Das andere Blut: Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830-1930 9783412213862, 9783412206345


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Das andere Blut: Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830-1930
 9783412213862, 9783412206345

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Das andere Blut

Reihe Jüdische Moderne Herausgegeben von Alfred Bodenheimer und Jacques Picard Band 12

Caspar Battegay

Das andere Blut Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, Basel, sowie des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Max Oppenheimer: Der Blutende/Bleeding Man (1911) © Museum of Art Kansas (Accession Number: 1975.0042)

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20634-5

„Nichts von alldem ist wahr, es gibt kein anderes Blut, es gibt nichts [...]. Es gibt bloß die gegebenen Umstände und in ihnen neue Gegebenheiten.“ Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen

Inhalt

Danksagung .............................................................................................. 11 I.  Das Blut des Bruders .......................................................................... 13 1. Rede vom Blut ........................................................................................ 13 Rhetorik des Bluts – „Blut“ und das Wissen vom Leben – Metaphysik und das rituelle Blut: Die Sendung Semaels (Arnold Zweig) – Genealogie und das reine Blut: Das Blut ( Jakob Julius David) – Ökonomie und das kostbare Blut: Licht im Lager (Irma Singer) 2. Das andere Blut: Systematisierungen....................................................... 26 Achim von Arnim – Biopolitische Wende der Rede vom Blut (Michel Foucault) –„Blut“ als Medium der Unterscheidung – Von der Eucharistie zum Geldkreislauf – Die Schrift des Bluts 3. Gemeinschaft schreiben: Theoretische Grundlagen................................. 37 Gemeinschaft und Gesellschaft – Die Grenzen der Gemeinschaft (Helmuth Plessner) – Das Imaginäre – Sprache und Politik (Cornelius Castoriadis) 4. Deutsch-jüdisches Schreiben?.................................................................. 45 Herkunft, Stoff, Diskurs – Sprache und Heilung – „Zirkulation der Zustände“ (Gilles Deleuze/Félix Guattari) – Modelle (Theodor W. Adorno) II.  „Die Weltblutfrage“ – Heinrich Heine............................................... 56 1. Blutströme.............................................................................................. 1.1 Der narzisstische Messias . ............................................................. Erste Briefe – Traumbilder 1.2 Einsamkeit ..................................................................................... Junge Leiden – Lyrisches Intermezzo – Nordsee – Herr von Schabelewopski 1.3 Selbstironie statt Selbstmord........................................................... Briefe – Almansor 2. Das Blut Israels.......................................................................................

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2.1 2.2 2.3

Inhalt

Jagdszene......................................................................................... 76 Reisebilder: Die Nordsee – Jakob/Israel und Esau/Edom „fast wie du“..................................................................................... 81 An Edom! – Deutschland. Ein Wintermährchen Abbrechen....................................................................................... 90 Der Rabbi von Bacherach – Das Chad Gadja-Lied – Die Damaskusaffäre von 1840

3. Im Namen des Bluts............................................................................... 97 3.1 Der Name des Bluts........................................................................ 97 Vitzliputzli 3.2 Name und „Blut“............................................................................. 102 Donna Clara 3.3 Namenloses Blut............................................................................. 119 Schlachtfeld bey Hastings III.  Von „Mammon“ zu „Zion“ – Moses Hess, Max Nordau,   Martin Buber..................................................................................... 122 1. Ein radikaler Jude – Moses Hess............................................................ 123 1.1 Gott und Geld................................................................................. 123 Moses Hess und Heinrich Heine – Die heilige Geschichte der Menschheit 1.2 „Blut“ und Geld............................................................................... 131 Philosophie des Geldes (Georg Simmel) – Über das Geldwesen – Pau lus als Modell 1.3 „Blut“ und Organisation.................................................................. 154 Rom und Jerusalem 2. Muskeln lügen nicht – Max Nordau....................................................... 162 Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit – Politischer Zionismus und bürgerlicher Idealismus – Turnen als Metapher 3. Der Sound des Bluts – Martin Buber..................................................... 174 3.1 Einstimmung................................................................................... 174 Kulturzionismus – Nationalismus und Judentum (Felix Weltsch) – Buber und seine Einflüsse – „Blut“ als Element des Sounds 3.2 „das, was ich das Blut nannte“......................................................... 179 Reden über das Judentum

Inhalt

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IV.  „Blutsgemeinschaft“ und Sprachgemeinschaft –   Franz Rosenzweig............................................................................. 190 1. Volk, Glauben und „Blut“........................................................................ 191 1.1 Offenbarung und „Blut“.................................................................. 191 Rosenzweig und Buber: Atheistische Theologie 1.2 „Gemüt“ und „Geblüt“.................................................................... 198 Die „Gritli-Briefe“ – Love of Letters – Theorie des Antisemitismus – Wiltfeber der ewige Deutsche (Hermann Burte) – Die Unverfüg barkeit des Wirklichen 2. Kritik des reinen Lebens......................................................................... 213 2.1 „Blut“ und Politik............................................................................ 216 Der Stern der Erlösung 2.2 „Blut“ und Souveränität................................................................... 223 Kritik der Gewalt (Walter Benjamin) – Homo Sacer (Giorgio Agamben) 3. „Sprache ist doch mehr als ‚Blut‘.“.......................................................... 228 Späte Briefe – Sprache im Stern der Erlösung V.  Das Schweigen des Bluts – Franz Kafka........................................ 237 1. Ambivalenz............................................................................................. 238 Kafka und der Zionismus: Theorie – Moderne und Ambivalenz (Zyg munt Bauman) 1.1 Plan und Poesie............................................................................... 242 Oxforder Oktavhefte: Schreiben – Der Gracchus-Komplex: „Ziel Fahrt“ – Altneuland (Theodor Herzl) und die Ambivalenz des Ziels 1.2 „Blut“ und Zeit................................................................................ 249 Aschenputtel und die Ambivalenz des Märchens – Beim Bau der chi nesischen Mauer – Kafka und Buber – Der „Blutsturz“ 1.3 „Ein(e) Erbstück Kreuzung“............................................................ 257 2. „Blut“ und Schrift................................................................................... 267 2.1 Ins Fleisch schneiden...................................................................... 267 Die Kinder des Randars (Leopold Kompert) – „Schreibe mit Blut“ (Friedrich Nietzsche) 2.2 „Blut“ und Sinn............................................................................... 271 Das Urteil – In der Strafkolonie – Brith Milah: Theologie der Be schneidung

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Inhalt

2.3 „Durch den Stich [...] unverwundbar werden“................................ 278 Schakale und Araber – Die hermetische Schrift: Notizen im Siebten Oxforder Oktavheft 3. „die stumme Frage“ oder was vom „Blut“ übrigbleibt............................. 285 Ein Brudermord VI.  „That was his story, bad blood“ – Schlusswort............................. 297 Jüdisches Schreiben nach der Shoah – Hebräische Literatur: Die Dame und der Hausierer ( Josef Schmuel Agnon) – Deutsch-jüdische Literatur: Die Blutsäule (Soma Morgenstern) – Amerikanische Literatur: Portnoy’s Complaint (Philip Roth) VII.  Literaturverzeichnis........................................................................... 309 VIII.  Register.............................................................................................. 327

Danksagung

Diese Studie wurde im Dezember 2009 von der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet und ergänzt. An erster Stelle danke ich Alfred Bodenheimer (Basel) für seinen Einsatz, für das große Vertrauen, das er in mich gesetzt hat und für sein Gutachten; ohne ihn wäre diese Arbeit nicht entstanden. Roland Reuß (Heidelberg) hat das Zweitgutachten übernommen; er war ein überaