung der foucaultschen Archäologie des Wissens auf, nämlich die Erarbeitung des Wissens nicht allein oder gerade nicht aus der Position des Zentrums heraus, sondern durch dessen Transgression, um eine ›Sicht des Außen‹ einzunehmen. Obwohl sich die Foucault-Interpreten in der Regel lieber als Detektoren von Macht-Praktiken betätigen, stehe ich in meiner Vorgehensweise nicht allein. Ich nehme Bezug auf die Studien von Bernhard Waldenfels sowie auf interkulturelle und interdisziplinäre Arbeiten innerhalb der Literaturwissenschaft.6 Ich möchte auf dem Begriff der Interkulturalität insistieren und meine damit bestimmte Formen von Komparatistik, die nicht die Ähnlichkeiten, sondern die Spannungen und Differenzen zwischen den Kulturbereichen und Disziplinen bedenkt.7 Gerade unter dem Gesichtspunkt einer notwendigen interkulturellen Perspektive ist auch meine Entscheidung zu verstehen, von ›Kulturwissenschaften‹ statt von Humanwissenschaften zu reden. Ich beziehe mich 6
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Vgl. z.B. die Theorie des Interdiskurses von Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München: Fink 1983. Vgl. auch die Studien von Helmbrecht Breinig im Rahmen des interamerikanistischen Forschungsprojektes an der Universität Erlangen-Nürnberg. Ders. (Hg.): Interamerikanische Beziehungen, Frankfurt/Main: Vervuert 1990 sowie ders.: »Alteritätsdiskurs und Literatur: Nordamerikanische LateinamerikaRomane der Gegenwart«, in: Soziale Welt, Sonderband 8, 179 (1992), S. 179-193. Zum Widerstreit der Diskurse als angemessene Form einer interdisziplinären Wissenschaft vgl. auch Peter Zima: Literarische Ästhetik, München: Francke 1991, S. 366ff. Insoweit wäre beim Kulturvergleich weiterzugehen als Joachim Matthes es mit einer »reflektierten Methodologie des Vergleichens« vorschlägt. Letzterer kritisiert zwar zu Recht die gängige Logik des Vergleichs auf der Basis eines tertium comparationis, das zur »Nostrifizierung des Fremden führt«. Joachim Matthes: »Kulturvergleich: Einige methodologische Anmerkungen«, in: Helmbrecht Breinig (Hg.), Interamerikanische Beziehungen, Frankfurt/Main 1990 S. 13-24, hier S. 24. Die Notwendigkeit, sich vom Analogieprinzip zugunsten einer differenzorientierten Methodologie zu lösen, sollte jedoch stärker in den Vordergrund gestellt werden. Um eine solche Methodologie bemühen sich die nachfolgenden Überlegungen zum Widerstreit von Diskursen. 25
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dabei auf einen Kulturbegriff, der Kultur als Austausch zwischen kulturellen Sektoren und Bereichen versteht, somit in der Analyse der Spannungen zwischen festgeschriebenen nationalen Topographien Gründe sucht, um die Ontologisierung von Wertkategorien und verbindlichen Deutungsmustern in Frage zu stellen. Die französische (und europäische) Anthropologie hat u.a. aus der so genannten Literatur und Kunst des Orients im späten 19. Jahrhundert Impulse gewonnen, die etwa in Phantom Afrika, den Tagebüchern von Michel Leiris8, anthropologisch weitergeführt wurden. Die Begegnung mit dem Anderen, so Leiris, dient als Irritation jeder Form einheitlicher Sicherheiten.9 Eine Folge war die kritische Befragung der Implikationen des abendländischen Mythos-Begriffs, durch den wir der Neuen Welt eine historische Existenz abgesprochen hatten.10 Ich wähle also den Begriff Kulturwissenschaften, weil Humanwissenschaften Werte und Hierarchien impliziert, deren Kritik nach den Schrecken unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts nicht weiter begründet werden muss. Das Anliegen meiner Lesart von Foucault ist also, von einer Ethik der Wissenschaften über Kultur statt von deren Machtdiskursen zu sprechen. Das Beispiel Lateinamerikas verdient in diesem Zusammenhang einen Exkurs, der in die Problematik einführen soll. Es handelt sich bei Lateinamerika um einen Kulturbereich, der aus historischen Gründen von jeher gewissermaßen prädestiniert ist, den Widerstreit zwischen epistemologischen Kategorisierungen und Kulturdynamik wie auch zwischen ideologischem Totalitarismus und kultureller Subversivität zu erproben und kritisch zu verarbeiten. Lateinamerika kann uns helfen, unserer kulturellen Sicherheit einen kritischen Spiegel vorzuhalten. Es ist ein Gegenstand, der uns fasziniert, weil er sich in farbenprächtiger Nähe zeigt und zugleich entzieht. Wir sind gewohnt, diese widersprüchliche Erfahrung durch Begriffe wie ›paradoxal‹ zu objektivie-
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Michel Leiris: Phantom Afrika, Bd. 1 und 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980 und 1984. 9 Vgl. Hans-Jürgen Heinrichs: »Das Unbewußte und das Fremde. Die Einflüsse von Psychoanalyse (Lacan) und Ethnologie (Leiris) auf die moderne Philosophie«, in: Peter Kemper (Hg.), »Postmoderne« oder Der Kampf um die Zukunft, Frankfurt/Main: Fischer 1988, S. 59-81. Zu Bedeutung und Problemen einer Anthropologie und Philosophie des Eigenen und des Fremden und zu den Möglichkeiten einer Xenologie vgl. Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990. Vgl. zudem ders.: »Cultura propria e cultura estranea. Il paradosso di una scienza dell’estraneo«, in: Paradigmi 10, 30 (1992), S. 644-663. 10 Vgl. Vittoria Borsò: Mexiko jenseits der Einsamkeit. Versuch einer interkulturellen Analyse, Frankfurt/Main: Vervuert 1994, Kapitel II. 26
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ren und entsprechend in unsere Kategorien einzuordnen. Jeder kennt in Europa die Literatur des so genannten »Magischen Realismus«11, die dem unheilbaren Romantiker in uns gefällt, weil wir glauben, im Zustand des guten Wilden und in utopischen Phantasien, d.h. in der anderen Seite der Vernunft, das verlorene Paradies der Unschuld wieder zu finden. Die Geschichte Lateinamerikas und der Lateinamerikanistik ist die Geschichte der Vereinnahmung des Anderen durch das Selbst – freilich guten Willens und in einem ebenso guten Glauben, im Vaterland des Selbst das Andere aufzunehmen und zu beschützen.12 Doch ist dieser Schutz derart, dass wir die Andersheit des Anderen vernichtet haben. Wir haben es zur bloßen Alterität reduziert, zur bloßen Opposition des Selbst, das sich im Spiel seines Unterschiedes seiner Selbigkeit versichert. Die Modelle, mit denen wir uns angeschickt haben, das Andere zu retten, sind mehr oder weniger geschickte und komplexe Verschleierungsformen der Kolonialisierung – zuerst territorialer, dann epistemologischer Art, d.h. als Kolonialisierung des Wissens. Eine solche Form ist in der Tat die Theorie des Magischen Realismus für die lateinamerikanische Kultur. Nicht zufällig hat sich besonders die Literatur von García Márquez oder Isabel Allende auf dem europäischen Literaturmarkt durchgesetzt. Dafür, dass im Bewusstsein der Europäer für die Exotik dieser Bücher noch heute ein Bedarf existiert, sorgen die literarischen Institutionen, insbesondere der literarische Markt. Um nur ein zufällig herausgegriffenes Beispiel unter vielen zu nennen: Der Stern-Verlag Düsseldorf inseriert in der Rheinischen Post vom 2. Juli 1993 neben einer lapidaren Meldung zum Inkrafttreten des neuen Asylgesetzes folgende Buchwerbung: »Gabriel García Márquez. Zwölf Geschichten aus der Fremde: Márquez erzählt in diesen Geschichten, die auf wahren Begebenheiten beruhen, von Lateinamerikanern in Europa, die Seltsames oder Unbegreifliches erleben.« Neben García Márquez wird dort auch ein Buch von James Michener beworben: »Karibik. Ein Roman von der Wucht eines Hurrikans.« Die Epistemologie des Anderen ist auf viel subtilerer Weise problematischer als die bloßen – freilich ein unauslöschbares Stigma der Geschichte darstellenden – Ereignisse der Völkerausrottung in der Neuen Welt. Die Geschichte Lateinamerikas und der Lateinamerikanistik zeigt nämlich, wie ernsthaft die Versuche Europas gewesen sind, in Übereinstimmung mit den jeweiligen epistemologischen und moralischen Diskursen und Praktiken die Frage nach dem Anderen zu stellen.
11 Vgl. ebd. 12 Vgl. E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 48. 27
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Die disputatio von Valladolid, die im Jahre 1550 zwischen den Geistlichen Sepúlveda und Vitoria ausgefochten wurde, d.h. die erste Menschenrechtsdebatte im europäischen Raum und die leidenschaftliche Verteidigung der Indios durch Bartolomé de Las Casas, dem ersten Religionsanthropologen, finden im Spanien des 16. Jahrhunderts statt, dem gleichen Land, auf dem die schwarze Legende der Menschenvernichtung lastet. Las Casas’ Formel, die indianische Religion sei ›wie unsere‹, diente zwar dazu, die Ausrottung der Ureinwohner Mexikos zu verhindern, bot aber zugleich die moralische Rechtfertigung für die Kolonialisierung und damit für den Prozess der Angleichung präkolumbischer Völker an das Abendland. Las Casas rettete das Leben und – zumindest juristisch – die Menschenwürde der Indios auf Kosten der Schwarzen, der ›ganz Anderen‹, die aus Afrika importiert wurden, um die Indios abzulösen. Las Casas ist zwar als historische Figur zweifellos ein Philanthrop; an ihm zeigt sich aber in brisanter Weise die Aporie einer Wissenschaft des Fremden. Las Casas ist eine Warnung für jede Form von Erkenntnis und komparatistischer Analyse, die mit dem guten Willen zum Wissen und vom Horizont der Identitätsphilosophie aus den Anderen mit dem Selbst vergleicht, an dieses angleicht und es somit zerstört. Ich insistiere nicht weiter auf dieser Seite der hispanoamerikanischen Geschichte – sie ist aus den Veranstaltungen zum ›Jubiläums-Jahr‹ 1992 gut bekannt. Dass die Texte lateinamerikanischer Schriftsteller schon sehr früh zur Kritik der Epistemologie des Fremden einluden, ist ein Teil der Geschichte der amerikanischen Philosophie, den wir bisher ausgeblendet haben.13 Die Diskrepanz zwischen literarischen Texten und Wissenschaft, d.h. zwischen gelebter Kultur bzw. Literatur und Theorie, muss bedenklich stimmen. Die Seite von Michel Foucault, die für mich hier von Interesse ist, zeigt gangbare Wege zur Analyse dieses Phänomens. Foucault selbst hebt den Widerstand der Literatur gegen die Diskurse mit aller Klarheit hervor, und zwar – neben den Schriften zur Literatur14 – im Vorwort zu Les mots et les choses15. Er nimmt auf die labyrinthischen Texte von Jorge Luis Borges, insbesondere auf eine »gewisse chinesische Enzyklopädie« Bezug: »Bei dem Erstaunen über diese Taxonomie erreicht man mit einem Sprung – was in dieser Aufzählung als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird – die Grenze
13 Vgl. Vittoria Borsò: »Der moderne mexikanische Essay«, in: Dietrich Briesemeister/Klaus Zimmermann (Hg.), Mexiko Heute, Frankfurt/Main: Vervuert 1992, S. 535-566. 14 Vgl. Michel Foucault: Schriften zur Literatur, Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein 1979. 15 Vgl. ders.: Les mots et les choses, Paris: Gallimard 1966. 28
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unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.«16 Die disseminierende Kraft der Literatur, so Foucault, widersteht den Diskursen.17 Besondere Phänomene des sprachlichen, symbolischen und ideologischen »Überschusses«, d.h. der Überschreitung diskursiver Grenzen sowie der »Interdiskursivität«, d.h. der Spannungen zwischen den Diskursen im literarischen Medium18, produzieren einen Widerstreit zwischen dem (polyphonen) literarischen Medium und den systematisch angelegten Diskursen.19 Foucault bezeichnet dieses Phänomen mit dem Begriff der »Heterotopie«. Literarische Texte, wie die von Borges, sind paradoxal, ja heterotop. Sie provozieren die Ordnung der Diskurse. Diese Beunruhigung hat eine positive Wirkung: Durch Trans- und Interdiskursivität vermittelt die Literatur eine Art ›Exteriorität‹. Sie ›spielt‹ mit den Regeln der Diskurse und destabilisiert damit das sichere System gesellschaftlicher Repräsentationen, d.h. die Beziehung zwischen den Diskursen und ihren Apriori. Kommen wir auf das Beispiel Lateinamerikas zurück. Lateinamerika zeigt in eklatanter Weise die Bedeutung einer (von der Literatur nahe gelegten) Perspektive, welche epistemische Ordnungen verunsichert. Ist man bereit, einen solchen Blickwinkel anzunehmen, so öffnet sich eine andere Seite der Geschichte Lateinamerikas, die nicht mehr primär Ereignisse von Ohnmacht und Opfern, und auch nicht vom Aufbäumen der Besiegten erzählt, sondern als kritischer Spiegel der Ohnmacht eines selbstzentrierten kulturellen Identitätsbegehrens des Abendlandes wirkt. Die Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen kehrt sich um. Der Andere ist nicht länger Objekt der Macht, noch wird er zum
16 M. Foucault: Schriften zur Literatur, S. 17. 17 Die literarische Dissemination ist den Diskursen »wesensfremd und gefährlich«. Vgl. Philippe Forget: »Diskursanalyse versus Literaturwissenschaft?«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, S. 311-329, hier S. 316. Zu methodischen Überlegungen bezüglich einer solchen Auslegung des Diskursbegriffs vgl. Vittoria Borsò: »Utopie des kulturellen Dialogs oder Heterotopie der Diskurse?«, in: Klaus Hempfer (Hg.), Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart: Steiner 1991, S. 95-117. 18 Dieses Phänomen ist ein wichtiger Gegenstand der Studien zur Kollektivsymbolik von Jürgen Link. 19 Vgl. hierzu B. Waldenfels: Der Stachel des Fremden, S. 51f., u.a. mit Bezug auf den Begriff der Polyphonie und des Intertextes (Kristeva) in der Nachfolge Michail M. Bachtins. Vgl. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, Frankfurt/Main 1990. 29
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Schmuck eines sich durch eine offene Identität verherrlichenden Selbst, sondern er irritiert die Sicherheit des Selben.20 Das kritische Potenzial des Denkens Foucaults im Hinblick auf die identitätsphilsophischen Apriori des Abendlandes ist als ethisch zu bezeichnen, versteht man unter Ethik – im Einvernehmen mit der seit Kant allgemein bestehenden Auffassung – die Ausübung eines kritischen Bewusstseins und insbesondere die Fähigkeit des Bewusstseins zur Selbstkritik.21 Anhand der Unhintergehbarkeit der Macht der Diskurse des Selbst zeigt Foucault die Schwierigkeiten, ein solches ethisches Postulat zu erfüllen, besonders seit Entstehung des frühneuzeitlichen modernen Staates. Bei folgender Darstellung versuche ich nun die von Foucault ›archäologisch‹ gewonnenen Thesen zu den europäischen Epistemen vor dem Hintergrund einer Aporie jeder Form von Erkenntnis des Anderen zu lesen. Die ›positive‹ Seite einer solchen Lektüre liegt darin, dass die Geschichte der Episteme nicht mehr als Niederschrift der Ohnmacht des Abendlandes, sondern als Impuls zum Widerstand gegen die Macht seiner Diskurse erscheint.22 Diese Anregung ist in den ersten Schriften Foucaults deutlicher als in den späteren, wenngleich sie auch in diesen impliziert ist, wie das vorangestellte Motto zeigt.
D i e E th i k d e r fo u c au l t sc hen T h e s e ü b e r d i e Un hi n t e r g e hb ar k e i t d e r M ac h t Foucault stellt die historische Frage nach dem Ort des epistemologischen Handelns. Ausgangsposition ist das Sein der Sprache, womit Foucault von einer poststrukturalen Position ausgeht. Ich fasse die Etappen seines Denkens zusammen: 1. Am Anfang des Denkens Foucaults stehen Materialstudien hinsichtlich einer Geschichte des Wahnsinns und eine Kritik der Aufklärung als Doktrin der Vernunft.23 Foucault entdeckt historisch variable Groß20 Vgl. E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 51. 21 Levinas macht deutlich, dass sich »das kritische Wesen des Wissens« in der Infragestellung des Selben erfüllt. Vgl. ebd. 22 Widerstand benutze ich im Sinne von Widerstreit, wie ihn Bernhard Waldenfels unter Bezug auf Lyotards Begriff des différend in Opposition zum Widerspruch definiert hat. Widerstreit drückt einen Konflikt von nicht zu vereinbarenden Ordnungen aus, während Widerspruch eine Opposition meint, die in eine Ordnung integrierbar ist. Vgl. B. Waldenfels: Der Stachel des Fremden, S. 49. 23 Michel Foucault: Histoire de la folie à l’âge classique, Paris: Gallimard 1961. 30
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formationen. Dies ist das Thema von Les mots et les choses, eine Studie, die ihn zu einer Historisierung und Institutionalisierung des Vernunftbegriffes führt. Daraus leitet sich die Definition des Diskurses ab, nämlich der anonymen, gesellschaftsspezifischen Organisationsformen des Wissens, vor allem in Verbindung mit bestimmten Gegenstandsbereichen und mit Blick auf ihre Verwendbarkeit bei der Ausübung von Macht.24 2. Die Wissensformationen (Episteme) manifestieren sich als diskursive Praktiken. Dies ist das Thema der Archéologie du savoir.25 In dieser spricht Foucault von Diskurs nicht nur als Organisation von Aussagen anhand von Vorannahmen, die historisch wandelbar sind, sondern auch von Regeln und institutionellen Zwängen, die mit dem Diskurs auch eine reglementierte Praxis durchsetzen. Etwa bestimmen Institutionen spezielle Wissensbereiche, koppeln diese mit Objekten und bestimmten Handlungen, und legen Legitimitätsregeln in Bezug auf Objekt und Sprecher fest.26 Der Diskurs ist somit als ein Ereignis zu betrachten. Im Blickpunkt der Diskursanalyse steht dementsprechend das, was sich in der Sprache ereignet.27 Die Entstehungsbedingungen dieses Ereignisses zeigen auch die Bedingungen für ihr ausgrenzendes Tun, so dass mit dem Diskursereignis auch das Ereignis der ausgrenzenden Tätigkeit der Diskurse in den Blick einer Archäologie des Wissens kommt. 24 Vgl. Jürgen Link: »Noch einmal: Diskurs, Interdiskurs, Macht«, in: kultuRRevoltion 11 (1986), S. 4-7, hier S. 4. 25 M. Foucault: Archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969. 26 Vgl. J. Link: Diskurs, Interdiskurs, Macht, S. 4. 27 Waldenfels hebt die Spezifizität der Diskusanalyse im Verhältnis zu Hermeneutik und Strukturalismus bzw. zum Russischen Formalismus hervor: Sie hat weder mit dem Ungesagten zu tun (Hermeneutik) noch mit den Regeln der Sagbarkeit. »Sie hat vielmehr zu tun mit dem, was sich im Diskurs selbst ereignet, nämlich mit den Ereignissen des Gesagten in seiner Positivität.« Dieses Gesagte fällt jedoch in den Raum einer ›Äußerlichkeit‹, wo es keine »inneren Geheimnisse«, keinen »sammelnden Logos« und keine »Teleologie der Vernunft« gibt. Bernhard Waldenfels: »Michel Foucault. Auskehr des Denkens«, in: Margot Fleischer (Hg.), Philosophen des 20. Jahrhunderts, Darmstadt: WBG 1990, S. 191-203, hier S. 199. Foucault schließt also ein ›Anderswo‹ aus, in dem sich das entscheidet, was sich in den Diskursen ereignet. Waldenfels macht auf die Geschlossenheit des Systems aufmerksam, deutet aber auf die Möglichkeit hin, dass der Diskurs auch die ›Spur eines Anderen‹ in sich trägt, wozu sich Foucault nur zurückhaltend geäußert hat, was aber nur als »Zeichen unwiderruflicher Abwesenheit« (im Sinne Levinas’ und Derridas) gedacht werden kann. B. Waldenfels: Auskehr des Denkens, S. 199, Anmerkung 20. Um das Nachzeichnen dieser Spur im Denken Foucaults geht es in erster Linie im vorliegenden Beitrag. 31
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3. Vom Willen zum Wissen leitet sich die Macht von Institutionen ab. Die Diskurspraktiken wandeln sich zu Machtdispositiven, einem unzertrennlichen Aggregat aus Können und Wissen. Wahrheit und Sinn unterliegen nicht nur spezifischen Bedingungen von historischen Apriori, sondern sie geraten in die Fänge eines Willens, der Wahrheiten begehrt, erzeugt und sich zunutze macht.28 Das Begehren nach Wissen bewirkt, dass in »Kerkerdispositiven« das Begehren zum Sprechen gezwungen und so beherrscht wird. Es kann nicht ernst genug genommen werden, dass anstelle der Opposition zwischen Macht und Wahrheit beide in der Sicht Foucaults einen unterschwelligen, unsichtbaren Kompromiss eingehen.29 Das ist die eine – bekanntere – Seite von Foucault. Besonders durch Schärfung der Aufmerksamkeit auf die durch die Literatur gewonnene Perspektive lässt sich eine ›andere Seite‹ des foucaultschen Denkens entdecken: Es geht Foucault darum, mit dem Bewusstsein über die totale Macht der Diskurse auch Einsicht in ihre Grenzen zu erlangen. Die Macht muss gewissermaßen von der Exteriorität im Verhältnis zu ihrem Horizont betrachtet werden, um sie in ihre Grenzen zu weisen. Wenn die Macht als absolut und unhintergehbar im Verhältnis zum Subjekt und zur Vernunft steht, das Subjekt der Macht also als Subjekt30, d.h. als unterlegen angesehen werden kann, so gelten Vernunft und Subjekt als Grenzbegriffe, die durch die Totalität der Macht in ihre Grenzen gewiesen werden.31 Die Totalität der Macht ist zwar durch Subjekt und Vernunft unhintergehbar – so Foucault –, jedoch nicht unendlich.32 Jenseits der 28 Vgl. M. Foucault: L’ordre du discours, Paris: Gallimard 1971. Antrittsvorlesung am Collège de France. Vgl. auch ders.: Surveiller et punir, Paris: Gallimard 1975 sowie ders.: La volonté de savoir, Paris: Gallimard 1976. 29 Aus dieser Einsicht folgert Waldenfels: »Daß Wahrheit ohne bestimmte Machtkomponenten nicht zu denken ist und daß selbst ein methodisch ausgedachter ›herrschaftsfreier Diskurs‹ zu den gutgemeinten Hirngespinsten gehört, folgt aus der Natur der Sache«. B. Waldenfels: Auskehr des Denkens, S. 201. 30 Vgl. ebd., S. 191. 31 Entgegen der Kritik von Jürgen Habermas und Manfred Frank habe ich am Beispiel eines Essays von Jorge Luis Borges zu Bouvard et Pécuchet, dem letzten Roman Flauberts, die These illustriert, dass die foucaultsche Kategorie der Macht als eine (transzendentale) Grenze des Erkenntnissubjektes einen Impuls zu einer autoreflexiven und relativierenden Bewegung der Literaturwissenschaft darstellt, die damit bereit wird, die Provokation der Literatur anzunehmen. Vgl. V. Borsò: Utopie des kulturellen Dialogs. 32 Die von Levinas getroffene Unterscheidung zwischen Totalität und Unendlichkeit (vgl. weiter unten) ist auch in Bezug auf die absolute Macht der Diskurse anzuwenden, wenn man davon ausgeht, dass der (mit totaler 32
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Macht, des Subjektes und der Vernunft befindet sich nicht das Nichts, sondern das von der Vernunft (vom System) Abwesende in seiner Qualität als ausgeschlossen Bestehendes.33 Unter dieser Perspektive kann man versuchen, an den Ausgrenzungen des Diskurses die Andersheit des Anderen – wenn nicht als epistemisches Objekt, so doch als ethischen Impuls – vor der Totalität der Macht zu retten.
L i t e r at u r u n d D i sk u r s o d e r d i e S i c h t d e s A u ß en Als Vermittler einer ›Außen-Perspektive‹ weist also die Literatur die Diskurse in ihre Grenzen. Die Grenze der Diskurse wird beispielsweise offenbar, wenn man sich die Historizität ihrer Entstehungspraktiken, d.h. wenn man sich ihre Genealogie vergegenwärtigt. Diese leistet Widerstand gegen etwaige ontologische Auslegungen von Identitätsmustern und ihren Koordinaten. Ich beziehe mich hier auf das in der europäischen Aktualität bedauerlicherweise erneut relevant gewordene Deutungsmuster des Vaterlandes als Identitätszeichen und möchte mit der zentralen Stellung dieses Diskurses und seiner Zwänge auch dessen Grenzmarken und Ausgrenzungen betrachten. So möchte ich der Einladung von Foucault in Les mots et les choses folgen, unter dem Blickwinkel einer Genealogie der Identitätsphilosophie die Geschichte der Episteme des Abendlandes als Genealogie der Diskurse des Selben zu betrachten. Der Verlust des Ähnlichkeitsdenkens von Mittelalter und Frührenaissance und die Trennung zwischen Mikro- und Makrokosmos, die sich durch die Erschütterungen des Wissens und die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in der Spätrenaissance ergaben, werden ab dem 17. Jahrhundert durch die Intervention des Diskurses der Logik getilgt, der Natur und Kultur, Körper und Geist mit der ›geometrischen Methode‹ regelt und sich mit Monumenten umgibt, welche den Idealen von Symmetrie und logischer Deduktion huldigen. Anstelle der Ähnlichkeit zwischen den Dingen ist es das Maß, das die Differenzen zum Selben aufhebt. Die Irritation, die aus der Revolution des Wissens durch Kopernikus, Kepler, Galilei, aus der Zersetzung der feudalen Gesellschaftsordnung, aus der Orientierungslosigkeit der Religionskriege, also nach den Erschütterungen traditioneller Ordnungsmuster, entsteht, verbindet sich mit dem Ordnungsanspruch des als Ordnungsstifter auftretenden barocken Staates und
Macht ausgestattete) Diskurs die Spur eines (epistemologisch nicht benennbaren) ›Abwesenden‹, Ausgeschlossenen, in sich trägt. 33 Vgl. B. Waldenfels: Der Stachel des Fremden, S. 51. 33
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später mit dem Identitätsbegehren des bürgerlichen Staates. Die Idee des Selbst und die Weichen für die Identitätsphilosophien werden dadurch gestellt, dass alles Andere, alles der Ordnung Fremde ausgesondert wird, bis zur Institutionalisierung einer totalen Vernunft in der Aufklärung, in der nicht nur Diskurse, sondern Anstalten und Kerker gebildet werden, um die Reinheit der Norm zu gewährleisten und sich ihrer Normalität zu vergewissern. Die Idee der Norm, die durch klassische Episteme entsteht, deren Zentrum das absolutistische Frankreich von Ludwig XIV. darstellt, bewirkt, dass man erst dann anfängt, »Schalksnarren, Landfahrer, falsche Spieler, Singer, Springer, Reimsprecher und dergleichen Lottergesinde«34 als fremd anzusehen, sie von der Gesellschaft auszusondern. Diese mit heutiger Terminologie als Randfiguren zu bezeichnenden Gestalten – die Narren – waren ja Bestandteil der feudalen mittelalterlichen Gesellschaft. Sie waren Vertreter am Hof des so genannten Volkes, einer inhomogenen, (nach heutiger Terminologie) ›multikulturellen‹ Gruppe, deren Kultur nach den Untersuchungen von Jacques Le Goff35 nicht mehr als dunkle, obskurantistische Legende gelten kann, sondern als der Beginn einer modernen Zeit, die durch die Segmentierung, Hierarchisierung und Inkulturation zunächst seitens der spätscholastischen Philosophie und des Klerus, im Spätmittelalter dann seitens der rationalistischen Philosophie und – ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert – seitens der Wissenschaften einen anderen Verlauf nahm, als es die Anlagen der mittelalterlichen Gesellschaft hätten ermöglichen können.36 Die Idee der Grenze zwischen Norm, Normalität und deren Opposition, dem Anomalen und Abnormen, setzt sich in der Sprache und damit im Bewußtsein fest, wobei ein Teufelskreis beginnt: je schärfer die Ausgrenzung, je elender die Bewusstseinslage der Fremden, desto drohender die Gebärde derer, die ›drinnen‹ sind.37 Der Begriff der ›Grenze‹ und entsprechende Gesetze entstehen zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Es ist die gleiche Zeit, in der der Wahnsinn in kerkerähnlichen Anstalten ausge34 Nach dem Wortlaut des Badischen Landrechts von 1710, zit. nach Michael Stolleis: »Die Fremden im frühmodernen Staat«, in: Die Zeit vom 2.7.1993, S. 27. Mit einer (implizit genealogischen) Rekonstruktion des europäischen Diskurses der Grenze geht Stolleis auf die Ereignisse der Ausgrenzung seit der Frühmoderne ein. 35 Jacques Le Goff: Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5. bis 15. Jahrhunderts, Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein 1984. 36 Vgl. Peter Burke: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock, Berlin: Wagenbach 1987. 37 Vgl. M. Stolleis: Die Fremden im frühmodernen Staat, S. 27. 34
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grenzt wird oder Monster produziert werden, die es der Norm erlauben, sich ihrer Normalität zu vergewissern. Ich beziehe mich auf die Zunahme der Kinderverstümmelungen zu lukrativen Zwecken, d.h. zur Produktion von Zirkuskuriositäten Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Interessanter als die obigen, von traditionellen Historikern in Details immer wieder kritisierten Befunde, erscheint mir die darunter liegende Frage nach den Bedingungen des Denkens über die Grenzen des Selbst hinaus. Foucault versucht, das Denken nach Außen zu kehren38, d.h. sich von Verstrickungen des Kanons, des Zentrums, d.h. der Diskurse zu befreien und diese aus einer Außenperspektive zu betrachten. Dieser Impuls stammt aus der Literatur; der zweite Satz von Les mots et les choses heißt: Es ist das Lachen, das Borges verursacht hat, ein Lachen, das die sichere Geographie, in der wir uns befinden, verunsichert, vor allem das tausendjährige Verhältnis zwischen dem Selben und dem Anderen. Was Foucault zur kritischen Perspektive einlädt, ist der Widerstreit zwischen verschiedenen Diskursen, zwischen verschiedenen Sichten, wie auch die Tatsache, dass die Dinge derart verkettet werden, dass ihre Kontiguität in der rationalen Logik keinen Ort findet. Auf Grund der Proliferation, des Überschusses der Details, und wegen der übertriebenen Wiederholung und parodistischen Tendenz wird die Literatur von Borges als »neubarock«39 bezeichnet. Aber auch die so genannte Epoche des europäischen Barock dient Foucault als Quelle von Einsichten in die Episteme der Epoche. Miguel de Cervantes nimmt dabei eine exponierte Stelle ein, denn mit Don Quijote erfahren die klassischen Epistemen der Ähnlichkeit eine parodistische Übersteigerung und damit eine Theatralisierung ihrer Logik. In barocker, übertriebener Weise wird dargestellt, wie ein Held inszeniert wird, der das Selbe sucht. Die Sprache hat ihre alte Verwandtschaft mit den Dingen verloren, sie muss repräsentiert werden, und im zweiten Buch findet sich Don Quijote vor dem Theater seiner Repräsentation und muss in den Buchstaben seines Buches seine Wirklichkeit finden. Die Repräsentation wird nötig, weil theozentrische Deutungen der Welt ihre Gültigkeit verloren haben. Die Welt ist nicht mehr wie ein Buch dechiffrierbar. Der tiefe Einschnitt zwischen Welt und Mensch muss vielmehr theatralisch überbrückt werden. Eine solche Geneaologie wird im Roman von Cervantes erkennbar, weil die Wiedergabe und der Überschuss bzw. die Transdiskursivität des literarischen 38 Vgl. B. Waldenfels: Auskehr des Denkens, S. 191ff. 39 In seinem Vorwort zur »Historia Universal de la Infamia« sieht Borges im Barock einen Stil, der den Höhepunkt der Literatur überhaupt darstellt: »[…] yo diría que es barroca la etapa final de todo arte, cuando éste exhibe y dilapida sus medios.« Jorge Luis Borges: »Historia Universal de la Infamia«, in: Prosa completa, Bd. I, Barcelona: Bruguera 1980, S. 243. 35
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Mediums diese stilisiert und ihre Kohärenzregeln entlarvt. Es sei an dieser Stelle deutlich hervorgehoben, dass die sich aus obigen Überlegungen ergebende Form der »Diskursanalyse« den Versuch meint, mit der Textlektüre den Widerstreit zwischen ›Literatur‹ und ›Diskurs‹, d.h. zwischen der paradoxalen, disseminalen Kraft der Literatur und den systematisch angelegten Diskursen nachzuzeichnen, denen die literarische Dissemination »wesensfremd und gefährlich« ist.40 Die Versuche, Foucaults statisches System einer Geschichte der Episteme durch literarische Beispiele zu widerlegen, lassen die hier im Zentrum stehende Seite von Foucault außer Acht, nämlich seine Anregung, die Rolle der Literatur im Widerstreit zu den Kohärenzregeln einzelner Diskurse zu sehen. Mit der impliziten Gleichsetzung von Diskurs und Literatur bzw. von Epistemen und kulturellem Phänomen – wie früher von ›Realität‹ und ›realistischem Diskurs‹ – werden erneut die Grenzen zwischen dem Objekt Kultur und der Metaebene (d.h. zwischen den Epistemen und dem Diskurs über sie) verwischt. Eine solche Verwischung immunisiert die Literaturwissenschaft gegen eine etwaige Provokation seitens des literarischen Gegenstandes. Die Literatur, zumindest potenziell der literarische Schreibakt, ist das sensitive Medium des nicht aufhebbaren Widerstreits zwischen Diskursen.41 Selbst der sich versöhnlich gebende literarische Diskurs, selbst die ›monologische‹ Stimme wird durch die Wiedergabe im literarischen Medium als Monolog sichtbar und damit potenziell denunzierbar.42 Kommen wir zurück auf Les mots et les choses. Foucault folgert, dass sich mit dem durch die Theatralisierungspraxis von Don Quijote 40 Vgl. Ph. Forget: Diskursanalyse versus Literaturwissenschaft?, S. 316. Zum Widerstreit zwischen dem Überschuss des literarischen Textes (Trans- und Interdiskursivität) und der Diskurse vgl. Waldenfels: Der Stachel des Fremden, S. 51f. Zu methodischen Überlegungen bezüglich einer solchen Auslegung des Diskursbegriffs vgl. V. Borsò: Utopie des kulturellen Dialogs. 41 Der Widerstreit zwischen den Diskursen, der daraus entsteht, dass jeder Diskurs ein Außen hat, kann nur durch Macht beigelegt werden. Wird dennoch versucht, grundlegende Konflikte mit zwingenden Gründen beizulegen, »so springt ein eigentümlicher Zwang heraus, der sich in das Gewand der Wahrheit hüllt. Dies lässt sich nicht erst bei Foucault lernen, sondern schon bei Hobbes, Nietzsche oder Max Weber«. B. Waldenfels: Auskehr des Denkens, S. 201. 42 So lautet der Grundsatz der bachtinschen Dialog-Theorie und der Modelltheorie von Jurij M. Lotman, denen zuzustimmen ist, soweit das literarische Medium betroffen ist. Bachtin und Lotman legen jedoch die Funktion von Dialog und Modell allerdings mimetisch und damit anders aus, als wir es im Sinne des Widerstreits vorschlagen. Vgl. V. Borsò: Utopie des kulturellen Dialogs. 36
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sichtbar gewordenen Bruch auch die Moderne ankündigt. Mit der Trennung zwischen Sprache und Welt ergibt sich auch die Trennung zwischen dem, was als ›realistische‹ Literatur gilt, die eine Mimesis der Natur vollzieht, und einer nicht realistischen Form von Repräsentation, welche dem Wahnsinn entspricht. Das (moderne) Denken in Kategorien des Realismus bekommt seinen Sinn dadurch, dass es sich vom Anderen, vom Wahnsinn abgrenzt. Das Ähnlichkeitsdenken, das magische Denken, das in der Prämoderne als eine Möglichkeit des Interpretierens von Ähnlichkeit galt, gehört nun zu den ›wilden‹ Ähnlichkeiten, zur verwirrenden Analogie. Der wahnsinnige Dichter erfüllt die Funktion, das zu repräsentieren, was nicht logisch ist, weswegen Quijote als Romantiker avant la lettre angesehen worden ist. Und der Quijote am Ende des Romans, derjenige, der um seinen Wahnsinn weiß und zwischen Wahnsinn und Realität trennen kann, ist der Prototyp des modernen Dichters, der auch Wahnsinniges repräsentiert, wissend, dass es sich um Repräsentation und nicht um Wirklichkeit handelt. Damit entsteht auch die Grundlage für das allegorische Denken im postmodernen Sinne. Folgt man der anhand von Cervantes und Velázquez gezeigten Spur Foucaults, dann lässt sich auch jene Literatur, die die Literaturgeschichte zur französischen Klassik rechnet, zwar als Vollendung des klassischen Ideals des Maßes sehen und schätzen – man denke z.B. an das Ebenmaß und die Schönheit des Alexandriners in den Tragödien von Racine – versucht man aber über die klassischen Epistemen hinaus die von Foucault geforderte Perspektive des Außen, d.h. des Verdrängten anzuwenden, das durch die literarische Stilisierung sichtbar wird, dann sieht man an den Grenzen bzw. an den Ausgrenzungen die Bemühungen der Diskurse, ihre Ordnung zu retten. Die Klassik lässt sich dann als die verzweifelte Suche nach dem artificium sehen, das die verloren gegangene Verbindung zwischen Dingen und Worten ›künstlich‹ herstellen soll. Schauen wir ein Beispiel an: Phèdre, eines der schönsten Werke der französischen Klassik, lässt sich psychologisch als der Kampf zwischen Vernunft und Begehren, d.h. zwischen Rationalität und Gefühl, und soziologisch als Konfrontation des Jansenismus mit der absoluten Monarchie von Ludwig XIV. lesen, wie es Lucien Goldmann (1959) vorbildlich getan hat. Darüber hinaus aber zeigt die Tragödie den Widerstand des Begehrens gegen das Regelwerk der Ordnung. Die Provokation destabilisiert letztere. Unter dieser Perspektive macht die Geschichte von Phèdre die verzweifelte Reaktion der Ordnung gegen die Durchbrechung durch Phèdres Geständnis einer inzestuösen, d.h. der natürlichen Ordnung zuwiderlaufenden Liebe sichtbar. Der Überschuss des Textes, d.h. das obsessive Insistieren auf dem Augenblick des Geständnisses legt dies offen. Das Geständnis zwingt Hippolyte, den Repräsentanten des klassischen Maßes und der
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kartesianischen Affektlehre zu sprachlichen Verschleierungs-, und Verdrängungsakten, die trotz des Geständnisses die Illusion der Ordnung43 aufrechterhalten sollen. Das ausgesprochene widernatürliche Begehren Phèdres provoziert die irrationale Reaktion der Vernunft. Das Monster des durch Theseus angerufenen Neptun hat mit dieser Tragödie das Licht der Sprache unwiderruflich gesehen. Mit der Macht der Episteme der Ordnung zeigt der Prozess des Textes aber auch deren Ohnmacht.44 Diese wird im Widerstreit der Diskurse sichtbar, den das literarische Medium austrägt. Tatsächlich stellt Foucault im Zusammenhang mit der Klassik den Beginn eines Widerstreits zwischen Wissen und Literatur dar: Die Literatur hat die Funktion eines nicht diskursiven Denkens. Die Rolle der Literatur wird vielmehr metasprachlich. Ihre Funktion ist, das krude Sein der Sprache zu manifestieren, die Macht der Sprache offen zu legen und die Ereignisse der Diskurse darzustellen.45 Am Ende der Aufklärung, hundert Jahre nach Ende der so genannten französischen Klassik, lässt sich der Widerstreit zwischen raison und coeur nicht mehr verbergen. Dieser führt vielmehr zum Ende der klassischen Episteme, ein Ende, das die französische Revolution definitiv herbeiführt. Auch hier ist es die Literatur des Marquis de Sade, die den Bruch sichtbar macht. Besonders die Inszenierung des Widerstreits zwischen der repräsentierten Ordnung der Leidenschaften (Justine) und dem Einbruch der von der Ordnung der Sprache verdrängten Begierde und ihrer Perversion (die Frau als reines Opfer, als ›obskures‹ Objekt der Begierde) zeigt, dass sich am Ende des 18. Jahrhunderts eine Auflösung des homogenen Gebiets geregelter Repräsentationen vollzogen hat. Diese Auflösung stellt die Bedingungen einer (modernen) Literatur dar, die das Diskursereignis in Szene setzt und
43 Hippolyte verweigert die Realität des Geständnisses: Er kann es nicht aussprechen. Weil er dem Vater Phèdres Geständnis nicht erzählen kann, setzt er sein Leben bis zum endgültigen tragischen Ausgang aufs Spiel. 44 Die Analyse von literarischen Texten unter diesem Gesichtspunkt ist provokativ und fördert verdrängte Aspekte zutage. Unter Bezug auf Foucaults La volonté de savoir und dessen Aufdeckung der Bedeutung des Schuldbekenntnisses für die Konstitution der Wahrheit des Subjektes in einem Regime aus Macht, Wissen und Lust zeigt beispielsweise Ursula Link-Heer, dass die Weigerung Prousts in La Recherche, von der eigenen Sexualität zu sprechen, eine Provokation gegen die Diskurse über die Wahrheit des Subjektes ist. Vgl. Ursula Link-Heer: »Die unbekennbare Sexualität. Zur Dissoziation von Autobiographie und Konfession in Prousts ›À la recherche du temps perdu‹«, in: Forum Homosexualität und Literatur 5 (1988), S. 45-58, hier S. 45f. 45 Vgl. M. Foucault: Les mots et les choses, S. 134. 38
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nicht mehr als Abbildung von Wirklichkeit gelesen werden kann. Dass dennoch eine solche ›moderne‹ literarische Praxis erst mit der Mimesiskritik von Charles Baudelaire oder nach der ›metaepistemologischen‹ Kritik realistischer und positivistischer Prämissen durch Gustave Flaubert gewissermaßen programmatisch wird, liegt an der fortdauernden Gültigkeit der Apriori der Repräsentation und der aristotelischen Mimesis auch über den klassischen Kanon des 17. und 18. Jahrhunderts hinaus. Der neue Sieg der Mimesis in den positivistischen Epistemen des 19. Jahrhunderts verschleppte die Dissolution des Diskurses des Selben bis zur modernen Mimesiskritik. Die Geschichte der Literaturwissenschaft zeigt, wie resistent das Mimesis-Apriori auch im 20. Jahrhundert gewesen ist46, und zwar gegen eine Literatur, die seit jenem Bruch zwischen Sprache und Welt eine Auflösung kohärenter Repräsentationen suchte.
Z u r E t hi k m o d er n e r K u l tu r w i ss e n s c h a ft en : Die Provokation d e r z e i tg e n ö s si s c he n L i t e r a tu r Die vorangehenden Feststellungen erfordern einen Exkurs zum Verhältnis von Prämoderne, Moderne und Postmoderne. Die Ausführungen zu Überschuss, Parodie und Theatralisierung in der barocken Literatur geben den Anschein, als könnten Prä- und Postmoderne aufeinander bezogen werden, während die Klassik und die historische Moderne unter der Herrschaft der Vernunft als eine Art temporärer Sündenfall der Literatur gelten. Dem widerspricht schon der im Vorangehenden besprochene Konflikt der Diskurse in der Klassik. Es lässt sich damit erneut behaupten, dass Literatur potenziell im Widerstreit zu den systematischen Epistemen steht – wenngleich auch im Zusammenhang mit ihnen, so dass die Form des Widerstreits in Prämoderne, Moderne und Postmoderne historisch unterschiedliche Formen annimmt. Was die Moderne betrifft, lässt sich dafür plädieren, im Sinne von Jean-François Lyotard die postklassische Epoche jenseits des Kanons eines so genannten modernen Einheitsbegehrens oder der Entelechie der revolutionären Geschichte zu verstehen.47 Auch hier zeigt sich, dass die Beachtung des Widerstreits zwi46 Ein besonders beredtes Beispiel liefert die Mimesis-Theorie von Paul Ricœur und sein Ausschluss jener narrativen Texte des 20. Jahrhunderts aus dem Bereich der Ästhetik, die nicht mehr unter mimetischen Einheiten zu fassen sind. Vgl. ders.: Temps et récit, Bd. 2, Paris: Seuil 1984. 47 Vgl. Jean-François Lyotard: »Re-writing Modernity«, in: Substance 16, 3 (1987), S. 3-9, hier S. 3f. Ein neues ›Redigieren‹ der Moderne scheint auch im Zusammenhang mit der Geschichte der lateinamerikanischen Episteme 39
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schen Literatur und Epistemologie die Bedingung für die Erkenntnis ist, dass sich auch die Literatur der klassischen Moderne als Problematisierung von wissenschaftlichen Kategorien zu ihrer eigenen Definition lesen lässt. Freilich lassen sich epistemologische Unterschiede feststellen. Diese betreffen vor allem den seit der Moderne intentional metaepistemologischen und allegorischen Status der im literarischen Medium verarbeiteten Diskurse sowie den Grad der Auflösung kohärenter Repräsentationen. In den so genannten neobarocken Tendenzen der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur, bei denen neben Jorge Luis Borges auch viele andere bedeutende Schriftsteller zu nennen sind, wie der Kubaner José Lezama Lima, steht eine Kritik der Instrumente und der Deutungsmuster von Kultur im Zentrum.48 Auch die weiter oben angeführte parodistische Wirkung der Wiedergabe fremder Stimmen wird bei den historischen Romanen der 1980er Jahre als Mittel zur Demontierungspraxis des diktatorischen Diskurses programmatisch gewählt.49 Um aber nicht den missverständlichen Eindruck einer umgekehrten Polarisierung auf Lateinamerika zu erwecken, möchte ich mich hier auf zwei Beispiele aus der italienischen Literatur beziehen: Alberto Moravia und Italo Calvino. In einem der letzten Romane von Moravia, La vita interiore50, zeigt sich die kritische Arbeit des Romans im Bereich des Diskurses der Erotik, mit dem sich das neuzeitliche Subjekt eine offene Identität zu geben glaubte. Der Roman illustriert die unhintergehbare Bindung des Subjekgeboten zu sein. Vgl. z.B. Vittoria Borsò: »Mexikanische ›Crónicas‹ zwischen Erzählung und Geschichte – Kulturtheoretische Überlegungen zur Dekonstruktion von Historiographie und nationalen Identitätsbildern«, in: Birgit Scharlau (Hg.), Lateinamerika Denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen: Gunter Narr 1994, S. 278-296. 48 Der hispanoamerikanische Barock funktioniert schon von Anfang an als kritischer Spiegel. Sieht man den Barock als eine Parodie der klassischen Ästhetik, dann ist der lateinamerikanische Barock – so die einhellige Meinung der Fachwelt – eine Parodie der Parodie, denn durch den Transfer in die so genannte Neue Welt und die Wiederholung der spanischen Norm des Barock ergaben sich zusätzliche Transgressionen, die in den Augen der Norm des europäischen Barock parodistisch und komisch wirken. Vgl. hierzu V. Borsò: Mexiko jenseits der Einsamkeit. 49 Es war der grundlegende Text von Yo el Supremo des paraguayischen Schriftstellers Augusto Roa Bastos, der den Mythos des Diktators durch zahlreiche Formen der parodistischen Wiedergabe seiner Stimme zu zerstören vermochte. Vgl. ders.: Yo el Supremo, Buenos Aires: Siglo XXI Argentina Editores 1974. 50 Alberto Moravia: La vita interiore, Mailand: Bompiani 1978. 40
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tes an die symbolischen Systeme, an die Diskurse der Erotik, also die Beherrschung des Begehrens durch seine Repräsentationen. Indem aber Moravia die Diskurse der Erotik entlarvt, verfolgt er gleichzeitig das ethische Ziel, die Verantwortung des Subjektes, das Ausgegrenzte im Menschen zu retten. Die ›Perversion‹, zu der die Protagonistin, Desideria, als ein ›obscur objet du désir‹ gezwungen wird, schließt an de Sades’ Justine an. Desideria wird in dem Maße zum Medium der Revolte, indem sie die auf sie konzentrierten Diskurse des Begehrens und der Moral derart in Widerstreit zueinander führt, dass sich diese Diskurse in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit entlarven, während aus ihrem ›Scheiterhaufen‹ immer wieder die Erfahrung der Verantwortung des Subjektes gegenüber der konkreten Existenz des Menschen aufleuchtet.51 Moravia findet eine beeindruckende Metapher für dieses, sein Werk in verschiedener Ausformung durchlaufende Anliegen: »Bruciate pure l’uomo, lascerà sempre un residuo« (»Wann immer Sie auch den Menschen verbrennen, er wird Reste hinterlassen«).52 Italo Calvino zeigt in anderer Weise eine ähnliche Form des ethischen Engagements, nämlich der Kritik, die Selbstkritik einbezieht. Anhand verschiedener Untersuchungen hat Ulrich Schulz-Buschhaus dargestellt53, wie sich die Vernunft in Calvinos Werk des Willens zur Macht bewusst wird, ein Wille zur Macht, der nicht nur im Bereich der Politik, sondern auch in der Sphäre des Geistes (Literatur, Theorie, Wissenschaft) wirkt. Auch Calvino bringt Sektoren mit ideologischen Oppositionen in Berührung und provoziert die Auflösung jener Utopien, die der Politik das Pathos von Religion übertrugen und sie mit der Entscheidungsgewalt über Paradies und Apokalypse, Himmel und Hölle ausstatteten. Indem er dies tut, vermittelt er unserer Gegenwart eine wichtige Botschaft. Sie schließt mit einer Epoche ab, in der das Politische durch manichäische Beschwörungen künftiger Erlösung und künftiger Verdammnis moralisch überfordert worden war. Calvino arbeitet hier im Be-
51 Zu einer ausführlichen Analyse vgl. Vittoria Borsò: »Die Ethik des Kreatürlichen bei Alberto Moravia«, in: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.), Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 217-231. 52 Alberto Moravia: L’uomo come fine e altri saggi, Mailand: Bompiani 1964. 53 Vgl. z.B. Ulrich Schulz-Buschhaus: »Calvinos politischer Roman vom Baron auf den Bäumen«, in: Romanische Forschungen 90 (1978), S. 17-34. Im Folgenden beziehe ich mich auf seine Befunde zu Il barone rampante und Le città invisibili. Vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus: »Die Geburt einer Avantgarde aus der Apotheose des Krieges. Zu Marinettis Poetik der ›parole in libertà‹«, in: Romanische Forschungen 104, 1/2 (1992), S. 132-151. 41
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reich des Diskurses der Utopie.54 Seine Anti-Utopien sind die Absage an eine Zukunft, die mit dem Fortschritt gleichgesetzt wird, nicht aber eine Absage an die Zeit der Geschichte. Die Antiutopien konfrontieren vielmehr mit der Relativität jeder in der Gegenwart eingenommenen Position. Hier finden wir erneut eine Parallele zur aktuellen Literatur Lateinamerikas, wobei die gegenwärtige Situation lateinamerikanischer Länder aus verschiedenen politischen und kulturellen Gründen mit dem Ende der Utopie gleichgesetzt werden kann. Das Erwachen eines historischen Bewusstseins in der lateinamerikanischen Literatur, die sich nunmehr gegen die Vereinnahmung durch die mythischen Alteritätsbilder der alten Welt sperrt, thematisiert die Erinnerung an die Schrecken ihrer neuesten Geschichte als Mahnbild für eine Gegenwart, die sich nur durch das Bewusstsein, die Vergangenheit einer möglichen zukünftigen Apokalypse zu sein, zur Verantwortung für die Erhaltung des Lebens in der Zukunft bekennt.
D i e E i n s i c h t i n d i e T o t a l i tä t d e r M ac h t ( F o u c a u l t ) a l s V o r a u s s e t z u n g e i n e r u n e n d l i c h e n E t hi k ( L e v i n a s) Ich schließe ab mit wenigen Überlegungen zur Philosophie des Anderen von Emmanuel Levinas55, zu dessen eigentlicher Aktualität der Weg über Foucault die Tür öffnet. Ich möchte dabei die selten in Betracht gezogenen Parallelen einer ethischen Frage bei beiden Denkern hervorheben. Levinas nimmt zwar die Notwendigkeit eines an den Diskurs-Begriff von Jürgen Habermas erinnernden Systems von ›kohärenten Reden‹ zu-
54 Die Feststellung, dass die ›barocke‹ Heterotopie durch ihre destabilisierende Wirkung eine diskurskritische Perspektive nahe legt, die eine Art Sicht von Außen leistet, ist beispielsweise ein Motiv in der Essay-Sammlung Collezione di sabbia des gleichen Schriftstellers. Die so genannte ›barocke‹, übermäßige, ›unklassische‹ Natur Lateinamerikas (Mexikos) wird als Emblem hierfür gewählt: »E’attraverso un caotico spreco di materia e di forme che l’albero riesce a darsi una forma e a mantenerla? Vuol dire che la trasmissione d’un senso s’assicura nella smoderatezza del manifestarsi, nella profusione dell’esprimere se stessi, nel buttare fuori, vada come vada? Per temperamento ed educazione sono sempre stato convinto che solo conta e resiste ciò che è concentrato verso un fine. Ora l’albero di Tule mi smentisce, vuol convincermi del contrario.« Italo Calvino: Collezione di sabbia, Mailand: Mondadori 1990, S. 205f. 55 Zu einer ausführlicheren Besprechung vgl. V. Borsò: Mexiko jenseits der Einsamkeit. 42
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nächst an, die die Sprache als geregelte Form der Einigung gestalten und die nicht nur widerspruchsfrei, sondern auch intersubjektiv gelten sollen. Bereits Levinas’ Behauptung, die Regeln der Rede stünden nicht in der Macht eines bestimmten Subjektes, sondern es seien vielmehr die Subjekte, die der Macht der Rede unterworfen sind, stimmt aber mit dem Kerngedanken der Diskurstheorie von Michel Foucault überein. Auf der anderen Seite ist bei Foucault eine »Ethik ohne Normativismus« im Sinne eines Ethos des Denkens selbst anzunehmen56, während auch für Levinas die Einsicht in die Totalität der Macht der Diskurse die Voraussetzung dafür ist, dass die ethische Frage nach dem Anderen gestellt wird. Levinas hält an der Unterscheidung zwischen ›endlicher‹ und ›unendlicher‹ Ethik fest und lässt damit etwaige Differenzierungen zwischen Moralismus als normativem System einer Sittenlehre und Ethik als einer objektivierbaren und transsubjektiv überprüfbaren Analyse moralischen Argumentierens durch eine vernünftige Willensbildung hinter sich.57 Die Ethik des Anderen kann nicht in Sprechakten, in Diskursen aufgehen. Es ist ein Prinzip, das wiederum das Denken Levinas zur radikalen Kritik der Diskurse durch Foucault führt. Das Andere lässt sich nicht epistemologisch denken, denn je mehr das Andere verständlich wird, desto gelungener ist die Zerstörung von dessen Andersheit.58 Die ethische Frage nach dem Anderen kann nur gestellt werden, wenn die »radikale Unmöglichkeit, […] von sich und dem Anderen in der gleichen Weise zu reden«59 kritisch bedacht wird. Eine solche Exteriorität muss als radikal heterogene, asymmetrische Verbindung zwischen dem Selbst und dem Anderen ohne versöhnliche Synthesen vorgestellt werden. Dabei besteht die Möglichkeit, die Andersheit des Anderen als einen Impuls zur Annahme einer ›Sicht des Außen‹ zu begreifen. Eine solche asymmetrische Beziehung zwischen literarischen Texten und Wissenschaft zu bedenken, bedeutet, die Rolle der Literatur als die Exteriorität der Wissenschaften und damit als Provokation des Außen zu begreifen. Alle Denkanstrengungen von Levinas zielen darauf ab, die Existenzphilosophie soweit zu radikalisieren, dass die Kritik schon an einer der Grundlagen zur Definition des Menschen ansetzt: der Identität. Hierin liegt auch die Gemeinsamkeit mit dem Denken Foucaults. Jede Festle56 Vgl. B. Waldenfels: »Cultura propria e cultura estranea. Il paradosso di una scienza dell’estraneo«, in: Paradigmi 10, 30 (1992), S. 644-663. 57 Vgl. Oswald Schwemmer: Philosophie der Praxis. Versuch zu einer Grundlegung einer Lehre vom moralischen Argumentieren, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1971. 58 Vgl. B. Waldenfels: Cultura propria e cultura estranea, S. 655. 59 E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 67. 43
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gung der Identität, sei diese theologisch, psychologisch (soziologisch) oder logisch, impliziert einen festen, von der Willkür der jeweiligen Position abhängigen Standpunkt des ›Hier und Jetzt‹, aus dem heraus die Bezüglichkeit von Innen nach Außen festgelegt wird. Aus der Sicherheit seiner epistemologischen Heimat, d.h. des Innen und Außen, ordnet das logische Subjekt das Andere. Levinas zieht es vor, vom »anderen Menschen« zu sprechen. Das Andere ist keine epistemologische Größe. Die Sprachskepsis und die Skepsis im Hinblick auf die Erreichbarkeit des Anderen durch das intersubjektive Reden einer impersonalen Vernunft – also die Unmöglichkeit des versöhnlichen Dialogs – ist gerade die Grundbedingung für die Rettung einer dialogischen Offenheit des Subjektes. Die Asymmetrie zwischen dem Vernunft- und Sprachsubjekt und dem Anderen ist die conditio sine qua non der dialogischen Situation.60 Eine solche kulturphilosophische Position scheint mir zu gewährleisten, dass nicht die Willkür eines kulturellen Standpunkts oder eines analytischen Standortes territoriale Grenzen als ontologisch betrachtet. Sofern die Wissenschaft die Fremdheit von literarischen Texten (etwa denen von Borges im Beispiel Foucaults) oder auch die Fremdheit kultureller Ereignisse als Einladung zur kritischen Reflexion über die Diskurse der Identität und der Alterität annimmt, tritt mit der Destabilisierung dieser Diskurse (und erst dann) die Wirkung ein, die Erkenntnisoffenheit vermittelt und Anlass zur Entwicklung einer das Selbst in Frage stellenden Ethik gibt. Die Kritik Foucaults verhindert, dass Levinas Anstrengung, die Frage nach dem Anderen zu stellen, zu leicht versöhnliche Lösungen findet. Foucault macht jede Lösungsformel des Problems des Anderen fragwürdig und verdächtig. Es zeigt sich, dass die Integration des Anderen in eine Pragmatik der kommunikativen Vernunft oder in die ästhetische Kommunikation dem Anderen nur scheinbar gerecht wird.61 Die so genannte Entdeckung des Anderen im Selbst ist vielmehr eine versöhnliche Illusion, die die Gefahr birgt, dass das Selbst sich des Anderen in noch subtilerer Weise bemächtigt. Mit Foucault und Levinas wird man vor einer doppelten Versuchung gewarnt: Den Menschen, eine Gruppe von Menschen oder kulturelle Phänomene auf Modelle von Identität und Alterität zu reduzieren.
60 Vgl. Wolfgang N. Krewani: Emmanuel Levinas. Denker des Anderen, Freiburg, München: Alber 1992, S. 156f. und Stephen G. Crowell: »Dialogue and Text: Re-making the Difference«, in: Tullio Maranhao (Hg.), Interpretation of Dialogue, Chicago: University of Chicago Press 1990, S. 338-360, hier S. 356f. 61 Vgl. B. Waldenfels: Der Stachel des Fremden, S. 43-52. 44
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L i t e r at u r Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval, Frankfurt/Main 1990. Bastos, Augusto Roa: Yo el Supremo, Buenos Aires: Siglo XXI Argentina Editores 1974. Borges, Jorge Luis: »Historia Universal de la Infamia«, in: Prosa completa, Bd. I, Barcelona: Bruguera 1980. Borsò, Vittoria: »Utopie des kulturellen Dialogs oder Heterotopie der Diskurse?«, in: Klaus Hempfer (Hg.), Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart: Steiner 1991, S. 95-117 (im vorliegenden Band S. 49-78). Dies.: »Die Aktualität mexikanischer Literatur: Von der Identität zur Heterogenität«, Iberoamericana, 2, 46 (1992), S. 84-108. Dies.: »Der moderne mexikanische Essay«, in: Dietrich Briesemeister/Klaus Zimmermann (Hg.), Mexiko Heute, Frankfurt/Main: Vervuert 1992, S. 535-566. Dies.: Mexiko jenseits der Einsamkeit. Versuch einer interkulturellen Analyse, Frankfurt/Main: Vervuert 1994, Kapitel II. Dies.: »Mexikanische ›Crónicas‹ zwischen Erzählung und Geschichte – Kulturtheoretische Überlegungen zur Dekonstruktion von Historiographie und nationalen Identitätsbildern«, in: Birgit Scharlau (Hg.), Lateinamerika Denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen: Gunter Narr 1994, S. 278296. Dies.: »Die Ethik des Kreatürlichen bei Alberto Moravia«, in: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.), Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 217-231. Breinig, Helmbrecht: Interamerikanische Beziehungen, Frankfurt/Main: Vervuert 1990. Ders.: (Hg.): »Alteritätsdiskurs und Literatur: Nordamerikanische Lateinamerika-Romane der Gegenwart«, in: Soziale Welt, Sonderband 8, 179 (1992), S. 179-193. Burke, Peter: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock, Berlin: Wagenbach 1987. Calvino, Italo: Collezione di sabbia, Mailand: Mondadori 1990. Crowell, Stephen G.: »Dialogue and Text: Re-making the Difference«, in: Tullio Maranhao (Hg.), Interpretation of Dialogue, Chicago: University of Chicago Press 1990, S. 338-360. Forget, Philippe: »Diskursanalyse versus Literaturwissenschaft?«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1988, S. 311-329.
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Foucault, Michel: Histoire de la folie à l’âge classique, Paris: Gallimard 1961. Ders.: Les mots et les choses, Paris: Gallimard 1966. Ders.: Archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969. Ders.: L’ordre du discours, Paris: Gallimard 1971. Ders.: Surveiller et punir, Paris: Gallimard 1975. Ders.: La volonté de savoir, Paris: Gallimard 1976. Ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein 1979. Ders.: »Einleitung«, in: ders.: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 7-46. Frank, Manfred: »Zum Diskursbegriff bei Foucault«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 9-24. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. Heinrichs, Hans-Jürgen: »Das Unbewußte und das Fremde. Die Einflüsse von Psychoanalyse (Lacan) und Ethnologie (Leiris) auf die moderne Philosophie«, in: Peter Kemper (Hg.), »Postmoderne« oder Der Kampf um die Zukunft, Frankfurt/Main: Fischer 1988, S. 59-81. Krewani, Wolfgang N.: Emmanuel Levinas. Denker des Anderen, Freiburg, München: Alber 1992. Le Goff, Jacques: Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5. bis 15. Jahrhunderts, Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein 1984. Leiris, Michel: Phantom Afrika, Bd. 1 und 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980 und 1984. Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg, München: Alber 1987. Link, Jürgen: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München: Fink 1983. Ders.: »Noch einmal: Diskurs, Interdiskurs, Macht«, in: kultuRRevoltion 11 (1986), S. 4-7. Link-Heer, Ursula: »Die unbekennbare Sexualität. Zur Dissoziation von Autobiographie und Konfession in Prousts ›À la recherche du temps perdu‹«, in: Forum Homosexualität und Literatur 5 (1988), S. 45-58. Lyotard, Jean-François: »Re-writing Modernity«, in: Substance 16, 3 (1987), S. 3-9. Matthes, Joachim: »Kulturvergleich: Einige methodologische Anmerkungen«, in: Helmbrecht Breinig (Hg.), Interamerikanische Beziehungen, S. 13-24. Moravia, Alberto: L’uomo come fine e altri saggi, Mailand: Bompiani 1964.
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Ders.: La vita interiore, Mailand: Bompiani 1978. Ricœur, Paul: Temps et récit, Bd. 2, Paris: Seuil 1984. Schulz-Buschhaus, Ulrich: »Calvinos politischer Roman vom Baron auf den Bäumen«, in: Romanische Forschungen 90 (1978), S. 17-34. Ders.: »Die Geburt einer Avantgarde aus der Apotheose des Krieges. Zu Marinettis Poetik der ›parole in libertà‹«, in: Romanische Forschungen 104, 1/2 (1992), S. 132-151. Schwemmer, Oswald: Philosophie der Praxis. Versuch zu einer Grundlegung einer Lehre vom moralischen Argumentieren, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1971. Stolleis, Michael: »Die Fremden im frühmodernen Staat«, in: Die Zeit vom 2.7.1993, S. 27. Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas: das Problem des Anderen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990. Waldenfels, Bernhard: »Michel Foucault. Auskehr des Denkens«, in: Margot Fleischer (Hg.), Philosophen des 20. Jahrhunderts, Darmstadt: WBG 1990, S. 191-203. Ders.: Der Stachel des Fremden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990. Ders.: »Cultura propria e cultura estranea. Il paradosso di una scienza dell’estraneo«, in: Paradigmi 10, 30 (1992), S. 644-663. Zima, Peter: Literarische Ästhetik, München: Francke 1991.
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U T O P I E D E S K UL T U R E L L E N D I A L O G S O D E R H E T E R O T O P I E D E R D I S K U R S E ?* La letteratura (e forse solo la letteratura) può curare degli anticorpi che contrastino con l’espandersi della peste del linguaggio. (Italo Calvino)
Mit dem Interesse der Postmoderne an Fragen der Alterität haben die Begriffe von Dialog und Diskurs auch in der gängigen Literaturwissenschaft an Bedeutung gewonnen.1 Die Auseinandersetzung mit den Studien zum Dialog, die Michail Bachtin in den 1930er Jahren begann, hat verschiedene, teilweise deutlich divergierende Interpretationen des Dialogbegriffs ergeben.2 So kontrastiert die Auslegung der Dialogizität des Romans als Mimesis einer ›offenen‹ Wirklichkeit und einer kulturellen Vielfalt mit der poststrukturalistischen Variante von Polylog und Intertextualität, die durch Julia Kristeva – ebenfalls ausgehend von der Ästhetik Bachtins – entwickelt wurde. Als Gegenbegriff eines mimetisch ausgelegten und als Beschreibungsmodell von Kulturpluralität verstandenen Dialogs wird teilweise der Diskursbegriff im Sinne von Michel Foucault *
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Erstmals erschienen in: Klaus W. Hempfer (Hg.): Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart: Franz Steiner 1992, S. 95-117. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Vgl. z.B. Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. Deutschfranzösische Debatte, München: Fink 1984, und Tullio Maranhão (Hg.): The interpretation of dialogue, Chicago: Chicago UP 1990. Dem Begriff des Dialogs im Sinne von Gespräch bzw. Kommunikation steht die französische Philosophie der Postmoderne kritisch gegenüber – eine schon in Levinas’ Kritik am Humanismus antizipierte Position, die besonders bei Derrida deutlich wird, während Lyotard insoweit eine Zwischenposition einnimmt, als die Fragmentation der récits in der Moderne die Möglichkeit des freien Spiels zulässt. Vgl. Emmanuel Levinas: Humanisme et l’autre homme, Paris: Fata Morgana 1972; vgl. Jacques Derrida: Guter Wille zur Macht (I). Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer, in: Ph. Forget, Text und Interpretation, S. 56-58; vgl. Jean-François Lyotard: La condition postmoderne, Paris: Minuit 1979. Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität, München: Fink 1983. 49
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angesehen: Bezeichnet der als Wirklichkeitsmodell verstandene Dialog eine pluralistische Ideologie (Weltsicht), so soll der Diskursbegriff den Akzent auf die hegemoniale Seite von ideologischen Systemen legen. Aus dem umfangreichen Werk beider Autoren sollen nur Aspekte behandelt werden, die einen Vergleich zwischen der im bachtinschen Dialogbegriff implizierten Modelltheorie und dem Diskursbegriff Foucaults im Hinblick auf ihren epistemologischen Status ermöglichen. Leitend ist dabei die Frage nach den Prämissen und Auswirkungen beider Ansätze für die Literaturwissenschaft. Während aus den verschiedenen Interpretationen Bachtins in folgenden Überlegungen die modelltheoretische Komponente herausgegriffen wird, sollen bei dem umstrittenen Werk von Foucault zwei Implikationen des Diskursbegriffs im Vordergrund stehen: Die Regelsysteme und die Konfigurationen, die als historisches Apriori der Sprache gelten3, und die andere Seite, d.h. die Brüche des Systems4. Letztere erscheint für das Verhältnis des Diskurses zur Literatur von besonderem Interesse. In einem zweiten Abschnitt werden die aus dem theoretischen Vergleich gewonnenen Thesen an einem Essay von Jorge Luis Borges mit dem Titel »Vindicación de ›Bouvard et Pécuchet‹« aus der 1932 verfassten Sammlung Discusión illustriert.5 Auf Borges nimmt Foucault im Vorwort zu Les mots et les choses selbst Bezug. Bei der Betrachtung beider Ansätze steht die Frage nach kultureller Alterität im Mittelpunkt, wobei der epistemologische Status der Alterität die besprochenen Theorien grundlegend unterscheidet. Auf den Dialogbegriff Bachtins, der die Möglichkeit sucht, Alterität als ›kulturelle Pluralität‹ beschreibbar zu machen, wird zunächst einzugehen sein.
1 . A l te r i t ä t a l s a n t h r o p o l o g i sc h e r u n d k u l tu r p h i l o so p h i sc her B eg r i f f Bachtin zufolge trägt das Wort die Spur des Anderen, weil es in ein ›Meer‹ von kulturellen Zeichen getaucht ist. Dieser in zahlreichen Werken Bachtins wiederkehrende Kernsatz seiner Ästhetik6 gilt auf verschiedenen Begriffsebenen: Das Konzept der Alterität des Wortes, das Bach3 4 5 6
Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris: Gallimard 1966. Diese stellen einen wichtigen Aspekt dar von Michel Foucault: L’archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969. Jorge Luis Borges: »Vindicación de ›Bouvard et Pécuchet‹«, in: ders.: Obras completas (1923-1972), Buenos Aires: Emecé 1974, S. 259-262. Zur Vertiefung siehe Vittoria Borsò: Metapher: Erfahrungs- und Erkenntnismittel, Tübingen: Narr 1985. 50
UTOPIE DES KULTURELLEN DIALOGS
tins Ästhetik begründet, gilt zugleich als formale, textbezogene Beschreibungskategorie und als sprachphilosophische und anthropologische Bedingung von Kultur.7 ›Alterität‹ definiert eine Bewusstseinsstruktur, die onto- und phylogenetisch als dialogisch verstanden wird. Das Wort ist damit nur als soziale und kommunikative Instanz zu denken. Dieser Grundsatz, der im Zusammenhang mit einer Kritik am rein kunstbezogenen Verständnis des Deautomatisierungsverfahrens durch die Russischen Formalisten hervorgehoben wurde8, legte schon in den 1930er Jahren den Rahmen einer ›Translinguistik‹9 (Semiotik), die das Zeichen im sozialen und ideologischen Kontext zu analysieren suchte. Das Wort ist nach Bachtin mit der Stimme des Sozialen durchsetzt; die Rede, mit der sich individuelles und kollektives Bewusstsein artikuliert, ist sodann durch die Stimme des Anderen durchbrochen. Bachtin führt hierzu die Kategorie der Extopie10 ein und postuliert, dass die Auseinandersetzung mit dem Anderen11 die Bedingung für die Entstehung von kulturellem und persön-
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Zu diesem Problemkomplex vgl. ausführlicher V. Borsò: Metapher, S. 1618 und S. 214-217. 8 Vgl. Pavel N. Medvedev (vermutlich von Michail Bachtin): Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, übersetzt und hg. von Helmut Glück, Stuttgart: Metzler 1976 [1928]. Vgl. die umfangreiche Studie von Augusto Ponzio: Michail Bachtin. Alle origini della semiotica sovietica, Bari: Dedalo 1980, S. 85ff. 9 Mit diesem Begriff meint Bachtin die Notwendigkeit einer sich pluridisziplinär verstehenden Zeichenwissenschaft. Vgl. hierzu Julia Kristeva: Semeiotikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris: Seuil 1969, Tzvetan Todorov: Mikhail Bakhtine. Le principe dialogique, Paris: Seuil 1981, und A. Ponzio: Michail Bachtin. 10 Die Manifestation der Extopie als diskursstrukturelles Verfahren, d.h. als Eigenschaft der énonciation, wird durch Todorov mit dem Begriff der »Hétérologie« – als Übersetzung des von Bachtin eingeführten Neologismus raznorechie bezeichnet, während Alterität die philosophische Ebene der Dialogizität meint. Vgl. T. Todorov: Mikhail Bakhtine, S. 88ff. Todorov arbeitet die Beziehung Bachtins zu Martin Buber sowie auch die größere Nähe zum Existenzialismus (mit Bezug auf Heidegger) als zum Marxismus heraus. Vgl. ebd., S. 151f. Zur Diskussion der Darstellung Todorovs vgl. V. Borsò: Metapher, S. 214, Anm. 24. 11 Siehe z.B.: »Toutes les caractéristiques et définitions de l’être présent qui mettent cet être en mouvement dramatique depuis l’anthropomorphisme naïf du mythe […] jusqu’aux procédés de l’art contemporain et aux catégories de la philosophie intuitive esthétisante, brûlent de la lumière empruntée de l’altérité«. T. Todorov: Mikhail Bakhtine, S. 154. 51
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lichem12 Bewusstsein ist, das zunächst vielstimmig – als Dialog mit dem Anderen – entsteht und nur als Sonderfall zu einer monologischen Manifestation führt. Dies gilt wiederum auf individueller wie kollektiver Ebene. Letzteres ist dokumentiert durch die Aussagen Bachtins zu einheitlichen Nationalsprachen, die als Antwort auf bestimmte historische Bedürfnisse und als Vereinheitlichung koexistierender Soziolekte und Dialekte entstehen.13 Unter den vorangehenden Prämissen ist der Dialog des Zeichens mit anderen Zeichen aus dem sozialen Kontext14 die Verwirklichungsbedingung von Semiose15 überhaupt, wobei die Zeichenmaterialität eine doppelte Funktion erfüllt: als konkreter Zeichenkörper, aber auch als Verweisstruktur auf historische und soziale Prozesse.16 Hierin liegt eine der schönen Seiten Bachtins, nämlich im Gegensatz zu den eher linguistisch orientierten Ansätzen der Formalisten die pragmatische Seite des Zeichens schon sehr früh als integralen Teil der Textwissenschaft betrachtet zu haben, weswegen sein Ansatz auch in der zeitgenössischen internationalen Semiotik eine wesentliche Rolle spielt. Mit dem Modell des Gesprächs wird das Soziale als Pluralität von Stimmen17 verstanden, wobei die Stimme den Baustein von ›Reden‹ und 12 »Comme le corps est initialment formé dans le ventre de la mère (dans son corps), de même la conscience humaine se réveille enveloppée par la conscience d’autrui.« Ebd., S. 148. 13 Vgl. A. Ponzio: Michail Bachtin, S. 122. 14 Dies gilt etwa bezüglich der ›sozialen‹ – im Sinne von zeichenhaften – Natur des Menschen schon 1930 bei Valentin Vološinov (vermutlich von Michail Bachtin): Marxismus und Sprachphilosophie, Frankfurt/Main: Ullstein 1975, S. 70f., 142 und 143f. 15 Rainer Grübel spricht deswegen von der triadischen Konstitution des Zeichens im Denken Bachtins. Grübel geht dabei von einer Analogie zwischen der triadischen Zeichenkonzeption nach Peirce und den Begriffen ›Wort‹, ›Bewusstsein‹ und ›Tat‹, insbesondere im ›Phantastischen Realismus‹ Dostojewskis aus. Rainer Grübel: »Die triadische Zeichenpraxis im phantastischen Realismus von Dostoevskij«, in: Klaus Oehler (Hg.), Zeichen und Realität, Bd. 1/II, Tübingen: Stauffenburg 1984, S. 487-496. Zu den semiotischen Implikationen der Theorie Bachtins siehe auch A. Ponzio: Michail Bachtin, S. 197ff. 16 In der Betonung der ideologischen Natur des Zeichenprozesses liegt u.a. die Kritik Bachtins an den Begriffen von Verfahren und Konstruktion seitens der Russischen Formalisten, vor allem im Ansatz von Viktor Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren«, in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus, München: Fink 1971, S. 5-35. 17 Zur Darstellung der poststrukturalistischen Kritik am Begriff der Stimme vgl. V. Borsò: Metapher, S. 215, Anm. 25. 52
UTOPIE DES KULTURELLEN DIALOGS
Weltsichten darstellt. Soziale Kontexte sind die Verwirklichungssphäre des dialogischen Prinzips, während der polyphone, d.h. der vielstimmige Roman als diejenige Form der Kunst gilt, die eine pluralistische Vision von Wirklichkeit vermittelt. Bachtin zufolge gelten die Texte Dostojewskis als Prototyp des vielstimmigen Romans, dessen Vorläufer der sokratische Dialog und die menippeische Satire sind.18 Als Vervollkommnung beider realisiert der Roman eine Vielstimmigkeit auf verschiedenen Ebenen: a) stilistisch durch die Verfahren von Parodie, Stilisierung und indirekter Polemik, die b) Ausdrucksmittel eines grundlegenderen Prinzips sind, nämlich eines vielstimmigen Bewusstseins, wobei c) das Genre des Romans die maximale Form der Intertextualität realisiert, indem es andere Gattungen als ›fremde Stimmen‹ zitiert und kritisch bricht. Das romaneske Wort wird somit grundsätzlich als ›stilisiert‹ und gebrochen ›wiedergegeben‹. Das »Karnevaleske« und damit das Komische in der Volkstradition stellt schließlich die Wurzel der Vielstimmigkeit des Romans dar, wodurch mit der Kulturpluralität auch der Aspekt der Subversivität in den Vordergrund rückt – Einsichten, die Bachtin aus den Studien zu Rabelais gewann.19 Mit dem karnevalesken Prinzip gibt die Theorie Bachtins der kulturellen Vielfalt, die als charakteristisch für das Genre des vielstimmigen Romans angesehen wird, einen subversiven Charakter.
1.1 Ableitung des Modellbegriffs aus der Vielstimmigkeit Bachtin hebt hervor, dass das romaneske Zeichen notwendigerweise eine »Wiedergabe« und nicht eine »Abbildung« der »Rede« ist.20 Die Begriffe »Abbildung« und »Wiedergabe« (Modellierung) lassen sich erkenntnistheoretisch als sprachmaterialistisch bzw. -idealistisch verstehen. Dass Bachtin das romaneske Zeichen der »Wiedergabe« zuordnet, impliziert, dass der Romantext nicht als transparentes Vehikel für eine positivistisch
18 »Le monde de Dostoïevski est profondément pluraliste«, zit. nach T. Todorov: Mikhail Bakhtine, S. 160. Diese in allen Werken wiederholte Position findet sich systematisch dargestellt in Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, München: Hanser 1971 [1963]. 19 Vgl. Michail Bachtin: L’œuvre de François Rabelais, Paris: Gallimard 1970. 20 Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 227. 53
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vorausgesetzte Realität21 fungieren kann, sondern dass er vielmehr durch den sozialen Kontext des Romans auf die Bedingungen der Vermittlung selbst verweist und damit als Konstruktionsakt erkennbar wird.22 Die Vermittlung ist ideologischer Art, d.h. sie ist Ausdruck einer sozialen Welt und damit Vermittlung von Wertesystemen (Medvedev), die nicht die Welt, sondern die ideologische Organisation von Welt repräsentieren. Eine solche These lässt sich an das Prinzip der Modellierung im Sinne Lotmans anknüpfen.23 Mit der »Wiedergabe« verweisen die Texte auf den Akt des Wieder-Gebens, d.h. auf die ideologischen Bedingungen ihres Funktionierens. Sie bilden evaluierende Vermittlungsinstanzen und damit semiotische Modelle von Welten ab und nicht die Welt selbst. Diese Feststellung ist wichtig. Sie wird helfen, die Frage nach dem Status des romanesken Zeichens zu stellen. Zunächst sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich der Begriff der ›Wiedergabe‹ – als Vermittlung eines vielstimmigen Zeichens – auf die poetische Aufsplitterung der Konstituenten eines ästhetischen Zeichens nach Roman Jakobson beziehen lässt24, ein Prinzip, das besonders auf die Rolle des Autors entsprechend der Konzeption Bachtins zutrifft: »Dem Romanautor ist sie [die Stimme] als aufgespaltene und in der Rede differenzierte Sprache gegeben«.25 21 Nach dem Prinzip der ›Wiedergabe‹ wäre der realistische Roman nicht eine abbildungstheoretisch verstandene Widerspiegelung der Realität, sondern eine Mimesis im aristotelischen Sinne, d.h. ein die poetische Transfiguration implizierendes, wahrscheinliches Modell von Wirklichkeit. Vgl. V. Borsò: Metapher. 22 Vgl. M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 229-231. 23 Neben dem Konstruktionsaspekt des als ›Gesamtzeichen‹ gesehenen Textes betont der Modellbegriff Lotmans den Erkenntnisgewinn. Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972, S. 40f. Zur Realismusdiskussion bei Bachtin vgl. T. Todorov: Mikhail Bakhtine, S. 120. Zur Modellierungsfunktion der Metaphorik im realistischen Roman vgl. V. Borsò: Metapher, S. 138f. Zur Definition des Modellbegriffs im Sinne des dritten Modellbegriffs von Max Black vgl. Wilhelm Köller: Semiotik und Metapher, Stuttgart: Metzler 1975, Paul Ricœur: La métaphore vive, Paris: Seuil 1975, S. 304, und V. Borsò: Metapher, S. 224. 24 Vgl. Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik«, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. von Elmar Holenstein, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 129-139. 25 M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 220. Dieselbe Textstelle zeigt darüber hinaus, dass Bachtin zufolge auch Äußerungen, die vom Autor monologisch intendiert sind, in einen dialogischen Prozess eintreten, »daß die Sprache selbst dort, wo die Redevielfalt außerhalb des Romans bleibt, wo der Autor mit seiner eigenen einheitlichen und völlig affirmierten Sprache (ohne Distanzen, ohne Brechung, ohne Vorbehalt) hervortritt, nicht allge54
UTOPIE DES KULTURELLEN DIALOGS
Der dialogische Prozess im Roman betrifft somit zunächst den Autor, und zwar auch hier auf der Ebene des Bewusstseins wie auch des Ausdrucks.26 Damit öffnet sich der Begriff des Autors. Dieser kann nicht mehr als einheitliches Subjekt und als empirische, seinen eigenen Text beherrschende Instanz verstanden werden, sondern er konstituiert sich durch die Auseinandersetzung mit anderen Texten (Intertextualität) und mit den Figuren seines Romans.27 Dass bei diesem Grundsatz der bachtinsche Dialogbegriff als Auslöser der Intertextualitätsdiskussion angesehen werden muss, ist evident. Schwieriger zu entscheiden ist, inwieweit die mit der Intertextualität auf der Grundlage psychoanalytischer Theorien intendierte Kritik am Subjektbegriff noch mit den Prämissen des bachtinschen Dialogs als mimetisches Modell28 in Einklang zu bringen ist. Zweifellos sucht Bachtins postkantianische Position29 die idealistische Subjekttheorie zu verlassen, doch scheint in seiner Theorie die transzendentale Rolle des Subjekts durch die des Sozialen ersetzt worden zu sein – eine soziale Sphäre, in der das ›Subjektive‹ nur als ausgeprägte Form des vorausgesetzten Konflikts verschiedener Stimmen und Reden des Sozialen gilt.30
1.2 Prinzipielle ideologische ›Neutralität‹ des Zeichens In der Ästhetik Bachtins fasziniert die Möglichkeit, traditionelle Dichotomien als unbedeutend abzutun: etwa die Opposition zwischen Alterität und Identität und zwischen sozialer und ästhetischer Praxis. Ein diese Position begründender Kerngedanke ist die vom marxistischen Kontext
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meingültig und unstrittig ist, daß sie inmitten einer Redevielfalt erklingt […].« Ebd. Vgl. Michail Bachtin: Esthétique de la création verbale, Paris: Gallimard 1984 [1979]. Vgl. ebd., S. 192ff. Insbesondere bezogen auf die Kritik an Freud durch Valentin Vološinov (vermutlich von Michail Bachtin): Freudianism: A Marxist Critique, übers. und hg. von Irwin R. Titunik unter Mitwirkung von Neal H. Bruss, New York, San Francisco, London: Academic Press 1976 [1927]. Vgl. T. Todorov: Mikhail Bakhtine, S. 49ff. Vgl. A. Ponzio: Michail Bachtin, S. 91. Vgl. etwa die Darstellung des Bewusstseins (»idéologie quotidienne«) als Serie von Schichten, wobei die tieferen, die Bachtin »conscience censurée selon Freud« nennt, in Kontrast zur »idéologie officielle« stehen. M. Bachtin, zit. nach T. Todorov: Mikhail Bakhtine, S. 154. 55
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inspirierte These, dass eine etwaige Rede im Text notwendigerweise zum Träger ideologischer Positionen31 wird und der Roman eine Vielfalt von Reden realisiert.32 Neben der sich daraus begründenden vielstimmigen Natur des Romantextes hat eine solche These weitergehende Implikationen. Die Aussage des literarischen Textes kann nicht als Zeichen eines ebenso authentischen wie einmaligen Subjekts interpretiert werden. Bachtin hebt mehrfach hervor, dass keiner Textinstanz, weder dem Helden33 noch dem Autor ein prioritärer Stellenwert zukommen kann.34 Dies impliziert, dass ein metaphysischer Ursprung und ein Telos des Textes nicht angenommen werden können, denn der Text verweigert Kriterien, die ›eigentliche‹ Position etwaiger ideologischer Botschaften zu bestimmen. Eine solche Grundbestimmung des Dialogischen im Text war die Voraussetzung für eine Auslegung Bachtins im Sinne der PolylogTheorie von Julia Kristeva, die sich allerdings mit der poststrukturalistischen Wende auch von einer Interpretation des Dialogischen im Sinne einer Mimesis kultureller Vielfalt abgelöst hat. Mit der Auslegung Kristevas sind modellorientierte Aspekte des Denkens Bachtins nicht kompatibel, und zwar auf mehrfacher Ebene:
a) textwissenschaftlich Als textwissenschaftliche Kategorie betrifft der Dialogbegriff zwar die Diskursstruktur35, er verweist jedoch grundsätzlich auf eine Weltsicht (Ideologie) und operiert somit mimetisch, d.h. als Darstellung von Welt. In der Konzeption Bachtins impliziert das Dialogische im Roman prinzipiell die Modellierung von Welt. Obwohl die Hervorhebung der ideologischen Seite des romanesken Zeichens in Kontrast zum frühen Formalismus wissenschaftshistorisch 31 Bachtin spricht von »Ideologemen« und meint Elemente der Ideologie, verstanden als zeichenhafte Vermittlung von Wirklichkeit. M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 221. »Par idéologie nous entendrons l’ensemble des reflets et des réfractions dans le cerveau humain de la réalité sociale et naturelle qu’il exprime et fixe par le mot, le dessin, le graphique ou sous une autre forme sémiotique.« Zit. nach T. Todorov: Mikhail Bakhtine, S. 32, und weiter: »Idéologiquement: C’est à dire dans un signe, un mot, un geste, une graphique, un symbole etc.« Ebd. 32 Vgl. M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 221. 33 Vgl. ebd., S. 223, bzw. T. Todorov: Mikhail Bakhtine, S. 113. 34 Vgl. insbesondere M. Bachtin: Esthétique de la création verbale, 192ff. 35 Diskurs ist hier zu verstehen als énonciation im Sinne von Emile Benveniste: Problèmes de linguistique générale, Paris: Gallimard 1966. 56
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notwendig und den Rezeptionsbedingungen und dem Erwartungshorizont der 1930er Jahre angemessen war, kann sie problematisch werden, wenn diese Seite der Theorie Bachtins ohne Berücksichtigung der historischen Entwicklungen des Romans im 20. Jahrhundert ontologisiert wird. Spätestens mit dem französischen Nouveau Roman verändert sich die Art des ›Dialogs‹. Das Verhältnis zwischen der ideologischen, der Makrostruktur des Textes aufgegebenen Botschaft und den diskursstrukturellen Spannungen verschiebt sich.36 Die ›dialogischen‹ Spannungen der Erzählerinstanz beziehen sich nicht primär auf die Objekt-, sondern auf die Diskursebene, wodurch das romaneske Zeichen eine größere Autonomie von der mimetischen Botschaft gewinnt. Es sind Texte, die das diskursive Ereignis als Ereignis des Erzählens und nicht der erzählten Welt programmatisch suchen.37 Das Romanzeichen wird autoreferenziell, d.h. es bezieht den Dialog primär auf sich selbst und nur indirekt auf die Welt.38 Solche Tendenzen des modernen Romans realisieren die von Jakobson als ›poetisches Prinzip‹ thematisierte Selbstbezüglichkeit des Zeichens39 in radikaler Weise, so dass »die fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte vertieft« wird.40 Die Ontologisierung des mimetischen Prinzips des Dialogs und dessen Verabsolutierung als ästhetische Norm wirkt diskriminierend – etwa bei der Einschätzung der Lyrik als tendenziell monologisches Genre 36 Vgl. Klaus W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, München: Fink 1975, S. 82f. 37 Vgl. Jean Ricardou: Pour une théorie du nouveau roman, Paris: Seuil 1971. 38 Ein solcher Prozess bedeutet nicht notwendigerweise fehlende Referenzialität – ein Schluss, zu dem Hempfer etwa auf Grund seiner Analyse von Sollers Drame kommt: Insofern also der discours seiner Funktionalität zur Konstitution einer histoire enthoben uns selbst thematisch wird, ändert sich zwar die Struktur des Narrativen entscheidend, es wird aber nicht der Text, das ›Werk‹, zerstört bzw. die Kommunikativität der Sprache durch deren Produktivität ersetzt. K. W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie, S. 89. Gegen die Meinung der Nouveau-Romanciers, der Roman solle mimetische Prozesse vermeiden, weist auch Dällenbach ausdrücklich darauf hin, dass die Verweigerung mimetischer Verweise nicht aus der Mimesis heraus führen kann und schlägt vor, mit der mise en abyme das Problem der ›Nachahmung‹ im Sinne verschiedener Grade von Autoreflexivität anzugeben. Lucien Dällenbach: Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris: Seuil 1977, S. 210f. 39 Jakobson untergliedert die Autoreflexivität des Zeichens in: Autoreflexivität des énoncé, der énonciation und des code – eine Unterscheidung, auf der Dällenbach sein Prinzip der mise en abyme richtet. Vgl. L. Dällenbach: Le récit spéculaire, S. 61. 40 R. Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 93. 57
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durch Bachtin41 – bzw. historisch vereinfachend – wie etwa Bachtins Urteil über den monologischen Roman Balzacs42, ausgehend von seiner Prämisse, der »dialogische Roman« als Genre beginne mit Dostojewski. Dieses Problem lässt sich auch bei weiteren Modellansätzen beobachten: So spricht Paul Ricoeur Texten des 20. Jahrhunderts auf Grund einer fehlenden modellierenden und in Bezug auf die Welt einheitsstiftenden Funktion den romanesken Status ab.43
b) philosophisch Mit der Prämisse der Vielstimmigkeit beantwortet Bachtin die Frage nach ideologischen Hierarchien zwischen den Reden durch das Postulat der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Stimmen. Es lässt sich fragen, ob aus der Pluralität gleichberechtigter Standpunkte eine mimetische Unentscheidbarkeit hervorgehen kann.44 Die Frage ist besonders relevant, wenn die Spannung zwischen den Reden nicht als ein makrostrukturelles Phänomen und damit nicht als Modellierung der Vielstimmigkeit des Sozialen, sondern als diskursives Prinzip im obigen Sinne verstanden wird – ein Prinzip, das in der ›Ich-Du‹-Relation der Diskursstruktur eine unaufhebbare Distanzierung von etwaigen referenziellen Aussagen – so vielstimmig sie auch sein mögen – zur Folge hat. Solche Texte siedeln die ›dialogischen‹ Spannungen auf metasprachlicher Ebene an und befragen das Verhältnis zwischen Sprache und Welt. Die epistemologische Erklärung dieses Verhältnisses und damit eine erkenntnistheoretisch verstandene Frage nach der Alterität lässt die Theorie Bachtins offen. Sie operiert zwar mit der Alterität auf doppelter Ebene: einmal auf der textwissenschaftlichen Ebene des ›Dialogs‹, der im Hinblick auf die Referenz Modellcharakter hat, und zum anderen auf anthropologischer und
41 Siehe T. Todorov: Mikhail Bakhtine, S. 100ff. 42 Vgl. A. Ponzio: Michail Bachtin, S. 123. Durch meine Analyse von Le Père Goriot habe ich versucht, dieses Urteil zu widerlegen. Vgl. V. Borsò: Metapher, S. 118ff. 43 Vgl. Paul Ricoeur: Temps et récit I, Paris: Seuil 1983. Bereits in seiner Aristoteles-Interpretation im Rahmen der Studie La métaphore vive geht Ricoeur davon aus, dass erst die mimèsis, d.h. der referenzielle Bezug, die Einheit des Mythos und damit eine kohärente Interpretation des Textes ermöglicht. Vgl. P. Ricoeur: La métaphore vive, S. 56-60. 44 Auf diese Lektüremöglichkeit, die eher der Zerstreuung von Bedeutung im Sinne von Jacques Derridas La dissémination (Paris: Seuil 1972) als der ›als ganzes Zeichen‹ (vgl. J. M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 40f.), funktionierenden Modellierung nahe kommt, bin ich im Zusammenhang mit der Metaphorik eingegangen in V. Borsò: Metapher, S. 203ff. 58
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bewusstseinsphilosophischer Ebene, stellt aber die Frage nach der Erkennbarkeit von Alterität selbst nicht. Diese wird vielmehr als Grundprämisse vorausgesetzt. Paul de Man hat den ambivalenten Status zwischen »dialogue« und »dialogism« im Denken von Bachtin hervorgehoben; bei Ersterem handele es sich um eine linguistische Kategorie, die auch die (philosophische) Frage nach dem Anderen (»dialogism«) durch die Affirmation der Alterität des Anderen ersetzt und damit die Möglichkeit zerstört, sich dessen ›Andersartigkeit‹ gewahr zu werden: »The selfreflexive, autotelic […] structure of form […] is hereby replaced by an assertion of the otherness of the other, preliminary to even the possibility of a recognition of his otherness«.45 De Man zufolge hat die Pluralität des Sozialen bei Bachtin den Wert einer metaphysischen Kategorie (»as a religious transcendentalism which would allow one to read ›God‹ wherever Bakhtin says ›society‹«.46 Dies wird besonders problematisch, wenn der Dialogbegriff den transzendentalen Status verliert und in Verbindung mit Modelltheorien als Objekteigenschaft angesehen wird.
2 . D i s k u r s an al ys e n ac h M i c h el F o u c a u l t Die mimetisch-referenzielle Auslegung des Dialogs gründet darauf, dass die Theorie Bachtins am Gesprächsmodell orientiert ist47 und dazu tendiert, ein offenes Universum der kulturellen Manifestationen dialogischer Spannungen vorauszusetzen. Zwar unterscheidet Bachtin zwischen monologischen und vielstimmigen Reden; er meint aber bei den monologischen eine Form ›offizieller‹ Ideologie, die sich als Oberflächenstruktur verfestigen kann48 und dialogische Konflikte der koexistierenden Reden bzw. Ideologien scheinbar in den Hintergrund geraten lässt.49 Alterität und Dialog bleiben in der Konzeption Bachtins eine anthropologisch und
45 Paul de Man: »Dialogue and dialogism«, in: Poetics Today 4, 1 (1983), S. 99-107, hier S. 102. 46 Ebd., S. 103. 47 Bereits bei V. Vološinov (M. Bachtin): Marxismus und Sprachphilosophie, insbesondere S. 67ff. 48 Vgl. Anm. 30 und 31. 49 Auch bei einer monologischen Kulturmanifestation bzw. einem monologischen Autor handelt es sich um das verfestigte linguistische Bewusstsein, dessen tiefere Schichten vielstimmig bleiben. Siehe A. Ponzio: Michail Bachtin, S. 104. 59
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sprachphilosophisch essenzielle Eigenschaft von Kultur.50 Mit einer solchen Vorannahme kann der Dialog die historische Bedingtheit gewisser Konfigurationen nicht erfassen, die nicht nach der Logik einer tieferliegenden Offenheit des kulturellen Zeichens funktionieren. Hier kommt der Diskursbegriff von Michel Foucault in Betracht. Mit dem Diskurs wird eine Dimension des Sozialen in die Überlegungen eingeführt, die in der bachtinschen Ästhetik ausgeschlossen bleibt, etwa jener Bereich, der sich nicht durch das Prinzip der Pluralität, sondern durch das der Macht erklären lässt und aus den Implikationen der institutionellen Natur der Sprache resultiert. Der Diskursbegriff setzt voraus, dass sich mit der Organisation von sprachlichen Äußerungen nach bestimmten epistemischen Paradigmen51 – nach Foucaults Terminologie »Diskurskonfigurationen« – auch Praktiken und Regelsysteme notwendigerweise herausbilden. Ihr Status ist weiterreichend. Sie sind eine das individuelle und soziale Bewusstsein transzendierende Instanz, die die Logik der Aussage bestimmt.52 Die unterschwellige Wirkung der Diskurse gilt als zwingend. Ihre interne Logik bestimmt die Regelung der Machtverteilung im gesellschaftlichen und machtökonomischen Bereich, wobei sich der Zwang als Zufall verschleiert.53 Darüber hinaus siedeln sich die Zwänge der sich unter bestimmten historischen Bedingungen herausformenden Diskurse auf der Ebene des Sprachsystems selbst an: Im individuellen Bereich bestimmen sie die Logik bzw. die interne Kohärenz des sprechenden Subjekts, während sie im gesellschaftlichen Bereich auch die Wahl der Sprecher beeinflussen.54 Der Begriff der Macht, auf dem die Konzeption des Diskurses gründet, ist zwar aus der empirisch-historischen Betrachtung von materiellen Bedingungen – etwa von geschlossenen Anstalten (Gefängnis, Irrenhaus) –
50 Semerari nennt beispielsweise den Dialog »un atto di compromissione ontologica«. Guiseppe Semerari: »Il domandare«, in: ders.: Filosofia e potere, Bari: Dedalo 1973, S. 63-80, hier S. 77f. 51 Die Vergleichbarkeit solcher Paradigmen mit gängigen Begriffen wie etwa Genre (bei literarischen Diskursen) ist problematisch. Vgl. Jürgen Link/Ursula Link-Heer: Literatursoziologisches Propädeutikum, München: Fink 1980, S. 378. 52 Link und Link-Heer machen darauf aufmerksam, dass »besonders Michel Foucault die Tatsache betont [hat], daß gerade auch entgegengesetzte Parteien ihre Gegensätze in dem gleichen Diskurs artikulieren können. Die Diskursregeln einer sozialhistorisch spezifischen Institution legen fest, worüber überhaupt gesprochen werden kann und welche ›Auschließungen‹ (›Tabus‹) daraus folgen.« Ebd., S. 379f. 53 Vgl. Michel Foucault: L’ordre du discours, Paris: Gallimard 1971, S. 39. 54 Vgl. ebd., S. 39. 60
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gewonnen, hat jedoch einen transzendentalen, sprachidealistischen Status. Machtzwänge stellen ein Apriori der Sprache dar.55 Gleichzeitig implizieren sie materiell fassbare historische Bedingungen und Folgerungen, weswegen sie als wandelbares »historisches Apriori« der Sprache gelten.56 Von den umstrittenen terminologischen Begriffsebenen57 erklärt sich die Wandelbarkeit der Diskurse durch einen zweiten, aus Archéologie du savoir (1969) stammenden Akzent des Diskurses. Die Funktion eines Regelsystems institutionalisierter bzw. institutionalisierbarer Aussagen impliziert auf der anderen Seite Diskontinuität und Brüche des Systems, die sich aus der Pluralität der Diskurse ergeben können.58 Diskontinuität
55 Manfred Frank stellt Berührungspunkte mit dem Mythosbegriff von LéviStrauss fest, der allerdings eher im Bereich der langue anzusiedeln sei, während der Diskurs eine Zwischenposition zwischen langue und parole einnimmt. Vgl. Manfred Frank: »Zum Diskursbegriff bei Foucault«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 25-44, hier S. 32. Die ambivalente Natur des Diskurs- und Machtbegriffs erklärt Frank aus der strukturalistischen Genese der Theorie Foucaults. Diskurs ist eine universelle, an die institutionelle Natur der Sprache gebundene Tiefenstruktur (etwa im Sinne von Lévi-Strauss), die aber zugleich eine partikuläre, historische Wirkung impliziert. 56 Der Machtbegriff ist einer der Aspekte, der die Diskursanalyse von der Ideologiekritik unterscheidet. Vgl. auch J. Link/U. Link-Heer: Literatursoziologisches Propädeutikum, S. 378. 57 Zusätzlich zu den Arbeiten von Jürgen Link, wie z.B. Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, verweise ich auf Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. 58 Es sind Widerstände, die sich aus der Koexistenz von verschiedenen Diskursen (unterschiedlicher Formationen) in einer bestimmten historischen Epoche ergeben können, entsprechend den Beobachtungen Foucaults in L’archéologie du savoir (1969). Link erfasst dieses Phänomen mit dem Begriff des Interdiskurses (entsprechend dem Begriff der »interdiskursiven Konfigurationen« bei Foucault. Vgl. M. Foucault: L’archéologie du savoir), womit »Diskurskollisionen ohne subjektive Intentionalität« gemeint sind. Vgl. Jürgen Link: »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Urspungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik«, in: J. Fohrmann/H. Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, S. 284-307, hier S. 284f. In der Tatsache, dass sich solche Dynamismen gerade im literarischen Text besonders leicht entfalten können, sieht Link den 61
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und Brüche sind nicht als dialektische Opposition zum sozialen und ideologischen System, sondern als Teil von diesem zu sehen. Ebenso wenig gelten sie im Sinne der saussureschen Definition der parole in Opposition zur langue als Sprachsystem.59 Diskontinuität und Brüche sind Teil der Sprache als ›Ereignis‹ und transzendieren sowohl das gesellschaftliche System als auch das Sprachsubjekt: »Il s’agit de césures qui brisent l’instant [die Zeit] et dispersent le sujet en une pluralité de positions et de fonctions possibles. Une telle discontinuité frappe et invalide les plus petites unités traditionnellement reconnues ou les moins facilement contestées.«60
Die Aufgabe der Diskursanalyse liegt darin, das Faktum historischen Erscheinens der Reden, ihrer Prämissen und ihres Wirkens lediglich zu konstatieren, wobei diskursive Tatsachen nicht als Bedeutungsträger, sondern als Ereignisse wirkender Systeme gelten: »les discours doivent être traités comme des ensembles d’événements discursifs«.61 Die Diskursanalyse ist somit nicht ein Referenzmodell, das sich Wirklichkeitserkenntnis zum Ziel macht; sie begreift die Rede nicht als referenziellen Konstituenten einer zu dekodierenden Information.
3 . E p i s t e m o l o g i sc he U n v e r e i n b ar k e i t d e s D i a l o g - u n d D i sk u r sb e g r i f f e s Der bachtinsche Begriff der »Rede« bzw. der »Ideologie« und der foucaultsche Diskurs haben gemeinsame Komponenten.62 Mit seinem Ideo-
59 60 61 62
Grund für die Brauchbarkeit des Diskursbegriffes in der Literaturwissenschaft. Vgl. M. Frank: Zum Diskursbegriff bei Foucault. M. Foucault: L’ordre du discours, S. 60. Vgl. ebd., S. 59. Einige Äußerungen Bachtins z.B. in Die Ästhetik des Wortes mögen zwar eine Parallele zum Diskursbegriff suggerieren: etwa die These, auch das affirmierende Wort kämpfe zwischen zwei Standpunkten, dem Apologetischen und dem Polemischen (ebd., S. 221) und sei »ideologisch hervorgehoben« (ebd., S. 222). Insbesondere die Wiederholung der schon von V. Vološinov (M. Bachtin) in Marxismus und Sprachphilosophie verwendeten Metapher, der Text des Romans sei die »Arena des Kampfes mit dem fremden Wort, der keinen Ausgang hat und in allen Sphären des Lebens und der ideologischen Tätigkeit stattfindet« (M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 235) erinnert an die foucaultsche Konzeption des Textes als Ort diskursiver Praxis. Gerade letzteres Zitat zeigt allerdings auch den Unter62
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logiebegriff überwindet Bachtin das enge marxistische Verständnis als We1tsicht der herrschenden Klasse, wobei in der Behauptung einer synchronen – nicht dialektischen – Koexistenz gleichwertiger Ideologien mit bestimmten Wertesystemen, etwa des Bürgertums ebenso wie des Proletariats63, eine Vergleichbarkeit mit dem foucaultschen Diskursbegriff vorliegt. Infolge der gegensätzlichen Bestimmung des Prinzips der Sprache, das das individuel1e und kollektive Subjekt transzendiert – dialogische Offenheit bei Bachtin und hegemoniale Macht bei Foucault – wird der Begriff des Diskurses z.T. als Gegensatz zum Dialogbegriff missverstanden: Statt einer Metaphysik der Pluralität – wie der Dialog – setze der Diskurs einen transzendentalen Status der Macht in der Sprache voraus. Eine solche Opposition der Begriffe lässt ihren epistemologischen Status unberücksichtigt: Der Dialog ist auf die Referenz, der Diskurs auf das Wissen über die Referenz bezogen. Die interessante Seite des Diskursbegriffs liegt darin, dass er sich auf epistemologischer Ebene ansiedelt. Auf die Konsequenzen dieser Feststellung im Hinblick auf die Literaturwissenschaft als historische Wissenschaft möchte ich primär eingehen. Dabei kann in diesem Rahmen nicht der Anspruch gestellt werden, das gesamte Spektrum des Denkens Foucaults zu erfassen, ebenso wie auch die Hervorhebung der hegemonialen Seite beim späten Foucault hier nicht interessieren wird.64 Während dialogische Spannungen modelltheoretisch auch als Objekteigenschaften gelten, operiert der Diskursbegriff primär auf metasprachlicher Ebene und meint die epistemologisch-ideologische Ordnung der Wirklichkeitsrepräsentationen von Wissenssystemen.65 Auf epistemologischer Ebene wird auch der fundamentale Unterschied zwischen der Diskurstheorie Foucaults und dem Di-
schied zum Begriff des Diskurses: Die dialogischen Spannungen zwischen den Reden in der Vielfalt des Wortes sind bei Bachtin Bestimmungen einer allumfassenden Dialogizität, die sich beispielsweise in Thesen wie jener der Offenheit der Sinnmöglichkeiten des Textes (vgl. ebd., S. 232) und der ›Allgegenwärtigkeit‹ der Verfahren der Dialogizität (vgl. ebd., S. 233) usw. äußern. 63 Vgl. A. Ponzio: Michail Bachtin, S. 154ff. 64 Auch in L’ordre du discours, der Antrittsvorlesung Foucaults am Collège de France, scheint zunächst, dass die Offenlegung der positiven Funktion von Diskursen das eigentliche Ziel der Beobachtung ihrer Zwänge und Restriktionen ist: »il est probable qu’on ne peut pas rendre compte de leur rôle positif et multiplicateur, si on ne prend pas en considération leur fonction restrictive et contraignante.« Ebd., S. 38. Dennoch lässt sich im Verlauf der Vorlesung eine gewisse Tendenz zur einseitigen Bewertung der hegemonialen Seite institutioneller Diskurse erkennen. Vgl. ebd., S. 72ff. 65 Vgl. ebd., S. 70. 63
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alogbegriff Bachtins deutlich. Der Dialogbegriff beschreibt die Spannungen in der Diskursstruktur eines Textes im Sinne des discours (Benveniste): Als textwissenschaftliche Begriffe haben Dialog und discours Texte als Erkenntnisobjekte, was für den Dialogbegriff Bachtins auch im Hinblick auf die Objektebene Kultur gilt, während es sich beim foucaultschen Diskursbegriff um eine wissenschaftskritische Erkenntnisebene handelt, die sich auf die Episteme, also auf Wissen über Texte, richtet. Als epistemologischer und wissenschaftskritischer Begriff ist der Diskurs keine Texttheorie.66 Die Diskursanalyse im obigen Sinne lässt weniger die hegemoniale Wirkung und ihre Resistenzen im Referenzmodell (Bachtins Dialog) anvisieren67, sondern vielmehr Systemzwänge und
66 Forget zufolge gibt der Diskursbegriff der Literaturwissenschaft »nicht eine umgreifende Interpretationsmethode« an die Hand, Philippe Forget: »Diskursanalyse versus Literaturwissenschaft?«, in: J. Fohrmann/H. Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, S. 311-320, hier S. 314, sondern vielmehr die Möglichkeit, Vorannahmen epistemologischer Repräsentationen zu erkennen. 67 Der Diskursbegriff des frühen Foucault legt eine Parallele zur Theorie der literarischen Produktion von Pierre Macherey nahe – eine Anregung, die ich Gesprächen mit Winfried Fluck verdanke. Es bestehen Gemeinsamkeiten und wesentliche Unterschiede zur Theorie Foucaults: Auf Grund seiner Kritik am historischen Materialismus und an der Widerspiegelungstheorie geht Macherey davon aus, dass Gegenstand und Ergebnis literarischer Interpretationen nur als Wissen zu verstehen ist, das vom Literaturwissenschaftler erzeugt wird (vgl. Pierre Macherey: Pour une théorie de la production littéraire, Paris: Maspero 1966, S. 14ff.) – eine mit Foucault übereinstimmende These. Im Gegensatz zu marxistischen Theorien wirkt der Text nicht als Entlarvung von falschem Bewusstsein, sondern vielmehr als Kritik ideologischer Systeme überhaupt. Vgl. ebd., S. 154. Ebenso wendet sich Macherey von der literaturtheoretischen Position Lenins ab, nach der literarische Texte Widersprüche abbilden sollen, die der Referenz bzw. der Wirklichkeit selbst innewohnen. Vgl. ebd., S. 148. Das vom literarischen Text erarbeitete Wissen ist nach Macherey nicht als Abbild von Wirklichkeit, sondern als Verzerrung (»miroir«) der ideologischen Ordnungen von Welt zu verstehen. Vgl. ebd., S. 149ff. Sobald die Ordnungsstrukturen der Ideologie durch das ›verzerrende‹ Medium literarischer Texte vermittelt werden, zeigen sie Widersprüche auf. Lesen ist somit ein in Bezug auf die Ideologie defizitäres Phänomen (»décalage«, vgl. ebd., S. 180). Dadurch macht erst der literarische Text Mängel der Ideologie oder auch historischer Fakten transparent. Macherey verweist selbst auf Foucault und regt eine Kritik der Ideengeschichte auch in der Literaturwissenschaft an. Vgl. ebd., S. 173. Die Theorie Machereys versteht sich indes immer noch als textwissenschaftlich und nicht als wissenschaftskritisch. 64
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-widersprüche von theoretischen und wissenschaftlichen Konstrukten selbst. Diese Unterscheidung ist wesentlich, insbesondere dann, wenn – ebenfalls mit Foucault – davon ausgegangen werden kann, dass der Umgang mit literarischen Texten nicht ohne Rückwirkungen auf die Textwissenschaft bleibt. Erst durch den foucaultschen Diskursbegriff wird die theoretische Möglichkeit denkbar, dass die kritischen Impulse literarischer Texte nicht allein ideologiekritisch operieren und damit hegemoniale Formen im Referenzmodell offenlegen, sondern dass Ordnung und Brüche literarischer Texte auch dazu geeignet sind, diskursive Ereignisse im Bereich der Wissenschaft selbst transparent zu machen. Auch der Begriff der Alterität erhält damit einen anderen Status. Sie ist beim foucaultschen Diskursbegriff nicht ein Objekt der Erkenntnis, sondern ein auf die Episteme gerichtetes Prinzip, das die philosophische Frage nach der Erkennbarkeit des Anderen zu stellen vermag. Dies wirft ein anderes Licht auf die dem Diskursbegriff etwa von Jürgen Habermas und Manfred Frank angelasteten Aporien. Ausgehend von der Beobachtung, dass Die Geburt der Klinik (Naissance de la clinique: une archéologie du regard medical, 1973) der empirische Bereich der historischen Beobachtung war, aus dem Foucault diskursanalytische Konsequenzen gezogen hat, kritisiert Habermas den ambivalenten Status des Begriffs. Obwohl der Diskurs das Subjekt transzendiert, habe er zugleich beobachtbare konkrete Ursachen und Wirkungen.68 Habermas wirft den mithin ausführlich kommentierten Schriften Foucaults eine Aporie im Bereich des Machtbegriffs vor, weil er sich gleichzeitig auf unterschiedlichen Ebenen ansiedeln möchte: Macht ist (medienbedingte) Ursache und Wirkung, spielt aber auch eine empirische und transzendentale Rolle.69 Nach Habermas ist der Diskursbegriff deswegen problematisch, weil er vorgibt, die Aporien der Subjektphilosophie überwinden zu wollen, während er gerade durch den Begriff der Macht diese ungeklärt übernimmt.70 Manfred Frank kritisiert auf der anderen Seite die Unhintergehbarkeit der Hegemonie der Diskurse und behauptet eine Aporie im Hinblick auf die Wissenschaftlichkeit einer Diskursanalytik, die »auf die Diskontinuität und Widersprüche von literarischen Texten sind nicht dazu geeignet, Inkohärenzen wissenschaftlicher Diskurse transparent zu machen, sondern das durch die Interpretation erzeugte Wissen hat vielmehr die Funktion, die Brüchigkeit der Ideologie – d.h. der als ideologisches System operierenden Referenz – aufzuzeigen, weswegen Macherey den Begriff »décalage« anstelle von ›Struktur‹ vorschlägt. Vgl. ebd., S. 180. 68 Vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 313ff. 69 Vgl. ebd., S. 322. 70 Vgl. ebd., S. 323. 65
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Vergewaltigung von Subjekten (deren Existenz sie übrigens vorab leugnet) als transzendentale Ermöglichungsbedingung angewiesen wäre«.71 Betrachtet man die Kategorie der Macht als eine (transzendentale) Grenze des Erkenntnissubjekts, so lässt sich behaupten, dass der ambivalente Status von textwissenschaftlicher und transzendentaler Kategorie bei Foucault – anders als bei Bachtin – fruchtbar gemacht werden kann. Bewirkt die bei Bachtin festgestellte Ambivalenz, dass die empirische Anwendung des Dialogpostulats in der Textanalyse eine ›dialogische Kultur‹ als metaphysisches Signifikat verfügbar macht, führt der Doppelstatus des Diskursbegriffs zu einem umgekehrten Ergebnis. Als textanalytische Kategorie kann der Diskurs auf der einen Seite die Literaturwissenschaft zur Rezeption bestimmter historischer Diskurskonfigurationen anregen, die im literarischen Text impliziert sind. Auf der anderen Seite beschreiben die zwei Seiten des Diskurses, also Regelsystem und Diskontinuität, nicht allein Phänomene des referenziellen Systems (der sozialen Welt), sondern auch Wirkungsformen von Epistemen selbst. Damit beziehen sich Hegemonie und Brüche des literarischen Textes auch auf die Erkenntnisebene und auf den Diskurs des Interpreten. Dieser wird durch die Resistenzen des Textes transzendiert. Alterität und Transzendenz haben bei diesem Ansatz nicht allein den Status erkennbarer Objekteigenschaften, sondern sie wirken als metaliterarisches Prinzip. Unter dieser Perspektive führt die Diskursanalyse notwendigerweise zur kritischen Befragung von Wissenssystemen – eine autoreflexive und relativierende Bewegung, die bei dem Bewusstsein des Analytikers, durch das eigene Objekt transzendiert zu werden, nicht zu einem Ende kommt. Letztere Feststellung erklärt die metakritische Perspektive, die Foucault auf die in seiner Theorie im Zentrum stehende Kritik der Historiographie bezieht – eine Kritik, die von der Beobachtung etwaiger Resistenzen gegen Kontinuität und Einheitssinn von historischen Diskursen ausgeht. Foucault rechnet dem literarischen Text eine regulative Funktion gegenüber den wissenschaftlichen Diskursen zu, woraus beispielsweise Forget eine besondere Operabilität der besprochenen zwei Seiten des Diskursbegriffes für die Literaturwissenschaft ableitet.72 Der literarische Text kann etwaige, dem Diskurs innewohnende Resistenzen gegen kohärente Ordnungen so ausbauen, dass das System des Wissens – nicht der Referenz – sowie dessen Schwäche ›sichtbar werden‹. Gerade dieser Aspekt des Diskursbegriffs ermöglicht zu fragen, inwieweit bestimmte diskursive Konfigurationen als historisches Apriori der Literaturwissenschaft in
71 M. Frank: Zum Diskursbegriff bei Foucault, S. 42. 72 Ph. Forget: Diskursanalyse versus Literaturwissenschaft?, S. 313f. 66
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Form von Diskriminierung und Tabuisierung anderer literarischer Manifestationen wirken können. Als transzendentale Instanz kann der literarische Text provokative Fragen für die Literaturwissenschaft aufwerfen. Eben von einer solchen beunruhigenden Faszination und Wirkung berichtet Foucault in der »Préface« zu Les mots et les choses. Foucault behauptet, das Entstehen des Buches sei Borges zu verdanken. Die Disparität der Dinge beim Zitieren einer fiktiven chinesischen Enzyklopädie sei nicht bizarr, sondern irritierend. Den erhaltenen tiefen Eindruck führt Foucault auf die radikale Unmöglichkeit im Text Borges’ zurück, die einzelnen heterogenen Dinge überhaupt in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang zu denken. Die Unzusammengehörigkeit des Heterogenen, um die es geht und die Foucault als »hétérotopie« bezeichnet, produziert im Text Borges’ nicht etwa die Begegnung mit dem Anderen, dem Undenkbaren, einer anderen Kultur73, sondern sie provoziert die Verunsicherung der Prinzipien der Sprache und ihrer epistemologischen Grundsätze. Hétérotopie ist damit der Gegensatz von Utopie – Letztere tröstendes Modell von Welt, Erstere beunruhigende Kraft der Literatur: »Les utopies consolent: c’est que si elles n’ont pas de lieu réel, elles s’épanouissent pourtant dans un espace merveilleux et lisse […]. Les hétérotopies inquiètent, sans doute parce qu’elles minent secrètement le langage, […] parce qu’elles ruinent d’avance la ›syntaxe‹, et pas seulement celle qui construit les phrases, – celle moins manifeste qui fait ›tenir ensemble‹ (à coté et en face les uns des autres) les mots et les choses.«74
Die Utopien trösten die Wissenschaft – so Foucault. Auch wenn sie keinen realen Ort meinen, entfalten sie sich dennoch im ›ruhigen Raum des Wunderbaren‹. Die Heterotopien greifen heimlich die Prämissen des Sprachsystems an und verhindern, dass syntaktische und syntagmatische Bezüge der Sprache – ob im Sinne des Monologs oder des Polylogs – als metaphysisches Apriori eines grundlegenderen Syntagmas fungieren, nämlich des Syntagmas, das Dinge und Sprache verbindet und zusammenhält.
73 Vgl. M. Foucault: Les mots et les choses, S. 8. 74 Ebd., S. 9. 67
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4. Die ›Heterotopien‹ von Jorge Luis Borges Jorge Luis Borges’ Essay zum letzten Roman Flauberts, Bouvard et Pecuchet (1880-1881), ist für die hier entwickelte Fragestellung sowohl im Hinblick auf das Thema des Romans selbst – den Umgang mit den Wissenschaften – als auch bezüglich seiner Rezeptionsgeschichte relevant. Die Behandlung des letzteren Aspekts lässt sich an die Frage nach dem Verhältnis zwischen Literatur und Literaturwissenschaft und an die Möglichkeit anknüpfen, Literatur auch als Anregung einer kritischen Befragung der Geschichte ihrer Wissenschaft zu verstehen. Die Fabel des Romans von Flaubert betrifft zwei Angestellte (Kopisten), die – durch eine unerwartete Erbschaft finanziell frei geworden – sich dem Studium von Fachliteratur über verschiedene Wissenschaften widmen, u.a. zu Landwirtschaft, Medizin, Archäologie, Literatur, Geschichte usw.75 Die von den Wissenschaften inspirierten Reformpläne scheitern nach kurzer Zeit. Enttäuscht und zunehmend ›klüger‹, aber auch ironischer, kehren schließlich die beiden ›Helden‹ zur alten Tätigkeit zurück: Sie fangen wieder zu kopieren an.76 Die Rezeptionsgeschichte dieses Romans und damit der literaturwissenschaftliche Umgang mit einem Text, der die Wissenschaften selbst 75 Die Reihung Borges’ weist schon auf das Prinzip der Heterotopie hin: »ensayan la agronomía, la jardinería, la fabricación de conservas, la anatomía, la arqueología, la historia, la mnemónica, la literatura, la hidroterapia, el espritismo, la gimnasia, la pedagogía, la veterinaria, la filosofía y la religión«. J. L. Borges: Vindicación, S. 259. 76 Borges sieht eine Parallele zwischen dem Ende des Romans und dem Schicksal von Flaubert. Damit wiederholt er fast wörtlich die Darstellung Dumesnils in der »Préface« zu Bouvard et Pécuchet, in der sich der französische Flaubert-Forscher explizit auf das Dictionnaire des idées reçues bezieht. Vgl. Gustave Flaubert: Œuvres, Bd. II, hg. von Albert Thibaudet/René Dumesnil, Paris: Gallimard 1952, S. 696-710, hier S. 705ff. Vgl. auch René Dumesnil: Gustave Flaubert. L’homme et l’œuvre. Paris: Nizet 1967, S. 403ff. Dumesnils Darstellung des Romans stammt wiederum aus früheren Arbeiten (seit seiner Dissertation über Flaubert im Jahre 1902), die als große Monographie 1943 erschienen sind. Borges erwähnt nur zweimal Dumesnil, obwohl weitere Anregungen aus dessen Studien stammen. Beispielsweise übernimmt schon der Titel des Essays »Vindicación…« einen Kommentar Dumesnils: »Flaubert nous a livré toute sa pensée: ses héros dotés de sa propre nature, souffrent de la sottise et veulent se venger« (Hervorhebung im Original). R. Dumesnil: Gustave Flaubert, S. 405. Es ist anzunehmen, dass vor der Publikation in Prosa completa (Barcelona: Bruguera 1953) Borges den Essay von 1932 zumindest durch einige Details aus der Pléiade-Ausgabe von 1952 ergänzt. 68
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betrifft, steht im Zentrum der Überlegungen Borges’, den weniger das Thema des Romans als vielmehr dessen provokative Wirkung bezüglich der Literaturwissenschaft zu interessieren scheint. Es geht für den argentinischen Schriftsteller primär darum, aus der Reaktion der Kritik die entlarvende Funktion des Romans im Hinblick auf die Literaturgeschichte offenzulegen. Damit veranschaulicht Borges bereits 1932 jene Seite der Literatur, in der Foucault eine ›beunruhigende Funktion‹ für den wissenschaftlichen Diskurs sehen wird. Die Rezeption von Bouvard et Pécuchet seitens einer Kritik, die Flaubert als Begründer des Realismus huldigt, ist zunächst von Schock und Ablehnung gekennzeichnet.77 Besonders problematisch erscheint gerade den Verehrern des flaubertschen gesellschaftskritischen Realismus, dass Flaubert die Kritik der Wissenschaften ›schwachsinnigen‹ Helden anvertraut habe. Der scharfe Gesellschaftskritiker Flaubert diskreditiere damit sein eigenes Urteil über die Unzulänglichkeit empirischer Wissenschaften, weil er mit der Wahl von Schwachsinnigen die rationallogische Basis seiner eigenen Kritik verletze.78 Entsprechend der Darstellung Borges’ ergeben sich daraus in der Rezeption dieses Romans folgende Paradigmen: Die Abkehr vom realistischen Stil seitens Flauberts wird entweder als Mangel des letzten Romans dieses Schriftstellers ausgelegt79 – die Figuren seien wie Marionetten, die mit der Handlung auch keine Veränderung erfahren, während die Zeit die Immobilität des Todes und der Erstarrung erführe80 77 Borges verweist auf die Kommentare von Emile Faguet (1899), der mit Bezug auf die Figuren von Pangloss und Candide in Voltaires Candide zwar Flauberts Werk an die Tradition der Parodie anknüpft, jedoch auch im Bereich dieser Norm Mängel hervorhebt: etwa die fehlende dialektische Beziehung zwischen den Protagonisten Flauberts (im Gegensatz zum Roman Voltaires) und den Widerspruch bzw. das Missverhältnis zwischen Intention (langjährige empirische Studien Flauberts) und Ergebnis (Figuren, die nicht zu verstehen wissen). Vgl. J. L. Borges: Vindicación, S. 259. 78 »Inferir de los percances de estos payasos la vanidad de las religiones, de las ciendias y de las artes, no es otra cosa que un sofisma insolente o que una falacia grosera. Los fracasos de Pécuchet no comportan un fracaso de Newton.« Ebd., S. 260. 79 Hierfür nennt Borges Gosse, der Bouvard et Pécuchet gegen Madame Bovary ausspielt (vgl. ebd., S. 259), während er gleichzeitig auf Rémy de Gourmont als großen Verehrer des ersteren Romans hinweist. Vgl. R. Dumesnil: Préface, S. 719 sowie ders.: Gustave Flaubert, S. 399. 80 Etwa René Decharmes: Autour de »Bouvard et Pécuchet«, Paris: Librairie de France 1921. Borges zufolge bemängelt Claude Digeon die missglückte Mischung von romaneskem Stil und philosophischer Intention. Vgl. J. L. Borges: Vindicación, S. 262. Vermutlich ist das auch von Dumesnil er69
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– oder man versucht auch diesen Roman Flauberts dadurch zu retten, indem die Figuren metaphorisch interpretiert und damit rehabilitiert werden, und zwar als Verkörperung eines Alternativdenkens im alten Paradigma des Wahnsinns als Metapher für Sehertum.81 Borges folgert, dass durch diese Aufwertung beider Figuren die Provokationskraft zerstört wird, die sich aus der von Flaubert geschaffenen Kontiguität von Schwachsinn bzw. Narrheit und Wissen ergibt.82 Statt die Provokation des Widerspruchs gegen den literarhistorischen Kanon des Realismus seitens des Textes Flauberts als solche anzunehmen und zu verarbeiten, sucht die Literaturwissenschaft eine Rechtfertigungsstrategie mittels des etablierten Modells der antizipatorischen Kraft literarischer Texte.83 Die Analyse dieser Interpretationslinie durch Borges lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die kritisierte Inkohärenz der Figuren und der vermeintlichen gesellschaftskritischen Funktion wird dadurch verarbeitet, dass die Prämissen des Werks umgekehrt werden, statt die Frage an die Prämissen der Interpretation zu richten: »Para rechazar esta conclusión [der Inkohärenz des
wähnte Buch Digeons Flaubert conteur, essai sur ses dernières œuvres von 1944 gemeint. Vgl. R. Dumesnil: Gustave Flaubert, S. 466. Auch in seinem 1970 erschienenen Connaissance des lettres geht zwar Digeon von der Feststellung mangelnder vraisemblance der Figuren aus, er gelangt jedoch dabei zu einer anderen Einschätzung des Romans: Die unlogische Aneinanderreihung von Dingen sei ironisch zu werten. Vgl. Claude Digeon: Flaubert. Connaissance des lettres, Paris: Hatier 1970, S. 243 und 252. 81 Das Paradigma des Wahnsinns hatte Faguet abwertend eingeführt, indem er Bouvard et Pécuchet die Geschichte eines »schwachsinnigen Faust« nannte. Dumesnil übernimmt in seinem Vorwort zur Pléiade-Ausgabe die Interpretationslinie des Faust (vgl. auch R. Dumesnil: Gustave Flaubert, S. 397f.), und wertet den Schwachsinn zum magischen Sehertum um. Vgl. J. L. Borges: Vindicación, S. 260. Dumesnil bezieht sich auf die Wiedergabe einer Äußerung Flauberts durch Maupassant, entsprechend der Flaubert seine Protagonisten »hellsichtig« genannt habe. Vgl. R. Dumesnil: Gustave Flaubert, S. 402f. 82 »Dumesnil subraya el epíteto ›lúcidos‹, pero el testimonio de Maupassant – o del propio Flaubert, si se consiguiera – nunca será tan convincente como el texto mismo de la obra, que parece imponer la palabra ›imbéciles‹.« J. L. Borges: Vindicación, S. 260. Borges nutzt die Freiheit des essayistischen Stils, um in seinem ›Forschungsbericht‹ die Unzulänglichkeit der Kritik transparent zu machen – etwa in Form eines indirekten, nicht gesicherten Belegs, der einem ganzen Forschungsparadigma zu Grunde liegt. 83 »La justificación de Bouvard et Pécuchet, me atrevo a sugerir, es de orden estético«, ebd. 70
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Werkes] lo habitual es negar la premisa.«84 Mit Rückgriff auf das alte Paradigma des Sehertums wird der Befund über die (syntagmatischen) Brüche des Romans in eine metaphorische Kohärenz umgesetzt, die ein alternatives Modell entwirft: Mit diesem Modell gelten die nicht zu vereinbarenden Unterschiede zwischen beiden Figuren, das gemeinsame Merkmal der Marginalität und der Andersartigkeit gegenüber der Norm, als Entwurf einer poetischen (idealistischen) Erkenntnisform und damit als Umkehrung der rationallogischen Grundsätze positivistischer Wissenschaften. Die damit gebildete Werkkohärenz sichert auch eine kohärente Geschichte der Literatur: Der Roman Bouvard et Pécuchet kann auf dieser Basis als Entwurf einer Kritik des Positivismus im Sinne idealistischer und postromantischer Wirklichkeitserkenntnis gesehen werden85, womit Flaubert, so die gängige Argumentation, die Abwendung vom rationalistischen Szientismus antizipiert, die infolge der Philosophie Bergsons und der Rezeption Nietzsches im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts vorherrscht. Es ist eine ›ästhetische Utopie‹, zu deren Untermauerung Kardinaltexte der abendländischen Tradition bemüht werden. Borges verweist darauf, dass im Koran und in der Bibel Schwachsinnige und Narren als diejenigen gelten, durch deren ›leere‹ Seele die Gottheit selbst spricht.86 Er macht deutlich, dass dieser Interpretationsansatz die satirische Sprengkraft des Textes Flauberts annulliert87, der mit Bouvard et Pécuchet schon dasjenige realistische Genre zu einem Ende führt, das Flaubert selbst mit Madame Bovary (1857) begründet hatte. Borges hebt hervor, dass bereits im 5. Kapitel des Buchs die Realismuskritik zutage tritt,
84 Ebd. 85 Dazu gibt Dumesnil Anlass. Gegen Emile Faguet, nach dem das Werk durch einen Konflikt zwischen Realismus und Romantik zu erklären ist (vgl. R. Dumesnil: Gustave Flaubert, S. 304ff.), behauptet Dumesnil: Weil das Interesse Flauberts für positivistische Wissenschaften (beispielsweise für die Cours de pathologie experimentale von Claude Bernard, vgl. ebd., S. 320) aus dem durch sein romantisches Temperament und seinen ennui bedingten Pessimismus hervorgeht (vgl. ebd., S. 329), führt es schließlich zu einer philosophischen Kritik am Positivismus selbst (vgl. ebd.). 86 Vgl. J. L. Borges: Vindicación, S. 260f. 87 Borges erwähnt Taines Vergleich zwischen Jonathan Swift und Flaubert: »Acaso habló de Swift, porque sintió de algún modo la afinidad de los dos grandes y tristes escritores. Ambos odiaron con ferocidad minuciosa la estupidez humana […] ambos quisieron abatir las ambiciones de la ciencia«, J. L. Borges: Vindicación, S. 261. Dieses Detail stammt aus R. Dumesnil: Gustave Flaubert, S. 401. Vgl. auch Victor Brombert: Flaubert par lui-même, Paris: Seuil 1971, S. 169f. 71
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wenn die ›statistischen‹ oder ›ethnographischen‹ Romane im Stil Balzacs und Zolas explizit verurteilt werden.88 Auf die Realismuskritik reagiert die Literaturwissenschaft nicht mit einer Infragestellung der Mimesis-Prämissen des realistischen Kanons, wie dies durch die Kontiguität von Schwachsinn und Wissenschaft in der Romanwelt von Bouvard et Pécuchet nahegelegt wird. Sie ersetzt vielmehr einen positivistischen Realismusbegriff durch einen ›utopischen‹ und antizipatorischen – ein Befund, der sich mit Rückgriff auf Jakobsons Realismustheorie89 und im Sinne konstruktivistischer Modelltheorien auslegen lässt. Mit diesem Interpretationsparadigma verweigert die Literaturwissenschaft nicht nur eine Diskussion über ihre eigenen MimesisPrämissen; sie bestätigt sich zugleich als kohärente Wissenschaft. Demgegenüber optiert Borges nicht für die Rettung des Romans Flauberts im Sinne eines Modells alternativer Mimesis, sondern für das Verstehen des Romans als einer tiefer gehenden Form der Kritik: Statt ›bessere‹ Alternativen – z.B. im Sinne einer Sicht von Wirklichkeit bzw. adäquaterer Modelle – nahezulegen, macht die Kontiguität des Narren mit der Welt des Wissens auf die Grenzen zu Grunde liegender theoretischer Vorannahmen selbst aufmerksam. Bouvard et Pécuchet ist eine Herausforderung für die Literaturgeschichte, wenn die Widersprüche nicht als dialektische Phase einer fortschreitenden Entwicklung ausgelegt werden – etwa im Sinne utopischer und idealistischer Alternativvisionen postpositivistischer Logik, und damit als historische Kritik an positivistischen Wissenschaften –, sondern wenn die schwache Logik der Figuren noch als Teil des rationalen Systems betrachtet wird.90 In diesem Fall macht die Kontiguität der hergestellten heterogenen und unlogischen Verbindungen zwischen den Dingen die Arbitrarität der Gesetze der Logik selbst transparent. Die lnkohärenzen des Romans Flauberts werden
88 Vgl. J. L. Borges: Vindicación, S. 261. 89 Vgl. Roman Jakobson: Über den Realismus in der Kunst, in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus, München 1994, S. 373-391. 90 In diesem Sinne argumentiert auch Foucault im Zusammenhang mit Flaubert. Vgl. Michel Foucault: »La Bibliothèque fantastique«, in: Raymonde Debray-Genette (Hg.), Flaubert, Paris: Firmin-Didot 1970, S. 171-190. In der neueren Forschung gingen beispielsweise die Beiträge zum Kolloquium über Bouvard et Pécuchet am Collège de France (22.-23.03.1980) in eine den Überlegungen Borges’ nahestehende Richtung. Bouvard et Pécuchet gelten als Dekonstruktionisten avant la lettre. Vgl. Société des études romantiques: Nouvelles recherches sur Bouvard et Pécuchet de Flaubert: Flaubert et le comble de l’art. Actes du colloque tenu au Collège de France les 22 et 23 mars 1980, Paris: Société d’édition d’enseignement supérieur 1981. 72
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dabei nicht metaphorisch in ein Modell aufgelöst, das die Referenz zu definieren sucht. Borges fragt sich vielmehr nach der Funktion der Brüche im romanesken Text in Bezug auf die Wissenssysteme und auf den Diskurs des Realismus. Mit einer diskursanalytischen Perspektive stellt Borges’ Essay auch die kritische Frage, inwieweit (literatur-)wissenschaftliche Diskurse Kohärenzstrategien verwenden, um die Infragestellung ihrer eigenen Prämissen auszuschließen. Es bleibt das Problem, dass das Erkenntnissubjekt der Diskursanalyse nicht vorbehaltlos urteilen kann – die von Manfred Frank behauptete Aporie des Diskursbegriffes. Die ›Heterotopie‹ literarischer Texte kann darauf eine Antwort geben. Sowohl Flaubert – entsprechend der Lektüre durch Borges – als auch Borges’ Essay halten Inkohärenzen im Text aufrecht, durch die sich sowohl die Konfigurationen des Wirklichkeitssystems als auch die eigene Position der relativierenden Bewegung einer paradoxalen Heterogenität nicht entziehen. Flaubert identifiziert sich – so Borges im Einklang mit der Kritik – ab dem 8. Kapitel mit den einfältigen Figuren, die er zu Beginn zu verspotten vorgab.91 Borges’ literaturkritischer Essay bedient sich des gleichen Prinzips. Er reiht historische Paradigmen aneinander und macht damit transparent, dass zeitliche oder räumliche Anordnungen arbiträr sind: Wenn er etwa den Islam und die Bibel mit dem letzten aztekischen Kaiser Montezuma und dessen Lob der Narretei in eine Reihe stellt.92 Ironisch werden historisch und wissenschaftlich nicht gesicherte Objekte (Montezumas Meinung über die Narretei) mit der Heiligen Schrift des christlichen und islamischen Abendlands nebeneinander gestellt. Welche Schlussfolgerungen kann die Literaturwissenschaft daraus ziehen? Die ›Heterotopie‹ der essayistischen Sprache Borges’ bzw. diejenige des flaubertschen Textes ist keineswegs als Einladung zu verstehen, mit einer paradoxalen, essayistischen Sprache etwa eine Beliebigkeit der Interpretation zu konstatieren. Vielmehr bietet sich der Literaturwissenschaft sowohl für die erkenntnistheoretische Erklärung von Borges’ Vorgehen als auch für die Interpretation des letzten Romans Flauberts das Prinzip der allegorischen Lektüre an.93 Damit sind sowohl
91 Dumesnil stellt fest: »C’est dans le chapitre VIII de Bouvard et Pécuchet que Flaubert marque ce changement«, R. Dumesnil: Préface, S. 1053 – Anmerkung zu S. 706 der Pléiade-Ausgabe. 92 Vgl. J. L. Borges: Vindicación, S. 261. 93 Die Allegorie beschreibt Hempfer als textkonstitutives Verfahren in Romanen der Tel-Quel-Gruppe (vgl. K. W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie, S. 36), allerdings nicht in der oben genannten erkenntnistheoretischen 73
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ein Mittel, die Komposition des literarischen Textes interpersonell zu beschreiben, als auch eine epistemologische Position gemeint, die es erlaubt, eigene historische und ästhetische Prämissen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Die allegorische Lektüre, deren Ziel nicht der Entwurf von Wirklichkeitsmodellen, sondern die Sichtbarmachung der Arbitrarität der Zeichenwelt ist94, unterstützt ein wesentliches Ziel der Diskursanalyse, nämlich die Möglichkeit, den Blick des Literaturwissenschaftlers jenseits einheitsstiftender Paradigmen für die Entdeckung einzelner übersehener Manifestationen der Literatur zu öffnen. Im lateinamerikanischen Kulturraum ist dieses Erkenntnisziel auf Grund der besonderen hegemonialen Verhältnisse bei Entstehung und Entwicklung dieser Kultur zweifellos von unmittelbarer Pertinenz.95 Die frühe Anregung Borges’, die Lektüre der Weltkultur, die sein gesamtes Werk cha-
Funktion, sondern als »allegorische Darstellung von Vertextungsverfahren« und als ein die Textkohärenz stiftendes Prinzip«, ebd., S. 105. 94 Paul de Man war es, der das ästhetische Prinzip der Allegorie in Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels als (post-)moderne Lektüremöglichkeit wiederentdeckte. Vgl. Paul de Man: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust, New Haven/London: Yale UP 1979. Weniger als die im Zusammenhang mit dem Dekonstruktivismus generell rezipierte These des unendlichen Aufschubs von Signifikanten und der Beliebigkeit von Lektüre, die nicht die notwendige Schlussfolgerung des allegorischen Prinzips sein muss, interessiert hier die erkenntnistheoretische Position einer ›allegorischen Lektüre‹. Letztere ermöglicht es, den mimetischen Impuls des literarischen Werkes in Betracht zu ziehen und zugleich transparent zu machen, dass das Verhältnis des Partikulären (Text) zum Allgemeinen (Wirklichkeit) ein willkürlicher Setzungsakt ist. Zur Bedeutung des erkenntnistheoretischen Prinzips der allegorischen Ästhetik Benjamins vgl. auch Terry Eagleton: The Ideology of Aesthetics, Oxford: Basil Blackwell 1990. Unter Zugrundelegung einer allegorischen Perspektive gelangt der englische Literaturwissenschaftler zu einer Interpretation von Joyces cosmopolitism in Ulysses als kulturelle Antwort des marginalisierten Irland – eine Antwort, die mit der Arbitrarität des Identischen auch die Willkür von (hegemonialen) Identitätsvorstellungen Englands betont. Vgl. ebd., S. 321f. 95 Infolge eines solchen Erkenntnisinteresses war es beispielsweise möglich, die tabuisierende Wirkung des diesjährigen Nobelpreisträgers Octavio Paz auf die internationale und besonders die deutschsprachige Rezeption mexikanischer Romane offenzulegen. Vgl. Vittoria Borsò: Mexiko jenseits der Einsamkeit. Versuch einer interkulturellen Analyse, Frankfurt/Main: Vervuert 1994. 74
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rakterisiert, auf das Prinzip der Allegorie zurückzuführen96, ist in dieser Hinsicht wegweisend. Die am Anfang der Überlegungen gestellte Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft und nach der Alterität kann erneut aufgenommen werden. Mit der erkenntnistheoretischen Position des foucaultschen Diskursbegriffs bezieht sich die Alterität des literarischen Textes auf eine andere Ebene als bei Dialogbegriffen, die im Sinne von Modelltheorien operieren. Mit einem diskursanalytischen Ansatz behält das literarische Werk trotz seines Status als Erkenntisobjekt der Literaturwissenschaft auch die Wirkung der Provokation des ›Anderen‹ gegenüber jeweils gewonnenen literaturwissenschaftlichen Epistemen.
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96 Vgl. »El arte narrativo y la magia« (aus Discusión) bzw. »De las alegorías a las novelas« aus der späteren Sammlung mit dem Titel Otras inquicisiones (1952). Jorge Luis Borges: »El arte narrativo y la magia«, in: ders.: Obras completas (1923-1972), Buenos Aires: Emecé 1974, S. 226232; ders.: »De las alegorías a las novelas«, in: ders.: Obras completas (1923-1972), Buenos Aires: Emecé 1974, S. 744-746. 75
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FOUCAULT
B I N S W A N G E R : DE R T R A U M , TOD UND DER ANDERE*
UND
DER
Der Dichter untersteht den Befehlen seiner Nacht. (Cocteau)
Im Jahre 1954 erschien die französische Übersetzung von Ludwig Binswangers Traum und Existenz (Rêve et existence). In dieser kurzen Studie zu einer Traumtheorie hatte der für seine Studie Melancholie und Manie (1960) bekannte Schweizer Psychiater (1881-1966) den Traum mit der Daseinsanalyse verbunden und anthropologisch begründet. Zu dem etwa vierzig Seiten umfassenden Text von Binswanger schrieb Michel Foucault eine neunzig Seiten lange Einleitung bestehend aus fünf Abschnitten. Die Auseinandersetzung mit Binswangers existenzialistischer Auffassung des Traums dient Foucault dazu, das Verhältnis von Traum, Tod und dem Anderen zu überprüfen. Dabei skizziert er eine Anthropologie des Imaginierens, in der drei Aspekte von Bedeutung sind: 1. die Kritik an Freuds Traumdeutung; 2. die Verbindung der psychologischen Dimension der Traumanalyse mit einer existenzphilosophischen; 3. die Betrachtung des Verhältnisses des Subjekts zum Tod, bei der Foucault zur Konzeption eines Anderen vorstößt, das der Traumimagination vorgängig ist. Die Vorgängigkeit des Anderen hat gewiss eine subjektkritische 1 und damit ethische Dimension , die in den späteren Schriften Foucaults
*
1
Erstmals erschienen in: Rudolf Heinz/Wolfgang Tress (Hg.), Traumdeutung. Zur Aktualität der Freudschen Traumtheorie, Wien: Passagen Verlag 2001, S. 117-128. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Ethisch ist hier im Sinne von Emmanuel Levinas gemeint, und zwar als Konzeption eines unhintergehbaren Alteritätsprinzips, das die Bewegung des Denkens bei poststrukturalen Autoren nachhaltig beeinflusst hat. Zu Levinas und Foucault vgl. Jean-Philippe Millet: »L’expérience comme technique de soi (lecture de Foucault)«, in: Logique de l’éthique. Revue Rue Descartes 7 (1993), S. 104-122. Zum Verhältnis zwischen poststrukturaler Philosophie und dem Denken Levinas’ vgl. Paul-Laurent Assoun: »Le sujet et l’Autre chez Levinas et Lacan. Éthique et inconscient«, in: Logique de l’éthique. Revue Rue Descartes 7 (1993), S. 123-146; vgl. auch Robert 79
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zwar ein Movens, jedoch nur punktuell ein explizites Argument oder Te2 los ist. In seiner Kritik an Freud geht Foucault von einer an Binswanger angelehnten existenzialistischen Deutung des Traums aus. Vor Freud war der Traum von einer metaphysisch verstandenen Vernunft abhängig. Der Traum konnte nur als Abwesenheit von Sinn gedacht werden; der ›Unsinn‹ des Traums machte ihn zu einer defizitären Sprache: »Der Traum war gleichsam der Nicht-Sinn des Bewusstseins. Bekanntlich hat Freud den Satz umgestellt und aus dem Traum den Sinn des Unbewussten ge3 macht« (13). Freud hatte damit im Ausdruck des Traums die Manifestation seines verborgenen Sinnes gesehen. Damit war ein wichtiger Schritt, der zur Abkoppelung des Traums von der Vernunft führen sollte, getan. Freud konnte mit diesem Schritt die Nacht in den Tag verlängern und das wache Ich durch den Träumer ersetzen. Im Erwachen fand sich der Träumer vor dem Traumtext und damit vor einem fremden Ich, das in Differenz zur Manifestation des Traums und zu dessen assoziativem Material steht. Das Ich des Bewusstseins, so die Errungenschaft der freudschen Analyse, ist im Träumer dezentriert. Es ist zwar im Gedächtnis anwesend, steht aber im Widerstreit zum verdeckenden Traumdiskurs. Foucaults Argumentation zielt auf die Kritik der freudianischen Traumdeutung ab, und zwar insoweit der Traumausdruck dem Sinn untergeordnet wird. Gewiss werden die Grundlagen der Traumanalyse auch von Foucault übernommen, und zwar in folgenden, von kritischen Zügen begleiteten Schritten: 1. Die Manifestation des Traums wirkt störend/provokant. Sie irritiert die Logik des Tages/der Vernunft, weil sie mit dieser nicht identifizierbar ist. Die Manifestation des Traums ist eine desidentifizierende Verletzung
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Bernasconi/Simon Critchley (Hg.): Re-Reading Levinas, Indiana: UP 1991. Zur Bedeutung einer Ethik der Ästhetik verweise ich u.a. auf Hans Ulrich Gumbrecht/Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.): Ethik der Ästhetik, Berlin: Akademie Verlag 1994. Das Andere bzw. der Andere ist zwar impliziert, ohne jedoch Thema oder Ziel des Denkens Foucaults zu sein. Die Abhängigkeit des Subjekts von einem vorgängigen Anderen, das das Subjekt bestimmt, wird dann vornehmlich in Kategorien der Macht der Diskurse und ihrer Kritik gedacht. Vgl. dazu Vittoria Borsò: »Michel Foucault und Emmanuel Levinas. Zum ethischen Auftrag der Kulturwissenschaften«, in: kultuRRevolution 31 (1995), S. 22-30 (im vorliegenden Band S. 23-47). Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die benutzte Ausgabe der deutschen Übersetzung: Michel Foucault: »Einleitung«, in: Ludwig Binswanger, Traum und Existenz. Übersetzung und Nachwort von Walter Seitter, Bern, Berlin: Gachnang & Springer 1992, S. 7-93. 80
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der Diskurskonfigurationen der Vernunft. In seiner Traumdeutung löst aber Freud die Irritation dadurch, dass er die irritierende Form symbolisch auslegt, auf die Vernunft zurückbezieht und von dieser abhängig macht. 2. Die Möglichkeit, die Irritation aufzulösen, hängt mit dem starken Begriff der Identität zusammen. Freud entdeckt zwar die Spaltung des Subjekts in verschiedenen ›Räumen‹, also räumlich gelagerten und voneinander abhängigen Dimensionen, womit er gewiss einen wesentlichen Beitrag zur Kritik der Vernunft liefert. Freud hält aber immer noch fest an der Vorstellung eines ›intakten‹ Subjekts, das im Traum seine Patho4 logie offenlegt. Der Traum dient also Freud ontogenetisch zur Analyse der Störungsmechanismen der ›normalen‹ Identität, die vollends bürger5 lich aufgefasst wird. 3. Weil Freud eine intakte Identität als ›Norm‹ voraussetzt, wird in der Traumdeutung das Nicht-Identifizierbare der Traummanifestation (also des Materials des Traums) in einen Schuldzusammenhang gestellt. Oedipus und Narziss werden als Formen des Pathologischen angesehen. Die moralistische Maßregelung und der Bezug auf die Schuld wirken kohärenzstiftend, was in der Deutung des Falls Schreber besonders sicht6 bar wird. Die Traumdeutung zielt auf die Aufhebung der Verletzung der Symbolisierung ab. 4. Damit steht für Freud die Pathologie eines im Normalzustand als integral angesehenen (bürgerlichen) Subjekts am Anfang der Produktion der Signifikanten des Traums. Das Traumsubjekt wird dem Wissen un-
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Für die Kritik der Pathologie als Deutungsstruktur der Traumdeutung verweise ich auf die zahlreichen Studien von Rudolf Heinz, z.B.: Somnium Novum. Zur Kritik der psychoanalytischen Traumtheorie, Bd. I (hg. von Rudolf Heinz) und Bd. II (hg. von Rudolf Heinz/Karl Thomas Petersen), Wien: Passagen Verlag 1994; Rudolf Heinz: Metastasen. Pathognostische Projekte, Wien: Passagen Verlag 1995. Viele Anregungen verdanke ich zahlreichen gemeinsamen Seminaren mit Rudolf Heinz an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. In phylogenetischer Hinsicht könnte ähnliches für den Lévi-Strauss der strukturalen Mythosanalyse gelten. Wie Freud die Pluralität der Äußerungsformen der Vernunft vorsieht, erkennt auch Lévi-Strauss eine Pluralität von Manifestationen des Mythos und die Ambivalenz des mythischen Bildes an. Die Ambivalenz wird aber durch die Figur des Tricksters aufgelöst. Der Sinn des Mythos wird auf universelle, ethnozentrisch bestimmte Tiefenstrukturen zurückgeführt. Vgl. Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 8, Frankfurt/Main: Fischer 1945, S. 242-316. 81
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terstellt. Die dezentrierte Identität des Träumers verschleiert eine insofern starke Selbstbezüglichkeit, als dass das dezentrierte Subjekt durch die eigene Alteritätsprojektion das Andere einverleibt und sich mit einem pluralistischen Diskurs um so stärker selbst ermächtigt. Deshalb wird die Traumdeutung von Foucault als eine »Heautoskopie« (Heteroautoskopie), d.h. eine Art Selbstbezug in der Erscheinung der Heterogenität, bezeichnet (59). Foucault gelingt dagegen im Zusammenhang mit der Traumimagination eine andere Deutung von Freuds Narzissmus-Theorie: Die Traumimagination ist nicht die Deviation eines im Normalzustand sich selbst ermächtigenden (Vernunft-) Subjekts. Vielmehr ist der Traum die Antwort auf die Ursituation, in der das Subjekt der Anziehung des Anderen nicht widerstehen kann. Der Narzissmus ist nicht eine pathologische Form des Subjekts. Er ist als Transzendenzwunsch des Subjekts konzipiert, ein Subjekt, das Welt werden will. Insofern ist der Narzissmus als Antwort auf die Anziehungskraft eines vorgängigen Anderen gedacht. 5. Die Manifestation selbst, also der Ausdruck des Traums, der die Vernunft und das Wissen des integralen Vernunftsubjekts provoziert, wird bei der Traumdeutung den Trauminhalten untergeordnet. Die Supp8 lemente (Derrida) der Manifestation werden dabei zugunsten der Identifizierbarkeit von Tiefenstrukturen aufgelöst. Die Hermeneutik des 7
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Dieser Aspekt der Traumdeutung beeinflusst auch André Breton, was gewiss eines der kontroversen Momente in der Polemik zwischen ihm und Autoren wie Jean Cocteau und Georges Bataille darstellt. Vgl. hierzu Vittoria Borsò: »Der Orpheus-Mythos neu geträumt. Anmerkungen zu Jean Cocteaus Theater und Film«, in: Karl Hölz/Lothar Pikulik/Norbert Platz/Georg Wöhrle (Hg.), Antike Dramen – neu gelesen, neu gesehen. Beiträge zur Antikenrezeption in der Gegenwart, Frankfurt/Main: Peter Lang 1998, S. 77-97 und Vittoria Borsò: »Rêve d’une pensée hétérologique – Georges Bataille am Ursprung ohne Ursprung«, in: Christoph Weismüller (Hg.), Kontiguitäten. Texte-Festival für Rudolf Heinz, Wien: Passagen Verlag 1997, S. 49-64. In den späteren Texten Foucaults kommt die Rolle der Schrift zur Geltung. Im Zusammenhang mit der Schrift des Subjekts werden in den Buchstaben der Schrift die Spuren der Alterität, d.h. die Spuren der Aushandlung des Verhältnisses des Selbst zum Anderen sichtbar. So Foucault: »Écrire, c’est donc ›se montrer‹, se faire voir, faire apparaître son propre visage auprès de l’autre«; Michel Foucault: »L’écriture de soi«, in: ders.: Dits et Écrits, Bd. 4, Paris: Gallimard 1994 [1983], S. 415-430, hier S. 425. Gerade die Selbststilisierung des asketischen Subjekts Senecas wählt Foucault als Untersuchungsgegenstand, um das Verhältnis des Selbst und des Anderen in der Textmanifestation zu analysieren: »les interférences de l’âme et du corps«; ebd., S. 427. 82
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Traums (wie auch die der Kultur und der Texte) vernachlässigt die Differenz zwischen der konkreten Manifestation des einzelnen Traums und einer vor dem Hintergrund der Vernunft gedeuteten Symbolik des Traumsinns. Die Autonomie des Traumausdrucks vom Traumsinn geht verloren. Nicht die Materialität des Traumtextes, sondern das, wofür der Text symbolisch steht, ist bei der Traumhermeneutik von Interesse. Entsprechend werden die anderen Elemente des Traums den Trauminhalten untergeordnet, nämlich die von der Zensur des Bewusstseins, also von der Rücksicht auf die Darstellbarkeit produzierte Vorstellungsrepräsentanz und damit die formenden Operationen des Traums (Verschiebung und Verdichtung). Ihre Materialität wird damit zerstört: »Die eigentliche 9 Bildhaftigkeit der Sinndarstellung ist völlig übersehen« (15). Die Paradoxa, die das ästhetische Moment der Manifestation ausmachen, und die formende Arbeit der Imagination werden zugunsten des Vernunftsubjekts aufgelöst. Foucault kann deshalb Freuds einseitige Bindung des Traums an das Begehren als ›Sinn‹ des Traums mit der klassischen Metaphysik vergleichen: »Freud hat das Begehren zum Hausherrn der Welt des Bildhaften gemacht – ebenso wie die klassische Metaphysik die Welt der Physik vom göttlichen Willen und Verstand hat bewohnen lassen: Theologie der Bedeutungen, in der die Wahrheit ihre Darstellung vollständig im Griff hat. Die Bedeutungen erschöpfen die Wirklichkeit der Welt zur Gänze.« (15; meine Hervorhebung)
Als Folge dieser Kritik entwickelt Foucault eine deutliche Gegenposition: Nur insoweit die Vorstellungsrepräsentanz nicht domestiziert wird, bleibt das Traumsubjekt erhalten, welches auf die Zensur reagiert. Nur damit wird das in der Materialität der Sprache aufgehobene, im Traum optisch bestimmte dramatische vis-à-vis des Vernunftsubjekts und des Traumsubjekts aufrechterhalten. Unter diesen Bedingungen ist die Traumarbeit als Widerstand gegenüber der Vernunft zu verstehen, die die Rücksicht 10 auf Darstellbarkeit gefährdet. In der paradoxalen Vorstellungsrepräsentanz werden der Träumer und das wache Subjekt in Widerstreit mitein-
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Eben die Vernachlässigung der Vorstellungsrepräsentanz moniert schon Jean-François Lyotard in seiner Dissertation. Lyotard forderte den Ersatz des Symbols der Traumdeutung durch die Figur als ein Konzept, das die Visualität jenseits der sprachlichen Dekodierung der Bilder und des diskursiven Sinns zu öffnen vermag. Vgl. Jean-François Lyotard: Discours, Figure, Paris: Klincksieck 1971; vgl. auch V. Borsò, Rêve d’une pensée hétérologique. 10 Hier findet sich eine deutliche Parallele zur Traumtheorie von Rudolf Heinz. 83
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ander verbunden. Bei der Traumdeutung wird dagegen nur das Vernunftsubjekt in den Blick genommen, das Traumsubjekt ist das Abwesende, Ausgeschlossene der Vernunft, auf die der verdeckende Traumdiskurs bezogen wird. Foucault gelingt es, das in der Traumarbeit gedachte Anwesende, jedoch aus der psychischen Lokalität des Unbewussten Ausgeschlossene, als Teil des existenziellen Dramas des Traums zurückzugewinnen. Die Kritik Foucaults setzt natürlich Freud nicht außer Kraft, sondern radikalisiert ihn, wie es gewissermaßen auch die ›moderne‹ Traumdeu11 tung tut. Auch Foucault möchte die Trauminhalte auf den Träumenden, dessen Erwachen und die Nacht des Träumens zurückbeziehen. Auf dieser Grundlage vermag Foucault die eigene Traumtheorie und damit die Theorie der Imagination zu skizzieren.
M i c hel F o u c a u lt s T r au m k o n z ep t i o n Gegenstand von Kapitel I (7-12) und II (13-30) ist der Ersatz der Trauminhalte durch das Traumdrama als zentrale Kategorie und damit die Hervorhebung der Materialität des Traums. Erfasst man den Traum als Drama und damit als ein in der Zeitlichkeit befindliches Phänomen, so drücken sich in der Erscheinung des Traums auch die Modalitäten der 12 Existenz und der Imagination aus. Existenzialistisch gedeutet, gilt der Traumausdruck nicht als Verdeckung der vollständigen Evidenz des Sinns, der sich in der Traumdeutung zu erkennen gäbe (14). Vielmehr untersteht der Ausdruck einem Zeitprozess (der Zeitigung) und ist deshalb ambivalent, widersprüchlich. Er lässt Rückschlüsse auf den Sinn ebenso wie auf den Gegensinn zu, denn der Traum ist sowohl Erfüllung eines Wünschens wie auch eine nicht gelungene Wunscherfüllung. Die Begierde hat dabei die flüchtige Form des Feuers (14). Foucault kritisiert, dass der Traum als Sprache im Sinne eines semantischen Systems 11 Die Trennung zwischen dem Traum und dem Erwachen sieht auch die postfreudianische Psychoanalyse als notwendig an. In Nach Freud (frz. Après Freud, Paris: Julliard 1965) hatte Jean-Bertrand Pontalis davor gewarnt, im dezentrierten Ich ein absolutes Subjekt und einen alleinigen Verwalter wahrer Bedeutungen zu sehen, durch die dem Unbewussten die Privilegien des Bewussten zukommen könnten. Vielmehr plädiert Pontalis für eine radikale Interpretation der Traumarbeit als Sinnüberschuss und Sinnerarbeitung. Hier setzt auch Foucaults Anthropologie des Traums und der Imagination ein. 12 Das Verhältnis des Traums zur Zeitlichkeit erklärt Foucault in Kapitel III seiner Einleitung, S. 31-55. 84
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behandelt wird: »Das Sprechen des Traums wird nur in seiner semantischen Funktion analysiert: seine morphologische und syntaktische Struktur wird von der freudschen Analyse nicht berücksichtigt« (15). Das Darstellungsgeschehen selber wird entweder nicht beachtet oder dem Prozess der Sinnkonstitution untergeordnet (17). Die Traumdeutung habe den Traum nur als Rede aufgefasst, ohne ihn in seiner Sprachwirklichkeit zu erkennen: »Die Rede scheint sich zwar in der von ihr vorgebrachten Bedeutung auszulöschen« (16), in Wirklichkeit existiere sie im Ausdruck, in dem was sie dem Wortkörper gibt. Als Methode schlägt Fou13 cault die Archäologie vor (16). Entsprechend der Archäologie produzieren der Überschuss der Signifikanten (die Supplemente) und die Interdiskursivität der Sprache die Dichte des materiellen Ausdrucks. Die Sprache hat damit nur noch eine diskontinuierliche Kohäsionskraft; die 14 Diskurse stehen im Widerstreit zueinander. Darauf aufbauend kritisiert Foucault die Psychoanalyse, insoweit sie mit der Traumdeutung eine unmittelbare Identität zwischen dem Sinn und dem Bild voraussetzt und die Bildmaterialität durch den Symbolbegriff vereint (24). Dagegen definiert Foucault den Traum als Akt des Hinweisens und nicht des Bedeutens (25). Die Referenzsemantik ist im Traum ein Paradoxon, weil die Sprache des Traums Subjekt und Dinge so miteinander verbindet, dass immer in der Ich-Form gesprochen wird. Der Traum sagt: »ich rede« oder »ich bilde« (27). Der Gegenstand wird damit zugleich benannt und verneint. Deswegen soll die Existenzialanalyse des Traums dazu beitragen, die Distanz zwischen der Symptomatologie und der Semantik, d.h. zwischen Traummanifestation und Trauminhalten zu akzentuieren, während die Psychoanalyse der Traumdeutung beide hat ineinanderfließen lassen (28). Kapitel III (31-55) ist der textanalytischen Seite der Kritik der Traumdeutung gewidmet. Die rhetorische Analyse, bei der die Rhetorik als Regelsystem der Logik verstanden wird, zerstört den Traumausdruck, weil die Sinnkohärenz die Manifestation in die Logik des Diskurses zwingt. Denn der Traum ist nicht eine Rhapsodie von Bildern. Er ist vor allem »Erfahrung im Modus der Bildhaftigkeit« (32), eine zeitlich zu fassende Erfahrung. Foucault gelingt damit eine neue Definition der Imagination. 13 Vgl. Michel Foucault: Archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969. 14 Foucault strebt deswegen eine Psychologie der Imago und nicht eine Psychologie der Sprache an (19). Unter Bezug auf Husserl behauptet Foucault, dass die Psychoanalyse die Erfüllung der Bedeutungen mit der Induktion aus dem Anzeichen verwechselt hat (21-22). Für sich genommen hat dagegen das Anzeichen keine Bedeutung. Die Bedeutungszuweisung erfolgt durch Bewusstseinsakte (22). 85
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D er T r au m , d er T o d , d a s A n d er e: M i c he l F o u c a u lt s I m ag i n a ti o n st h e o r i e Beim Traum handelt es sich, so Foucault mit Bezug auf Binswanger, um die Erfahrung einer ursprünglichen Freiheit (47). Binswanger selbst spricht von einer Kosmogonie des Träumens. Der Traum gibt Auskunft über den Ursprung der Existenz und die Bewegung der Freiheit auf die Welt hin (47), was mit dem Begriff der Ethik im obigen Sinne in Verbindung gebracht wird (48). Das Traumdrama ist der Versuch, die Bewegung der Freiheit und ihren ursprünglichen Sinn zu restituieren (48). Das Verhältnis von Traum und Imagination führt direkt zur Analyse des Bilds, die im zentralen Kapitel V (56-77) durchgeführt wird. Die Hauptthese kehrt die gängigen Theorien um, welche von der Abhängigkeit des Traums von der Imagination ausgehen: Freud zeigt, dass das Träumen nicht die Modalität der Imagination, sondern die Bedingung ihrer Ermöglichung ist. Die Imagination gilt damit nicht mehr als der Ausdruck eines starken, die Grenzen des Selbst überwindenden Subjekts, sondern vielmehr als die Sprache eines vom Anderen angezogenen, schwachen, aber gerade deswegen kreativen Subjekts, welches im Traum sein Verhältnis zur Alterität erlebt. Diese implizite Kritik an mimetischen Konzeptionen der Imagination, die auf einem starken Subjektbegriff basieren, muss sich – zumindest in der französischen Philosophie der Moderne – notwendigerweise mit Jean-Paul Sartre auseinandersetzen. Foucault übernimmt zunächst von Sartre die Kritik jener Bildkonzepte, die das Bild als Rückstand der Wahrnehmung und als Korrelat eines realen Referenten verstehen. Wie Sartre behauptet auch Foucault vielmehr die Abwesenheit des Objekts, auf das sich das Bild bezieht. Die Ermöglichungsbedingung von Bildern ist also die Abwesenheit, das Bild ist gänzlich vom Blick des Betrachters abhängig. Bei Bildern geschieht die Darbietung im Modus des Unwirklichen. Die Beurteilung des Modus des Irrealen im Ausdruck führt jedoch bei Foucault zu anderen Schlussfolgerungen als bei Sartre. Während letzterer das imaginierte Bild immer noch vor dem Hintergrund des rationalen Subjekts als »irreal« versteht (78) und dieses Urteil vor dem Hintergrund der positiven Erkenntnis fällt, behauptet Foucault hingegen, dass das Traumbild – trotz dessen Erscheinung im Modus des Irrealen – existenziell real sei. Im Sinne der Existenzialphilosophie wird das Verb sein von Foucault durchgestrichen und durch die Existenz ersetzt. Dies begründet auch einen Gegensatz zu Freud. Gilt für Freud das Bild als Rückstand einer gescheiterten oder zumindest krisenhaften Verarbeitung der Realität, so entsteht für Foucault zwar das Traumbild in Bezug auf etwas Abwesendes, jedoch bezeichnet die Abwesenheit nicht das Nichts (oder einen pathologischen
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Zustand), sondern die am Ausgangspunkt des Imaginierens existierende, abwesende Welt. Gerade die Abwesenheit der Welt (und nicht die Rückstände der Wahrnehmung oder der Wirklichkeitsverarbeitung im Bewusstsein) löst die formende Materialität des Traumbildes aus. Imaginieren heißt, die Einsamkeit zu transzendieren. Imaginieren ist der Wunsch des Subjekts, die Welt herbeizuholen. Wie in Kapitel II schon sprachtheoretisch begründet, konjugiert sich im Traum alles in der ersten Person. Das Subjekt wird jedoch dabei selbst zur Welt; es will dort sein, wo der Andere ist. Damit ist aber das Traumsubjekt nicht mehr Herr in seinem Haus (81). Hier verstehen wir auch das Motto, das Foucault dem Kapitel V voransetzt: »Der Dichter untersteht den Befehlen seiner Nacht«, ein Zitat, das aus dem Drama Orphée von Jean Cocteau (1926) stammt. Das Ich ist im Traum ein depotenziertes Subjekt. Der Transzen15 denzwunsch, der Wunsch nach dem Anderen, entmächtigt das Subjekt. Der Überschreitungswunsch kristallisiert sich von jeher in Themen der Unsterblichkeit, des Überlebens, der reinen Liebe und der unmittelbaren Kommunikation. Weil aber das Drama des Traums in der Zeit erfasst ist, so wird die transzendierende Geste zur »Transdeszendenz«, nämlich zu Aufstiegs- und Fallbewegung. Im Traumdrama erscheint der Überschreitungswunsch als »drohender Sturz«, »der vom gefährlichen Gipfel der Gegenwart erlebt ist« (75). Der Narzissmus des Traums kann somit zugleich zum »Zeichen meiner Macht« wie auch »Zeichen meiner Ohnmacht« (66f.) werden. Bemerkenswert an diesem Zitat ist, dass Foucault bekenntnishaft die eigene Person in die narzisstische Struktur einschließt, was durch den Übergang des Sprechersubjekts von der dritten zur ersten Person markiert ist. Der Traum redigiert also das Urgeschehen der Imagination. Dieses Urgeschehen ist die Suche nach einer überschreitenden Freiheit. Darin enthüllt der Traum den narzisstischen Zug der Imagination, das Begehren, das die Grenzen des Ich transgredieren will. Als Drama der Existenz des Subjekts imaginiert der Traum eine Zukunft, in der die vorgängige Situation von Freiheit und Narzissmus eingeschrieben 16 ist. Infolge des Freiheitsbegehrens, das am Ursprung der Kosmogonie seiner Existenz steht, sucht das Ich im Traum die Einheit mit den Dingen. Es wird zu Welt und irrealisiert sich dabei als Dasein. Dieser trans-
15 Dies stimmt mit der späteren Analyse der »Sorge um sich« (»souci de soi«) überein wie sie Foucault in L’histoire de la sexualité durchführt. Dort beschreibt Foucault die doppelte Bewegung der Subjektkonstitution, die zugleich eine Stärkung des Vernunftsubjekts und eine Entmächtigung des existenziellen Ich impliziert. Vgl. Michel Foucault: L’histoire de la sexualité, Bd. III, Le souci de soi, Paris: Gallimard 1984. 16 Vgl. auch J.-F. Lyotard: Discours, Figure, S. 207. 87
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zendierende Zug bedroht aber das Vernunftsubjekt, das von den Dingen getrennt ist. Diese scheinbar romantische These hat bei Foucault eine moderne Wendung. Seine Anthropologie der Imagination vermag eine Psychologie und eine »Ethik des Selbstmordes« zu begründen, wie Foucault im letzten Kapitel behauptet (83). In der imaginativen Arbeit ist das Ich nicht autonom, sondern untersteht vielmehr dem Wiederholungszwang des narzisstischen Freiheitsbegehrens, welches das Subjekt zugleich mächtig und ohnmächtig macht. Mit der paradoxalen Bewegung der ›Transdeszendenz‹ impliziert die Arbeit des Traums Aufschwung und Selbstmord zugleich. Selbstmord meint dabei die Depotenzierung des starken Subjekts im Akt des Imaginierens, die Erfahrung des Scheiterns des Selbst gegenüber der Anziehungskraft des Anderen. Das Schicksal der doppelten Bewegung des Imaginierens, nämlich die Überwindung der Trennung zur Welt (Aufschwung) und der Depotenzierung eines starken, integralen Ich, ist die Gegenbewegung zur narzisstischen Sorge, zur »Sorge um sich«. Die Traumarbeit erbringt damit zwar keine ›neue Kenntnis‹, jedoch die Erkenntnis des paradoxalen Schicksals des Selbst. Darin ist möglicherweise die ethische Seite der Traumanalyse von Fou17 cault zu sehen , und auch jene Seite, durch die sich die Traumtheorie an aktuelle, so genannte postmoderne Theorien des Subjekts anschließen 18 lässt.
Z u r Ä s t he ti k d e s T r au m s Aus der Daseinsanalyse des Traums ergeben sich auch bedeutende Schlussfolgerungen für die Ästhetik des Traums, d.h. für die Konzeption
17 In Band III von L’histoire de la sexualité (Le souci de soi) fragt sich Foucault nach den Bedingungen einer Ethik der Lust, die auch die Lust des Anderen berücksichtigt. Dass die Entmächtigung des Selbsts seine Motivation ist, betont er in der Einleitung von Band II (L’usage des plaisirs): »Quant au motif qui m’a poussé, il était fort simple. Aux yeux de certains, j’espère qu’il pourrait par lui-même suffire. C’est la curiosité, – la seule espèce de curiosité, en tout cas, qui vaille la peine d’être pratiquée avec un peu d’obstination: non pas celle qui cherche à s’assimiler ce qu’il convient de connaître, mais celle qui permet de se déprendre de soi-même«; Michel Foucault: L’histoire de la sexualité, Bd. II, L’usage des plaisirs, Paris: Gallimard 1984, S. 14. 18 Ich beziehe mich z.B. auf Gianni Vattimo/Pier Paolo Rovatti (Hg.): Il pensiero debole, Mailand: Feltrinelli 1992. 88
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der Ausdrucksseite des Traums und für die Analyse der Traumarbeit. Dies ist das Thema des letzten Kapitels der »Einleitung« Foucaults. Die Imagination wandert in einem Universum von Bildern, ist dabei ikonoklastisch, bilderstürmerisch. Die Bilder sind paradoxal, heterotopisch, sie entwickeln einen Nicht-Ort des Symbolischen und irritieren das symbolische System. Deswegen bedeutet Imaginieren ›entidentifizieren‹. Wenn dagegen das Phantasma durch eine Quasi-Wahrnehmung eingeengt ist (88), das Bild als Wahrnehmungsrest konzipiert wird und damit als symbolisches Abbild der Wirklichkeit des Vernunftsubjekts fungiert, wenn also schließlich das Ich des Träumers mit dem wachen Ich zusammenfällt, dann folgt die Vernichtung der Imagination und das Ende des Traums bzw. der tatsächliche Selbstmord: Der ›Kranke‹ beharrt nur noch auf Bildern, ist in diesen eingesperrt, ohne bilden zu können. Legt man auf der anderen Seite das Bild auf ein Symbol fest, dann zerstört man den Prozess des Bildens selbst. Hier versteht man die These Foucaults, das Bild sei nicht der Gipfel der Imagination, sondern ein Moment ihres Verfalls (86). Die Imagination ist der Prozess der Suche nach einem Bild. Hat man die transdeszendierende Bewegung des Ich vollendet, ein Bild gefunden, das der Referenzsemantik eines Symbols entspricht und mit der Realität koinzidiert, so versagt man sich die Freiheit des Imaginierens und beendet den Traum.19 Deswegen gilt für das Bild: »Das Bild ist eine List des Bewusstseins, das nicht mehr imaginieren = bilden mag.« (87) Das Bild ist somit nicht der Stoff, aus dem die Träume geschaffen sind (89). Auf Grund der zentralen Bedeutung der Materialisierung muss die Traumanalyse die Distanz der im Wachzustand gelieferten (erinner20 ten) Bilder zur Imagination bedenken. Die Wahrheit des Traums ist ein »unzerschmetterbarer Kern aus Nacht« (91). Der Rückgriff auf die Existenzphilosophie auf der Grundlage von Binswangers Traum und Existenz geschieht ganz im Sinne einer radikalen Rückgewinnung des Widerstreits zwischen dem Diskurs der Existenzphilosophie und dem des Begehrens in der Traumdeutung. Das existenzialphilosophische Bedenken der Zeitlichkeit des Traum-Dramas führt zur Einsicht einer différance, d.h. eines Aufschubs der Trauminhalte, und zwar infolge der Wirkung der Zeit auf das Drama des Subjekts. Die Konsequenzen der Zeitigung des Traum-Dramas sind erheblich. Wenn die Materialität der Vorstellungsrepräsentanz an das TraumDrama, und damit an das Werden des Träumers gebunden wird, so gilt es 19 Anstelle des Bildes haben wir das Material der Traumdeutung zu beachten. Ich verweise hier auf die vorangehend erwähnte Theorie der Figur von Lyotard, aber auch auf Parallelen mit der Traumtheorie von Rudolf Heinz. 20 Foucault spricht missverständlicherweise von »überbrücken« (90). 89
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als erste Konsequenz, den Symbolbegriff zu verwerfen. Das Symbol hebt die Distanz zwischen dem Traumausdruck und der Bedeutung auf, durchstreicht den Sinnüberschuss, zerstört die poetische Autonomie des Signifikaten bzw. unterwirft die Materialität des Signifikanten unter die Herrschaft der Vernunft. Dies zerstört die visuelle, sinnliche Kraft des Bildens (15). Die Logik der Traumanalyse wird dadurch zur Logik des Diskurses (31). Foucault sieht also die Schwäche der freudschen Traumdeutung im Symbolbegriff (18). Das Symbol der Traumdeutung ist nur der Berührungspunkt, eine dünne Kontaktfläche, in der die Deutlichkeit 21 des Sinns die Materialität des Bildes zerstört. Bedenkt man die Zeitigung des Traum-Dramas als konstituierendes Element des Traums, so kann die Traumarbeit nicht als ein Regress auf die Urszene des Traums und als Erneuerung der Vergangenheit verstanden werden, wie dies Freud tat, sondern sie muss vielmehr als eine Ankündigung der Zukunft aufgefasst werden (61). Im Traum-Drama ist der Traum nicht nur die Geschichte früherer Erfahrungen, sondern er umkreist auch die gesamte Existenz des Subjekts, um ihr dramatisches Wesen theatralisch darzustellen (56f.). Das Subjekt des Traums ist nicht die Neuausgabe einer früheren Form oder einer archaischen Etappe der Persönlichkeit, sondern manifestiert sich als das Werden und als die Totalität der Existenz selbst (59). Mit der hier skizzierten Theorie bezieht Foucault die freudsche Durcharbeitung (perlaboration) der Traumstruktur auf die Imagination. Die Imagination wird damit als die Durcharbeitung einer ursprünglichen Suche nach Freiheit aufgefasst, die auch zukünftige 22 Freiheit und den zukünftigen Verlust der Freiheit bedeuten könnte (61). Im Zusammenhang mit dem Traum gelingt es Foucault, die Vorgängigkeit des Anderen zu verdeutlichen. Er analysiert das Freiheitsbegehren nicht ausgehend vom Diskurs der Freiheit selbst, vielmehr vom Ort des Anderen, des Ausgeschlossenen. Er analysiert den Narzissmus nicht als fehlgeleitete Geschichte des Subjekts, sondern als Antwort auf ein 21 Auf die Autonomie des Bildes vom Diskurs weist auch Lyotard in Discours, Figure hin. Lyotard verbindet diese These mit einer Kritik an der lacanschen Rückführung des Unbewussten auf linguistische Kategorien und damit am diskursiven Denken, das auf die Materialität der Vorstellungsrepräsentanz nicht eingeht. Vgl. J.-F. Lyotard: Discours, Figure. 22 Auch hier muss auf die Parallele der Bedeutung der Durcharbeitung in der Zeitkonzeption von Lyotard hingewiesen werden, der auf dieser Grundlage den von ihm geprägten Begriff der Postmoderne (als Verabschiedung einer Vorstufe der Moderne) zurücknimmt. Vgl. Jean-François Lyotard: »Die Moderne redigieren«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim: VCH, Acta humaniora 1988, S. 204-214. 90
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vorgängiges Anderes, als Antwort auf die Welt. Die Selbstliebe entlarvt sich in der Imagination als Antwort auf die Anrufung des Anderen. In der Traumimagination ist das Echo nicht stumm; die Stimme Traumimagination ist nicht die Wiederholung des Selbst. Sie ist vielmehr jene abwesende Anwesenheit, die die Antwort des Narziss abverlangt. Mit der zeitigenden Struktur des Traums kann Foucault die Verabsolutierung eines dezentrierten Subjekts ›verwinden‹, d.h. zugleich überholen, vertiefen und verändern. In der Zeitigung verweist das Imaginieren nämlich auf eine Abwesenheit, die »schon vor meiner Vorstellungstätigkeit da [war]« (79). Das Wiederfinden des Ursprungsmoments wird dann zur Feststellung der Nachträglichkeit eben des Ursprungs, in welchem »ich mir Welt 23 mache oder mich zur Welt« (83). In der enthüllenden Wirkung der Durcharbeitung des Transzendenzbegehrens liegt ein wichtiger Schritt. Foucault zeigt, dass in der imaginativen Arbeit das Ich nicht autonom ist, dass es vielmehr den Zwängen der Wiederholung des narzisstischen Freiheitsbegehrens untersteht. Die Imagination gehorcht den Vorgaben; sie ist nicht Herr ihrer selbst (81).
D er P l atz d er T r au m t he o r i e i m D e n k e n F o u c a u l ts Der Narzissmus, den Foucault in der Traumarbeit der Imagination erkennt, ist eine Antwort auf eine vorgängige Alterität, die zu einer doppelten Zerstörung des Selbst führt: des Selbst des Bewusstseins, das zwischen Ich und dem Anderen trennt (83) und des Selbst einer delegierten Subjektivität im dezentrierten Ich des Wachträumenden. Damit führt auch die Sorgestruktur des »Sein zum Tode« von der Selbstsorge zur Sorge um den Anderen. Die Tragweite dieser existenzialistischen Deutung Foucaults wird im Zusammenhang mit der späteren Analyse der »Sorge um Sich« (»Souci du soi«) sowie vor dem Hintergrund von Levinas’ These von der Nachträglichkeit der Zeit und des Verhältnisses der 24 Zeit zum Anderen deutlich. Levinas kritisiert die Appropriation der Zeitigung der Existenz seitens eines Subjekts, das in der Zeitstelle des Augenblicks die Bestimmtheit der Identischsetzung und des originären, 23 Angesichts der Vorgängigkeit des Anderen wird der Narzissmus des Transzendierungswunsches enthüllt. Der Traum drückt den radikalen Narzissmus einer Welt aus, in der sich alles in der ersten Person dekliniert (80), ein Narzissmus, der sich in schicksalhafter Weise als Impuls zur Freiheit wiederholt. 24 Vgl. Emmanuel Levinas: Le temps et l’autre, Paris: PUF 1983 [1947]. 91
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authentischen Beginns findet. Diese Kritik macht auch die Bedeutung des Akzents deutlich, den Foucault durch die Hervorhebung der Zeitigung des Traums setzt. Am Ende seiner »Einleitung« zu Binswangers Traum und Existenz gibt Foucault die volle politische Tragweite seiner Traumkonzeption zu erkennen: Als Drama der Imagination und als Erfahrung der Zeitigung des Subjekts impliziert der Traum auch den Widerstreit zur Geschichte, zum historischen Subjekt. Wir müssen, so Foucault mit den Worten von René Char, mit unserer »unruhigen Überzeugung« den Traum befragen; »wir, die inbrünstigen Totschläger, 26 die in der jeweils folgenden Person unserer Chimäre wirklich werden«.
L i t e r at u r Assoun, Paul-Laurent: »Le sujet et l’Autre chez Levinas et Lacan. Éthique et inconscient«, in: Logique de l’éthique. Revue Rue Descartes 7 (1993), S. 123-146. Bernasconi, Robert/Critchley, Simon (Hg.): Re-Reading Levinas, Indiana: UP 1991. Borsò, Vittoria: »Michel Foucault und Emmanuel Levinas – zum ethischen Auftrag der Kulturwissenschaften«, in: kultuRRevolution 31 (1995), S. 22-30 (im vorliegenden Band S. 23-47). Dies.: »Rêve d’une pensée hétérologique – Georges Bataille am Ursprung ohne Ursprung«, in: Christoph Weismüller (Hg.), Kontiguitäten. Texte-Festival für Rudolf Heinz, Wien: Passagen Verlag 1997, S. 49-64. Dies.: »Der Orpheus-Mythos neu geträumt. Anmerkungen zu Jean Cocteaus Theater und Film«, in: Karl Hölz/Lothar Pikulik/Norbert Platz/Georg Wöhrle (Hg.), Antike Dramen – neu gelesen, neu gesehen. Beiträge zur Antikenrezeption in der Gegenwart, Frankfurt/Main: Peter Lang 1998, S. 77-97. Foucault, Michel: Archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969. Ders.: »L’écriture de soi«, in: ders.: Dits et Écrits, Bd. 4, Paris: Gallimard 1994 [1983], S. 415-430.
25 Diese Argumentation habe ich entwickelt in: V. Borsò: Michel Foucault und Emmanuel Levinas. 26 Auch Jean Cocteau wendet sich gegen den kriegerischen und den Tod bejahenden Teil der Avantgarde (Futurismus), der die doppelte Natur der Imagination, nämlich Todeswunsch und Todesüberschreitung, durch die Bejahung der totalen Zerstörung ersetzt hat. Vgl. V. Borsò: Der OrpheusMythos neu geträumt. 92
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Ders.: L’histoire de la sexualité, Bd. II, L’usage des plaisirs, Paris: Gallimard 1984. Ders.: L’histoire de la sexualité, Bd. III, Le Souci de soi, Paris: Gallimard 1984. Ders.: »Einleitung«, in: Ludwig Binswanger: Traum und Existenz, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Walter Seitter, Bern, Berlin: Gachnang & Springer 1992, S. 7-93. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Bd. 8, Frankfurt/Main: Fischer 1945, S. 242-316. Gumbrecht, Hans Ulrich/Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.): Ethik der Ästhetik, Berlin: Akademie Verlag 1994. Pontalis, Jean-Bertrand: Après Freud, Paris: Julliard 1965; dt. Nach Freud, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1968. Heinz, Rudolf (Hg.): Somnium Novum. Zur Kritik der psychoanalytischen Traumtheorie, Bd. I, Wien: Passagen Verlag 1994. Ders.: Metastasen. Pathognostische Projekte, Wien: Passagen Verlag 1995. Ders./Petersen, Karl Thomas (Hg.): Somnium Novum. Zur Kritik der psychoanalytischen Traumtheorie, Bd. II, Wien: Passagen Verlag 1994. Levinas, Emmanuel: Le temps et l’autre, Paris: PUF 1983 [1947]. Lyotard, Jean-François: Discours, figure, Paris: Klincksieck 1971. Ders.: »Die Moderne redigieren«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim: VCH, Acta humaniora 1988, S. 204-214. Millet, Jean-Philippe: »L’expérience comme technique de soi (lecture de Foucault)«, in: Logique de l’éthique. Revue Rue Descartes 7 (1993), S. 104-122. Vattimo, Gianni/Rovatti, Pier Paolo (Hg.): Il pensiero debole, Mailand: Feltrinelli 1992.
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GRENZE UND ENTGRENZUNG. KONVERGENZEN D E R M O D E R N E BE I G I U S E P P E U N G A R E T T I Era un filologo, un poeta che sperimentalmente, sul vivo della carne delle parole, delle parole che portavano nella loro carne i segni d’una storia, d’una lunga età – sul vivo della propria carne e della propria anima che le parole verranno ad esprimere – cercherà gli effetti desiderati. (Ungaretti, »Secondo discorso su Leopardi«)1
Die Spurensicherung des Erbes der Moderne, das statt auf die Doxa der Aufklärung auf ihr kritisches Potenzial zurückgeht, erhielt durch JeanFrançois Lyotards Revidierung des von ihm selbst geprägten Begriffs der Postmoderne Impulse für die Feststellung einer longue durée der Krise und des Potenzials der Moderne.2 In Die Moderne redigieren3 geht Lyotard von der Notwendigkeit einer Phänomenologie der Zeit aus, welche
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Erstmals erschienen in: Anja Bandau/Andreas Gelz/Susanne Kleinert/Sabine Zangenfeind (Hg.), Korrespondenzen. Literarische Imagination und kultureller Dialog in der Romania. Festschrift zum 60. Geburtstag von Helene Harth, Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 81-108. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Giuseppe Ungaretti: »Secondo discorso su Leopardi« [1950], in: ders.: Vita d’un uomo. Saggi e interventi, hg. von Mario Diacono/Luciano Rebay, Mailand: Mondadori 1997 [1974], S. 451-496, hier S. 471. Auf Grund der Zersplitterung der ›Kette des Seins‹ durch die Segmentierung des Wissens sowie der Pluralität der Vernunft wird in einem langen Prozess, der erst im 18., 19. und vollends im 20. Jahrhundert zum Durchbruch kommt, Fremdheit zu einem konstitutiven Moment des Subjekts und seiner Wahrnehmung. Vgl. Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Die Phänomenologie bedenkt die Differenz, indem sie nicht nur über ihre Erscheinung, sondern auch über den Ort, von dem aus die Erscheinung wahrgenommen wird, reflektiert. Vgl. Jean-François Lyotard: »Die Moderne redigieren«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der PostmoderneDiskussion, Weinheim: VCH, Acta humaniora 1988, S. 204-214. 97
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die Gegenwart nicht als absolute, isolierte Zeitstelle setzt, sondern als relationales Moment der Wiederholung und Nachträglichkeit. Damit kritisiert Lyotard die eigenen Positionen von La condition postmoderne4, in der er noch angenommen hatte, mit der Befreiung des Fragments könne die Postmoderne die Moderne korrigieren, da das Fragment den Totalitätsanspruch verabschiede, der in der Moderne zu starken Ideologien geführt hatte. Durch diese Verabschiedungsannahme wurde die Utopie der Negationsgeste der historischen Moderne fortgeführt, die ihrerseits mit den großen Metaerzählungen der Modernisierung (Emanzipation, positivistische Wissenschaft und gesellschaftlicher Fortschritt) die Krisen und Brüche der Aufklärung überwunden zu haben glaubte. Auf der Grundlage des freudschen Konzepts der Durcharbeitung betont nun Lyotard in Die Moderne redigieren die Wiederkehr der Urkrise im Augenblick ihrer Überwindung und damit auch die Verzeitigung der Gegenwart. Die Gegenwart beinhaltet bereits das gesamte Drama der Existenz und kann nicht als singulärer Augenblick verstanden werden. Die Verzeitigung der Gegenwart hat ihren Beginn in der Aufklärung und impliziert ein Potenzial, das den Prozess der Negativität nicht als Negation und Dialektik zum Stillstand führt. Die nachfolgenden Überlegungen sollen einen Beitrag zur Rückgewinnung eines solchen Potenzials leisten, auf das sich auch Ungaretti bezieht, wenn er – wie im obigen Zitat – die Modernität von Giacomo Leopardi von der Geschichtlichkeit seiner poetischen Sprache ableitet. Auf seiner poetologischen Suche nach dem Prinzip, das die moderne Dichtung bestimmt, verfolgt Ungaretti mit seinen Saggi (1974) eine Spur, die ihn über Mallarmé und Leopardi schließlich zu Petrarca zurückführt. Mit Leopardi trete jene Dichtung auf, die in den Körper der Sprache die Zeichen der Geschichtlichkeit einschreibt.5 In der Tat erhält mit Leopardi die scrittura eine andere Qualität als in der klassischen Poetik. Seine Sprache trägt die Narben einer rottura, jenen Bruchs, der auftrat, als nach Verlegung des 4 5
Vgl. Jean-François Lyotard: La condition postmoderne, Paris: Minuit 1979. Mit dem Bewusstsein der Historizität etabliert sich im 18. Jahrhundert auch die Erfahrung einer nicht aufzuholenden Differenz der Epochen. Vgl. Reinhart Koselleck: »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«, in: Reinhart Koselleck/Reinhart Herzog (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München: Fink 1987, S. 269-282. Dieser im 18. und 19. Jahrhundert stattfindende Wandel führt zum Ende der Naturgeschichte. Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte: Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978. Zu den weiteren, auch medientechnisch zu denkenden Konsequenzen verweise ich weiter unten auf Walter Benjamin. 98
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Postulats der Wahrheit in die Authentizität und Autonomie des Subjekts eine Entzweiung zwischen sozialer und subjektiver Rede entstand. Mit dieser Entzweiung beginnt im 18. Jahrhundert die Erzählung des Subjekts und damit die epistemologische Situation der Moderne.6 Die historisch und wissenschaftlich pluralistisch erfasste Natur und die Pluralisierung des Vernunftbegriffs machen nach dem 18. Jahrhundert das Sein der Sprache problematisch.7 Der Hiatus zwischen der ›Natur des Menschen‹ und der ›Natur der Gesellschaft‹ bewirkt, dass sich die mimetische Korrespondenz zwischen Sprache und Welt brüchig gestaltet. Nur die positivistischen Illusionen und die gesellschaftlichen Fortschrittsutopien der Modernisierung verkennen diese Brüche. Die in dieser epistemischen Situation entstehenden Poetologien verfolgen generell zwei Wege: Auf der einen Seite glaubt man, den Hiatus durch das Postulat einer mythischen Sprache zu überwinden, die die Romantik im organologischen Symbol der Epoche Goethes, das idealistische Subjekt der poésie pure in der entdinglichten sprachlichen Schöpfung verwirklicht sieht8 und durch die der Dichter zum göttlichen Statt6 7
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Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris: Gallimard 1966. Wie die Analysen von Jean-Jacques Rousseaus Confessions durch Maurice Blanchot und Jean Starobinski gezeigt haben, spaltet sich das ewig Naturwahre von der veränderlichen Geschichte der Gesellschaft ab; die subjektive Sprache trennt sich von der sozialen Rede. Vgl. Maurice Blanchot: Le livre à venir, Paris: Gallimard 1959; vgl. Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l’obstacle, Paris: Gallimard 1971. Die von Rousseau behauptete Alterität des Ich (»Je suis un autre«) wird bei Rimbaud in die Sprache des Subjekts eindringen: »Je est un autre« wird er im Brief an Georges Izambard sagen. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1782-1788) – besonders die pantheistische Vorstellung des göttlichen Zusammenhangs von Natur und Geschichte – und die organologischen Prämissen von Karl Philipp Moritz liegen dem organischen Verständnis des Symbols zu Grunde, das die Ästhetiktheorien der Goethezeit bestimmt hat. Vgl. Michael Titzmann: »Allegorie und Symbol im Denksystem der Goethezeit«, in: Walter Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart: Metzler 1979, S. 642-665, und Götz Pochat: Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln: DuMont 1983. Auf Grund der Verzeitigung in der phänomenologischen Vermittlung, die in der neueren Forschung betont wird, bilden aber sinnlicher (sensualistisch erfasster) Gehalt und historische Form keine ungebrochenen, natürlich motivierten Korrespondenzen. Vielmehr verlangt der Hiatus zwischen historischer Kunstform und Natur einen komplexeren Begriff der Nachahmung, bei der neben der Ähnlichkeit auch die auf die Verzeitlichung zurückgehende Differenz deutlich wird. Vgl. Vittoria Borsò: »Der Rück-Blick auf die Antike. Formen der Vermitt99
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halter der Totalität der Welt wird. Damit findet die Säkularisierung der christlichen Heilsutopie statt, welche in die Ästhetik verlegt9 und durch das Zukunftsversprechen sprachlicher Revolutionen seitens der Avantgarden fortgesetzt wird.10 Auf der anderen Seite schreibt sich der Bruch zwischen Sprache und Welt in den Körper der Sprache ein. Die Narbe dieses Bruchs zeigt sich z.B. im grotesken Lachen, dem comique absolu, das – so Baudelaire in »De l’essence du rire«11 – die Begegnung mit dem Furchtbaren und dem Tod ins Bewusstsein hebt. Es ist das Lachen des gefallenen Engels, der nach der Entdeckung sowohl des kritischen Vermögens der Vernunft als auch der Historizität der Bedeutung, und damit der Grenzen der Sprache, keinen Zugang zum Paradies des Mythos mehr hat – Grenzen, die Ende des 19. Jahrhunderts in der Poesie der Modernität12 unüberwindbar werden. Das idealistische Subjekt, das sich in einen
lung zwischen Kunst und Natur«, in: Mauro Ponzi/Bernd Witte (Hg.), Goethes Rückblick auf die Antike, Berlin: Schmidt 1999, S. 9-20. 9 Vgl. die Kritik von Jürgen Link an der sakralen Komponente des goetheschen Symbols. Jürgen Link: Die Struktur des literarischen Symbols, München: Fink 1975. Die im Kontext des Goethe-Jahres besonders intensiv bemühte Forschung hat diese Prämissen bei Goethe selbst korrigiert. Vgl. z.B. Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger (Hg.): Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung, Tübingen: Niemeyer 1997; vgl. auch Mauro Ponzi/Bernd Witte (Hg.): Goethes Rückblick auf die Antike, Berlin: Schmidt 1999. 10 Dass die Avantgarde (insbesondere der Surrealismus) das futurum, d.h. die Zukunft mit einer christlichen Heilsutopie ausfüllt, wird in luzider Weise von Octavio Paz gesehen, was in Los hijos del limo (1974) seine Abkehr von der in El arco y la lira (1956/1967) noch vorhandenen surrealistischen Option bezeugt. Vgl. Octavio Paz: El arco y la lira, México: FCE 1956, 2. erweiterte und überarbeitete Ausgabe 1967, und ders.: Los hijos del limo, Barcelona: Seix Barral 1974. Vgl. hierzu Ulrich Schulz-Buschhaus: »Ansichten vom Ende der Avantgarde – Octavio Paz’ Los hijos del limo und Tiempo nublado«, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert 1991, S. 473-490. 11 Charles Baudelaire: »De l’essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques«, in: ders.: Œuvres complètes, hg. von Claude Pichois, Bd. 2, Paris: Gallimard, 1976 [1855], S. 525-543. 12 Der Begriff der Modernität, der keine Epoche meint, sondern ausgehend von Baudelaire die Erfahrung des Vergänglichen und das Bewusstsein des Historischen verbindet, steht als Ästhetik im Kontrast zum Gegenwartspathos von poetologischen Positionen der Moderne (als Epoche), die sich mit dem gesellschaftlichen Begriff der Modernisierung auf politische Fortschrittsutopien stützen. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: »Modern, Moderni100
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paradiesischen Zustand der inneren Insel narzisstischer Selbstbespiegelung eingesperrt hat, wird sich durch den Entzug von Welt auszehren. Nur die Akzeptanz der Alterität und der Vorgängigkeit des Anderen am Ursprung des poetischen Worts13 wird es retten. Wie bedeutsam die Figur der Grenze für die Poesie der Modernität zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist, wird bei Georges Bataille erkennbar, insbesondere in der Interpretation von Michel Foucault.14 Anhand von Bataille unterscheidet Foucault zwischen Transgression (Überschreitung) und Übertretung, wobei erstere noch im System der Hegelschen Dialektik zu denken ist, letztere auf der Basis der phänomenologischen Ambiguität, die die Überschreitung im Sinne der Transitivität der Sprache zum Anderen nicht mehr ermöglicht.15 Mit dem Begriff der Übertretung betont Foucault bei Bataille eine Negativität entsprechend der Umdeutung
tät, Moderne«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 93-131, hier S. 110f., und Uwe Japp: Literatur und Modernität, Frankfurt/Main: Klostermann 1987, S. 297 und 304. Ein bedeutender Bestandteil der Ästhetik der Moderne impliziert damit die Kritik von Modernisierungsutopien, eine Negation, die Octavio Paz in Los hijos del limo deutlich hervorhebt. Meine Argumentation, die bezüglich des autoreferenziellen und selbstkritischen Gestus der Moderne mit Octavio Paz koinzidiert, wird dann aber vom Augenblickspathos des Letzteren abweichen. 13 Vgl. meine Überlegungen zur Alterität bei Rousseau, Leopardi und Baudelaire in: »Die Aporie von Eros und Ich-Kult: Zur Ästhetik von Charles Baudelaire«, in: Hans-Georg Pott (Hg.), Liebe und Gesellschaft. Das Geschlecht der Musen, München: Fink 1997, S. 121-138, und »Jean-Jacques Rousseau, Giacomo Leopardi, Charles Baudelaire: L’origine et l’autre dans la pensée moderne«, in: Reinhard Kleszcewski/Uwe Baumann (Hg.), Penser l’Europe. Europa denken, Tübingen, Basel: Francke 1997, S. 125-143. 14 Michel Foucault: »Vorrede zur Überschreitung«, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, hg. und übersetzt von Walter Seitter, München: Hanser 1974, S. 32-53. 15 Die Konzeption der Grenzen der Sprache ist für die Heterologie Batailles und seine Praxis der Ambiguität grundlegend. Vgl. Jacques Rolland: »Une logique de l’ambiguité«, in: Guy Petitdemange/Jacques Rolland (Hg.), Autrement que savoir. Emmanuel Levinas, Paris: Osiris 1986, S. 35-54. Zur Relevanz dieser Denkfigur Batailles bei der poststrukturalen französischen Philosophie (Foucault und Deleuze) vgl. Vittoria Borsò: »›Rêve d’une pensée hétérologique‹ – George Bataille am Ursprung ohne Ursprung«, in: Christoph Weismüller (Hg.), Kontiguitäten: Texte-Festival für Rudolf Heinz, Wien: Passagen Verlag 1997, S. 49-64. 101
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Hegels durch die französische Philosophie der Moderne.16 Im Unterschied zur hegelschen Dialektik werden im Sinne der Negativität zwar Hierarchien und Oppositionen von der Transgression destabilisiert, die Grenzen jedoch nicht überwunden. Der Weg der Entgrenzung ist vielmehr der Weg einer systematischen Loslösung vom Ich. Das ›In-derZeit-Sein‹ des Subjekts äußert sich durch sprachliche Alterität und Pluridiskursivität, die sich von einem identitätsstiftenden, diskursiven Denken distanziert. Die Sprache hört auf, Aletheia, d.h. Enthüllung des Unendlichen zu sein. Das impliziert zwar das Ende der erkenntnistheoretischen Transitivität zum Anderen, damit aber auch die Erfahrung der Grenze als Grenze des Selbst. Das schreibende Subjekt macht die Erfahrung der eigenen Endlichkeit. Es muss sich – wie in der Mystik oder der Erotik bzw. in ihrer Verbindung – exponieren und des-identifizieren. Im Gegensatz zum Transitivitätspostulat der Überschreitung, die zur Affirmation und Stärkung des Ich führt, kann die Erfahrung der Grenze des Subjekts nicht aufgehoben werden. Der Transgressionsakt selbst muss übertreten werden. Deswegen ist in Batailles Expérience intérieure17 die Unüberwindbarkeit der Grenze des Ich die Grundlage für die Erfahrung des Heiligen. Die Erfahrung der Grenze wird sprachlich vermittelt. Sie ist seit der Moderne im Körper der Sprache wie eine Wunde eingeschrieben. Was sich hinter der Grenze befindet, bleibt inkommunikabel. Die von der Romantik behauptete kognitive Allmacht der poetischen Sprache weicht der Erfahrung des sprachlich Unmöglichen.18 Damit wird jedoch verhindert, dass das Andere zum Objekt der Darstellung wird. Das Andere bleibt ein nicht einholbares Moment, ein Begehren, das das Opfer des Selbst abverlangt.19 Die Grenze der Sprache im Hinblick auf die idealistische Annahme moderner Subjektivität bedeutet aber auch die Entgrenzung des in der Insel seines Subjektivismus eingesperrten Ich und damit
16 Bataille kannte Hegels Phänomenologie durch die Rezeption von Kojève. Bezüglich des Verhältnisses von Bataille zu Hegel verweise ich auf Denis Hollier: La prise de la Concorde suivi de Les dimanches de la vie. Essais sur Georges Bataille, Paris: Gallimard 1993, S. 12-32. 17 Georges Bataille: L’Expérience intérieure, Paris: Gallimard 1943. 18 Die Tatsache, dass die Grenze des Ich auch nicht poetisch transzendiert werden kann, unterscheidet das Konzept der écriture Batailles von der poetischen Sprache der Mystik, die die Transitivität zum Göttlichen ermöglicht. 19 Hier wird gewiss der zeitgenössische politische Bezug sichtbar. Die Trangression richtet sich gegen eine zeitgenössische, identifikatorische Kunst, die durch ihre Integration in den faschistischen und nationalsozialistischen Diskurs eine erneute und weitaus zerstörerischere Allianz von Transgression und Gesetz herbeigeführt hatte. 102
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die Öffnung zu einer andersartigen Kreativität; jener Kreativität, die sich aus der Vorgängigkeit des Anderen auch für die subjektive Sprache des Ich speist und aus der Tatsache, dass der Dichter nicht in einer selbstidentischen Sprache beheimatet ist. Auf dieser Grundlage gilt es, vom Mythos der modernen Lyrik als absolute Kreation, als poésie pure und als autonome und derealisierte Subjektivität Abstand zu nehmen. Das idealistische Subjekt, das glaubte, in seiner Selbst-Objektivierung die Totalität der Welt implizieren zu können, kommt mit der Moderne an eine absolute Grenze.20 Hier entdeckt es, dass es von den Dingen bewohnt und ›beschaut‹ wird21, dass seine Sprache von anderen Sprachen durchkreuzt ist. Die Autonomie des poetischen Subjekts, die sich seit Henri Bergson auf die Epiphanie des Augenblicks stützt, ist eine Aporie22, die zum Weltentzug und zur Auszehrung des Subjekts führt.23 Dieses Paradoxon
20 Ich verweise auf den luziden Essay von Eugenio Mazzarella »Poesia e filosofia«, Postscriptum zu seiner Gedichtsammlung Un mondo ordinato. Eugenio Mazzarella: »Uno scritto II. ›Poesia e filosofia‹«, in: ders.: Un mondo ordinato, Bari: Palomar 1999, S. 74-90. 21 Auf diese Umkehrung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt weist z.B. Mario di Pinto hin. García Lorca transformiere die Allegorie der Schnecke ausgehend von der poésie pure von Juan Ramón Jiménez: »La realidad ahora ya no la crea el poeta, mas existe ›objetivamente‹ y misteriosamente, en sí. Las cosas, como es frecuente en la temática lorquiana, nos están mirando y nosotros no podemos mirarlas.«. Mario di Pinto: »Una caracola en tres poemas«, in: La torre VI, 21 (1992), S. 45-58, hier S. 55. Diese phänomenologische Problematisierung des idealistischen Verhältnisses von Subjekt und Welt wird von Merleau-Ponty als Chiasmus zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen konzipiert. Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible, Paris: Gallimard 1964. 22 Anhand von Marcel Proust zeigt Walter Benjamin, dass Henri Bergsons Intuitionismus, der ein starkes Subjekt begründet, den Tod durchstreicht und die Metaphysik der Zeit wiedereinführt. In diesem Zusammenhang zitiert er Horkheimer: »Der Metaphysiker Bergson unterschlägt den Tod«. Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders.: Charles Baudelaire, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 101-149, hier S. 139. Mit dem Eingedenken führt dagegen Benjamin das ›Gewesene‹ in einen Geschichtsraum und in eine geschichtliche Anschauung über, die den funktionalen Zusammenhang der Geschichte aufzubrechen vermag. Vergangene Mythen werden durch die negativierende Operation des Eingedenkens seitens des Allegorikers durchgekreuzt. 23 Zu ähnlichen Thesen kommt Fuchs mit seiner Kritik am Singularisierungsbegehren moderner Lyrik und ihrem Anspruch auf authentische Sprache. Peter Fuchs: »Vom schweigenden Aufflug ins Abstrakte: Zur Ausdifferenzierung der modernen Lyrik«, in: ders./Niklas Luhmann (Hg.), Reden und 103
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hatte sich schon im Konflikt des Melancholikers zwischen der Erfahrung des Todes und der Unmöglichkeit geäußert, diese Erfahrung authentisch auszudrücken.24 Anhand seiner Lektüre von Marcel Proust wendet sich Walter Benjamin gegen die von Bergson wieder eingeführte Metaphysik der Zeit und des integralen Subjekts. Bergson mache die Moderne rückgängig, die auch für Benjamin mit dem Ende der Naturgeschichte und dem Eintritt in die Geschichtlichkeit beginnt.25 Im Modus des Eingedenkens und der neuen medialen Bedingungen einer nicht mehr göttlich verbürgten Schrift werden in der Moderne die Grenzen einer historisch gewordenen, jeweils neu zu deutenden Sprache ins Bewusstsein gehoben. Nach dem Zerfall der starken Ideologien und Totalitäten entspricht die These bezüglich der Autonomie einer entdinglichten Dichtung und des totalitären Anspruchs eines idealistischen Subjekts nicht der kreativen Situation der Kunst, sondern vielmehr den Kompensationsbedürfnissen der Literaturkritik.26 Auch das kreative Moment der Moderne, das die dissidenten Avantgarden übernehmen werden27, liegt in der radikalen
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Schweigen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 138-177, hier S. 145. Mallarmés Suche nach einer poésie pure, die nicht durch (referenzielle) Mitteilungszwecke kontaminiert ist, sein Schweigen, ist das Resultat des Paradoxons, dass »selbst eine artistisch beabsichtigte Dekonventionalisierung des Horizonts der Konvention bedarf«, ebd. S. 163. Das singularisierte Subjekt verkennt die Vorgängigkeit des Anderen. Blanchot hat auf der Basis der Analyse von Starobinski diese These im Hinblick auf Rousseau aufgestellt. M. Blanchot: Le livre à venir, S. 62. W. Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 135. Vgl. auch Mazzarella: »L’autoreferenzialità del poetico moderno è senza verità poetica, se con questa autoreferenzialità si pensasse di dire la verità della poesia: anche se à da soggiungere che questa mancanza di verità è piuttosto una costruzione della critica e della poesia stessa quando si fa critica, poetica pensata e non fatta. La poesia fatta, anche quella moderna che si pensa come autoreferenziale, come tale non fa che esprimere, quando è grande poesia, l’impotenza della soggettività moderna a dire la statura vera delle cosè.« E. Mazzarella: Uno scritto II, S. 84. Diese Radikalität äußert sich u.a. durch die Ablehnung der freudschen Traumdeutung seitens ›unorthodoxer‹ Surrealisten wie Georges Bataille und Jean Cocteau, insbesondere auf Grund der symbolisch wieder hergestellten Transitivität zum Anderen, zum vermeintlichen ›Sinn des Unbewussten‹. Vgl. V. Borsò: ›Rêve d’une pensée hétérologique‹; Vittoria Borsò: »Der Orpheus-Mythos neu geträumt. Anmerkungen zu Jean Cocteaus Theater und Film«, in: Karl Hölz/Lothar Pikulik/Norbert Platz/Georg Wöhrle (Hg.), Antike Dramen – neu gelesen, neu gesehen. Beiträge zur Antikenrezeption in der Gegenwart, Frankfurt/Main: Peter Lang 1998, S. 77-97. Der zentrale Satz aus Cocteaus Theaterstück Orphée »Der Dichter 104
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Konzeption der Grenze des Subjekts und seiner Begegnung mit einem als vorgängig zu denkenden Anderen begründet.
Die Aporie als Grenze des idealistischen S u b j e k t s: M e l an c h o l i e u n d S e r i al i t ä t Anhand eines Textes, der von Hugo Friedrich als ein Beispiel für ein idealistisches Subjekt interpretiert wurde, in dem jedoch Juan Ramón Jiménez vom so genannten Modernismo zur poésia desnuda übergeht, möchte ich näher auf diese Aporie eingehen und zugleich eine Möglichkeit aufzeigen, sie zu überwinden.28 Im folgenden Gedicht zeichnet sich eine poetische Lösung ab, welche ›Transparenz‹ in syntaktische bzw. semantische Vieldeutigkeit, die Wiederholung in Vielsprachigkeit überführt und den Augenblick nicht absolut postuliert, sondern in den Geschichtsraum verlegt und durch die Wiederholung ersetzt: La luna blanca quita al mar el mar, y le da el mar. Con su belleza, en un tranquilo y puro vencimiento, hace que la verdad ya no lo sea, y que sea verdad eterna y sola lo que no lo era. Sí. ¡Sencillez divina,
untersteht den Befehlen seiner Nacht« wurde z.B. von Michel Foucault in seiner Einleitung zu Ludwig Binswangers Traum und Existenz als Motto zu seiner Kritik des freudschen Symbolbegriffs gewählt. Michel Foucault: »Einleitung«, in: Ludwig Binswanger, Traum und Existenz, übersetzt von Walter Seitter, Bern, Berlin: Gachnang & Springer 1992, S. 7-93, hier S. 78; vgl. Vittoria Borsò: »Temporalità e alterità. Il nuovo rapporto tra uomo e natura nella poesia moderna«, in: Domenico Conti/Eugenio Mazzarella (Hg.), Il concetto di tipo tra Ottocento e Novecento. Letteratura, filosofia, scienze umane, Neapel: Liguori 2001, S. 1-19. 28 Im Sinne üblicher Einflussforschung werden für die Wende zur poesía desnuda (Diario de un poeta recién casado, 1916-1917) verschiedene Gründe angegeben: die Rezeption Valérys bzw. Jiménez’ Begegnung mit der in den USA aufgewachsenen Spanierin Zenobia Camprubí Aymar, oder sie wird vom so genannten ›Prosaismus‹ Ezra Pounds und T. S. Eliots abgeleitet. Mir scheint es interessanter, diese Wende als die Folge der Erfahrung der Aporie einer Moderne zu sehen, die in den Konflikt zwischen postromantischer Authentizitäts-, Transparenz- bzw. Formutopie und Weltentzug gerät. 105
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que derrotas lo cierto y pones alma nueva a lo verdadero! ¡Rosa no presentida, que quitara a la rosa la rosa, que le diera a la rosa la rosa!29
Dieses Gedicht kann gewiss im Sinne einer Moderne gelesen werden, die die romantische Suche nach dem Absoluten auf der Grundlage der Autonomie der Form fortsetzt, wie es Hugo Friedrich interpretiert. Die Anziehungskraft von Meer und Himmel ermöglicht hier den symbolischen (romantischen) Austausch des Mikro- und Makrokosmos, deren Ewigkeit und Unendlichkeit durch den Austausch zwischen Mond und Meer metonymisch repräsentiert ist. Das mystische und religiöse Erlebnis wird in die Absolutheit der Form verlegt (»tranquilo y puro vencimiento«), welche die Aufgabe der formalen Revolution und der Stiftung einer neuen, absoluten Wahrheit übernimmt. Die Dauer der Erinnerung verdichtet sich im intuitiven Augenblick (»rosa no presentida«). Die Epiphanie der Wahrheit interpretiert Hugo Friedrich im Sinne einer neuen Metaphysik ästhetischer Formen, die den Sinnverlust der Moderne kompensieren.30 Der Ausgangspunkt dieser neuen Metaphysik ist der Mond, jener Himmelskörper der Melancholiker, der als Quelle von espejismos und Sinnestäuschungen das erkenntniskritische Begehren der Romantik verkörpert. Der Dialog zwischen Mikro- und Makrokosmos erweist sich damit als skeptisches Bild der narzisstischen Selbstbespiegelung des irdischen Subjekts. Andererseits scheint die Wiederkehr der Bewegung und des Verschwindens (»quitar al mar el mar«) auch nur die Illusion des Neuen zu produzieren – eine Illusion, die durch das Paradoxon der einzigen und ewigen Wahrheit ausgedrückt wird, welche sich von Augenblick zu Augenblick ändert. Soweit zur Aporie. Im Text wird sie zu einer produktiven Paradoxie weiterentwickelt. Die Erkenntnisskepsis resultiert hier aus der Zentrierung der Sinngebung auf die Zeitlichkeit. Das Neue entsteht lediglich aus der Wiederholung, hier die Wiederholung des intertextuellen Topos der Rose, der – wie der Mond – wiederkehrt und durch die Wiederkehr eine Revolution im Kreislauf der Anziehungskraft von Himmel und Erde herbeiführt. Nur in der Zeitigung der Lektüre gewinnt 29 Juan Ramón Jiménez: »La luna blanca…«, zit. nach: Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1956, S. 230. 30 Friedrichs Übersetzung bestätigt diese Interpretation (»neues Wesen dem Wahren erteilst!« Ebd., S. 231). Zur Argumentation des Verhältnisses von poésie pure und der Aufzehrung der Dinge sowie zur Kompensation durch die Sprachmagie vgl. ebd., S. 136. 106
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das Zeichen aus der Wiederholung des Alten neue Bedeutung (»alma nueva a lo verdadero«). Die Wiederholung wird zum ›Neu-herholen‹ der Differenz. Sie resultiert aus dem Verhältnis zur Spur des Gleichen, wobei in dieser Differenz das ursprünglich Vergessene zutage tritt und abgearbeitet werden kann. Das ›Neue‹ verfestigt sich hier nicht zu einer absoluten Kategorie. Vielmehr dient es einer auch die Gegenwart verzehrenden Destabilisierung der Erkenntnissicherheit.31 Jiménez überwindet die Sprachlosigkeit, in die die Utopie eines ›authentischen Buchs‹ notwendigerweise führen muss32, durch die Akzeptanz der Tradition als Quelle sprachlicher Kreativität. Mit dem Rückgriff auf das (intertextuelle) Zitat (»dar a la rosa la rosa«) wird die naive Stufe des Authentizitätsglaubens ebenso verlassen wie die Melancholie des Entzugs. Aus dem Blickwinkel der kritischen Aufarbeitung der Aporie der Moderne gesehen, ist die formale Transparenz der poesía desnuda Jiménez’ nicht die Vollendung des Absoluten durch eine entdinglichte und auf Essenzielles reduzierte Form33, sondern vielmehr Ausdruck der Paradoxie einer vollendeten Schönheit, die vergänglich ist, oder auch von absoluter und historischer Schönheit. Statt auf die idealistische Utopie der Sprache stoßen wir bei einer solchen Lektüre auf Skepsis hinsichtlich der Fähigkeit der Sprache, die transitive Erkenntnis über die Welt zu vermitteln, aber eben auch auf eine Öffnung zur möglichen Pluralität der Erkenntnis und der Sprachen, die von der Fixierung auf den Augenblick narzisstischer Selbstbespiegelung wegführen.34 Die Kritik des idealistischen Subjekts ist innerhalb der poésie pure selbst zu sehen und nicht in ihrer Überwindung.35 Es stellt sich die Frage, inwieweit die Forschung,
31 Positiv gewendet bedeutet die Erkenntnisskepsis aber auch eine Öffnung zu jener Pluralität der Erkenntnis, die Calvino als die Situation der radikalen Moderne ansieht, welche mit Flaubert beginnt und ein bedeutendes Moment der so genannten Postmoderne enthält. Italo Calvino: Lezioni americane, Mailand: Garzanti 1989, S. 111f. Ich verweise auch auf den Schlusssatz dieses Beitrages. 32 Ich beziehe mich auf Mallarmés Suche nach dem absoluten Buch oder auch auf Jiménez’ Suche nach einem großen Gesamtwerk. 33 Vgl. H. Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik, S. 136f. 34 Zur These, dass die lateinamerikanische Avantgarde programmatisch auf intertextuelle Vielsprachigkeit als Vorgängigkeit des Anderen in der Sprache des Subjekts rekurriert und damit Formen der so genannten Postmoderne vorwegnimmt vgl. V. Borsò: Temporalità e alterità. 35 Literarhistorisch gilt die Abkehr vom Subjektivismus als Rückkehr zur Welt der Menschen und der Dinge und damit zum ›Realismus‹, eine Verkürzung, die die neuere Theorie u.a. im Sinne einer intermedialen Literaturgeschichte kritisiert. Das phänomenologische Moment, in dem der Blick einer 107
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wenn sie die Vollendungsutopie als Basis für die poésie pure annimmt und dies als einziges Kriterium für die Beurteilung der Moderne benutzt, nicht einen poetologischen Diskurs fortsetzt, der das ästhetische Phänomen um das am Beispiel von Jiménez beobachtete sprachskeptische und zugleich kreative Moment reduziert.36 In diesem Zusammenhang kann nicht genug auf die Lektüre der Moderne durch Octavio Paz hingewiesen werden, der ihr kritisches Potenzial als Quelle für eine Erneuerung einschätzt und dies gerade am Beispiel von Mallarmé verdeutlicht.37 undurchdringlich gewordenen materiellen Welt begegnet, wird – wie wir anhand von Ungaretti sehen werden – schon innerhalb der Lyrik der Modernität betont. Wie sehr dieses phänomenologische Moment die moderne Sichtweise der italienischen Nachkriegszeit geprägt hat und beim späten Calvino (Palomar) angesichts einer »realtà mal padroneggiabile« zur Unvereinbarkeit von abstrahierten Prinzipien und konkreter Empirie bis hin zur Vision der Überflüssigkeit des Subjekts kommt, zeigt Rudolf Behrens in seinem Artikel »Beschränkt oder konkret? Enge Kontextbildung und Vorbehalt gegenüber ›der Moderne‹ in italienischer Erzählliteratur«, in: Helene Harth/Barbara Marx/Hermann Wetzel (Hg.), Konstruktive Provinz. Italienische Literatur zwischen Regionalismus und europäischer Orientierung, Frankfurt/Main: Diesterweg 1993, S. 11-34, hier S. 24. 36 Der für das neorealistische Kino von Bazin entwickelte Begriff des cinéma impur (1958) wird auch auf die Poesie bezogen. Im Hinblick auf den Sprachskeptiker Montale meint z.B. Sebastian Neumeister mit dem Begriff von poésie impure eine Abkehr von der Utopie einer vollendeten Form der poésie pure von Mallarmé und Valéry, an die dagegen der Cántico (1928) von Guillén anschließe. Vgl. Sebastian Neumeister: »Montale e Guillén. Due poeti nel loro contesto europeo«, in: Titus Heydenreich (Hg.), Cultura italiana e spagnola a confronto: anni 1918-1939, Tübingen: Stauffenburg 1992, S. 37-50, hier S. 43. Im Sinne der Spurensicherung der Moderne hinsichtlich des Potenzials der poésie pure wäre zu Guillén Folgendes anzumerken: Guilléns ›Namensmythologie‹ – etwa im Gedicht »Nombres« aus Cántico – gründet keineswegs auf dem Vertrauen in die poetische Wahrheit. Es ist zwar ein Wille zur Benennung der Welt ablesbar, jedoch ist dem Dichter durchaus bewusst, dass die Sprache nicht die Dinge, sondern die Signifikanten trifft, die sich (intertextuell) als eine Art patina auf den Dingen niederschreiben. Die Welt existiert jenseits des Zugriffs der Sprache. 37 Nach dem Entzug der Referenz sieht Paz in den »rotierenden Zeichenkonstellationen« von Mallarmés Coup de dés die Regenerierungschancen einer modernen Dichtung, die als »Maske des Nichts« den Zufall nutzt, den Leser stärker einbezieht und den Sinn in der Beziehung zwischen Texten suchen muss. Vgl. Los signos en rotación in der zweiten Ausgabe von El arco y la lira, 1967. Zur Rehabilitation der historischen Moderne gegenüber dem späteren Surrealismus, und zwar auf Grund der durch die Verbindung von Analogie und Ironie in der Moderne erzeugten Negativität als 108
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In Calvinos Lezioni americane findet sich die These, Formstrenge sei seit der postklassischen Phase, d.h. seit dem Bruch des 18. Jahrhunderts, keineswegs das Symptom eines sprachutopischen, sondern eines sprachskeptischen Bewusstseins. Es handelt sich um Calvinos Besprechung der »esattezza della forma« mit Bezug auf Giacomo Leopardi. Konzentration, Klarheit und Durchsichtigkeit der Form stehen nach der Aufklärung, d.h. nach Auftreten der Moderne, nicht mehr im Dienste einer Mimesisfunktion. Die Präzision stellt vielmehr den Eindruck der Vagheit, des indefinito (Undeterminierten), her und drückt damit das Bewusstsein der Grenze im Sinne einer unaufholbaren Diskrepanz zwischen der Idee einer absoluten Zeit und eines absoluten Raums einerseits, und der Endlichkeit der empirischen Erfahrung andererseits aus.38 Calvino korrigiert damit zwei konkurrierende Typen der Rezeption des Dichters Leopardi: die sensualistische und aufklärerische, im Kontrast zur romantischen Rezeption. Leopardi verkörpert weder den einen noch den anderen Kanon, sondern er ist mit einer modernen Sensibilität ausgestattet, die sich mittels der Melancholie auf Grund der Erfahrung des Bruchs und der Begrenzung des Subjekts artikuliert. Die Erfahrung der Begrenzung ergibt sich, wenn das Zentrum der Sinngebung in den Menschen, in den Körper und damit in die Zeitlichkeit bzw. den Tod gerückt wird, wobei die ›Unschuld‹, d.h. die in der klassischen Episteme bestehende Illusion sprachlicher Transparenz durch das kritische Potenzial der Vernunft für immer verloren gegangen ist. Diese Deutung der Dichtung Leopardis ist in diesem Kontext deswegen bedeutsam, weil sie auch eine Grundlage der Poetik Ungarettis darstellt. Die Begrenzung des Ich als Basis für Kreativität ist das Thema von »L’Infinito«39. Die Begrenzung durch die Hecke (»Sempre caro mi fu quest’ermo colle / E questa siepe, che da tanta parte / De l’ultimo orizzonte il guardo esclude«) deutet auf die Grenzen der empirischen Sicht, die nach Leopardi durch die Möglichkeit der Imagination überschritten werden kann. Dies hat jedoch keineswegs eine Stärkung des idealistischen (romantischen) Subjekts zur Folge. Sein Sensualismus macht schon das Verlassen der Grenze des Wahrnehmbaren nicht möglich und verlangt das Eingedenken der Grenzen des Ich vor der materiellen Undurchdringlichkeit der Welt. Die in diesem Gedicht durch die Imaginationskraft fingierte Transzendenz (»Ma sedendo e mirando, interminato / Spazio di là da quella, e sovrumani / Silenzi, e profondissima quiete / Io nel pensier mi fingo, ove per poco / Il cor non si Quelle eines kritisch-poetischen Potenzials, vgl. die luzide Essaysammlung Los hijos del limo. 38 Vgl. I. Calvino: Lezioni americane, S. 63. 39 Giacomo Leopardi: Canti, edizione critica e autografi, Bd. 1, hg. von Domenico de Robertis, Mailand: Polifilo 1984, S. 131. 109
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spaura […]«)40 wird zur Erfahrung eines depotenzierten, von der Undurchdringlichkeit des Anderen im Sinne des modernen Erhabenen41 mit Furcht erfassten Subjekts (»ma il naufragar m’è dolce in questo mare«). Leopardis Rückgriff auf die Antike, mit dem seine literarhistorische Zuordnung zum Klassizismus begründet wird, ist als Reaktion auf eine protomoderne Zeitkonzeption zu deuten.42 Das Festhalten an der Antike ist ein Ausweg aus der Aporie der Moderne, die sich mit dem absolut Neuen als archimedischer Punkt des Bedeutens auch dem Tod und der Abwesenheit ausliefert. Die Antike wird dann – entgegen der mittelalterlichen Allegorese – zum nicht autoritativen, sondern frei verfügbaren Prätext, der den von der Zeitlichkeit gezeichneten Referenten allegorisch wendet, was bei Leopardi die Naturidylle durchbricht. Das Bedeuten, dessen (klassische) Durchsichtigkeit im Hinblick auf die Mimesis der Welt seit dem modernen (postklassischen) Bruch als Täuschung gilt, wird für Leopardi zu einer Anamnese, einer Wiederholung der Vergangenheit, die jedoch nicht ewig bleibt, sondern dem Wandel unterzogen ist. Die Lektüre Ungarettis zeigt, dass schon bei Leopardi intertextuelle Beziehungen zur Antike die Quelle der inventiven Kraft der contemporaneità darstellen, und zwar für ein modernes Subjekt, das sich – gespalten zwischen der Furcht vor der Erkenntnis des Wahren (der Vergänglichkeit und des Todes) und der Illusion der Natur – an der Erinnerung festhält.43 Diese Überlegungen lassen sich auch auf die Poetik Ungarettis selbst beziehen. Mittels offener intertextueller Rückgriffe gewinnt die Dichtung Ungarettis ihre Leuchtkraft in der Begegnung zwischen der Flüchtigkeit des ›Jetzt‹ und den Echos der Vergangenheit.44 Im Zusammenhang mit
40 Ebd. 41 Gemeint ist die Ästhetik des Erhabenen nach Edmund Burke: Vom Erhabenen und Schönen, Berlin: Aufbau Verlag 1956. 42 Im »Dialogo con la moda« aus den Operette morali bietet die Mode dem Tod eine Allianz an (die Mode tötet die Unsterblichkeit – die ewige Zeit – und erreicht damit, dass der Tod obsiegt). Vgl. Giacomo Leopardi: »Dialogo della Moda e della Morte«, in: ders.: Operette morali, Mailand: Mondadori 1988, S. 56-60. 43 Vgl. Ungarettis »Il poeta dell’oblio« [1943], in: ders.: Vita d’un uomo, S. 398-422, S. 415-416. 44 In »Prima invenzione della poesia moderna« setzt Ungaretti Petrarca an den Beginn einer modernen Erfahrung, die die Antike als Allegorie des »sentimento del tempo«, d.h. der Vergänglichkeit bedenkt. Vgl. Giuseppe Ungaretti: »Prima invenzione della poesia moderna«, in: ders.: Invenzione della poesia moderna. Lezioni brasiliane di letteratura (1937-1942), hg. von Paula Montefoschi, Neapel: Edizioni Scientifiche Italiane 1984, S. 177202. So heißt es z.B. auch in »Il poeta dell’oblio«: »Laura è assoluto passa110
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seinen verschiedenen Besprechungen von Valéry lehnt Ungaretti – mit den gleichen Argumenten, mit denen Leopardi seine Rückkehr zur Antike begründet45 – eine ›moderne Revolution‹ ab, die im Sinne einer Negation der Tradition verstanden wird. So schreibt Ungaretti: »Le maggiori rivoluzioni in arte sono quelle che avvengono rispettando la tradizione«.46 Ungaretti bezeichnet diesen im Akt des Eingedenkens kreativen Prozess insoweit als ›revolutionär‹, als er in der Anverwandlung der Vergangenheit und im Geschichtsraum von Vergangenheit und Gegenwart auch die Zukunft erfindet. In diesem Sinne spricht er von paroleluce dei maggiori47, wobei die Erneuerungswirkung der ›Wieder-Holung‹ des Alten in ähnlicher Weise beschrieben wird, wie sie die Interpretation des Gedichts von Jiménez nahelegte.48 Die Zeitlichkeit wird als paradoxale Situation diagnostiziert. Der Dichter antwortet mit der Erinnerung auf den Entzug der Gegenwart und mit einer intertextuellen Verdichtung
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to; è realtà di pura memoria; è unicamente pensiero.« G. Ungaretti: Il poeta dell’oblio, S. 416. Petrarca und Leopardi gelten dabei als die Grundlage der italienischen Moderne im Sinne der Erfindung eines als Thesaurus von Phantasmen und archäologischen Schichten konzipierten Gedächtnisses. Vgl. G. Ungaretti: Prima invenzione della poesia moderna, S. 177f. Zum Verhältnis Ungarettis zu Leopardi vgl. Felice Signoretti: Tempo e male. Ungaretti su Leopardi, Urbino: Argalia 1977. Sentimento del tempo (1933) war zunächst unter dem Titel La morte di Crono konzipiert. Vgl. Barbara Carle: »Ungaretti and Valéry: From Intertextuality to Hypertextuality«, in: Italica 68 (1991), S. 29-42, hier S. 35. Giuseppe Ungaretti: Sentimento del tempo. Vita d’un uomo, Bd. 2: Mailand: Mondadori 1971, Erstausgabe ders.: Sentimento del tempo, Florenz: Vallecchi 1933. So Ungaretti in »Ragioni d’una poesia«: »Con il romanticismo appare una sete d’innocenza (ma il romanticismo non sapeva ancora il peso del peccato originale, il peso proprio della poesia più moderna). […] Certo scoppia l’eresia che siano i vecchi metri ormai esausti, che essi suonino ormai falso, che l’ispirazione abbia di volta in volta da inventarsi i propri schemi. Il risultato fu che un componimento non era ancora finito di fare che già suonava falso, e che si perse la testa dietro la forma, non volendo più dare valore se non all’ispirazione.« Zit. nach Folco Portinari: Giuseppe Ungaretti, Turin: Stampatori 1975, S. 49f. Giuseppe Ungaretti: »Discorso per Valéry«, in: ders.: Vita d’un uomo, S. 624-644, hier S. 633. Vgl. Giuseppe Ungaretti: »[La poesia di Iiacopone da Todi]«, in: ders.: Invenzione della poesia moderna, S. 53-68, hier S. 64. »Abbiamo da imparare a usare le parole-luce come le usavano, abbiamo da imparare che la poesia è fatta di parole-luce, voglio dire di parole che entrano in noi senza tante chiacchiere e ragionamenti, oserei dire per un effetto di miracolo, e fanno in noi la luce e ci mutano.« Ebd. 111
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auf den Entzug eines authentischen Ursprungs. Die ›Schuld‹, die Bedeutung nur noch historisch zu verstehen, die der moderne Mensch beim Verlassen des Paradieses der mythischen Sprache der Natur auf sich nimmt, wird auch für Ungaretti zum Beginn einer Sinngebung, die im Eingedenken des Vergangenen das Neue findet. Auf der Spur der klassischen italienischen Lyrik (er-)findet Ungaretti auch die Prinzipien der eigenen Dichtung:49 Der ephemere Zustand der Materie helfe Dante beim Ziel, den Engel sichtbar zu machen, und zwar in der »evanescenza« des Nebels, in dem feste Formen verschwinden.50 Bei Petrarca markiere die Erinnerung die Schwelle zwischen der Realität des Todes und der musikalischen Sprache, die die tote Laura für den Augenblick des Wortes auferstehen lässt, wobei die lebendige Erinnerung mit der Erfahrung der Vergänglichkeit im Konflikt steht: der verwesende Körper der Geliebten markiert die Grenze des poetischen Traums. Der moderne Dichter Ungaretti unterzieht Petrarcas Werk einer Lektüre, in der der Tod zum archimedischen Punkt und zur Begrenzung wird. Die Essenz des Lebens wird in ihrer Vergänglichkeit gesehen: »È morta Laura; in un lampo, abbiamo la pura misura del tempo«.51 Konsequenterweise führt dieser Weg dann von Petrarca direkt zu Góngora und wird wiederum von da aus an Prinzipien der modernen Dichtung angeschlossen, die Ungaretti in Mallarmé verwirklicht sieht.52 Die Wahl der übersetzten Góngora-Texte zeigt, dass der vanitas-Topos im Vordergrund steht und in Ungarettis Übersetzung die Aufdeckung des Todes als perspektivischer Standpunkt fungiert.53 49 Vgl. Francesca Maria Sansoni: »Petrarca e Ungaretti. Il recupero e l’invenzione di una tradizione«, in: Rassegna della letteratura italiana 94, 1-2 (1990), S. 231-241, hier S. 236. Die Autorin analysiert den Stellenwert der Antike in der Poetologie Ungarettis. Zur Bedeutung der französischen Moderne für Ungarettis Sentimento del tempo (Baudelaire, Mallarmé, Rimbaud, Apollinaire, Valéry) vgl. Carlo Ossola: Giuseppe Ungaretti, Mailand: Mursia 1975. Zu einer Analyse der Hypo- bzw. Hypertexte – Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Seuil 1982 – in Bezug auf Valéry vgl. B. Carle: Ungaretti and Valéry. 50 G. Ungaretti: Il poeta dell’oblio, S. 418. 51 Ebd. 52 Die Nähe von Góngora und Mallarmé ist in den 1920er Jahren während des Pariser Aufenthalts Ungarettis, der 1948 beide Dichter übersetzen wird, ein Topos der Kritik. Man verweist besonders auf das Verhältnis zwischen Konzentration, Bildpräzision und Dunkelheit, wie auch zwischen Absolutheit der Sprache und dem Entzug der Bedeutung. Vgl. José Pascual Buxó: Ungaretti traductor de Góngora, Maracaibo/Venezuela: Univ. del Zulia 1968, S. 32. 53 Ich beziehe mich etwa auf das Sonett »Mientras por competir con tu cabello«. Ungaretti schiebt »ora« (»jetzt«) in den ersten Vers des ersten Ter112
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D i e G r e n z e d e s S u b j e k ts u n d d as A u f l e u c h te n d e r D i n g e Der vanitas-Topos ist das Thema des folgenden Textes aus der Sammlung Naufragi54 (zuerst erschienen in: L’Allegria di Naufragi, 1919). Naufragi, der Titel selbst, ist in der italienischen Literatur seit Leopardis »L’Infinito« Metapher für ein (modernes) Subjekt, das seine Poetizität gerade aus seiner Depotenzierung gewinnt, nämlich der Transformation seines Verhältnisses zum Anderen: von der Beherrschung des Anderen zum ›Beherrschtwerden‹ durch den Anderen. Sprungbrett dieser Transformation ist die Erfahrung der Grenze. VANITÀ Vallone il 19 agosto 1917 D’improvviso è alto sulle macerie il limpido stupore dell’immensità E l’uomo curvato sull’acqua sorpresa dal sole si rinviene un’ombra
zetts (»Bocca, ora, e chioma, collo, fronte godi« für »Goza, cuello, cabello, labio y frente«) ein, was den Kontrast zu »prima che« für »antes que« im nachfolgenden Vers verstärkt, womit das hinzukommende ›Jetzt‹ in den Sog des ›Danach‹ gerät und das Fliehen des Textes zum letzten Wort »nada« schon von Anfang an setzt: Das Nichts wird in der italienischen Version durch Auslassungspunkte am Ende des Gedichts verlängert, gleichsam als Echo. Vgl. ebd., S. 62. In einer späteren Phase konzentriert sich Ungaretti auf die mythologische Dichtung, d.h. auf den frühen Góngora, der mit der kulturellen memoria dem Tod Einhalt gebietet. Vgl. ebd., S. 111. 54 Giuseppe Ungaretti: L’Allegria (1914-1919). Vita d’un uomo, Bd. 1, Mailand: Mondadori 1970 [1942], S. 85-109. 113
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Cullata e piano franta55
Durch »D’improvviso« setzt der Text mit einem Akkord ein, der unmissverständlich die Situation an die Schwelle zwischen ›Früher‹ und ›Jetzt‹ verlegt. Von den Trümmern des ›Jetzt‹ erhebt sich plötzlich für einen Augen-Blick der Glanz der Unendlichkeit und überrascht den Menschen, der sich – gleich einem Narziss – über das Wasser beugt. Der besonders intensive Rückgriff auf die Selbstbespiegelung des Narziss, der auf Grund der Bedeutung von Introspektion und Selbstreflexion zum zentralen Mythos der Moderne wird und bei Valéry einen Kulminationspunkt erreicht56, wirft auf das poetische Subjekt den Schatten der Inkommunikabilität57 mit dem Anderen und des Rückzugs in den Solipsismus, an dem die moderne Dichtung seit dem Idealismus leidet. Der Text dekonstruiert jedoch die enge Verbindung von Narzissmythos und Augenblickspathos. Im Gedicht von Ungaretti wird der Glanz des Augenblicks durch das Bewusstsein eines Schattens begleitet. Die Existenz eines vergehenden Spiegelbildes, das leise zerbricht, ist prekär. Der Schatten gewinnt dabei in dem Maße an Kontur und Dichte, in dem er die Substanz des Seins aushöhlt. Wir haben es endgültig mit dem existenzialistischen Sein der Sprache zu tun, damit aber auch mit einer unaufhebbaren Divergenz von Sprache und Sein58, denn der ontologischen Leere entspricht die Fülle des Körpers der Sprache. Die letzten Verse sind für die Poetik 55 Ebd., S. 107f. 56 Der Narziss-Mythos zur Darstellung der Autoreflexivität der Dichtung, wie er in Valérys Fragments du Narcisse auftritt, ist u.a. in Ungarettis »Lido« verarbeitet (in: G. Ungaretti: Sentimento del tempo, S. 59). Aber auch Valérys Verhältnis zu Zeitlichkeit und Vergangenheit (Le Cimetière marin) kommt – gelesen mit Blick auf Leopardi – in »Canto« zum Ausdruck (1931 in La Gazzetta del Popolo, Turin, erschienen; in: G. Ungaretti: Sentimento del tempo, S. 124). Im Vers »Cara, lontana come in uno specchio« sieht Carle zu Recht eine Form der mise en abyme des Narziss Valérys und damit eine Autoreflexion der Autoreflexion. Vgl. B. Carle: Ungaretti and Valéry, S. 40. Ungaretti äußerte sich verschiedentlich zu Valéry: »La rinomanza di Paul Valéry« (1925; in: G. Ungaretti: Vita d’un uomo, S. 100103), »Va citato Leopardi per Valéry?« (1926; ebd., S. 104-110), »Introduzione a Eupalino« (1932; ebd., S. 111-116), »Testimonianza per Valéry« (1946; ebd., S. 620-623), »Discorso per Valéry« (1961; ebd., S. 624-644). 57 Inkommunikabilität und grundlegende Skepsis sind auch die Grundstimmungen, die Montale durch die flache Erscheinung des Alltäglichen zum Ausdruck bringt. Vgl. S. Neumeister: Montale e Guillén, S. 43. 58 Vgl. Gilles Deleuze: Logique du sens, Paris: Minuit 1969. 114
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Ungarettis charakteristisch: Der Prozess des Verflüchtigens bis hin zum Zerbrechen behält das letzte Wort. Die Pausen zwischen den aus nur einem Wort bestehenden Versen59 intensivieren den sinnlichen Eindruck nicht nur durch die syntaktische Isolierung vom Satzkontinuum und damit durch die Konzentration auf die Bildlichkeit des einzelnen Wortes, sondern auch durch die semantische Vagheit (»piano« als akustische Wahrnehmung oder Zeitadverb), die durch die syntaktische Isolierung der Worte verstärkt wird.60 In Ungarettis Gedicht bezieht sich der sinnliche Eindruck auf die zentrale Figur des Textes, nämlich auf die Leerstelle, die das Zeitintervall zwischen einem Augenblick und dem nächsten ausdehnt.61 Die Figur des Narziss ist auch hier die Allegorie der Autoreflexivität des modernen Dichters, der sich seinem eigenen Spiegelbild gegenüber sieht. Diese Metareflexion findet jedoch nicht als aktive Handlung des Ich statt – alles geschieht vielmehr an ihm vorbei62 –, sondern durch die Spur zwischen ›Vorher‹ und ›Jetzt‹, die das Gedicht durchzieht. Vanitas, der desengaño-Topos, der schon bei Góngora zur Sprache kam, steht im Titel. Bei dieser modernen Form des desengaño geht es um die Demaskierung und Destablisierung der Sicherheit und Selbstbezogenheit des Subjekts, die aus der Erfahrung des Augenblicks resultiert. Die Depotenzierung des Ich geht jedoch einher mit dem »stupore«, d.h. mit dem Staunen über die Unendlichkeit, die hoch über den Ruinen glänzt. Das Ich ist von etwas berührt, was von Außen auf es einstürzt, vom Eingedenken an etwas Gewesenes mitten in der Trümmerlandschaft des ›Jetzt‹.63 Die Vieldeutigkeit, die sich aus der formalen Reduktion – etwa des Verses auf ein Lexem – ergibt, geht über die reine
59 Die Pausen entstehen oft durch syntaktische Teilung wie auch durch Zertrümmerung des endecasillabo, der z.T. noch als rhythmisches Grundgerüst beibehalten wird. Vgl. hierzu Giuseppe Baroni: Giuseppe Ungaretti, Florenz: Le Monnier 1980, S. 104f. 60 Vgl. auch meine Analyse der Adaptation des Haikus durch den mexikanischen Modernisten Tablada. Vittoria Borsò: »Das Haiku José Juan Tabladas und der Augen-blick von Octavio Paz«, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert 1991, S. 437-460. 61 Bezeichnend ist in dieser Hinsicht das erste Gedicht der Sammlung L’Allegria, mit dem Titel »Eterno«: »Tra un fiore colto e l’altro donato / l’inesprimibile nulla«. G. Ungaretti: L’Allegria, S. 17. 62 Das Wasser, nicht das Subjekt ist vom Licht der Sonne überrascht, V. 10. 63 Vgl. die Schlussbemerkung von Mazzarella über die moderne Poesie: »La poesia è vita che si fa sapendosi e vita che si sa facendosi, ingresso nell’Origine. Tutto il resto è il niente che presidia. Perché anche il Tutto – per noi – è finito«. E. Mazzarella: Uno scritto II, S. 90. 115
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Skepsis hinaus. Die Krise des idealistischen Subjekts und seine Begrenzung werden vielmehr zur Quelle einer anderen Form der Kreativität, aus der Einsicht in die Notwendigkeit heraus, sich über die Vergangenheit zu definieren, gewiss jedoch nicht, um dem Augenblick die Evidenz der Dauer zu verleihen. Zentral ist in dieser Hinsicht die semantische Vagheit, die durch die syntaktische Isolierung von »si rinviene« (v. 12) entsteht, und zwar im Sinne von ›sich vorfinden‹ (›sich bei etwas überraschen‹) bzw. ›sich erkennen‹, aber auch von ›erinnern‹ und ›sich erholen‹.64 Gegen die rumori in libertà, d.h. gegen die zerstörerische Anarchie der Futuristen, setzt Ungaretti die parole in libertà. Das revolutionäre Wort wird durch das Erklingen intertextueller Resonanzen ersetzt. Anceschi wird in den ›Wortinseln‹ von Ungaretti einen Widerstand gegen den Zukunftsrausch der futuristischen Avantgarde sehen und Ungarettis Schreibstil als den Versuch einschätzen, die Dauer des Wortes zu verlängern.65 Die formale Klarheit, die Idylle klassischer Klarheit mitten im staccato des isolierten Worts, rufe die Illusion einer Miniatur eines griechischen Tempels hervor, der mitten im stürmischen Meer der Avantgarde von Korallen und Algen überzogen ist.66 Dem Zukunftsglauben der Avantgarde setzt Ungaretti die Kraft und den Klang eines Wortes, das für einen Augenblick aufleuchtet, entgegen, auf dem jedoch die Zeit die Narben der Geschichtlichkeit hinterlassen hat. Im Vorwort zur Ausgabe von L’Allegria aus den Jahren 1931 (Mailand: Ed. Giulio Preda) und 1936 (Rom: Ed. Novissima) betont Ungaretti, dass die Poesie aus dem Widerstreit zwischen dem Universalen und dem Historischen bzw. Partikulären entsteht.67 Thema der ersten Gedichtsammlung mit dem Titel Ultime (1914-1918)68 ist die Arbeit der Imagination, die erst in der Begrenzung und im Weltentzug möglich ist. Grenzen der Sichtbarkeit sind nicht nur der Nebel und die Nacht, sondern auch die Sonne.69 Hinter »Chiaros-
64 Gemeint ist »il rinvenire« von Dingen, etwa von Pflanzen nach einer Zeit der Dürre, das ›Zu-neuen-Kräften-kommen‹ nach einem Zustand der Erschöpfung. Parallelen zum Pensiero debole von Gianni Vattimo wären hier zu entwickeln. Vgl. Gianni Vattimo/Pier Paolo Rovatti (Hg.): Il pensiero debole, Mailand: Feltrinelli 1997. 65 Vgl. Luciano Anceschi: Da Ungaretti a d’Annunzio, Mailand: Il Saggiatore 1976, S. 67-78. 66 Vgl. ebd., S. 78. 67 Vgl. G. Ungaretti: L’Allegria, S. 14. 68 Vgl. ebd., S. 15-31. 69 Charakteristisch sind z.B. die folgenden Gedichte: »Nasce forse«: »C’è la nebbia che ci cancella / Nasce forse un fiume quassú / Ascolto il canto delle sirene / del lago dov’era la città«, ebd., S. 22; »Ricordo d’Affrica«: »Il 116
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curo« verbirgt sich nicht etwa eine durch Lichtkontraste erzeugte Konturen- und Tiefenschärfe, sondern die Opazität der Welt, und zwar vom nächtlichen »spazio nero infinito / calato da questo balcone / al cimitero« zum »verde torbido del primo chiaro« der Morgendämmerung.70 Plötzlich, inmitten der Trümmer des Realen, blitzen die Dinge auf und bieten sich dem erstaunten Auge an. Nur in der Agonie und als begehrendes, ›nomadisches‹ Subjekt, das bereit ist, seinen Ursprungsort zu verlassen, kann sich das solipsistische Ich71 vom Sichtbaren ›beeindrucken‹ lassen, so z.B. nach der in »Tramonto« beschriebenen Agonie, wenn der Blick erfasst wird: »Il carnato del cielo / sveglia oasi / al nomade d’amore«.72 Dieses Prinzip kulminiert in der Sammlung Il porto sepolto.73 Die Gedichte insistieren auf der Erfahrung der Depotenzierung, der Distanzierung vom Selbst und der Skepsis, und gerade dies ist die Bedingung für die Steigerung der Evidenz der Welt und für die Fähigkeit, sich von der eigentlichen Größe der Welt beeindrucken zu lassen74: MONOTONIA Valloncello dell’Albero Isolato il 22 agosto 1916 Fermato a due sassi languisco sotto questa volta appannata di cielo Il groviglio dei sentieri possiede la mia cecità
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sole rapisce la città / Non si vede piú / Neanche le tombe resistono molto«, ebd., S. 24. Trotz der versperrten Sicht leuchtet plötzlich in einem isolierten Fragment mit dem Titel »Notte di maggio« die Pracht der Dinge auf: »Il cielo pone in capo / ai minareti / ghirlande di lumini«, ebd., S. 26. Ebd., S. 28-29. »Morire come le allodole assetate / sul miraggio / O come la quaglia / passato il mare / nei primi cespugli / perché di volare / non ha più voglia // Ma non vivere di lamento / come un cardellino accecato« (ebd., S. 23). Ebd., 44. Ebd., 33-83. So z.B. in »Pellegrinaggio« (16.8.1916): »In agguato / in queste budella / di macerie / ore e ore / ho strascicato / la mia carcassa / usata dal fango / come una suola / o come un seme / di spinalba // Ungaretti / uomo di pena / ti basta un’illusione / per farti coraggio // Un riflettore // di là / mette un mare / nella nebbia« (ebd., S. 67f.). 117
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Nulla è piú squallido di questa monotonía Una volta non sapevo ch’è una cosa qualunque perfino la consunzione serale del cielo E sulla mia terra affricana calmata a un arpeggio perso nell’aria mi rinnovavo75
Auch hier erkennen wir die Ausgangssituation der poetischen Erfahrung: Grenzen des Sichtbaren, d.h. die Intransitivität zum Anderen (»volta appannata«, »groviglio di sentieri«), und Melancholie des Transzendenzverlusts. Auch hier ist die Erneuerungskraft für das kranke Ich nur durch die Akzeptanz der Vorgängigkeit der Welt gegeben, d.h. durch die Fähigkeit, das Andere, das eine Antwort verlangt, zu erhören76 (»a un arpeggio / perso nell’aria / mi rinnovavo«). Die Grenze des Selbst und die Porosität zum Anderen sind die Quelle der Dichtung. Das Andere, die Größe des Universums, durchtränkt das Subjekt, das sich diesem anvertraut und erotisch hingibt, wie z.B. im darauf folgenden Text: »La notte bella« (Devetachi, 24. August 1916): »[…] Sono stato uno stagno di buio / Ora mordo / come un bambino la mammella / lo spazio // Ora sono ubriaco / d’universo«.77 Hinter der Begrenztheit des Ich und seiner Ohnmacht gegenüber dem Heil der Welt verbirgt sich kein Idealismus mehr. Die Mauer, die die Begrenztheit der Existenz symbolisiert, ist keine halbgeschlossene Tür, durch die das Erkenntnissubjekt zum Absoluten
75 Ebd., S. 69. 76 Bernhard Waldenfels geht auf diese Grundlage einer phänomenologischen Philosphie und Ethik systematisch ein und zeigt die Konsequenzen für die Epistemologie und die Ästhetik. Vgl. u.a. Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, und ders.: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. 77 G. Ungaretti: L’Allegria, S. 71. Und weiter geht es in dieser Art Tagebuch am 24.9.1916 mit »Universo«: »Col mare / mi sono fatto / una bara / di freschezza«, ebd., S. 72. 118
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gelangen möchte.78 In Texten wie dem nachfolgenden aus Il porto sepolto sind Mauern vielmehr ›Mauerruinen‹.79 Sie sind Metaphern nicht nur für die durch den Krieg zerstörte Gegenwart, sondern auch für die Zerstörung des Gedächtnisses: SAN MARTINO DEL CARSO Valloncello dell’Albero Isolato il 27 agosto 1916 Di queste case non è rimasto che qualche brandello di muro. Di tanti che mi corrispondevano non è rimasto neppure tanto Ma nel cuore nessuna croce manca 78 Die Radikalität Ungarettis wird z.B. im Verhältnis zu Sartre deutlich, für den die Erschießungsmauer (»Le mur«, 1939) als Symbol für die Begrenzung der menschlichen Existenz nur ein Vorspiel für die Suche nach dem existenzialistischen Befreiungsakt darstellt. Erst am Ende seiner Autobiographie (Les mots, 1964) kommt er zu einer nüchernen Bilanz im Hinblick auf die bedeutungslos gewordenen Menschen. Vgl. Jean-Paul Sartre: »Le mur«, in: ders.: Le mur, Paris: Gallimard , 1966 [1939], S. 7-35; ders.: Les mots, Paris: Gallimard 1964. 79 Bei Montale ist die Mauer ein häufiges Motiv. Die flachen Mauern der ligurischen orti sind zwar auch Lokalkolorit, doch drücken sie in besonderer Weise die Begrenzung der Existenz gegen die unbegrenzte Weite des benachbarten Meeres aus. Auch Montale verdichtet die Mauern als Metaphern unüberwindbarer Grenzen, ohne nihilistisch den Dingen zu entsagen. So z.B. im bekannten Gedicht »Meriggiare pallido e assorto« (1916) aus Ossi di seppia; Eugenio Montale: Ossi di seppia, Mailand: Mondadori 1971 [1925], S. 48. Trotz des skeptischen Endes – »E andando nel sole che abbaglia / sentire con triste meraviglia / com’è tutta la vita e il suo travaglio / in questo seguitare una muraglia / che ha in cima cocci aguzzi di bottiglia« – zeigt die Intensität der Dinge und der einfachen Lebewesen in der schattigen Mittagsruhe eine engagierte Bejahung dieser transzendenzlosen Existenz. Der Mensch wird auf die Dimensionen seiner Endlichkeit gestoßen. Nur die Erinnerung hält das Eingedenken an die Transzendenz der Vergänglichkeit wach, z.B. in »Cigola la carrucola del pozzo«, ebd., S. 67. 119
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È’ il mio cuore il paese piú straziato.80
Hinter der Mauer verbirgt sich weder etwas Absolutes noch die nihilistische Entsagung. Der Entzug des Realen ist kein nihilistischer Rest eines idealistischen Subjekts, sondern das Werk des Menschen, Zerstörungsarbeit, die mit den Friedhöfen auch das Eingedenken vernichtet. Solche Mauerruinen sind archäologische Reste, Wegweiser des Eingedenkens an einen zerschlagenen Allmachtstraum des idealistischen Individuums wie auch der kollektiven Modernisierung und ihrer Opfer, ein Eingedenken, zu dem sich das Herz des Dichters bekennt.
D a s e n tg r e n z t e S u b j e k t, d i e Z e i t u n d d i e A n d e r sh e i t d e r W e l t Mit der Agonie des Narziss demontieren die hier untersuchten Texte auch die Zeitmetaphysik und die bergsonsche Epiphanie des Augenblicks. Auf der Grundlage der Evidenz des Augenblicks hatte die Kritik ein neues, starkes und modernes Subjekt konzipiert, welches die Auszehrung des idealistischen Subjekts kompensieren sollte. Die Tragweite solcher Ergebnisse, auf die schon Walter Benjamin hingewiesen hatte, wird anhand der Kritik des Augenblicks durch Emmanuel Levinas deutlich. Levinas weist aber darüber hinaus auch auf die Öffnung zu einer neuen Dimension der Alterität hin. Mit dem Augenblick, so Levinas in Le temps et l’autre (1983)81, postuliert man einen originären Status, d.h. den Status des Beginns oder des Neubeginns. Durch den Augenblick versichert sich das Ich seiner Selbigkeit, gibt sich eine Grundlage, einen axiomatischen Punkt für seine Identität.82 Die Ästhetik des Augenblicks fungiert als das Fundament der Identischsetzung, das vom modernen Subjekt genutzt wird, um sich als Seiendes zu individualisieren. Levinas’ Phänomenologie der Zeit erinnert aber daran, dass die Zeit nicht mit einem isolierten Subjekt zu tun haben kann. Die Gegenwart kann nur als Zeitigung, d.h. als Nachträglichkeit, und als Beziehung zum Tod begriffen werden, weil sie grundsätzlich in Beziehung zum Anderen, d.h. zu den anderen Zeitstellen steht. Im Gegensatz zum heideggerschen Subjekt, welches aus der Einsicht in das »Sein zum Tode« – und damit in die Alterität des Lebens – seinen Sinn erhält, muss sich das Ich der Begrenzung des Todes stellen, es muss sich vom Anderen begrenzen lassen, will es das Andere, den an80 G. Ungaretti: L’Allegria, S. 74. 81 Emmanuel Levinas: Le temps et l’autre, Paris: PUF 1983. 82 »Le présent part de soi; mieux encore, il est le départ.« Ebd., S. 32. 120
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deren Menschen, nicht zerstören. Die Grenze des Sichtbaren angesichts der Materialität eines Realen, das sich des Zugriffs der (rationalen wie poetischen) Erkenntnis entzieht, wird auch zur Schwelle neuer Formen und Medien für die Begegnung mit der Welt. Schon im Vergänglichkeitsmodus der Modernität ist die Notwendigkeit impliziert, dass das Augenblickspathos durch die Anamnese und die intertextuelle Anverwandlung der Vergangenheit ersetzt wird. Damit hebt die Moderne die Historizität und Nachträglichkeit des Bedeutens ins Bewusstsein. Die Einsicht, dass das Andere, d.h. andere Sprachen, dem Ursprung der subjektiven Sprache vorgängig sind, führt die poetische Sprache der Moderne aus der auszehrenden Melancholie des Entzugs heraus und ist der Wegweiser für eine longue durée moderner Kunst, wie Sarah Kofmann anhand der seriellen Ästhetik gezeigt hat.83 In diesen Prinzipien der Moderne sah auch Italo Calvino die Chance zur Pluridiskursivität84, und es ist eine solche Moderne, die man sich – mit Calvino – auch für die nächsten tausend Jahre erhoffen sollte.85
83 Vgl. Sarah Kofmann: »Die Melancholie der Kunst«, in: Peter Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart: Reclam 1990, S. 224-243. 84 Barbara Johnson hat für Baudelaires »Le galant tireur« einen metapoetisch geführten Kampf zwischen erstarrter Form der Vergangenheit (Tradition) und einer der Mode unterworfenen, der Vergänglichkeit und dem Tod geweihten Sprache der Moderne gesehen. Der authentische, selbstgenügsame Augenblick muss sterben, so Johnson, damit die Form der ›Anderen‹, d.h. die vergangene Form, in den ewigen Kreislauf von Tod und Leben eingeht. Vgl. Barbara Johnson: Défigurations du langage poétique, Paris: Flammarion 1979, S. 92. Damit liegt schon bei Baudelaire die Rettung vor der Selbstauszehrung des Narziss in einer mit dem Anderen kontaminierten und der Serie geweihten Schrift, die in Intertexten Spuren des Anderen trägt. Zu »Le galant tireur« vgl. V. Borsò: Die Aporie von Eros und IchKult. 85 In Lezioni americane schlägt der italienische Schriftsteller sechs Formeln eines ästhetischen Programms für das nächste millennio vor: Lightness, Quickness, Exactitude, Visibility, Multiplicity, Consistency. Mit der fünften Eigenschaft, der Vielfalt, schließt Calvino an eine Intertextualität an, die seit Flauberts Bouvard et Pécuchet die Landschaft der Literatur beherrscht: »Lo scetticismo di Flaubert, insieme con la sua curiosità infinita per lo scibile umano accumulato nei secoli, sono le doti che verranno fatte proprie dai più grandi scrittori del secolo XX; ma per loro parlerei di scetticismo attivo, di senso del gioco e della scommessa nell’ostinazione a stabilire relazioni tra i discorsi e i metodi e i livelli. La conoscenza come molteplicità è il filo che lega le opere maggiori, tanto di quello che viene chiamato il 121
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postmodern, un filo che – al di là di tutte le etichette – vorrei continuasse a svolgersi nel prossimo millennio.« I. Calvino: Lezioni americane, S. 112f. 122
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BAUDELAIRE, BENJAMIN U N D D I E M O D E R N E ( N )* Mit der Baudelaire-Rezeption von Walter Benjamin komme ich auf die während der 2003 in Düsseldorf abgehaltenen Tagung Baudelaire und Deutschland – Deutschland und Baudelaire von Friedhelm Kemp gestellte Frage zurück, inwieweit Baudelaire heute noch ›modern‹ ist. Gewiss sind Baudelaires Landschaften ›Ruinen‹, die sich nicht direkt in die Kontexte des 21. Jahrhunderts integrieren lassen. Aber gerade dies ist die Chance ihrer Modernität. Benjamins Lektüre Baudelaires unterstreicht, dass der Dichter des Second Empire seine zeitgenössische moderne Welt schon als Ruine wahrgenommen und damit die Vergänglichkeit der Moderne, ihre paradoxale, ewige Aktualität erfasst hat. Tatsächlich hat Baudelaire in seiner Ästhetik der Moderne ihre inhärente Überwindung mit reflektiert, und diese Moderne hat sich heute noch nicht verzehrt.1 Die Aktualität der Ästhetik Baudelaires zeigt sich auch in ihrer Provokationskraft, die immer wieder kritische Debatten entzündet, was sich auch in der internationalen Rezeptionsgeschichte zeigt.2 Eine solche Debatte werde ich in meinen nachfolgenden Überlegungen über die teilweise voneinander abweichenden Modernitätskonzepte aufgreifen, die Walter Benjamin und Karl-Heinz Bohrer auf der Grundlage ihrer Lektüre von
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Erstmals erschienen in: Bernd Kortländer/Hans T. Siepe (Hg.), Baudelaire und Deutschland – Deutschland und Baudelaire, Tübingen: Narr 2005, S. 105-125. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. 1998 fand in Düsseldorf eine interdisziplinäre Tagung Moderne der Jahrhundertwende(n) statt, bei der auf die Kontinuität der Moderne zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert eingegangen wurde. Hierauf spiele ich mit dem Titel meines Beitrages an. Der Kongress hatte die Theorie der Modernen zwischen Charles Baudelaire und Jean-François Lyotard lokalisiert. Vgl. Vittoria Borsò/Björn Goldammer (Hg.): Moderne(n) der Jahrhundertwenden, Baden-Baden: Nomos 2000. Dies lässt sich ebenfalls anhand der Rezeption Baudelaires in Lateinamerika feststellen. Auf die Provokationskraft Baudelaires gehe ich auch ein in meinem Artikel »Charles Baudelaire et la modernité en Amérique Latine«, in: Walter B. Berg/Lisa Block de Behar (Hg.), France – Amérique Latine. Croisement de lettres et de voies, Paris: L’Harmattan 2007, S. 55-80. 127
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Charles Baudelaire entwickelt haben. Während Bohrer in Nach der Natur3 anhand von Baudelaire (und Flaubert) das Böse als ästhetische Kategorie definiert und Benjamins Konzeption einer transgressiven Kunst der Moderne aufgreift, distanziert er sich von Benjamin in seiner Lektüre von Les fleurs du mal im Sinne einer Theorie der Trauer als Theorie der Moderne.4 Benjamins Über einige Motive bei Baudelaire (1939) wird von Bohrer als eine ideologische Kritik an der Zerstörungsarbeit des Fortschritts verstanden, wobei die Trauer hier lediglich aus dem Verlust der Einheitsmythen der historischen Moderne resultiere. Die Reduktion der Lektüre Benjamins auf eine soziologisch orientierte Kritik am Paris des Second Empire nutzt Bohrer, um seine eigene Theorie der Moderne zu konturieren. Anhand der Debatte, ob es sich bei den Texten Baudelaires um eine mimetische Gesellschaftskritik oder eine ästhetische Erfahrung handelt, können wir auch die neuralgischen Momente der Moderne betrachten. Bohrer betont mit seiner Baudelaire-Lektüre einen fundamentalen Aspekt der Moderne: die Zeitlichkeit. Die Dimension, mit der die Moderne ansetzt, ist die Zeiterfahrung, und abhängig von ihr eine besondere Subjektivitäts- und Raumerfahrung. Selbstverständlich meint diese ›Zeiterfahrung‹ nicht die historischen Inhalte einer Epoche, für die Friedhelm Kemp während der Düsseldorfer Tagung zu Recht die Frage nach ihrer Überholtheit stellte, sondern um eine u.a. durch Karl-Heinz Bohrer hervorgehobene, von der Werkästhetik getragene Form der Imagination, die mit der Erfahrung des Vergehens konfrontiert. Bevor ich auf Benjamin und Bohrer eingehe, möchte ich auf die Tragweite der Zeitkonzeption Baudelaires hinweisen. Baudelaire entwirft die historischen Inhalte als Fragmente, die an sich keinen Sinn haben und nur als Teil der Arbeit der Imagination Bedeutung erlangen. Sie treten als Ruinen einer historischen Zeit auf, welche als Faktum unwiederbringlich verloren ist, doch als Spur die Gegenwart bewohnt. Sie sind Indizien für Dinge, die den »Namen« verloren haben und deshalb als Bruchstücke vorkommen, wie Benjamin es in Ursprung des deutschen Trauerspiels für die Allegorie behauptet.5 Am Ende des 19. Jahrhunderts haben die Zeichen keine natürliche Korrespondenz mit den Dingen mehr, wie dies noch für das organische Verständnis des Symbols in der Goethezeit an3 4 5
Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik, München: Hanser 1988. Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Der Abschied. Theorie der Trauer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996. Vgl. Walter Benjamin: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.1., hg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 203-435, hier S. 352. 128
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genommen wurde. So sind Bilder artifizielle Allegorien von entwerteten, erstarrten, toten Dingen, die den Schock der Wahrnehmung sowie die Erfahrungen der Alterität6, des Vergehens der Zeit und des Verschwindens vermitteln. Die materielle Präsenz der toten Ruinen im Raum der Gegenwart markiert die Differenz zwischen kontextlos zusammengefügten Fragmenten, die ihre eigene, jeweils differente Zeitkonstellation in sich tragen7, so Benjamin insbesondere im Passagen-Werk.8 Mit der Ruine wird auch die Gegenwart als Schwelle inszeniert, und darin liegt die Botschaft, die Walter Benjamin durch seine Lektüre Baudelaires rezipiert hat. Denn die Ruine ist präsent als nicht in die Gegenwart integrierbares Indiz des Vergangenen und manifestiert so eine unüberwindbare Differenz zwischen zwei Zeitstellen. Geschichtsphilosophisch arretiert deshalb die Ruine die chronologische Zeit der Geschichte, um aber eine radikale Historizität zu inszenieren. Die Vergangenheit ist fremd, sie kann nicht durch einen gegenwärtigen Blick eingeholt werden. So ist auch Baudelaires Rekurs auf die klassische Mythologie zu verstehen, etwa in »Le 6
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Vgl. Vittoria Borsò: »Die Aporie von Eros und Ich-Kult: Zur Ästhetik von Charles Baudelaire«, in: Hans-Georg Pott (Hg.), Liebe und Gesellschaft. Das Geschlecht der Musen, München: Fink 1997, S. 121-138, sowie dies.: »Jean-Jacques Rousseau, Giacomo Leopardi, Charles Baudelaire: L’origine et l’autre dans la pensée moderne«, in: Reinhard Klesczewski/Uwe Baumann (Hg.), Penser l’Europe. Europa denken, Tübingen, Basel: Francke 1997, S. 125-143. Hans Ulrich Gumbrecht missversteht Benjamins Auffassung der Ruine als Figur der Ewigkeit. Vgl. ders.: Die Macht der Philologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. Die von ihm zitierte Passage Benjamins fokussiert aber die Differenz, nicht die Kontinuität zwischen den Zeiten. Benjamins Figur der Ruine enthält nicht nur eine geschichtsphilosophische These, sondern auch eine implizite Bildästhetik. Vgl. Vittoria Borsò: »›Zeitbild‹ – Bildräume. Visualität und Zeitlichkeit in Gustave Flauberts ›Salammbô‹«, in: Wolfgang Lange/Jürgen Paul Schwindt/Karin Westerwelle (Hg.), Temporalität und Form, Heidelberg: Winter 2005, S. 197-220 (im vorliegenden Band S. 183-208), und dies.: »Medienkultur: Medientheoretische Anmerkungen zur Phänomenologie der Alterität«, in: Markus Klaus Schäffauer/Joachim Michael (Hg.), Massenmedien und Alterität, Frankfurt/Main: Vervuert 2004, S. 36-65 (im vorliegenden Band S. 261-297). In der Organisationsform des Alltags verspürt Benjamin einen Widerspruch zu den technischen Möglichkeiten des Jahrhunderts, so dass die gesellschaftlichen und ökonomischen Formen Traumbildern entsprechen, in denen Altes und Neues vermischt sind. Vgl. Walter Benjamin: »Das Passagen-Werk«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V.2, 1982, S. 655-1063, hier S. 1057. Darauf verweist auch Bernd Witte: Walter Benjamin, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 188. 129
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cygne«.9 Das moderne Paris enthält Ruinen der (historisch) fernen Welt, die in das Ganze nicht mehr einzubinden sind. Zwischen den voneinander fernen Zeiten, denen der modernen und der antiken Welt, deren Versöhnung nicht mehr möglich ist, entsteht die Erfahrung der Zeitlichkeit. Das temporale Regime der Zeitigung zollt nicht nur der Geschichtlichkeit der Zeichen Tribut, sondern macht auch die Botschaft undurchdringlich. Die Sprache wird zum gegenstandsindifferenten Wahrnehmungs- und Reflexionsmedium, das ironisch auf sich selbst verweist. Diese These, die Rainer Warning für die Ironie in den Romanen des Zeitgenossen Flaubert entwickelt hat10, gilt auch für die Lyrik Baudelaires. Der Text wird selbstbezüglich. Der Blick durchdringt die Textur der Repräsentation nicht. Durch die opake Darstellung ist der Text kein transparentes Fenster zur Welt. Das Medium tritt vielmehr hervor und reflektiert das Subjekt, seine Blicke und seine eigene Dualität. Der Text wird zum Raum, in dem sich das Ich im Verhältnis zu seiner Alterität positionieren muss.11 So sieht es auch Bohrer: Im Pathos der selbstreflexiven Ich9
Charles Baudelaire: »Le cygne«, in: ders.: Œuvres complètes, hg. von Yves-Gérard Le Dantec und Claude Pichois, Paris: Gallimard 1971, S. 8183. 10 Vgl. Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten, München: Fink 1999. In seinen so genannten »historischen Romanen« nutzt Flaubert die Fremdheit der Kultur, um die Fremdheit der Zeit zum Ausdruck zu bringen. Die Fremdheit des heterogenen Bildraums ist ein Mittel, die historische Fremdheit zu inszenieren, den Entzug des (historischen) Sinnes radikal zu denken. Ähnliches gilt auch für Flaubert. Ulrich Schulz-Buschhaus hat gezeigt, dass Flaubert im »monde antique« auf keinen Fall einen Antikenkult im Sinne des Modells einer Kultur sucht, die langfristig verbindliche Normen und Vorbilder gestiftet hat. Es geht ihm vielmehr um eine Geste der Historisierung der Antike, die nun nicht mehr eine Sphäre zeitüberdauernder Ideale, sondern einen Bereich des kulturell Anderen und Fremdartigen darstellt. Nach der Abkehr von der Antike durch die Moderne konnte sich eine Wiederannäherung an den »monde antique« allein noch unter der Perspektive der Alterität ereignen, so Schulz-Buschhaus anhand der Äußerungen Flauberts. Vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus: »Der problematische Fortschritt der Kunst bei Flaubert und den Goncourt«, in: Wolfgang Drost (Hg.), Fortschrittsglaube und Dekadenzbewusstsein im Europa des 19. Jahrhunderts. Literatur – Kunst – Kulturgeschichte, Heidelberg: Winter 1986, S. 127-138. Die Choreographie des Bildraums entspricht bei Salammbô der Urszene der Moderne: Ein Abgrund zwischen einer stumm gewordenen historischen Zeit und der Gegenwart. Vgl. V. Borsò: ›Zeitbild‹ – Bildräume. 11 So sind die Grenzen der Sichtbarkeit auch die Chancen einer neuen Visualitätserfahrung: Das Medium selbst als Vermittler zwischen Erzählen und 130
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Erfahrung artikuliert sich ein Ich, das zwischen dem diskursivanalytischen und reflexiv kritischen Bewusstsein und dem Anderen »flottiert«, und dieses »Flottieren ist nicht erst postmodern«.12 Eben diese Erfahrung hat Walter Benjamin anhand der Ästhetik von Les fleurs du mal, d.h. in der poetischen Struktur des Werkes, eher intuitiv und essayistisch aufgespürt als kohärent und diskursiv entwickelt. Viel deutlicher wird diese Zeiterfahrung im Passagen-Werk und auch in den geschichtsphilosophischen Fragmenten, mit denen Walter Benjamin das Kontinuum der Geschichte unterbrechen und die hegelsche Geschichtsphilosophie verabschieden wollte.13 Es geht um die Passage, um das noch Seiende und gerade Vergangene.14 Diese Zeitkonzeption ist nicht nur für die Geschichte folgenreich, sondern auch für die Theorie der Medien. Denn mit der Zeiterfahrung der Passage begründet Benjamin auch eine Ästhetik des Augenblicks als Blickereignis, als ein Ereignis der Blicke, die im Medium aufgehoben sind. Der Blick muss angesichts der Katastrophe des Vergehens erst gestiftet werden, und dies begründet eine Ästhetik, deren materialistische und postmarxistische Konturierung heute noch gültige Prinzipien einer Medienästhetik darstellt. Genau diese Thesen, die Benjamin auf der Grundlage seiner Lektüre von Baudelaire entwickelt, sind im Benjamin-Verständnis von Karl-Heinz Bohrer nicht mehr vorhanden.
1 . K ar l - H e i n z B o h r e r al s L e s e r v o n B au d e l a i r e : p r o u n d c o n tr a B e n j a m i n Bohrer sieht im Gedicht »Les phares« ein Signal der beginnenden Ästhetik des Bösen. Denn in diesem Gedicht huldigt Baudelaire der sadistischen Phantasie, die erstmals von Delacroix in seinem Gemälde La mort de Sardanapale, des vom Gemetzel träumenden Blutherrschers, insze-
Welt wird sichtbar – wie der Rahmen in der bildenden Kunst oder die Kadrierung in den visuellen Medien. Vgl. V. Borsò: ›Zeitbild‹ – Bildräume, und dies.: »Proust und die Medien: Écriture und Filmschrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit«, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.), Proust und die Medien, München: Fink 2005, S. 31-60. 12 K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 105. 13 So z.B. in den 1940, vor der erneuten Bearbeitung von Baudelaire, niedergeschriebenen Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2 (1978), S. 691-704. 14 W. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 1046. 131
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niert wurde.15 Das satanische Prinzip einer Ästhetik des Bösen begründet zum einen die Theorie des Lachens in »De l’essence du rire«;16 zum anderen wird dieses Prinzip in verschiedenen Prosagedichten zur Schau gestellt, wie z.B. in »Le mauvais vitrier«17 oder auch in »Assommons les pauvres!«18. Damit begründet Baudelaire die nach Bohrer revolutionäre Ästhetik des »bösen Kunstwerks«19. Im Sinne dieser Ästhetik ist das Böse kein historischer Sündenfall, den man funktionsgeschichtlich zu erklären hätte, sondern es begründet vielmehr die Moderne überhaupt. In Folge der unauflöslichen Heterogenität der Sprache, die Georges Bataille bei Baudelaire erkennen wird, ist die Kunst transgressiv. Diese Form von Transgressivität betont Karl-Heinz Bohrer: Die Kunst selbst wird zum Skandal für die Philosophie und für das Diskursive, weil die Sphäre des Scheins nicht durch inhaltliche Zuschreibungen gezähmt oder pädagogisiert werden kann.20 Die Kunst kann nicht mehr mit gesellschaftlichen und tugendaffirmativen Forderungen belastet oder ins ideologische Abseits gestellt werden, und dies ist ein für moralisierende kanonische Ästhetiken unerträglicher Angriff. Denn die Kunst zeigt nicht das Böse in der Welt, sondern imaginiert es, und die ästhetische Form ist am Bösen beteiligt. Die Symbolik ist nicht deutbar, sie ist ein Rätsel. Deshalb schweigen die Bilder der Imagination des Bösen. Sie haben keinen alle15 So Baudelaire in der 8. und 9. Strophe von »Les phares«: »Delacroix, lac de sang hanté des mauvais anges, / Ombragé par un bois de sapins toujours vert, / Où, sous un ciel chagrin, des fanfares étranges / Passent, comme un soupir étouffé de Weber: // Ces malédictions, ces blasphèmes, ces plaintes, / Ces extases, ces cris, ces pleurs, ce Te Deum, / Sont un écho redit par mille labyrinthes; /C’est pour les cœurs mortels un divin opium!…« Vgl. Ch. Baudelaire: »Les phares«, in: ders.: Œuvres complètes, S. 12-14. Bohrer vergleicht besonders Flauberts Salammbô mit Delacroix’ La mort de Sardanapale. Das Gemälde wurde im Salon von 1827 zusammen mit Ingrès’ Apothéose d’Homère ausgestellt. Dieses Gemälde Delacroix’ spielte in der Geschichte der romantischen Kunst eine ähnliche Rolle wie die Préface de Cromwell von Victor Hugo. 16 Vgl. Charles Baudelaire: »De l’essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques«, in: ders.: Curiosités esthétiques. L’Art romantique et autres œuvres romantiques de Baudelaire, hg. von Henri Lemaitre, Paris: Garnier 1980, S. 241-263. Dieser Essay, an dem Baudelaire seit 1845 arbeitete, erschien zwischen 1855 (in Le Portefeuille) und 1957 (in Le Présent). 17 Vgl. Ch. Baudelaire: »Le mauvais vitrier«, in: ders.: Œuvres complètes, S. 238-240. 18 Vgl. ders.: »Assommons les pauvres!«, in: ebd., S. 304-306. 19 K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 116. 20 Vgl. ebd., S. 110. 132
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gorischen Kern.21 Die Sprache ist auf die ästhetische Form, auf die Sprachmaterialität selbst verwiesen22 und lässt die Mimesis hinter sich. Weil die Sprache des Bösen heterogen ist, stiftet sie keine Identität. Sie ist vielmehr ent-identifizierend. Im nicht-diskursiven Denken, also in der Kunst, wird der Schritt vollzogen, etwas anderes als unser Bewusstsein als ein Erstes anzusetzen. Es ist die Sprache des Anderen. Die Ästhetik wird mit dem Bösen zum Skandal, denn ›nach der Natur‹, d.h. am Ende der Naturgeschichte, markiert die Ästhetik den Eintritt in die Vergänglichkeit, damit aber auch in die Künstlichkeit, in die Artifizialität und Fragmentarität jedes historischen Seins. Daher koinzidiert der Beginn der Moderne mit dem Ende der als glücklicher Raum gedachten teleologischen Historie.23 Die Katastrophe der Zeit und des Verschwindens ist die Katastrophe der Form selbst; das Verschwinden greift auf die Ästhetik über, die das Verschwinden zur Erscheinung bringt. Das Verschwinden ist ein zentrales Moment in der longue durée der Moderne. Es wird zum Kennzeichen einer Ästhetik, die Jean-François Lyotard als das »In-forme«, als das Erhabene im Sinne der Dissolution der Form und des Sinnentzugs bezeichnete.24 Diese Erfahrung wird durch die Imagination der Moderne herbeigeführt, welche die mythische Erlösung und die heroische Affirmation des romantischen Subjektes durch Figuren des Verschwindens ersetzt25 und die sprachliche Transitivität zum Anderen auslöscht. Die Subjektivität ist auf sich selbst zurückgeworfen, auf die eigene Einsamkeit, die selbstreflexiv wird und die desi21 Bohrer meint mit »allegorisch« keineswegs die selbstbezügliche Ästhetik, die Paul de Man mit der Ironie in Verbindung bringt und die für Baudelaire wie auch Flaubert zutrifft. Er versteht »allegorisch« im Sinne der »hyponoia« (ȪʌȩȞȠȚĮ), d.h. als »Untersinn«, als Allegorese, als Anweisung zur semantischen Deutung mit historischem und/oder moralisierendem Sinn. 22 Vgl. K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 125. 23 La mort de Sardanapale bietet, wie Salammbô, keine geschichtsphilosophische Perspektive. Beide sind schiere Massaker, bei dem der Mensch nicht Subjekt, sondern isoliertes Objekt unter isolierten Objekten ist, »ein auslöschender Organismus in einer Unendlichkeit von Zeiträumen ohne historische oder moralische Strukturierung«. Zum Zeitbild in Salammbô vgl. auch V. Borsò: ›Zeitbild‹ – Bildräume. 24 Vgl. Jean-François Lyotard: L’enthousiasme. La critique kantienne de l’histoire, Paris: Galilée 1986. 25 Ich verweise auf den Aufsatz von Monika Fahrenbach-Wachendorff: »Formale Aspekte der Lyrikübersetzung«, in: Bernd Kortländer/Hans T. Siepe (Hg.), Baudelaire und Deutschland – Deutschland und Baudelaire, Tübingen: Narr 2005, S. 225-240, in dem einige Beispiele von der untergehenden Sonne, u.a. in »Recueillement« und »Le coucher du soleil romantique«, besprochen werden. 133
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dentifizierende Erfahrung einer fremd gewordenen Gegenwart und Vergangenheit macht. So lautet auch der erste Text von Le spleen de Paris (1864): »L’étranger«. L’ETRANGER (I) Qui aimes-tu le mieux, homme énigmatique, dis? Ton père, ta mère, ta sœur ou ton frère? - Je n’ai ni père, ni mère, ni sœur, ni frère. - Tes amis? - Vous vous servez là d’une parole dont le sens m’est resté jusqu’à ce jour inconnu. - Ta patrie? - J’ignore sous quelle latitude elle est située. - La beauté? - Je l’aimerais volontiers, déesse et immortelle. - L’or? - Je le hais comme vous haïssez Dieu. - Eh! Qu’aimes-tu donc, extraordinaire étranger? - J’aime les nuages… les nuages qui passent… là bas… là bas… les merveilleux nuages!26
In einer Nebenbemerkung von Nach der Natur sieht Karl-Heinz Bohrer in diesem ersten Prosagedicht zu Recht die radikale Verabschiedung der kosmologischen Beziehung zur Natur wie auch des ewig Schönen. Zugleich kündigt dieser Text die Entfernung der Kunst von der direkten Darstellung der sozialen oder politischen Umwelt an. Entscheidend ist dabei, dass die gesuchte Objektivität subjektgebunden bleibt und von der – emphatisch vorgetragenen – ästhetischen Imagination abhängig wird.27 Die Figuration der Welt ist keine naturphilosophisch oder mythologisch gerettete oder rettbare Konstruktion; die Bildlichkeit der Wolken bringt selbst Dissolution und Verschwinden zum Ausdruck.28 Es ist ein Schönes, das durch die Vagheit die Imagination zum Bilden anregt. Damit beginnt jene Moderne, die den Bildraum aus der Erinnerung, der Imagination und dem Traum erst entwirft, und nicht etwa nach der Realität abbildet. Entscheidend ist auch – und dies ist ein Karl-Heinz Bohrer 26 Ch. Baudelaire: »L’étranger«, in: ders.: Œuvres complètes, S. 231. 27 Vgl. K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 108. 28 Vgl. ebd. Die Wolken sind auch für Gian Giacomo Leopardi, den anderen großen Begründer dieser Moderne der Zeitlichkeit, das Sinnbild des im Verschwinden und im Vagen begriffenen Schönen. Vgl. V. Borsò: JeanJacques Rousseau, Giacomo Leopardi. 134
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nicht direkt interessierendes Argument –, dass Baudelaire die Selbstreflexivität im Modus der Alterität inszeniert, einer Alterität, die in der Imagination entworfen wird, doch als Differenzerfahrung phänomenologisch über sich selbst hinausweist und Spuren des im Entzug befindlichen Weltbezugs erkennen lässt. Denn dieser Dialog ist ein Zitat, das auf einen vorgängigen Diskurs referiert, welcher zwar im Text abwesend, doch mit den Anführungszeichen Teil des Bildraums wird. Die zentralen Thesen von Nach der Natur sind noch Benjamins Konzept der transgressiven Kunst verpflichtet. Die Ästhetik der »bösen Kunst« ist eine unbequeme Ästhetik, wie sie Benjamin im SurrealismusAufsatz29 und im Buchprojekt »Der destruktive Charakter« konzipiert, das teilweise in der Frankfurter Zeitung erschienen ist (1931). Der destruktive Charakter ist – so Benjamin – im »historischen Menschen« aufgehoben. Gemeint ist der Mensch, »dessen Grundaffekt ein unbezwingliches Misstrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit ist, mit der er jederzeit davon Notiz nimmt, daß alles schiefgehen kann«30. Ich möchte auf den Surrealismus-Aufsatz Benjamins näher eingehen, als dies Bohrer tut. Im Zusammenhang mit dem revolutionären Impetus der Kunst bezieht sich Benjamin zwar auf den Kult des Bösen »als einen wie auch immer romantischen Desinfektions- und Isolierungsapparat der Politik gegen jeden moralisierenden Dilettantismus«31 im Sinne des Satanismus Baudelaires32, doch behandelt er das Beispiel der surrealistischen 29 Vgl. Walter Benjamin: »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, in: ders.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften, Bd. II, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1966, S. 200-215, sowie ders.: »Denkbilder. Der destruktive Charakter«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, 1972, S. 396-398. 30 Ebd., hier in Bezug auf das Zitat der Ausgabe in der Frankfurter Zeitung von 1931 durch K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 98. 31 W. Benjamin: Der Sürrealismus, S. 210. 32 Der »Dämon« Baudelaires impliziert ein gespaltenes Subjekt, das vom Bösen beherrscht ist, aber auch die Anrufung des Anderen erfährt, so etwa im Prosagedicht »Assommons les pauvres!«. Das Böse, welches das Vernunftsubjekt in die Grenzen weist, aber auch die Dialektik der Alterität radikal zu konzipieren erlaubt, unterscheidet den Dämon Baudelaires vom eher moralisch konzipierten Dämon des Sokrates. So heißt es bei Baudelaire in »Assommons les pauvres!«: »Il existe cette différence entre le Démon de Socrate et le mien, que celui de Socrate ne se manifestait à lui que pour défendre, avertir, empêcher, et que le mien daigne conseiller, suggérer, persuader. Ce pauvre Socrate n’avait qu’un Démon prohibiteur; le mien est un grand affirmateur, le mien est un Démon d’action, un Démon de combat […].« Ch. Baudelaire: »Assommons les pauvres!«, in: ders.: Œuvres complètes, S. 305. 135
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Kunst und ihre – nach Benjamin – dialektische Ästhetik, zumindest in den Stadtromanen Le paysan de Paris von Louis Aragon und Nadja von André Breton.33 Die für die bürgerliche Ordnung zerstörerische Bilderflut des Rausches der Stadt vollzieht beim Flaneur die Geste der »profanen Erleuchtung einer materialistischen, anthropologischen Inspiration«34. Hier sieht Benjamin jene Ästhetik verwirklicht, die die Institution der Literatur provoziert, um eine andere kulturelle Praxis zu initiieren, bei der es um »Manifestation, Parole, Dokument, Bluff, Fälschung […]« geht, und die »buchstäblich von Erfahrungen, nicht von Theorien, noch weniger von Phantasmen« handelt.35 Das Prinzip dieser Praxis liegt in der (irritierenden) Kontamination der Politik durch den Bildraum der Kunst; einer Kontamination, die entsteht, wenn die Kunst dem Politischen die eigenen Gesetze auferlegt. Weiterhin betont Benjamin die Vielfalt und Beweglichkeit der Bilder im Bildraum der Kunst als verzeitigter Bildraum und als Schwelle zwischen Traum und Erwachen. Benjamins Begeisterung für dieses Moment beim Surrealismus paart sich mit einer Skepsis hinsichtlich des utopischen Denkens der Surrealisten und einer »unheilbare(n) Verkupplung von idealistischer Moral mit politischer Praxis«36, die die surrealistische Moral trotz ihrer linken Ideologie paradoxerweise in die Nähe konservativer Denker führt. Problematisch erscheint ihm auch der nahezu religiöse Glaube an das Unbewusste und an Rauschzustände.37 Dialektische Kunst meint nicht, den »Künstler bürgerlicher Abkunft zum Meister der ›Proletarischen Kunst‹ zu machen«. Vielmehr geht es darum, »ihn, und sei es auf Kosten seines künstlerischen Wirkens, an wichtigen Orten dieses Bildraums [des Bildraums der politischen Revolution; V.B.] in Funktion zu setzen« 38. Diese Thesen lassen erkennen, wie sehr Karl-Heinz Bohrer in seiner Konzeption des Kunstwerkes, das er zu Recht mit Baudelaire und Flau-
33 Vgl. André Breton: Nadja, Paris: Gallimard 1975, und Louis Aragon: Le paysan de Paris, Paris: Gallimard 1972. 34 W. Benjamin: Der Sürrealismus, S. 202. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 209. 37 Vgl. ebd., S. 201f. Klarsichtig kritisiert Benjamin die Verabsolutierung des »Wesen des Rausches«, die an die Religion grenzt: »Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen: Vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt.« Ebd., S. 212f. 38 Ebd., S. 214. 136
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bert beginnen lässt, dem Denken Benjamins verpflichtet ist. In der historischen Distanz zum Surrealismus und nach dem Scheitern der historischen Avantgarde kritisiert Bohrer noch deutlicher als Benjamin Bretons Ausstieg aus der Scheindimension der Kunst. Der destruktive Charakter transformiert sich bei Breton in eine politisierte Kunst, so dass Bohrer zu Recht von zwei Typen der Ökonomie des Schreckens sprechen kann: die gesellschaftliche Kommunikation sowie die spektakuläre Kunst einerseits, und die Ökonomie einer »bösen Kunst«, einer beunruhigenden, unversöhnlichen Ästhetik andererseits.39 Im Sinne von Benjamins Kritik am utopischen Zug Bretons, der aus der profanen Erleuchtung eine Religion macht, verabschiedet sich Breton, so Benjamin, von der surrealistischen Zerstörungsmetapher, die nur im poetischen Raum40 – und im Bildraum – zu denken ist. Die Fallstricke des politischen Kompromisses der Avantgarden, gleichgültig welcher Couleur, werden hier deutlich. Dagegen hatte Benjamin das »Mißtrauen in das Geschick der Freiheit, Mißtrauen in das Geschick der europäischen Menschheit, vor allem aber Mißtrauen, Mißtrauen und Mißtrauen in alle Verständigung: zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen«41 eingefordert. Die Kritik an Breton entspringt dem zentralen Telos der Argumentation Bohrers, die mit der Ästhetik des Bösen einen konstanten Referenzpunkt hat: jenen aus der bürgerlichen und moralisierenden Institution der Literatur stammenden »deutschen Betrachter«42. Zur Charakterisierung dieses Betrachters bedient sich Bohrer der Definition des bürgerlichen Mittelmenschen, den Benjamin in »Der destruktive Charakter« den »Etui-Menschen« als den unkritischen Bourgeois der fortschrittsbejahenden Moderne genannt hat.43 Für Bohrer geht es um die Kritik an den moralisierenden und rationalisierenden philosophischen Traditionen, die in Deutschland dieses Verständnis der Moderne behindert haben: Dazu gehören u.a. Hegel, Max Weber und Jürgen Habermas. Hegel habe mit seinem moralischen Rigorismus gegenüber Romantikern wie Hoffmann aber auch Heine das Böse aus der Sphäre des Geistes ausgeschlossen, eine Geste, die später von der Ideologiekritik vollzogen werden wird. Max 39 Beide Paradigmen setzen sich im Surrealismus fort, und zwar einerseits mit dem orthodoxen Surrealismus der ›Väter‹ in Montparnasse (Breton, Eluard, Soupault, Aragon) und der subversiven Gruppe von der Rue Blomet mit Georges Bataille, Jean Cocteau, Michel Leiris und Antonin Artaud andererseits, aber auch in der gesamten avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhunderts. 40 Vgl. K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 200f. 41 W. Benjamin: Der Sürrealismus, S. 214. 42 Ebd., S. 200. 43 W. Benjamin zitiert in K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 98. 137
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Weber versuche, durch Ausdifferenzierung der kulturellen Wertsphäre die Beunruhigung durch die Kunst zu immunisieren. Jürgen Habermas verfolge das Ziel, das Projekt der Moderne im Sinne des Erbes der Aufklärung zu erretten, es von jenen Impulsen zu bereinigen, die die Zerstörung der Vernunft suchten. Der Schrecken werde – so Bohrer – theologisch-philosophisch annulliert, durch Rationalisierung aufgehalten, das Böse idealistisch umgebogen. Die Reduktion der Ästhetik des Bösen auf inhaltliche Deutungen durch Pädagogik, Philosophie und Geisteswissenschaften führe zu einer Zerstörung des ästhetischen Konstrukts. Bohrer geht es also um die Kritik der Reduktion des Kunstwerks auf Mimesis und Geschichtsphilosophie. So ist das zentrale Moment des gesamten Buches die Kritik einer zugunsten der pragmatischen, historischen und ideologischen Funktionalisierung der Kunst zerstörerischen Ästhetik, einer Ästhetik, wie sie Bohrer im ideologischen Deutschland oder auch in den Massenmedien vertreten sieht, nämlich als Arrangement der Form auf das juste milieu.44 Es ist eine Kunst, die eine Identität zwischen Formalem und Inhaltlichem schafft und dem »Etui-Menschen« dient. Die Rezeption Baudelaires durch die deutsche Philosophie und die deutschen Geisteswissenschaften, sei diese Rezeption idealistisch (diese Kritik führt Bohrer mit Benjamin aus) oder marxistisch (diese erfolgt gegen Benjamin), habe sich Baudelaire angeeignet, habe ihn »verdeutscht« und damit auch sein Erbe für die Ästhetik der Moderne zerstört. Eigenartig ist es, dass Benjamin in das »deutsche Denken« integriert wird. Mit seiner zum Teil polemischen und gewiss so nicht akzeptablen Kritik denunziert Bohrer ein zweifellos problematisches Moment der deutschen Rezeption Baudelaires: Die Figur des Bösen, jene moralische Unentscheidbarkeit der Blumen des Bösen, die auch Batailles Heterogene inspirieren wird, provoziert das Unbehagen der deutschen Rezeption, wie es auch Irène Kuhn dargelegt hat. Die deutsche Rezeption bemühte sich, das Böse als ästhetische Figur inhaltlich zu verdeutschen oder idealistisch zu purifizieren.45 In Nach der Natur entwickelt Bohrer – noch mit Benjamin – eine Ästhetik der Moderne, die mit dem aus Baudelaire gewonnenen Begriff der Plötzlichkeit und mit der Zeiterfahrung der Katastrophe das Primat der Ästhetik auch gegen die Politik behauptet. In Bohrers Studie zur Trauer46 wendet er die Figur des Abschieds auch gegen die vermeintlich sozialkritische Lektüre Baudelaires durch Benjamin. Hier interpretiert (und miss44 K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 15. 45 Vgl. Irène Kuhn: »›Marmorschön und dekadent‹: Die Anfänge der deutschen Baudelaire-Rezeption«, in: B. Kortländer/H. T. Siepe (Hg.), Baudelaire und Deutschland – Deutschland und Baudelaire, S.169-184. 46 Vgl. K.-H. Bohrer: Der Abschied. 138
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versteht) Bohrer die Lektüre Baudelaires durch Benjamin im Sinne einer marxistischen, inhaltsästhetischen Lektüre. Es stimmt zwar, dass Benjamins erster Zugang zu Baudelaire politisch und psychologisierend war, als er in Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, dem Manuskript von 1938, versuchte, dem Institut für Sozialforschung gefällig zu sein, für das er seit 1933 arbeitete. Hier geht Benjamin so weit, dass Adorno selbst die Methode dieser Schrift kritisiert, nämlich die Verrechnung der Ästhetik Baudelaires mit den sozialen Inhalten des Second Empire. Doch dann überarbeitet Benjamin seinen Text und schreibt 1939 Über einige Motive bei Baudelaire47, und diese Baudelaire-Interpretation liest KarlHeinz Bohrer zum Teil tendenziös. Bohrer betont die sozialkritischen Aspekte und lässt die Zeitkonzeption der Passage beiseite, die uns hier dagegen interessieren wird. In Theorie der Trauer geht es Bohrer darum, die Probleme der Baudelaire-Rezeption in der Folge des deutschen Idealismus und von dessen Kehrseite, dem Marxismus, offen zu legen. Hier verkennt er den Benjamin, dem er im »bösen Kunstwerk« die Kritik moralisierender Interpretationen verdankt. Wie in Nach der Natur das Böse als ästhetische Kategorie gegen inhaltsästhetische Lektüren galt, so definiert Bohrer in Theorie der Trauer die Ästhetik der Plötzlichkeit und der Trauer als eine moderne Ästhetik, die er bei Baudelaire impliziert sieht und die noch heute gültig ist. Es ist jene Moderne, deren radikale Ästhetik weiter geht als die große Erzählung des utopischen Heilsprojekts der Moderne im Sinne von Jürgen Habermas. Sie geht aber auch weiter als die Postmoderne und ihr unendlicher Regress neuer epochaler Überwindungen durch angebliche Postoder Nachmodernen. Benjamins Lektüre Baudelaires wird von Bohrer überspitzt und geopfert, jedoch zu einem guten Zweck. Die Funktionalisierung Benjamins dient zwar dazu, die inhaltsbezogenen Interpretationen von Baudelaire tout-court zu kritisieren.48 Wie sehr jedoch Bohrer dadurch Benjamin verbiegt, wird deutlich, wenn man sich den Text Benjamins genauer anschaut, sowohl im Surrealismus-Aufsatz, als auch in seiner Lektüre Baudelaires.
47 Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969. 48 Eine solche Kritik wäre auch in Bezug auf die französische Rezeption durchzuführen, etwa hinsichtlich der normativen Interpretation von Suzanne Bernard oder auch der inhaltlichen Lektüre Tzvetan Todorovs: »Poetry Without Verse«, in: Mary Ann Caws/Hermine Riffaterre (Hg.), The Prose Poem in France. Theory and Practice, New York: Columbia Univ. Press 1983, S. 60-78, sowie Suzanne Bernard: Le poème en prose de Baudelaire à nos jours, Paris: Nizet 1959. 139
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In den Stadtromanen betont Benjamin z.B. ein weiteres, von Bohrer unbeachtetes, bei Baudelaire ebenfalls zentrales Moment: die Beweglichkeit der visuellen Prozesse in der Menge der Stadt und die ganz andere, die Ordnung der Diskurse beunruhigende ›andere‹ Verbindung zwischen Sprache und Welt. Im Bildraum der profanen Illuminationen der Stadt geraten vorgegebene Sinnstrukturen und Bilder in den Fluss der Bewegung. Der Sinn ist nicht vorgängig49, lediglich die poetische Sprache, die écriture, strukturiert die Übergänglichkeit des Sinns, wie im Wachtraum. So heißt es bei Benjamin: »Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war, wie von Tritten massenhafter hin und wider flutender Bilder, die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinandergriffen, daß für den Groschen ›Sinn‹ kein Spalt mehr übrigblieb.«50
So erfasst Benjamin mit aller Deutlichkeit die konstitutive Funktion des Mediums der Sprache. Das Medium ist nicht Speicher des Sinns oder subjektiver Inhalte, sondern ist sinn- und subjektkonstitutiv. Die Sprache hat vor dem Sinn Vortritt, aber »nicht nur vor dem Sinn. Auch vor dem Ich. Im Weltgefüge lockert der Traum die Individualität wie einen hohlen Zahn«51. Durch das Einströmen der (poetischen) Sprache in das Subjekt ist das selbstidentische Vernunftsubjekt depotenziert, gerade deswegen aber auch offen für Kreativität. Insbesondere in diesem Zusammenhang finden sich in der Ästhetik, die Benjamin anhand des Surrealismus entwickelt, die bei Baudelaires »L’étranger« beobachteten Momente: Das Ich muss sich einer externen Kraft – einer Alterität – aussetzen, die der Sprache innewohnt und es von außen überfällt.52 Die Kunst wendet sich 49 Vgl. Jacques Derrida: L’écriture et la différence, Paris: Seuil 1967 und V. Borsò: Medienkultur. 50 W. Benjamin: Der Sürrealismus, S. 201. 51 Ebd., S. 202. 52 Dies ist ein wichtiges Moment auch im erwähnten Prosagedicht »Assommons les pauvres!«. Der destruktive Charakter gegen den Anderen schmerzt auch das Ich, das sich durch seine Gewalt keineswegs affirmiert, sondern sich dem Widerstand des Anderen aussetzt. So wird auch im Sonett »La destruction« aus den Fleurs du mal (CIX) der Dämon figuriert: »Sans cesse à mes côtés s’agite le Démon; / Il nage autour de moi comme un air impalpable; / Je l’avale et le sens qui brûle mon poumon / Et l’emplit d’un désir éternel et coupable.« Ch. Baudelaire: »La destruction«, in: ders.: Œuvres complètes, S. 105. Die leibliche Komponente der Dialektik zwischen Ich und Anderem und die leibhafte Durchdringung des Bildraums einer »profanen Erleuchtung« hebt Benjamin im Surrealismus-Aufsatz her140
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gegen das Primat des Diskursiven und behauptet mit Baudelaire den Spielraum der Ästhetik, so dass Bohrer zu Recht behaupten kann: Nach Baudelaire (und Nietzsche) hat die Ästhetik ein anderes Wissen, das Michel Foucault in seinen Schriften zur Literatur »un si cruel savoir«53 genannt hatte. Das Heterogene und das Lachen sind die ästhetische Form der Souveränität eines gespaltenen, endlichen Subjekts, das ironisch darüber reflektiert, dass es dem Tode geweiht ist – so z.B. in »De l’essence du rire«. Die Ästhetik der Moderne als Schrecken wird damit zur Erstbegründung von Bewusstsein. Die Welt ist nicht mehr mimetisch zu repräsentieren. Das selbstidentische Ich des Idealismus, das souverän die Objekte setzte, kann sich nicht mehr affirmieren; das idealistische Subjekt wird zerstört.
2 . » À u n e p as sa n te « u n d W al te r B e n j am i n , w i e i h n K ar l - H e i n z B o h r e r n i c h t l i e s t À une passante La rue assourdissante autour de moi hurlait. Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, Une femme passa, d’une main fastueuse Soulevant, balançant le feston et l’ourlet; Agile et noble, avec sa jambe de statue. Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, Dans son oeil, ciel livide où germe l’ouragan, La douceur qui fascine et le plaisir qui tue. Un éclair… puis la nuit! – Fugitive beauté Dont le regard m’a fait soudainement renaître, Ne te verrai-je plus que dans l’éternité? Ailleurs, bien loin d’ici! Trop tard! jamais peut-être! Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!54
In seiner Besprechung dieses Sonetts, das zu den bekanntesten von Les fleurs du mal gehört, weist Benjamin darauf hin, dass die Menge keine
vor: »Dennoch aber – ja gerade nach solch dialektischer Verdichtung – wird dieser Raum noch Bildraum, und konkreter: Leibraum sein.« W. Benjamin: Der Sürrealismus, S. 215. 53 K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 132. 54 Ch. Baudelaire: »À une passante«, in: ders.: Œuvres complètes, S. 88f. 141
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soziale Kategorie ist, wie die marxistisch konzipierte, entfremdete Masse, worauf hingegen später im Essay referiert wird, z.B. in Bezug auf »Le vin des chiffonniers«.55 Bei der Deutung dieses Sonetts betont Benjamin vielmehr die Funktion der Menge als Motor einer Bewegung: »Keine Wendung, kein Wort, macht in dem Sonett ›À une passante‹ die Menge namhaft. Und doch beruht der Vorgang allein auf ihr, wie die Fahrt des Segelschiffs auf dem Wind beruht.«56 Auch das Bild der »Witwe« ist keineswegs die sozialpsychologische Allegorie des 19. Jahrhunderts. Vielmehr dient sie als Figuration einer »schleierhaft durch ihr stummes Dahingetragenwerden im Gewühl« plötzlich aufscheinenden unbekannten Gestalt, die »den Blick des Dichters« kreuzt. Benjamin fährt fort: »Die Entzückung des Großstädters ist eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick. Es ist ein Abschied für ewig, der im Gedicht mit dem Augenblick der Berückung zusammenfällt. So stellt das Sonett die Figur des Schocks, ja die Figur einer Katastrophe. […] Was den Körper im Krampf zusammenzieht – crispé comme un extravagant –, ist nicht die Beseligung dessen, von dem der Eros in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift; es hat mehr von der sexuellen Betroffenheit, wie sie einen Vereinsamten überkommen kann.«57
In Benjamins Essay folgt dann der Hinweis auf die Lektüre Baudelaires durch Proust und der Hinweis darauf, dass die unbekannte Passante die Albertine fugitive, jenes être de fuite inspiriert hat, an der sich die mémoire involontaire entzündet.58 Gemeint ist die unwillkürliche Erinnerung, durch die die Vergangenheit als »fantôme«, als verschwindende Anwesenheit wiederkehrt, so dass das erinnerte Bild erst durch die Schrift erzeugt wird.59 Benjamin wendet sich gegen die Interpretation des Szenarios der Großstadt von Thibaudet:60 »Dass ›diese Verse nur in einer Großstadt entstehen konnten‹, wie Thibaudet gemeint hat, will nicht viel
55 Vgl. Ch. Baudelaire: »Le vin des chiffonniers«, in: ders.: Œuvres complètes, S. 101f. Bohrer betont in einseitiger Weise die sozialen Motive dieses Sonetts. Vgl. ders.: Der Abschied, S. 96. 56 W. Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 130. 57 Ebd., S. 130f. 58 Ebd., S. 119f. mit Bezug auf Marcel Proust: À la recherche du temps perdu, Bd. IV, hg. von Jean-Yves Tadié, Paris: Gallimard 1989. 59 Vgl. V. Borsò: Proust und die Medien. 60 Vgl. Albert Thibaudet: Intérieurs: Baudelaire, Fromentin, Amiel, Paris: Plon 1924. 142
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sagen.«61 Eine solche Erscheinung jedoch wird dem Dichter von der Menge der Großstadt zugetragen, weil sie, die Erscheinung, gerade als ›Widerpart‹, als ›ein feindliches Element‹ der Masse ins Auge sticht, im Sinne von Roland Barthes’ Begriff des punctum.62 Soweit die Rekonstruktion der Thesen Benjamins. Karl-Heinz Bohrer entledigt sich rasch dieser – wie ich meine – zwar dichten, jedoch sehr genauen Rekonstruktion der eigentümlichen Zeiterfahrung durch Benjamin. Bohrer weist auf die Emphatisierung des Zeitverlustes und auf die psychologische Deutung des Schocks hin, den Benjamin zuvor unter Bezug auf Freuds Begriff der Durcharbeitung eingeführt hatte. Die psychologische Deutung wertet Bohrer als inhaltliche Allegorisierung ab. Was Bohrer seinerseits emphatisch dagegensetzt, ist gewiss richtig. Es geht ihm um die Betonung der Befindlichkeit des Flaneurs, der nicht passiv betroffen, sondern aktiv ist und die Erscheinung selbst produziert.63 Die Witwe komme dem Dichter nicht entgegen und sei nicht der Agens für eine psychologische Erfahrung des Ich. Vielmehr sei sie Teil der Figuration durch den Dichter, sie sei das »Zeichengitter der melancholischen Strukturierung von Wirklichkeit«.64 Die unzugängliche Hoheit der Erscheinung werde als Repräsentanz ästhetischer geistiger Werte hervorgehoben. Der Dichter konstituiere sich als ästhetische Wahrnehmungsgröße, etwa orgiastisch markiert am Ende des zweiten Quartetts »La douceur qui fascine et le plaisir qui tue«.65 Benjamin geht es keineswegs um die Markierung des Zeitverlustes. Um Benjamins ästhetische Strukturierung der Zeit zu deuten, muss man die Phänomenologie des Vergehens durch die Bewegung der Menge ernst nehmen. Die Masse ist wie der »Wind bei der Segelfahrt«, heißt es im Text Benjamins (s.o.). In der Tat ist die Zeitstruktur nicht die Allegorie des Vergangenen, wie Bohrer meint, sondern die ästhetische Rekonstruktion der Passage, des Vergehens selbst im Sinne der Paradoxie der Zeit, die eben noch gegenwärtig und schon wieder vergangen ist. Die Spur der Zeit bringt die Passage hervor und drückt sich in der Überlagerung der Gestalt aus: In der »jambe de statue« (s.o., Vers 5) überlagern sich die erstarrte, erhabene Tradition und das Bild der Beweglichkeit (»agilité«), und diese Überlagerung wird im kontrastreichen Rhythmus des ersten Quartetts betont. Hier ist auf die Retardation durch die Allite61 W. Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 119 mit Bezug auf Thibaudet: Intérieurs, S. 22. 62 Vgl. ebd., S. 119f. sowie Roland Barthes: La chambre claire, Paris: Gallimard 1980. 63 Vgl. K.-H. Bohrer: Der Abschied, S. 167. 64 Ebd. 65 Ebd. 143
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rationen der Nasale hinzuweisen, die den majestätischen, statuarischen Körper bilden und – im Kontrast dazu – auf den schnell skandierenden Rhythmus der in der letzten Zeile des Quartetts betonten Bewegung. So überlagert sich auch die Zeitstelle der Trauer mit dem sinnlich ondulierenden Kleidersaum und den weißen Spitzen (»ourlet«), und so weiter. Das Intervall zwischen dem gerade noch Anwesenden und dem schon Vergangenen – Benjamins Definition der »Passage« – ist weiter markiert im Terzett: »un éclair… puis la nuit« (s.o., Vers 9). Diese Zeitstruktur ist die Struktur der Moderne, wie sie auch nach Benjamin von der Ästhetik verantwortet wird. Gewiss insistiert Benjamin auf der materialistischen Inspiration, diese regt jedoch zur Produktion eines Bildraums an, in dem die Wirklichkeit sich selbst übertrifft. Der revolutionäre Künstler versucht sich in diesem Bildraum zu lokalisieren, so Benjamin mit Bezug auf den Surrealismus. Benjamins Ablehnung der These Thibaudets, in diesem Sonett sei die Masse der Großstadt abgebildet, ist im Sinne unserer Argumentation zu verstehen, denn die Menge interessiert Benjamin nur als Medium der Bewegung. Die Menge ist nicht die verfremdete Masse, sondern das bewegliche Umfeld – das Medium –, in dem die Tätigkeit des Bildens Wirklichkeit und Wahrnehmung neu strukturieren kann. Dieses Moment wird in »Kleine Geschichte der Photographie«66 und im Essay zur technischen Reproduzierbarkeit67 explizit betont, dem Essay übrigens, in dem die maschinelle Arbeit nicht mehr als Entfremdung, sondern als Chance gesehen wird, in der Wiederholung eigene Strukturierungen der Wirklichkeit hervorzubringen. Dieses mediale Moment der Menge wird vom akustischen Material des ersten Verses betont, das nicht etwa die entfremdete Masse abbildet, sondern das Umfeld des Reizes erst zur Erscheinung bringt. Diese Thesen beinhalten eine implizite Bildästhetik. Sie betont die Markierung der Differenzen in der Materialität und im Bildraum selbst, die nach Benjamin die technologischen Medien wie die Fotographie und insbesondere das Kino hervorbringen. Wenn wir nun auf die auch von Bohrer genannten freudschen Implikationen des Schocks im Essay »Über einige Motive bei Baudelaire« zurückkommen, so stellen wir fest, dass Bohrers These, der Hinweis auf Freud sei ein Indiz für die psychologisierende Interpretation Benjamins, ebenso unzutreffend ist wie auch der Vorwurf, die Definition des Schocks sei bei Benjamin vage.68 In »Über einige Motiven bei Baude66 W. Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1977, S. 368-385. 67 Ders.: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, 1978, S. 431-508. 68 Vgl. K.-H. Bohrer: Der Abschied, S. 102ff. und S. 164. 144
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laire« illustriert Benjamin den Schock mit Rückgriff auf die unwillkürliche Reminiszenz bei Proust. Dabei nimmt er Bezug auf den freudschen Begriff des Durcharbeitens. Hier stehen sich Schockerfahrung und Rationalisierung als entgegengesetzte, unvereinbare Tätigkeiten des Subjektes gegenüber. Die psychische Ökonomie führt zur Abwendung des Schocks mittels Rationalisierungen, die den Schock verdrängen und ihn als Erlebnis deuten. Erlebnis und Information sind das Gegenteil von Subjektivitätserfahrungen. Erst dann, wenn der Schock nicht rationalisiert wird, arbeitet die Imagination an der Erfahrung der Plötzlichkeit und der Katastrophe. Diese Arbeit konstruiert die Gegenwart nur im Modus der Nachträglichkeit, als Passage oder als Trauer, welche die Gegenwart nach dem Modus der Melancholie strukturiert. Das schockartig erinnernde Ich verfügt nicht vollständig über seine Vergangenheit und diese überlagert die Gegenwart als Spur. Die Alterität der mémoire involontaire, der unwillkürlichen Reminiszenz, bricht in das Subjekt ein. Diese Strukturierung der Zeit wird bei der Kritik deutlich, die Benjamin im gleichen Essay – im Zusammenhang mit dem Schock – an Bergsons Zeitbegriff ausführt. Als Leser von Baudelaire und Proust kritisiert Benjamin Henri Bergson, weil er mit dem vitalistischen Konzept der Intuition die Passage, d.h. die Zeitigung des Erinnerns, getilgt habe. Wenn Benjamin auf Freud zurückgeht, dann um den Unterschied zwischen mémoire volontaire und mémoire involontaire zu verdeutlichen und auf das nachträgliche und imaginative Moment der Erinnerungsbilder der mémoire involontaire hinzuweisen. Erinnerung sei keineswegs – so zeige Proust – eine Synthese von Geist (Gedächtnis) und Wahrnehmung (Materie) im Sinne einer Epiphanie der durée in der Gegenwart. Erinnerungen können vielmehr, wie sich an der unwillkürlichen Reminiszenz zeigt, eine zerstörerische, desidentifizierende Funktion haben. Die Gegenwart zerstört die Vergangenheit, wie auch die Imagination der Vergangenheit die Gegenwart instabil macht. Mit Bezug auf Horkheimer wirft Walter Benjamin Henri Bergson vor, seine Konzeption der durée habe den Tod immunisiert. Mit der Syntheseleistung der Intuition hebe Bergson die Fremdheit zwischen den Zeiten auf. Diese fließen aber im Gedächtnis aufeinander zu und bleiben different zueinander. Das innere Bild – so auch Bergson in Matière et mémoire69 – gilt als Materialisierung der zwar für sich selbst existierenden Objekte; die Dinge bestehen jedoch für den Menschen nur in dem Maße, in dem sie aufgenommen werden. Als flüchtige Produkte der mémoire involontaire sind die Bilder eine Bergung der Vergangenheit, in der ebenso viel Vergessen und Schatten wie Materiali-
69 Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein 1982. 145
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tät und Licht im Spiel sind. Die Erinnerungsbilder unterliegen nicht der Herrschaft des Subjekts.70 Spätestens hier entfernt sich die Beschreibung der Arbeit des Gedächtnisses vom bergsonschen Modell. In Über einige Motive bei Baudelaire wird die Erinnerung nicht als Vergegenwärtigung des Vergangenen, sondern als Vergegenwärtigung des Entzugs und des Vergehens bezeichnet. Das Erinnerungsbild ist anders als das synthetische Bild der Intuition, das Bergsons vitalistische Konzeption des Gedächtnisses als das Erinnerungsbild feiert, jenes Bild, das die Synthese zwischen den Zeiten in einer erfüllten Gegenwart schafft, das die Vergangenheit errettet und das ermöglicht, die Zukunft projektiv zu gestalten. Vielmehr wird hier die Entfernung zwischen den Zeiten und die Unvereinbarkeit der sich in der Wahrnehmung treffenden Räume unterstrichen, und es ist – der Metapher ähnlich – erst diese paradoxerweise ›nahe‹ Entfernung, die die Vision auslöst. Das Erinnerungsbild ist – nach der Terminologie Benjamins – weder nur Abbild noch ›nur‹ Bild. Es enthält etwas von der Flüchtigkeit und der Wiederholbarkeit des reproduzierten Abbildes sowie von der Einmaligkeit und der Aura des Bildes der Imagination und des Traums. Die Kritik Bohrers an Benjamins Baudelaire-Rezeption richtet sich, um es nochmals zu betonen, gegen die marxistisch geprägte Inhaltsästhetik, die u.a. mit Bezug auf die zugegebenermaßen kompromissvolle Ambivalenz mit marxistischen Thesen seitens Benjamin in Deutschland folgenreich war.71 In Nach der Natur zeigt Bohrers Lektüre von Baudelaire und Benjamin, welche zentrale Rolle Baudelaire für die gesamte Moderne einnimmt und wie verkürzt das Verständnis jener Moderne ist, die sich nicht auf Baudelaire, sondern auf die deutsche Philosophie gründet, sei sie Idealismus im Sinne Hugo Friedrichs oder Marxismus.
3 . Z u r i m p l i z i te n M e d i e n th e o r i e B a u d e l a i r e s: B au d e l a i r e m i t B e n j am i n g e l e se n LE GALANT TIREUR (XLIII) Comme la voiture traversait le bois, il la fit arrêter dans le voisinage d’un tir, disant qu’il lui serait agréable de tirer quelques bal70 Vgl. V. Borsò: Proust und die Medien. 71 Dolf Oehlers Baudelaire-Studien werden im Rahmen dieses Paradigmas immer wieder positiv hervorgehoben. Gleichwohl habe Oehler seine eigene Ablösung von Benjamin nicht genug markiert, so Bohrer abschließend. Vgl. u.a. Dolf Oehler: Die antibourgeoise Ästhetik des jungen Baudelaire. Untersuchungen zum ›Salon de 1846‹, Frankfurt/Main: Universität Frankfurt 1975. 146
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les pour tuer le Temps. Tuer ce monstre-là, n’est-ce pas l’occupation la plus ordinaire et la plus légitime de chacun? – Et il offrit galamment la main à sa chère, délicieuse et exécrable femme, à cette mystérieuse femme à laquelle il doit tant de plaisirs, tant de douleurs, et peut-être aussi une grande partie de son génie. Plusieurs balles frappèrent loin du but proposé; l’une d’elles s’enfonça même dans le plafond; et comme la charmante créature riait follement, se moquant de la maladresse de son époux, celuici se tourna brusquement vers elle, et lui dit: ›Observez cette poupée, là-bas, à droite, qui porte le nez en l’air et qui a la mine si hautaine. Eh bien! Cher ange, je me figure que c’est vous.‹ Et il ferma les yeux et il lâcha la détente. La poupée fut nettement décapitée. Alors s’inclinant vers sa chère, sa délicieuse, son exécrable femme, son inévitable et impitoyable Muse, et lui baisant respectueusement la main, il ajouta: ›Ah! Mon cher ange, combien je vous remercie de mon adresse!‹72
Die Figuration des Bösen als Ästhetik der Destruktion wird im Prosagedicht »Le galant tireur« aus Le Spleen de Paris metapoetisch inszeniert.73 Diesem Prosagedicht ist die paradoxale Semantik der Zeit gewidmet, die durch das Vergehen des Augenblicks die Schwelle zwischen Leben und Tod darstellt. Der Augenblick wird als Augenblick des Schusses einer Feuerwaffe inszeniert. Baudelaire bringt die Zerstörung mit dem Augenblick zusammen, und der Augenblick des Schusses wird im Zusammenhang mit der imaginativen Produktion gesehen. Das kursiv im Text markierte »je me figure que c’est vous« zeigt den destruktiven Willen der Imagination. Metapoetisch meint die Destruktion die Verabschiedung der mimetischen Funktion der Kunst (das Ich tötet das Abbild der Frau), die Zerstörung der Zeit als ewiger Zeit der Historie, die durch die Personifizierung (»Le Temps«) markiert ist, aber auch die Zerstörung des Augenblicks einer im ennui erstarrten ewigen Gegenwart. Darauf bezieht sich die Redewendung »tuer le temps«, auf die ebenfalls angespielt wird. Was aber hier besonders auffällt, ist die Technologie, die durch die Feuerwaffe indiziert ist. Der Akt der Zerstörung in der künstlerischen Produktion obliegt der Technik. Der Augenblick ist kreativ in der Reproduktion, wie
72 Ch. Baudelaire: »Le galant tireur«, in: ders.: Œuvres complètes, S. 297f. 73 Vgl. ebd. Meine Analyse des Prosagedichtes findet sch in V. Borsò: Die Aporie von Eros und Ich-Kult. 147
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im fotographischen shot.74 Der Augenblick erhält durch die Reproduktion eine andere Funktion. Dieses Prosagedicht zeigt die selbstreflexive Geste der modernen Kunst als Imagination der Zerstörung; eine Imagination, die, ironisch, auch die Zerstörung des Selbst impliziert. Denn die Schrift ist in diesem Prosagedicht eine mise en scène des Augenblicks als Passage zwischen eben Seiendem und nicht mehr Gewesenem. Wir haben in diesem Text die Erklärung für die longue durée der baudelaireschen Moderne: Es ist die Zeitstelle des Augenblicks einer zum Geschoss beschleunigten Zeit, jener modernen Zeit, die am Anfang des Textes etwa durch die nur noch in der Bewegung erfahrene Natur markiert wird (»Comme la voiture traversait le bois«, s.o.). Die Bewegung wurde im Laufe der Moderne zu einer Beschleunigung, die sich heute zu jener vorbeirauschenden Bilderflut steigern kann. Benjamin entdeckte dieses Prinzip bei Baudelaire, in der Phantasmagorie der Pariser Passagen und bei den Stadtromanen von Breton und Éluard. Angesichts der Katastrophe der Zeit muss der Künstler den Augenblick von neuem hervorbringen. Hier haben wir den Anschluss an die Medientheorie von Benjamin. Die mediale Kunst transformiert den Blick, sie öffnet ihn für fremde Räume, so könnte das ›Neue‹ des Massenmediums charakterisiert werden, das uns hier interessiert. Denn der Blick wird apparatgerichtet, und dies bringt »völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein«75, so Benjamin mit einem Zitat von Rudolf Arnheim. Im Paragraph zur Filmmontage geht Benjamin z.B. auf die Montage im weiteren Sinne ein: Kinematographische mise en scène, d.h. technisches Arrangement vor der Kamera und découpage vor allem im Bezug auf Großaufnahme sowie Kamerabewegungen wie Zeitlupenaufnahmen.76 Benjamin betont die Andersheit des Blicks des Apparats. Statt bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein zu bringen entdeckt der Blick der Kamera im Bekannten das ganz Unbekannte. Sowohl im Essay zur technischen Reproduzierbarkeit wie auch in »Kleine Geschichte der Photographie« weist Benjamin auf das fotographische Bild oder auf die kinematographische Großaufnahme wie auf einen menschenleeren »Tatort« 74 Zu Benjamin und einer Ästhetik der Medien vgl. V. Borsò: Medienkultur und dies.: Proust und die Medien. Auf die Reproduktion weist der Schuss der Waffe hin. Man denkt aber auch an den Schuss des Fotoapparates, ein Thema, das Cortázar und Antonioni aufgegriffen haben, etwa in dem auf Cortázars Kurzgeschichte »Las babas del diablo« basierenden Film Blow Up von Antonioni. Vgl. Julio Cortázar: »Las babas del diablo«, in: Obras completas, hg. von Saúl Yurkiévich, Bd. I., Barcelona: Galaxia Gutenberg 2003, S. 295-308, sowie Michelangelo Antonioni: Blow Up, USA 1966. 75 Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 461. 76 Vgl. ebd., S. 460f. 148
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hin, mit dem z.B. die Fotographie von Atget oft verglichen wird. Im Tatort befindet sich die Tat nur als Indiz, kann aber in die Präsenz der Bildfläche nicht eingeholt werden.77 Die mit dem Schock und den neuen Wahrnehmungsbedingungen für den Betrachter entstehenden Aufgaben seien »auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation«78 gar nicht zu lösen. Sie erfordern und fördern die taktile Rezeption und die Zerstreuung der Sinne. Zerstreuung meint auch Dissemination, denn der Aufnahmeapparat und die Technologie des Films machen die Phänomenologie eines einzigen Standpunkts unmöglich.79 Es obliegt also dem apparatgesteuerten Blick, jene andere, »dialektische Optik« zu vermitteln, die Benjamin im Bildraum der Surrealisten einforderte.80
4 . M i t B au d e l a i r e u n d B e n j a m i n : f ü r ei n e a n d e r e M o d er n e Jean-François Lyotard, der in La condition postmoderne den missverständlichen Begriff der Postmoderne als Verabschiedung der Moderne hervorgebracht hatte, distanzierte sich später selbst davon. Mit der Idee der Verabschiedung der Mastererzählungen führe man, so Lyotard, die Negationsgeste der Moderne und die Aporien ihres Aufklärungs- und Emanzipationsprojektes fort.81 Angesichts der Aporie des Verabschiedungsgedankens plädierte Lyotard für das Redigieren der Moderne im Sinne der freudschen Aufarbeitung. Denn man verlässt die Herkunft nicht; man befindet sich vielmehr im Intervall zwischen dem NichtMehr- und dem Noch-Nicht-Gewesenen. Diese auf Baudelaire zurückgehende Zeit- und Raumstruktur, die im Ästhetischen zu finden ist, begründet das lange Andauern der ästhetischen Moderne gegen alle Heraufbeschwörungen ihres Endes. Die von Baudelaire initiierte Moderne hat vielfältige Formen, doch ist ihre longue durée im Ort des Ästhetischen zu finden. Die Spuren dieser ›kritischen Moderne‹ sind nicht im Diskursiven zu suchen, sondern im Spielraum, den die Literatur aus dem nicht systematischen Denken, 77 Bohrer missversteht den Hinweis auf den Tatort seitens Benjamins als das gesellschaftliche Motiv eines Verschwörermilieus. Vgl. u.a. K.-H. Bohrer: Der Abschied, S. 96f. 78 W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 457. 79 Vgl. ebd. 80 Vgl. W. Benjamin: Der Sürrealismus, S. 213. Auch hier weist Benjamin auf die Fotographie hin, ebd., S. 206. 81 Vgl. J.-F. Lyotard: La condition postmoderne, Paris: Minuit 1979. 149
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aus der »Ver-Formung« der Philosophie für eigene Formen gewinnt, wie Ottmar Ette dies am Beispiel von Roland Barthes exemplarisch illustriert.82 Mit ›kritischer Moderne‹ ist jene irritierende epistemologische Haltung gemeint, die am Ende der Naturgeschichte mit der Verzeitigung und Historisierung sowie mit der Spaltung zwischen unendlichem Sein und endlichem Leben entsteht83, und die sich bis zur zweiten Moderne am Ende des 20. Jahrhunderts fortsetzt. Die Figuren dieser Moderne haben wir bei Baudelaire beobachtet. Es ist die Grenze, die als Grenze des Selbst im Schreiben neu markiert wird; die Paradoxie des Selbst- und Fremdbezugs, die sich am deutlichsten im Leib-Körper-Verhältnis ausdrückt, das Heterogene und das Lachen als ästhetische Form der Souveränität eines endlichen, d.h. dem Tode geweihten Subjektes. Gewiss verschieben sich in der zweiten Moderne, d.h. am Ende des 20. Jahrhunderts, die Akzente. So wird die im ausgehenden 19. Jahrhundert noch vorhandene Hoffnung auf Einheit und Transparenz zum Angedenken des fin de siècle an das nur im Entzug erfahrene Vergehende erhalten, wohingegen am Ende des 20. Jahrhunderts die Vielfalt, aber auch der Untergang aller Utopien, die Begrenzung des Selbst durch den Anderen in einem gemeinsam bewohnten, heterotopen Raum positiviert wird. Das ästhetische Programm der utopischen Moderne, das dem Dichterfürsten der Romantik, dem idealistischen Subjekt der poésie pure, dem revolutionären Wort der Avantgarden göttliche Macht verlieh und sich durch Negation des Vergangenen als Moderne definierte, hat sich gewiss ausgezehrt. Im Literarischen und Artistischen betont man am Ende des 20. Jahrhunderts die innige Verbindung von Utopie und Entzauberung. Utopie ist nur noch ein Text, der sich selbst verneint.
L i t e r at u r Antonioni, Michelangelo: Blow Up (Film), USA 1966. Aragon, Louis: Le paysan de Paris, Paris: Gallimard 1972. Barthes, Roland: La chambre claire, Paris: Gallimard 1980.
82 Vgl. Ottmar Ette: »Essais critiques. Roland Barthes und die Definition der Moderne(n)«, in: V. Borsò/B. Goldammer (Hg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden, S. 36-56. 83 Ich beziehe mich auf die Hauptthesen in der Einleitung zu Moderne(n) der Jahrhundertwenden und weise auf die Übereinstimmung mit Bohrers Lektüre der modernen Ästhetik von Baudelaire hin. Vgl. V. Borsò: »Einleitung«, in: dies./B. Goldammer (Hg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden, S. 11-22. 150
BAUDELAIRE, BENJAMIN UND DIE MODERNE(N)
Baudelaire, Charles: Œuvres complètes, hg. von Yves-Gérard Le Dantec und Claude Pichois, Paris: Gallimard 1971. Ders.: »De l’essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques«, in: ders.: Curiosités esthétiques. L’Art romantique et autres œuvres romantiques de Baudelaire, hg. von Henri Lemaitre, Paris: Garnier 1980, S. 241-263. Benjamin, Walter: »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, in: ders.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften, Bd. II, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1966, S. 200-215. Ders.: Über einige Motive bei Baudelaire, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969. Ders.: »Denkbilder. Ausgraben und Erinnern«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1. 1972, S. 400-401. Ders.: »Denkbilder. Der destruktive Charakter«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, 1972, S. 396-398. Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.1-V.2, hg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977-1982. Ders.: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.1, 1977, S. 203-435. Ders.: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1977, S. 368-385. Ders.: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, 1978, S. 691-704. Ders.: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, 1978, S. 431-508. Ders.: »Das Passagen-Werk«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V.2, 1982, S. 655-1063. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis, Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein 1982. Bernard, Suzanne: Le poème en prose de Baudelaire à nos jours, Paris: Nizet 1959. Bohrer, Karl-Heinz: Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik, München: Hanser 1988. Ders.: Der Abschied. Theorie der Trauer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996. Borsò, Vittoria: »Charles Baudelaire et la modernité en Amérique Latine«, in: Walter B. Berg/Lisa Block de Behar (Hg.), France – Amérique Latine. Croisement de lettres et de voies, Paris: L’Harmattan 2007, S. 55-80. Dies.: »Proust und die Medien: Écriture und Filmschrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit«, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.), Proust und die Medien, München: Fink 2005, S. 31-60.
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DAS ANDERE DENKEN, SCHREIBEN, SEHEN
Dies.: »›Zeitbild‹ – Bildräume. Visualität und Zeitlichkeit in Gustave Flauberts ›Salammbô‹«, in: Wolfgang Lange/Jürgen Paul Schwindt/ Karin Westerwelle (Hg.), Temporalität und Form, Heidelberg: Winter 2005, S. 197-220 (im vorliegenden Band S. 183-208). Dies.: »Medienkultur: Medientheoretische Anmerkungen zur Phänomenologie der Alterität«, in: Markus Klaus Schäffauer/Joachim Michael (Hg.), Massenmedien und Alterität, Frankfurt/Main: Vervuert 2004, S. 36-65 (im vorliegenden Band S. 261-297). Dies.: »Die Aporie von Eros und Ich-Kult: Zur Ästhetik von Charles Baudelaire«, in: Hans-Georg Pott (Hg.), Liebe und Gesellschaft. Das Geschlecht der Musen, München: Fink 1997, S. 121-138. Dies.: »Jean-Jacques Rousseau, Giacomo Leopardi, Charles Baudelaire: L’origine et l’autre dans la pensée moderne«, in: Reinhard Klesczewski/Uwe Baumann (Hg.), Penser l’Europe. Europa denken, Tübingen, Basel: Francke 1997, S. 125-143. Dies.: »Einleitung«, in: dies./Björn Goldammer (Hg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden, S. 11-22. Dies./Goldammer, Björn (Hg.): Moderne(n) der Jahrhundertwenden, Baden-Baden: Nomos 2000. Breton, André: Nadja, Paris: Gallimard 1975. Cortázar, Julio: »Las babas del diablo«, in: Obras completas, hg. von Saúl Yurkiévich, Bd. I., Barcelona: Galaxia Gutenberg 2003, S. 295308. Derrida, Jacques: L’écriture et la différence, Paris: Seuil 1967. Ette, Ottmar: »Essais critiques. Roland Barthes und die Definition der Moderne(n)«, in: Vittoria Borsò/Björn Goldammer (Hg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden, S. 36-56. Fahrenbach-Wachendorff, Monika: »Formale Aspekte der Lyrikübersetzung«, in: Bernd Kortländer/Hans T. Siepe (Hg.), Baudelaire und Deutschland – Deutschland und Baudelaire, S. 225-240. Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Macht der Philologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. Kortländer, Bernd/Hans T. Siepe (Hg.): Baudelaire und Deutschland – Deutschland und Baudelaire, Tübingen: Narr 2005. Kuhn, Irène: »›Marmorschön und dekadent‹: Die Anfänge der deutschen Baudelaire-Rezeption«, in: Bernd Kortländer/Hans T. Siepe (Hg.), Baudelaire und Deutschland, S. 169-184. Lyotard, Jean-François: L’enthousiasme. La critique kantienne de l’histoire, Paris: Galilée 1986. Ders.: La condition postmoderne, Paris: Minuit 1979.
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BAUDELAIRE, BENJAMIN UND DIE MODERNE(N)
Oehler, Dolf: Die antibourgeoise Ästhetik des jungen Baudelaire. Untersuchungen zum ›Salon de 1846‹, Frankfurt/Main: Universität Frankfurt 1975. Proust, Marcel: À la recherche du temps perdu, Bd. IV, hg. von JeanYves Tadié, Paris: Gallimard 1989. Schulz-Buschhaus, Ulrich: »Der problematische Fortschritt der Kunst bei Flaubert und den Goncourt«, in: Wolfgang Drost (Hg.), Fortschrittsglaube und Dekadenzbewußtsein im Europa des 19. Jahrhunderts. Literatur – Kunst – Kulturgeschichte, Heidelberg: Winter 1986, S. 127138. Thibaudet, Albert: Intérieurs: Baudelaire, Fromentin, Amiel, Paris: Plon 1924. Todorov, Tzvetan: »Poetry Without Verse«, in: Mary Ann Caws/Hermine Riffaterre (Hg.), The Prose Poem in France. Theory and Practice, New York: Columbia Univ. Press 1983, S. 60-78. Warning, Rainer: Die Phantasie der Realisten, München: Fink 1999. Witte, Bernd: Walter Benjamin, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997.
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PROPOSTE
DELLA LETTERATURA DEL
LEZIONI CALVINO*
PER IL NUOVO MILLENIO:
ITALO
NOVECENTO
A M E R I C A N E DI
La letteratura (e forse solo la letteratura) può creare degli anticorpi che contrastino l’espandersi della peste del linguaggio (I. Calvino: Lezioni americane)1
L a qu e r e l l e d i I tal o C al v i n o e l’archeologia dell’epistemologia moderna Nell’anno 1998, poco prima della fine del ventesimo secolo, Carla Benedetti pubblica Pasolini contro Calvino, Per una letteratura impura. L’opposizione tra Pasolini e Calvino è soprattutto una presa di posizione contro gli esperimenti formali della ›Neoavanguardia‹. Carla Benedetti, infatti, si riferisce alla poetica del reale sostenuta da Pier Paolo Pasolini e gli contrappone la letteratura suppostamene evasiva ed i giochi linguistici di Calvino.2 Fu proprio un articolo della stessa critica sul Corriere della *
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Saggio pubblicato in: AA. VV., La civile letteratura. Studi sull’Ottocento e il Novecento offerti ad Antonio Palermo, vol. II, Napoli: Liguori Editore 2002, pp. 373-392. Reproduzione con la gentile concessione della casa editrice. Italo Calvino: Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo millennio, Milano: Garzanti 1989, p. 58. A partire dal primo romanzo della trilogia, Il barone rampante (1957), la critica accusò Calvino di mancanza d’impegno, per rifugiarsi nella favola; Carlo Salinari: Preludio e fine del realismo in Italia, Napoli: Liguori 1967. Sulla ricezione di Calvino in Italia cfr. Cristina Benussi: Introduzione a Calvino, Roma, Bari: Laterza 1989. Su Italienisch ebbe luogo una vera querelle, cfr. Salvatore A. Sanna: »Italo Calvino (1923-1985)«, in: Italienisch 14 (1985), pp. 96-98; Gerhard Goebel-Schilling: »Calvino ovvero il cannocchiale aristotelico«, in: Italienisch 16 (1986), pp. 82-86; Ulrich Schulz-Buschhaus: »Palomars Introspektion«, in: Italienisch 18 (1987), 3843. Cfr. anche Gerhard Goebel-Schilling/Salvatore Sanna/Ulrich Schulz155
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sera (6 gennaio 1998) ad accendere un dibattito nel corso del quale Antonio Tabucchi dovette ricordare ai colleghi che, in seguito al linguistic turn, la opposizione tra realtà e forma, engagement e gioco, autenticità e artificialità non è più accettabile. Il dibattito sul caso Calvino sembra insinuare il ritorno sulla scena della critica, di un rapporto mimetico tra letteratura e realtà la cui rottura era stata un traguardo delle teorie estetiche del ventesimo secolo. Il ciò significherebbe che dovremmo prendere congedo dai postulati della modernità, che si era definita per la sua volontà di mettere in causa il passaggio tra linguaggio e mondo, forma e vita (Pirandello), discorsi e referente (poststrutturalismo), avendo scelto come tema non la mimesi della realtà, ma gli strumenti stessi della mimesi, ovverosia i dispositivi linguistici e visuali dell’elaborazione della realtà.3 Peraltro è vero che all’esempio del caso Calvino si può affrontare il bilancio dei contributi apportati dalla modernità alla cultura e letteratura attuali. È stato proprio Calvino che, con Lezioni americane, l’opera postuma, ci ha lasciato in eredità una serie di principi per il prossimo millennio le cui decisioni epistemologiche, pur riferendosi ad esempi dell’intera letteratura occidentale, appartengono alla modernità.4 Il quesito fondamentale che anima tutta la opera di Calvino concerne la responsabilità dello scrittore, uno scrittore che ha perso non solo l’orientamento delle idee forti ottocentesche5, ma anche il sostegno della trasparenza del linguaggio e del suo rapporto mimetico rispetto al mondo.6 È su questo
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Buschhaus (edd.): Widerstehen. Anmerkungen zu Calvinos erzählerischem Werk, Frankfurt/Main: Materialis 1990. Sulla letteratura moderna rimando all’imprescindibile studio di Antonio Palermo: Letteratura e contemporaneità, Napoli: Liguori 1985. Mi riferisco, ad esempio, al punto di partenza delle Lezioni americane che Calvino definisce nel senso dell’incontro tra astrazione e concrezione, negando pertanto sia la concezione mimetica che costruttivista della scrittura.; I. Calvino: Lezioni americane, p. 28. Le mie riflessioni cercano di chiarire il paradosso della scrittura di Calvino, un paradosso che, a mia opinione, è inscritto nella genealogia della modernità. Cfr. Antonio Palermo: »Il metodo delle lettere ovvero letteratura e società industriale«, in: Tra provincia ed Europa: Renato Serra e il problema dell’intellettuale moderno, a cura di Fausto Curi, Bologna: Il Mulino 1984, pp. 265-285. Sui problemi della leggibilità del mondo cfr. Helene Harth: »Die Entzifferung der Phänomene«, in: Zibaldone 1 (1986), pp. 27-47, e Helene Harth/Burkhard Kroeber/Ulrich Wyss: »Die Welt ist nicht lesbar, aber wir müssen gleichwohl versuchen, sie zu entziffern. Ein Gespräch mit Italo Calvino«, in: Zibaldone 1 (1986), pp. 5-17. In Lezioni americane Calvino esprime, all’esempio del mito di Perseo, sul problema della responsabilità dello scrittore e della necessità di un impegno ›indiretto‹: »È sempre in un 156
PROPOSTE DELLA LETTERATURA DEL NOVECENTO
sfondo e sotto la guida dei principi studiati in Lezioni americane che, con le mie seguenti riflessioni, ritorno alle opere di Calvino. Nonostante il fatto che la preoccupazione di Calvino rispetto all’impegno dello scrittore sia riconosciuta come uno dei nuclei centrali dell’opera7, nel Corriere della sera si lessero le seguenti critiche: privilegiando la letteratura fantastica e, quindi, la combinatoria del gioco, gli inganni ed i labirinti del (neo)barocco, Calvino avrebbe prodotto una letteratura ›disumanizzata‹, un universo di discorsi cibernetici che ha eliminato l’elemento umano. Con giudizi che forse tradiscono un sentimento d’inferiorità rispetto al francocentrismo culturale, si adduce l’eresia Calviniana all’influenza del gruppo poststrutturalista della rivista Tel Quel, specialmente a Roland Barthes e Michel Foucault, con i quali Calvino alla fine degli anni sessanta era entrato in contatto a Parigi. Ma non mancano altri ›disertori della realtà‹, gli autori del Nouveau Roman ed il gruppo OuLiPo che avreb-
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rifiuto della visione diretta che sta la forza di Perseo, ma non in un rifiuto della realtà del mondo dei mostri in cui gli è toccato di vivere, una realtà che egli porta con sè, che assume come proprio fardello«; I. Calvino: Lezioni americane, p. 7. L’impossibilità di leggere il mondo deriva dalla ricerca dal senso del vivere (il »peso del vivere«; ivi, p. 28), al di là della realtà intelligibile. È un senso inteso fenomenologicamente, la cui intransitività proviene dalla contingenza vissuta, questione chiave della filosofia fenomenologica. Cfr. Aldo Masullo: Filosofie del soggetto e diritto del senso, Genova: Marietti 1990. Con una nuova lettura di Il barone rampante alla luce dell’analisi storica e epistemologica divenuta più esplicita nelle opere posteriori, Ulrich SchulzBuschhaus dimostra la portata etica dell’›impegno distante‹ di Calvino, dallo scrittore stesso commentata rispetto al secondo romanzo della trilogia. Nel suo saggio Calvino si riferisce alla ›parola d’ordine rivoluzionaria‹ di Gramsci ›pessimismo dell’intelligenza, ottimismo della volontà‹ che sceglie come base della sua etica letteraria: »La letteratura che vorremmo veder nascere dovrebbe esprimere nella acuta intelligenza del negativo che ci circonda la volontà limpida e attiva che muove i cavalieri negli antichi cantari o gli esploratori nelle memorie di viaggio settecentesche«; Italo Calvino: »Il midollo del leone«, in: Idem: Una pietra sopra. Discorsi di letteratura e società, Torino: Einaudi 1980, p. 15. Ulrich Schulz-Buschhaus interpreta il romanzo in base a questa decisione che, ne Il barone rampante, unirebbe il pessimismo storico (la caduta finale del protagonista sparito verso il mare) e l’ottimismo della volontà rappresentato dalla allegoria settecentesca del personaggio, come dalle allegorie cavalleresche degli altri romanzi della trilogia; U. Schulz-Buschhaus: Palomars Introspektion, p. 44. 157
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bero influenzato lo scrittore italiano.8 Si ricordano naturalmente anche le prove ›storiche‹ della mancanza d’impegno, come l’ambivalenza politica di Calvino che proprio con la scelta dei mondi allegorici e fiabeschi della trilogia I nostri antenati, esattamente lo stesso anno in cui si pubblica Il barone rampante (1957)9, lascia il partito comunista e si distacca apertamente dal neorealismo, sappiamo oggi con validi argomenti critici rispetto all’ideologia di una estetica normativa, riduttrice ed escludente.10 Agli ideologi della littérature engagée ricordano i sostenitori di Calvino che, dopo la caduta degli ideali ottocenteschi e dei concetti forti di ›realtà‹, ›individuo‹ e ›storia‹, il rapporto con il reale non può più esistere che in forma di frammento.11 È stato Walter Benjamin a mostrare nella
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Si ricorda che Calvino visse a Parigi dal 1967 al 1980. Già dal 1968 frequenta Raymond Queneau ed altri membri dell’OuLiPo (Ouvroir de littérature potentielle), una emanazione del Collège de Pataphysique di Alfred Jarry. Nel 1971 diventa membre étranger del gruppo. Nel 1967 traduce I fiori Blu di Queneau e pubblica il saggio »Appunti sulla narrativa come processo combinatorio (Nuova Corrente)«. Nel capitolo sulla ›Molteplicità‹ considera Georges Perec come »il più inventivo dei partecipanti dell’OuLiPo« per aver unito il rigore della scrittura (esattezza terminologica delle sue ›collezioni di parole‹, cognizioni, ricordi etc.) e libertà narrativa; I. Calvino: Lezioni americane, p. 119. 9 Cfr. »Il comunista dimezzato, intervista a Carlo Bo«, in: L’Europeo 28 agosto 1960. 10 Antonio Palermo ha mostrato con tutta chiarità quanto sia stato escludente il criterio della delimitazione della letteratura neorealista a partire dal nucleo tematico della resistenza e comunque da criteri di critica sociale sopravvenuti nel dopoguerra, cfr. Antonio Palermo: »Nascita e morte del neorealismo«, in: Wissenschaftstradition und Nachkriegsgeschichte in Italien und Deutschland, a cura di Karl-Egon Lönne, Düsseldorf: PatmosSchwann 1987, pp. 180-190. Cfr. anche Maria Corti: Il viaggio testuale, Torino: Einaudi 1978. Per una rilettura del neorealismo partendo dall’epistemologia del tardo Calvino cfr. Lucia Re: Calvino and the Age of Neorealism: Fables of Estrangement, Stanford: UP 1990. 11 Anche il ›reale‹ della poetica di Pasolini non può essere inteso che come avvicinamento al mondo reale in forma di frammento o di rottura ironica; cfr. Peter Kuon: Lo mio maestro e ‘l mio autore. Die produktive Rezeption der Divina Commedia in der Erzählliteratur der Moderne, Franfurt/Main: Klostermann 1993; cfr. Vittoria Borsò: »Pasolinis Decameron oder eine kinematographische ›Divina Mimesis‹ – Mediale Schwellen zwischen Malerei und Film«, in: Kino-(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, a cura di Jochen Mecke e Volker Roloff, Tübingen: Stauffenburg 1999, pp. 355-374 (nel volume presente p. 233-260); anche Vittoria Borsò: »Corps et créature chez Pasolini«, in: Literalität und Körperlichkeit/ 158
PROPOSTE DELLA LETTERATURA DEL NOVECENTO
sua analisi della frattura dei valori essenziali che non resta che la contingenza e l’arbitrarietà dei valori scambio trasportati dal linguaggio del mercato. Con l’arbitrarietà del linguaggio siamo entrati in un nuovo paradigma: È la perdita della transitività verso il mondo e l’incontro dell’alterità del soggetto, un’alterità che, a partire dagli anni sessanta, nella cosiddetta società postindustriale fu riferita anche agli strumenti epistemologici.12 Ed è questa alterità che Italo Calvino rappresenta tramite la figura del Visconte dimezzato (1952), il protagonista del primo romanzo della trilogia I nostri antenati (1960). L’opera di Calvino è impregnata da uno studio della genealogia della modernità. È una modernità, sia inteso, discontinua, il cui germe entra a far parte dell’epistemologia a partire dal tardo Settecento, ma che viene anticipata dalla perdita dell’armonia cosmologica nel tardo rinascimento, perdita la cui rappresentazione ironica da parte dell’Ariosto fu congeniale a Calvino. È questo peraltro il contesto storico del Visconte dimezzato. Ma anche nel secondo romanzo della trilogia, Il barone rampante (1957), l’armonia tra uomo e natura non può più esistere che in forma di una insicura utopia. Il protagonista del romanzo è lo straordinario emblema della forma moderna, instabile, in cui l’uomo può pensare una simbiosi con la natura. Figura di passaggio tra monarchia e democrazia nel contesto della rivoluzione francese, il barone segnala il momento della transizione a una nuova era la cui storia non potrà più essere di ›ordine naturale‹.13 Littéralité et Corporalité, a cura di Günter Krause, Tübingen: Stauffenburg 1997, pp. 103-120. 12 Rispetto all’»Io diviso di Italo Calvino« cfr. Mario Barenghi: »Italo Calvino e i sentieri che s’interrompono«, in: Quaderni Piacentini 15 (1984), pp. 127-150, e Vittorio Spinazzola: »L’io diviso di Italo Calvino«, in: Belfagor 42 (1987), pp. 509-531. Complesso è il problema della conoscenza se si considera l’alterità del soggetto. Cfr. la già citata querelle (cfr. nota n. 3). 13 Mi riferisco alla conosciuta tesi di Wolf Lepenies che ha mostrato che, dopo la frattura del Settecento, la storia è uscita dall’ordine continuo e cosmico della natura; Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte: Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978. Come fa notare Bernhard Waldenfels, si tratta di un lungo processo che comincia a manifestarsi alla fine del settecento e arriva a compimento nel novecento. È un processo dovuto alla segmentazione del sapere e alla pluralità della ragione che frammentano la catena dell’essere e portano alla scoperta dell’alterità come elemento costitutivo del soggetto; Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Waldenfels ricorda che la fenomenologia prende nota dell’alterità considerando non solamente il suo manifestarsi, ma anche il luogo ed il momento in cui si manifesta. Per la trasformazione della frattura 159
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La simbiosi del barone con la natura è un capovolgimento delle leggi di natura, le leggi di gravità che legano la vita dell’uomo al suolo. L’immagine del barone sugli alberi è però anche il capovolgimento delle norme del progresso storico che allontanano l’uomo dallo stato precivilizzatorio delle origini e dalle condizioni esistenziali dei suoi antenati. Il ritorno alla natura non può più essere che ›eccentrico‹, un principio di cui Charles Baudelaire farà la condizione moderna della percezione stessa della natura. Il barone è infatti uno degli ›eccentrici‹ settecenteschi che hanno aperto l’immaginazione a un nuovo capitolo della storia che assumerà l’obiettivo di superare ogni limite, come lo esprime Calvino nel capitolo sulla ›Leggerezza‹ con l’immagine del volo del Barone di Münchhausen su di una palla di cannone.14 La metafora del barone sugli alberi è una allegoria dei sogni del progresso della ragione, ma è anche un’allegoria che, nella materializzazione dell’immagine, rispecchia ironicamente sia l’ambizione dei sogni di ascesa dell’uomo moderno, dovuta alla crescita ed alla ramificazione del suo sapere, che il rischio continuo di cadere dall’albero della ragione.15 Non è un caso che con questo ro-
tra uomo e natura nella poesia moderna cfr. V. Borsò: »Temporalità e alterità. Il nuovo rapporto tra uomo e natura nella poesia moderna«, in: Il concetto di tipo fra l’ottocento ed il novecento, a cura di Domenico Conte, Napoli: Liguori 2001, pp. 1-19. A questa frattura si riferisce Calvino in Palomar. »Sarà perché questo affollarsi del cielo ci ricorda che l’equilibrio della natura è perduto? O perché il nostro senso di insicurezza proietta dovunque minacce di catastrofe?«; Italo Calvino: Palomar, Torino: Einaudi 1983, p. 64. 14 Cfr. I. Calvino: Lezioni americane, p. 25. 15 Al contempo, nella situazione esistenziale eccentrica, emblematica per il filosofo dell’illuminismo, il barone esercita il sapere, la tolleranza e la socialità in un modo più naturale di che resta nella norma. Il barone è l’eccentrico settecentesco, portatore di un sapere nuovo. Oltre al senso dell’utopia dell’intellettuale che necessita distanza critica dal mondo (Ulrich Schulz-Buschhaus, »Italo Calvino und die Poetik des ›Barone rampante‹«, in: Italienisch 20 (1988), pp. 39-55), come lo sottolinea Calvino stesso nella sua definizione della scrittura, è necessario osservare la materialità dell’immagine utopica. Essendo fortemente umoristica, l’immagine dell’utopia implica lo sdoppiamento e quindi la riflessione sulla possibilità della sua caduta. Calvino situa su un piano di ironia metaculturale l’umorismo che Luigi Pirandello riferisce alla rappresentazione, raggiungendo ciò nonostante dimensioni metalinguistiche e metaculturali, specialmente a partire dal cosiddetto metateatro e nell’ultimo romanzo Uno, nessuno, centomila. Sul parallelo tra Calvino e il metateatro di Pirandello (Sei personaggi in cerca d’autore) cfr. Giuditta Isotti Rosowsky: »Un lec160
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manzo Calvino ponga l’accento sui sogni settecenteschi del progresso e sulla necessità di una visione eccentrica dei ›doxa‹ della ragione. Con uno scarto storico – esattamente rintracciato dallo scrittore attento alla storicità dei fenomeni –, ritroveremo la stessa topologia negli scritti successivi, ove la cosiddetta ›seconda modernità‹, ovverosia l’epoca postindustriale, diventerà il tema esplicito dei suoi scritti. Ritroviamo l’uomo moderno decaduto. In seguito al fallimento anche delle utopie del progresso sia ottocentesche che moderne il soggetto eroico non può più essere che maldestro, dualistico, decentrato, fenomeno noto sin dalla condizione umana delle maschere Pirandelliane. Se nel terzo romanzo della Trilogia, Il cavaliere inesistente (1959), Calvino aveva scelto l’allegoria dell’armatura vuota, nel secondo decennio della sua scrittura, i protagonisti della prosa Calviniana saranno soggetti decentrati e figure secondarie, anch’esse impregnate di umorismo. Il manovale Marcovaldo (Marcovaldo ovvero Le stagioni in città, 1963) inizia la serie dei marginati sociali, degli outsider eccentrici, focalizzatori di una visione straniante rispetto alla cosiddetta normalità. È quella visione obliqua che, in Lezioni americane, lo scrittore attribuirà a Perseo, vincitore della Gorgone, per non averla fissata negli occhi, servendosi infatti dell’immagine riflessa nello scudo di bronzo, »un’immagine catturata da uno specchio«16. L’eroismo, di cui il nome di Marcovaldo porta ancora le tracce, si troverà nella piccolezza, nel cotidiano, ma anche nella stranezza. Con Marcovaldo si denunciano – su un piano allegorico – i miti moderni.17 I racconti di Marcovaldo ovvero Le stagioni in città mettono in questione l’utopia antropologica del buono nella natura, l’etica con la quale il Settecento reagisce contro quell’alienazione che, sin dall’inizio, accompagnò l’idea di una storia provvidenziale appoggiata sul progresso e che, prescindendo dal senso del vivere, riduceva la vita umana ad una astrazione. Con Marcovaldo si scopre da un lato che il mito della natura persiste nella società moderna e dall’altro che, contrariamente al mito, non esiste nessun luogo, nessuna utopia esente dal male. Il male è inerente al bene. Una delle immagini più espressive è quella dei funghi bianchi velenosi, genuini prodotti della natura che spuntano dal suolo nel parco notturno della città teur parmi d’autres: L’auteur à propos d’un roman de Calvino«, in: HorsCadre: Le Cinéma à travers champs disciplinaires 8 (1990), pp. 133-145. 16 I. Calvino: Lezioni americane, p. 6. Come scelta metodologica, Calvino si lascia guidare dalla meterializzazione del mito di Perseo, arrivando a considerare la visione indiretta, mediatizzata dall’immagine riflessa da uno specchio, come l’unico modo di guardare la realtà: »e spinge il suo sguardo su ciò che può rivelarglisi solo in una visione indiretta« (ibidem). 17 Rinvio in questo contesto allo studio di Antonio Palermo relativo a Corrado Alvaro: I miti della società, Napoli: Liguori 1967. 161
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come fossero la veste candida della natura nel mezzo della contaminazione cittadina (»Funghi in città«). E sono le ambizioni borghesi ad essere castigate dalla logica del racconto, ambizioni che sottopongono anche il personaggio di Marcovaldo al principio del consumismo.18 Dietro le caratteristiche neorealiste della figura, il messaggio metalinguistica e metaculturale di Calvino si fa sempre più palese: l’essenza della realtà moderna è mitica.19 Ed è già qui che Calvino preannuncia la sua poetica del gioco con le forme. Con la eccentrica figura di Marcovaldo vengono denunciate le forme culturali delle società moderne. In »La sfida al labirinto«, il saggio centrale degli anni sessanta pubblicato sul numero 5 del Menabò (1962), Calvino elabora su un piano teorico i problemi della pluralità della ragione e dell’arbitrarietà del mondo moderno. Un Teseo abbandonato, privo del filo conduttore di concetti forti, accetta la sfida di un labirinto moderno. Già qui si osserva il profondo impegno di Calvino ed il suo distacco dalle formule ciniche che accompagnano certe manifestazioni neoavanguardiste del Gruppo 63 e quella postmodernità adattata a vivere un’esistenza che si esaurisce in labirinti discorsivi. Calvino rifiuta l’evasione nella virtuosità astratta della combinatoria linguistica ove si ha abbandonato la ricerca del reale. L’antidoto con cui combatte il veleno dell’astrazione discorsiva diventa il ripetuto filo conduttore della sua lotta contro il labirinto: la varietà ed il ›peso‹ dell’esistenza. Nella sua opera riscontriamo infatti il ritorno di uno stesso principio: quanto più il gioco dei discorsi si fa intenso, tanto più percettibile diventa la consistenza dell’esistente e del reale che i discorsi escludono, ma che la materializzazione delle immagini riporta nel linguaggio.20 In questo conflitto fra la consistenza ovverosia la molteplicità
18 Lo stesso vale anche per altri racconti, per es. »Il coniglio velenoso«. In una società nella quale tutti sono compromessi e contaminati dalla mitologia del consumo è l’animale ad esprimere »il peso dell’esistenza«, tale la fine del racconto in Italo Calvino: Marcovaldo ovvero Le stagioni in città, Milano: Mondadori 1993, pp. 63-65. 19 Roland Barthes: Mythologies, Paris: Seuil 1955. La tematica metalinguistica e metaculturale dei racconti si può esemplificare con »Luna e Gnac«. È un racconto su come leggere i segni, sia quelli cosmologici e ›naturali‹ (Marcovaldo vorrebbe spiegare l’universo ai suoi figli) che quelli culturali (GNAC è la parte della scritta al neon COGNAC che, per Marcovaldo, esclude la vista del cielo). Anche qui Marcolvaldo si sbaglia credendo nel mito della natura, mentre il racconto insegna che anche la lettura del cielo stellato passa per mitologemi. 20 A proposito del mito di Perseo dice Calvino: »Ma so che ogni interpretazione impoverisce il mito e lo soffoca: coi miti non bisogna aver fretta; è meglio lasciarli depositare nella memoria, fermarsi a meditare su ogni det162
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del vivente, e le combinatorie del labirinto discorsivo – un conflitto che riprende su di un piano ›postmoderno‹ il conflitto tra vita e forma che anima l’umorismo di Pirandello – troviamo un importante principio della scrittura Calviniana. Ed è proprio l’umorismo dei personaggi che li fa diventare corpi viventi pur essendo allegorie di posizioni epistemologiche prive di coerenza mimetica. Dal maldestro manovale del principio degli anni sessanta all’intellettuale miope di venti anni più tardi, il Palomar che nasce dalla fantasia dello scrittore due anni prima della sua morte: tutte le figure nate nell’arco di venti anni lasciano intravedere qualcosa che, con un concetto fenomenologico, si può chiamare il corpo vivente, il leib. La ricerca del corpo vivente è, a mia opinione, un forte leitmotiv anche delle lezioni che Calvino ci lascia in eredità.
L a b i f o r c az i o n e d el l a sc r i tt u r a : L e zi o n i a m e r i c a n e 21 Calvino denomina le lezioni che avrebbe dovuto tenere alla Harvard University nell’inverno del 1985/1986 Six Memos for the Next Milennium. Lo avevano preceduto nell’ambito delle famose Norton Lectures scrittori e personalità come T. S. Eliot, Igor Stravisnky, Jorge Luis Borges, Northrop Freye, Octavio Paz. Calvino avrebbe dovuto essere il primo scrittore italiano ad avere questo onore. Muore nella notte dal 18 al 19 Settembre 1985. I singoli capitoli delle lezioni riguardano principi estetici che Calvino considerava come ›profetici‹ per il secondo Millennio:
taglio, ragionarci sopra senza uscire dal loro linguaggio di immagini. La lezione che possiamo trarre da un mito sta nella letteralità del racconto, non in ciò che vi aggiungiamo noi dal di fuori«; I. Calvino: Lezioni americane, p. 6. Questa oppostone tra senso simbolico e senso letterale si riporta alla estetica ›poststrutturalista‹, ad esempio di un Roland Barthes. Un modello esplicativo dello spazio inquietante dell’estetica di Calvino è inoltre Michel Foucault, non solo per il concetto di ›eterotopia‹ (cfr. nota n. 38), ma anche rispetto alla differenza tra la letteralità che risiede nel ›senso letterale‹ del testo ed il senso simbolico. Secondo Foucault, è nel ›senso letterale‹, nella densità del corpo della scrittura, che si esprime il rapporto dell’io con la propria corporalità. Cfr. Michel Foucault: »L’écriture de soi«, in: Corps écrit 5 (Autoportrait), febbraio 1983, pp. 3-23, anche in Dits et ecrits, vol. IV, a cura di Daniel Defert et François Ewald, Paris: Gallimard 1994, pp. 415-430. 21 Per uno studio di Lezioni americane cfr. Emanuele Zinato: »Note sull’eredità di Calvino«, in: Il Ponte 47, 7 (1991), pp. 104-115. 163
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1.Lightness / Leggerezza 2.Quickness / Rapidità 3.Exactitude / Esattezza 4.Visibility / Visibilità 5.Multiplicity / Molteplicità 6.Consistency / Consistenza22 Lezioni americane sono una specie di archivio del potere magico della letteratura occidentale, dai classici al ventesimo secolo. Un importante principio dell’estetica Calviniana illustrato nei vari esempi si può riassumere con la tesi seguente: l’arte sorge dal conflitto drammatico tra la libertà dell’immaginazione ed il peso del reale vivente. Calvino inizia con la ›leggerezza‹, illustrando il vecchio e magico potere dell’immaginazione di ›ridurre il peso‹, elevandosi al di là della forza di gravità ed avvicinando cose distanti ed eterogenee, incompatibili nel mondo della realtà. La leggerezza è il desiderio di superare i limiti spaziali che sono soprattutto i limiti del corpo. Ma la leggerezza sola non basta a far scaturire la scrittura. Se i viaggi dell’immaginazione sono la fonte dell’arte, è perché la leggerezza è contraddetta dal contrario: il peso del reale e la coscienza dell’impossibilità di superarlo. È così che Calvino intende il detto di Paul Valéry, uno dei teorici più illustri della poesia moderna: »Il faut être léger comme l’oiseau, et non comme la plume.« Bisogna essere leggeri come un uccello, che è capace di elevarsi in volo malgrado la gravità di un corpo che lo manterrebbe al suolo. Il principio del contrario, al quale avevamo già accennato con il conflitto tra vita e forma, è la fonte dell’arte, e non la sostituzione di una realtà per un’altra, alla quale allude il paragone con la piuma anche nel senso dello strumento dello scrittore. Le descrizioni ›naturalistiche‹ della Divina Commedia sono impressionanti immagini sia della mancanza di gravità che della corporeità23, effet-
22 Voleva scrivere il capitolo »Consistency« in Harvard. Prevedeva di trattare Bartleby the scrivener di Hermann Melville (pubblicato nell’anno 1856 nella collezione The Piazza Tales). 23 »Quando Dante vuole esprimere leggerezza, anche nella Divina Commedia, nessuno sa farlo meglio di lui: ma la sua genialità si manifesta nel senso opposto, nell’estrarre dalla lingua tutte le possibilità sonore ed emozionali e d’evocazione di sensazione, nel catturare nel verso il mondo in tutta la varietà dei suoi livelli e delle sue forme e dei suoi attributi«; I. Calvino: Lezioni americane, p. 16 sg. Più avanti, nel considerare il rapporto tra Dante e Cavalcanti dice: »Forzando un po’ la contrapposizione potrei dire che Dante dà solidità corporea anche alla più astratta speculazione intellettuale, mentre Cavalcanti dissolve la concretezza dell’esperienza tangibile in versi 164
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to simile alla dialettica tra Don Quijote e Sancho Pancha dove è il conflitto tra il desiderio di trascendenza dello Hidalgo e la consistenza del corpo terreno del servitore a dar vita eterna al romanzo. Proprio nel considerare questa contraddizione, Calvino arriva al motore dell’arte, la melanconia, tema indiretto del secondo capitolo dedicato alla »Rapidità«. Lo scrittore confessa di sentirsi attratto dagli dei del Olimpo, sia da Mercurio, il dio dell’azione e rapido messaggero degli dei, che da Vulcano, il dio del fuoco. Ma la sua divinità congeniale è ovviamente Saturno: »Sono sempre stato anch’io un saturnino, qualsiasi maschera diversa abbia cercato d’indossare. Il mio culto di Mercurio corrisponde forse solo a un’aspirazione, a un voler essere: sono un saturnino che sogna di essere mercuriale, e tutto ciò che scrivo risente di queste due spinte«.24 Già nel contesto della ›leggerezza‹ aveva accennato – come Walter Benjamin che non nomina in questo contesto – a »quella speciale connessione tra melanconia e umorismo« studiata da Klibansky, Panofsky e Saxl.25 La contraddizione che proviene dalla dualità del melanconico è fonte dell’arte, ed è un’arte che unisce la melanconia alla risa. Tramite l’umorismo la melanconia perde di peso, sottolinea Calvino; l’umorismo fa sì che la pietra di Sisifo diventi sabbia, l’ultimo stadio della molteplicità delle cose.26 Sul cammino verso il nuovo millennio ci viene offerta la figura del ›cavaliere del secchio‹ Kafkiano. È un cavaliere moderno, che in cerca di un po’ di carbone viene cacciato dalla moglie del commerciante a mo’ di mosca e che, quindi, con la rapidità delle mosche, si mette a cavalcare il secchio arrivando al di là delle Montagne di Ghiaccio.27 Il secchio vuoto, ›segno di privazione‹, trasformato dalla scrittura, simbolizza aspetti contrari: sia la sciagura del 1917, anno di guerra, che il desiderio e la ricerca di superarla.28 La leggerezza è l’altra parte della medaglia del peso dell’esistenza. Solo quando la medaglia, per mezzo del ›sentimento del contrario‹, si vede interamente, se ne ha il valore: »Credo che sia una costante antropologica questo nesso tra levitazione desiderata e privazione
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dal ritmo scandito, sillabato, come se il pensiero si staccasse dall’oscurità in rapide scariche elettriche«; ivi, p. 17. Ivi, p. 51. Ivi, p. 21. Cfr. ibidem. »Non è una melanconia compatta e opaca, dunque, ma un velo di particelle minutissime d’umori e sensazioni, un pulviscolo d’atomi come tutto ciò che costituisce l’ultima sostanza della molteplicità delle cose«; ibidem. Cfr. ivi, p. 30. È così che Calvino interpreta il senso della quête dei cavalieri erranti; ivi, p. 30. 165
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sofferta. È questo dispositivo antropologico che la letteratura perpetua«.29 Calvino è cosciente di quanto sia importante questa osservazione, alla fine del ventesimo secolo, nel contesto delle trasformazioni tecnologiche a cui lo scrittore è sempre stato attento.30 Calvino sottolinea la consistenza ed il peso del reale vissuto anche come contrappeso alla tendenza verso il virtuale delle reti digitali e definisce la scrittura come ›inseguimento perpetuo delle cose‹: »Devo imboccare questa strada? Ma la conclusione che mi attende non suonerà troppo scontata? La scrittura modello d’ogni processo della realtà … anzi, unica realtà conoscibile … anzi, unica realtà tout-court … No, no mi metterò su questo binario obbligato che mi porta troppo lontano dall’uso della parola come io la intendo, come inseguimento perpetuo delle cose, adeguamento alla loro varietà infinita.«31
Se la leggerezza si riferisce al superamento dei limiti dello spazio e del corpo, il principio della ›rapidità‹ si riferisce al tempo ed alla temporalità che Calvino prende in considerazione sia nel senso di un principio della coscienza che come elemento ritmico della narrazione. Sappiamo dalla narratologia che la combinazione e l’ordine delle cose e delle azioni nel ritmo della narrazione è un importante elemento dell’estetica romanesca. Calvino illustra questo principio con un esempio proveniente dal continente ispanoamericano. Si tratta di un miniracconto di Augusto Monteroso, lo scrittore guatemalteco, residente in Messico, una della short stories più virtuose della letteratura universale, un racconto che consiste in una sola frase: »Cuando despertó, el Dinosaurio todavía estaba allí.«32 Il principio estetico di questo racconto è la combinazione di due spazi temporali che per il ritmo del discorso narrativo vengono ad incontrarsi nel semplice avverbio temporale ›cuando‹. Il momento dello svegliarsi è la soglia sulla quale il lettore è in grado di prendere coscienza di due (gigantesche) epoche storiche. L’arte di questo racconto è, ovviamente, »la massima concentrazione della poesia e del pensiero«, ovverosia la concisione, che fa sognare a Calvino »immense cosmologie, saghe ed
29 Ivi, p. 28. 30 Calvino adduce la rafforzata produzione di mondi immaginari durante il Settecento alla scoperta della forza di gravità da parte di Newton e quindi alla consequente ricerca del principio contrario da parte della letteratura. Anche la scoperta della luna è uno scarto epistemologico fondamentale al quale Calvino stesso reagisce con le Cosmicomiche. 31 I. Calvino: Lezioni americane, p. 28. 32 »Quando si svegliò, il dinosaurio stava ancora lì.« Ibidem, p. 50. 166
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epopee racchiuse nelle dimensioni d’un epigramma«.33 La rapidità dell’immaginazione che accompagna tutte le forme di anomalie temporali è una frizione che può far entrare in crisi la coerenza dell’ordine ordinario.34 È per questo motivo che Calvino, come Jorge Luis Borges, »maestro dello scrivere breve«35, sottolinea la magia del ritmo del tempo narrativo, paragonabile alla magia delle favole e del sogno, capaci di unificare in maniera inusitata ed eccentrica fenomeni distanti nell’ordine ›naturale‹. Già nel suo saggio nel 1932 dedicato a El arte narrativo y la magia36, Borges spiega che il concetto di magia, nella prosa contemporanea, non può corrispondere al principio antropologica che considera la magia l’opposto della ragione, ovverosia uno stato prelogico della coscienza. Si tratta piuttosto di una concatenazione sintattica che esprime una forma di causalità diversa, una causalità dovuta a principi la cui razionalità è basata su regole stranianti. Ed è da questo altro tipo di coerenza che nascono mondi fantastici. Sono le ›eterotopie‹ e le ›eterocronie‹ che Michel Foucault considerò caratteristiche all’universo della scrittura, quei luoghi e tempi che non hanno nome nell’ordine del reale, ma che non sono né l’opposto della realtà, né qualcosa che la trascende. Facendo parte del reale, destabilizzano coerenze realistiche e naturalistiche37, mettendo in questione il tempo cronologico ed evidenziandone l’arbitrarietà.38 33 I. Calvino: Lezioni americane, p. 50. 34 Il concetto di ›frizione‹ deriva da Roland Barthes. Sulla pertinenza per Calvino cfr. nota n. 62 del presente saggio. 35 I. Calvino: Lezioni americane, p. 49. 36 Jorge Luis Borges: El arte narrativo y la magia, in: Idem: Prosa completa, vol. I, Barcellona: Bruguera 1985, pp. 425-434. 37 Mi riferisco al concetto di ›eterotopia‹ sviluppato da Michel Foucault a partire dall’eterogeneità dell’ordine delle cose nel linguaggio letterario di un Jorge Luis Borges. È un’eterogeneità che perturba la sintagmatica tra il linguaggio e il mondo; Michel Foucault: Les mots et les choses: Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard 1966, p. 8. Si tratta di un principio rispetto al quale Calvino deve molto a Borges. Vedasi per es. »L’arcipelago dei luoghi immaginari«, in: Italo Calvino: Collezione di sabbia, Milano: Mondadori 1990, pp. 147-150. Su Calvino e Borges cfr. Cesare Segre: »Se una notte d’inverno uno scrittore sognasse un aleph di dieci colori«, in: Strumenti Crititici 39-40 (1979), pp. 177-214. 38 Pur non facendo nessun riferimento a Foucault, Calvino riconosce alla scrittura la stessa funzione che Foucault attribuisce alla scrittura ›eterotopica‹, e cioè quella di contraddire l’economia della comunicazione socialmente istituzionalizzata. Lo dimostra la tesi che ho scelto come motto, ma si potrebbero addurre vari esempi, anche rispetto all’incommensurabilità del tempo narrativo per rapporto al tempo reale, I. Calvino: Lezioni ameri167
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La combinatoria nell’asse del tempo rappresenta un momento fondamentale della letteratura neofantastica di Italo Calvino (e di Jorge Luis Borges), un aspetto che si fraintende se si interpreta nel senso di un semplice gioco con la forma. Non si può sufficientemente insistere sull’impegno dello scrittore alla ricerca della forza critica di immaginarie ›heterocronie‹, varianti moderne delle ucronie dei contes phantastiques illuministici. Sono dispositivi critici rivolti a sistemi filosofici ed epistemologici, ma anche ai percorsi della scienza naturale e delle tecnologie.39 Le short-stories di Calvino, le Cosmicomiche e Ti con zero, pubblicate nel 1968 con il titolo La memoria del mondo ed altre cosmicomiche, nonché Le città invisibili, (poemi in prosa epigrammatici del 1972) rappresentano montaggi temporali e spaziali che danno vita alla »concentrazione della poesia e del pensiero« trattata da Calvino nel capitolo sulla »Rapidità«. Le ›eterotopie‹ di Le città invisibili, pur essendo intrinsecamente legate al sistema simbolico ed ai discorsi scientifici del mondo reale, non rispettano la loro coerenza naturalistica, scientifica o tecnologica. Il contesto delle Cosmicomiche è l’atterraggio degli uomini sulla luna. Calvino elabora le consequenze di questo evento per la memoria culturale. Tali consequenze non sono calcolabili con le semplici regole matematiche e tecnologiche. Necessitano la logica della memoria, del sogno e la fenomenologia dello sguardo. Contrariamente all’ordine del mondo spiegato dalla ragione, dalla scienza e dalla tecnologia, nella memoria culturale coesistono il sapere scientifico e il pensiero selvaggio (Lévi-Strauss). Anche qui Calvino insiste sulla coesistenza del contrario, riferito ora alla contraddizione tra l’analisi dell’esistenza e il sapere scientifico come succede nelle Cosmicomiche per mezzo dell’immagine del protagonista. Pur essendo l’allegoria di un concetto, l’essere monocellulare con un nome indicibile, un essere senza materialità e corposità, è guidato da bisogni umani, soprattutto dalla melanconia. Calvino contrappone al discorso della scienza e della tecnica la nota melanconica che vincola la luna con la memoria umana. La luna è intimamente legata al sentimento della melanconia scaturito dall’esperienza della limitatezza e della costituzione mortale del corpo umano. La vicinanza fonetica di ›comico‹ e ›cosmico‹ sottolinea già nella fusione dei due concetti che il contrappeso della melanconia è l’ironia. Il metodo ›cosmocomico‹ è il metodo della conoscenza del finito nell’infinito – ed è infatti così che
cane, p. 39, la cui relatività viene messa in rilievo dai ritmi temporali della scrittura; ivi, p. 38. 39 Anche qui esiste una relazione con l’Illuminismo, specialmente con i contes phantastiques che sottolineano la pluralità, la storicità e la relatività della ragione. 168
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Calvino interpreta la modernità di Giacomo Leopardi.40 Attribuito alla modernità degli anni 60, questo metodo provoca un distanziamento ironico nei confronti delle sfrenate utopie tecnologiche nate in seguito alla conquista della luna. L’ironia è l’anticorpo messo a disposizione dalla scrittura contro le mitologie moderne della tecnica. Calvino formula una simile tesi anche rispetto all’ ›esattezza‹, il terzo principio. L’esattezza è doppiamente importante sul cammino verso il terzo millennio, specialmente come antidoto contro la eliminazione dello spazio nelle invisibili nebbie degli interfaces digitali. La letteratura dovrà creare anticorpi contro la peste delle amnesie causate dalla fugacità delle immagini negli schermi elettronici, ma dovrà anche contrapporre la severità matematica della poesia contro la perdita di precisione e l’omogeneizzazione del linguaggio dei mass media.41 Calvino cita a questo proposito un testo genealogico della poesia moderna, e cioè »Un coup de dés n’abolira jamais le hasard« di Stéphane Mallarmé.42 È con la precisione dei suoi propri ritmi che la poesia dovrà combattere contro la virtualizzazione del mondo reale.
40 È con la chiave del conflitto tra »il rigore astratto d’un idea matematica di spazio e di tempo« e »il vago fluttuare delle sensazioni« che Calvino interpreta l’idea d’infinito di Leopardi. Di fronte all’impossibilità di conoscere l’infinito, in cui progetta il desiderio, è l’indefinito che trasporta l’idea di illimitato, »illusoria ma comunque piacevole«; I. Calvino: Lezioni americane, p. 62. L’infinito non sarebbe quindi la visione dell’assoluto, come lo sarà per i romantici, ma deriva dalla coscienza della limitatezza umana (proveniente dal sensualismo illuministico). Sull’importanza del limite per la poesia moderna cfr. Vittoria Borsò: »Grenze und Entgrenzung. Konvergenzen der Moderne bei Giuseppe Ungaretti«, in: Korrespondenzen. Literarische Imagination und kultureller Dialog in der Romania, a cura di Anja Bandau/Andreas Gelz/Susanne Kleinert/Sabine Zangenfeind, Tübingen: Stauffenburg 2000, pp. 81-101 (nel volume presente p. 97-126). 41 »Alle volte mi sembra che un’epidemia pestilenziale abbia colpito l’umanità nella facoltà che più la caratterizza, cioè l’uso della parola, una peste del linguaggio che si manifesta come perdita di forza conoscitiva… Vorrei aggiungere che non è soltanto il linguaggio che mi sembra colpito da questa peste. Anche le immagini, per esempio. Viviamo sotto una pioggia ininterrotta d’immagini; i più potenti media non fanno che trasformare il mondo in immagini e moltiplicarlo attraverso una fantasmagoria di giochi di specchi: immagini che in gran parte sono prive della necessità interna che dovrebbe caratterizzare ogni immagine… Gran parte di questa nuvola d’immagini si dissolve immediatamente come i sogni che non lasciano traccia nella memoria«; I. Calvino: Lezioni americane, p. 58 sg. 42 Cfr. ivi, p. 69. 169
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L’instabilità del ›reale‹ è anche dovuta al paradosso della ›visibilità‹, il penultimo principio trattato nelle lezioni. Il visibile è un paradosso. Lo sappiamo da quando la fenomenologia ha riferito alla percezione il dramma dell’esistenza umana, ovverosia la temporalità.43 Lo sguardo è attraversato dalla temporalità del soggetto, ciò che rende enigmatica l’immagine. Nel passaggio dello sguardo dal soggetto all’oggetto l’immagine è attraversata dalla memoria. Ed è per questo che la sostanza dell’immagine non è visibile, ma l’invisibile, come ci dimostra MerleauPonty nel suo omonimo studio. Ed è così che Calvino scrive Palomar, una delle ultime collezioni, pubblicata nel 1983, un diario scritto per registrare le avventure della vista44, che è connotata già dal nome del protagonista tratto dall’osservatorio »Mount Palomar«, nel sud della California. In maniera parodistica, ovviamente seria nell’intenzione, Calvino sottopone Palomar ad un ›esame della vista‹, tema caro alla Nouvelle Vague45, alla quale il primo racconto »Lettura di un’onda« potrebbe ironicamente alludere. Il discorso ›scientifico‹ di Palomar è marcato da una severa logica nella costruzione delle frasi. Come un calcolatore elettronico, Palomar prova a trasformare in dati conoscibili tutte le possibile varietà e trasformazioni temporali degli oggetti e degli esseri che gli si of43 Già Pirandello tratta intensamente la difficoltà della visibilità come un problema derivato della temporalità in cui si trova il soggetto (Uno, nessuno, centomila). Sullo scarto fenomenologico tra teorizzazione del tempo rappresentato e la comprensione del tempo vissuto cfr. Aldo Masullo: »Epistemologia dell’irreversibile ed etica del tempo«, in: Paradigma 31 (1993), pp. 125-152. 44 Calvino definisce Palomar come »una specie di diario su problemi di conoscenza minimali, vie per stabilire relazioni col mondo, gratificazioni e frustrazioni nell’uso del silenzio e della parola«; I. Calvino: Lezioni americane, p. 73. 45 In »Il mare dell’oggettività« (1960), in Una pietra sopra, Calvino critica l’abbandono del soggetto al labirinto delle cose da parte di scrittori come Robbe-Grillet (nel suo romanzo Dans le labyrinthe, 1959) e del Nouveau Roman ed anticipa l’intento etico, esplicito in »La sfida al labirinto«. La preoccupazione fenomenologia, per gli autori della Nouvelle Vague e del Nouveau Roman è, ciò nonostante, più complessa che il semplice abbandono della supremazia del soggetto nel ›mare delle cose‹. Robbe-Grillet cerca, ad esempio, di adattare la fenomenologia cinematografica alla narrativa ed esperimenta la visibilità delle cose, accentuando il movimento e la temporalità del soggetto nella sua percezione del mondo, così come l’intreccio della memoria e la percezione. Mi riferisco, ad esempio, al suo romanzo Le Voyeur (1955). Sul rapporto della fenomenologia della percezione ed il cine, in particolare rispetto alla Nouvelle Vague, cfr. Gilles Deleuze: L’image-temps. Cinéma 2, Paris: Seuil 1985. 170
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frono alla vista. Applica il principio della distinzione noumetica a ciò che, essendo vivente, non può essere segmentato, isolato, catalogato, a meno che non si faccia astrazione della materialità, temporalità, variabilità e del continuum dell’esperibile. Nei ventisette paragrafi del libro, Palomar esperimenta il paradosso della conoscenza tra la ricerca delle strutture di una realtà intelligibile e l’esperienza della molteplice variazione dei fenomeni. Posponendo la ricerca noumetica alla esperienza dei fenomeni46 distrugge la base del conoscimento stesso: il rapporto gerarchico tra il soggetto e l’oggetto. Palomar cerca di ›afferrare‹ intelligibilmente, ma è al contempo sensibile sia alla materialità, concretezza, variabilità del mondo che gli si presenta allo sguardo che alla temporalità del proprio corpo. Il »continuum« della temporalità (simboleggiato dall’onda del mare) in cui si trovano immerso il soggetto dell’osservatore e le cose in movimento (il movimento dell’onda), impedisce che l’osservatore afferri la distinta singolarità delle cose. Ed è per questo che, quando Palomar, alla fine del libro, ›vede‹ e conosce l’alterità del mondo, incontra la morte. In questo paradosso fenomenologico consiste l’impossiblità di leggere il mondo, ma anche la volontà di rispondere al richiamo delle cose.47 Nel capitolo sull’»Esattezza« Calvino riferisce alla propria scrittura (di Le città Invisibili) il paradosso esperimentato da Palomar. La scrittura si biforca in due direzioni: »Da una parte la riduzione degli avvenimenti contingenti a schemi astratti con cui si possana compiere operazioni e dimostrare teoremi; e dall’altra parte lo sforzo delle parole per render conto con la maggior precisione possibile dell’aspetto sensibile delle cose.«48 È l’evento della visibilità che svela l’intento di avvicinare le cose ed il »rispetto di ciò che le cose (presenti o assenti) comunicano senza parole«.49 Le avventure della visibilità ci invitano ad abbandonare la fede in una conoscenza ›pura‹ Kantiana, o ›oggettivo-positivista‹, in cui il soggetto resta identico a se stesso, ma ci portano anche a rifiutare la metafisica nichilista dei labirinti discorsivi. Calvino invita a rivolgersi al mondo pur trovandosi imprigionati dentro l’epistemologia dei dispositivi 46 Cfr. Attilio Boano: »›Palomar‹: dramma e metadramma di Italo Calvino«, in: Italienisch 21 (1989), pp. 2-13. 47 La scrittura di Calvino si inscrive, come abbiamo visto, nel paradosso tra astrazione conoscitiva e concrezione materiale del mondo degli oggetti, un paradosso che permette di definire il dilemma dello scrittore come un dilemma profondamente fenomenologico. Anche in Le città invisibili la scrittura di Calvino si può caratterizzare come una ›scuola della percezione‹. Cfr. Peter Kuon: »Utopie-Kritik und Utopie-Entwurf in ›Le città invisibili‹ von Italo Calvino«, in: Italienische Studien 10 (1987), pp. 133-148. 48 I. Calvino: Lezioni americane, p. 72. 49 Ivi, p. 75. 171
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labirintici della postmodernità. L’ammirazione di Calvino per Parti pris des choses, di Francis Ponges, denominato come un »Lucrezio del nostro tempo«50 dimostra l’intensità della ricerca di un avvicinamento del reale. Tale ricerca si effettua percorrendo il cammino degli ›intrecci‹ fenomenologici della visibilità, inscrivendo nel corpo del linguaggio le tracce delle cose ed avvicinandosi così indirettamente al ›cinema impuro‹ di un Pasolini, l’autore che la critica accademica seguace della posizione di Carla Benedetti vorrebbe opporre a Calvino. Il concetto di ›intreccio‹ fenomenologico si riferisce, ovviamente, all’analisi del visibile effettuata da Merleau-Ponty con la cui filosofia Calvino è entrato in contatto durante il suo soggiorno a Parigi. Per Merleau-Ponty il visibile è il risultato di un intreccio tra l’oggetto sensibile che si presenta allo sguardo e l’osservatore, la sua memoria.51 La visibilità di immagini ›icastiche‹, ovverosia capaci di colpire lo sguardo in maniera precisa, particolare, memorabile52, permette riportare l’immagine alla memoria.53 Con la ›molteplicità‹ Calvino ritorna al tema del labirinto. Come lo ha dimostrato anche Gustav René Hocke nella sua analisi del manierismo della modernità (1957), il labirinto moderno ha perso la forma dell’imago mundis che aveva ancora nel prototipo del labirinto religioso rappresentato dalla cattedrale di Chartres. Oggi, i labirinti sono ramificati come le biforcazioni del senso nel barocco. Sono labirinti che, come lo dimostra Umberto Eco nell’Antiporfirio, hanno perso ogni tipo di referente, reli50 Ivi, p. 73 sg. 51 Calvino considera il cinema come un’arte mediatica che può arrestare il flusso delle immagini virtuali nel commercio attuale delle immagini. Su Palomar ed il cinema si sono effettuati numerosi studi, ad es. Antonio Costa: »Cinema e letteratura: L’effetto rebound e l’immaginario visivo«, in: La cultura italiana e le letterature straniere moderne, a cura di Fortunati Vita, Ravenna: Longo 1992, vol. II, pp. 183-192; Claudio Mazzola: »L’occhio come cinepresa in ›Palomar‹ di Italo Calvino«, in: Italiana 1988: Selected Papers from the Proceedings of the Fifth Annual Conference of the American Association of Teachers of Italian, Nov. 18-20, 1988, a cura di Albert N. Mancini e Paolo Giordano, River Forest/Illinois: Rosary College 1990, pp. 225-236. 52 Cfr. I. Calvino: Lezioni americane, p. 92. 53 La memoria è una facoltà, secondo Calvino, in pericolo nell’industria culturale attuale. Nessuna immagine può essere ›icastica‹ dentro la nebbia delle immagini nell’industria mediatica. »Oggi siamo bombardati da una tale quantità d’immagini da non saper più distinguere l’esperienza diretta da ciò che abbiamo visto per pochi secondi alla televisione. La memoria è ricoperta da strati di frantumi d’immagini come un deposito di spazzatura, dove è sempre più difficile che una figura tra le tante riesca ad acquistare rilievo«; ivi, p. 91 sg. 172
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gioso o laico. Calvino combatte la perdita del mondo nel labirinto testuale riavvicinando il linguaggio alla varietà, concrezione e sensualità del mondo. Il senso del labirinto non si trova più nell’uscita, ma nell’accettare una sfida che mette a prova la razionalità umana. Il piano originale del labirinto è il labirinto stesso, la sua ›molteplicità‹, la quinta figura estetica presentata nelle lezioni. Nei labirinti del testo la ›molteplicità è un effetto degli incroci intertestuali di cui Calvino fa ampio uso in tutti i suoi scritti, ma che tematizza e porta su un piano metaletterario nelle ultime opere narrative, come Il castello dei destini incrociati (1973) e Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979). La letteratura diventa una »enciclopedia aperta«54 che si contrappone ai sistemi dogmatici e chiusi dell’economia sociale e politica della comunicazione. Il potere della intertestualità nasce con il romanzo, come lo osserviamo nel romanzo rinascimentale ed in uno dei più grandi testi della letteratura universale, Don Quijote. Se il plurilinguismo di Cervantes si rivolge contro il dogmatismo ideologico e sociale della Spagna della controriforma, il plurilinguismo di Calvino si scaglia contro l’uso dogmatico del linguaggio scientifico e contro la tecnocrazia delle società contemporanee. La letteratura continua a produrre anticorpi contro nuove forme di positivismo e contro dogmatismi che eliminano il diritto alla molteplicità delle esperienze del corpo vissuto. Di fronte alla molteplicità lo scrittore sviluppa una curiosità trasgressiva, come lo fece Gustave Flaubert nel suo ultimo libro, Bouvard et Pécuchet, come lo fa Calvino con Palomar. Bouvard et Pécuchet è, confessa Calvino, »il vero capostipite dei romanzi« della molteplicità55 che, nel testo di Flaubert diventa una vera e propria sfida della scienza.56 Con le loro contraddizioni, i protagonisti del romanzo distruggono ogni possibilità di certezza e invitano a una scienza »scettica, riservata, metodica, prudente, umana«.57 È qui che Calvino arriva alla definizione dell’epistemologia della modernità: »La conoscenza come molteplicità è il filo che lega le opere maggiori, tanto di quello che viene chiamato modernismo quanto di quello che viene chiamato il postmodern, un filo che – al di là di tutte le etichette – vorrei continuasse a svolgersi nel prossimo millennio.«58
54 Ivi, p. 113. Cfr. Umberto Eco: »Antiporfirio«, in: idem: Sugli specchi, Milano: Bompiani 1985, pp. 334-361. Sul rapporto tra Calvino e Jean Baudrillard cfr. Claudio Mazzola: »Italo Calvino e Jean Baudrillard in Se una notte d’inverno un viaggiatore«, in: Italian Culture 9 (1991), pp. 343-353. 55 I. Calvino: Lezioni americane, p. 111. 56 Cfr. ivi, p. 112. 57 Cfr. ibidem. 58 Ivi, p. 113. 173
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La nostra lettura di Lezioni Americane sullo sfondo della modernità culmina su due nuclei centrali: il desiderio di una conoscenza non della molteplicità, ma come molteplicità, ovverosia la tolleranza che proviene dalla deterritorializzazione del pensiero, e la doppia necessità della scrittura: rigore scientifico e apertura al senso vissuto.
I l r i c hi am o d e l l e c o se e d e l c o r p o v i s su t o : A r c he ol og i a d el N o v ec en to ed il nuovo Millennio Collezione di Sabbia è un diario sulle cose viste, da vedere o sull’avventura della vista. Nel testo omonimo scritto nel 1970, Calvino definisce ancora una volta la difficile relazione tra letteratura e mondo, inteso come il waste land della vita: »Forse fissando la sabbia come sabbia, le parole come parole, potremo avvicinarci a capire come e in che misura il mondo triturato ed eroso possa ancora trovarvi fondamento e modello.«59
Il progetto letterario di Calvino è il progetto della modernità. Le parole e le cose non sono più collegate dai simboli. Il mondo è frammentato, eroso, mobile e fuggente – come la sabbia. Le parole non possono più corrispondere all’esigenza dell’unità del mondo, la molteplicità del mondo esperibile supererà sempre la possibilità del linguaggio. Eppure per Calvino la letteratura deve impegnarsi a fissare l’immagine nella sua sostanza, anche se essa è sfuggente e mutevole. È il doppio movimento della scrittura che interessa Calvino, simile ai ricordi di idilli passati che contengono l’immagine sbiadita della natura esuberante dell’infanzia, come la fotografia, immagine del momento della vita in cui si arresta il flusso del tempo.60 Partendo da una epistemologia moderna necessariamente 59 I. Calvino: Collezione di sabbia, p. 13. 60 È evidente il riferimento a Roland Barthes, La chambre claire, dove la declinazione del presente, nel ricordo, si incrocia con il remoto passato della coscienza – una definizione valida anche per gli »Idilli« di Giacomo Leopardi. »In memoriam« di Roland Barthes in Collezione di Sabbia, spiega Calvino che, rileggendo La chambre claire dopo la morte dello scrittore riesce a captare un momento della scrittura di Barthes che, nel presente saggio è risultato essere valido anche per Calvino stesso: »Questi rimandi della memoria non sono un caso: è che tutta la sua opera (di Roland Barthes), ora me ne accorgo, consiste nel costringere l’impersonalità del meccanismo linguistico e conoscitivo a tener conto della fisicità del soggetto 174
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costruttivista, Calvino è alla ricerca di principi estetici che ritrovino la consistenza dell’esistenza, del corpo vissuto. Nelle Lezioni americane questo paradosso è un filo conduttore che lo scrittore ci da alla mano.61 Il principio produttivo della sua scrittura è l’incontro di due dimensioni della fenomenalità: »la cognitiva e l’affettiva, l’intenzionale e la sensitiva, o, in altri termini, … la transitività semantica e l’intransitività patita«.62 Le proposte di Calvino per la letteratura del prossimo millennio ci lasciano un messaggio importante. Portano a termine un’epoca nella quale il senso politico è stato moralmente strapazzato sia da speranze in una futura liberazione che da minacce di condanne future, come ci ricorda Ulrich Schulz-Buschhaus nella sua lettura di Il barone rampante.63 I luoghi invisibili dei labirinti moderni ci portano oggi a distanza dal territorio della nostra identità. Ce lo dimostra la reazione di Calvino di fronte al gigantesco albero di Tule. Dopo una minuziosa descrizione delle ramificazioni e degli strati di crescita, delle deviazioni e protuberanze Calvino riporta la seguente ›illuminazione‹:
vivente e morale«. Calvino profetizza una querelle della critica, che sarà anche la propria: »La discussione critica su di lui – già incominciata – sarà tra i sostenitori della superiorità dell’uno o dell’altro Barthes: quello che subordinava tutto al rigore d’un metodo e quello che aveva come unico criterio sicuro il piacere (piacere dell’intelligenza e intelligenza del piacere). La verità è che quei due Barthes non sono che uno: è nella compresenza continua e variamente dosata dei due aspetti sta il segreto del fascino che la sua mente ha esercitato su molti noi«; ivi, p. 80. Oltre alla posizione poststrutturalista legata all’ultima narrativa di Calvino e riferita alla tesi della ›morte dell’autore‹, cfr. Melissa Watts: »Reinscribing a Dead Author in If on a Winter’s Night a Traveler«, in: Modern Fiction Studies 37,4 (1991), pp. 705-711, sarebbero da studiare più a fondo i paralleli nella estetica di Roland Barthes e di Italo Calvino. Il concetto di ›frizione‹ sviluppato, ad esempio, da Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998 ed applicato anche a Calvino, da eccelenti spunti teorici, cfr. Ottmar Ette: Literatur in Bewegung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001. 61 Nessuno dei principi presentati nei cinque capitoli è valido per sé: »Ogni valore che scelgo come tema delle mie conferenze, l’ho detto in principio, non pretende d’escludere il valore contrario: come nel mio elogio della leggerezza era implicito il mio rispetto per il peso, così questa apologia della rapidità non pretende di negare i piaceri dell’indugio«; I. Calvino: Lezioni americane, p. 45. 62 A. Masullo: Epistemologia dell’irreversibile, p. 139. 63 Cfr. U. Schulz-Buschhaus: Italo Calvino und die Poetik des ›Barone rampante‹. 175
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»Ma qui siamo oltre la ridondanza: ciò che mi preoccupa mentre giro intorno all’albero di Tule è la disponibilità della morfologia a cambiare i propri ruoli, è lo sconvolgimento della sintassi vegetale: radici che salgono verso l’alto, segmenti di rami diventati tronco, segmenti di tronco nati dalla gemma d’un ramo. Eppure il risultato, visto a distanza, è sempre ancora un albero, – un superalbero – con radici tronco chioma al posto giusto – super-radici, super-tronco, super-chioma –, come se la sintassi sconvolta si ristabilisse a un livello superiore.« »È attraverso un caotico spreco di materia e di forme che l’albero riesce a darsi una forma e a mantenerla? Vuol dire che la trasmissione d’un senso s’assicura nella smoderatezza del manifestarsi, nella profusione dell’esprimere se stessi, nel buttar fuori, vada come vada? Per temperamento ed educazione sono sempre stato convinto che solo conta e resiste ciò che è concentrato verso un fine. Ora l’albero del Tule mi smentisce, vuol convincermi del contrario.«64
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64 I. Calvino: Collezione di sabbia, p. 205 sg. 176
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› Z EITBILD‹ –
IN
B ILDRÄUME. V ISUALITÄT UND Z EITLICHKEIT G USTAVE F LAUBERTS SALAMM BÔ* »Photographie: Détrônera la peinture (v. daguerréotypie)« Gustave Flaubert: Dictionnaire des idées reçues
Nach dem so genannten iconic turn in den Wissenschaften kommt der Kunstgeschichte das Verdienst zu, die Diskussion über das Medium Bild neu eröffnet zu haben.1 Die Systematik dieser Diskussion verhält sich analog zum Paragone-Streit zwischen den Künsten im späten 19. Jahrhundert. Hatte hier der Durchbruch der Fotographie zu einem Doppeldiskurs vom Vertrauen in das Abbild einerseits und der Krise des Sehens andererseits geführt, so schwankt heute der Diskurs über die visuelle Kultur zwischen der kommunikationswissenschaftlichen Utopie der ikonischen Evidenz von Bild- bzw. Netzmedien und einer apokalyptischen Skepsis hinsichtlich der Simulation des Realen.2 Gegen die Evidenz des Dargestellten im Bild hat die moderne Kunst die Opazität des Darstellungsgeschehens gesucht und damit die Visualität als Ereignis produziert. In diesem Sinne haben die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts
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Erstmals erschienen in Wolfgang Lange/Jürgen Paul Schwindt/Karin Westerwelle (Hg.): Temporalität und Form. Konfigurationen ästhetischen und historischen Bewusstseins, Heidelberg: Winter 2004, S. 197-220. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Vgl. z.B. Gottfried Boehm: »Die Wiederkehr der Bilder«, in: ders.: Was ist ein Bild?, München: Fink 1994, S. 11-38; Hans Belting: BildAnthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink 2001; Andrea von Hülsen-Esch/Jean-Claude Schmitt (Hg.): Die Methodik der Bildinterpretation, Bd. 1-2, Göttingen: Wallstein 2002. Beide sind das Symptom einer Krise des Bildes als Vermögen des Bildens. Denn während Abbilder das Bilden entkräften, so überanstrengt die Simulation die Möglichkeiten des Bildes bis zur ikonoklastischen Aufhebung. Vgl. G. Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 16. 183
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durch die Verletzung der gewohnten Einstellungen3 und ikonographischen Traditionen das Bild als Ereignis des Bildens zu retten versucht. Im Kontext der Reproduzierbarkeit und der fotographischen Abbilder wurden die Prinzipien dieses Ereignisses zu einem ästhetiktheoretischen Diskurs, der seit der Jahrhundertwende vor allem den Bezug zur Poesie suchte, um gegen das massenmediale Abbild zu argumentieren.4 Im Zusammenhang mit der Prozessualität von Kunst reflektieren die Kunstwissenschaften über die Grenzen der Ikonographie und betonen, wie auch schon in der Ästhetik der écriture geschehen, dass nicht der Inhalt des Bildes, sondern vielmehr die Art und Weise seiner Konstruktion von Bedeutung sind.5 Eine ähnliche Diskussion hatte in der Literaturwissenschaft zur Kritik der Hermeneutik und zur methodischen Entscheidung geführt, nicht die Tiefe des Sinns, sondern die Oberfläche der Buchstaben, d.h. den Raum der Schrift und ihre Prozessualität, bevorzugt zu untersuchen. Gleichgültig also bei welchem Medium, ob es sich um eine Sprach- oder Bildkunst handelt, ist das medienspezifische Darstellungsgeschehen der Ort, an dem sich das Bilden jeweils ereignet. Der Haushalt der Bildmaterialität ersetzt somit den des Bildgedankens. Seit der Verabschiedung der perspektivischen Rationalisierung des Bildes durch die Neuzeit, d.h. der Funktion des Mediums als ›offenes Fenster‹ zur Welt6, wird tatsächlich die Zerstörung des perspektivischen Durch3
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Vgl. z.B. Hans Körner: »›Keine Benennungen‹. Wols: Bildmaterial, Bildbegriff und die ›richtige Einstellung‹ des Betrachters«, in: Andrea von Hülsen-Esch/Jean-Claude Schmitt (Hg.), Die Methodik der Bildinterpretation, Bd. 1, Göttingen: Wallstein 2002, S. 259-303. Ein Beispiel sind die Schriftzeichen Mirós, die z.B. Stephan von Wiese in Bezug auf das Modell der Poesie interpretiert. Vgl. Stephan von Wiese: »›Malerei als Universalpoesie‹. Die Verbindung von Bild und Wort bei Joan Miró«, in: Joan Miró: Schnecke Frau Blume Stern (Katalog zur Ausstellung im Museum Kunst Palast Düsseldorf, 13.7-6.10.2002), Vorwort von Jean-Hubert Martin, bearbeitet von Stephan von Wiese und Sylvia Martin, München u.a.: Prestel 2002, S. 50-63. »Das Wie ist die genuine Mitteilung, die echte Sprachform des Bildes«, H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 13. Diese Aussage gilt grundsätzlich für die Imagination, ob es sich um literarische oder visuelle Medien handelt. Roman Jakobson hatte mit der These der Selbstreferenzialität der poetischen Funktion des Schreibens darauf aufmerksam gemacht. Zur sprachphilosophischen Begründung vgl. Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Boehm bezieht sich auf die metaästhetische Zurückweisung der Renaissance-Vorstellung des Bildes als »finestra aperta« durch René Magrittes Gemälde La condition humaine oder Robert Delaunays Fensterbild, die eine durchgehende Tendenz der 184
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blicks auf die Welt und in extremis die semantische Undurchsichtigkeit gesucht, denn nur dadurch gewinnt das Bild selbst an Sichtbarkeit. Die Sichtbarkeit des Bildes als Bild ereignet sich also nicht im symbolischen Tiefensinn, sondern an der materiellen Oberfläche des Bildes. Analog zur Differenztheorie der Metapher7 bezeichnet Boehm die »ikonische Differenz« als das Spezifische am Bilden.8 Ich benutze dabei den Begriff des Bildraums, um jenen Bereich des Bildens zu fokussieren, der das Vermögen des Blicks betrifft, Räume auf der materiellen oder imaginativen Leinwand zu entwerfen. Analog zum Textraum, jener Fläche, auf der die Buchstaben ihre (in der Lektüre bewegliche) Präsenz behaupten und Konstellationen der Sichtbarkeit entwerfen – Mallarmés Un coup de dés ist hier exemplarisch –, meint der Begriff des Bildraums die visuelle Topographie, die sich im Bildmedium, aber auch im Medium der Schrift ereignet. Die Beweglichkeit des Wahrnehmungsfelds soll mit dem Begriff des Bildraums hervorgehoben werden.9
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modernen Kunst zeigen: Die ›Transparenz‹-Annahme der perspektivischen Rationalisierung wird dekonstruiert, es wird offengelegt, dass die vermeintlich transparente Bildfläche eine opake Verzerrung und eine Projektion rationalisierender Einstellungen war, die auf Grund der perspektivischen Regeln die Illusion der Transparenz erzeugten. Vgl. G. Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 332f. Boehm löst die Debatte zwischen Transparenz und Opazität im Sinne ihrer Spannung, die im Material sichtbar wird. Eine ähnliche Dekonstruktion haben Roland Barthes, Tzvetan Todorov und andere in Bezug auf die Konstruktionsregeln des realistischen Diskurses vorgenommen: Zu Gunsten der Illusion der Transparenz mache sich der realistische Diskurs selbst unsichtbar. Vgl. Paul Ricoeur: La métaphore vive, Paris: Seuil 1975. Zur Differenztheorie nach Ricoeur vgl. Vittoria Borsò: Metapher. Erfahrungs- und Erkenntnismittel, Tübingen: Narr 1985. Unter »ikonischer Differenz« versteht Boehm die produktive Spannung zwischen Verschiedenem auf der Fläche und dem Flächengrund, letztlich auch eine Spannung zwischen Opazität und Durchblick der Materialien auf der Bildfläche. Vgl. G. Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 32f. Mit Bezug auf die anthropologische These von Hans Jonas, nach der im homo pictor die Spezifizität des Menschen zu sehen ist, heißt es: »Die pikturale Differenz, die dem Menschen spezifisch ist, definiert sich als das Vermögen, das bewegliche Wahrnehmungsfeld des alltäglichen Sehens mit seinen offenen Rändern, seiner flexiblen Neuanpassung an Situationen in ein begrenztes und stabiles Bildfeld umzustilisieren, als Bildwerk, als Gefäß, als Ritzzeichnung odgl. zu gestalten.« Ebd., S. 31. Auf diesen Begriff gehe ich im Laufe meiner Überlegungen genauer ein. Nur so viel sei hier erneut mit Bezug auf die moderne Kunst schon jetzt erwähnt: Die Dekonstruktion der Voraussetzungen des Dargestellten hat 185
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Wenn ich in Salammbô das Ereignis der Visualität untersuchen möchte, so nehme ich – wie die neuere Forschung, auf die ich mich beziehe – gewiss Abstand von ›mimetischen‹ Lektüren, die den Text als historischen Roman über die thematisch behandelte Geschichte des zweiten Punischen Krieges oder als kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft des Second Empire verstanden haben. Mimetische Lektüren scheitern an diesem Roman. Die häufige These, die Irrationalität der beschriebenen archaischen Kulturen sei ein verzerrtes, ironisches Bild der Bourgeoisie des Zweiten Kaiserreichs, ist zwar nicht falsch, sagt jedoch nichts über die Ästhetik des Romans aus. Im Gegenteil, sie zerstört sie10,
dazu geführt, dass die instrumentelle Sehbahn und die Distanz aus der Malerei verschwinden. Moderne Maler wie Cézanne, Monet, Matisse bis hin zu Albers, Yves Klein und der Gegenwartsmalerei haben gezeigt, dass »der Bildraum nicht einsinnig gerichtet ist (in sich verkürzt, eine imaginäre Tiefe öffnend), sondern die Bildschicht gleichermaßen Impulse nach ›vorn‹ wie nach ›hinten‹ enthält. Die inversive Verflechtung des Konkaven mit dem Konvexen wird vom Betrachter prozesshaft, d.h. temporal erfahren. Im Bild überkreuzen sich verschiedene visuelle Energien, nach Maßgabe der künstlerischen Gestaltung.« G. Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 21. 10 Das Scheitern wird auf den Roman selbst projiziert. Schon Froehner (aus der Sicht der Altertumswissenschaften und der Archäologie) und Sainte Beuve (wegen der ästhetischen Verstöße durch die Darstellung des Schrecklichen) hatten die historische Glaubwürdigkeit des Romans bemängelt. In eine ähnliche Richtung geht auch die Kritik der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung, etwa von Thibaudet (vgl. Albert Thibaudet: Histoire de la littérature française de 1789 à nos jours, Paris: Stock 1969), nach dessen Meinung es Flaubert nicht gelingt, das Prinzip des realistischen Romans nach Lukács zu verwirklichen, nämlich die antike Welt näher zu bringen. Akzeptiert man das Mimesis-Postulat, so kann die Rettung des Romans nur durch das ästhetizistische Paradigma erfolgen, wie es z.B. durch Corrada Biazzo Curry geschieht: »Flaubert voulait écrire une œuvre gratuite, qui se tienne debout par la seule force du style.« Corrada Biazzo Curry: Description and Meaning in Three Novels by Gustave Flaubert, New York u.a.: Peter Lang 1997, S. 107. Man muss hingegen der neueren Forschung zu diesem Roman zustimmen, die die Interpretation im Sinne des historischen Romans oder im Sinne der Gesellschaftskritik als einseitig ansehen. Vgl. z.B. Sabine Friedrich: Die Imagination des Bösen: Zur narrativen Modellierung der Transgression bei Laclos, Sade und Flaubert, Tübingen: Narr 1998; Klaus Ley: »Verborgene Lektüren. ›Salammbô‹ und der zeitgenössische historische Roman in England«, in: ders. (Hg.), Flauberts »Salammbô« in Musik, Malerei, Literatur und Film. Aufsätze und Texte, Tübingen: Narr 1998, S. 3-36; Jennifer Yee: »La ›Tahoser‹ de Gau186
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indem sie die Textur des Romans als unsichtbare Fläche behandelt, die man auf der Suche nach den historischen, psychologischen, sozialkritischen ›Tiefenstrukturen‹ durchbohrt. Nimmt man aber die materielle Gestalt der Bilder ernst, so erkennt man, dass die Bilder nicht mehr semantisch restlos zu deuten sind und dass die mimetische Funktion verfehlt ist. Bei seiner Lektüre des Romans hat Karl-Heinz Bohrer in der Tatsache, dass die Bilder schweigen und die Symbolik nicht allegorisch deutbar ist, die conditio für das Entstehen einer modernen Imagination des Bösen gesehen.11 Flaubert hat tatsächlich die moderne écriture in vielen Aspekten vorweggenommen, wie es die Nouveaux Romanciers schon erkannten und die neuere Forschung hervorgehoben hat. Mit der Opazität des Romans rückt eine solche Lektüre das Darstellungsgeschehen, die Materialität der Textur, in den Vordergrund. Wir wollen diesen Ansatz in Bezug auf das Bild erproben.
S al a m m bô . » U n l i v r e s u r r i e n « 12 Der Bildraum des Romans ist also opak: Narrative Inkohärenzen, Kollisionen von Gattungen wie Historismus und Orientalismus, sowie Dissonanzen zwischen ihren ikonographischen Traditionen sind das augenfälligste Merkmal der Komposition.13 Das historische Gemälde hat giganti-
tier et la ›Salammbô‹ de Flaubert: L’Orientale et le voyage au-delà de l’histoire«, in: Australian Journal of French Studies 36, 2 (1999), S. 188199; Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten, München: Fink 1999. 11 Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Nach der Natur, München: Hanser 1988, S. 125f. 12 Im Brief an Louise Colet vom 16.01.1852 findet sich der berühmte Satz Flauberts, der sich auf das Projekt von Bouvard et Pécuchet bezieht: »[…] Ce qui semble beau, ce que je voudrais faire, c’est un livre sur rien, un livre sans attache extérieure, qui se tiendrait de lui-même par la force interne de son style. […] un livre qui n’aurait presque pas de sujet.« Gustave Flaubert: Correspondance II (juillet 1851 – décembre 1858), hg. von Jean Bruneau, Paris: Gallimard 1980, S. 31. 13 Helmut Pfeiffer betont, dass gerade wegen fehlender Referenzen und Vertrautheiten der Roman an ästhetischer Kraft gewinnt. Vgl. Helmut Pfeiffer: »Die andere Antike. Esoterik und Illusion in Flauberts ›Salammbô‹«, in: Wolfgang Schuller (Hg.), Antike in der Moderne, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1985, S. 225-251, hier S. 231. Monika Bosse und André Stoll zeigen, dass Flaubert vor der Aufgabe steht, »architektonische Strukturen einer Imagination zu errichten, die angeblich das Nichts als ihre generative Materie besitzt«, Monika Bosse/André Stoll: »Die Agonie des archaischen Orients. Eine verschlüsselte Vision des Revolutionszeitalters«, 187
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sche Dimensionen und bleibt zugleich fragmentarisch, vermag jedenfalls nicht einen historischen Sinn zu konstituieren. Die epische Breite wird von der Wucherung des brutalen Details übertönt, die Massenszenen und das Gemetzel des Kampfgeschehens lassen sich in keine historische – oder mythische – Botschaft kohärent einbinden. Die Irrationalität vormythischer Kulturen speist die Imagination des Bösen, das Sein des Menschen ist nicht (oder nicht mehr) in die Ordnung des Humanen zu integrieren, wie Bohrer gezeigt hat. Dabei sind die Details des Grauens exzessiv. Der Roman wird dadurch zu einem im Hinblick auf die Mimesis opaken, jedoch expressiven Medium, das den Historismus bei weitem hinter sich lässt. Beispiele hierfür sind die Szenen vorchristlicher Barbarei, der Holocaust der Kinderopferungen zu Ehren des Sonnengottes Moloch oder das Massaker der barbarischen Söldner.14 Die groteske Fremdheit der Gewalt korreliert ihrerseits mit dem Faszinosum des zentralen Ereignisses15, welches wiederum das Erotische und das Sakrale als vorchristliche Form des »unreinen Heiligen«, des Heterogenen, rekonstruiert, in dem Georges Bataille eine moderne Form des Heiligen gesehen hat.16 Das Heilige ist durch die Heterogenität und Promiskuität – zwischen Maschinen, Tier und Mensch, sowie Tod und Leben – im ursprünglichen Sinne von sacer evoziert, das das Heilige und das Böse zugleich bedeutet.17 Die Erotik der Begegnung von Salammbô, Tochter
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in: Gustave Flaubert: Salammbô, hg. von Monika Bosse und André Stoll, Frankfurt/Main: Insel 1987, S. 406-407. Diese Ereignisse werden zwar von den historischen Quellen nachgewiesen (etwa Polybius), jedoch nicht im Zusammenhang mit dem ersten Punischen Krieg. Vgl. die entsprechende Untersuchung von André Stoll: »Sous la tente du barbare: L’Espace de la séduction dans ›Salammbô‹ de Flaubert«, in: Roger Bauer/Douwe Fokkema (Hg.), Actes du XIIe Congrès de l’Association Internationale de Littérature Comparée, Bd. III: Espace et frontières dans la littérature, München: Iudicium 1990, S. 146-152. Ich beziehe mich auf Georges Bataille: L’érotisme, Paris: Minuit 1957. Nicht selten konnotiert Flaubert die Heterogenität durch die Übertretung der Ordnung des Natürlichen bei der Verbindung von Leben und Tod oder Mensch und Maschine. Dies betrifft sowohl die Kultur Karthagos (z.B.: »On se servait, pour les entortillages des catapultes, de tendons pris au cou des taureaux ou bien aux jarrets des cerfs […]. On avait, dans les bâtiments des Syssites, douze cents esclaves nubiles, de celles que l’on destinait aux prostitutions de la Grèce et de l’Italie, et leurs cheveux, rendus élastiques par l’usage des onguents, se trouvaient merveilleux pour les machines de guerre«, Gustave Flaubert: Salammbô, in: ders.: Les chefs-d’œuvre de Gustave Flaubert, Bd. 6, Genf: Éditions-Service 1970, S. 292) als auch die Barbaren (»Un redoublement de fureur animait les Barbares. On les voyait 188
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des Hamilkar, Priesterin der Göttin Tanit, und Mâtho, dem Führer der Barbaren, ist eine höchste Form der Transgression. Die Fremdheit des Anderen und die Heterogenität des Heiligen überschreiten die Ikonographie der orientalistischen Durchdringung der anderen Welt.18 Die Beschreibung jener Welt hat zwar ihren Ausgangspunkt im Okzident (in dessen Ängsten, Begehren und Fantasien), jedoch so, dass das Material der écriture, insbesondere der Überschuss der Beschreibungen, eine existenzielle und historische Fremdheit und Undurchdringlichkeit aufbaut.19 Ich möchte den Akzent auf die historische Fremdheit legen.20 Auch die exotistisch nicht deutbare, räumliche Entfernung der Kultur Karthagos dient der Visualisierung der historischen Ferne, d.h. der Unerreichbarkeit des Historischen. Mehr noch: Der Raum dieser archaischen Kulturen setzt in der Darstellung von Flaubert das Historische außer Kraft.21 Auch die Fortschrittskritik, die Flaubert nicht müde wird hervorzubringen, ist hier nicht das telos des Romans, sondern eines der radikalsten Mittel im Sinne einer ›Geschichtsvernichtung‹ – so die Lektüre des Ro-
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au loin prendre la graisse des morts pour huiler leurs machines, et d’autres en arrachaient les ongles qu’ils cousaient bout à bout afin de se faire des cuirasses.« Ebd.). Beides tritt übrigens im Kapitel zum Gott Moloch auf, dessen Beschreibung selbst eine heterogene Verbindung von Mensch und Maschine zeigt und expressionistische Filmdarstellungen (z.B. Metropolis von Fritz Lang) in Erinnerung ruft. Karthago ist der ›blinde Fleck‹ der topographischen Imagination des Okzidents, die auf die klassische Antike fixiert ist. Zudem waren die nach der römischen Verwüstung zurückgelassenen Überreste Karthagos im Jahre 1858 für das archäologische und historische Gedächtnis noch nicht entdeckt. Vgl. M. Bosse/A. Stoll: Die Agonie des archaischen Orients, S. 405. Angesichts der Erfahrung dieser Fremdheit ist das kognitive Subjekt trunken, égaré. Das, was sich durch die Heterogenität des narrativen Diskurses in der Visualität ereignet, ist eine Umkehrung der Konstellation zwischen Subjekt und Objekt. Wie beim punctum der Fotographie wird das Subjekt zum ›beeindruckten‹, verletzten Objekt eines sich der Sichtbarkeit entziehenden Fremden. Vgl. Roland Barthes: La chambre claire, Paris: Gallimard/Seuil/Cahiers du cinéma 1980. Die Fremdheit ist auch deswegen extrem, weil Karthago das Gegenteil der klassischen Antike darstellt, wie schon Michel Butor festgestellt hatte: »A propos de ›Salammbô‹«, in: ders.: Improvisations sur Flaubert, Paris: Éditions de la Différence 1984, S. 113-143, hier S. 115: »Carthage est ainsi l’envers de l’antiquité aussi bien classique que chrétienne.« Dies unterscheidet den Roman grundsätzlich von den Texten anderer orientalisierender Autoren des 19. Jahrhunderts, deren Interesse für die antike Welt er teilt. Etwa die Gestalt von Tahoser in Théophile Gautiers Roman de la Momie (1857). 189
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mans durch Ulrich Schulz-Buschhaus. Flaubert ersetzt die Fortschrittsgläubigkeit seiner Zeitgenossen durch eine Auffassung der Zeit als Verschwinden: »Quelle éternelle horloge de bêtises que le cours des âges!«22 Nach der Abkehr von der Antike durch die Moderne, dem Zusammenbruch der Historie und der Erfahrung des Verschwindens ist die antike Zeit ein Bereich des kulturell Anderen und Fremdartigen geworden.23 Eine – letztlich scheiternde – Wiederannäherung an die antike Welt konnte sich allein noch unter der Perspektive der Alterität ereignen, und die Alterität dieser Welt wird hier zur direkten Opposition zugespitzt und radikalisiert, so die einleuchtende Hauptthese von Schulz-Buschhaus. Die chronologische Zeit der Geschichte wird also hier außer Kraft gesetzt – um eine radikale ›Historizität‹ (im Sinne von Alterität der Zeit) zu inszenieren, eine, die durch einen gegenwärtigen Blick nicht eingeholt werden kann, die fremd bleibt. Flaubert nutzt also die Fremdheit der Kulturen, um die Fremdheit der Zeit zum Ausdruck zu bringen, und diese verstärkt wiederum die Fremdheit des Raums. Ich möchte nun die visuelle Topographie dieses Zeitregimes besprechen. Die Fremdheit ist ein relationaler Begriff. Die Vergangenheit ist fremd gegenüber einer Gegenwart, die in der medialen Visualisierung dieser Fremdheit als zweiter Blick im Text markiert ist. Diese doppelte Einrahmung des Szenarios geschieht schon durch die Ironie, die, wie Rainer Warning treffend feststellt, gegenstandsindifferent ist und selbstreflexiv auf die Präsentation aufmerksam macht.24 Auch die exzessiven Details der Beschreibungen verraten zwei unterschiedliche Blickrichtungen: auf die Gegenwart und auf eine ferne Zeit. Einerseits trägt das Sze-
22 Brief an Louise Colet vom 26. Mai 1853, in: Gustave Flaubert: Correspondance II, S. 334. Vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus: »Der problematische Fortschritt der Kunst bei Flaubert und den Goncourt«, in: Wolfgang Drost (Hg.), Fortschrittsglaube und Dekadenzbewußtsein im Europa des 19. Jahrhunderts. Literatur – Kunst – Kulturgeschichte, Heidelberg: Winter 1986, S. 127-138, hier S. 128. 23 Mit dieser Vorliebe wie auch dem bemerkenswerten Antikenkult hängt gewiss Flauberts Abwehr zeitgenössischer Gesellschaftsentwicklungen zusammen. Flaubert sucht im monde antique aber auch auf keinen Fall einen Antikenkult im Sinne des Modells einer Kultur, die langfristig verbindliche Normen und Vorbilder gestiftet hat. Die Antike ist nun nicht mehr eine Sphäre zeitüberdauernder Ideale. 24 Vgl. Rainer Warning: »Der ironische Schein: Flaubert und die ›Ordnung der Diskurse‹«, in: ders.: Die Phantasie der Realisten, S. 150-184, hier S. 173. 190
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nario Spuren der Projektion westlicher Stereotypen25, und der so genannte Orient stellt eine Art Dictionnaire des idées reçues dar26, andererseits stößt dieser Blick auf eine heterogene Welt, die sich der Vereinnahmung durch das Auge entzieht. Sie gleicht einer gigantischen Ansammlung von Differenzen; in ihr werden Heterotopien, aber auch Heterochronien27 inszeniert (etwa durch die Mischung von Technik und Mythos), jene Kreuzungen heterogener Konfigurationen, die quer zur Ordnung der Diskurse stehen. Das historische Bild wird zum Ruin einer fernen Welt, und die ›positivistisch‹ recherchierten Details sind schon in Folge der Diskurskollisionen nicht in das Ganze einzubinden. Dieser ruinöse Charakter der antiken Welt behauptet im Text- und Bildraum eine Präsenz als Fragment.28 Die Ruine wird als Schwelle zwischen zwei Zeiten inszeniert, der fernen Vergangenheit und der Gegenwart des Blicks, deren Sinn aber verweigert wird. Zwischen dem ironischen Blick eines Betrachters des Second Empire und den Ruinen der Vergangenheit entsteht in Salammbô ein Raum, in dem die Vergangenheit mortifiziert, der Abgrund zwischen einander fremden Zeiten und der Entzug des (historischen) Sinns radikal in Szene gesetzt werden. Die dargestellte ›Welt‹ ist zwar opak, doch so, dass die Grenzen der Sichtbarkeit im Dargestellten 25 Z.B. G. Flaubert: Salammbô, S. 295: »C’était une mode gauloise adaptée par le Suffète au besoin de la situation; les Gaulois se crurent devant une ville de leur pays. Ils attaquèrent avec mollesse et furent repoussés«. Es handelt sich um ein ausgezeichnetes Beispiel sowohl für die Austauschbarkeit der Gegner als auch für die ironische Funktion der Projektion von Autostereotypen bei der angeblichen Darstellung der ›Barbaren‹. 26 Siehe z.B. die Beschreibung der Barbaren im Kapitel »Le festin«: »Un Lusitanien, de taille gigantesque«, »une compagnie de Grecs dansait autour d’un vase où l’on voyait des nymphes« usw. G. Flaubert: Salammbô, S. 31f. Auch die erste Beschreibung von Salammbô in diesem Kapitel entspricht den Stereotypen des orientalistischen Schönen. 27 In einem die Entwicklungen der heute aktuellen Epistemologie des Raums vorwegnehmenden Aufsatz klassifiziert Foucault die Heterotopien und Heterochronien, jene Diskurskollisionen, die ›andere Orte‹ konfigurieren. Vgl. Michel Foucault: »Des espaces autres«, in: ders.: Dits et écrits, hg. von Daniel Defert/François Ewald, Bd. IV, Paris: Gallimard 1994, S. 752-762. Unter den inzwischen zahlreichen, auf der Basis dieses Begriffs entwickelten Ansätzen verweise ich auf meinen Artikel »Grenzen, Schwellen und andere Orte. ›…La géographie doit bien être au cœur de ce dont je m’occupe‹«, in: Vittoria Borsò/Reinhold Görling (Hg.), Kulturelle Topographien, Stuttgart: Metzler 2004, S. 13-41. 28 Zur räumlichen Konfiguration und Präsenzbehauptung von Fragment bzw. Ruine sowie zur Rolle dieser Präsenz für die Imagination vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. 191
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auch die Chancen der Visualität29 sind: Die Zertrümmerung der Historie im heterogenen Raum fremder, archaischer Kulturen macht die Zeit in ihrem Vergehen sichtbar. Der opake, aber expressive Bildraum inkarniert das Pathos einer selbstreflexiven Ich-Erfahrung30, die auch eine Metareflexion über die Unmöglichkeit des realistischen oder historischen Paradigmas ist.
D i e Ra u m - Ä s t he t i k d e s Z e i t b i l d e s Die zeiträumliche Ordnung des Romans entspricht bei Salammbô nicht mehr dem geometrischen Raum, in dem der Leser das allegorische Abbild eines Weltabschnittes erkennen könnte. Vielmehr ist das Sehen selbst, die Beziehung des Blicks zum Raum, zum Anderen im Raum, also das Wahrnehmen oder das Erinnern das zentrale Ereignis. Denn die gegenwärtigen Blicke können die durch die Zeitlichkeit fremd gewordene, heterogene Welt nicht mehr einholen. Im temporalen Regime des Bildes wird vielmehr die Zeitlichkeit sichtbar. Mit einem von Gilles Deleuze entlehnten Begriff nenne ich dieses temporale Regime das ›Zeitbild‹. Das Zeitbild ist nicht etwa das Abbild eines Zeitraums, sondern das Bild des Fließens der Zeit, des In-der-Zeit-Seins. Weil die moderne Kunst und Literatur die Wahrnehmung der Realität im Fluss der Zeit suchen31, ist das Zeitbild ein zentrales Moment moderner Ästhetik. Dieses temporale Regime, das Gilles Deleuze als dem Kino inhärent betrachtet, bestimmt schon in der Literatur der Jahrhundertwende verschiedene Modi der Zeitbehandlung. Der Augenblick und die Erinnerung sind zwei zu diesem Zeitpunkt immer wieder gesuchte Momente des Zeitflusses. Das Bild des Augenblicks, in dem die Gegenwart gleichsam im Entzug vorhanden ist, entsteht in einem zeitlich beschleunigten, beweglichen Bild-
29 Ich unterscheide deshalb zwischen der Ordnung der Sichtbarkeit (diskursiv, Auge) und der Visualität selbst, d.h. den Praktiken des Blicks (von visus, Gesichtssinn). Beim ersteren projiziert das Auge die sichtbare, diskursiv geregelte Ordnung des Raums. Es impliziert die Transitivität des Sehens der Realität und des Sprechens über die Realität. Erst Letzteres ist ein ›sehendes Sehen‹. Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. 30 Es ist die Erfahrung eines Ich, das angesichts eines unerreichbaren Anderen zwischen dem diskursiv analytischen und reflexiv kritischen Bewusstsein flottiert, was zeigt, dass ein solches ›Flottieren‹ nicht erst postmodern ist. Vgl. K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 105. 31 Vgl. G. Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 335. 192
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raum.32 Im Bildraum des Erinnerungsbildes sind dagegen unterschiedliche, sich fremd gewordene Zeitstellen markiert. Es ist jenes spektrale Bild, das eine tote Welt zur Animation bringt, wie das Erinnerungsbild des Schockgedächtnisses, das Marcel Proust in Le temps retrouvé als eine phantasmatische Erscheinung beschreibt.33 Das Zeitbild der Erinnerung entsteht also in einem durch den zeitlichen Stau heterogen gewordenen Raum. Dieses Bild ist für die Ordnung der Sichtbarkeit irritierend und durchbricht automatisierte Einstellungen des Auges.34 Der Stau der Zeit im Bildraum wird auch durch Salammbôs antike Welt inszeniert. Diese Thesen beinhalten auch eine implizite Bildästhetik. Sie betont die Markierung der Differenzen im Bildraum selbst, hier in Bezug auf die Zeit. Es ist eine Zeitschwelle, eine Schwelle von kontextlos zusammengefügten Fragmenten, die ihre eigene Zeitkonstellation in sich tragen. Das temporale Regime ist in diesem Roman der Abgrund zwischen einer stumm gewordenen historischen Zeit und einer sinnenthobenen Gegenwart.35 Es ist die temporale Choreographie der Moderne, die durch 32 Bei der Inszenierung des Augenblicks in Charles Baudelaires »À une passante« ist die Beweglichkeit der Menge von zentraler Bedeutung. Der Eintritt der Passantin in den beweglichen Raum der Großstadt ist ein reines Ereignis des Blicks und der Zeitlichkeit. Die Menge ist das Umfeld, das die Wahrnehmung neu strukturiert. Dieses Moment wird in Benjamins Kleine Geschichte der Fotographie und in seinem Essay zur technischen Reproduzierbarkeit explizit betont, dem Essay übrigens, in dem die maschinelle Arbeit nicht mehr als Entfremdung, sondern als Chance gesehen wird, in der Wiederholung eigene Strukturierungen der Wirklichkeit hervorzubringen. Dieses mediale Moment der Menge wird vom akustischen Material des ersten Verses betont, das nicht die Menge abbildet, sondern das Umfeld des Reizes erst zur Erscheinung bringt. Vgl. Vittoria Borsò: »Baudelaire, Benjamin und die Moderne(n)«, in: Bernd Kortländer/Hans T. Siepe (Hg.), Baudelaire und Deutschland – Deutschland und Baudelaire, Tübingen: Narr 2005, S. 105-125 (im vorliegenden Band S. 127-153). 33 Vgl. Vittoria Borsò: »Proust und die Medien: Écriture und Filmschrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit«, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.), Proust und die Medien, München: Fink 2005, S. 31-60. 34 Zu diesem Prinzip im gleichnamigen Film von Raoul Ruiz, vgl. ebd. 35 Joachim Küppers Analyse der kritischen Behandlung des Mythos durch diesen Roman kommt zu einer ähnlichen These hinsichtlich der Konstruktion eines fiktiven Raums, in dem – so Küpper – die Negativität der Moderne noch nicht herrscht. Küppers resignative These ergibt sich aus einer einseitigen Bezugnahme auf die kognitive Seite der Bilder, ohne ihre Ästhetik zu würdigen: Das, »wonach sich die Moderne sehnt, [ist] nicht reflektiert, sondern nur instantan, folgen- und bedeutungslos‚ gelebt«. Joachim Küpper: »Erwägungen zu Salammbô«, in: Brunhilde Wehinger (Hg.), 193
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das Fließen der Zeit den Raum des Textes und den visuellen Raum erst beweglich macht. In diesem Roman macht der visuelle Raum für die Konfrontation mit einer extremen Alterität empfänglich. Es geht dabei für Flaubert um die Entfernung von gewohnten Blickeinstellungen. Im Dictionnaire des Idées reçues heißt es tatsächlich unter »Orientaliste«: »Homme qui a beaucoup voyagé«.36 Schreiben heißt auch für Flaubert, sich deplatzieren, den Ort der Identität verlassen.37 Reisen ist mithin Metapher für den Raum der écriture. Die Entfernung von gewohnten Einstellungen ist in diesem Roman radikal. Die Blicke auf diese historisch und kulturell fremde Welt sind orientierungslos. Sie können in dem sich visuell mit outrance anbietenden kulturellen Raum keine Differenzierungen vornehmen, so dass die Inkommensurabilität des Gegenstandes zur Inkommensurabilität des Diskurses wird. Wenn schon bei Madame Bovary die Undeterminiertheit der Moral und die Unmöglichkeit, zwischen Gutem und Bösem zu unterscheiden, den eigentlichen Skandal des Textes bestimmt hatte38, so ist in diesem Roman der Wechsel zwischen heterogenen Fokalisatoren extrem. Mal blicken die Barbaren auf die hoch zivilisierte Kultur Karthagos und sind durch die Exzesse des Bösen erstaunt, mal verhält es sich umgekehrt. Das Staunen der Barbaren beim Anblick der durch die zivilisierte Kultur Karthagos vollzogenen Massaker gestaltet die Inkommensurabilität der Gewalt um so expressiver. Die politisch und rituell stark kodifizierte Zivilisation Karthagos ist mit den im Chaos lebenden Barbaren austauschbar, so auch in der Szene des Massakers an den Söldnern oder der Kinderopferungen durch lebendiges Verbrennen in den gierigen Flammen des Molochs. Eine klare Differenzierung des Blickes in ›wir‹ und ›die anderen‹ ist nicht mehr möglich. Diese Austauschbarkeit der Blicke wird durch die Heterogenität der Symbolik gestützt, deren markantes
Konkurrierende Diskurse. Studien zur französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Zu Ehren von Winfried Engler, Stuttgart: Franz Steiner 1997, S. 269-310, hier S. 310. 36 Vgl. Charles Grivel: »Reise-Schreiben«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 615-634. 37 So heißt es z.B. in Flauberts Voyage en Orient: »Je voulais sortir de chez moi, de mon moi, aller n’importe où, partout, avec la fumée de ma cheminée et les feuilles de mon acacia.« Gustave Flaubert: Voyages, Bd. II: Voyage en Orient, Paris: Belles Lettres 1948, S. 16. 38 Vgl. Jonathan Culler: Flaubert. The Use of Uncertainty, Ithaca: Cornell UP 1974. Mit der Undeterminiertheit wird auch in Madame Bovary der Plan verfolgt, bürgerlich-abendländische Seh- und Erlebensgewohnheiten zu sprengen. Vgl. K. Ley: Verborgene Lektüren. 194
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Beispiel die Szene der gekreuzigten Löwen ist, welche eine blasphemische Ähnlichkeit mit der Ikonographie der Kreuzigung Christi aufweist.39 Jenseits des historistischen Details der Löwenopfer als symbolische Zerstörung des politischen Feindes Rom (in den Quellen gilt der Löwe für Karthago als Symbol des verhassten Rom) konnotiert der Überschuss der Beschreibung eine gefährliche Nähe zum Christentum.40 Das Monsterhafte der beschriebenen Welt wird zum Bestandteil der Zivilisation. Die Wildnis ist in der Zivilisation41, das wilde Denken ist die andere Seite der Rationalität.42 Das Böse ist somit auch in Salammbô kein Sündenfall, den man funktionsgeschichtlich zu erklären hätte. Entscheidend ist nicht der Zusammenbruch des Historischen, sondern die monströse Darstellung selbst, wie Karl-Heinz Bohrer in Nach der Natur im Zusammenhang mit Salammbô, aber auch für das ähnlichen Prinzipien verpflichtete Bild von
39 Die Kreuzigung der Löwen durch die Karthager ist eine auch von der Forschungsliteratur stets zitierte Kernstelle. Neben der Blasphemie konfrontiert die Expressivität des Bildes mit dem Monströsen dieser Kultur: »C’était un lion, attaché à une croix par les quatre membres comme un criminel. Son mufle énorme lui retombait sur la poitrine, […] ses jambes de derrière, couées l’une contre l’autre, remontaient un peu; et du sang noir, coulant parmi ses poils, avait amassé des stalactites au bas de sa queue qui pendait toute droite le long de la croix.« G. Flaubert: Salammbô, S. 53f. Die Beschreibung wird durch den Blick der Barbaren fokalisiert: »Ainsi se vengeaient les paysans carthaginois quand ils avaient pris quelque bête féroce; ils espéraient par cet exemple terrifier les autres. Les Barbares, cessant de rire, tombèrent dans un long étonnement. ›Quel est ce peuple‹, pensaient-ils, ›qui s’amuse à crucifier des lions.‹« Ebd., S. 54. 40 Bohrers These, »daß bei der semantischen Organisation einer Phantasie des Bösen das Verweigern von Sinn den Höhepunkt darstellt« (K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 129) wird anhand der Szene der gekreuzigten Löwen veranschaulicht: »Die gekreuzigten Söldner können sich und ihren Tod auf keiner menschlich-historisch-symbolischen Ebene mehr verstehen, sondern nur noch auf der Ebene der gekreuzigten Löwen: es gibt immer nur Natur.« 41 Ich beziehe mich auf Freuds Darstellung der (gewaltsamen) Alterität der Zivilisation in Totem und Tabu, aber auch in »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«. Vgl. hierzu die Analyse von Bernd Witte: »Sigmund Freuds ›Der Mann Moses‹ und die jüdische Tradition«, in: Vittoria Borsò/Gerd Krumeich/Bernd Witte (Hg.), Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen, Stuttgart, Weimar: Böhlau 2001, S. 55-68. 42 Vgl. Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage, Paris: Plon 1983. 195
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Eugène Delacroix, La mort de Sardanapale, hervorhebt.43 Im Salon von 1827 zusammen mit Ingres’ Apothéose d’Homère ausgestellt, spielte dieses Gemälde in der Geschichte der romantischen Kunst eine ähnliche Rolle wie die Préface de Cromwell von Victor Hugo. Victor Hugo war auch einer der Wenigen, die die outrance, d.h. die Exzesse dieses Bildes nicht verurteilten. Denn die zeitgenössischen Kritiker betonten vor allem dessen Unlesbarkeit. Die Komposition ist zwar auf Diagonalen gegründet, sie sprengt aber die Homogenität des Bildraums auch schon durch die Entgrenzung des Bildrahmens, etwa durch den abgeschnittenen Menschen auf der rechten Seite oder durch das Pferd, das vom linken Rand in das Bild hineinstürmt. Auch hier bricht die Zeitlichkeit in einen heterogenen, nicht orientierten Raum. Die vibrierende Farbe Rot, die die Romantiker beeindruckt, ebenso wie die Steigerung der warmen, an Rubens erinnernden Farben auf der Diagonale, nehmen über die Blutsymbolik hinaus eine Protagonistenrolle als visuelles Ereignis der Zeit ein. Im abschätzigen Urteil von Étienne-Jean Delécluze, Schüler von JacquesLouis David, finden wir einige der bisher auch bei Salammbô genannten Prinzipien: Nicht-Verstehbarkeit des Bildes, Isolierung des Details und Fragmentierung, Konfusion für das Auge. Selbstverständlich handelt es sich für den klassischen Geschmack um Gründe für die barsche Ablehnung des Bildes. »L’intelligence du spectateur n’a pu pénétrer dans un sujet dont tous les détails sont isolés, où l’œil ne peut débrouiller la confusion des lignes et des couleurs, où les premières règles de l’art semblent avoir été violées de parti pri. Le Sardanapale est une erreur du peintre.«44 Die Zurschaustellung der Monstrosität im Bildraum – und nicht etwa eine unmoralische Handlung im Dargestellten – ist das eigentliche Skandalon des Bildes. Im Zitat von Delécluze haben wir einen schönen Beleg für die revolutionäre Ästhetik des ›bösen Kunstwerks‹.45 Die Kunst selbst wird zum Skandal, weil die Sphäre des Scheins nicht durch inhaltliche oder moralische Zuschreibungen gezähmt, pädagogisiert werden kann.46 Gerade weil die Bilder der Imagination des Bösen 43 K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 118. Sardanapale entspricht der historischen Figur von Assurbanipal (669-627 v. Chr.). Die von Delacroix gemalte Szene behandelt die dramatische Episode des Todes des persischen Königs, der sich ob seines sicheren Todes bei der Belagerung der Stadt zum Suizid in Begleitung seiner Sklaven und Favoritinnen entscheidet. 44 Zit. nach ebd., S. 118. 45 Baudelaire selbst ist Erfinder des ›bösen Kunstwerkes‹, und zwar mit Bezug auf die sadistische Phantasie von Delacroix’ Tod des Sardanapale, des vom Gemetzel träumenden Blutherrschers, dem Baudelaire im Gedicht »Les phares« huldigt. Vgl. ebd., S. 116f. 46 Vgl. ebd., S. 110. 196
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keinen allegorischen Kern haben, weil die Symbolik nicht deutbar ist, ist die Darstellung selbst skandalös. Wir haben eine moderne Form des Monströsen, jene Form, die das Fundament des moralischen Urteils aufhebt, weil sie einen Angriff auf die ›natürliche‹ Ordnung der Diskurse ist. Das moralische Urteil scheitert an dieser Darstellung, findet einen Widerstand in der Maßlosigkeit des Gezeigten, am Rätsel des Gesehenen. Zu Recht meint Bohrer, dass, wie bei Franz Kafkas »In der Strafkolonie«, die entgrenzte Imagination und entidentifizierende Sprache die Ordnung fundamental angreifen. Im nicht diskursiven Denken, also in der Kunst, wird der Schritt vollzogen, etwas anderes als unser Bewusstsein als ein Erstes anzusetzen.47 Das Primat der Ästhetik wird seitdem zum Skandal für die Bewusstseinsphilosophie und für das Diskursive.48 Würde man inhaltsästhetisch argumentieren, etwa im Sinne eines dichterisch dargestellten Bösen, so wäre die Ästhetik des Bösen als Imaginationsakt, vor allem ihr beunruhigendes Moment, zerstört. Bohrer wird deshalb nicht müde, zu betonen, dass »bei der semantischen Organisation einer Phantasie des Bösen das Verweigern von Sinn den Höhepunkt darstellt«. 49 Wenn Bohrer den Radikalismus der Form des Bösen als das eigentliche subversive Potenzial bezeichnet, so erkennt er in luzider Weise darin ein Moment, das von Georges Bataille zu Antonin Artaud und zu den so genannten ›dissidenten‹ Avantgarden führen wird.
D a s b ö s e K u n s tw e r k : D i e su b v e r s i v e Ä s t he ti k d e r M o d e r n e Mit der Verabschiedung der Mimesis sind wir auf die ästhetische Form, auf die Sprach(-Materialität) selbst verwiesen50, welche in Salammbô am Bösen beteiligt ist. Die Kunst kann nicht mit gesellschaftlichen und tugendaffirmativen Forderungen belastet oder ins ideologische Abseits gestellt werden. Dies ist ein für die Ordnung der Diskurse und für moralisierende kanonische Ästhetiken unerträglicher Angriff.51 »Nach der Na47 Vgl. ebd., S. 108. 48 Nach Flaubert (Baudelaire und Nietzsche) hat die Ästhetik ein Wissen, das Michel Foucault »un si cruel savoir«, nannte, so Bohrer. Ebd., S. 132. 49 Ebd., S. 129. 50 Vgl. ebd., S. 125. Das Problem des Surrealismus ist, so meint Bohrer zu Recht, die Verabschiedung von der surrealistischen Zerstörungsmetapher, die nur im poetischen Raum zu denken war und der Versuch, eine Realutopie zu verwirklichen. Vgl. ebd., S. 100f. 51 Die Argumentation Bohrers, die Ästhetik des Bösen betreffend, hat einen konstanten Referenzpunkt. Es ist die Kritik der moralisierenden und ratio197
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tur«, d.h. am Ende der Naturgeschichte, behauptet sich die Ästhetik, weil der Raum des Historischen – wie Flaubert in Salammbô unmissverständlich inszeniert – gescheitert ist. Daher koinzidiert der Beginn der Moderne mit dem Ende der als glücklicher Raum gedachten teleologischen Historie. Sardanapal bietet, wie Salammbô, keine geschichtsphilosophische Perspektive. Der Bildraum dieser Werke zeigt das schiere Massaker, bei dem der Mensch nicht Subjekt, sondern isoliertes Objekt unter isolierten Objekten ohne historische oder moralische Strukturierung ist. Salammbô ist eine Zeitschwelle: Der Roman bringt das historische Zeitalter zu einem Ende und trägt den Keim der Spätmoderne in sich.52 Denn nach dem Prinzip des Primats der Form wird die Katastrophe der Zeit und des Ver-
nalisierenden philosophischen Traditionen, die in Deutschland dieses Verständnis der Moderne behindert haben: Dazu gehören Hegel, der das Böse aus der Sphäre des Geistes ausgeschlossen hat, Max Weber, der durch Ausdifferenzierung der kulturellen Wertsphäre die Beunruhigung durch die Kunst immunisiert hat, und Jürgen Habermas, der versucht hat, das Projekt der Moderne im Sinne des Erbes der Aufklärung zu retten, es von der Zerstörung der Vernunft zu bereinigen. Der Schrecken wird hier theologischphilosophisch annihiliert, durch Rationalisierung aufgehalten, das Böse idealistisch umgebogen. Die Reduktion der Ästhetik des Bösen auf inhaltliche Deutungen durch Pädagogik, Philosophie und Geisteswissenschaften führe zu einer Zerstörung des ästhetischen Konstrukts. Bohrer geht es also um die Kritik der Reduktion des Kunstwerks auf Mimesis und Geschichtsphilosophie. Ein zweites Moment ist die Kritik einer für die pragmatische, historische und ideologische Funktionalisierung der Kunst zerstörerischen Ästhetik, einer Ästhetik, wie sie Bohrer im ideologischen Deutschland oder auch in den Massenmedien vertreten sieht, nämlich als Arrangement der Form mit dem juste milieu (vgl. ebd., S. 15), eine Kunst, die eine Identität zwischen Formalem und Inhaltlichem schafft und dem ›Etui-Menschen‹ dient, wie Benjamin den unkritischen Bourgeois der fortschrittsbejahenden Moderne in seinem Artikel »Der destruktive Charakter« (1931) bezeichnete. Siehe in: ders.: Gesammelte Schriften IV: Kleine Prosa. BaudelaireÜbertragungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972, S. 396-398. Vgl. hierzu K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 98. 52 Für Salammbô trifft die Feststellung Rainer Warnings mit Bezug auf Kierkegaards Charakterisierung der geschichtlichen Umbruchsituationen als ironieträchtige Formationen zu: »Ironie hat ihren historischen Ort in Übergangszeiten zwischen einem abgeschiedenen Alten und einem noch nicht absehbaren Neuen.« R. Warning: Die Phantasie der Realisten, S. 163f. Flaubert verweist darauf im Brief an seinen Freund Louis Bouilhet im Jahre 1850: »Un passé en ruines et un avenir en germes; l’un est trop vieux, l’autre trop jeune. Tout est brouillé.« Zit. nach R. Warning, ebd., S. 164. 198
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schwindens zur Katastrophe der Form selbst; das Verschwinden greift auf die Ästhetik über, die das Verschwinden zur Erscheinung bringt. Jean-François Lyotard bezeichnete eine solche Ästhetik als das Informe. In seiner Lektüre von Kants dynamischem Erhabenen sah Lyotard das revolutionäre Moment des modernen Kunstwerks nicht im Abbild des Bösen als historischem und gesellschaftlichem Inhalt, sondern in der Dissolution der Form. Nach dem Wegfall der großen historischen Narrationen ist unsere Imagination nicht mehr dazu fähig, stabile, synthetische Bilder für die Imagination der Geschichte zu finden.53 Nach dem Zusammenbruch der Idee des Historischen und der Heterogenität der Geschichte(n) ist die Zersetzung der Repräsentationsformen des Historischen der rote Faden der modernen Geschichte.54 Lyotard stellt deshalb eine eigentümliche Allianz zwischen der ästhetischen und der historischpolitischen Derealisierung fest und zeigt auch die Gefahren, die das moderne (und spätmoderne) Verständnis der revolutionären Ästhetik des Erhabenen in sich birgt.55 Denn die Vernunft tendiert dazu, gegen die zerbrochenen Formen ein vereinheitlichtes Prinzip und synthetische Formen indirekt wieder herzustellen.56 ›Sublime Repräsentationen‹, d.h. Repräsentationen des Schreckens, machen den Zusammenfall der Formen im Schein rückgängig, d.i. das Zeichen des Triumphes der Imagination und der Ästhetik des Schreckens, und zerstören die Ästhetik des Erhabenen zu Gunsten der Repräsentation zerstörerischer Inhalte. Beides findet sich in der Geschichte der Moderne. Wir haben auf der einen Seite das Spektakel des Todes, die Demonstration des Zusammenfalls der Vernunft, der Dehumanisierung der Welt, des Terrors; auf der anderen Seite finden wir die Zerstörung der Repräsentation, das Verschwinden stabiler Formen und die selbstreflexive Kunst. Wir haben also zwei Typen der Ökonomie des Schreckens: die erhabene Repräsentation und die Ästhetik des Erhabenen; die spektakuläre Kunst, die sich der gesellschaftlichen Kommunikation unterwirft57, und die
53 Zu Lyotards Verständnis des Erhabenen, das im Zusammenhang mit Wahrnehmungsobjekten auftritt, bei denen die Imagination zu keiner Synthese mehr kommt, vgl. H. U. Gumbrecht: Die Macht der Philologie, S. 38. 54 Vgl. Jean-François Lyotard: L’enthousiasme. La critique kantienne de l’histoire, Paris: Galilée 1986, sowie ders.: Leçons sur l’analytique du sublime, Paris: Galilée 1991. 55 Zum Erhabenen in Salammbô vgl. auch die bereits erwähnte Studie von M. Bosse/A. Stoll: Die Agonie des archaischen Orients. 56 J.-F. Lyotard: L’enthousiasme, S. 32. 57 Für Benjamin ist der destruktive Charakter im ›historischen Menschen‹ aufgehoben. Gemeint ist damit der Mensch, »dessen Grundaffekt ein unbezwingliches Mißtrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit ist, 199
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Ökonomie einer ›bösen Kunst‹, einer beunruhigenden, unversöhnlichen und unbequemen Ästhetik.58 Beide Paradigmen setzen sich im Surrealismus fort. Man denke an den orthodoxen Surrealismus der ›Väter‹ vom Montparnasse (André Breton, Paul Eluard, Philippe Soupault, Louis Aragon) und an die subversive Gruppe von der Rue Blomet mit Georges Bataille, Jean Cocteau, Michel Leiris und Antonin Artaud, aber auch an die gesamte avantgardistische Kunst des 20. Jahrhunderts. So lässt sich auch die Metapher der Revolverschüsse im zweiten Manifest des Surrealismus von Breton als Ausstieg der Kunst aus dem Schein verstehen: »L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule. […] La légitimation d’un tel acte n’est, à mon sens, nullement incompatible avec la croyance en cette lueur que le surréalisme cherche à déceler au fond de nous.«59 (meine Hervorhebung)
Breton glaubte, eine Realutopie zu verwirklichen. Er verabschiedete sich von der surrealistischen Zerstörungsmetapher, die nur im poetischen Raum60 – und im Bildraum – zu denken ist. Breton ersetzt die Ästhetik des Erhabenen, jene Ästhetik, die ein Angriff auf die Ordnung des Historischen, Politischen und Pädagogischen ist, durch die politisierte Kunst. Der ›surreale‹ Sinn des Unbewussten wird geborgen, wie dies im obigen Zitat auch die Lichtmetaphorik zeigt, der Schrecken wird dabei moralimit der er jederzeit davon Notiz nimmt, daß alles schief gehen kann.« Benjamin 1931, zit. nach K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 98. 58 Dass diese Ästhetik immer noch provozierend ist, zeigen die Würdigungen des Literatur-Nobelpreisträgers 2003, John Maxwell Coetzee. Z.B.: »Coetzee bringt nicht Trost, sondern Unbehagen, und das Unbehaglichste an seinen ebenso kargen wie stilistisch brillanten Büchern ist, daß der Zweifel an Rationalität und moralischer Erkenntnis die Wörter selbst zu zerfressen droht, das einzige Instrument, über die schlechte Welt zu kommunizieren […]. Südafrika liefert ihm nicht den Vorwand zu prallem Naturalismus, sondern Stoff zum Entziffern, der den Leser immer tiefer in ein geheimes Verweissystem lockt. Es ist, als hätte Coetzee sich gegen jegliches Moralisieren, das die Apartheid dem aufgeklärten Intellektuellen nahelegte, panzern wollen, indem er seine Figuren weniger zu Botschaftern als zu Schauplätzen des Konflikts macht: Sie können die Ereignisse nicht lenken, sondern müssen erdulden, daß sie in ihnen stattfinden.« Paul Ingendaay: »Wege, die zur Schlachtbank führen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.10.2003, S. 37. Die Akademie markiere damit eine »Rückkehr zur Ästhetik«, so Elmar Krefeler in: Die Welt vom 4.10.2003, S. 27. 59 André Breton: Manifestes du surréalisme, Paris: Gallimard 1973, S. 79f. 60 Vgl. K.-H. Bohrer: Nach der Natur, S. 100f. 200
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siert, ist Teil der Regeln der Perfektibilität des Menschen. Breton transformiert damit das Böse in das Gute, denn ähnlich der Historie, die das Sublime der Menschheit als telos hat, sucht Breton die Repräsentation des Sublimen im Individuum. Die Gewalt ist damit ein acting out gegen das Fremde, gegen all das, was die Vernunft übersteigt und einen Angriff gegen die eigene Identität darstellt. Das Fremde ist etwas, was zerstört werden muss.61 An Breton zeigt sich, wie jene Avantgarden, die die Kunst in den von Flaubert verabschiedeten moralischen Diskurs reintegrieren, hinter den offenen Raum der modernen Ästhetik zurückfallen. Flaubert hatte sich an der Schwelle dieses offenen Raums befunden, ohne ihn freilich betreten zu können. Diesen Bild-Raum, den unmittelbar darauf Mallarmé entfaltet hat, möchte ich andeutend entwickeln.
Z e i t l i c h k e i t i m B i l d – B i l d r äu m e Das Subversive in der Kunst muss sich auf die Form, auf das Bildgeschehen, beziehen. Deshalb wendet sich die Kunst der Moderne von der narrativen, ikonologischen Interpretation des Bildes ab; das Bild braucht die verrätselnde Struktur der Schrift und die Schrift den Bildraum der Malerei. Sucht man auch in der Literatur nach einer Ästhetik des Bildes, so liegt diese nicht im mentalen Bild, d.h. im Bildgedanken des Textes, der von der Semantik der Narrative erzeugt wird. Vielmehr ist das ›Bild‹ eine Unterbrechung des narrativen Flusses, es entsteht im Zwischenraum der linearen Narration. Dieses Prinzip, das die Narratologie in den Digressionen erkannt hat, haben sich z.B. die Nouveaux Romanciers zum Instrument der diskursiven Sinnverweigerung und der Erfahrung der subjektiven Zeit gemacht. Die Visualität und die Wahrnehmung stehen also in direkter Abhängigkeit mit der Stillegung der Narrative. Neben den Digressionen ist die Ironie ein solches Mittel, durch das der Text zum ›gegenstandsindifferenten Wahrnehmungs- und Reflexionsmedium‹ wird, statt eine vorgegebene Wahrheit aufscheinen zu lassen. So interpretiert Rainer Warning Flauberts Formel von einem Stil, der einzig und al61 Bretons Verständnis dieser Metapher ist diametral entgegengesetzt zum Verständnis durch die spätere dissidente Gruppe von Surrealisten. Das Theater der Grausamkeit von Antonin Artaud ist zwar inspiriert von einer Polizeirazzia, die allerdings als selbstreflexive Metapher verstanden wird. Der Zuschauer erkennt sich darin selbst. Es ist eine Operation, die dazu dient, das Andere in sich selbst sichtbar zu machen. Bataille wird diesen subjektiven Theaterraum in der Schrift, etwa in den glossopoetischen Experimenten der Documents (z.B. »Le gros orteil«) finden. 201
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lein eine »manière absolue de voir les choses«62 darstellt. Flaubert skizziert in jenem Brief an Louise Colet eine Theorie der ›Roman-Form‹, die nach den Regeln der reinen Kunst verfährt, nämlich einer Kunst ohne Gegenstand.63 Dieses Prinzip antizipiert eine moderne Bildästhetik im Sinne eines vom Bildgedanken unabhängigen Ereignisses der Visualität. Die Qualität des Bildens liegt hier nicht in der Sinnevidenz des Bildes. Wie sehr die Bildästhetik der Moderne an dieses Prinzip anschließt, ließe sich an einer Reihe von Belegen darstellen, auf die wir zu Anfang unserer Überlegungen bereits hingewiesen haben. Es war unter anderem Roland Barthes, der die Interpretation des Bildes als Träger des Sinns, insbesondere als Träger gesellschaftlicher Inhalte, zurückwies, denn solche Lektüren gehen auf Kosten des Bildgeschehens. In einem Aufsatz mit dem Titel »Visualisation et langage«64 aus dem Jahre 1967 kritisiert Barthes die Interpretation des Bildes im Sinne der Koiné-Annahme seiner Ikonizität, als sei die Ikonizität eine supralinguistische, anthropologische Konstante mit unmittelbarer semantischer Evidenz. Das neue technokratische Vertrauen in die multimediale Pädagogisierung des Denkens wäre hier hinzuzufügen. Barthes spricht von der Akkulturation des Bildes65, die dann eintritt, wenn man das Bild der Ordnung des Diskurses zuschreibt. Eine solche Funktion des Bildes nennt Barthes eine Art ›sozialer Wehrdienst‹.66 Und auch hier sieht man die Linie jener Kritik moralisierender Kunst, die Flauberts Ästhetik des Bösen angekündigt hatte. 62 R. Warning: Die Phantasie der Realisten, S. 307. 63 So die vollständige Passage aus dem Brief an Louise Colet vom 16.01.1852: »C’est pour cela qu’il n’y a ni beaux ni vilains sujets et qu’on pourrait presque établir comme axiome, en se posant au point de vue de l’Art pur, qu’il n’y en a aucun, le style étant à lui tout seul une manière absolue de voir les choses.« G. Flaubert: Correspondance II, S. 31. 64 Vgl. Roland Barthes: »Visualisation et langage«, in: ders.: Œuvres complètes II, Paris: Seuil 1996, S. 112-116. 65 Hans Belting betont ebenfalls die funktionalistische Einschränkung des Bildes, wenn das Bild zu einem ikonischen Zeichen wird, d.h. an das Kognitive statt an das Sinnliche gebunden wird. Mit einer umgekehrten Mimesis werden in der modernen Kunst die Objekte zu Mitteln, die Bilder zur Erscheinung zu bringen. Vgl. H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 14f. Zur Bildfunktionalisierungsthese vgl. auch Vittoria Borsò: »Luis Buñuel: Film, Intermedialität und Moderne«, in: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.), Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt: WBG 1994, S. 159179 (im vorliegenden Band S. 209-231). 66 Wie wirksam die Annahme der ikonischen Evidenz des Visuellen und von dessen pädagogischer – mit Paul de Man (Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust, New Haven/London: Yale UP 1979) als persuasiv zu bezeichnender – Potenz hinsichtlich des 202
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Barthes artikuliert erneut das Misstrauen, das die moderne Kunst schon gegen das im Abendland souveräne Auge hervorgebracht hatte. Tatsächlich entsteht die Visibilität als Aktivität des Bildens in dem Maße, in dem die Macht des Auges eingeschränkt wird, denn die Beweglichkeit des Blickes auf dem Bildraum ist wichtiger als der vermeintlich ›sichtbare‹ Sinn.67 Wenn der Betrachter die (labyrinthischen) Wege des Bildgeschehens beschreitet, so wird das Sehen zu einer nicht zielgerichteten, tanzähnlichen Bewegung, die Metapher, mit der Paul Valéry die Poesie vom teleologischen Regime der nicht-poetischen Sprache absetzen wollte. Unter dem Eindruck der modernen Malerei, insbesondere der Tänzerinnen von Edgar Degas, konzipiert Valéry im poetischen Dialog »L’âme et la danse« (1923) und im Essay »Degas, Dane, Dessin« (1937) eine Ästhetik der Blickbewegungen. Den vom Ereignis der Visualität konstituierten Raum hatte Maurice Merleau-Ponty68 als Chiasmus zwischen schauendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt beschrieben. Es ist eine räumliche Schwelle zwischen Innen und Außen, aber auch eine Schwelle der Zeit. Dies hat entscheidende narratologische69 und topologische Konsequenzen. Nicht der Raum strukturiert die Wahrnehmung, sondern die Zeitlichkeit den Raum; letzterer wird ein qualitativer Ort, den Maurice Merleau-Ponty den anthropologischen Raum genannt hat, weil sich durch Bildgedankens ist, zeigt nicht nur die longue durée der These über die Erkenntnisfunktion der Bildlichkeit, sondern auch die Narrativitätsthese des Kinos. Ein herausragendes Beispiel ist die Interpretation des ikonischen Potenzials der Metaphern im Sinne der Vermittlung neuer Erkenntnisse in La métaphore vive von Ricoeur (1975), wobei die Bedeutung dieser Studie, die die rhetorische Funktion der Metapher als uneigentliches Sprechen hinter sich lässt, unbestritten bleibt. 67 Jacques Lacan hat den Gegensatz von Auge (als Dispositiv der Zensur und der Projektion) und Blick als ein Vermögen konzipiert, das die Blickrichtung beweglich macht, so dass das Subjekt angeblickt wird. Vgl. Jacques Lacan: »Die Spaltung von Auge und Blick«, in: ders.: Das Seminar, Bd. XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin: Quadriga 1980, S. 73-126. Dieses Moment der Visibilität ist zentral bei Maurice Merleau-Ponty (z.B. Le visible et l’invisible, Paris: Gallimard 1964), JeanFrançois Lyotard (Discours, Figure, Paris: Klincksieck 1971) und Roland Barthes (La chambre claire). 68 Vgl. M. Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible. 69 Für die Narratologie bedeutet dies, dass nicht die makrostrukturellen Funktionen die Konfiguration der Zeit der Narration bestimmen, wie im klassischen realistischen Roman, sondern die Zeit der Narration und die Rhythmen der Wahrnehmung den Raum konfigurieren. Dieses im Nouveau Roman praktizierte Prinzip wird von Deleuze zum zentralen Moment seiner Analyse des Zeitbildes erhoben. 203
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diesen das Subjekt überhaupt konstituiert. Gottfried Boehm erinnert für die Kunstgeschichte daran, wie wichtig die Zerstörung des karthesianisch-zentralperspektivischen Bildbegriffs durch Paul Cézanne für die Entdeckung des so genannten anthropologischen Raums durch MerleauPonty war, in dem die Wahrnehmung nicht kategorisiert und monokausal vom Subjekt zum Objekt gerichtet ist, wie im geometrischen Raum, sondern ein Tunt, das die Räume durchquert.70 Deswegen impliziert eine Theorie des Bildes auch eine bestimmte Theorie des Subjekts, das durch die Visualität sein Verhältnis zum Anderen und zur Differenz konstituiert. Dies geschieht im »image-temps«.71 Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist nicht mehr die Opposition, sondern das Fließen, die Übergänglichkeit von Innen und Außen. Das Fließen hat Deleuze in seiner Analyse des kinematographischen ›Zeitbildes‹ beschrieben. Mehrere Aspekte des Bildes betreffen die Zeitlichkeit: z.B. fragmentiert die Kadrierung die Einheit des Raums und der Zeit. Die Kadrierung situiert den Ort der Geschichte und gibt damit die Zeitorientierung selbst. Sie verweist zugleich auf das Zeitkontinuum, d.h. auf die anderen Zeitstellen im Fluss. Deshalb ist das Verhältnis von Kadrierung und Bild auch ein Verhältnis der Zeitlichkeit, bei der die Gegenwart als Schwelle zu den anderen Zeitstellen gilt, wie Deleuzes Uminterpretation der bergsonschen Dauer bei der Analyse des Zeitbildes im Kino gezeigt hat. Noch vor Deleuze hatte der Cineast und Theoretiker Pascal Bonitzer die Markierung des Augenblicks als das Mittel zur Dezentrierung des Bildraums in der barocken Kunst erkannt und darin eine Präfiguration des Kinos festgestellt, z.B. anhand des Bildes des Heiligen Hieronymus von Albrecht Dürer. Die Zeit breche durch den schrägen Lichtstrahl auf den Heiligen aus dem vom Rahmen gegebenen off in das Bild ein. Dadurch portraitiere das Bild den Heiligen in einem besonderen Augenblick, was auf die Zeitlichkeit aufmerksam mache.72 Wenn die Chronologie arretiert wird und die Zeitlichkeit in den Bildraum tritt, dann wird die Erfahrung des Flusses der Zeit möglich und das Bild als Figur der Zeitlichkeit sichtbar. Das ›Zeitbild‹ ist also das Gegenteil eines – inhaltlich dekodierten – Bildes der Zeit. Es geht um die Konstitution einer zeitlichen Konstellation, die einen ›anderen Blick‹ auf den Raum bestimmt. Unter dieser Perspektive lässt sich die Wahl des historischen Themas von Salammbô jenseits eines historistischen Anliegens erklären. Die antike orientalische Welt hat bei 70 Vgl. G. Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 19. Darauf geht Michel de Certeau bei seiner Umdeutung der Grenze als Kontaktraum ein. Vgl. ders.: L’invention du quotidien. Arts de faire, Bd. I, Paris: Gallimard 1980. 71 Vgl. Gilles Deleuze: L’image-temps, Paris: Minuit 1985. 72 Vgl. Pascal Bonitzer: Décadrages: Peinture et cinéma. Paris: Cahiers du cinéma/Éditions de l’Étoile 1985. 204
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diesem Ansatz eine phänomenologisch-ästhetische Erklärung. Ihre historische und kulturelle Fremdheit verabschiedet die alte Zeit. Ein neuer Bildraum ist im Keim enthalten. Aber die Emanzipation des Blicks vom Auge und die freie Beweglichkeit im Raum wird erst mit Mallarmés Un coup de dés vollends stattfinden. Mit ihm entfalten sich durch eine zunehmende Abwesenheit der Verweisfunktion auf die Welt bewegliche Konstellationen auf dem Bildraum. Die narrative Zeit ist zerstört. Der temporale Rhythmus hat – wie es Deleuze für das Zeitbild zeigt – eine sensomotorische Geschwindigkeit, sichtbar in der geradezu kinematographischen Montage, die sich Seite für Seite neu einstellen und in die sich der Leser selbst einbringen muss, indem er die Richtung der Lektüre (wie beim Tanz) und damit auch die Organisation der Schrift bestimmt. Ein nicht strukturierter, beweglicher Raum wird entworfen, der die Orientierung und die Voreinstellung stets entgrenzt. Auf der Oberfläche der Buchstaben und in der eingerahmten Fläche des Bildes erzeugt der Blick den Raum immer neu. Der Text wird zu einem Mobile.73 Das Lesen ist verräumlicht, die Haltepunkte sind fragmentarisch und beweglich. Hatte schon bei Flauberts Salammbô das Verb ›sein‹ die Orientierung im Raum nicht mehr strukturiert, so wird sich als Signatur der Kunst des 20. Jahrhunderts ejne Schrift konkretisieren, die Mallarmé im letzten Teil von Un coup de dés mit dem Satz überschreibt: RIEN N’AURA LIEU QUE LE LIEU.
L i t e r at u r Barthes, Roland: La chambre claire, Paris: Gallimard/Seuil/Cahiers du cinéma 1980. Ders.: »Visualisation et langage«, in: ders.: Œuvres complètes II, Paris: Seuil 1996, S. 112-116. Bataille, Georges: L’érotisme, Paris: Minuit 1957. Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink 2001.
73 So Mallarmé in »Crise de Vers«: »L’œuvre pure implique la disparition élocutoire du poète, qui cède l’initiative aux mots, par le heurt de leur inégalité mobilisée; ils s’allument de reflets réciproques comme une virtuelle traînée de feux sur des pierreries, remplaçant la respiration perceptible en l’ancien souffle lyrique ou la direction personelle enthousiaste de la phrase.« Stéphane Mallarmé: Igitur. Divagations. Un Coup de dés, Paris: Gallimard 1976, S. 248. 205
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LUIS BUÑUEL: FILM, INTERMEDIALITÄT UND MODERNE* Eine Einstellung aus Tristana1 leitet meine nachfolgenden Überlegungen zu den intermedialen Aspekten des Films in der Ästhetik der Moderne.2
Tristana soll als Beispiel für eine Filmästhetik dienen, die trotz formaler Unterschiede zum avantgardistischen Programm in gewisser Weise Lautréamonts Prinzip des Schönen als Begegnung des Heterogenen realisiert.3 Meine Absicht, ein solches Beispiel und nicht eines aus der surrealistischen Phase Buñuels als Entsprechung zur avantgardistischen Ästhetik zu untersuchen, mag zunächst überraschen. Ausgerechnet an ei*
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Erstmals erschienen in: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.), Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt: WBG 1994, S. 159-179. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Abbildung entnommen der Internetseite www.cinedeautor.com. Zum Verständnis von Moderne vgl. Anmerkung 21. Der Comte de Lautréamont (Isidore Ducasse) sprach von der Verbindung von Nähmaschine und Schirm auf einem Seziertisch (»[…] beau comme […] la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie«). Isidore Ducasse: Les chants de Maldoror, Paris: Bordas 1970, S. 200. 209
DAS ANDERE DENKEN, SCHREIBEN, SEHEN
nem Beispiel aus dem Jahre 1970, d.h. aus der so genannten ›realistischen‹ Phase von Buñuels Werk, sollen Parallelen zu Prinzipien gefunden werden, die zum Kanon des Surrealismus erhoben worden waren. Dort war das bretonsche Postulat des kühnen Bildes maßgeblich, das den höchsten Grad an Überraschung mittels einer Annäherung entfernter Bereiche hervorrufen sollte.4 Akzeptiert man das Verständnis der surrealistischen ›kühnen Metapher‹ im Sinne eines ›Leistungssprungs‹5, d.h. als Sprung von einer Wirklichkeitsebene in eine Traumdimension6 und in eine andere, ›surreale‹ Logik, dann bleibt man im Zirkelschluss des surrealistischen Kanons gefangen. Dieser hatte nämlich mit der Kritik der Traumsprache an der rationalen Logik auch deren Prämissen übernommen. Statt mich dieser Rezeption des Surrealismus anzuschließen, ziehe ich vor, das Paradoxon im buñuelschen Werk zum Thema zu machen. Im Widerspruch zwischen einer formalen Diskontinuität seiner Filme und den eigenen Behauptungen des fortdauernden Zusammenhanges einer »surrealistischen moralistischen Linie«7 werden gemeinsame Momente erkennbar, die Überlegun4
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Im Ersten Manifest des Surrealismus (1924) fordert Breton unter Bezug auf Reverdy einen »Spannungsunterschied« bei der Annäherung entfernter Wirklichkeiten und kritisiert etwa den Vergleich, der nur schwache »Funken« erzeuge. Vgl. André Breton: »Erstes Manifest des Surrealismus«, in: ders.: Die Manifeste des Surrealismus, dt. von Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1962 [1924], S. 11-43, hier S. 35. Harald Weinrich zeigt, dass die positive Bewertung des logischen »Sprungs« bei der so genannten surrealistischen ›kühnen Metapher‹ von den Bildfeldern des Sports (Leistung) und der Technik (Brückenbau) abgeleitet ist und auf den Prämissen der rationalen Logik gründet. Die am Beispiel der Metapher der »schwarzen Milch« von Paul Celan entwickelte These Weinrichs, nach der nicht die Entfernung, die es zu überwinden gilt, sondern vielmehr die Nähe der Elemente eines Bildfeldes bei ungewöhnlicher Zusammensetzung einen besonderen Schockeffekt erzeugt, ist im Lichte der foucaultschen Diskurstheorie erneut von Interesse (vgl. weiter unten). Vgl. Harald Weinrich: »Semantik der kühnen Metapher«, in: Deutsche Vierteljahresschrift 37 (1963), S. 325-344, hier S. 330. Zur Bedeutung des Films für die Traumtheorie der Surrealisten vgl. FranzJosef Albersmeier: Die Herausforderung des Films an die französische Literatur. Entwurf einer »›Literaturgeschichte‹ des Films«, Heidelberg: Winter 1985, S. 105f. Interview mit Max Aub, zit. nach Volker Roloff: »Buñuels mexikanische Filme«, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert 1991, S. 547-570, hier S. 553. Bei der Besprechung der mexikanischen Filme Buñuels zeigt Roloff die Kontinuität eines diskurskritischen Anliegens und 210
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gen zum grundsätzlichen Status der Intertextualität im filmischen Medium ermöglichen.
I n t er m e d i al i tä t al s W i d e r s t r ei t z w i sc h en D i s k u r s en Beiden oben genannten Beispielen ist die Tatsache gemeinsam, dass die ›Dinge‹ von den üblichen Kontexten befreit und in einem neuen Syntagma zusammengefügt werden. Bei der Metapher Lautréamonts ist diese Absicht evident. Die heterogenen Dinge lassen sich nicht in eine metaphorische Synthese auflösen. Die Dinge bleiben vielmehr voneinander isoliert, wobei ihre Differenz von Bedeutung ist.8 In der Einstellung aus Tristana begegnen sich das Sakrale und das Profane. Tod und Leben stehen nebeneinander; der Tod zieht regelrecht das Leben an, und zwar nicht nur durch die Begegnung des Mädchens mit der Statue des toten Bischofs, sondern auch durch das Zusammentreffen von Eros und Tanatos – kurz danach wird ihr älterer Mentor die junge Frau zum ersten Mal küssen. Die narrative Struktur des gesamten Films übernimmt dabei die Funktion, den in der Einstellung zum Ausdruck kommenden Widerstreit des erotischen und des religiösen Diskurses aufrecht zu erhalten. Die Spannung zwischen den Diskursen wird nicht – etwa durch eine evaluative Eindeutigkeit – aufgehoben. Die narrative Ambivalenz behauptet sich vielmehr gegen jede moralische Botschaft und bleibt in diesem Film, wie auch in anderen so genannten ›realistischen‹ Filmen Buñuels, ein übergeordnetes Prinzip.9 Dies wird besonders im Vergleich zur Romanvorlage von Benito Pérez Galdós deutlich, bei der das Mitleid Tristanas für den sterbenskranken Mentor, Vergewaltiger und Herrscher am
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einer grundlegenden Ambiguität des filmischen Diskurses. Vgl. ebd., S. 563. Zur Kontinuität des Filmwerks von Buñuel vgl. auch Hans-Jörg Neuschäfer: Macht und Ohnmacht der Zensur. Theater und Film in Spanien (1933-1976), Stuttgart: Metzler 1991. Zur Differenztheorie vgl. Vittoria Borsò: Metapher: Erfahrungs- und Erkenntnismittel. Die Wirklichkeitskonstitution im französischen Roman des XIX. Jahrhunderts, Tübingen: Narr 1985 (Textmetapher) sowie dies.: »Uccellacci e Uccellini: Eine poetische Metapher«, in: Hermann Wetzel (Hg.), Pier Paolo Pasolini, MANA 2 (1984), S. 87-104 sowie dies.: »Metaphorische Verfahren in Literatur und Film«, in: Rolf Kloepfer/Karl-Dietmar Möller (Hg.), Narrativität in den Medien, Münster: MAkS 1986, S. 183-208 (Filmmetapher). Vgl. V. Roloff: Buñuels mexikanische Filme. 211
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Schluss des Romans die in Konflikt getretenen Diskurse von Erotik, Moral und Macht miteinander versöhnt. Bei der Metapher Lautréamonts bleiben die ›Dinge‹ für sich selbst stehen, sie finden in keinem Ort der Sprache einen verbindenden Diskurs, es sei denn einen Metadiskurs im Sinne der Kritik ästhetischer Normen, wie es von der dadaistischen Ästhetik der ready made intendiert war. Das Isoliertbleiben der Dinge voneinander produziert einen ›antisymbolischen‹ Effekt.10 Eben dieser die surrealistische und avantgardistische Ästhetik bestimmende Versuch, den symbolischen Charakter des Mediums Sprache zu überwinden und das Ding im Bild ›erscheinen‹ zu lassen, findet im filmischen Medium eine kongeniale Verwirklichung. Daraus erklärt sich auch, dass die Filmtechnik als die absolute Entsprechung zur literarischen Ästhetik der Avantgarde angesehen werden konnte.11 Das Isoliertbleiben der Dinge in ungewohnter Kombinatorik bewirkt, dass der gezeigte Gegenstand Autonomie vom Kontext erlangt und ein Eigenleben erhält. Letzteres erzeugt eine ›Erscheinung‹, die der empirische Blick nicht sehen kann. Magritte hatte auf etwas Ähnliches hingewiesen: Seine Gegenstände seien vertraut, jedoch »die vertrauten Dinge so vereint, daß wir denken müssen, daß es etwas anderes Nicht-Vertrautes gibt, das uns zugleich mit den vertrauten Dingen erscheint.«12 In seinen zahlreichen theoretischen Essays hat Buñuel wiederholt die Isolierung von Gegenständen in filmischen Bildern mittels einer freien Kombinatorik als ein grundsätzliches Prinzip der Kinokunst hervorgehoben.13
10 Vgl. weiter unten die These von Michel Foucault, der Widerstreit zwischen Diskursen verhindere die Bildung einer diskursiven Symbolik. Zu Buñuels Widerstand gegenüber der Traumsymbolik vgl. Roloff, ebd., S. 557f. 11 Vgl. F.-J. Albersmeier: Die Herausforderung des Films; vgl. auch Joachim Paech: Literatur und Film, Stuttgart: Metzler 1988. 12 Zit. nach Paul Virilio: Ästhetik des Verschwindens, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 41. 13 Vgl. Volker Roloff: »Experimente an den Grenzen der Komik und des Traums. Anmerkungen zu surrealistischen Filmen«, in: Diagonal 1 (1992), S. 183-196, hier S. 184f. 212
LUIS BUÑUEL: FILM, INTERMEDIALITÄT UND MODERNE
I n t e r m e d i al i t ä t i n d e r F i l m p o e t i k B u ñ u e l s Buñuel charakterisiert die Filmästhetik mit dem auf Jean Epstein zurückgehenden Begriff der »Photogenie«, den er im Zusammenhang mit Griffiths Großaufnahme-Technik14 bespricht: »Wenn wir uns darauf beschränken, einen Mann abzulichten, der läuft, ist das Ziel der Kinematographie erreicht. Aber wenn bei der Projektion, im vollen Lauf, alles verschwindet und wir erst ein Paar schnelle Füße sehen, dann den schwindelerregenden Vorbeiflug der Landschaft, das angespannte Gesicht des Läufers und in aufeinanderfolgenden Aufnahmen die wichtigsten Elemente des Laufs und der Gefühle des Läufers, dann haben wir den Gegenstand der photogenen Kunst.«15
Es ist von besonderer Bedeutung, dass Buñuel die potenzielle Fähigkeit des Mediums Film, die Dinge mittels Großaufnahmen voneinander zu isolieren, an der Parallelmontage von Griffith und seiner Suche nach den organischen Einheiten16 illustriert und damit an einem Montagetyp, der im Sinne einer mimetischen Kunst verstanden werden kann. Gerade bei Griffith hebt Buñuel die Autonomie des Bildes von der Abbildung der Wirklichkeit hervor. Die Dinge werden durch die Großaufnahme von den üblichen syntagmatischen Verbindungen getrennt und ihre Repräsentation erscheint von logischen Gefügen abstrahiert. Wie es Roland Barthes für die moderne Kunst reklamierte, bricht eine solche Abstrahierung auch mit den von der klassischen Episteme diskursiv gesicherten menschlichen Ordnungen.17 Buñuel betont in der Tat den grundsätzlich antimimetischen Charakter der mit Griffith exemplifizierten Kino-Kunst. 14 In »Über die Großaufnahme« schreibt Buñuel 1927: »Wir nennen gran plano – in Ermangelung einer spezifischen Vokabel – die Einstellung, die einen Teil der Totalen, sei es eine Landschaft oder einen Menschen, kommentiert und erklärt.« Luis Buñuel: Die Flecken der Giraffe. Ein- und Überfälle, Berlin: Wagenbach 1991, S. 99. 15 Ebd. 16 Zur ›organischen‹ Montage von David W. Griffith vgl. Gilles Deleuze: L’image-mouvement. Cinéma I, Paris: Minuit 1983, S. 47f. sowie J. Paech: Literatur und Film, S. 39f. 17 Vgl. Roland Barthes: Le degré zero de l’écriture, Paris: Seuil 1972 [1953], S. 38f. Ein solches Moment sieht Schulz-Buschhaus – mit Barthes – als für die Avantgarde konstitutiv an, besonders am Beispiel der ›parole in libertà‹ in der Poetik Marinettis. Vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus: »Die Geburt einer Avantgarde aus der Apotheose des Krieges. Zu Marinettis Poetik der ›parole in libertà‹«, in: Romanische Forschungen 104, 1/2 (1992), S. 132-151, hier S. 132. 213
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Weil die isolierende Wirkung der Großaufnahme die Dinge von der Idee des Menschen abstrahiert, könne man damit »die Loslösung von der Natur nicht weiter treiben«18. Dass das beobachtete Prinzip nicht von spezifischen Filmdiskursen bzw. Montagetechniken – etwa der der literarischen Avantgarde nahen Attraktionsmontage von Eisenstein – abhängt, sondern dem Medium selbst inhärent ist, betont Buñuel durch die Verlagerung der Segmentierung auf die Stufe des inneren Denkens, dorthin also, wo die Wirklichkeit an die medialen Bedingungen adaptiert wird. Im berühmten Artikel »Découpage oder Drehbuch schreiben« greift Buñuel einer Diskussion über den Standort der Montage vor, die erst viel später in der Filmtheorie entstand, nämlich der Frage, ob die Montage auf der Ebene der Materialplanung bzw. der Einstellung anzusiedeln oder als Ergebnis des technischen Zusammenfügens einzelner Einstellungen im Filmstreifen anzusehen sei.19 Das ›Filmische‹ liegt nach Buñuel nicht bei der technischen Montage, sondern bei der découpage, d.h. bei der Adaption der Story an das Medium, und zwar durch die zweifache Operation der Segmentierung und der Zusammenfügung: »Die Intuition des Films, der photogene Embryo, regt sich bereits in dem Vorgang, den wir découpage nennen. Segmentierung. Gliederung. Schöpfung. Teilung der Materie, um sich in eine andere zu verwandeln. Was vorher nicht da war, entsteht […]. Der authentische Augenblick beim Film: Schöpfung durch Segmentierung […]. Das Bild ist das aktive Element, die Zelle eines unsichtbaren, aber sicheren Vorgehens in Hinsicht auf die Einstellung, die das schöpferische Element ist, das individuelle Element, das geschaffen ist, um das gesamte Gebilde zu spezifizieren.«20
Dieser Begriff der découpage hat medienphilosophische Implikationen, die uns dem Filmischen näher bringen, und zwar als ein Medium, das der modernen epistemologischen Situation entspricht. Découpage meint den 18 L. Buñuel: Die Flecken der Giraffe, S. 99. 19 Vgl. Christian Metz: Essais sur la signification au cinéma II, Paris: Klincksieck 1972, S. 47f., sowie Jan Marie Peters: »Theorie und Praxis der Filmmontage von Griffith bis heute«, in: R. Kloepfer/K.-D. Möller (Hg.), Narrativität in den Medien, S. 119-140, hier S. 122. Peters fasst mit dem Begriff der Montage sowohl die Kombination der fertigen Aufnahmen (technische Montage) als auch die Fragmentation des profilmischen Materials (découpage) zusammen. Deleuze macht zu Recht darauf aufmerksam, dass erst nach dem Entstehen der beweglichen Kamera die Frage nach der Bedeutungsrelevanz der Einstellung entstehen konnte. Vgl. G. Deleuze: L’image-mouvement, S. 46. 20 L. Buñuel: Die Flecken der Giraffe, S. 122f. 214
LUIS BUÑUEL: FILM, INTERMEDIALITÄT UND MODERNE
mentalen Vorgang der Segmentierung und Isolierung und damit eine Bewusstseinshaltung, die mit dem avantgardistischen Prinzip der Zerstörung klassischer Einheitsepistemen übereinstimmt21, welche durch den logischen Satzbau und den logischen Aufbau syntagmatischer Beziehungen im Text oder im Kunstwerk getragen wurden. Auch hier versteht Buñuel die Segmentierung und Loslösung von der empirischen Ordnung der Dinge als das Prinzip, das schon in der Phase der Konzeption durch das Medium gefordert wird. Erneut bezeichnet Buñuel den Film als eine antimimetische Kunst, die nicht das empirische Bild, sondern eine in der Spanne zwischen Teilung und Zusammenfügung entstehende Erscheinung jenseits des empirisch Sichtbaren suggeriert.22 Der antimimetische Effekt wird durch die Begegnung radikal heterogener Reihen, die der Maschine und des Menschen, im Kamerablick erzeugt: »Um den Begriff Photogenie annähernd zu bestimmen, müssen wir zwei Komponenten von unterschiedlicher Beschaffenheit, aber gleichzeitiger und untrennbarer Repräsentanz berücksichtigen. Photogenie = Objektiv + découpage + Photographie + Einstellung. Das Objektiv – ›dieses Auge ohne Tradition, ohne Moral, ohne Vorurteile, aber dennoch fähig, selbst die Dinge zu interpretieren‹ – sieht die Welt. Der Filmemacher ordnet sie später. Maschine und Mensch.
21 Ich beziehe mich vor allem auf Lyotards Kritik an der traditionellen Auffassung von Moderne und auf seine Forderung einer Reinterpretation im Sinne einer so genannten ›transavantgardistischen‹ Kunst. Vgl. JeanFrançois Lyotard: L’Inhumain, Paris: Galilée 1988, S. 147. Damit meint Lyotard (mit Barthes und Foucault) keine epochale Kategorie, sondern den Bruch mit der klassischen Episteme durch ein ästhetisches Prinzip, das in der historischen Avantgarde zum Projekt wird, nämlich die Aufhebung synthetischer Formen und versöhnlicher Verbindungen zwischen Vernunft und Imagination. Der Zusammenbruch des versöhnlichen Verhältnisses von Phantasie und Form bricht auch die Basis der klassischen Episteme der Mimesis. Dieser Bruch, der als Folge des Erhabenen (nach Kant und Burke) in den notwendigen, aber vergeblichen Versuch mündet, das Nichtdarstellbare darzustellen (vgl. ebd., S. 148f), ist in der postindustriellen (zeitgenössischen) medialen Situation zur bewussten epistemischen Bedingung geworden. Insoweit wird hier ›modern‹ im Sinne einer postklassischen Kunst verwendet. 22 Ein solcher Gebrauch des Mediums Sprache, die nicht der Welt, sondern der medialen Dichte und damit der Autonomie der Tropen im Kunstwerk dem Vorzug gibt, kennzeichnet mit Jakobson das poetische Prinzip. In diesem Sinne sucht die Sprache – besonders seit der Avantgarde – nicht nur in der Lyrik, sondern auch im Roman einen Rückgang der so genannten referenziellen Funktion. 215
DAS ANDERE DENKEN, SCHREIBEN, SEHEN
Reinster Ausdruck unserer Zeit, unserer Kunst, die authentische Kunst unseres Alltags.«23
Versuchen wir, anhand obiger Charakterisierung der Photogenie das Besondere am filmischen Medium zu präzisieren, dann stoßen wir auf eine elementare Intermedialität, die sich aus dem Moment der Aussparung und der Aneinanderreihung ergibt. Im Zwischenraum, der zwischen Segmentierung und Reihung der jeweiligen Einstellung zu den darauf folgenden entsteht, sieht Buñuel das Spezifische des filmischen Bildes. Die Spannung zwischen dem Segment und der Reihung, die als Bewegung, d.h. als Bewegungsrhythmus gedacht ist, ergibt die eigentlich filmische ›Erscheinung‹. Die allgemeine Feststellung, durch die Bewegung unterscheide sich das Fotogenetische vom Fotographischen, richtet hier das Augenmerk auf den intermedialen Status des Films. Die Besonderheit des filmischen Mediums läge sodann in der grundsätzlich intermedialen Natur des filmischen Bildes, die durch die Bewegung erzeugt wird. Diese mediale Eigenschaft bewirkt zunächst eine prinzipielle Ambiguität des filmischen Bildes in Hinblick auf die Realität des Dargestellten. Denn der Film konstruiert zwar durch die Bewegung die Illusion des Natürlichen, tendiert jedoch durch die Spannung zwischen der prinzipiell dem Medium innewohnenden Abstraktion von menschlichen Syntagmen und dem menschlichen Auge dazu, den Eindruck des Natürlichen als Illusion zu entlarven. Die Absage Buñuels an den symbolischen Charakter der Zeichen und die prinzipielle Ambiguität der mimetischen Botschaft seiner Filme nehmen in besonderer Weise Stellung zur medienästhetischen und medienphilosophischen Debatte, die sich seit Entstehung des Tonfilms ergeben hat. Aus dem grundsätzlich intermedialen Status zwischen Maschine und Mensch sowie zwischen toten Gegenständen und der durch die Bewegung vermittelten Evidenz des Lebens wird eine neue Definition der Kunst erforderlich, die durch den Einzug der Technik nur noch als Distanzierung von der Illusion natürlicher Mimesis24 begriffen werden kann. Darüber hinaus erkennen wir im vorab Geschilderten einige Prinzipien, die sämtliche Phasen von Buñuels Werk verbinden. Trotz der scheinbar so verschiedenen Stile und Gattungen – vom surrealistischen Film bis zum Dokumentarfilm – stellt die Relativierung der mimetischen Transparenz der filmischen Bilder das Gemeinsame seiner filmischen Produktion dar. Pierre Kast nennt dieses Prinzip ›fonction du 23 L. Buñuel: Die Flecken der Giraffe, S. 123. 24 Zu dieser Position, die in Deutschland Bertold Brecht für den Film und Walter Benjamin für die Fotographie vertraten, vgl. J. Paech: Literatur und Film, S. 163f. 216
LUIS BUÑUEL: FILM, INTERMEDIALITÄT UND MODERNE
constat‹25 und meint damit scheinbar realistische Einstellungen, die auf der Autonomie einzelner Gegenstände oder Bilder insistieren und, ganz im Sinne obiger Argumentation, dadurch einen antisymbolischen Effekt erzeugen. Dieser Effekt erklärt auch das Paradoxon einer Entsprechung der scheinbar realistischen ›fonction de constat‹ mit den Prinzipien der surrealistischen Phase von Buñuel. Die dem filmischen Medium innewohnende Begegnung heterogener Reihen, heterogener Bereiche der Realität, die die Ästhetik des Surrealismus forderte, nutzt Buñuel offensichtlich als ein dem Medium inhärentes filmisches Stilmittel – wenn auch bei späteren Filmen in einer weniger expressionistischen und direkten Weise. Gerade die Insistenz auf das Zeigen, ohne in Symbolen zu sprechen, impliziert das antimimetische Prinzip der découpage. Diese antimimetische Wirkung des überzeichnet realistischen Details löst auch das Paradoxon einer Kontinuität surrealistischer Intentionen im scheinbar realistischen Genre der späteren Filme Buñuels.26 Obwohl die Montage in diesen nicht als verfremdendes Konstruktionsprinzip eingesetzt wird, vermögen auch diese Filme nicht den Kanon des Realismus zu erfüllen. Vielmehr erscheinen sie als eine andere Realisierungsform eines Sehens, das sich zunächst mit den formalen Mittel des Surrealismus auszudrücken suchte. Diese ›fonction du constat‹ ist im intermedialen Zwischenraum impliziert.
Intermedialität des bewegten Bildes u n d d as K i n e m a t o g r ap hi sc h e Buñuel scheint das Spannungsverhältnis zwischen der Segmentierung, d.h. der Isolierung der einzelnen Gegenstände und einer Zusammenfügung, die die Mimesis ambiguisiert, als den Übergang zum Bereich des Filmischen anzusehen.27 Man sieht sich zunächst an die bisherige Debatte um das Kinematographische erinnert. Die Frage danach war stets an die Eigenart des Sehens durch das Kameraauge, an die Bewegung des Bildes und (mit Eisenstein) an die Montage gebunden.28 Ihre Beantwor25 Vgl. Pierre Kast: »Une fonction de constat. Notes sur l’oeuvre de Buñuel«, in: Cahiers du cinéma (Dez. 1951), S. 6-16. 26 Zur Polemik Buñuels mit dem Neorealismus vgl. Luis Buñuel: »Der Film als Instrument der Poesie«, in: ders.: Die Flecken der Giraffe, S. 142-148. 27 Darin lässt sich eine wichtige Aussage vom Essay zur découpage erkennen: »Durch die Segmentierung hört das Szenarium oder die Gesamtheit der schriftlich festgelegten visuellen Ideen auf, Literatur zu sein, um sich in Film zu verwandeln.« L. Buñuel: Die Flecken der Giraffe, S. 124. 28 Vgl. J. Paech: Literatur und Film, S. 156f. 217
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tung erfolgte im diskursiven Rahmen einer Institution, die sich gegenüber dem traditionellen System der Künste rechtfertigen musste und bediente sich der Kategorien, die an die traditionellen Gattungen anschließen. So entzündete sich die Debatte um die ›photogene‹ Kunst zunächst zwischen »cinéma pur« (Louis Delluc) und industrieller Konsumproduktion sowie – besonders nach Entstehung des Tonfilms – zwischen dem Bild als Grundelement einer Kunst des Sichtbaren (Balázs) oder als eigenständiger Ausdrucksform der Sprachsymbolik (Eisenstein). Die Hervorhebung der Montage – gegen das Bild – als das bedeutendste Moment des Filmischen durch Eisenstein29 öffnete zwar die Möglichkeit, den kinematographischen Diskurs als eigenständige Wirkungsmöglichkeit zu untersuchen, doch konnte sich die Theorie des Films darauf aufbauend nicht von erzähl- bzw. zeichentheoretischen Annahmen freimachen. Damit blieb aber die Debatte um das Kinematographische auch im Bannkreis des Mimesisdiskurses. So hob Balázs zwar die Stofflichkeit des Filmbildes als das Medium des Sehens von der Literatur ab, setzte jedoch die ›konkrete Sichtbarkeit‹ in Beziehung zur abgebildeten Wirklichkeit und machte sie damit ›lesbar‹. In dem von Bazin und Eisenstein geprägten Begriff von Montage als »Montage von Kamerablicken«30 scheinen sich Bild und Komposition als Komponenten des kinematographischen Diskurses zu verbinden, wobei mit der Attraktionsmontage eisensteinscher Prägung die kinematographische Kunst – dann auch gegen den realistischen Anspruch Bazins – als antimimetisch gilt.31 Eisensteins Hervorhebung des kinematographischen Diskurses als besonderer Darstellungsmodus ermöglichte zwar, auch von einer »künstlerischen Motivation« des Filmes32 und damit von einer – dem Prinzip des Russischen Formalismus entsprechenden – Autonomie gegenüber dem realistischen Diskurs zu sprechen, doch wird der zeichentheoretische und mimetische Rahmen der Diskussion auch in den späteren Formeln nicht verlassen. Lotman sieht die Kombination heterogener Elemente im ›Montagefilm‹33 als Grundlage einer ›dynamischen‹ Narrativität und Mo-
29 Vgl. ebd., S. 163. 30 J.-M. Peters: Theorie und Praxis der Filmmontage, S. 123. 31 Attraktionsmontage soll eine antimimetische Reaktion des Zuschauers insoweit erzeugen, als die Materialität des Mediums bei kontrapunktischer Kombinatorik eine distanzierende Funktion im Hinblick auf das Gezeigte einnehmen soll. 32 Jurij M. Lotman: Probleme der Kinoästhetik. Einführung in die Semiotik des Films, Frankfurt/Main: Syndikat 1977, S. 29. 33 Damit sind Filme gemeint, die im Sinne der Attraktionsmontage Eisensteins den Filmdiskurs sichtbar machen. 218
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dellierungsfunktion des Films34 und selbst Metz spricht bezüglich des Films von einem zweiten Mimesisbegriff, d.h. von einem »effet de réalité« der Diegese (der Darstellung).35 Dieser diskursive Rahmen, der das Medium Film von anderen Medien oder vom literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts abzugrenzen versucht, scheint mir nicht zwingend, sobald man die Implikationen der elementaren Intermedialität bedenkt, also den potenziell unaufhebbaren, spannungsreichen Zwischenraum zwischen Bildern im Bewegungsrhythmus des filmischen Streifens, auf die wir mit Buñuel gestoßen sind. Mit der Intermedialität lässt sich die Frage nach dem Status des Films im Verhältnis zu den anderen Medien anders stellen. Für die Präzisierung dieser Hypothesen möchte ich auf die Definition der Intermedialität36 im Anschluss an die Intertextualität Bezug nehmen und intermediale Beziehungen im Sinne des Widerstreits zwischen den Medien statt im Sinne eines (versöhnlichen) Dialogs verstehen.37 Schon wegen der ›Medienkreuzung‹38 kann der Film als der privilegierte Ort verstanden werden, in dem der Widerstreit verschiedener Diskurse und Medien inszeniert wird. Die Analyse der Beziehung zwischen diesen und der Produktivität ihrer Differenzen ist ein wichtiger Schritt bei der Klärung der intermedialen Natur des filmischen Mediums als Ausdrucksmittel der Moderne. Deleuze hebt zu Recht hervor, dass das filmische Bild infolge seiner Beziehung zur Bewegung und zur Zeit den Augenblick als beliebiges Moment in einer Reihe darstellt39, ebenso wie das Kino die Bewegung als Bezugssystem beliebiger Augenblicke einer Rei34 Vgl. J. M. Lotman: Probleme der Kinoästhetik, S. 91. 35 Vgl. C. Metz: Essais sur la signification, S. 33. Paech fasst diese These in der prägnanten Definition zusammen: »Der Realitätseindruck im Film ist die Mimesis des Fiktiven unter dem Eindruck des Realen«, den das Medium hervorruft. J. Paech: Literatur und Film, S. 168. 36 Vgl. Volker Roloff: »Zur Beziehung von Bild und Text am Beispiel von Goyas ›Caprichos‹«, in: Christoph Strosetzki/André Stoll (Hg.), Spanische Bilderwelten, Literatur, Kunst und Film im intermedialen Dialog, Frankfurt/Main: Vervuert 1993, S. 1-15, hier S. 1. 37 Bei der Besprechung der Intermedialität zwischen Bild und Text in Goyas »Caprichos« geht Roloff in diese Richtung. Intermedial ist der widersprüchliche ›Zwischenraum‹ zwischen Texten bzw. Text und Bild, wobei unter Bezug auf Gumbrecht (vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990) der Widerstand der Bildgehalte gegen die Sinndeutung hervorgehoben wird. Vgl. V. Roloff: Zur Beziehung von Bild und Text, S. 5f. und S. 12. 38 Vgl. (mit Bezug auf Jean Cocteau) F.-J. Albersmeier: Die Herausforderung des Films, S. 144. 39 Vgl. G. Deleuze: L’image-mouvement, S. 13f. 219
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he reproduziert. Der Film konstituiert sich zwar über die Intermedialität, diese ist aber mit der medialen Reproduzierbarkeit, die die industrielle Epoche einleitet, auch zum zwangsläufigen Bestandteil von Literatur und Kunst geworden. Die Relevanz des Widerstreits40 zwischen Diskursen deutet Foucault im Vorwort zu Les mots et les choses (1966) mit dem Begriff der Heterotopie an. Dabei bezieht er sich auf die auch hier diskutierte lautréamontsche Metapher sowie auf Borges’ labyrinthische Phantastik. Beide werden als Ausgangspunkt seiner Beobachtungen genannt.41 Mit Heterotopie bezeichnet Foucault die Verbindung einer Anzahl von heterogenen Dingen (Orten), derart, dass sie einen ›non-lieu‹, d.h. einen ›Ort jenseits jeder ideologischen Topographie‹ erzeugen. Die Absurdität bzw. der Widersinn der zusammengestellten Dinge widersetzt sich der Stabilisierung neuer Ordnungen. Weil Bezüge zum Ort der Begegnung heterogener Dinge instabil sind, verunsichert der ›non-lieu‹ der Heterotopien die ›lieux communs‹, auf denen Diskurskonfigurationen basieren. Letzteres interessiert Foucault besonders, wenn er die Funktion der ›heterotopischen‹ Literatur Borges’ bespricht und unterstreicht, dass diese die Verbindung zwischen Diskursen und Dingen – ihre Syntagmatik – destabilisiert.42 Hier soll weniger das Potenzial der Literatur zur Anregung einer metaepistemologischen Kritik43 interessieren, als vielmehr der visuelle Raum, der sich im interstitium44 zwischen widerstreitenden Diskur40 Der Konflikt zwischen Diskursen, der in der Heterotopie impliziert ist, entspricht dem Widerstreit, wie ihn Waldenfels unter Bezug auf Lyotards Begriff des différend in Opposition zum Widerspruch definiert hat. Widerstreit drückt einen Konflikt von nicht zu vereinbarenden Ordnungen aus, während Widerspruch eine Opposition meint, die in eine Ordnung integrierbar ist. Vgl. Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 49. 41 Vor allem die widersprüchlichen ›syntaktischen‹ (syntagmatischen) Beziehungen zwischen disparaten Dingen, zwischen Diskursen sowie zwischen Dingen und Diskursen bezeichnet Foucault als Inspiration für sein Unternehmen, statt eine Geschichte von ›Fakten‹ zu schreiben, eine Archäologie von Diskursen ans Licht zu bringen. Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris: Gallimard 1966. 42 Vgl. Vittoria Borsò: »Utopie des kulturellen Dialogs oder Heterotopie der Diskurse?«, in: Klaus Hempfer (Hg.), Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart: Steiner 1991, S. 95-117 (im vorliegenden Band S. 49-78). 43 Vgl. M. Foucault: Les mots et les choses, S. 366. 44 Mit dem intersticio versucht man auch den Schreibprozess der so genannten ›neophantastischen‹ Literatur zu erfassen. Vgl. Jaime Alazraki: En busca del unicornio: los cuentos de Julio Cortázar. Elementos para una 220
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sen eröffnet. Dieser Raum steht jenseits des diskursiven Denkens. Fassen wir die kinematographische Intermedialität durch den Begriff der Heterotopie, dann ist es möglich, den Diskurs als epistemologische Instanz zu verlassen, als einen Rahmen somit, innerhalb dessen selbst die Erfassung des Kinematographischen als Traumsprache bzw. -diskurs erhalten bleibt. Dies trifft sowohl für die Traumtheorie, die sich mit der Hervorhebung des metonymischen Gleitens der Signifikanten auf die lacansche Kritik des Vernunftsubjekts bezieht, als auch für die Interpretation der Traumsprache als Ausdruck der Freiheit von der autonomen Logik zu – auf Letzteres bezieht sich die Traumtheorie des Surrealismus, und auch einige Äußerungen Buñuels lassen sich daran anschließen. Diese Kritik wurde von Jean François Lyotard bereits in seiner Dissertation (1971)45 formuliert. Ausgehend von Lyotard möchte ich einige Reflexionen zu der Möglichkeit vorstellen, Intermedialität medienmaterialistisch zu verstehen, mit der Absicht, die frühen Impulse von Buñuel und anderen Theoretikern und Praktikern des Films für die zeitgenössische Forschung fruchtbar zu machen.
D e r F i l m a l s › Tr aum ‹ u n d al s D ar s t e l l u n g d e s › U n s i c h t b ar e n ‹ . M e d i e n p hi l o so p hi sc h e Überlegungen zur Visualität (Lyotard) und zur Visualität bewegter Bilder (Barthes und Deleuze) Lyotard macht darauf aufmerksam, dass man bei der Suche nach dem Besonderen an der Visualität der Moderne – etwa der surrealistischen Malerei – über die epistemologische Seite und die mit dieser verbundenen ideologischen und kritischen Analyse hinausgehen sollte. Er versucht, die andere Seite von diskursiven, an das linguistische Zeichen gebundenen Argumenten zu erfassen, jene Seite, die – ihm zufolge – das Eigentliche der Kunst ausmacht und die nur jenseits vom Diskurs gesehen und erkannt werden kann. Das Bild, sagt Lyotard, dürfe in der Art gelesen werden, wie die Semiotiker es allgemein zu tun pflegen. Es bietet sich vielmehr dem Auge als extraordinäres Ding an, wie eine natura naturans, und zwar insoweit, als es das Sehen überhaupt zum Ereignis poética de lo neofántastico, Madrid: Gredos 1983 sowie, mit besonderem Bezug auf den argentinischen Schriftsteller Julio Cortázar, Walter B. Berg: Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart, Frankfurt/Main: Vervuert 1991. 45 Vgl. Jean-François Lyotard: »Parti pri du figural«, in: ders.: Discours, Figure, Paris: Klincksieck 1971, S. 9-23. 221
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machte.46 In dieser Dimension jenseits des Diskurses bzw. zwischen den Diskursen materialisiert sich die Stille, ein Zustand, der durch den Diskurs unterbrochen wird. ›Stille‹ ist selbstverständlich kein Defizienzbegriff, sondern meint vielmehr den Stillstand des diskursiven Denkens. In der Stille der Diskurse ist – so Lyotard – die materielle Spur zu sehen, die die Welt beim Betrachter hinterlässt, eine Spur, die nicht aufscheint, solange die Sprache als Bedeutungs- und Erkenntnisinstrument benutzt wird, die gleichwohl von der Sprache zerstört werden kann. Die Fähigkeit, einen solchen Eindruck zu hinterlassen, haben besonders undurchsichtige, ambivalente Bilder, die ›heterotopisch‹ komponiert sind. Sie sind der Erkenntnis nicht zugänglich, es sei denn auf metasprachlicher Ebene, und stellen solche Erscheinungen dar, die auch die Energie des Traums jenseits linguistischer Kategorien erklären lassen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich die Traumästhetik anders verstehen als in Form eines alternativen Diskurses zur Logik. Bei seiner Kritik am lacanschen Anschluss der Traumlogik an die Zeichentheorie und damit an einen textbezogenen Zugang zur Traumästhetik steht Lyotard nicht allein. Auch Foucault warnt in seinen frühen Schriften47 vor einer Gleichsetzung des Traums mit diskursiven Formen. Zwar äußert sich das Begehren im Traum – soweit auch Freud (und Lacan). Foucault insistiert aber darauf, dass der Traum – als »Rhapsodie von Bildern«48 – die unmittelbare Spur des Begehrens sei, die nicht in Sprache übersetzbar ist. Diese Spur entspricht vielmehr dem ›Nicht-Sinn des Bewusstseins‹, während Freud das Begehren des Traums zur Rede reduziert49 und zum Sinn des Unbewussten macht.50
46 Mit Bezug auf ein Zitat von Paul Klee vergleicht Lyotard das Sehen eines Gemäldes mit dem Tanz. Ein Bild zu sehen bedeute, die Wege und Umwege zu gehen, die der Maler hineingebracht habe. Vgl. ebd., S. 14f. 47 Vgl. Foucaults Einleitung zur französischen Ausgabe von Ludwig Binswangers Traum und Existenz (1954). Dieser frühe Foucault hat das ›Andere‹ der Diskurse, das Begehren, stärker im Blick als die Diskurse: »Der Traum ist die absolute Enthüllung des ethischen Gehaltes, die Entblößung des Herzen.« Michel Foucault: »Einleitung«, in: Ludwig Binswanger: Traum und Existenz, dt. von Walter Seitter, Bern, Berlin: Gachnang & Springer 1992 [1954], S. 7-93, hier S. 48f. 48 Ebd., S. 32. 49 Lyotard kritisiert die Lacans Interpretation von Freud insoweit, als dieser die problematische Seite Freuds rezipiert hat, nämlich die Reduktion des Traums auf eine diskursive Strategie. Als weitaus interessanter schätzt Lyotard eine eher vernachlässigte Seite der freudschen Traumlogik ein, nämlich die Vorstellungsrepräsentanz und damit die transgressive Kraft des Begehrens gegenüber den Zwängen der Zensur. 222
LUIS BUÑUEL: FILM, INTERMEDIALITÄT UND MODERNE
Die Traumästhetik stellt, so Lyotard, den umgekehrten Fall der sprachlichen Abstraktion dar. Sie materialisiert den Gegenstand, wie sich im Falle der Metapher Lautréamonts oder im Falle des von Lyotard gewählten Beispiels von Magrittes Reconnaissance infinie51 zeigen lässt: Ein großer Himmelskörper über wüstenähnlichen Bergen steht in einem verdunkelten kosmischen Licht und auf dem Himmelskörper sitzt ein Mann, der das Unendliche anschaut. Die Metapher der »unendlichen Erkenntnis« wird in einzelne Elemente zergliedert, jedes Element des Satzes in voneinander isolierten Gegenständen materialisiert, ohne dass eine logische Auflösung durch metonymische Beziehungen oder metaphorische Synthesen möglich wäre. Ein solches Bild kann zwar als ironische Allegorie des Erkenntnisbegriffes, d.h. metaepistemologisch verstanden werden; damit ›liest‹ man aber das Bild lediglich wie einen Text, ohne die Wirkung der Stofflichkeit, nämlich das Unheimliche unsichtbarer Dinge berücksichtigt zu haben, das sich im Zwischenraum der zusammengefügten Gegenstände als psychischer Eindruck aufdrängt. An solchen Bildmaterialisierungen mangelt es der Filmpoetik Buñuels nicht. Ein herausragendes Beispiel ist etwa die von Ameisen bedeckten Hand52 im surrealistischem Klassiker Un chien andalou (1928).53
50 Vgl. M. Foucault: Einleitung, S. 13. 51 »Unendliche Erkenntnis«. Dies ist in der Vieldeutigkeit des Begriffs gemeint: Selbsterkenntnis als Tätigkeit von Erkennen und Wiedererkennen sowie im Sinne von ›unendlicher Dankbarkeit‹. 52 Abbildung entnommen der Internetseite http://www.devildead.com/indexfilm.php3?FilmID=1196. 53 Auch hier lassen sich Beispiele aus dem Spätwerk anführen, z.B. die Einstellung aus Tristana, in der man die Beinprothese der Protagonistin auf ihrem Bett sieht, bevor Tristana ihre sexuelle Freiheit unter Beweis stellt. Das Bild ist die metonymische Konkretisierung des spanischen Sprichwortes »Mujer honrada, pierna quebrada y en casa«. (Ich verdanke diesen Hinweis Hans-Jörg Neuschäfer.) 223
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Die Trope »avoir des fourmis dans les mains« wird metonymisch54 umgesetzt, d.h. alle einzelnen Signifikanten der Aussage werden konkret verstanden und ›widersinnig‹ zusammengefügt, statt sie durch metaphorische Synthesen aufzulösen und damit aber auch in eine abstrakte Idee zu überführen: »avoir des fourmis dans les mains« als Paraphrase für eingeschlafene Hände. Diese Form der ›Rücksicht auf Darstellbarkeit‹55 macht die Dinge real erfahrbar und zugleich autonom von mimetischen Regeln. Selbst in seiner ›strukturalistischen‹ Phase sieht auch Roland Barthes im filmischen Bild ein präsemiotisches Phänomen und sucht etwas Ähnliches zu beschreiben wie Lyotard. Im Unterschied zum sprachlichen Zeichen sieht Barthes das Spezifikum des Films in der gleichzeitigen Erfahrung der Evidenz des filmischen Bildes und des Verschwindens der Bedeutung.56 Dieses Spezifikum, das Barthes als sens obtus bezeichnet, wirkt jenseits der Sprache.57 Mit dem sens obtus ist ein undeterminierter und undeterminierbarer Sensus gemeint, der als unmittelbares Leben und Reales erfahren wird. Die filmische Bewegung verursacht beides: sowohl die authentische Erfahrung des Lebens als auch die Mechanismen, welche die sich diskursiv etablierenden Bedeutungen aufheben. Besonders die syntagmatischen Spannungen im Filmfluss bewirken Instabilität und z.T. die Subversion der Darstellung.58
54 Ich übernehme an dieser Stelle den Begriff »metonymisch« von Lacan, obwohl dieser den jakobsonschen Fehlschluss weiterführt, die Metonymie als eine Trope, die die Referenz betrifft, für ein Phänomen des Diskurses zu benutzen (vgl. Kritik von Christian Metz: Le signifiant imaginaire. Psychanalyse et cinéma, Paris: Union générale d’Edition 1977). Mir erscheint aber das Beharren von Metz auf der Unterscheidung zwischen Diskurs und Referenz als unnötig, geht man vom foucaultschen Diskursbegriff aus, d.h. nicht von einer textlinguistischen, sondern von einer epistemologischen Kategorie, die als Repräsentation von Wirklichkeit auch die Episteme der Referenz umfasst. Vgl. V. Borsò: Utopie des kulturellen Dialogs. 55 Lyotard argumentiert gegen Lacan und greift auf Freud zurück, jedoch nicht auf die Regeln des Traumsdiskurses oder auf Freuds späte symbolische Hermeneutik, sondern auf die Grundidee der Traumlogik, d.h. die Rücksicht auf die Darstellbarkeit, die der Inhibition und der Zensur des Unbewussten abverlangt wird. 56 Im sens obtus sieht Barthes den »passage du language à la signifiance et l’acte fondateur du filmique même«. Roland Barthes: »Le troisième sens«, in: Cahiers du Cinéma 222 (1970), S. 12-19, hier S. 18. 57 Vgl. ebd., S. 16. 58 Vgl. ebd., S. 17f. 224
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Es sollte versucht werden, mit Gilles Deleuze die Besonderheit der ›Erscheinung‹ im filmischen Bild näher zu charakterisieren. Die Instabilität des Bildes ist im Film – so Deleuze – dem Bild selbst inhärent. Sie ergibt sich aus dessen Eingebundensein in eine zeitliche Bewegung. Als Ergebnis eines Intervalls, d.h. eines Zwischenraums zwischen zwei Zeiten, ist das filmische Bild bereits ein Produkt der Montage und damit das Bild der Zeitlichkeit selbst.59 Dabei ist Montage bei Deleuze – ebenso wie bei Buñuel die découpage – weniger als technischer, sondern als epistemologischer Begriff zu verstehen. Denn die Bewegung organisiert das Bild schon bei der Konzeption der filmischen Einstellung insoweit, als sie in Bezug auf die Bewegung in der Zeit gedacht werden muss.60 Das filmische Bild ist ein Augenblick des Übergangs und zwar auf allen Ebenen des Mediums, weil das Bild zur Zeit und zum Ganzen in Beziehung steht. So ist die Einstellung zwar eine Aussparung, die jedoch offen gegenüber dem ist, was das Bild noch nicht ist, aber noch werden könnte. Das Off der Einstellung wird als das Nicht-Sichtbare miteinbezogen, welches das Bild begleitet, und ist die potenziell beunruhigende Spur einer Präsenz, die nicht gesehen und nicht gefilmt werden kann.61 Der Film lässt die Dinge ›erscheinen‹. Darüber sind sich neuere Theorien einig, und die Impulse der früheren Filmtheorie auf der oben besprochenen Linie von Barthes und Lyotard werden wieder aufgenommen.62 Das ›Medium‹ wird zum Tor, das der Imagination den Weg zum empirisch ›Unsichtbaren‹ öffnet, weil die bewegten Bilder ein autonomes Leben erhalten, das durch keine ›Ordnung der Dinge‹ erklärt werden kann. Unter dieser Perspektive sind der Tonfilm und die narrativen Möglichkeiten des Mediums kein Hindernis mehr für die filmische Poetik. Sondern gerade die syntagmatische Achse der Kombinatorik oder der Komposition kann besonders geeignet sein, heterogene, instabile Verbindungen zwischen sich nicht entsprechenden Reihen herzustellen. Kehren wir zur Einstellung aus Tristana zurück. Das Provokative am Nebenein59 Vgl. Gilles Deleuze: L’image-temps. Cinéma II, Paris: Minuit 1983b, S. 46. 60 Vgl. G. Deleuze: L’image-mouvement, S. 12. 61 Vgl. ebd., S. 30. 62 Die Beispiele sind zahlreich. Cocteau spricht von einer »realité irréaliste«, zit. nach F.-J. Albersmeier: Die Herausforderung des Films, S. 144. Éluard betont die Autonomie der Kinowelt: »Même lorsqu’il a voulu imiter l’ancien monde, nature (ou théâtre), il a produit des phantasmes. Copiant la terre il montrait l’astre«, zit. nach ebd., S. 129. Die russischen Theorien zur mentalen Montage, besonders diejenigen von Vertov und Kuleshov, lassen sich in die gleiche Richtung lesen. Vgl. Silvestra Mariniello: »El cine y la supresión del medio«, in: Acta poética 11 (1990), S. 125-139, hier S. 130f. 225
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ander der jungen Tristana mit der Totenmaske des Bischofs wird durch die Ambivalenz des Ausdrucks zwischen Anbetung und Neugierde erzeugt, die der Mund und die Augen Tristanas zeigen. Nicht so sehr die Fremdheit der in Verbindung gebrachten Kontexte ist von Bedeutung, wie in der ersten Phase der surrealistischen Filme, sondern vielmehr das Entstehen dieses Lächelns, die Instabilität der Beziehung zwischen Tristana und der Totenmaske – ein Augenblick der passage, ein Moment, der auf die Bewegung dieses Bildes gespannt sein lässt, auf den Eintritt des Unwahrscheinlichen im nächsten Augenblick oder – anaphorisch – im Vorangegangenen.63
Die Filme Buñuels, besonders auch die der so genannten ›realistischen‹ Phase, nutzen diese Möglichkeit in ausgeprägter Weise. Sie stützen die Instabilität des Bildes durch die narrative Ambiguität und die perturbatorische Gestalt der Protagonisten – etwa Susana in Belle de jour (1967) und Tristana, um nur zwei zu nennen –, aber auch durch das Insistieren der Kamera auf die ohnehin langsamen, geschmeidigen Bewegungen von Catherine Deneuve, einer kongenialen Interpretin der von Buñuel intendierten und durch die weichen Schnitte unterstrichenen sinnlichen Ambiguität. Der Grad einer potenziellen Intermedialität ist stets hoch. Das Bild riskiert, zur melancholischen Spur eines gewesenen Augenblicks zu gerinnen (wie in der Fotographie), oder einer narrativen Beschleunigung nachzugeben. Es riskiert, von der realistischen Beschreibung in die Erscheinung des Monströsen umzukippen, wie beim so genannten Dokumentarfilm Las Hurdes. Tierra sin pan (1933). In allen Fällen, und zwar nicht nur durch die surrealistischen Einstellungen von Un chien andalou, macht es das Sehen zum Ereignis, ohne es auf die Gestaltung sichtbarer Formobjekte zu reduzieren. Durch die Mobilität führt das Sehen zu kei-
63 Abbildung entnommen der Internetseite www.toutsurdeneuve.free.fr/Francais/Pages/Carrieree-Film/Tristana.htm. 226
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ner »identité figurale«64, sondern vielmehr zu Spuren von etwas, das sich der Repräsentation und dem Diskurs entzieht. Diese »instabilité générale de l’imaginaire«65 kommt zum Ausdruck durch die Verunsicherung der figuralen Stabilität von Bildern, eine Instabilität, die sich einstellen kann, sobald zwei Bilder zusammentreffen.66 Die kinematographische Kunst lebt aus einer solchen Instabilität des bewegten Bildes, die durch das interstitium zwischen Bildern sowie zwischen verschiedenen medialen Möglichkeiten vervielfacht werden kann. Unter dieser Perspektive scheint es mir sinnvoll, mit Intermedialität nach den Spannungsmöglichkeiten zwischen Gattungskonventionen sowie Medienkonventionen und -diskursen zu fragen, die den Blick für die Prozesse und den Augenblick schärfen, in dem das Sichtbare zur Spur unsichtbarer, verschwundener ›mentaler Objekte‹ wird. Diese sind zwar weder analysierbar noch benennbar, doch sind die Spuren beschreibbar, die sich im Widerstreit, Konflikt oder Paradoxon des Sichtbaren und Sagbaren materialisieren.67 Eine solche Ästhetik ist der kinematographischen Kunst inhärent, jedoch nicht dieser vorbehalten. Gerade an den ready made von Man Ray lässt sich beobachten, in welchem Maße die Verortung von realen Gegenständen in fremde (syntaktische) Bezugssysteme und Kontexte Unheimliches entstehen lässt, das man nicht empirisch sieht.
64 Charles Grivel: Fantastique-Fiction, Paris: PUF 1992, S. 191. 65 Ebd., S. 228. 66 Dass das Gesehene nur die Spur von etwas anderem jenseits des Sichtbaren ist, zeigt Grivel anhand einer generalisierten Funktion des Phantastischen als Effekt einer entidentifizierenden Ästhetik: »L’›objet‹ fantastique est mental; c’est au mieux une trace, une vapeur, un souffle, le scorie d’une apparition irrésistible, irréalisable« (ebd., S. 191). Auch Grivel betont, dass die Mobilität des Wahrnehmungsprozesses bei visuellen Phänomenen, die man ›phantastisch‹ nennt, die Erfahrung der nicht kodifizierbaren Seite des Realen einleitet: »Cependant, et cela l’auteur des Manifestes ne le pensait pas, ce ›fantastique‹ accompli ou ce ›réel‹ évanoui – les deux faces du même processus – manquent à la saisie et ne sont le contenu d’aucun mot ni d’aucun signe« (ebd., S. 192). Grivels Auslegung der These des bretonschen Manifestes, »das Phantastische existiere nicht, alles sei real« (L. Buñuel: »Der Film als Instrument der Poesie«, in: ders.: Die Flecken der Giraffe, S. 142-148, hier S. 147), erklärt auch Buñuels Auffassung des Sehens ›realer‹ Objekte im filmischen Medium in Opposition zum Kanon des italienischen Neorealismo (vgl., ebd., S. 147). 67 Zur Ästhetik des Verschwindens vgl. P. Virilio: Ästhetik des Verschwindens. Diese bezieht er insbesondere, jedoch nicht ausschließlich, auf die Neuen Medien. 227
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Analog zur Intertextualität, die in Anschluss an Julia Kristeva zur Revision herkömmlicher Textbegriffe jenseits normativer Gattungs- und Kanongrenzen geführt hat, scheint mir, dass es sich bei der Intermedialität um ein elementares Phänomen des kinematographischen Prozesses und der modernen Kunst handelt, das Medienkonventionen zitiert, um das Repräsentierte, das Sichtbare zu destabilisieren. Essentialistische Definitionen der Medien oder der Gattungen scheinen mir dabei ebenso obsolet, wie die Suche nach Hierarchien bzw. die Einflussforschung zwischen den Medien.68 Um nur wenige Beispiele für eine mögliche Richtung intermedialer Forschung zu nennen: Dass die enge Beziehung zur Handlung (durch die Bewegung) und zum erzählerischen Diskurs (durch Bewegung und Ton) nicht notwendigerweise ein Hindernis für eine solche intermediale Ästhetik des Films ist, lässt sich vielfach nachweisen. Der Erzählfluss kann vielmehr zum Träger von diskursiven Spannungen werden und damit zum Zwischenraum der filmischen Erscheinung aus dem Widerstreit zwischen den Diskursen. Die syntaktische (syntagmatische) Dimension des narrativen Textes wird zum Träger solcher antimimetischer Tendenzen.69 Analog können die narrativen, syntagmatischen Spannungen in anderen visuellen Medien von Bedeutung sein. Etwa zeigt sich in der kubistischen Malerei, dass die Orientierung der Komposition an der literarischen Prosa dazu dient, die Ordnung der Dinge aufzuheben und durch ein ›simultanes Sehen‹ fremde Bereiche zu vereinen. Letzteres bewirkt in scheinbar paradoxerweise, dass die Dinge isoliert dastehen. Umgekehrt versucht der besondere Satzbau einer Prosa, die sich am Kubismus orientiert, durch die Rekonstruktion einer simultanen Sehweise einen unterbrochenen und sich überlagernden Rhythmus zu erzeugen.70 Die Betonung der Differenz und des Widerspruchs zwischen den visualisierten Dingen lässt diese als ›un-heimlich‹ erfahren, eine Erfahrung, die in der modernen Ästhetik nicht mehr durch eine mystische, 68 Es sei denn, es geht um die Rekonstruktion historischer Diskurse zum Stellenwert des Films im System der Künste, wie dies etwa in der Studie von Albersmeier der Fall ist. 69 Auch Lyotard weist darauf hin, dass die im (post-)modernen Text erfolgende Auflösung der macrorécits, d.h. von mimetischen Einheiten, die eine mehr oder weniger komplexe Evaluation leisten, zugunsten des Widerstreits der Textfragmente gerade durch eine extreme Entfaltung syntagmatischer Spannungen möglich wird. Vgl. Jean-François Lyotard: La condition postmoderne, Paris: Minuit 1979. 70 Vgl. Lara Vinca Masini, die eine solche Gestaltungsmethode auch auf die (eher surrealistischen als dadaistischen) Filme von Man Ray bezieht. Dies.: Man Ray, Florenz: Sansoni 1975, S. 10. 228
LUIS BUÑUEL: FILM, INTERMEDIALITÄT UND MODERNE
mythische oder religiöse Episteme aufgefangen werden kann, wie dies in prämodernen Formen der grotesken und barocken Ästhetik möglich war. Gewiss riskiert die barocke Kunst, den Diskurs durch das stets zur Differenz ausschreitende Detail zu destabilisieren, so dass die Gültigkeit vereinheitlichender Diskurse nur allegorisch behauptet werden kann. In der modernen, d.h. der postklassischen Ästhetik, vermag indes die Ausdifferenzierung der Diskurse ihren Widerstreit nicht mehr aufzuhalten. Die intermediale Natur der Kunst ist die direkte Folge davon und der Film kann zu Recht als die ›avantgardistische‹ Kunst par excellence auch dort angesehen werden, wo der Erzähldiskurs die intermedialen Spannungen zu glätten versucht. Buñuel sieht darin die Chance des »Films als Instrument der Poesie«. Das Charakteristische der ›kinematographischen Essenz‹ ist – so Buñuel – »das Mysterium und das Phantastische«, weil das Medium Film das Alltagbild, die Alltagshandlung unterschwellig konfliktuell visualisiert und »in den Rang einer dramatischen Kategorie« erhebt.71
L i t e r at u r Alazraki, Jaime: En busca del unicornio: los cuentos de Julio Cortázar. Elementos para una poética de lo neofántastico, Madrid: Gredos 1983. Albersmeier, Franz-Josef: Die Herausforderung des Films an die französische Literatur. Entwurf einer »›Literaturgeschichte‹ des Films«, Heidelberg: Winter 1985. Barthes, Roland: »Le troisième sens«, in: Cahiers du Cinéma 222 (1970), S. 12-19. Ders.: Le degré zero de l’écriture, Paris: Seuil 1972 [1953]. Berg, Walter B.: Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart, Frankfurt/Main: Vervuert 1991. Borsò, Vittoria: »Uccellacci e Uccellini: Eine poetische Metapher«, in: Hermann Wetzel (Hg.), Pier Paolo Pasolini, MANA 2 (1984), S. 87104. Dies.: Metapher: Erfahrungs- und Erkenntnismittel. Die Wirklichkeitskonstitution im französischen Roman des XIX. Jahrhunderts, Tübingen: Narr 1985.
71 L. Buñuel: Die Flecken der Giraffe, S. 144. Buñuel bezieht sich auf ein Gespräch mit Zavattini über den italienischen Neorealismus, den er kritisiert, weil dieser durch die Einbettung in eine gewöhnliche Handlungslogik »ein Glas ein Glas und nichts weiter« sein lasse (ebd. S. 147). 229
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P A S O L I N I S D E C AM E R O N O D E R E I N E K I N EM A T O G R A P H I S C H E
›D I V I N A M I M E S I S ‹ - M E D I A L E S C H W E L L E N Z W I S C H E N M A L ER E I U N D F I L M * Il Decameron von Pier Paolo Pasolini gilt gemeinhin als die ›literarische Verfilmung‹ von neun aus den 100 Novellen des Decamerone von Boccaccio. Doch es reicht nicht, diesen Film als kinematographische Transposition eines literarischen Werks aus dem italienischen Trecento zu besprechen. Die Malerei Giottos spielt im Plot und in der visuellen Realisierung einen unverhältnismäßig größeren Stellenwert als in Boccaccios Decamerone. Während in der Novellensammlung dem Maler eine Erzählung gewidmet ist, fungiert Giotto im Film durchgehend als Rahmenerzähler des zweiten Teils. Die Rolle wird – wie auch die von Chaucer in den Racconti di Canterbury – von Pasolini selbst gespielt. Die Malerei Giottos, so Pasolini, komme den eigenen Vorstellungen eines figuralen Kinos nahe. Transpositionen von Malerei in Form von Anspielungen und Zitaten von Giotto, Masaccio, Mantegna1 und Caravaggio sind die Regel im gesamten Kino von Pasolini. Die Malerei ist aber mehr als nur Zitat oder Dekor. Sie bestimmt den Blick des Filmemachers, wird zum Prinzip seiner Kameraeinstellung und kommt damit dem Phänomen der »Ein-Bildung« nahe, das Joachim Paech bei Godards Passion (1989) beobachtet hat.2 Bei den Bildeinrahmungen von Il Decameron ist das
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Erstmals erschienen in: Jochen Mecke/Volker Roloff (Hg.): Kino(Ro)Mania: Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 355-374. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Ich beziehe mich auf Pasolinis bekanntes Zitat des Cristo morto von Andrea Mantegna im Finale von Mamma Roma (1962), mit dem Ziel einer Sakralisierung des Proletariats. Auch Einzelheiten aus Piero della Francescas Storia della vera croce dienen als Vor-Bilder für die Sequenzen des Christus vor den Richtern und in der via crucis in Il Vangelo secondo Matteo (1964). Vgl. Joachim Paech: Passion oder die Einbildungen des Jean-Luc Godard. Kinematograph Nr. 6, Frankfurt/Main: Deutsches Filmmuseum 1989. Pa233
DAS ANDERE DENKEN, SCHREIBEN, SEHEN
Auge Pasolinis das Auge eines Malers. Die ›Realität‹ wird als Gemälde gesehen, eingerahmt in Halbtotalen oder Totalen aus Fenstern oder Türrahmen. A-narrativische plans-tableaux überwiegen3, und schließlich wird Giottos Jüngstes Gericht4 als tableau vivant rekonstruiert. All dies bringt die Kontinuität der Bewegung zum Stillstand, so dass behauptet werden kann, dass der Film schon der Anlage nach der Malerei näher kommt als der Ästhetik der Novelle.5 Die Geschwindigkeit der Handlung
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solinis Gebrauch von Vor-Bildern unterscheidet sich jedoch durch das unterschiedliche Verhältnis zum Realen grundsätzlich von dem Godards. Dieser These wird weiter unten nachgegangen. Pascal Bonitzer beobachtet am Beispiel von Godards Passion und von Pasolinis La ricotta (1963), dass schon der plan-tableau einen Kampf zwischen Malerei und Kino inszeniert, wodurch er grundsätzlich ambivalent sei. Vgl. Pascal Bonitzer: Décadrages: Peinture et cinéma, Paris: Éditions de l’Étoile 1985, S. 30. Die Rekonstruktion von La deposizione di Cristo (1521, in der Pinakothek von Volterra) von Rosso Fiorentino in La ricotta (Bonitzer und andere beziehen das tableau vivant auf Pontormo) sei zugleich eine Hommage und eine Parodie der toskanischen Malerei des Cinquecento. Vgl. P. Bonitzer: Décadrages, S. 30. Die instabile (karnevaleske) Mischung von Erhabenem und Niederem und die grundsätzliche Ambivalenz des plan-tableau bewirken, dass sich dieser nicht in den narrativen Rhythmus integrieren lässt, ebd., S. 31: »Le plan-tableau est foncièrement a-narratif, c’est pourquoi il a pu être employé chez des cinéastes qui privilégient la mise en scène et la plastique sur le scénario et la ligne narrative, comme Godard et Pasolini.« Es handelt sich um das Fresko oberhalb des Eingangstors zur Kapelle. Vgl. Giuseppe Basile: Giotto. La Capella degli Scrovegni, Mailand: Electa 1992. Die Vorliebe für die Malerei geht auf die leidenschaftlich besuchten Vorlesungen des Kunsthistorikers Roberto Longhi in Bologna zurück. Die malerische Expressivität der Körper soll in der Trilogia den Eros visualisieren, so Enzo Siciliano in seiner Pasolini-Biographie: Vita di Pasolini, Florenz: Giunti Gruppo Editoriale 1995, S. 446. Für Giuseppe Zigaina, den Maler und weiteren Freund Pasolinis, steht die Malerei am Ursprung von dessen Schaffen. Vgl. Guiseppe Zigaina: Pasolini e la morte. Mito, alchimia e semantica del »nulla lucente«, Venedig: Marsilio 1987, S. 44. Pasolini selbst äußert sich in Mamma Roma explizit dazu, Pier Paolo Pasolini: Mamma Roma, Mailand: Rizzoli 1962, S. 145: »[…] il mio gusto cinematografico non è di origine cinematografica, ma figurativa. Quello che io ho in testa come visione, come campo visivo, sono gli affreschi di Masaccio, di Giotto – che sono i pittori che amo di più assieme, a certi manieristi (per esempio il Pontormo) […] E non riesco a concepire immagini, paesaggi, composizioni di figure al di fuori di questa mia iniziale passione pittorica, trecentesca, che ha l’uomo come centro di ogni prospettiva. Quindi, quando le mie 234
PASOLINIS DECAMERON
und ihre Schürzung hin zur novellesken Pointe ist nur in wenigen Episoden von Bedeutung. Pasolini schätzt Il Decameron aus dem Jahre 1971 als einen Bruch im Verhältnis zu den so genannten ›mythischen Filmen‹ Teorema (1968), Porcile (1969) und Medea (1969) ein. Il Decameron (1971) sei ein Film, der von einer »gran voglia di ridere« motiviert wurde, angesichts des Zusammenbruchs aller Hoffnungen auf die Verwirklichung einer marxistischen Zukunftsutopie und angesichts der »schrecklichen Gegenwart«6, in der die Suche nach ›verlorengegangenen Kulturen‹ vergeblich geworden ist. Trotz der skeptischen Äußerungen zu Il Decameron interpretiert man häufig diesen Film als mythisierende Verherrlichung des Eros in vormodernen Gesellschaften oder auch als einen Versuch, in naturalistischer Weise »unschuldige Körper bei der selbstverständlichen Befriedigung ihrer sinnlichen Bedürfnisse zu zeigen«7. Beim ersten Blick scheint es Gründe für eine solche These zu geben: Eros spielt überall eine Rolle, besonders pikant in den zwischen Geistlichen und Bauersfrauen hinter den Rücken der Männer ausgetragenen Spielen; das Thema einer derben und schwankhaften Liebe der neapolitanischen Novellen gerät ins Zentrum, was wiederum mit der Vorliebe Pasolinis für die Mimesis eines ›nackten Naturalismus‹ erklärt wird, der aus dem Willen zur Übersetzung der aristokratischen ›Literalität‹ Boccaccios in die Leibhaftigkeit von volksnahen Bildern und eine volksnahe Sprache geschlossen wird.8 Damit wird aber Pasolinis These der ›Ontologie der Realität‹ begriffsdogmatisch ausgelegt, etwa wenn der Filmemacher Il Decameron mit folgenden Sätzen kommentiert: »Ho detto che il senso di questo film
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immagini sono in movimento, sono in movimento un po’ come se l’obbiettivo si muovesse su loro sopra un quadro; concepisco sempre il fondo come il fondo di un quadro, come uno scenario, e per questo, lo aggredisco sempre frontalmente.« Zu Pasolini als Maler und Zeichner vgl. Giuseppe Zigaina (Hg.): Disegni 1941-1975, Mailand: Scheiwiller 1978. Vgl. Gian Carlo Ferretti: Pasolini. L’universo orrendo, Rom: Riuniti 1976. Hermann Wetzel: »P. P. Pasolinis ›Trilogia della vita‹ (1970-74)«, in: Franz-Josef Albersmeier/Volker Roloff (Hg.), Literaturverfilmungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 484-504, hier S. 485. Wetzel weist z.B. auf die durch die ›Anführungszeichen‹ in Bezug auf das Epitheton ›unschuldig‹ angeblich erst bei der Abschwörung der Trilogie aufkommende Distanzierung vom Naturalismus des Eros hin. Vgl. Pier Paolo Pasolini: »Abiura della ›Trilogia della Vita‹«, in: ders.: Trilogia della vita, hg. von Giorgio Gattei, Mailand: Mondadori 1990, S. 7-11. Für einen Überblick über diese Rezeptionslinie vgl. Adelio Ferrero: Il cinema di Pier Paolo Pasolini, Venedig: Marsilio 1977, S. 118-121. 235
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è l’ontologia della realtà il cui simbolo nudo è il sesso.«9 Entgegen den naturalistischen Deutungen sieht Adelio Ferrero in seiner Monographie zu Il cinema di Pier Paolo Pasolini die Trilogia della vita als Beginn jener letzten Phase eines Schaffens an, das in Salò (1975) mündet. Ferrero stellt zwar fest, dass Pasolini die in Boccaccios Decamerone bemerkten »radici della vita vivente«10 mit einer Verherrlichung des Physischen umsetzt, dass aber der Vitalismus nur als Spiel figuraler Rhythmen von Bedeutung ist. Darüber hinaus werde mit den neapolitanischen Episoden zwar das Subproletariat repräsentiert, jedoch die Inszenierung durch die vielen Anklänge an die commedia dell’arte von theatralischer Distanz
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Interview mit Pasolini in: Cinema 60, Nr. 87-88 (1972), zit. nach A. Ferrero: Il cinema di Pier Paolo Pasolini, S. 119. Die begriffsdogmatische Auslegung des von Pasolini mehrfach (z.B. in einem Symposium in Bologna über »Erotik«) geäußerten Anspruchs, die Volkskörperlichkeit auszudrücken und den nackten Körper als Symbol der Wirklichkeit des Körpers zu verwenden, entspricht zwar dem Rezeptionserfolg der Trilogie, mit der die Filme Pasolinis zu Kassenschlagern wurden, doch glättet sie die – im weiteren Verlauf der Argumentation zu untersuchende – Komplexität der Kinoästhetik Pasolinis sowohl in Bezug auf die Filme als auch in Bezug auf die theoretischen Essays. Vgl. Mauro Ponzi: Pier Paolo Pasolini, Rainer Werner Faßbinder, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1996, S. 108. 10 In seinen Anspielungen auf Boccaccio scheint Pasolini eine ›vitalistische‹ Interpretation der Novellensammlung zu geben. In »Io e Boccaccio«, dem Interview mit Dario Bellezza, betont er z.B. die Heiterkeit (»gaiezza«) des Schriftstellers des Trecento. Vgl. Pier Paolo Pasolini: »Io e Boccaccio« (Interview mit Dario Bellezza), in: L’Espresso colore 47 (22.11.1970). Der Einsatz der Malerei schien auch den Willen auszudrücken, mit Bildzitaten eine den medialen Bedingungen des Trecento entsprechende, volksnahe Sprache als »Bibel der Armen« zu rekonstruieren. Vgl. M. Ponzi: Pier Paolo Pasolini, S. 108. Als realistische Eigenschaft heißt vitalismo jedoch für Pasolini auch Maniernismus, so etwa im Gedicht »La Guinea«: »Non Correggio, forse: ma di certo il gusto / del dolce e grande manierismo / che tocca col suo capriccio dolcemente robusto / le radici della vita vivente: ed è realismo… / Sotto i caldi castagni, poi, nel vuoto / che vi si scava in mezzo, come un crisma / odora una pioggia cotta al sole, poco: un ricordo della disorientata infanzia«, Pier Paolo Pasolini: Poesia in forma di rosa (19611964), Mailand: Garzanti 1964, S. 11. Auch Ferrero hebt das manieristische Arrangement so genannter ›realistischer Bilder‹ hervor, in denen das ›Physische‹ zu einem halluzinierten Traum wird. Vgl. A. Ferrero: Il cinema di Pier Paolo Pasolini, S. 122-123. Vgl. auch weiter unten die These Pasolinis, das kinematographische Bild sei die (phänomenologisch zu verstehende) Begegnung des Realen mit dem subjektiven Traum. 236
PASOLINIS DECAMERON
gleichsam begleitet.11 Ferrero zufolge sind die vitali esperienze als Gegenlager einer literarischen Leere und als Tod der Ideologie zu verstehen. Auch hier ist der Tod der Begleiter der inszenierten Vitalität. Es stellt sich nun die Frage, warum Pasolini in diesem Film aus dem Jahr 1971 die Malerei von Giotto und dessen Blick als Rahmen wählt und eine eschatologische Vision zum Höhepunkt des Films macht, die eher der mittelalterlichen Kosmologie als dem Frühhumanismus entspricht. Diese Frage drängt sich auch deswegen auf, weil üblicherweise die Spätrenaissance, der Manierismus12 und mit Caravaggio die barocke Malerei die Vorlage für Transpositionen und eine wichtige Inspirationsquelle darstellen.13 Die Vitalität, die mit der Wahl des Decamerone, und damit eines Transitionswerks zur Frührenaissance, in den Film eingeht, steht in Spannung zum Tod, der u.a. durch die im Verhältnis zum literarischen Werk deutlicher hervortretende Gewalt unterstrichen wird. Ebenso steht der Naturalismus der Körper in Spannung zum Manierismus ihrer Gestaltung, wie auch die Bejahung des Irdischen in Konflikt zur eschatologischen Vision gerät. Methodisch kann diesen Spannungen nur dann Rechnung getragen werden, wenn alle Medien, und zwar Malerei, Film und Literatur, aufeinander bezogen werden. Denn trotz historischer Kostüme und Requisiten ist die Betrachtung des Films als Verfilmung eines literarischen Werks aus dem italienischen Trecento ebenso verfehlt wie die Annahme, es handele sich um die Wiedergabe von Gemälden. Der duale Vergleich zwischen Literatur bzw. Malerei und Film und der Versuch, filmische Szenen am Maßstab des so genannten literarischen bzw. malerischen Originals zu bewerten, muss notwendigerweise zu einem defizitären Urteil führen.14 Alle drei Medien, und zwar Malerei, Film und Lite-
11 Auch in I racconti di Canterbury fungiert das elisabethanische Theater als Vor-Bild für einen distanzierenden Blick der Kamera. 12 Neben Masaccio seien die Manieristen und Caravaggio die ›Vor-Bilder‹ für Pasolinis Wahrnehmung von Landschaften und Figurenkompositionen – eine Wahrnehmung, die stets einen Bezug zur Leidenschaft hat, die seit dem 15. Jahrhundert den Menschen zum Mittelpunkt jeder Perspektive macht. Vgl. M. Ponzi: Pier Paolo Pasolini, S. 68. 13 Auch in diesem Film existieren zwar Einrahmungen mit manieristischen Formen und caravaggiesken Anklängen, doch stellt das tableau vivant des Jüngsten Gerichts einen Höhepunkt, eine Art hergerichtete Szene, dar, auf deren Einrahmung alle Fäden zusammenlaufen. Vgl. J. Paech: Passion oder die Einbildungen, S. 45. 14 Dies geschieht sowohl bei Wetzel in Bezug auf die Literaturverfilmung (vgl. H. Wetzel: P. P. Pasolinis ›Trilogia della vita‹, S. 501) als auch bei Minas in Bezug auf den Vergleich mit der Malerei (vgl. Günter Minas: 237
DAS ANDERE DENKEN, SCHREIBEN, SEHEN
ratur sind vielmehr in ihrer medialen Eigenart zu denken und aufeinander zu beziehen. Da es sich um ein tableau vivant handelt, kommt noch ein weiteres Element zum plan-tableau hinzu. Wie Paech es im Zusammenhang mit Godards Passion gezeigt hat, muss auch ein viertes Medium gleichzeitig bedacht werden, das Theater. Die nachfolgende Analyse im Bereich der verhältnismäßig selten untersuchten Beziehung zwischen Malerei und Film wird sich auf die Szene des Jüngsten Gerichts konzentrieren. Sie wird nach dem medialen Widerstreit zwischen einer eschatologischen Vision in der Malerei und der Realisierung einer solchen Vision in einem Film fragen, der mit dem Zusammenbruch auch der neuen, politischen Eschatologie koinzidiert. Die Spannung zwischen der eschatologischen Vision des Gemäldes und der medialen Vision in der Sprache des Films als »lingua scritta della realtà«15 ermöglicht auch, die Rolle der Mimesis in der Filmtheorie Pasolinis zu überdenken.
Das »Trecento« im Auge Pasolinis: B e g e g n u n g d e r e s c h a to l o g i s c h e n V i s i o n G i o t t o s u n d d e s l i t e r ar i s c h e n W e r k s Boccaccios Giotto und Boccaccio stehen auf verschiedene Weise im Mittelpunkt der Debatten über das Trecento als konfliktuelle Epoche ideologischer und ästhetischer Transition, welche die Weltentsagung und die religiöse Letztbestimmung des Mittelalters in Opposition zur Entdeckung des Menschen, der Körperbejahung und der Daseinsfreude der Renaissance setzt. Die Heterogenität dieser historischen Epochen, ebenso wie die Vielseitigkeit der Werke beider Künstler geben Anlass zu solchen Debat-
»›Ein Fresko auf einer großen Wand…‹. Die Bedeutung der Malerei für die Filmarbeit Pasolinis«, in: Christoph Klimke (Hg.), Kraft der Vergangenheit. Zu Motiven der Filme von Pier Paolo Pasolini, Frankfurt/Main: Fischer 1988, S. 61). 15 Es handelt sich um den Vortrag in Pesaro (1966), der die heftige Kritik der Semiotiker, wie Umberto Eco und Gianfranco Bettettini nach sich zog. Vgl. Umberto Eco: »Il codice cinematografico« in: ders.: La struttura assente, Mailand: Bompiani 1968, S. 149-160 und Gianfranco Bettettini: Cinema. Lingua e Scrittura, Mailand: Bompiani 1968, u.a. veröffentlicht in: Pier Paolo Pasolini: Empirismo eretico, Mailand: Garzanti 1972, S. 198226. 238
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ten.16 Inwieweit Boccaccio als ›Erneuerer‹ gilt, hängt auch vom Bild des Mittelalters ab, wobei die Abwertung des Mittelalters in der Kunst eine lange Tradition hat, die auf das Verdikt Vasaris zurückgeht. Aber auch in der zeitgenössischen Kunstkritik finden sich immer noch Ansätze zur Erklärung der Kreativität Giottos im Sinne der Überwindung des Mittelalters und zur Situierung seiner Malerei in den Frühhumanismus.17 Boccaccio selbst lobt Giotto im Decamerone als den Maler, dessen Malerei im Sinne der Naturlehre die illusionistische Kraft einer neuen Mimesis als Analogon der Natur ausstrahle, womit Giotto den Obskurantismus vorangehender Jahrhunderte überwinde.18 Im manieristisch gefilmten und karnevalisierten Raum mittelalterlicher Szenen intensiviert Pasolini zwar das Physische und macht die Literalisierung des Körpers durch Boccaccio rückgängig – soweit könnte man noch die These der naturalistischen Interpretation von Pasolinis Decameron als bestätigt ansehen –, dennoch weicht er mit der eschatologischen Vision Giottos am Ende des Films vom Verständnis des Malers durch Boccaccio ab. Boccaccios Bild von Giotto als referenzillusionistischem und naturalistischem Maler ist eher der Giotto vom Zyklus des Heiligen Franz von Assisi oder einiger Details der Arena-Kapelle. Dort überwindet der Maler die byzantinische Schule Cimabues und entdeckt im Ansatz die Zentralperspektive, die ei16 Vittore Branca sieht die (romantische) Opposition zwischen Obskurantismus und Erneuerung als überwunden und zeigt die Kontinuität der Epochen an der in Boccaccios Decamerone präsenten (spät-) mittelalterlichen Kultur, der aber auch die Zeichen des so genannten Frühhumanismus angehören. Vgl. Vittore Branca: Boccaccio medievale, Florenz: Sansoni 1975, S. 192f. Auch jüngere Analysen bemühen sich, auf der Grundlage des diskursanalytischen Ansatzes Foucaults und einer darauf aufbauenden Typologie der Ähnlichkeit als Episteme beider Epochen die reine Opposition zwischen Mittelalter und Renaissance aus den Angeln zu heben. Vgl. Joachim Küpper: »Boccaccios Decameron und die Episteme der Renaissance«, in: Klaus W. Hempfer (Hg.), Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen, Stuttgart: Steiner 1993, S. 47-92. 17 So z.B. die ikonographische Forschung auf der Grundlage von Panofsky. Vgl. Max Imdahl: Giottos Arenafresken. Ikonographie. Ikonologie. Ikonik, München: Fink 1980. 18 In der Giotto gewidmeten Episode sieht Boccaccio den Maler als Erneuerer an, wobei in früheren Epochen die Kunst mehr die Augen der Unwissenden als den Geist der Weisen entzückte. Vgl. Giovanni Boccaccio: Decameron, hg. von Cesare Segre, Mailand: Mursia 1966 und 1987, Tag VI, Novelle 5. Boccaccio spricht vom »ingenium«, durch das Giotto mit seinem Pinsel ähnlich der Natur malt, die Illusion der Identität mit dieser stiftet, so dass »che il visivo senso degli nomini vi prese errore, quello credendo esser vero chera dipinto«. Ebd., S. 394. 239
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ne Form (naturalistischer) Analogiebildung in Bezug auf einen vom Menschen besetzten Mittelpunkt darstellt.19 Doch die Kulminationsszene des als tableau vivant transponierten Jüngsten Gerichts bezieht sich auf ein Gemälde, in dem nicht die Zentralperspektive des Frühhumanismus und der Renaissance, sondern vielmehr eine allegoretisch zu deutende Perspektive vorherrscht, in der die im kosmologischen Weltbild bestehende Hierarchie zwischen dem diesseitigen und jenseitigen Leben das Verhältnis der Teile zum Ganzen bestimmt. Relevant für die intermediale Analyse ist die Tatsache, dass dieses Gemälde noch in der pikturalen Form der Repräsentation steht, ohne die innere Bewegung und den Eintritt der Zeitlichkeit in das Bild anzudeuten, die die Hochrenaissance, der Manierismus und der Barock durch das Licht erzeugen (schon bei Masaccio, besonders aber bei Caravaggio), und zwar so, dass eine dem Kino Pasolinis kongeniale, vorkinematographische Instabilität des Bildes produziert wird.20 Vielmehr legen Überzeitlichkeit und die Hierarchie des 19 Die Zentralperspektive verbinde nach Panofsky die byzantinische frakturale Proportionslehre, die die Verhältnisse zwischen den Dingen als adequatio eines als ideal vorausgesetzten Grundmaßes ansieht, mit der objektiven Proportionslehre der Antike. Im Gegensatz zur Antike wird der menschliche Betrachter zum ebenbürtigen Widerpart des betrachteten Objekts erklärt, und es wird damit ein Zentrum geschaffen, in Bezug auf das beide Regelsysteme verbunden werden. Dieses Zentrum ist der Mensch. Das Verhältnis zwischen den Dingen im Bild wird analog zum menschlichen Blick konzipiert. Vgl. Erwin Panofski: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: DuMont 1978, S. 91-92. In Les mots et les choses führt Foucault unter den Formen der Ähnlichkeit, die als Episteme des 16. Jahrhunderts sowie als »une trame sémantique […] fort riche« bezeichnet werden. Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris: Gallimard 1966, S. 32, die Analogie auf, die er als eine Mischung der (der Magie entsprechenden) metonymisch konzipierten convenentia und der aemulatio, d.h. der Anpassung durch imitatio, definiert. Sie entspricht den Beziehungen der Analogie, die Panofsky mit der Zentralperspektive verbindet. 20 Pascal Bonitzer hat die Differenzierung übernommen, die Panofsky in »Die Perspektive als symbolische Form« zwischen der frontalen und fernen Perspektive des Quattrocento und der nahen Seitensicht der deutschen und flämischen Schulen entwickelt. Vgl. P. Bonitzer: Décadrages, S. 52-53. Bonitzer zeigt damit, dass Letztere, wie später auch die barocke Malerei, mit dem Seitenblick den Rahmen zum äußeren Betrachter, d.h. zum horschamp geöffnet haben, was mit der Beschleunigung der Zeitlichkeit in der Moderne zum (kinematographischen) Prinzip des entgrenzten Rahmens, zur Mobilität des Blicks (peinture mouvement, vgl. ebd., S. 56f.) und schließlich zur Deterrorialisierung der Blickpunkte führt. Panofsky selbst räumt jedoch ein, dass auch die Zentralperspektive der Renaissance durch240
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Himmels die Interpretation fest.21 Die Topographie der Sphären des Irdischen und des Göttlichen ist stabil, sie wird nicht durch die Einbeziehung des Hier und Jetzt des Betrachters dynamisiert. Die einzelnen Figuren sind zwar dynamisch – etwa durch die Bewegung der Köpfe und der Körper von Engeln und Heiligen, deren subjektive Expressivität bei naher Betrachtung auffällig ist –, doch nicht die geregelte, stabile Einheit des Bildes. Die Komposition des Freskos gibt nicht dem Betrachter als deutendem Zentrum den Vorzug, sondern dem von der Heiligen Schrift vorgegebenen, priviligierten und sublimierenden Mittelpunkt, nämlich dem richtenden und rettenden Christus.22 Eben das Gravitätszentrum der Christus-Figur zwingt den Betrachter, sich der Komposition und der allegoretischen Botschaft des Malers unterzuordnen und sich den RaumZeit-Verhältnissen des Freskos anzupassen23, die für die Ewigkeit geregelt sind.
aus ambivalent sein kann, was zur Frage führt, ob sich die Perspektive eines Gemäldes dem äußeren Betrachter anpassen soll oder der Betrachter der Disposition, die der Maler gesucht hat. 21 Im Bild der Auferstandenen und der Verdammten ist zwar auch die Zukunft des Betrachters impliziert, doch kann dieser nicht in die Ordnung des Himmels eingreifen. Dies steht durchaus im Gegensatz zu einzelnen Bibelszenen, in denen auch die Zeitlichkeit der Anordnung des Irdischen im unteren Teil der Kapelle repräsentiert wird. 22 Das Zentrum bezieht zwar den Betrachter ein, jedoch nicht als bedeutungsstiftende Instanz. Der betrachtende Mensch ist nicht Teil der Konstruktion des Bildes, wie dies bei der Ähnlichkeit im Sinne von (naturalistischer bzw. naturbezogener) Analogie geschieht. Vielmehr wird durch die allegoretische Botschaft Christi im Zentrum des Bildes eine Deutung vorgegeben. 23 Bonitzer bezieht diese Analyse auf den Vergleich Panofskys zwischen den Bildern vom heiligen Hieronymus in seiner Zelle von Antonello da Messina und Dürer. Das geometrische Gleichgewicht, das von einer strengen (nach Panofsky »objektiven«) Architektur getragen wird, das die Zeit auf eine Zeitstelle festlegt, unterscheidet sich von der Seitenperspektive bei Dürer, die die Zeitlichkeit insoweit evoziert, als sie einen Augenblick fixiert, in dem der Zuschauer den Heiligen in seiner Intimität überrascht, so dass das Ganze den Eindruck des Vergänglichen erzeugt, wobei die Zeitlichkeit durch das Emblem der Melancholie betont wird. Vgl. P. Bonitzer: Décadrages, S. 53-43. Bonitzer begründet hier auch den Unterschied zwischen der zentripetalen Malerei der Renaissance und der zentrifugalen, auf das kinematographische Prinzip vorausdeutenden barocken Malerei. 241
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P as o l i n i s t a b le a u v i v an t : N ac k t e B l a sp he m i e oder Wiederkehr des Heiligen? Pasolinis tableau vivant übernimmt zwar nahezu vollständig die globale Komposition des Jüngsten Gerichts. Es fällt jedoch unmittelbar auf, dass – wie von Günter Minas kritisch bemerkt –, die technischen Mittel des Films nicht genutzt werden, die durchaus die Möglichkeit geben, eine überirdische Vision zu reproduzieren. Die laienhafte Pappkulisse und das Bauerntheater, das Pasolini vor der Kamera aufstellt – nicht anders ist die Platzierung der Erde und der Hölle in einer nicht einmal besonders unheimlich oder tief wirkenden Grube, an deren Obergrenze die Engel dominieren –, ist eine blasphemische Herabsetzung der konfessionellen Ikonologie des Sakralen, wie sie in Giottos Jüngstem Gericht vorliegt. Pasolini passt das Überirdische an die Maßstäbe und Maße des Irdischen an – so z.B. die Reduzierung der im Verhältnis zu Giotto nur angedeuteten Menge der verschiedenen Gruppen von Figuren. Aus der paradiesischen Harmonie wird eine irdische Zeremonie. Trotz der scheinbaren Beibehaltung der allegoretischen Verhältnisse zwischen den Teilen der Komposition stehen ›reale Körper‹ von Darstellern vor der Kamera. Das scheinbar Naturalistische ist aber eigentlich die Übertretung des Visionär-Irrealen. Das hier durch das tableau vivant implizierte Medium, nämlich das Theater, übertritt das Gebot der sublimatio corporis und der Repräsentation ›entleibter‹ Körper. Die Kamera dringt in ein mittelalterliches Mysterienspiel ein, wo sich leibhafte Körper dem Auge präsentieren und das Bild zunächst eine quasi-magische Identität von Manifestation und Sache zu suggerieren scheint. Die Verdammten sind nicht mehr das Exempel des Sieges Christi über das Böse, sondern die nackten Körper der Darsteller, die sich dem Blick der Kamera anbieten. Das Irritationspotenzial dieses Bildes liegt also in der scheinbar ›naturalistischen‹ Umdeutung des Irrealen durch das Kino. Dieses tableau vivant vollzieht insgesamt eine Übertretungsgeste. Medienästhetisch könnte die Durchbrechung der technischen Möglichkeiten des Kinos, eine Vision umzusetzen, auf die parodistische Funktion schließen lassen, die – wie Bonitzer es hervorhebt – den Konflikt der Medien begleitet. Die stabile Topographie der allegoretischen Einheit wird hier zur instabilen Koexistenz heterogener Topoi (Himmel, Erde und Unterwelt), die sich im Bildrahmen treffen, ohne dass der Konflikt zwischen ihnen versöhnt werden könnte. Die Ambivalenz des tableau vivant wird durch die inhaltliche Heterogenität verstärkt. Der Schrecken der Hölle und die Glückseligkeit des Paradieses teilen sich den realen Raum vor der Kamera. Weltlichkeit links kohabitiert in paradoxaler Weise mit den Sünden der Hölle. Die Hölle ist auf dieser Welt. Gravierend ist der Ersatz Christi durch die Mut-
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ter mit Kind. Die Mutter Gottes ist ein Geschöpf des Irdischen, wie die Heiligen, in denen in der Tat die protestantische Reform die Gefahr der Idolatrie gesehen hat. In La chambre claire erklärt Roland Barthes das ikonographische Verbot der jüdischen Religion durch die Gefahr, das Imaginäre und damit die Einheitlichkeit mit der Mutter in das Göttliche zu projizieren, wie auf eine Leinwand.24 Pasolini beabsichtigt durchaus eine solche Übertretung, die in der Großaufnahme des Gesichts Silvana Manganos betont wird, deren fast unmerkliches, ambivalentes Lächeln die Darstellung der Mutter Gottes von der abstrakten Abbildung zum offenen Leib werden lässt. Die ins Zentrum geratende Schwellenfigur der Mutter ersetzt die als Gravitationszentrum des Freskos und als höchster Richter präsidierende Figur Christi und macht die vom Christentum eingeleitete, neue Ordnung zwischen Gutem und Bösem zu Gunsten der Ambivalenz des Heterogenen rückgängig. Die Dynamik des gesamten Bildes ist zentrifugal, die Teile behalten ihre Differenz zueinander, was durch die Montage, nämlich durch die harten Schnitte, unterstrichen wird, welche die Einzelteile der zunächst als plan tableau gezeigten Vision zergliedern. Die (magische) Identität der Körper mit den Heiligenfiguren trägt den teuflischen Keim der Differenz geradezu zur Schau. Die transgressive Unordnung der Leiber springt hervor. Sie ersetzt die himmlische Harmonie der entleibten, zur Seele gewordenen Körper. Insgesamt ist die Transformation eines sublimierenden Gemäldes in belebte Leiber eine Übertretung der Grenzen ikonologischer Konventionen im Hinblick auf allegorische und moralisierende Körperbilder. Die Entsublimierung ist gestützt durch groteske Körperbewegungen, durch die Asynchronie zwischen den Chorstimmen und den Mundbewegungen der Engel. Anstatt der Harmonie des entleibten Körpers stehen hier nackte Leiber in unnatürlichen Haltungen vor der Kamera. Bei Pasolini wird ein Opfer vollzogen, es werden keine Sünden bestraft. Gerade das Opfer macht aus der Repräsentation der Leiber photogene Dinge, die sich der Kamera stellen. Der Blick wird durch den schnellen Kameraschwenk zusätzlich destabilisiert, so dass neben der inhaltlichen Parodie konfessioneller Ikonographie medienästhetisch der – auch von Bonitzer und Paech hervorgehobene – Verlust der ursprünglichen Identität der Bilder von Bedeutung wird. Der Versuch der Identifizierung der Bilder dieses tableau vivant verschärft das Abenteuer voyeuristischen Schauens. Die Unentscheidbarkeit zwischen Erotik, Opfer und dem Heiligen drängt sich dem voyeuristischen Blick auf, wenn er die in die Tiefe verschwindenden nackten Körper verfolgt. Angesichts des in der ›Hölle‹ vollzogenen Op-
24 Vgl. Roland Barthes: La chambre claire, Paris: Gallimard/Seuil/Cahiers du Cinéma 1980, S. 117. 243
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fers an lebendigen Leibern wird der Blick mit dem eigenen Sadismus konfrontiert.25 Die quasi magischen Körper des Bauerntheaters bilden einen Sog zur Übertretung der Transzendenz, der Differenz zum Anderen und zu Gott.26
› D i v i n a M i m e s i s ‹ i n P as o l i n i s D e c a m e r o n Die Übertretung, die Pasolini im Dialog mit Giotto und Boccaccio erreicht, erscheint in der ideologischen Situation der 1970er Jahre als die einzige Form des Heiligen. Bataille, den Pasolini kennt, obwohl er nur sporadisch von ihm spricht27, ist auch der Schlüssel zum Verständnis der
25 Besonders in Bezug auf die Intermedialität mit Selbstbildnissen von Caravaggio hat Helga Finter gezeigt, dass der Narzissmus des Betrachters in den Vordergrund gerät und dass das Bild das Subjekt entgrenzt. Vgl. Helga Finter: »San Pier Paolo oder ›Alles ist Paradies in der Hölle‹ (Sade)«, in: Hans-Jürgen Heinrichs (Hg.), Der Körper und seine Sprachen, Frankfurt/Main: Qumran 1984, S. 61-92, hier S. 79. 26 Es bildet eine Art hypnotischer Identifikation, ganz im Sinne der Opferrituale, die nicht die Zeichen des Opfers, der Menschwerdung Gottes und der Vereinigung mit ihm im sublimierenden Akt der Transsubstantiation nachahmen, wie im Christentum, sondern der Leib Gottes selbst werden, indem sie ihren Leib opfern. 27 In L´expérience hérétique (1976), der französischen Übersetzung von Empirismo eretico, klingt eine Anspielung auf Expérience intérieure und L’érotisme von Bataille an, auch wenn beispielsweise in der Einführung zu Pasolinis Ecrits sur le cinéma (1987) Joubert-Laurencin die Verschiebung des Titels nur mit dem Hinweis auf die kritische Haltung Pasolinis gegenüber dem Stellenwert des empirischen Formalismus und des Neokapitalismus erklärt. Vgl. Hervé Joubert-Laurencin: »Genèse d’un penseur hérétique«, in: ders. (Hg.), P. P. Pasolini. Ecrits sur le cinéma, Lyon: Presses Universitaires 1987, S. 7-98, hier S. 74. Für den Pasolini des Empirismo eretico, wie auch für Bataille, sind die Denkfiguren des Heterogenen und der Transgression grundlegend. Zur Bedeutung Batailles für das Werk Pasolinis und zur Interpretation der Inszenierung seines eigenen Todes entsprechend dem Gesetz der Verausgabung vgl. Barbara Vinken: »Pier Paolo Pasolini. L’homme et l’oeuvre. Ein unnatürlicher Tod«, in: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.), Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 195-216, hier S. 202-206. Das Opfer des eigenen Lebens kann als reales Zeichen für Pasolinis letzten Transgressionsakt gegen die bürgerliche Ökonomie gesehen werden. Vgl. Guiseppe Zigaina: Pasolini e l’abiura, Venedig: Marsilio 1993. 244
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Übertretungen im Jüngsten Gericht. Bataille sah die Religion insoweit als eine Form der Verbürgerlichung des Heiligen an, als sie die Sublimierung des Opfers als Konservierung des Lebens ausgelegt hatte. Nachdem damit die Heilige Zeit in die Profane übergegangen war, konnte eine Form des Heiligen nur durch die subjektüberschreitende Bewegung der Erotik wiederhergestellt werden. So sucht Pasolini in der früheren Phase seines Schaffens die Erotik als Waffe gegen das Bürgertum und als eine Form des Heiligen. Pasolini kritisiert die Profanisierung des Heiligen in konfessionellen Religionen und sucht in seinen Filmen die Erfahrung der Mystik und der Erotik. Die Erotik ist jedoch, wie das Heilige, in den 1970er Jahren dieses Jahrhunderts nicht mehr transgressiv, da mit der ideologischen Befreiung des Körpers nicht der vermeintliche Freiheitsgewinn erreicht wurde, sondern sich ein neuer Diskurs etablierte, der sich des Leibs bemächtigte, um das bürgerliche Subjekt zu stärken.28 Der erneut funktionalisierte Leib ist zu einem effektiveren Medium des Kon28 Vgl.: Michel Foucault: Histoire de la sexualité. Bd. II: Le Souci du soi, Paris: Gallimard 1984. Dort zeigt Foucault, dass schon in der klassischen Antike die Praktiken, die zur Pflege des Körpers dienen, zugleich die Disziplinierung der Sexualität implizieren. Die Macht der Diskurse über den Körper drückt sich damit nicht allein durch Repressionsakte aus. Dies gilt auch für die Liberalisierung des Körpers als moderne Form der Pflege des Selbst. Die Emanzipation des Körpers kann nicht über den Diskurs der Emanzipation erfolgen, sondern setzt transgressive Akte auch gegen eben diesen Diskurs. Dass der Liberalisierungsdiskurs über die Freiheit des Körpers eine neue Form bürgerlicher Macht darstellte, ist Pasolini bewusst, Pier Paolo Pasolini: »Il coito, l’aborto, la falsa tolleranza del potere, il conformismo dei progressisti«, in: ders.: Scritti corsari, Mailand: Garzanti 1981, S. 119-127, hier S. 120f.: »Oggi la libertà sessuale della maggioranza è in realtà una convenzione, un obbligo, un dovere sociale, un’ansia sociale, una caratteristica irrinunciabile della qualità di vita del consumatore«. In seinem Artikel gegen die Liberalisierung der Abtreibung, deckt Pasolini – mit einer Foucault nahen Diskursanalyse – auf, dass der Kontext der Toleranzaussagen den Apriori der bürgerlichen Ökonomie gehorcht. Ebd., S. 122: »Ora il coito di oggi sta diventando, politicamente, molto diverso da quello di ieri. Il contesto politico di oggi è già quello della tolleranza (e quindi il coito è un obbligo sociale), mentre il contesto politico di ieri era la repressività (e quindi il coito, al di fuori del matrimonio, era scandalo)«. Angesichts der Machtprämissen des Toleranzdiskurses ist – so Pasolini – die einzige Form der Transgression die Ablehnung der Liberalisierung der Abtreibung. Vgl. ebd., S. 120. Vgl. auch B. Vinken: Pier Paolo Pasolini, S. 197. Zu dieser Problemstellung bei Moravia vgl. Vittoria Borsò: »Die Ethik des Kreatürlichen bei Alberto Moravia«, in: R. Behrens/R. Galle (Hg.), Menschengestalten, S. 217-232. 245
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formismus geworden.29 Die Erotik und das Heilige sind nur noch in der Geste der Übertretung wiederherzustellen.30 Nach der Funktionalisierung der Körperlichkeit dienen die Übertretungen des Jüngsten Gerichts der Wiederherstellung des Heiligen. Das Auge vollzieht das Ritual des Opfers. Ähnliches gilt auch für die Erfahrung des Leibs und für die Sichtbarkeit des Körpers im Kino. Wenn Pasolini in der Rolle von Giotto sagt, die Vision sollte ein Traum bleiben31, so kann dies anhand der bisherigen Überlegungen erklärt werden: Die Repräsentation des Heiligen im Sinne der Ikonographie Giottos würde die Vision zerstören, ebenso wie die nackte Repräsentation des Körpers die Erotik vernichten würde. Nur im Zwischenraum, zwischen dem Gemälde und der filmischen Realisierung, im Widerstreit der Medien versucht Pasolini die Vision zu retten, eine Vision, die – wie verstärkt in der Moderne möglich – nur noch im Auge des Betrachters entstehen kann. Das Kino, das Pasolini vorschwebt, ist ein Kino des Realen – nicht des Realistischen. Es ist ein Kino, das etwas Aufzehrendes, statt etwas Verzehrbares, Konsumierbares32 produziert. Dass Pasolini mit den Ein-Bildungen, d.h. mit der Einbeziehung der Malerei in sein Kino, vornehmlich einen Konflikt zwischen den Medien suchte, der im Bild ausgetragen werden sollte, ist die Hauptthese der Studie des Malers und Freunds Zigaina von 1987, einer Studie, mit der Zigaina auch den Grundstein für das Verständnis von Prinzipien des Kinos und der kinematographischen Schriften Pasolinis legt, auf die er 1993 zurückkommt. Bei seiner Auseinandersetzung mit den zeichentheoretischen Prämissen von Pasolini gelingt es Zigaina – wie Deleuze zuvor –, in der verwirrenden Debatte um die so genannte Semiotik der filmtheoretischen Essays Pasolinis Klarheit herbeizuführen. Er zeigt, dass allzu begriffsdogmatische Auslegungen sowohl im Hinblick auf das angeblich realistische bzw. naturalistische Kino von Pasolini als auch auf seine Zeichentheorie die Besonderheit von Pasolinis Position und ihrer Fähigkeit zur Irritation der semiotischen Doktrin verfehlen.
29 So auch Foucault in seiner Auslegung von Bataille. Vgl. Michel Foucault: »Préface à la transgression«, in: Critique 19, 195-196 (1963), S. 751-769. 30 Dies wird anhand der Übertretung des Inzestverbotes deutlich (z.B. in Teorema). Die Übertretung erfolgt nicht anhand heterosexueller, sondern homosexueller Liebe als Emblem der Verausgabung. 31 So die letzten Worte des Rahmens, in dem die Vision Giottos verwirklicht wird: »Perchè realizzare un’opera, quando è così bello sognarla soltanto?« im Dokumentarfilm Pier Paolo Pasolini. La ragione di un sogno, Laura Betti (Regie), Italien: Palomar, Stream, MC4, ARTE 2001. 32 Vgl. B. Vinken: Pier Paolo Pasolini, S. 199. 246
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V o n d e r M a l e r e i z u m P r o b l e m d e r M i m e si s i n d e r T he o r i e P as o l i n i s Zigaina sieht im Konflikt der Medien, insbesondere von Malerei und Kino, das grundsätzliche Moment der Ästhetik Pasolinis. Wenn auch die Malerei quantitativ eine Randerscheinung im künstlerischen Schaffen Pasolinis darstellt (als Maler sind Pasolinis Zeichnungen der Maria Callas von Bedeutung), verwirkliche sich in der Beziehung Pasolinis zur Malerei ein auch für seine Literatur und sein Kino grundlegendes Verfahren: die Kontamination.33 Diese Grundfigur begünstige im Film den Mediendialog mit der Malerei, und zwar so, dass das Bild den Konflikt sucht, weswegen Pasolini von seinem Kino als »häretischem Kino« sprach. In Empirismo eretico stellt Pasolini auch seine MimesisAuffassung im Licht dieses Konfliktes dar: »In effetti lo stesso inconsulto amore per la realtà tradotto in termini linguistici, mi fa vedere il cinema come una riproduzione fluente della realtà mentre, tradotto in termini espressivi, mi fissa davanti ai vari aspetti della realtà (un viso, un paesaggio, un gesto, un oggetto) quasi fossero fermi e isolati nel fluire del tempo.«34
In diesem Zitat ordnet Pasolini das Expressive des Kinos zur Dauer zu, d.h. der Arretierung des Zeitflusses und damit zur Kondensierung der Zeit im eingerahmten Bild, wie dies in der Malerei geschieht, und die linguistische, diskursive Seite des Films dem Kontinuum von Zeitstellen in der »flüssigen Reproduktion der Realität«. Obwohl diese Trennung zwischen Expressivität und Bedeutung ein mit der Nouvelle Vague gemeinsames antimimetisches Moment35 darstellt, wie Pasolini in »Cinema 33 Die Kontamination – so Zigaina – führt zur Entdifferenzierung des Individuums und zur Ambivalenz in allen Bereichen von Pasolinis Werk und Leben: in der Biographie (Überlagerung der Biographie beider Brüder, Guido und Pier Paolo) und im Kino, das aus der Kontamination zweier Sprachen entsteht, nämlich der symbolischen Sprache der Montage und der ›realen‹ Sprache der Dinge. Vgl. G. Zigaina: Pasolini e la morte, S. 31. Der Konflikt der Bilder führe zur Arretierung des narrativen Flusses und damit zur Expressivität. Vgl. ebd. Dass die Malerei Pasolinis Blick auf das Reale steuere, sei z.B. durch die frappierende Ähnlichkeit zwischen früheren Zeichnungen und späteren kinematographischen Bildern bewiesen, beispielsweise das Gesicht von Nino Diavoli in Uccellacci e Uccellini (1966) und Il Decameron. Vgl. ebd., S. 47. 34 Zit. nach G. Zigaina: Pasolini e la morte, S. 45. 35 Expressivität bedeutet auch für Pasolini – wie für die Nouvelle Vague – die Arretierung der Narrativität. Die Fixierung des Bilds isoliert einen Aspekt 247
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di poesia« behauptet, liegt doch der Unterschied zur Nouvelle Vague in der von Pasolini selbst immer wieder betonten unterschiedlichen Rolle der Realität vor der Kamera.
S t at t d er R e al i t ä t d as Re al e a l s G r e n z e d e s S e m i o ti sc h e n Anhand der bisherigen Überlegungen kann der für das Kino durch Pasolini entwickelte Begriff imsegno präziser gefasst werden, und zwar über die Polemik hinaus, die sich seitens der Theoretiker, besonders seitens Umberto Ecos, gegen Pasolinis Umgang mit der Zeichentheorie entzündet hat.36 Imsegno meint zunächst, dass die Objekte selbst elementare Zeichen für die Kamera darstellen, die allerdings kein System im Sinne eines Wörterbuchs oder auch einer Enzyklopädie (Eco) bilden können, der Realität; das Bild wird damit von der durch die Bewegung induzierten narrativen Logik unabhängig. Als eines der Mittel zur Arretierung der Narrativität helfe die Malerei dem Kino, die der eigenen Natur entsprechende Ästhetik wiederzufinden: das in der Zeit instabile Bild. Die Einrahmung des Bildes führe nämlich zum Eintritt der Zeit in das Bild selbst, statt durch den filmischen Fluss die Zeit zu einer Kategorie des narrativen Kontinuums und zu einer Reihe von Zeitstellen zu machen. 36 Deleuze nimmt ironisch Stellung gegen Umberto Ecos Kritik an der so genannten naiven Semiotik von Pasolini, Gilles Deleuze: L’image-temps. Cinéma 2, Paris: Minuit 1985, S. 42: »La thèse très complexe de Pasolini risque d’être mal comprise à cet égard. Umberto Eco lui reprochait son ›ingénuité sémiologique‹. Ce qui mettait Pasolini en fureur. C’est le destin de la ruse, de paraître trop naïve à des naïfs trop savants«. Eco übersieht – so Deleuze –, dass Pasolini nicht als Semiotiker sprechen, sondern vielmehr die Grundlage des semiotischen Credos irritieren möchte, nämlich die stabile Beziehung zwischen den Zeichensystemen und den Dingen, jene Beziehung, die die Semiotik durch das versöhnliche Konzept des Referenten regelt. In einer neueren Studie über die Abschwörung (»abiura») und über die Essays von Empirismo eretico, bezeichnet auch Zigaina die Diskussion zwischen Eco und Pasolini als »un discorso tra sordi«, G. Zigaina: Pasolini e l’abiura, S. 77, denn Eco hat bei der These Pasolinis, dass die (Kino-)Zeichen real sind (als Umkehrung der semiotischen These, die Realität sei zeichenhaft) das wichtigste Moment missverstanden, und zwar Pasolinis radikalen Willen zur ›Deontologisierung‹ der Realität. Vgl. auch A. Ferrero: Il cinema di Pier Paolo Pasolini, S. 86. Was mit der Behauptung, die Zeichen seien real, gemeint ist, hat Pasolini durch seinen Opfertod bewiesen, ein Tod, der seinem poetischen Credo vollends entspricht. Vgl. G. Zigaina: Pasolini e l’abiura, S. 77. 248
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weil sie unendlich kombinierbar sind. Die Organisation der an sich ungeordneten Dinge ist vielmehr nur als symbolischer Prozess gewährleistet, der auf so genannte kinematographische ›Stileme‹, d.h. auf rhetorische Mittel des Kinos zurückgeht. Für den Film existieren kinematographische Diskurse, welche kulturelles Wissen reproduzieren – und nicht mit dem Vor-Bild-Charakter für die Kameraeinstellung zu verwechseln sind, von dem Paech spricht. Noch vor dem kinematographischen Bild, das die Filmsemiotiker als kleinste bedeutungstragende Einheit der Kinosprache ansehen, setzt Pasolini – gewissermaßen als zweite Artikulation des Kinos – die Kineme (cinèmi). Die Kineme sind nach Pasolini die eigentlichen, kleinsten Einheiten des Kinos. Sie entsprechen den realen Gegenständen, die in eine Einstellung eingehen. Sie sind für das Bild – wie die Phoneme für die Sprache – zwingend, wenn auch beliebig kombinierbar. Diese doppelte Artikulation des Kinos macht den eigentlichen Unterschied zwischen Zeichen und imsegno aus. Zigaina hebt zutreffend hervor, imsegno bedeute, dass die Sprache des Kinos kontaminiert ist, weil sie an mindestens zwei Dimensionen beteiligt ist: Das imsegno ist die Schnittstelle oder die Schwelle zwischen den Dingen vor der Kamera und dem kinematographischen Bild. Das imsegno hat damit nichts mit der symbolischen Dimension des Zeichens zu tun, die die narrative und kommunikative Funktion trägt. Eine solche symbolische Dimension entsteht durch das Filmkontinuum, durch das bewegte Bild37, wenn die Be37 Hier wird ein weiterer Unterschied zwischen Pasolini und den Semiotikern des Kinos deutlich. Letztere bringen die Bewegung, als essentielle Eigenschaft, mit einer ebenso wesenhaft postulierten Narrativität des Kinos in Verbindung. Die Kinosprache erscheint damit als ein Kommunikationssystem mit mimetischer Funktion im Hinblick auf die dargestellte Wirklichkeit. Diese Prämisse liegt sowohl bei der These der direkten Entsprechung zwischen Roman und Kino und der dynamischen Modellierungsfunktion des Kinos seitens Lotmans (vgl. Jurij M. Lotman: Probleme der Kinoästhetik. Einführung in die Semiotik des Films, Frankfurt/Main: Syndikat 1977, S. 91) als auch im komplexeren System von Metz vor. Mit der Psychoanalyse integriert zwar Metz das Imaginäre und postuliert eine Mimesis zweiten Grades, die durch die Diegese und die Montage produziert wird. Vgl. Christian Metz: Semiologie des Films, München: Fink 1972 – für die Kritik dieser These vgl. Joachim Paech: Literatur und Film, Stuttgart: Metzler 1988, S. 168, doch ist heute die Verallgemeinerung des narratologischen Postulats nicht mehr akzeptabel. Schon in »Parti pris du figural« hatte Jean-François Lyotard die linguistische Lektüre von Bildern kritisiert. Vgl. ders.: Discours, Figure, Paris: Kliencksieck 1971. Auch Deleuze zeigt die Unzulänglichkeit einer Interpretation des Kinos als narratologisches System und betont den Unterschied zwischen einer ›realistischen‹ Diegese und der visuellen Erfahrung des Realen, etwa im ›Neorealismo‹, in den so ge249
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wegung nicht arretiert wird. Nur die Bewegung kann die referenzillusionistische Montage des Kinorealismus erfüllen und die EinBildungen zur unsichtbaren Stütze der Realitätsillusion machen. Im imsegno haben die Dinge, die vor der Kamera stehen, zwar einen potenziell semiotischen Charakter, weil die imsegni durch das Kontinuum des filmischen Diskurses eine symbolische Organisation erhalten können, dennoch existieren sie als Dinge vor der Kamera auch autonom und unabhängig vom Blick und Bewusstsein des Menschen.38 Die Dinge sind somit auch der limite concreto sensibile, d.h. die sinnliche Grenze der konkreten Welt (vor der Kamera).39 Der Blick des Filmautors findet in den Dingen oder Vor-Bildern den limite concreto sensibile, die Grenze seines eigenen Diskurses. Die Eigenschaft der Dinge vor der Kamera als Grenze für das Auge des Filmemachers kann nicht semiotisch konzipiert werden, da die Semiotik mit dem Referenten das Problem der Transitivität der Welt und damit des Verhältnisses von Sehendem und Gesehenem umgeht. Nur mit der phänomenologischen Konzeption der Schwelle zwischen beiden und mit der These der Unsichtbarkeit, die das Sichtbare und das Repräsentierbare begleitet, wie sie Merleau-Ponty formuliert hat40, nannten realistischen Filmen von Pasolini und in der Nouvelle Vague. Deleuze kritisiert die Vorannahmen von Metz und seinen Schülern, die trotz eines komplexen syntagmatischen Systems die Narrativitätsprämisse nicht verlassen, weil sie das Wesen des Kinos im bewegten Bild sehen. Sobald sich ein Bild bewegt, entstehe ein Syntagma und damit die Narrativität des Kinos; so habe Metz die historische These von Edgar Morin missverstanden, »le ›cinématographe‹ est devenu ›cinéma‹ en s’engageant dans la voie narrative«, G. Deleuze: L’image-temps, S. 39. 38 Der Fetischismus der Dinge bedeutet keinen ›Naturalismus‹, wie Pasolini es mehrfach wiederholt. Vgl. z.B. P. P. Pasolini: Empirismo eretico, S. 235. 39 Vgl. Pier Paolo Pasolini: »Le cinéma selon Pasolini. Entretiens avec Pier Paolo Pasolini par Bernardo Bertolucci et Jean Loup Comolli«, in: Cahiers du Cinéma 169 (1965), S. 22-71. 40 Die Erfahrung des Leibs ist ein Paradoxon, das die Repräsentation des Körpers überschreitet. Die Bedeutung des phänomenologischen Paradoxons in Bezug auf die Sichtbarkeit des Körpers hat Maurice Merleau-Ponty in Le visible et l’invisible, Paris: Gallimard 1973, demonstriert: Dem Leib (ein Konzept, das auf Husserls V. Kartesianische Meditation zurückgeht) ist ein Chiasmus zwischen dem Sehenden (das Auge) und dem Gesehenen (dem Körper) inhärent, weswegen das Sichtbare immer schon das Unsichtbare impliziert. Vgl. auch. Bernhard Waldenfels: »Nähe und Ferne des Leibes«, in: R. Behrens/R. Galle, Menschengestalten (Hg.), S. 11-24, hier: S. 17. Das Problem der Sichtbarkeit des Leibes und der Transgression des Körpers als Teil der Übertretungsgeste von Il Decameron habe ich ande250
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kann die eigentliche Tragweite der Theorie Pasolinis erfasst werden. Weil das Reale des imsegno im Außen der Diskurse steht, stellt es eine sensible Grenze der linguistischen Kommunikation dar.41 Im Falle der Intermedialität mit der Malerei impliziert eine solche Grenze auch die Spannung zwischen dem inneren, mentalen Film bzw. dem Gedächtnis des Filmautors und den Vor-Bildern, wie im Falle des behandelten Beispiels, das Jüngste Gericht von Giotto. Das poetische Kino nutzt diesen Zwischenbereich, den Konflikt zwischen dem Realen, d.h. dem vorgegebenen Material vor der Kamera bzw. dem Vor-Bild, das ein Eigenleben hat, und dem Blick des Autors bzw. seinem inneren Film. Diese phänomenologische These klärt auch die Äußerung Pasolinis zur soggettiva libera indiretta, eine Art Chiasmus zur Erlebten Rede.42 Denn in dieser
renorts analysiert. Vgl. Vittoria Borsò: »Corps et créature chez Pasolini«, in: Günter Krause (Hg.), Literalität und Körperlichkeit/Littéralité et corporalité, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 103-120. Auf die Relevanz dieser phänomenologischen These Merleau-Pontys für das kinematographische Bild hat auch Bonitzer im Zusammenhang mit dem von Bazin thematisierten Phänomen des Unsichtbaren hinter dem Rahmen (cache) hingewiesen. Vgl. P. Bonitzer: Décadrages, S. 15. 41 Deleuze hat sehr deutlich gezeigt, dass die Theorie Pasolinis als eine Kritik am semiotischen Konzept des Referenten zu verstehen ist und dass sein Zeichenbegriff über die linguistischen Prämissen in Bezug auf das Verhältnis von Zeichen und Dingen hinausgeht: »Aussi dans la seconde partie de L’expérience hérétique […], Pasolini montre à quelles conditions les objets réels doivent être considérés comme constitutifs de l’image, et l’image comme constitutive de la réalité. Il refuse de parler d’une ›impression de réalité‹ que donnerait le cinéma: c’est la réalité tout court« (G. Deleuze: L’image-temps, S. 170), und »[…] le cinéma représente la réalité à travers la réalité, je reste toujours dans le cadre de la réalité, sans l’interrompre en fonction d’un système symbolique ou linguistique« (ebd., S. 199). »C’est l’étude des conditions préalables que les critiques de Pasolini n’ont pas compris. […] En fait, donc, l’objet peut n’être qu’un référent dans l’image, et l’image, une image analogique qui renvoie elle-même à des codes. Mais rien n’empêchera que le film en fait ne se dépasse vers […] le cinéma comme ›Ur-code‹, qui, indépendamment de tout système langagier, fait des objets réels les phonèmes de l’image, et de l’image, le monème de la réalité. […] Si une comparaison philosophique pouvait valoir, on dirait que Pasolini est post-kantien […] tandis que Metz et ses disciples restent kantiens« (ebd., S. 42-43, Anm. 8). 42 Für den Roman gilt der discours indirect libre gemeinhin als eine Grundlage der so genannten ›personalen Perspektive‹, die z.B. für Auerbach das Gerüst der realistischen Mimesis Flauberts darstellt. Vgl. Erich Auerbach: Mimesis, Bern, München: Francke 1977. Pasolini vergleicht den discours 251
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drücke sich der Konflikt aus. Der Film ist, so Pasolini, eigentlich stets subjektiv, er kann eigentlich nur in der ersten Person sprechen. Wie in der erlebten Rede der Erzähler die dritte Person nicht aufgibt, jedoch seine Fokalisierung und seine Rede an die Figur anpasst, so ist die erste Person des Filmautors in der ›indirekten freien Subjektiven‹ nur indirekt frei, weil sie sich immer nur durch die Person oder die Rolle, die vor der Kamera und ihm gegenübersteht, ausdrücken kann. Die Spannung zwischen der Subjektivität und der vermittelnden Figur impliziert im Kino den Widerstreit zwischen dem Realen und dem Film, der aus dem Gedächtnis stammt. Die Dinge vor der Kamera sind somit nicht Ziel der Abbildung, sondern die Medien, durch die sich das persönliche Auge des Autors, des Filmemachers, die Welt ›anbildet‹43 – was bei Fellini onirische statt realistische Filme erzeugt. Die Dinge sind die Medien, durch die die Vision des Autors durchgeht und entsteht. Sie sind die Schwelle, die Passage des kinematographischen Bildes. Mit der soggettiva libera indiretta macht Pasolini diesen Widerstreit zum Prinzip des cinema di poesia, jenes poetischen Kinos des Realen, das er durch den Cinema Nuovo und die Nouvelle Vague verwirklicht sieht. Wie die Nouvelle Vague kritisiert zwar auch Pasolini den referenzillusionistischen Kinorealismus44, gegen den verschiedene Formen der mise en abyme und die Subjektivität des kinematographischen Diskurses durchaus unterstrichen werden. Die Vorstellung des limite concreto sensibile betont jedoch in der filmischen Vision die physische Expressivität der Dinge vor der Kamera, und damit eine Form von Mimesis. Die Mimesis kann indes nicht die Repräsentation der Realität bedeuten. Sie ist vielmehr eine Form der Anbildung der vorfilmischen Welt, und zwar im Sinne der benjaminschen Anbildung am Fragment45 und impliziert in letzter Konsequenz
indirect libre mit der soggettiva libera indiretta, wofür er Beispiele aus Il deserto rosso von Antonioni gibt. Vgl. Pier Paolo Pasolini: »Le cinéma de poésie«, in: Cahiers du Cinéma 171 (1965), S. 55-65, hier S. 59f. 43 Der Widerstreit sei besonders in Il Vangelo secondo Matteo wirksam. Dort sei die Spannung zwischen einem inneren Prinzip des Nicht-Glaubens und der vermittelnden Person, nämlich Matthäus, am stärksten. 44 Die Distanz zum referenzillusionistischen Kino wird markiert durch verschiedene Formen der mise en abyme, wie z.B. autobiographische Anspielungen. Auch die Gewohnheit, sich selbst als Schauerspieler und Autor in Szene zu setzen, gehört dazu. 45 In seinem »Il sesso come metafora del potere« (Corriere della Sera, 25. März 1975; P. P. Pasolini: Per il cinema, Bd. II, hg. von Walter Siti und Franco Zabagli, Mailand: Mondadori 2001, S. 2063-2067), erklärt Pasolini seine Vorliebe für die Vergangenheit in der Trilogia als Gegenprinzip zur Evidenz der Gegenwart und als eine Form der Distanzierung von der realis252
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eben jenes Moment, bei dem Pasolini mit der These des Kinos als linguaggio scritto della realtà stets missverstanden wurde, nämlich das Moment des Todes, des Realen im Zeichen.46 Mit dem limite concreto sensibile meint Pasolini ein Außen, das nicht Realität ist, sondern das Reale als die Grenze des realistischen Diskurses. Daher sucht Pasolini die Isolierung der Gegenstände und die Arretierung des symbolischen und narrativen Flusses des Films, daher ahmt er im kinematographischen Bild das Gemälde nach.47 Die Vision vollzieht sich dabei als Passage »d’un tischen Mimesis, A. Ferrero: Il cinema di Pier Paolo Pasolini, S. 129: »Ho evocato nella Trilogia i fantasmi dei personaggi dei miei film realistici precedenti. Senza più denuncia, ma con amore violento per il tempo perduto da essere una denuncia non di qualche particolare condizione umana ma di tutto il presente«. 46 Der Tod Pasolinis gilt als Verwirklichung einer Inszenierung, die das Zeichen (des Todes) an das Reale (und nicht an den Referenten) angleicht. Besonders Zigaina hat diese Interpretation von Pasolinis Tod im Verhältnis zu seiner Zeichentheorie vertieft. Vgl. G. Zigaina: Pasolini e l’abiura. Zigaina unterscheidet strikt ›Mimesis‹ und ›Diegese‹. Nur Letzteres betrifft den Bereich der Repräsentation; Erstere gehört zum Außen der Repräsentation und ihrer Diskurse. Das von Zigaina angeführte Beispiel ist eben der inszenierte (reale) Tod Pasolinis, G. Zigaina: Pasolini e la morte, S. 51: »Ecco perchè Pasolini dice che ›la diegesi perde terreno rispetto alla mimesi‹ (imitazione perfetta della realtà) […] la morte di Pasolini, così come è avvenuta la notte tra il giorno dei Santi e quello dei Morti del 1975, è mimesis; se invece fosse stata colta con la macchina da presa da un improbabile e magari geniale cineamatore e proiettata sarebbe diegesis, ossia descrizione«. 47 Pasolini selbst hat diese These vertreten, die im Rahmen semiotischer Lesearten seiner kinematographischen Essays übersehen worden ist, Pier Paolo Pasolini: »Fine dell’avanguardia«, in: ders.: Empirismo eretico, S. 139: »Il ›senso‹ – dice Barthes – è una tale fatalità per l’uomo, che l’arte, in quanto libertà, sembra adoperarsi, soprattutto oggi, non a ›fare‹ del senso ma, al contrario, a ›sospenderlo‹; non a costruire dei sensi, ma a non riempirli ›esattamente‹«. Vgl. auch G. Zigaina: Pasolini e l’abiura, S. 241. Die Kehrseite der Arretierung ist die Montage, die Sinn produziert und ein gewaltsamer Akt ist. Auf metaphorischer Ebene ist die Montage das Medium des zeitlichen Vergehens, ein cut up, das vergleichbar mit dem Tod und dessen Sinngebung ist. Vgl. H. Finter: San Pier Paolo, S. 75. Sinngeben ist aber auch ein irreversibler Akt, der den Tod des Heterogenen am Kino bedeutet. An der Montage erklärt Pasolini den Unterschied zwischen Kino und Film deutlich, Pier Paolo Pasolini: »Osservazioni sul piano-sequenza«, in: ders.: Empirismo eretico, S. 244: »dal momento in cui interviene il montaggio, cioè quando si passa dal cinema al film (che sono due cose molto diverse, come la ›langue‹ è diversa dalla ›parole‹), succede che il 253
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monde de la mémoire et des rêves«48. Die Isolierung der Gegenstände und die Arretierung der symbolischen und narrativen Organisation der imsegni, wie im Gemälde, stellt die sensible Grenze, den limite concreto sensibile, wieder her. Der intermediale Widerstreit zwischen dem ›Flüssigen‹ des Films und dem durch die Arretierung, etwa durch den Rahmen des Gemäldes erzeugten Kino entspricht dem Prinzip, das Barthes im ›Photogramm‹ von Eisensteins Oktober gesehen hatte. Barthes entdeckte darin eine ›Einrahmung‹, welche die Sinn stiftende Metaphorik der Parallelmontage Eisensteins arretiere und die Expressivität des dritten Sinns, des sens obtus49 offenbare. Im sensus obtus äußert sich das, was Barthes grain de réel nennt. Der sensus obtus sei eine Art Schminke, eine Maske, die auf die Grenze des Sensiblen aufmerksam macht50 und das expressive Medium eines Realen ist, das nicht in der Repräsentation aufgeht.51 Dieser ›dritte Sinn‹ ist deswegen nicht mit dem Referenten gleichzusetzen. Vielmehr trägt er die Spur eines Außen der Repräsentation, jenseits des denotativen und symbolischen Moments der Bilder. Im Kino ist es die Arretierung des narrativen und realistischen Diskurses, das das Expressive im Sinne des grain de réel bewirkt. Eine solche Arretierung stellt sich mit der Großaufnahme ein, weil diese den Rahmen verstärkt. Mit Bezug auf Barthes’ grain de réel spricht Bonitzer bei der Großaufnahme von einem »régime physique, affectif, intense«, das »induit directement un régime pictographique de l’image de cinéma«52. Die in der Großaufnah-
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presente diventa passato […]: un passato che, per ragioni immanenti al mezzo cinematografico, e non per scelta estetica, ha sempre i modi del presente (è cioè un presente storico)«. P. P. Pasolini: Le cinéma de poésie, S. 59. Es handelt sich um einen »sens contraire à ce qui se présente tout naturellement à l’esprit«– so die theologische Bedeutung nach Paul Robert: Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, Paris: S.N.L. 1976, S. 1176. Mit »fard« meint Barthes jene Supplemente des (poetischen) Zeichens (im Sinne von écriture), die im Hinblick auf Sinnhierarchien überflüssige Details darstellen und die Expressivität des sensus obtus ermöglichen. Das Andere gilt hier sowohl im lacanianischen Sinne als auch im allgemeinen erkenntnistheoretischen Sinn, d.h. in Bezug auf die Alterität der Welt zum kognitiven oder wahrnehmenden Subjekt. Es geht um die (im Vorangehenden phänomenologisch gedeutete) Problematisierung der Transitivität des Realen in der Dialektik von Subjekt und Objekt. P. Bonitzer: Décadrages, S. 89. Nach Bonitzer unterbricht die Großaufnahme die syntagmatische und metonymische Kette, die »n’est plus le reflet ni la métonymie de la réalité (une partie du champ, un cadrage valant pour le tout)«, ebd., S. 90. Das plan-tableau und die Großaufnahme kom254
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me bestehende Isolierung der Dinge von ihren syntagmatischen und metonymischen Beziehungen verleiht dem Bild einen hohen Grad an physischer Expressivität und produziert eine Sinnambivalenz53, die beispielsweise bei der Nahaufnahme des Gesichts von Silvana Mangano als Mutter Gottes im tableau vivant des Jüngsten Gerichts beobachtet werden konnte. Die stark affektive Ladung der Großaufnahme zwischen Verführung und Schrecken hat eine ›physische‹ Dimension, die zugleich auf die Grenze der Repräsentierbarkeit der Welt hindeutet.
Giottos Vision i n d e n m o d e r n e n A u g e n P as o l i n i s Pasolini blickt auf das Trecento mit den modernen Augen eines nicht nur nachbürgerlichen, sondern 1970 nunmehr auch postkommunistischen Menschen. Die Betonung von Elementen des späten Mittelalters erfüllt keineswegs mehr den Mythos spätmittelalterlicher Lachkultur, die in früheren Filmen die Sakralisierung des Volks als Vertreter des Proletariats beanspruchte. Das schmerzhafte Lachen des nach dem Verlust aller Ideale und historischer Utopien gefallenen Engels markiert vielmehr auch die trecentesken Bilder. In einer modernen (Konsum- und Medien-) Gesellschaft, welche vom pornographischen Sadismus in Salò angeklagt wird, ist auch die Utopie der Erotik als letzte Form der Transgression verloren. Die Transposition von Giotto als Rahmenerzähler und Maler sowie seiner Vision des Jüngsten Gerichts in der Form eines tableau vivant bietet sich für Pasolini als die einzige Möglichkeit zur Wiederfindung des Heiligen an, und zwar im batailleschen Sinne. Mit dem Vor-Bild der eschatologischen Vision Giottos kommt Pasolini zu einer medialen Vision, die den visionären Traum des spätmittelalterlichen Künstlers für das moderne Auge erfahrbar macht. Die Übertretung, die die Schwelle zum Heiligen eröffnet, ist nicht mehr referenziell – denn in den 1970er Jahren ist die Liberalisierung der Tabus am bürgerlichen System der Macht beteimen deswegen dem grain de réel näher, weil sie gegen die Narrativität der Bewegung und die dadurch erzeugte realistische Mimesis operieren. Vgl. ebd., S. 91. 53 Diese ästhetische Seite der Großaufnahme wurde auch von Pierre Kast beobachtet und ganz im Sinne von Barthes’ grain de réel im Zusammenhang mit Buñuels so genanntem Dokumentarfilm Las Hurdes beschrieben. Vgl. Vittoria Borsò: »Luis Buñuel: Film, Intermedialität und Moderne«, in: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.), Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt: WGB 1994, S. 159-179 (im vorliegenden Band S. 208231). 255
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ligt. Vielmehr verwirklicht der Medienkonflikt die Übertretung in der intermedialen Sprache des Kinos.54 Mit dem Konflikt zwischen den Sprachen der Medien, nämlich Malerei und Film, Literatur und Theater, übersetzt Pasolini den neuen Humanismus Giottos in die einzige Form des Humanen in einer modernen Welt: als Transgressionsgeste, die zum Verlust der im sicheren Territorium des Humanen festgelegten Identität des Menschen führt.55 Ein Schlusswort zu den Vorbildern. Gerade die ›mimetische Intensität‹ von Pasolinis ›Ein-Bildungen‹ zeigt, wie sehr das Kino Pasolinis ›modern‹ ist. Seine Filme sind keine Metafilme, keine Bilderfabriken, für die es keine ›Außenwelt‹ mehr gibt. Seine Bilder treten noch nicht an die Stelle der Realität.56 Wenn sich Pasolini auch in seinem letzten Lyrikband Divina Mimesis (1975) von der Sprache zurückzieht, die er als unzulänglich ansieht, um sich der – wie Pasolini meint – unmittelbaren Aussagekraft des Bildes anzuvertrauen57, so ist die Mimesis, die durch das Bild erreicht ist, nur noch ein nostalgischer Widerschein der unwiederbringlich verlorenen Unschuld (so auch in Abiura58). Pasolinis Il Decameron stellt die Frage nach dem Bild zu einem Zeitpunkt der Geschichte visueller Bilder, die noch vor den Audiovisionen (Zielinski) und vor den Inmaterialien bestanden hat. Die Wiederkehr des Heiligen am Ende dieses Jahrhunderts mag als Übertretung der réimmanentisation anthropologique59 der Immaterialien verstanden werden, eine Übertre54 In seiner Einleitung zu Batailles »Transgression« betont Foucault die metasprachliche Dimension der Übertretung in einer von der Idee Gottes emanzipierten Welt, in der die Transgression zum Machtdiskurs geworden ist. Vgl. M. Foucault: Préface à la transgression. 55 Vgl. Pier Paolo Pasolini: Trasumanar e organizzar, Mailand: Garzanti 1971. 56 Dies trifft dagegen für Godard zu, wie Paech es für Passion gezeigt hat. Vgl. J. Paech: Passion oder die Einbildungen, S. 64. 57 Vgl. Peter Kuon: Lo mio maestro e’l mio autore. Die produktive Rezeption der »Divina Commedia« in der Erzählliteratur der Moderne, Frankfurt/Main: Klostermann 1993, S. 332f. 58 Zu dieser Interpretation der angeblichen Ablehnung seiner Trilogia della vita vgl. auch Gianni Vattimo: »Pasolini. Fu vera gloria?«, in: L’Espresso (22.10.1995), S. 22-24. 59 Zusammen mit Vattimo gab Derrida einen Band über das 1994 erfolgte Symposium zum Thema Religion heraus, die Vattimo in seinem Vorwort »l’esprit du temps« nennt, Jacques Derrida/Gianni Vattimo (Hg.): La religion, Paris: Seuil 1996, S. 7. Derrida deutet die Rückkehr der Religion als Gegenreaktion auf die Wiederkehr des Positivismus hinter der Maske einer pragmatischen Anthropologie und der Affirmation des Medienfunktionalismus, ebd., S. 57. Die Wiederkehr der Religion ist begünstigt durch das 256
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tung, die die Grenzen zum Anderen, zum Realen in die spektrale Welt der Medien – als Transgressionsprinzip – wieder eintreten lässt.60
L i t e r at u r Auerbach, Erich: Mimesis, Bern, München: Francke 1977. Barthes, Roland: »Le troisième sens«, in: Cahiers du Cinéma 222 (1970), S. 12-19. Ders.: La chambre claire, Paris: Gallimard/Seuil/Cahiers du Cinéma 1980. Basile, Giuseppe: Giotto. La Cappella degli Scrovegni, Mailand: Electa 1992. Bataille, Georges: Somme athéologique, Bd. I-II, Paris: Gallimard 1961. Ders.: L’érotisme, Paris: Minuit 1957. Ders.: L’expérience intérieure, Paris: Gallimard 1943. double bind der Religion selbst: erstens den Wunsch nach einer Religion, die gegenüber »l’autre, l’avenir, la mort, la liberté, la venue ou l’amour de l’autre«, ebd., S. 69, offen ist und zum anderen »la machine théologique, la machine à faire des dieux«, ebd. Derrida scheint das Opfer des Funktionalismus der Religion zu verlangen (vgl. ebd.), damit Ersteres, der Wunsch, wieder erfahrbar wird – eine auch Pasolini nahe These Batailles. 60 In Bezug auf die Gefahr eines Derealisierungs- und Mediendespotismus lassen mehrere an der Postmoderne selbst beteiligte Stimmen kritische Akzente erkennen. Sorge wird gegenüber dem ›Realfunktionalismus‹ der durch die Medien implementierten Totalität eines globalen, ›pluralistischen‹ Wissens zum Ausdruck gebracht, das das produktive Moment moderner Kulturen zerstört: die Alterität als vernunftkritisches Negativitätsund Transgressionsmoment. Dieses Moment ist im Begriff, in der Globalität vernetzter Welten zu verschwinden. Die Formen dezentrierter Sozialität verschleiern die Normalisierung des Anderen. Ähnlich warnende Töne sind – ganz im Sinne des von Vattimo so bezeichneten esprit de nos jours – aus unterschiedlichen Lagern so genannter postmoderner Denker zu vernehmen: Am Ende von Figures de l’altérité lädt beispielsweise Baudrillard zum Schutz der Fremdheit des Anderen gegen so genannte ›pluralistische Episteme‹ ein. Vgl. Jean Baudrillard/Marc Guillaume (Hg.): Figures de l’altérité, Paris: Descartes 1994, S. 174. Aber schon 1993 bezieht sich Lyotard in Moralités postmodernes explizit auf die Notwendigkeit der Wiederherstellung der Idee der sensiblen Welt als Negativitätsprinzip gegen die Immaterialien, die mit der Elision der Welt einen Akt ›ästhetischer Chirurgie‹ der Alterität durchgeführt und bewirkt haben, dass sich das Identische mit sich selbst wiederversöhnt. Vgl. Jean-François Lyotard: Moralités postmodernes, Paris: Galilée 1993, S. 200ff. 257
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MEDIENKULTUR: MEDIENTHEORETISCHE ANMERKUNGEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE DER ALTERITÄT* Der Zusammenhang von Massenmedien, Alterität und Gattungen bringt eine interessante Perspektive im Hinblick auf das Medium hervor, nämlich die Problematisierung des Mediums in seinem Bezug auf die Alterität. Welche Funktion hat das Medium für das Erscheinen von Alterität? Welcher Status kommt der Alterität für die Funktion des Mediums zu? Es geht hier also nicht darum, wie Alterität durch Massenmedien dargestellt wird, sondern um die Bestimmung des epistemologischen Ortes, an dem ihr wechselseitiger Bezug fruchtbar wird. Derartige Fragen werden ausgehend von den in der Moderne durch die technologischen Medien und Massenmedien herbeigeführten Veränderungen zu behandeln sein. Der Begriff des ›Mediums‹ wird heute in der Kommunikationswissenschaft auf die apparativen Speicher bezogen, die die soziale Kommunikation bestimmen. Auch die Kulturwissenschaft hat die Medien in ihrer technischen Verfasstheit thematisiert und zum Ausgangspunkt für die historische und systematische Revision von Kultur gemacht. Maßgeblich waren hier die bahnbrechenden Arbeiten von Friedrich Kittler. Der Vorteil von Kittlers Position ist die Konstruktion einer historischen Erinnerung unabhängig von der Kohärenz der Mythen des Humanismus und den großen Erzählungen des Abendlandes in der alphabetisierten Gesellschaft. Dies war eines der Ziele von Kittlers archäologischer Vorgehensweise. Medien gelten dabei nicht als externe Mechanismen der Speicherung und der Informationsvermittlung, sondern als Dispositive, d.h. als Aggregate von Regeln und Determinanten, die nicht nur das Umfeld einer bestehenden Botschaft sind, sondern diese bestimmen und Macht auf die damit befassten Institutionen ausüben. Kulturelle Artefakte werden daher nicht im Sinne transparenter Bilder oder als Dokumente sozialer Phänomene verstanden. Sie sind vielmehr vom Medium konstituiert und informieren deshalb über das Medium selbst als historisches Apriori *
Erstmals erschienen in: Markus Klaus Schäffauer/Joachim Michael (Hg.), Massenmedien und Alterität. Frankfurt/Main: Vervuert 2004, S. 36-65. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. 261
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sozialer Phänomene. Mit dem Apriori der Medien als technologische Determinanten kultureller Artefakte lassen Kittler und die medienmaterialistischen Theoretiker die stillschweigenden humanistischen Vorannahmen von Kommunikationstheorien hinter sich. So ist zum Beispiel zu verstehen, dass Kittler die linguistischen Kommunikationsmodelle von Bühler bis Jakobson durch das mathematische Modell von Shannon ersetzt. Mit den technologischen Aprioris kommt man zur Beobachtung kultureller Artefakte als emergente Ereignisse. Denn Artefakte sind nicht als diskrete1 Entitäten vorgegeben. Sie werden vielmehr erst dann zum differenziellen Zeichen, wenn sie durch das Medium vermittelt werden, in dem sich symbolische Formen konkretisieren. Bei diesen Ansätzen gilt das Medium nicht als externer Speicher eines sich außerhalb – gesellschaftlich oder individuell – konstituierenden Sinns. Das Medium ist also nicht der Träger einer ihm externen Ontologie der Gesellschaft. Es ist vielmehr die phänomenologische Ermöglichungsbedingung von Sinn und von einer erst im Medium emergenten Botschaft. Damit impliziert eine medienmaterialistische Position auch eine grundlegende phänomenologische Fragestellung, die das Medium als Vermittlungsinstanz erfasst. Gilt mit Hegel die Vermittlung im Sinne der Synthese zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein, so zeigt die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts insbesondere mit Maurice Merleau-Ponty, dass die Vermittlung nicht ohne die Differenz zwischen Sprache, Subjekt und Welt denkbar ist. So ist auch für Merleau-Ponty der Körper ein Medium, das mit der Differenz zwischen Innen und Außen konfrontiert und diese zugleich als Schwelle überwindet. Die Analyse des Auges als Dispositiv durch Maurice Merleau-Ponty, Michel Foucault und Jacques Lacan steht in diesem Zusammenhang und offenbart, wie zentral die Frage der Alterität für die Funktionsbestimmung der Medien ist.2 Selbstverständlich vermittelt die
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›Diskret‹ wird hier im mathematischen Sinne verwendet. Hier meint ›diskret‹ jene Zahlenwerte, die durch endliche Intervalle voneinander getrennt sind. Für die phänomenologische Problematisierung der Visualität ist die Philosophie von Maurice Merleau-Ponty grundlegend (vgl. ders.: Le visible et l’invisible, Paris: Gallimard 1964), auf die die dekonstruktivistische Arbeit an der Wahrnehmung seitens des Nouveau Roman zurückgeht, wie auch die Unterscheidung zwischen »Auge« und »Blick« durch Jacques Lacan (vgl. ders.:»Die Spaltung von Auge und Blick«, in: Das Seminar von Jacques Lacan, Bd. XI, Olten: Walter 1980, S. 73-126) oder die Unterscheidung zwischen studium und punctum in Roland Barthes: La chambre claire, Paris: Seuil 1980. Zu nennen wären auch die Entgrenzung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt seitens der französischen Philosophie von Gilles Deleuze, die Dekonstruktion der Gleichsetzung von Vernunft 262
MEDIENKULTUR: MEDIENTHEORETISCHE ANMERKUNGEN
Einsicht in die phänomenale Medialität des Körpers keine instrumentelle und methodische Perspektive auf die Medien, wie Marshall McLuhans weit gefasster Medienbegriff dagegen suggeriert hatte. Eine Medienanalyse muss verschiedene technologische Bedingungen medienmaterialistisch voneinander unterscheiden. Doch ist der Grundsatz bedeutsam, dass das Medium die Ermöglichungsbedingung für die Entstehung von Sinn und Erkenntnis ist. Folgt man diesem Grundsatz, so erkennt man in der Botschaft auch die Vermittlungsfunktion des Mediums und die Beziehung des Sinns zu seiner Differenz. Die Konstellationen von Subjektivität, Identität und Alterität sind also vom Medium ihrer Konkretisierung abhängig. Versuchen wir die anfangs gestellten Fragen nach den Erscheinungsbedingungen von Alterität im Medium und nach dem Status der Alterität für das Medium zu präzisieren. Wie Foucault, der erst vom Ort der ausgeschlossenen Differenz die Ausschlusspraktiken der Macht beobachten konnte, so gilt auch das Interesse von Kittlers materialistischer Medienarchäologie den Konfigurationen der apparativen Dispositive und der Offenlegung der Performanzen der Macht. Wie für Foucault ist auch für Kittler die Alterität kein Untersuchungsgegenstand. Tatsächlich kann Alterität im Sinne von Differenz kein direkter Gegenstand der Erkenntnis sein. Sobald »Alterität« zum epistemischen Objekt wird, wie Emmanuel Levinas eindringlich gezeigt hat3, wird ihre Andersheit, ihre Differenz4, zerstört; sie wird auf das System der Identität reduziert. Spuren der Dif-
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und Sichtbarkeit durch Derrida, die Aufdeckung der Allianz von Sichtbarkeit und Macht bei Foucault und die Interpretation derselben im Sinne der phallo-oculo-zentristischen Grundlagen der abendländischen Philosophie durch Luce Irigaray, um nur einige zu erwähnen. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, München: Alber 1987. Zur terminologischen Klärung: Ich unterscheide im Folgenden zwischen Alterität und Differenz. Den Begriff der ›Differenz‹ benutze ich im Sinne von différance, d.h. im Sinne eines unabschließbaren Prozesses des Differierens (vgl. Jacques Derrida: L’écriture et la différence, Paris: Seuil 1967), während mit ›Alterität‹ der Fall gemeint ist, in dem die Differenz bei der binomischen Distinktion von Identität und Alterität zum Stillstand kommt. Die Alterität wäre dabei eine Projektion des Anderen vom System des Eigenen aus. Im Sinne von Emmanuel Levinas und Bernhard Waldenfels besteht auch zwischen dem Anderem und dem Fremden ein Unterschied; ersteres ist enthalten im kognitiven System des Eigenen, letzteres ist eine Andersheit, die den Horizont des Verstehens überschreitet. Vgl. E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Vgl. auch Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. 263
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ferenz werden nur indirekt zugänglich. Es bedarf einer phänomenologischen Problematisierung, die nach der Funktion des Mediums für die Wahrnehmung der Differenz fragt. Diese Frage betrifft also das Gebiet der Aisthesis im ursprünglichen Sinne, sie ist eine ästhetische Frage.5 So muss man, fragt man nach dem Verhältnis von Alterität und Medien, das medienmaterialistische Paradigma, das die Kulturwissenschaft als ernstzunehmende Alternative zur empirischen Kommunikationswissenschaft vorschlägt, um die Dimension des Ästhetischen ergänzen. Bei meiner Fragestellung betone ich deshalb eine Akzentverschiebung in Bezug auf die ästhetische Dimension der medialen Vermittlung. Diese Ergänzung dürfte in der kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft auch ein Desiderat und eine Chance darstellen. Medienästhetik meint folgerichtig nicht ein Repertoire normativer und elitärer Formen des Mediengebrauchs. Vielmehr geht es um die Medienformen und um jene technologischen Bedingungen und Funktionen, durch die eine mediale Botschaft, ein mediales Bild generiert und wahrgenommen werden, sowie um ihre historischen Transformationen. Nehmen wir eine im phänomenologischen Sinne ästhetische Perspektive an, so können wir die oben erwähnten zwei Paradigmen der medienwissenschaftlichen Untersuchung, das empirische und das ästhetische, als zwei sich wechselseitig ergänzende Seiten einer Medaille verstehen. Von der Ambivalenz des Mediums zeugt auch die sich mit der Moderne entwickelnde Kontroverse: Hier herrscht einerseits Vertrauen in das Modernisierungspotenzial und in die empirische Evidenz der durch technische Apparate vermittelten Bilder des Realen, also Vertrauen in die Präsenz des Sinns im medialen Bild; andererseits findet sich aber auch ein Krisendiskurs über die Massenmedien, und zwar im Sinne des Authentizitäts- und Sinnverlusts. Das Misstrauen Adornos hinsichtlich des Ästhetikverlustes durch die Massenmedien wurde gerade durch die Festlegung eines mimetisch verbürgten, transzendentalen Sinns des fotographischen Bildes geschürt. Das ästhetische Problem der Massenmedien bleibt ungelöst, solange die Ästhetik als Sonderfall der Kommunikation und nicht als Grundbedingung der Wahrnehmung in Verbindung mit dem Medium der Vermittlung gilt. Letzteres scheint mir die Position zu sein, die auch heute relevant ist. Denn die Realität ist, wie die bahnbrechende These von Walter Benjamin hinsichtlich der Massenmedien gezeigt hat, mit dem Aufkommen der technologischen Medien auch und vor allem eine Realität des Mediums und nicht der Referenz.
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Mit Bezug auf Husserl, Plessner und Merleau-Ponty spricht Waldenfels von ›Ästhesiologie‹. Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 57. 264
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Die Ambivalenz des Massenmediums zwischen Empirie und Ästhetik hat Walter Benjamin mit seiner Analyse der Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes in eine produktive Paradoxie aufgelöst. Diese Ambivalenz bedarf einer doppelten Perspektive auf die Medien als Konstitutionsbedingungen empirischer Fakten und – nur scheinbar paradoxerweise – als Ermöglichungsbedingung ästhetischer Formen. Ästhetische Medienformen, zu denen seit Benjamin die Massenmedien gehören, geben Auskunft über die Gesellschaft und die Welt, in der wir leben. Aus den technologischen Massenmedien schöpft die Kunst die Möglichkeit des emanzipatorischen Umgangs mit der sozialen Wirklichkeit; dies hat Walter Benjamin am emblematischen Beispiel von Charlie Chaplin gezeigt.6 Denn Massenmedien ermöglichen es, die gewohnten Einstellungen zu ›entgrenzen‹ und neue Formen der Wahrnehmung einzuleiten. In dieser These liegt die Chance einer auf Benjamins Verständnis von Massenmedien zurückgehenden Medienästhetik. In der aktuellen Diskussion hat sich der ambivalente Status des Mediums in unterschiedliche theoretische und methodologische Positionen aufgelöst. Auf der einen Seite ist die auf empirischen Grundlagen der Sozialwissenschaft gründende Kommunikationswissenschaft zu nennen, die die Evidenz der technologisch vermittelten Information voraussetzt und sich um die Bedingungen der Verbreitung kümmert oder – mit einer pragmatischen Wende – die Wirkung des Mediums als Wirklichkeit konstituierend reflektiert, die mediale ›Wirklichkeit‹ als starken Begriff konzipiert und die Dignität des Faktums durch die pragmatische Wirksamkeit begründet, ohne deren Vermittlung zu problematisieren.7 Operativer Konstruktivismus bzw. Pragmatismus und die empirische bzw. mathematisch-informatische Kommunikationstheorie bewegen sich dabei in einem – nicht notwendigerweise reflektierten – einseitig abgesteckten Aufgabenbereich. Auf der anderen Seite geht es um eine kulturwissen6
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Vgl. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978, S. 471-508, hier S. 496. Mike Sandbothe favorisiert z.B. einen historisch-kontingenten, mit soziopolitischen Voraussetzungen arbeitenden Pragmatismus als alternatives Paradigma zu einem auf ganzheitliche Wirklichkeitserkenntnis ausgerichteten Theoretizismus, zu dem nach Meinung des Autors die Medienphilosophie von Sybille Krämer gehört. Vgl. Mike Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001, S. 145. Die Frage der Differenz wird in dem von Sandbothe favorisierten Pragmatismus kommunikationstheoretischer und konstruktivistischer Prägung nicht berücksichtigt. 265
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schaftliche Analyse der differenziellen und konstitutiven Funktion der Medien, insbesondere in der archäologischen Dimension, die Kittler eingeleitet hat. Auf die Notwendigkeit einer ästhetischen Akzentuierung medienmaterialistischer Perspektiven habe ich hingewiesen. Ich möchte im Folgenden nach dem Status der Alterität in beiden Ansätzen zur Medienanalyse fragen. Das Massenmedium steht im Zusammenhang mit der Konfiguration der Moderne8, deren Signatur die Veränderung in der Erfahrung und Konzeption der Zeit ist. Der schockartige Bruch mit der Vergangenheit leitet u.a. die Erfahrung der Alterität ein, wie Walter Benjamin in seiner Interpretation von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu und der Fotographie postuliert.9 Das erinnernde Ich kann nicht vollständig über seine Vergangenheit verfügen, so dass die ›Moderne‹ auch einen Krisendiskurs der Gegenwart bedeutet.10 Wie bei der mémoire involontaire als der unwillkürlichen Reminiszenz die Alterität in das Subjekt einbricht, so ist die Gegenwart schon durch die Reproduzierbarkeit instabil geworden. Sie kann nur als Bezüglichkeit der Zeiten erfasst werden. Deshalb macht das durch technologische Reproduzierbarkeit charakterisierte Medium im Zeitfluss auch die Differenz zwischen den Zeitstellen sichtbar. Dies ist eine der Hauptthesen in der Analyse der Fotographie von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer.
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Es besteht – etwa bei Habermas und Beck – ein Konsens darüber, dass ›Moderne‹ in diesem Zusammenhang die durch die technologischen Medien wie die Fotographie und weitere Aufzeichnungsapparate veränderten kontextuellen Bedingungen und damit eine Konfiguration meint, die im 19. Jahrhundert einsetzt. Ein solcher Begriff von Moderne impliziert die ›Postmoderne‹ als (vorläufig) letzte Modernisierung der Semantik der Moderne. 9 Als Leser von Baudelaire und Proust betont Walter Benjamin die unaufholbare Differenz der Vergangenheit und kritisiert Henri Bergson, weil er mit dem vitalistischen Konzept der Intuition die Zeitigung des Erinnerns getilgt habe. Vgl. Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2 (1978), S. 605–653, hier S. 643. Vgl. auch Ursula Link-Heer: Prousts ›À la recherche du temps perdu‹ und die Form der Autobiographie, Amsterdam: Grüner 1988. 10 Der Krisendiskurs der Moderne ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass das Erzählen das Kainsmal der différance (Derrida) in sich trägt, so auch anhand der Rezeption der einflussreichen Medienkritik Benjamins bei Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien, New York: Springer 2002, S. 22. 266
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1 . D e r › an d e r e ‹ B l i c k d e r M a s s e n m e d i e n : D i e Ä s t he ti k d e s M a t e r i al s b e i W al t e r B e n j a m i n u n d S i e g f r i e d K r a c a u e r Im Essay zur technischen Reproduzierbarkeit, in Kleine Geschichte der Photographie und den Einträgen zur Fotographie aus dem PassagenWerk finden wir eine Theorie der Massenmedien, deren Relevanz bis heute andauert. Bei diesem intensiv kommentierten Essay werde ich besonders auf die Transformation des Blicks durch die Massenmedien und damit auf die kreativen Aspekte im Zusammenhang mit den Massenmedien eingehen: Die mediale Kunst transformiert den Blick, sie öffnet ihn für fremde Räume – so könnte das ›Neue‹ des Massenmediums charakterisiert werden, das uns hier interessiert. Denn der Blick wird apparatgerichtet, und dies bringt »völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein«, so Benjamin mit einem Zitat von Rudolf Arnheim.11 Im Paragraph zur Filmmontage geht Benjamin z.B. auf die Montage im weiteren Sinne ein: auf die kinematographische mise en scène, d.h. das technische Arrangement vor der Kamera, und die découpage, vor allem in Bezug auf Großaufnahme und Kamerabewegungen oder Zeitlupe.12 Benjamin betont die Andersheit des Blicks des Apparats. Statt bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein zu bringen, entdeckt der Blick der Kamera im Bekannten das gänzlich Unbekannte. Sowohl im Essay zur Reproduzierbarkeit wie auch in Kleine Geschichte der Photographie13 weist Benjamin auf das fotographische Bild oder auf die kinematographische Großaufnahme wie auf einen menschenleeren ›Tatort‹ hin, mit dem z.B. die Fotographie von Atget oft verglichen wird. Am Tatort befindet sich die Tat nur als Indiz, kann aber nicht in die Präsenz der Bildfläche geholt werden.14 So ist die Fotographie keine Botschaft, sondern die Zeugenschaft von etwas, das nicht im Bildraum repräsentiert werden kann. Dies hat mit ihrer Zeitkonstellation und mit dem Schock im Betrachter zu tun. Der »neue Blick« der Apparaturen15 löst das Bild aus seinem Zusammenhang in der Ordnung der Dinge.16 Deshalb wird die Fotographie mit 11 Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 500. 12 Vgl. ebd., S. 498f. 13 Vgl. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1 (1977), S. 368-385. 14 Vgl. ebd., S. 385. Die Fotographie bedürfe einer Beschriftung, will der Fotograph, den Benjamin mit einem Auguren vergleicht, verstanden werden. 15 Vgl. ebd., S. 379f. 16 Dies betont eine Reihe von Autoren im Zusammenhang mit der Großaufnahme und der Fotographie, von Pierre Kast zu Pascal Bonitzer über Roland Barthes und Gilles Deleuze. Vgl. Vittoria Borsò: »Gedächtnis und 267
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den Ruinen verglichen, die von der historischen Kontinuität losgelöst sind. Sie müssen allegorisch und autoreflexiv gelesen werden, wie Benjamin im Text zum Trauerspiel zeigt.17 Die Zeugenschaft der Fotographie ist die Zeugenschaft einer Differenz, die nicht repräsentierbar, aber im Material eingeschrieben ist. Die Differenz gerinnt nicht zum Abbild der Alterität als Gegenbegriff von Identität; sie wird vom Medium selbst bezeugt und bleibt auf der Repräsentations- und Bildfläche abwesend. Die Zeugenschaft der Fotographie ist die Zeugenschaft des Mediums.18 Wichtig für unsere Überlegungen erscheint mir die These der Veränderung der Wirklichkeit durch den apparatgerichteten Blick. Denn genau dieser ›neue‹ Blick bringt nicht allein das Unbekannte, sondern insbesondere die revolutionäre Chance des Neuen, des Anderen hervor.19 Benjamin betont anhand des Zitats von Arnheim, dass mit dem apparatgerichteten Blick völlig neue »Strukturbildungen der Materie« zum Vorschein kommen. Dabei ist die materialistische Komponente der Äußerung ernst zu nehmen. Denn es geht nicht um Schöpfungen durch das menschliche Auge oder die menschliche Fantasie im romantischen Sinne. Medialität: Die Herausforderung der Alterität«, in: dies./Gerd Krumeich/Bernd Witte (Hg.), Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen, Stuttgart: Metzler 2001, S. 23-53. 17 Vgl. Walter Benjamin: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.1 (1977), S. 203-435. 18 Dies ist wichtig für die Gedächtnistheorie Walter Benjamins, die nicht die Kontinuität des Gedächtnisses, sondern gerade die Risse, Sprünge und Leerstellen als Zeugen der Differenz des Vergangenen betont. Vgl. V. Borsò: Gedächtnis und Medialität. 19 Auch im Zusammenhang mit dem Kino sieht Benjamin die Bedeutung der technischen Apparaturen darin, dass das durch die Kamera Zerstückelte nach neuen Gesetzen zusammengefügt werden muss. Dieses Prinzip ist im Kino Buñuels und in seinen Essays zur découpage zentral. Vgl. Vittoria Borsò: »Luis Buñuel: Film, Intermedialität und Moderne«, in: Ursula LinkHeer/Volker Roloff (Hg.), Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt: WBG 1994, S. 159-179 (im vorliegenen Band S. 209-231). Bei einem Vergleich zwischen dem Blick des Malers und des Kameramanns betont Benjamin erneut diesen Befund: Der Maler habe einen Blick auf die Totale, der Kameramann auf ein vielfältig Zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetz zusammenfinden. Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 496. Die moderne Malerei (Kubismus, Futurismus, Surrealismus) erprobt ebendies. Benjamin kritisiert zu Recht auch die unsinnige Debatte über das Primat zwischen Malerei und Fotographie bzw. Film. Allerdings rechnet er der klassischen Kunst, die die »Totale« anstrebt, eine geringere zukünftige Chance zu. 268
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Vielmehr handelt es sich um das in der Materialität der Bildfläche vom menschlichen Auge autonom erscheinende Reale, und zwar als topologische Differenz von der Konstellation der Identität. Die phänomenologische Reduktion der gewöhnlichen Blickeinstellung wird durch den Schock erzeugt, den der apparatgerichtete Blick im Betrachter verursacht, weil die Dinge ohne Kontext und getrennt von der Ordnung im gesellschaftlichen Diskurs erscheinen. Die strukturelle Veränderung des Materials bringt aber auch andere Räume im Material hervor, die mit dem fremden Blick der Kamera entstehen und den Betrachter irritieren, verletzen, ja ›punktieren‹, wie dies Roland Barthes in La chambre claire für das punctum gezeigt hat. Zu der revolutionären Kraft der Reproduzierbarkeit gehört deshalb der Prozess des Entwurfs ›anderer‹ Räume, und dieser Prozess ist ein wichtiger Aspekt der emanzipatorischen Funktion des Massenmediums.20 Denn neben den bekannten Argumenten zum Verlust des Originals und zur Autorität des Kunstwerks, geht es für Benjamin auch um den Verlust der Autorität des Dings an sich, d.h. einer empirisch verstandenen Gegenständlichkeit, ein Moment, auf das gleich zu Beginn des Essays hingewiesen wird.21 Ähnliches gilt für die Zeit: dem Reproduzierten kommt eine wichtigere Funktion zu als dem Original. Das Reproduzierte entgrenzt die Gegenwart, die zu einer Schwelle wird, aber auch die Vergangenheit, deren Gegenständlichkeit außerhalb der Bildfläche bleibt und nur als Spur enthalten ist.22 Auch hier sind für uns die mit dem Blick verbundenen Akzente interessant. Mit dem Massenmedium ändert sich die Wahrnehmungshaltung des Betrachters, der sich nicht mehr individuell vor einem Bild innerlich versammelt, sondern sich als Masse zerstreuen lässt, ein Moment, das schon die modernen
20 Mit ›anderen Räumen‹ beziehe ich mich durchaus auf Foucaults »Heterotopien«. Vgl. Michel Foucault: »Des espaces autres«, in: ders.: Dits et écrits, Bd. IV, hg. von Daniel Defert/François Ewald, Paris: Gallimard 1994, S. 752-775. Die bekanntere Linie der Argumentation Benjamins betrifft eben die emanzipatorische Wirkung des Verlusts der Aura und der autoritativen Tradition. 21 Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 476. 22 Dieser Aspekt gibt erhebliche Impulse für die Geschichtsschreibung. Denn während das Konzept des Originals eine statische und kontinuierliche Tradition annehmen lässt, fördert das Reproduzierte die Aktualisierung, d.h. die Anpassung an neue Kontexte, so dass die Überlieferung bereits auch Transformation bedeutet. Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 494. Zu den Impulsen Benjamins hinsichtlich der Theorie des Gedächtnisses vgl. Nicolas Pethes: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Dekonstruktion nach Walter Benjamin, Tübingen: Niemeyer 1999 sowie V. Borsò: Gedächtnis und Medialität. 269
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Museen, aber ganz besonders die Architektur – etwa die Passagen –, mit sich bringen. Benjamin betont z.B. die Haltung des Kinopublikums als »Examinator, doch ein Zerstreuter«23. ›Zerstreuung‹ ist hier durchaus im Sinne der Streuung der Sinneswahrnehmungen gemeint. Die mit dem Schock und den neuen Wahrnehmungsbedingungen für den Betrachter entstehenden Aufgaben seien »auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation«24 gar nicht zu lösen. Sie erfordern und fördern die taktile Rezeption. ›Zerstreuung‹ meint auch Dissemination, denn der Aufnahmeapparat und die Technologie des Films machen die Phänomenologie eines einzigen Standpunkts unmöglich.25 All diese Aspekte der Reproduzierbarkeit fördern im Massenmedium eine Ästhetik der Alterität, die in der Materialität des Bildes als Differenz erscheint. Dies steht gewiss im Zusammenhang mit dem Zeitbegriff, den Benjamin u.a. an der Schockerinnerung und am spektralen Bild der mémoire involontaire verdeutlicht. Die Gegenwart des erinnerten Bildes wie auch die Gegenwart der Fotographie ist eine Schwelle, ein Nichtmehr-und-noch-nicht-Gewesenes. Das Jetzt der Erinnerung und der Fotographie ist in der Wieder-Holung nur als Differenz zu erfahren. Sie ist die Anwesenheit der Abwesenheit, die Präsenz des Spektrums, ein Moment, auf dem auch Marcel Proust in Le temps retrouvé insistiert. Diesen Thesen kommt eine implizite Bildästhetik zu. Sie betont die Markierung der Differenzen in der Materialität und im Bildraum, etwa im Sinne kontextlos zusammengefügter Fragmente, die ihre eigene Zeitkonstellation in sich tragen. Das Medium gibt Zeugnis von der Differenz der Zeiten. Im Essay »Die Photographie« aus dem Passagen-Werk gibt Benjamin Beispiele für die Relevanz der Materialität des Mediums, denn durch die Montage wird die Differenz im Material hervorgehoben. Neben den zahlreichen Einsichten zum Vergleich von Malerei und Fotographie bzw. Film26 und neben den Hinweisen auf die Irritation des Mimesisprinzips durch die Reproduzierbarkeit der Fotographie, finden wir auch Beispiele der Selbstinszenierung der Materialität in Folge der Zeichenmontage. Wie an zahlreichen Stellen zitiert Benjamin unter dem Stichwort »Haussmannisierung« aus dem Buch der Soziologin Gisela Freund La photographie au point de vue sociologique, und zwar aus dem Paragraph »Die Säule: das Emblem der allgemeinen Bildung«: »Les accessoires caractéristiques d’un atelier photographique de 1865 sont la colonne, le rideau et le guéridon. Là se tient, appuyé, assis ou debout, le sujet à 23 24 25 26
W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 505. Ebd., S. 495. Vgl. ebd., S. 495. Vgl. ebd., S. 496. 270
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photographier, en pied, en demi-grandeur ou en buste. Le fond est élargi, conformément au rang social du modèle, par des accessoires élargis, symboliques et pittoresques.«27
Dieses Bild lässt sich nach den hier vorgestellten Paradigmen lesen: Im Sinne einer phatischen Funktion der Requisiten, die die Transparenz des Bildes, d.h. die Transzendentalität des Sinns im Bild annehmen lassen (vgl. weiter unten Abschnitt 3), oder im Sinne einer Materialität des Mediums, das die Differenz bezeugt (Abschnitt 5). Benjamin selbst wählt das Zitat so aus, dass auf beide Funktionen angespielt wird. Zunächst auf die Artifizialität der Requisiten, die Säule, den Vorhang und den Tisch, dessen Name »Guéridon« zugleich auf die Pose hinweist, handelt es sich doch bei »Guéridon« nicht nur um die Bezeichnung eines Fin-de-siècleTischs, sondern auch um einen Typus aus der Tradition der Farce.28 Es sind Versatzstücke, die aus dem Zusammenhang gerissen sind und als Reste im Raum stehen. Zugleich bezieht sich dieses Bild – man möchte meinen, in ironischer Weise – auf die phatische Funktion des Bildes und des symbolischen Sinns der Requisiten, eine Lektüre, die den Sinn als Mimesis einer sozialen Rolle versteht und die Korrespondenz als ›Natürlichkeit‹ ausgibt. Eine solche Deutung des Bildes wird möglich, wenn man die symbolische Funktion der Requisiten als Entsprechung zu einem Original (»conformément au rang social du modèle«, s.o.) zu lesen bereit ist. Diese Deutung übersieht den Fragmentcharakter der Requisiten, ihre Inszenierung auf der Bildfläche und favorisiert einen abstrakten, gesellschaftlichen und diskursiven Sinn. Die Montage der Zitate verstärkt den ironischen Charakter und die Artifizialität des Abbildes einer historischen Zeit, an der man unschwer den Historismus des Fin de siècle erkennt. Interessante Argumente finden sich auch in Siegfried Kracauers Essay zur Fotographie.29 In diesem werden das kommerzielle Foto einer Filmdiva und das über 60 Jahre alte Foto der damals jungen Großmutter verglichen. Ersteres ist das Bild der Zeit, die sich als ewige Gegenwart gibt, das zweite ist vielmehr ein Zeitbild, möchten wir mit Bezug auf die27 Manuskript von Gisela Freund, S. 116ff., zitiert in Walter Benjamin: »Das Passagen-Werk«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V.2 (1982), S. 6551063, hier S. 831 28 Auch als »Guélidon« zu finden. Der Begriff ist nach dem Petit Robert seit 1615 bekannt. Vgl. Le Nouveau Petit Robert, hg. von Josette Rey-Debove und Alain Rey, Paris: Le Robert 1993, S. 1056. 29 Siegfried Kracauer: »Die Photographie (1927)«. in: ders.: Aufsätze 19271931, hg. von Inka Mülder-Bach, Bd. V.2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 83-98. 271
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sen Begriff von Deleuze zusammenfassen. Kracauer betont bei dem auf ein Massenpublikum gerichteten Foto der Filmdiva die »lückenlose Erscheinung«, die schon in der Pose und in den »von der Kamera gewissenhaft aufgezählten Details« erkennbar wird, die »richtig im Raum« sitzen.30 Im Ornament des Massenbildes liegt auch das materielle Abbild des Dekors einer Zeit, die sich selbst als ewige Gegenwart ausgibt. Die von Kracauer betonte »Lückenlosigkeit« der Pose übernimmt die Funktion des Ritus, den auch Benjamin im Starkult des Kinos beobachtet. Das Argument beider Autoren ist analog: Der Ritus kompensiert den Verlust der Aura und ist ein Mittel der illusionären Vorstellung des Kinos, sich als »natürlich« zu geben, die Re-Produktion zu verdecken, damit aber auch dem Betrachter die Chancen zur Emanzipation von mimetischer Illusion zu nehmen.31 Anders, so Kracauer, verhält es sich mit der 60 Jahre alten Fotographie der Großmutter. Sie zeichnet sich gerade durch die Lücken aus, die trotz der Inszenierung des Dekors und der Pose aus der Kontextlosigkeit der Momentaufnahme im Verhältnis zu einer Biographie herrühren, über die das Bild nichts aussagt.32 Die Details im Hintergrund, insbesondere aber das Lächeln des Mädchens sind für den 60 Jahre später lebenden Betrachter stumm. Zwar lässt sich die Zeit der Entstehung erkennen, aber als »archäologisches Mannequin« und als ein »Augenblick der verflossenen Zeit«. So heißt es bei Kracauer: »Denn durch die Ornamentik des Kostüms hindurch, aus dem die Großmutter verschwunden ist, meinen sie einen Augenblick der verflossenen Zeit zu erblicken, der Zeit, die ohne Wiederkehr abläuft. Zwar ist die Zeit nicht mitphotographiert wie das Lächeln oder die Chignons, aber die Photographie selber, so dünkt ihnen, ist eine Darstellung der Zeit.«33
Der Zeitgebundenheit der Fotographie entspricht genau die der Mode, so Kracauer mit einer durch die Kursivschrift markierten direkten Anspielung auf Charles Baudelaire. Und genau den Bindestrich zwischen den Zeiten betont Kracauer in der Wieder-Holung der Fotographie, wenn er auf das Foto der Großmutter zurückkommt: »Die Photographie wird zum Gespenst, weil die Kostümpuppe gelebt hat.«34 Die Materialität dieses Satzes markiert die Differenz von zwei Zeiten in der Wahrnehmung des Bildes: In der Jetzt-Rezeption erscheint das Mädchen wie eine Kostümpuppe, die aber in der Zeit, die abgebildet wird, gelebt hat. Daher wird 30 31 32 33 34
Ebd., S. 83. Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 494. Vgl. S. Kracauer: Die Photographie, S. 90. Ebd., S. 84. Ebd., S. 91. 272
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die Fotographie zum Gespenst, was Roland Barthes – ohne, dass er sich in La chambre claire explizit auf Benjamin und Kracauer bezieht – ebenso deutlich betont. Diese Wahrnehmung entspricht der Erinnerung, die wir weiter oben im Zusammenhang mit der mémoire involontaire angesprochen haben. Anders verhält es sich dagegen mit dem Bild der Diva: »Das aus der Anschauung unserer gefeierten Diva geschöpfte Gedächtnisbild aber bricht durch die Wand der Ähnlichkeit in die Photographie herein und verleiht ihr so einige Transparenz.«35 Wie Benjamin betont auch Kracauer die archäologische Indizstruktur des fotographischen Bildes im Gegensatz zur ›natürlichen‹ Erscheinung des Kunstwerkes.36 Der Bildraum der Fotographie zeigt ein Nebeneinander verdinglichter Erscheinungen«37, die keine Deutung von sich aus suggerieren. Die Fotographie verstreue vielmehr die Elemente. Sie ist nicht Träger einer Deutung, wie dies das Kunstwerk noch ist, sondern die Bedeutung der Gegenstände entsteht aus der Raumerscheinung selbst. »Die Photographie bewahrt nicht die transparenten Züge eines Gegenstandes, sondern nimmt ihn von beliebigen Standorten als räumliches Kontinuum auf.«38 Der apparatgerichtete Blick des Massenmediums bringt potenziell die Möglichkeit mit sich, andere Räume als jene der Identität, der Sichtbarkeit in der Ordnung der Dinge, zu denken. Zu Recht ist durch Roland Barthes und seine Interpreten die Fotographie mit der écriture verglichen worden. Insofern das Medium der Schrift mit der Reproduzierbarkeit und Wiederholung definiert wird, ist tatsächlich die Fotographie die écriture, die mit der Technologie des fotographischen Bildes entsteht. Auch das Kino ist mit der Schrift verglichen worden, und zwar nicht nur im Sinne einer intermedialen Übertra-
35 Ebd., S. 90. Es entspricht vielmehr dem Gedächtnis, das wir mit Jan und Aleida Assmann als das »kulturelle Gedächtnis« bezeichnen können. Zur Kritik der Konzeption von Aleida Assmann hinsichtlich der geringeren Bedeutung der Differenz vgl. V. Borsò: Gedächtnis und Medialität. 36 Kracauer vergleicht die Anordnung der Dinge in der Fotographie mit der in der Schrift Kafkas: »In den Werken Franz Kafkas […] zerschlägt [das freigesetzte Bewußtsein] die natürliche Realität und verstellt die Bruchstücke gegeneinander. Die Unordnung des in der Photographie gespiegelten Abfalls kann nicht deutlicher klargestellt werden als durch die Aufhebung jeder gewohnten Beziehung zwischen den Naturelementen.« S. Kracauer: Die Photographie, S. 97. 37 Ebd., S. 88: »Denn in dem Kunstwerk wird die Bedeutung des Gegenstandes zur Raumerscheinung, während in der Photographie die Raumerscheinung eines Gegenstandes seine Bedeutung ist.« 38 Ebd., S. 89. 273
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gung der literarischen Autorschaft auf die Institution des Kinos39, sondern als Schrift der Zeitbilder. Das Zeitkontinuum ist also das Wesen des kinematographischen Mediums, das allerdings erst nach seiner Emanzipation vom Aktionsfilm zum Zeitbild findet.40 Benjamin und Kracauer sehen im apparatgerichteten Auge der Massenmedien die Phänomenologie ›anderer Räume‹, die durch die Differenz im Material zur Erscheinung treten. Wir werden im Folgenden die derzeitigen Paradigmen der Medienanalyse auf den Status der Differenz im Medienbegriff hin befragen sowie, angeregt von den Überlegungen zum Blick und zur ›anderen Topographie‹ der Massenmedien, die Topographien des Sichtbaren und das ihnen inhärente Verhältnis zur Alterität und Differenz analysieren. Von einer im Medium verorteten Differenz geht die einleuchtende Analyse der Sprach- und Medienphilosophie des 20. Jahrhunderts durch Sybille Krämer in Bezug auf das zweite von ihr vorgestellte Paradigma aus: Es handelt sich um jenes Paradigma, für das Medien sinnkonstitutiv sind, ein Paradigma also, das die Transzendentalität des Mediums und nicht die des Sinns (einer etwaigen medienexternen Wirklichkeit) postuliert, wie dagegen die so genannte »Zwei-Weltentheorie«. Zum ersten Paradigma gehören die Systemtheorie von Niklas Luhmann ebenso wie u.a. die Theorie der Differenz von Jacques Derrida und Jacques Lacan und die der Performanz von Judith Butler. Allen gemeinsam ist die Emergenz des Sinns im Medium. Deshalb geht Sybille Krämer für dieses Paradigma von der (auf Fritz Heider zurückgehenden) Unterscheidung von Form und Medium bei Luhmann aus. Das Medium ist nach Luhmann das unsichtbare, indifferenzielle Substrat, das erst durch die Begegnung mit der Form sichtbar wird, somit die emergente Form und auch
39 Vgl. die Interpretation des Postulats von Astruc durch Jochen Mecke: »Im Zeichen der Literatur: Literarische Transformation des Films«, in: ders./Volker Roloff (Hg.), Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 97-123. 40 Das Kino ist das Medium für die Darstellung der Zeit par excellence, so Gilles Deleuze. Vgl. ders.: L’image-temps, Paris: Minuit 1985. Aber auch schon Kracauer weist auf die von Rudolf Harms in seinem Buch Philosophie des Films zitierte Äußerung von Ewald André Dupont hin: »Das Wesen des Films ist bis zu einem gewissen Grade das Wesen der Zeit« (S. Kracauer: Die Photographie, S. 89). Kracauer selbst sieht die Fotographie als eine Funktion der fließenden Zeit, allerdings räumt er ein, dass sich die sachliche Funktion der Fotographie ändert, je nachdem ob sie dem Bereich der Gegenwart oder der Vergangenheit angehört (ebd.). 274
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ihre Kontingenz und Veränderlichkeit mitbestimmt.41 Luhmann geht von der Zeitlichkeit und damit von der Differenz aus, auch wenn die Differenz in seiner auf die soziale Kommunikation gerichteten Analyse keine dominante Rolle mehr spielt. Wir haben aber mit diesen zwei Paradigmen, bei denen Krämer die Frage der Alterität nicht ins Zentrum stellt, tatsächlich zwei verschiedene Konstellationen des Verhältnisses von Medium und Alterität bzw. Differenz, die ich im Folgenden näher betrachten möchte.
2 . D a s M e d i u m a l s e x t e r n e r S p e i c he r . I d e n ti t ä t u n d A l te r i tä t a l s d i a l e k ti sc he s P a a r Ich werde hier zunächst auf die Positionen eingehen, die der Differenz keine fundierende Funktion zuschreiben. Es handelt sich um die von Sybille Krämer genannten Zwei-Welten-Theorien. Für diese ist Sprache ein Regelwerk und ein Kompetenzsystem. Mit diesem Begriff ist jenes Zeichenverständnis gemeint, das auch für die Phänomenologie Edmund Husserls und den Strukturalismus Saussures zutrifft, demzufolge Sprachsysteme ein Regelwerk für die Repräsentation eines außersprachlichen Wissens sind. Für diese Theorien, die die Evidenz der Gegenwart des Sinns postulieren42, sind Medien bei der Sinnkonstitution unbedeutend; sie fungieren als Speicher im Sinne einer Plattform für die korrekte An-
41 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 190. 42 Obwohl er den Weg zum Differenzdenken sowie zur Thematisierung des Realen und seiner Darstellungsweisen aufzeigt, führt Husserl, so Waldenfels, Standort und Leibgebundenheit auf das Hier und Jetzt des Subjekts zurück. Vgl. B. Waldenfels: Topographie des Fremden, S. 55. Die Gegenwart wird absolut gesetzt und auf diese stützt sich die Transzendentalität des Sinns, wie Derrida kritisch ausführt. Vgl. J. Derrida: L’écriture et la différence. Husserls methodischer Zweifel gründet auf bestehenden Ordnungen und »natürlichen Einstellungen«. B. Waldenfels: Topographie des Fremden, S. 55. Die Alterität des Leibes kommt in der Gegenwart des kognitiven Subjekts zum Stillstand. Darauf geht das Zeitkonzept szientistischer Modelle zurück, die der klassischen Metaphysik zuzuordnen sind, wie auch Wolfgang Müller-Funk für den Strukturalismus feststellt. Während einerseits solche Theorien einen Raum des zeitlos Gültigen postulieren, bricht andererseits in diesen Raum die Erfahrung einer Zeitlichkeit ein, die die Moderne des 20. Jahrhunderts dadurch radikalisierte, dass sie die »aristotelischen Konsonanzen aufgebrochen hat«. W. Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative, S. 76. 275
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wendung der Regeln der Sprache als einem Kompetenzsystem. Die Kommunikation basiert auf einem medienextern generierten Sinn.43 Deshalb bleibt in dieser Konzeption die Rolle der Medien an sich und als Konstituente der Botschaft unbedeutend. Sie dienen der Zirkulation und Verbreitung und sind auch Garanten der potenziell gelingenden apparatgestützten gesellschaftlichen Modernisierung. In einer solchen, als Kompetenzsprache verstandenen Kommunikation, die ich szientistisch nennen möchte, sind Alterität und Zeitlichkeit keine fundierenden Funktionen. Dies lässt sich anhand der topologischen Bedingungen der Kommunikationsinstanzen nachweisen. Die Topographie dieser Konstellation basiert auf einer binomischen und homogenen Raumordnung, wie sie der Strukturalismus postuliert. Die Differenz ist ein Distinktionsmerkmal, das zwischen Identischem und Verschiedenem trennt. Unreflektiert bleibt hier z.B. die Paradoxie der Demarkationen von Innen und Außen, von Eigenem und Fremdem, die Jacques Derrida im Zusammenhang der Klassifikationen der Gattungen postuliert hat44, eine Paradoxie, die von der Phänomenologie der Zeitlichkeit und der Differenz herrührt und bedenkt, dass der Innenraum nicht homogen, sondern durch die angrenzenden Räume ›kontaminiert‹ wird, ja das Ausgegrenzte einschließt. Was heißt Kommunikation und was heißt Alterität für eine szientistische Kommunikationstheorie, die – wie die Zwei-Welten-Modelle – auf der Stabilität der Gegenwart gründet? Alterität und Identität werden zwar als von einander abhängige und veränderliche, doch in sich distinkte Entitäten konzipiert. Sie sind das dialektische Paar von mehr oder weniger komplexen gesellschaftlichen Systemen. Eine derartige Topographie scheint mir im symbolischen Interaktionismus vorzuliegen, wie er sich in der Folge von George Herbert Mead und Erving Goffman in der Sozialwissenschaft etabliert hat. Die wechselseitige Abhängigkeit von Identität und Alterität wird dabei im Sinne eines idealtypischen Modells der kommunikativen Komplementarität postuliert;45 Alterität ist eine Funktion der Komplexitäts- und Kompetenzsteigerung des szientistisch43 Vgl. Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. In Bezug auf das Problem der Medialität beim kulturellen Gedächtnis vgl. V. Borsò: Gedächtnis und Medialität. 44 Vgl. J. Derrida: L’écriture et la différence. 45 Innen- und Außenperspektive, Selbst- und Fremdbild dienen dazu, im Handeln des Individuums und »in der Auseinandersetzung mit Anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben«. Heinz Abels: Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie, Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 196. 276
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struktural konzipierten Kommunikationssystems. Die wichtigste Rolle des Mediums ist deshalb die phatische46 Funktion, welche den Kanal für die Dekodierung, Kommunikation und den Zugewinn von Daten sichert. Medien und neue Technologien fungieren als technische Verbreitungsdispositive sozialer Sinnsysteme; die phatische Funktion der Apparate sichert die interaktive Informationsvermittlung. Wir können unsere eingangs gestellte Frage über das Verhältnis von Alterität und Medium folgendermaßen beantworten: Identität und Alterität sind hier das dialektische Paar eines Kompetenzsystems bestehend aus Rollen und Handlungsregeln. Subjektivität, wie auch Identität und Alterität sind Bestandteile von Interaktivität. Die Medialität erschöpft sich in der Rolle der Medien als externe Hilfsmittel des symbolisch konstituierten, sozialen Kompetenzsystems Kommunikation. Systemspezifische Kompetenzen und Interessen bedienen sich der neuen Medientechnologien und bestimmen den Vollzug kommunikationspolitischer Operationen.47 Die Totalität des signifikanten Raums erschöpft sich im Raum der – wie komplex und vielfältig auch immer konzipierten – Identität. Die Differenz des Anderen hat keinen Ort, wie dies Bernhard Waldenfels im Zusammenhang mit den Räumen der Identität konstatiert. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Identität und Alterität gründet hier auf einer stabilen und homogenen zeiträumlichen Ordnung. Es ist die Ordnung der Diskurse und der von diesen bestimmten Repräsentationen. Wir benötigen einen anderen Zugang, wenn wir den Ort der Alterität als Differenz konzipieren wollen.
46 Der Begriff ›phatisch‹ bezeichnet im Sinne des jakobsonschen Kommunikationsmodells die auf den Kommunikationskanal bezogene Funktion. Ausgehend vom mathematischen Modell des Informationstheoretikers Claude Elwood Shannon bezieht Friedrich Kittler die phatische Funktion auf die Aufschreibesysteme um 1800, für die die Phonozentrismusthese von Derrida zutrifft. Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800 – 1900, München: Fink 1995. Es muss daran erinnert werden, dass die phatische Funktion auch in technologischen Medien nur eine der Funktionen der medialen Kommunikation ist, eine Funktion, die in kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen verabsolutiert wird, wenn z.B. die Aufmerksamkeit lediglich auf den ›Kanal‹ und die Distributionseinrichtungen bzw. Kommunikationsinstrumente gelenkt wird. Vgl. Siegfried J. Schmidt/ Guido Zurstiege: Orientierung Kommunikationswissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 74f. Für die Ausdifferenzierung von Medienkunst muss, wie im Folgenden dargelegt, z.B. die poetische Funktion berücksichtigt werden. 47 Zu diesem Problem vgl. ebd., S. 78f. 277
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Die Homogenität des Raums eines medialen Kompetenzsystems wird deutlicher, wenn wir die Visualität, den privilegierten Ort der Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, problematisieren. Wir wollen deshalb nachstehend diese im Abendland mächtige Scharnierstelle zwischen Subjekt und Differenz näher betrachten.
3 . D i e M a te r i ali t ät d e s M e d i u m s u n d d i e P r o b l e m a ti s i e r u n g d e r S i c h t b a r k e i t Die phänomenologische Analyse der Visualität zeigte, dass die Räume des Sehenden und des Gesehenen nicht homolog sind, wie dies für die Identität angenommen wird. Edmund Husserl hat in seiner V. Cartesianischen Meditation anhand des Bilds Analyse der Empfindungen von Ernst Mach die Alterität des Leibes ›entdeckt‹.48 Tatsächlich illustriert das Bild von Mach die Unmöglichkeit, die gesamte Konstellation des Blickes, d.h. die zwei heterogenen Räume des Sehenden und des Gesehenen, zur gleichen Zeit zu fokussieren.
Ernst Mach: Analyse der Empfindungen49
Das sehende Subjekt und das gesehene Objekt können sich nicht denselben Repräsentationsraum teilen50, weil der Raum des Sehenden und der 48 Edmund Husserl: »V. Cartesianische Meditation«, in: ders.: Husserliana, Bd. I, hg. von Stephan Strasser, Den Haag: 1973, S. 121-177. 49 Abbildung entnommen: http://de.wikipedia.org/wiki/Abbild, 19.10.2007. 50 Der Umriss des Gemäldes konstituiert die Silhouette eines Kopfes. Im Inneren dieses Umrisses, dort wo sich das Gesicht befinden sollte, werden zwei Ebenen dargestellt, die von einem Fenster getrennt sind: Jenseits des 278
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des Gesehenen einander heterogen sind, so die phänomenologische Entdeckung von Husserl.51 Er selbst wird diese Spur nicht weiter verfolgen; erst Maurice Merleau-Ponty wird auf den heterogenen Raum der Sichtbarkeit eingehen, nämlich auf die Fremdheit des Leibes und darauf, dass die Sichtbarkeit das chiastische Ereignis zwischen dem sehenden Auge und dem Objekt des Blickes ist. Auf dieser Basis wird auch Jacques Lacan zwischen dem Auge als Dispositiv kultureller Deutungen, für das der Leib die Differenz darstellt, und dem Blick unterscheiden. Der Blick ist ein Ereignis, das mit der Differenz im Subjekt konfrontiert.52 Als DarstelFensters sehen wir eine in Zentralperspektive realistisch dargestellte Landschaft; diesseits des Fensters ist das Innere eines Zimmers abgebildet, in dem sich ein liegender und in Richtung Fenster blickender Mann befindet. Dessen Gesicht ist wiederum nur zum Teil im Blickfeld des Bildbetrachters, jedenfalls ist sein Auge nicht sichtbar. Der Betrachter zweiten Grades, der Zuschauer des Bildes, sieht also nur das, was das abgebildete Subjekt sieht, nicht jedoch seinen Blick. Der Betrachter wird gewahr, dass er beides nicht auf einmal fokussieren kann: das Gesehene und den Blick des Sehenden. Die jenseits des Fensters sichtbare realistische Landschaft ist eine Projektion des kulturellen Auges, das selbst blind ist (der Blick befindet sich nicht im Gesichtsfeld des Gemäldes). Auf der Metaebene wird mit diesem Bild die Blindheit im Auge des Betrachters reflektiert. Das Bild von Mach zeigt das, was das objektive Sehen verdeckt. 51 Ich beziehe mich auf den Satz Husserls: »Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege.« Waldenfels betont die merkwürdige Verschränkung zweier Reden und Sichtweisen. Husserl zit. nach Bernhard Wandelfels: »Nähe und Fremde des Leibes«, in: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 11-24, hier S. 11. Diese paradoxale Wendung verbindet Waldenfels mit dem Satz Rimbauds: »Je est un autre.« Der Leib ist jenes Fremde, das als »ein Anderer« dem Ich das Wort aus dem Mund, den Blick aus den Augen nimmt (vgl. ebd.). Vgl. auch Waldenfels’ anregende Analyse des Leibes als phänomenologische »Umschlagstelle«, ders.: Sinnesschwellen, S. 50f. 52 Vgl. J. Lacan: Die Spaltung von Auge und Blick. Jacques Lacan unterscheidet im Medium, durch das die Blicke vermittelt werden, zwei miteinander verbundene Dimensionen, die die Einstellung des Betrachters bedingen: den Bildschirm und die Rahmung. Bildschirm und Rahmen, und damit die Einstellung zum Gegenstand, werden erst in Verbindung mit einem selbstbezüglichen Material (mit selbstbezüglichen ästhetischen Formen und Inszenierungen) sichtbar. Wird die Einstellung erkennbar, so ist der Blick potenziell selbstreflexiv und beweglich. Bleiben Bildschirm und Rahmen unsichtbar, so sieht das Auge nach dem Blickregime der dem Medium mitgegebenen (gesellschaftlichen) Einstellungen. Auf der Grundlage dieser 279
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lung einer Urszenerie der Konstellation des Blickes illustriert das Bild von Mach die Konstellationen der Sichtbarkeit: die heterogene Gerichtetheit von Subjekt und Objekt, die Rahmung durch die kulturellen Konfigurationen und die Fremdheit des Leibs dieser Rahmung gegenüber. Anhand der Sichtbarkeit ist deshalb zwischen drei Modi der Repräsentation zu unterscheiden, wie dies Bernhard Waldenfels vorschlägt:53 zwischen den Repräsentationen, die das Geschaute so vergegenwärtigen, dass die Differenz von Schauendem und Geschautem wie auch zwischen Bild und Ding zum Verschwinden kommt; zwischen den Metarepräsentationen, d.h. Repräsentationen, die sich als Repräsentationen zu erkennen geben und die Topographie der Identität offen legen; und schließlich zwischen dem fremden Blick. Während bei ersteren der Fremdheit des Blickes kein Raum gegeben wird, rüttelt die Sichtbarkeit im dritten Fall, den Waldenfels in Bezug auf Foucaults Denken von Außen beschreibt54, am Fundament der Ordnung des Sichtbaren selbst, d.h. an Zeit und Raum. Fremde Blicke kommen nicht im Raum vor, sie eröffnen vielmehr Räume.55 Diese Unterscheidung ist wichtig für die Frage nach dem Verhältnis von Differenz und Medien. Kommen wir auf den eben behandelten Fall der Zwei-Welten-Theorien zurück. Wenn man von der Analyse der Sichtbarkeit ausgeht, so ist die oben genannte ›Repräsentation‹ die Stütze der im Sinne eines medialen Kompetenzsystems konzipierten Kommunikation. Das Bild bringt hierbei die Differenz zum Verschwinden und fungiert wie ein transparenter Bildschirm im mimetischen Sinne, ein Bildschirm, der als phatisches Mittel und als durchsichtiges, an sich unbedeutendes Fenster zur
Modi (das dem Medium aufgegebene Auge und der aktive und selbstreflexive Blick) analysiert Žižek die Blickregie des Hollywood-Kinos. Vgl. Slavoj Žižek: Lacan in Hollywood, Wien: Turia & Kant 2000. In den Bildwissenschaften (vgl. u.a. Hans Belting: Bild und Kult, München: Beck 1990; Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München: Fink 1995; Wolfgang Kemp: Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter, Köln: Oktogon 1996) schlägt z.B. Gottfried Boehm den Begriff vom »erinnernden Sehen« für den Fall vor, dass »das Sehen seiner selbst ansichtig wird«, und zwar beeinflusst durch die medialen Veränderungen der Formen. Gottfried Boehm: »Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens«, in: ders./Karlheinz Stierle/Gundolf Winter (Hg.), Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl, München: Fink 1985, S. 37–59, hier S. 42. 53 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 106f. 54 Vgl. Michel Foucault: »La pensée du dehors«, in: ders.: Dits et écrits, Bd. I (1994), S. 518-539. Siehe auch Waldenfels, der sich besonders auf S. 524 bezieht. Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 113. 55 Vgl. ebd., S. 127. 280
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Welt dient. Die Sichtbarkeit dieser topologischen Konstellation fällt mit der okulozentristischen Tradition des Abendlandes zusammen. Der Okulozentrismus setzt nicht nur ein teleologisch konzipiertes RaumZeitkontinuum voraus, sondern auch eine Einheitlichkeit des Raums, wie Bernhard Waldenfels konstatiert. Denn die Sichtbarkeit ist hier durch eine hierarchische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Identität und Alterität geregelt.56 Sie fungiert als Plattform für die Ermächtigung des Subjekts, das sich durch visuelle Homologisierung des Raums den Anderen aneignet, sich selbst als selbstidentisch erkennt und die Differenz ins Außen projiziert. Der Blick geht in der Ordnung der Diskurse auf. Sichtbarkeit und Bildordnung entsprechen sich, und dies suggeriert die Natürlichkeit dieser Ordnung. Denn ›Unsichtbarkeit‹ verweist in diesem Fall nicht auf einen fremden, irritierenden Raum. Die Abwesenheit des Gesehenen bedeutet vielmehr noch nicht Gesehenes, d.h. die Noch-NichtAnwesenheit eines prinzipiell Sichtbaren und Gegenwärtigen. Folgerichtig heißt hier ›Sehen‹ lediglich Wiedersehen und Wiederfinden. Dass die moderne Kunst die vermeintliche visuelle Kompetenz des Subjektes verletzen will, um diese Konstellation zu entgrenzen und zur Differenz zu öffnen, zeigen mehrere Gründungsfiguren der Moderne.57 Eine dieser Figurationen ist die berühmte Einstellung aus Un chien andalou von Dalí und Buñuel, bei der gezeigt wird, wie ein Messer einen Schnitt mitten durch den Augapfel eines Menschen vollzieht, ein Bild, das selbst dann beunruhigt, wenn man weiß, dass es sich in Wahrheit ›lediglich‹ um ein Tierauge handelt.
56 Vgl. auch die Kritik Žižeks hinsichtlich eines Subjekts, das als »simple Opposition zwischen Subjekt und Objekt« konzipiert ist, so Žižek zum Begriff der Wahrnehmung als Aktualisierung von emotionalen und kognitiven Prädispositionen seitens des »gemeinen« Betrachters einer kinematographischen »Realität« in kognitiven Kommunikationstheorien. Vgl. S. Žižek: Lacan in Hollywood, S. 22f. 57 Die Infragestellung der Sichtbarkeit hat mit der Differenz und mit einem veränderten Verhältnis zur Zeitlichkeit zu tun. Noch vor Deleuze hatte der Cineast und Theoretiker Pascal Bonitzer die Zeitlichkeit als die spezifische Eigenschaft des Kinos erkannt und eine Präfiguration des Kinos im veränderten Verhältnis zur Zeitlichkeit seitens der barocken Kunst festgestellt, z.B. anhand des Bildes des Heiligen Hieronymus von Albrecht Dürer. Die Zeit breche durch den schrägen Lichtstrahl auf den Heiligen aus dem vom Rahmen gegebenen Off in das Bild ein. Dadurch portraitiere das Bild den Heiligen in einem besonderen Augenblick, was auf die Zeitlichkeit aufmerksam mache. Vgl. Pascal Bonitzer: Décadrages: Peinture et cinéma, Paris: Éditions de l´Étoile 1985. 281
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Verschiedene Sichtbarkeiten entsprechen verschiedenen Bildästhetiken. Die moderne Kunst sucht die Transgression der Ordnung des Sichtbaren, wie aus verschiedenen Schriften über das Auge im Kontext des Surrealismus, insbesondere seitens ›dissidenter‹ Autoren wie Georges Bataille58, hervorgeht. Der topologischen Konstellation, die wir mit Waldenfels ›Repräsentation‹ genannt haben, entspricht dagegen eine mimetische Ästhetik des Bildes. Die Materialität des Bildraums ist für eine solche Ästhetik der durchsichtige Vermittler eines Bildgedankens, dessen Sichtbarkeit nach der Ordnung der Diskurse organisiert ist und der einen mit dem Subjekt homogenen Raum bildet. Es ist eine Ästhetik, die die Evidenz des Bildgedankens gemäß der Ordnung der gesellschaftlichen Kommunikation sucht. Das Ereignis der Oberfläche des Bildraums wie auch das Ereignis der poetischen Funktion der Sprache und ihre potenzielle Differenz sind dabei sekundärer Natur. Einer solchen Ästhetik entspricht z.B. jenes kinematographische Bild, das Gilles Deleuze als eine Funktion der narrativen Kinoästhetik ansieht und im Zusammenhang mit dem Bewegungsbild nach dem Vorbild des Hollywood-Kinos charakterisiert. In diesem steht die Zeit im Dienste einer chronologischen Abfolge von Zeitsegmenten, die die narrative Logik der Bewegung und der Montage bestimmt. Die Zeit ist von einem homogenen, segmentierten Raum abhängig. Dagegen haben die Analyse des Blicks in den Essays von Benjamin und Kracauer sowie die Phänomenologie der Differenz das Interesse für die Autonomie der Bildmaterialität und des Bildraums als Ereignis ge-
58 Neben der »Histoire de l’œil« von Georges Bataille ist auf den Artikel »Œil« hinzuweisen. Vgl. Georges Bataille: »Histoire de l’œil«, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, Premiers écrits, 1922-1940, Paris: Gallimard 1970, S. 9-78 sowie ders.: »Œil«, in: Œuvres complètes, Bd. I, S. 187-189. Dieser Essay ist der Teil des »Dictionnaire«, mit dem Bataille eine Art »extraction lexicographique«, d.h. eine Entnahme der Organe aus ihrem scheinbar ›natürlichen‹, organischen Zusammenhang vollziehen wollte. Ähnlich ist auch der Text »Le gros orteil« zu verstehen. Vgl. G. Bataille: »Le gros orteil«, in: ebd., S. 200-204. Batailles (wie auch Artauds) Anliegen war es, durch die Annäherung heterogener Dinge in der Sprache auch die in der kulturellen Anatomie des Abendlandes bestehenden Hierarchien zwischen dem Kopf als dem höherwertigen Sitz der Vernunft einerseits und den Sinnen andererseits zu dekonstruieren und eine offene Topographie des Körpers nachzuzeichnen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Essays von Denis Hollier, insbesondere auf »L’œil pinéal«, in: ders.: La prise de la Concorde suivi de Les dimanches de la vie. Essais sur Georges Bataille, Paris: Gallimard 1993, S. 157-250, hier S. 157f. 282
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fördert.59 Im Bildraum kann sich der fremde Blick zu einer anderen Topologie öffnen, die nicht in die Ordnung des Sichtbaren einzuholen ist. Wir werden sehen, dass die Massenmedien, sofern sie nicht der phatischen Funktion der Informationsverbreitung untergeordnet werden, diesen Blick erproben, und ihn womöglich gar initiiert haben.
4 . I d e n ti tä t , D i f f e r e n z u n d d as M e d i u m al s Vermittler und Sinnkonstituente Für eine Theorie des Mediums, die in der Vermittlung eine Differenz zwischen Phänomen und Sprache sieht, sind Alterität und Identität nicht als binomisches Strukturprinzip, sondern als eine in der Zeitlichkeit bestehende, unaufschlüsselbare Differenz konzipiert. Sinn gilt nicht mehr als Analogon zur Welt. Er kommt vielmehr als ein Prozess im Medium zur Erscheinung. Sybille Krämer hat die Konsequenzen für die Sprachphilosophie dargestellt. Ich möchte auf die topologischen Aspekte des Verhältnisses von Identität, Alterität und Medien und auf die Dimension der Sichtbarkeit eingehen. Die Konzeption eines mit der Dichotomie von Innen und Außen bestehenden geometrischen Raums wird hier durch einen anthropologischen Raum im Sinne Merleau-Pontys ersetzt. In diesem stehen Subjekt und Welt mittels der Körperlichkeit in Beziehung zueinander, ohne dass ihre Heterogenität in eine Homologie überführt werden kann. Die Differenz von ›Einstellung‹ und fremder Leiblichkeit, die den Blick konstituiert, wird nicht durch den homologen Raum der Identität zum Verschwinden gebracht. Die Differenz durchsetzt vielmehr die raumzeitlichen Konstellationen und die Gegenwart ist eine Schwelle (wie wir schon mit Benjamin beobachten konnten). Die Gegenwart ist eine
59 Lyotard optiert in seiner Dissertation für die Bildmanifestation gegen die Vorherrschaft des Bildgedankens. In der Materialität des Bildes sei die Tätigkeit des Traumsubjekts aufgehoben, das auf die Zensur reagiert, sich als optisch bestimmtes vis-à-vis dramatisch konstituiert und sich durch die Traumarbeit materiell am Leben erhält. Anstelle von »Bedeutung« und »Diskurs« lenkt deshalb Lyotard die Aufmerksamkeit auf »Text« und »Figur«. Lyotard betont die Opazität des Zeichens, d.h. die Intransitivität der Figur hinsichtlich der Sichtbarkeit und der Erkenntnis des Anderen (eine Qualität, die dagegen dem Symbol zugeschrieben wird): »Ce n’est pas la Création en tant que chose épaisse qui marque, qui recueille l’altérité, c’est d’être sourd à la révélation, le visible n’est pas ce qui se manifeste en se réservant dans son verso, il est seulement un écran d’apparences, il n’est pas paraître, mais bruit couvrant une voix.« Vgl. Jean-François Lyotard: Discours, Figure, Paris: Klincksieck 1971, S. 13. 283
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Form der Bezüglichkeit zwischen den Zeiten, der Bezüglichkeit zur Alterität im Sinne der Differenz. Gilles Deleuze hat mit seinen Analysen zu L’image-temps60 auf die temporalisierte Struktur der Wahrnehmung hingewiesen und auch eine andere Bildtheorie eingeleitet. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt wird beim image-temps nicht durch eine statische, raumzeitliche Konstellation geregelt, sondern ist vom Zeitfluss der Erfahrung abhängig, einem Zeitfluss, der seit der Moderne auch die Differenz in das Subjekt einschreibt. In der Gegenwart ist kein vergegenwärtigender Blick auf die Gegenwart des Anderen, der Welt, möglich, wie dies die erste Position postuliert.61 Wirklichkeit konkretisiert sich im Darstellen, im Sagen, wie Merleau-Ponty und Levinas hervorheben werden, d.h. in der medialen Vermittlung. Diese selbstreflexive Potenz des Mediums, die Benjamin in der Analyse der Reproduzierbarkeit hervorhebt und die die moderne Kunst entfaltet, entgrenzt die »natürliche Einstellung«.62 Ich möchte hier auf die Selbstreflexivität des Mediums eingehen, auf die schon Jakobson im Zusammenhang mit der poetischen Funktion der Sprache hingewiesen hat und die mit Begriff der mise en abyme von Lucien Dällenbach63 das zentrale Moment des Nouveau Ro60 Vgl. G. Deleuze: L’image-temps. Auch Böhme/Matussek/Müller nehmen Bezug auf Deleuzes Analyse des Unterschieds zwischen dem Bewegungsbild des traditionellen Action-Kinos und dem Zeitbild des experimentellen Kinos. Das Bewegungsbild führte mit seiner äußeren Angepasstheit an die kinematographische Illusion der Alltagswahrnehmung zu einer Stilllegung der Erinnerungsaktivität, während das Zeitbild unkonventioneller Filme (z.B. von Godard oder Resnais) gerade durch das Anhalten der äußeren Bewegung die innere Zeit erlebbar macht. Vgl. Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 163. 61 Vgl. Emmanuel Levinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag: Nijhoff 1974, wo Levinas von einer Kernspaltung von allem SichSelbst-Identischen spricht, von einer »Différence-sans-fond-commun«, basierend auf der Temporalisierung der Zeit. Die u.a. auf die jüdischen Grundlagen zurückgehende Differenz von Sinn und Präsenz ist ein zentrales Moment der Philosophie Levinas’, ebenso für Lyotard und Derrida. Vgl. Guy Petitdemange/Jacques Rolland: Autrement que savoir. Emmanuel Levinas, Paris: Osiris 1986. 62 Vgl. Hans Körner: »›Keine Benennungen‹. Wols: Bildmaterial, Bildbegriff und die ›richtige Einstellung‹ des Betrachters«, in: Andrea von HülsenEsch/Bernd Carqué/Daniel Arasse (Hg.), Die deutsch-französische Kolloquienreihe zur ›Methodik der Bildinterpretation‹ 1998-2000, Bd. I, Göttingen: Wallstein 1992, S. 259-303. 63 Vgl. Lucien Dällenbach: Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris: Seuil 1977. 284
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man darstellt. Es handelt sich um jene Konstellation, in der die Materialität des Mediums nicht in dominanter Weise der phatischen Funktion unterliegt und der Verbreitung von Information dient.64 Die Textmaterialität ist dabei mehr als nur Träger einer persuasiven Botschaft. Die Vermittlungsfunktion geht nicht in der Informationsverbreitung auf. Die Medialität der Vermittlung wird – wie es in der modernen Kunst programmatisch geschieht – vielmehr zu einem opaken Spiegel, der den Blick auf sich selbst zurückwirft, ohne eine ›natürliche‹ Transitivität zur Welt vorzuspiegeln. Dies hat mit der Einschreibung der Differenz in die Materialität des Mediums und mit der Temporalisierung der Vermittlung zu tun. Beides führt zu jener paradoxalen Sprache des Körpers und der Subjektivität, die Bernhard Waldenfels bei seiner Besprechung der Entdeckung des Leibes durch Husserl (mit Bezug auf Arthur Rimbauds Satz »Je est un autre«) betont hat. So gibt die Einschreibung der Differenz der Sprache der Moderne ihre Signatur. Bedenkt man die Differenz, so kann das Medium nicht allein als externer Speicher zur transparenten Sinnübertragung und Sinnverbreitung verstanden werden. Das Medium macht vielmehr die Bedingungen der Vermittlung selbst sicht- und erkennbar. Erst unter diesen medientheoretischen Voraussetzungen können wir die Frage präzisieren, unter welchen Bedingungen die Materialität des Mediums das Erscheinen von Alterität möglich macht. Walter Benjamin gewinnt schon aus der Analyse der paradoxalen raumzeitlichen Ordnung der Erinnerung in der mémoire involontaire von Marcel Proust Einsicht in die Materialität des Mediums. Die Materialität ist schon deswegen kein transparenter Kanal mehr, weil der Riss zur Vergangenheit nicht mehr zu heilen ist und die Pluralisierung gesellschaftlicher Deutungen keine eindeutige Transitivität zur sozialen Botschaft mehr ermöglicht. In der Moderne, so Benjamin im Passagenwerk, durchkreuzt die Alterität in doppelter Weise die Identität: räumlich und zeitlich Fremdes bewohnt den Menschen. Diese These wird, wie wir gesehen haben, u.a. in Zusammenhang mit der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks entwickelt. Der tote Maschinenrhythmus ist der Rhythmus der Apparate, der zu Brüchen in der Wahrnehmung des Menschen führt. 64 In einem Aufsatz mit dem Titel »Visualisation et langage« kritisiert Roland Barthes die Interpretation des Bildes im Sinne der Koiné-Annahme seiner Ikonizität, als sei die Ikonizität eine supralinguistische, anthropologische Konstante mit unmittelbarer semantischer Evidenz. Barthes spricht von der Akkulturation des Bildes, die dann eintritt, wenn man das Bild den sozialen Diskursen und dem diskursiven Denken zuordnet. Eine solche Funktion des Bildes nennt Barthes eine Art sozialen Wehrdienstes. Vgl. Roland Barthes: »Visualisation et langage«, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. II, hg. von Éric Marty, Paris: Seuil 2002, S. 876-881. 285
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5. Massenmedien, Reproduktion und écriture: W i d e r d as M i s s v e r s t ä n d n i s e i n e s e l i tä r e n B e g r i f f s d e r S c h r i f t Nach der Konzeption von Jacques Derrida und Roland Barthes definiert sich auch das Medium der Schrift durch die Reproduzierbarkeit und Wiederholbarkeit. Deshalb schreiben sich im Raum der Schrift auch die Zeit und die Differenz ein. Als Phänomen der Zeitlichkeit ist die Schrift stets die Re-Produktion vergangener Spuren und eines nicht-ursprünglichen Ursprungs.65 In der Schrift wird also das Verhältnis des Subjektes zur Differenz ausgehandelt. Aus diesem Grunde sind die Zeichen der Schrift nicht etwa Träger einer »parole pleine, présentée à soi et maîtresse de soi«66. Dieses Prinzip ist besonders bedeutsam im Zusammenhang mit dem Körper. Andernorts habe ich die Fruchtbarkeit der phänomenologischen Fragestellung der Schrift als einer medialen Form dargestellt67, die sich von der phatischen Transparenz der sozialen Kommunikation und dem diskursiven Wissen unterscheidet, das Derrida nach dem phonozentrischen Modell beschreibt. Die Form der écriture im Medium der Schrift zeigt im Material der Buchstaben einen (poetischen) Überschuss, der ein metasprachliches Potenzial impliziert, aber auch Ambiguitäten erzeugt. Im Sinne einer solchen Form, also einer dynamischen Textualität, deren Prozesse durch eine verzeitigte Lektüre des Textes erst performativ konstituiert werden, sind in der Schrift Friktionen der Ordnung des Sichtbaren im Sinne der Ordnung der Diskurse zu finden, aber auch Spuren abwesender, widerstreitender Texte. Dies zeigt auch die Intertextualitätsforschung seit Julia Kristeva. Der Raum der Schrift ist insoweit ein ›anderer Raum‹, als sich Subjektivität, aber auch Differenzen und Alteritäten – etwa die ausgegrenzte Körperlichkeit und die ausgegrenzten Räume des Kulturellen – einschreiben. Ist für das szientistischkommunikationstheoretische Paradigma, das wir eingangs kommentiert haben, die Komplexität des Materials eine Stärkung der phatischen Potenz des Mediums, das auch noch einen vielstimmigen Sinn kodieren kann, so führt die Beachtung der Temporalisierung des Sagens, des Darstellens, zur Wahrnehmung der Paradoxie von Sprache und der Ambiguität von Sinn.68 Dass dieser Begriff von Schrift nicht allein elitär sein 65 66 67 68
Vgl. J. Derrida: L’écriture et la différence, S. 303. Ebd., S. 296. Vgl. V. Borsò: Gedächtnis und Medialität. Vgl. auch den Oralitäts- und Schriftlichkeitsbegriff von Barthes und meine entsprechende Analyse dazu. Vgl. Roland Barthes: »De la parole à l’écriture«, in: La quinzaine littéraire, 1-15 mars (1974), S. 9-13 sowie V. Borsò: Gedächtnis und Medialität. 286
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muss, lässt sich z.B. anhand der Schriften des mexikanischen Mediensoziologen, Essayisten und Schriftstellers Carlos Monsiváis darstellen.
6 . A l t e r i t ä t u n d M a s s e n m e d i e n . D i e Ä st he t i k d e r S c hr i f t n ac h d e n M a s se n me d i e n Der Sprung in das Medienzeitalter war das Skandalon Walter Benjamins zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ist jener Sprung, den der kolumbianische Medientheoretiker Jesús Martín-Barbero zu einer neuen Theorie der Mediation durch die Massenmedien geführt hat, eine Position, die die Performanz des Massenmediums für die Entstehung neuer gesellschaftlicher Strukturen betont. Dieser Quantensprung führt zu einer der heutigen globalen Welt angemessenen, beweglichen Epistemologie. Während sich die Autonomie des Dichters der historischen Moderne auf der Basis einer ideologischen Opposition zur Masse zu konstituieren glaubte, steht seit Benjamins Essay zur Reproduzierbarkeit diese Autonomie nicht mehr im Gegensatz zur Technik und der Massengesellschaft. Vielmehr wird sie mit den Mitteln der Technik gewonnen, die zwar den Verlust der Aura herbeiführen, aber auch die Chance einer die sozialen Diskurse irritierenden Montage als Grundlage eines apparatgerichteten Blicks geben. Die technische Montage offenbart die Konstruiertheit, Nachträglichkeit und Bedingtheit von Oppositionssystemen wie Identität und Alterität, die die Syntax zwischen den Dingen und der Sprache aufrechterhalten. Die massenmediale Schrift, die ›andere Materialitäten‹ hervorbringt, kann in vielen Fällen als heterotope Schrift bezeichnet werden, deren Modell für Michel Foucault die fiktive chinesischen Enzyklopädie von Jorge Luis Borges darstellt.69 Dies zu sehen, beruht auf einem nomadischen Bewusstsein, das nicht allein die Überkreuzung von Identität und Alterität erkennt, sondern die Bewegung zwischen den Differenzen vollzieht.70 Die Medien sind Quellen der Produktion neuer ästhetischer Formen, so dass die Reproduktionstechnik nicht notwendigerweise das Ende der Kunst herbeiführt, wie Adorno meinte. Derartige Implikationen des performativen Moments der Massenmedien sind entscheidend für die To69 Vgl. Michel Foucault: Schriften zur Literatur, Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Ullstein 1979, S. 17. 70 Gemeint ist eine Situation, in der man den kulturellen Raum nicht von einem Zentrum aus denkt, sondern vom Standort derjenigen aus, die an den Rändern leben und den Rand zum Prinzip ihrer Denkfreiheit machen. Vgl. Jesús Martín-Barbero: »Mis encuentros con Walter Benjamin«, in: Constelaciones de la Comunicación. Fundación Walter Benjamin. Ciencias de la Comunicación, Bd. I., Madrid: Iberoamericana 2000, S. 16-23. 287
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pologie des Subjekts.71 In diesem Zusammenhang hat Jesús Martín-Barbero die Spuren von Walter Benjamin im Denken der Differenz und der Perfomativität deutlich gemacht. Im Zusammenhang mit dem unorthodoxen Wissen, das im Ansatz von Walter Benjamin impliziert ist, meint Martín-Barbero: »[Es] un mundo descentrado, performativo, ambivalente, y un imaginario corporal a la vez traza del destino y del goce; pasó también por la ›cultura del motín‹, las procesiones bufas, las canciones obscenas, y la ›economía moral‹ de la plebe en que se basaron los primeros movimientos obreros.«72
Eine solche massenmediale Kultur hat eine ungemeine Transformationskraft. Sie konstituiert eine kulturelle Topographie, die einer »zona de litigio« oder einem »museo improbable«73 gleicht, wie es Carlos Monsiváis formuliert hat. Tatsächlich ist der Blick des massenmedialen Schriftstellers, in dessen Schrift die Differenzen materialisiert werden, nicht panoptisch. Dafür sind die Schriften Monsiváis’ seit seinen Crónicas der 1970er Jahren ein herausragendes Beispiel. Der Sprecher schaut nicht aus einer sicheren Höhe in einen globalen Raum hinein.74 Der Ort, 71 Der Sprecher von Monsiváis’ Chroniken hat ein nomadisches Bewusstsein, das nicht allein zur Überkreuzung von Identität und Alterität gelangt, sondern auch die Bewegung zwischen den Differenzen vollzieht und beweglich werden lässt. 72 J. Martín-Barbero: Mis encuentros con Walter Benjamin, S. 19. 73 Die akustische Modularisierung (Materialität) von Erzähltexten ist ein Charakteristikum der mexikanischen Crónicas, einer mit der modernen Stadt zusammenhängenden Gattungshybride zwischen Roman, Essay, Tagebuch und Reportage. Die Crónicas stellen fragmentarische Sinnbezüge her, thematisieren Nebensächliches und Ephemeres und sind Momentaufnahmen vergangener Ereignisse, die das Prinzip des Zufalls im Dargestellten und in der Darstellung behaupten. Sie benutzen dokumentarisches Material (Fotographien, Tonbandmitschnitte, Videoaufnahmen) oft als Gegendiskurs zum ironisch zitierten offiziellen Diskurs. Die zitierten mündlichen Reden erzählen im Dissens zueinander und ironisieren sich wechselseitig. Die Oppositionslogik, wie die von Masse gegen Elite, Volk gegen Herrschende usw. wird aufgehoben. Das Marginalisierte fungiert als perspektivischer Fokus, um das Zentrum anders zu beleuchten. Vgl. Vittoria Borsò: »Mexikanische ›Crónicas‹ zwischen Erzählung und Geschichte – Kulturtheoretische Überlegungen zur Dekonstruktion von Historiographie und nationalen Identitätsbildern«, in: Birgit Scharlau (Hg.), Lateinamerika denken, Tübingen: Stauffenburg 1994, S. 278-296. 74 Vgl. Carlos Monsiváis: Entrada libre. Crónicas de la sociedad que se organiza, Mexiko: Era 1997. Die Präsenz eines solchen Panoptikums habe 288
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von dem aus Monsiváis schreibt, situiert sich vielmehr inmitten des massenmedialen Raums. In seinen Skizzen von Mexiko Stadt befindet sich der Sprecher mitten in der Menge der Stimmen; seine Position im Raum ist beweglich. Nicht einen souveränen Blick auf den globalen Raum entdecken wir also in diesen Chroniken. Vielmehr befinden sich Blick und Ohr auf einer Höhe mit den vielen Menschen der Stadt; die Sinne sind offen, empfänglich für die dissonanten Differenzen, aber auch für die Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Der Sprecher blickt nicht von einem olympischen Ort auf geopolitische Territorien, die durch die Imagination des Schriftstellers überschritten werden. Vielmehr sind die Transformationen dem Kulturellen selbst immanent. Im Vorwort von Los rituales del caos beschreibt Monsiváis mit Bezug auf Guy Debord die doppelte Funktion der Massenmedien. Die Massenmedien erzeugen einerseits das Spektakel, bei dem das Auge dem Medium anvertraut ist75 und in dem das Subjekt dem Konsum und der Industrialisierung der Bilder unterworfen ist. Diesen Fall nennt Monsiváis »el falso caos«. Dieses Chaos ist nicht befreiend, sondern normalisierend. Es bedient sich der Mittel des Spektakels, um eine Art Diktatur der elektronischen Faszination unter der Ökonomie des Konsums zu etablieren. Auf der anderen Seite geht es dem Schriftsteller um das »wahre Chaos«, bei dem der Mensch nicht an die Erlösungsutopie des Konsums und seiner Ordnung glaubt, »no imagina detrás de cada show los altares consagrados al orden«76. Statt der Verheißung einer Erlösung werden hier kulturelle Kräfte entfesselt, die Monsiváis – ebenfalls mit Bezug auf Debord – das Vergnügen und die fluide Sprache der AntiIdeologie nennt. Vergnügen heißt auf Spanisch »diversión«, ein Wort, das die gleiche Wurzel wie ›diversidad‹ und ›divergencia‹ hat. Vergnügen und Flüssigwerden der Sprache sind Effekte des Lachens, betont der Schriftsteller: Ironie, Humor, Entspannung – Begriffe, die der von Benjamin erwähnten Zerstreuung durch die Massenmedien nahe kommen. Die Fluidität der Sprache Monsiváis’ wird durch den akustischen Rhythmus und die Register der Oralität gesteigert. Im inszenierten kulturellen Raum ist nicht das Auge das zentrale Organ der Wahrnehmung, worauf auch Benjamin hingewiesen hat. Denn das Auge verortet die ich dagegen in der Literatur von Carlos Fuentes nachzuweisen versucht. Vgl. Vittoria Borsò: »Carlos Fuentes – ›peregrino entre dos mundos‹. Zur Archäologie des XX. Jahrhunderts«, in: Frank Leinen (Hg.), Literarische Begegnungen. Romanische Studien zur kulturellen Identität, Differenz und Alterität, Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 299-318. 75 Vgl. Carlos Monsiváis: Los rituales del caos, Mexiko: Era 1995, S. 29: »Fíjate en la pantalla.« 76 Ebd., S. 16. 289
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Masse, grenzt sie ein. Die Dynamik im Text von Monsiváis ist dagegen jene, die – wie in Deleuzes rhizomatischem Modell – de-markiert und Zwischenräume schafft. Massenmedien sind ein epistemologischer Ort. So wird auch Carlos Monsiváis selbst nicht müde, für seinen Begriff von »cultura popular« die Bedeutung der Massenmedien hervorzuheben. Das Medium ist mehr als ein ästhetischer Kanon. Die Medien des 20. Jahrhunderts, das Kino, das Fernsehen, die Rockmusik, die Videoclips haben nationale Mythen modernisiert, internationalisiert und damit verändert. Dies ist die Hauptthese der medienhistorischen Kulturgeschichte, die, ausgezeichnet mit dem Premio Anagrama de Ensayo, unter dem Titel Aires de familia77 erscheint. Die kulturellen Konzeptionen von Monsiváis haben mit epistemologischen Moden – von der Alteritäts- zur Hybriditätsdiskussion – nichts zu tun, obgleich postkoloniale Theorien durchaus zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind. Der epistemologische Ort von Carlos Monsiváis’ Soziologie und seine Kulturanalyse der Massenmedien begründen eine moderne Medientheorie, die von Anfang an in seiner ›escritura‹, seiner Ironie und seinen Sprachspielen erkennbar wird. War das Kino der individuelle Raum von kollektiven Träumen, so ist nach den 1980er Jahren das Fernsehen das Medium der Inszenierung globaler Spektakel.78 Das Kreative an massenmedialen Ereignissen ist dabei die transkulturelle Dynamik, die die nationale Monumentalität und ihre hegemoniale Gewalt zu Fall bringt.79 Die Transformationsprozesse der Moderne werden in Aires de familia dargestellt. Es sind Transformationen, die nicht der Imagination des Schriftstellers entspringen, sondern von den Massenmedien, ihren Bilden und ihren Migrationen verantwortet werden.80 Durch
77 Carlos Monsiváis: Aires de familia. Cultura y sociedad en América Latina, Barcelona: Anagrama 2000. 78 Dies ist Thema einer weiteren Chronik von Massenereignissen, bei der es um weltweite Fernsehübertragungen von Fußball geht. Hier ist die Stimmung ebenso global wie lokal. Internationalität wird ebenso evoziert wie mit Nationalismen durchdrungene Mythologien. 79 Dank der Massenmedien vermögen Kulturen, einen je partikulären Akzent, z.B. des ›barrio‹, mit internationalen, grenzüberschreitenden Bewegungen zu verbinden. Nationale Mythen sind zwar auch darin nicht auszurotten, doch werden sie durch den Witz der Alltagskulturen gleichsam demontiert. 80 Es geht z.B. um die Migrationen des Kinos als Phänomen des Borderland zwischen Kalifornien und Mexiko. Gegenüber Hollywood empfindet man zwar Respekt, aber die Anpassung an die technologischen und kulturellen Determinanten verschiedener lateinamerikanischer Länder und der äußerst lebendige Dialog mit dem nationalen Publikum ändern auch die Gesetze Hollywoods. 290
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das Medium Kino ergibt sich z.B. ein Quantensprung: Die tägliche Assimilation von ›Geschmack‹ und ›Stil‹ anderer Völker macht bewusst, dass Traditionen ein internationales Phänomen sind. Aires de familia ist die Geschichte der internationalen, transkulturellen und transmedialen Bewegungen der Massen in Lateinamerika. Die historische Kohärenz ist nicht durch die Geschichte der Nation, des Geistes (wie noch im 19. Jahrhundert), der Zivilgesellschaft oder der Intellektuellen (wie im 20. Jahrhundert) gegeben, allesamt Konzepte, die Verortungen und Ausgrenzungen verantwortet haben (als ›gleba‹, ›vulgo‹, ›populacho‹ etc.). Die Kohärenz der Geschichte Monsiváis’ liegt vielmehr in der Suche nach den kulturellen und medialen Transformationen innerhalb von und zwischen Kulturen, denn erst aus diesen entspringen kulturelle und soziale Kräfte. ›Massenkultur‹ heißt also jener durch die massenmediale Kommunikation geöffnete, dynamische Raum zwischen den Kulturen. Die ausgehend von diesen Räumen geschriebene Kulturgeschichte Mexikos ist weit entfernt von der offiziellen, sakralisierten Kultur der Dichterfürsten, von der Moralisierung der Armut und der Gewalt, vom Epos der Mexicanidad und deren tragischer Auslegung in der Figur der soledad und ihrer Mythen. Hier ist der Dichter nicht autonom in Bezug auf die Masse und steht nicht im Gegensatz zur Technik und Massengesellschaft. Vielmehr wird die Kreativität aus den Mitteln der Technik gewonnen, die zwar den Verlust der (elitären) Aura herbeiführen, aber – etwa durch die technische Montage – die Chance der Irritation und Transformation offizieller Diskurse eröffnen. Gattungen, Identitäten, Geschichte, Elite- und Massenkultur erscheinen dann als zufällige und variable Verortungen.
7 . M a ss e n m e d i e n u n d A l t e r i t ät : E i n A u sb l i c k Die Medialität der (ikonischen, akustischen und schriftlichen) Zeichen steht prinzipiell im Zusammenhang mit zwei Formen des Mediums Sprache: Einerseits mit einer Form, die gesellschaftlichen Sinn vermittelt und in der mündlichen oder geschriebenen Rede medienspezifische Aktualisierungen der phonozentrischen Form der Sprache und ihrer phatischen Funktion betont. Hier leistet die Massenmedialisierung der Verbreitung erfahrungsloser Informationen Vorschub, wie Walter Benjamin in Zusammenhang mit der Entstehung des Massenjournalismus meinte. Andererseits ist sie mit einer Form verbunden, die zum Ausdrucksraum von
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Alteritäten und Differenzen wird.81 Diese Formen sind natürlich nur heuristisch zu trennen und ändern ihre Funktionen je nach dem Medium, mit dem sie zusammentreffen. Im Roman kann z.B. der Einschub oraler Stimmen als Indiz und als Metapher einer irreduziblen Eigenheit fungieren, die nicht Identität, sondern vielmehr ein partikuläres Idiom ist, das die Differenz einschreibt. Diese Stimmen können fremde, kontingente und zufällige Alteritäten markieren, die in symbolische Sinneinheiten, in Identitätssysteme einbrechen und diese perturbieren.82 Die Differenz ist mit dem semiotisch-szientistisch konzipierten System symbolischer Generierung und Speicherung von Sinn nicht ganz zu erfassen. Tatsächlich interpretiert die Kommunikationswissenschaft die Innovationsschübe als technologische Steigerung der Kommunikation.83 Die Stärkung der phatischen Funktion bei der Informationsvermittlung84 gilt als solidarisierendes und stabilisierendes Moment. So beruft sich die Forschung zu den technologischen Medien, insbesondere zum Transmedium Internet, immer mehr auf pragmatische Ansätze. Man fragt sich dabei, ob nicht kommunikationswissenschaftliche Utopien, die die Steigerung der Informationsmenge mit dem Zuwachs an kommunikativer 81 In Zusammenhang mit dem Gedächtnis vgl. V. Borsò: Gedächtnis und Medialität. 82 In diesem Sinne habe ich auch bei Monsiváis z.B. zwischen dem akustischen Modus der Oralität als Differenz zur Schrift und einer Oralität unterschieden, die eine phatische und rhetorische Stütze der öffentlichen, politischen Rede sein kann. Vgl. Vittoria Borsò: »De la ontología de la oralidad a la modulación oral de la escritura. Problemas de la oralidad en México: un análisis discursivo«, in: Walter B. Berg/Markus Klaus Schäffauer (Hg.), Oralidad y Argentinidad: estudios sobre la función del lenguaje hablado en la literatura argentina, Tübingen: Narr 1997, S.122-139. 83 Hier wird das Innovationspotenzial formal-technischer Spezifika der neuen Medien abermals als Steigerung der Kommunikation eingeschätzt: Potenziell (fast) unendliche Reproduzierbarkeit, Wiederholbarkeit, Vermittlung in Echtzeit und interaktive Kommunikation, Kombinierbarkeit und Weiterverarbeitung von Zeichen, Beschleunigung der Prozesse und der Verbindungen und damit inhaltlich der Zuwachs der Angebote für die Nutzer, Steigerung der Kreativität und des Bild- und Informationsangebotes, wobei mithilfe des Internets jedes in einer zugänglichen Datenbank abgelegte Werk in Echtzeit abgerufen werden kann. Wegen der Wiederholbarkeit und Echtzeit wird das Internet als ein neues Medium der Vertrauenssolidarität, Interaktivität und Positionierung realer Kontexte eingestuft. Vgl. http://europa.eu.int/ISPO/convergencegp/workdoc/1284en.html, 28.07.2007. 84 Die Telepräsenz suggeriert visuelle, akustische, taktile Evidenzen, die als funktional-inhaltliche, d.h. kognitive Charakteristika für die face-to-faceKommunikation gedeutet werden. 292
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Kompetenz von Individuen und Gesellschaften gleichsetzen, nicht einen Normalisierungseffekt85 auf die kulturellen Differenzen heutiger postindustrieller Gesellschaften haben. Je mehr die neuen Technologien Hybride produzieren, d.h. topographisch und zeitlich Fremdes aneinander binden und Heterogenes entstehen lassen, desto mehr wird das Heterogene durch die These der Informationsverbreitung in medial vernetzten Gesellschaften diskursiv und epistemologisch reguliert. Eine ähnliche Rolle haben Ende des 19. Jahrhunderts nationale Mythen übernommen. Sie haben dazu beigetragen, die vom Historismus herbeigeführte Pluralisierung der Vergangenheit86 zu normalisieren. In Opposition zum kommunikationswissenschaftlichen Optimismus wird vonseiten der Kunst gefragt, ob nicht ein politisch gewollter Realfunktionalismus die kritikwürdigen Aspekte der Konvergenz vergessen lässt. Meint ›Medienkonvergenz‹ die Dominanz der phatischen Funktion im Sinne der Steigerung der Informationsvermittlung, so birgt dies auch die Gefahr, dass wegen des Verschwindens der Unterscheidungen zwischen Diensten auch Inhalte homologisiert werden. Die steigende Konzentration von Kapital und Marktmacht87 und die daraus folgende Transformation der Kunst in Cyberspektakel und Megaindustrie steht überdies gegen das freie Spiel kreativer Entwicklungen in artistischer und technischer Hinsicht. Dass Walter Benjamin auch dies vorweg genommen hat, 85 Wie Jürgen Link eindrucksvoll gezeigt hat, ist der Medienkonsum ein mächtiges Normalisierungsdispositiv, das Material montiert, um »den perfekten Effekt eines zufälligen Samples zu suggerieren: Die flexibelnormalistische Struktur eines exemplarisch eindimensionalen Diskurs-Mix aus dem, was weiterhin Politik heißt, aus Verkehrsnachrichten, Wetter, Wirtschaft, aus Populärwissenschaft, Geschichte, ›Kultur‹ (besonders ›Theater‹) und immer und immer wieder Sport kommt ohne jede ›satirische‹ oder ›ironische‹ Überzeugung aus.« Jürgen Link: Versuch über den Normalismus, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 67. 86 Eine ähnliche Rolle haben Ende des 19. Jahrhunderts nationale Mythen übernommen. Sie haben dazu beigetragen, die vom Historismus herbeigeführte Pluralisierung der Vergangenheit zu normalisieren. Vgl. den Aufsatz zu Bourget und Barrès von Ulrich Schulz-Buschhaus: »Fin de siècle und Choc der Multiplizität«, in: Vittoria Borsò/Björn Goldammer (Hg), Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Baden-Baden: Nomos 2000, S. 149-163. 87 Vgl. Ute Bernhardt: »Monopoly. Zu den ökonomischen Hintergründen der Medienkonvergenz«, in: http://www.sommerakademie.de/1999/bernhardt. index.html, 16.08.2007. Zur Austreibung der Differenz aus dem Spektakel virtueller Bilder vgl. Jean Baudrillard/Marc Guillaume: Figures de l’altérité, Paris: Descartes & Cie 1994. 293
DAS ANDERE DENKEN, SCHREIBEN, SEHEN
sehen wir im Essay zur Reproduzierbarkeit: »Der Film antwortet auf das Einschrumpfen der Aura mit einem künstlichen Aufbau der ›personality‹ außerhalb des Ateliers. Der vom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht«88– eine angemessene Beschreibung der Ästhetik des Spektakels, die heute auch die Mediatisierung der Politik bestimmt.
L i t e r at u r Abels, Heinz: Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie, Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. Barthes, Roland: La chambre claire, Paris: Seuil 1980. Ders.: »Visualisation et langage«, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. II, hg. von Éric Marty, Paris: Seuil 2002, S. 876-881. Ders.: »De la parole à l’écriture«, in: La quinzaine littéraire, 1-15 mars (1974), S. 9-13. Bataille, Georges: »Histoire de l’œil«, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, Premiers écrits, 1922-1940, Paris: Gallimard 1970, S. 9-78. Ders.: »Œil«, in: Œuvres complètes, Bd. I, S. 187-189. Ders.: »Le gros orteil«, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, S. 200-204. Baudrillard, Jean/Guillaume, Marc: Figures de l’altérité, Paris: Descartes & Cie 1994. Belting, Hans: Bild und Kult, München: Beck 1990. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. I.1-V.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977-1982. Ders.: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1 (1977), S. 368-385. Ders.: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.1 (1977), S. 203-435. Ders.: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2 (1978), S. 605-653. Ders.: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2 (1978), S. 471-508. Ders.: »Das Passagen-Werk«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V.2 (1982), S. 655-1063.
88 W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 492. 294
MEDIENKULTUR: MEDIENTHEORETISCHE ANMERKUNGEN
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DAS ANDERE DENKEN, SCHREIBEN, SEHEN
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MEDIENKULTUR: MEDIENTHEORETISCHE ANMERKUNGEN
Mecke, Jochen: »Im Zeichen der Literatur: Literarische Transformation des Films«, in: ders./Volker Roloff (Hg.), Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 97-123. Merleau-Ponty, Maurice: Le visible et l’invisible, Paris: Gallimard 1964. Monsiváis, Carlos: Los rituales del caos, Mexiko: Era 1995. Ders.: Entrada libre. Crónicas de la sociedad que se organiza, Mexiko: Era 1997. Ders.: Aires de familia. Cultura y sociedad en América Latina, Barcelona: Anagrama 2000. Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien, New York: Springer 2002. Pethes, Nicolas: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Dekonstruktion nach Walter Benjamin, Tübingen: Niemeyer 1999. Petitdemange, Guy/Rolland, Jacques: Autrement que savoir. Emmanuel Lévinas, Paris: Osiris 1986. Rey-Debove, Josette/Alain Rey (Hg.): Le Nouveau Petit Robert, Paris: Le Robert 1993. Sandbothe, Mike: Pragmatische Medienphilosophie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001. Schmidt, Siegfried J./Guido Zurstiege: Orientierung Kommunikationswissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000. Schulz-Buschhaus, Ulrich: »Fin de siècle und Choc der Multiplizität«, in: Vittoria Borsò/Björn Goldammer (Hg), Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Baden-Baden: Nomos 2000, S. 149-163. Waldenfels, Bernhard: »Nähe und Fremde des Leibes«, in: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 11-24. Ders.: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Ders.: Sinnesschwellen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. Žižek, Slavoj: Lacan in Hollywood, Wien: Turia & Kant 2000.
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BIBLIOGRAPISCHE NACHWEISE Die Beiträge sind erstmals in folgenden Publikationen erschienen. Sie werden hier abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der jeweiligen Verlage. »Michel Foucault und Emmanuel Levinas – zum ethischen Auftrag der Kulturwissenschaften«, in: Jürgen Link/Rolf Parr (Hg.), kultuRRevolution 31 (1995), S. 22-30. »Utopie des kulturellen Dialogs oder Heterotopie der Diskurse?«, in: Klaus W. Hempfer (Hg.), Poststrukturalismus-DekonstruktionPostmoderne, Stuttgart: Steiner 1992, S. 95-117. »Foucault und Binswanger: der Traum, der Tod und der Andere«, in: Rudolf Heinz/Tress, Wolfgang (Hg.), Traumdeutung. Zur Aktualität der Freudschen Traumtheorie, Wien: Passagen-Verlag 2001, S. 117128. »Grenze und Entgrenzung. Konvergenzen der Moderne bei Guiseppe Ungaretti«, in: Andreas Gelz u.a. (Hg.), Korrespondenzen. Literarische Imagination und kultureller Dialog in der Romania. Festschrift zum 60. Geburtstag von Helene Harth, Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 81-108. »Baudelaire, Benjamin und die Moderne(n)«, in: Bernd Kortländer/Hans T. Siepe (Hg.), Baudelaire und Deutschland – Deutschland und Baudelaire, Tübingen: Narr 2005, S. 105-125. »Proposte della letteratura del Novecento per il nuovo millennio: Lezioni Americane di Italo Calvino«, in: Enrico Malato u.a. (Hg.), La civile letteratura. Studi sull’Ottocento e Novecento offerti ad Antonio Palermo, Bd. II, Neapel: Ligurio 2002, S. 373-392. »›Zeitbild‹ – Bildräume. Visualität und Zeitlichkeit in Gustave Flauberts Salammbô«, in: Wolfgang Lange/Jürgen Paul Schwindt/Karin Westerwelle (Hg.), Temporalität und Form. Konfigurationen ästhetischen und historischen Bewußtseins, Heidelberg: Winter 2004, S. 197-220. »Luis Buñuel: Film, Intermedialität und Moderne«, in: Ursula LinkHeer/Volker Roloff (Hg.), Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt: WBG 1994, S. 159-179. »Pasolinis Decameron oder eine kinematographische ›Divina Mimesis‹ – Mediale Schwellen zwischen Malerei und Film«, in: Jochen Me299
DAS ANDERE DENKEN, SCHREIBEN, SEHEN
cke/Volker Roloff (Hg.), Kino(Ro)Mania. Intertextualität und Intermedialität in der Romania, Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 355-374. »Medienkultur: Medientheoretische Anmerkungen zur Phänomenologie der Alterität«, in: Markus Klaus Schäffauer/Joachim Michael (Hg.), Massenmedien und Alterität. Frankfurt/Main: Vervuert 2004, S. 3665.
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Lettre Monika Leipelt-Tsai Aggression in lyrischer Dichtung Georg Heym – Gottfried Benn – Else Lasker-Schüler
Stefan Tigges (Hg.) Dramatische Transformationen Zu gegenwärtigen Schreibund Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater
Juni 2008, 390 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN: 978-3-8376-1006-2
Februar 2008, 386 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-512-3
Vittoria Borsò das andere denken, schreiben, sehen Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft (hg. von Heike Brohm, Vera Elisabeth Gerling, Björn Goldammer und Beatrice Schuchardt)
Monika Ehlers Grenzwahrnehmungen Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist – Stifter – Poe
Juni 2008, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-821-6
Stefan Hofer Die Ökologie der Literatur Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie zu Werken Peter Handkes
Anja K. Johannsen Kisten, Krypten, Labyrinthe Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller März 2008, 240 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-908-4
Fernand Hörner Die Behauptung des Dandys Eine Archäologie März 2008, 356 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-913-8
2007, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-760-8
2007, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-753-0
Christina Burbaum Vom Nutzen der Poesie Zur biografischen und kommunikativen Aneignung von Gedichten. Eine empirische Studie 2007, 374 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-770-7
Ulrike Bergermann, Elisabeth Strowick (Hg.) Weiterlesen Literatur und Wissen 2007, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-606-9
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Céline Kaiser Rhetorik der Entartung Max Nordau und die Sprache der Verletzung 2007, 242 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-672-4
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Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.) Transkulturation Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt 2007, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-520-8
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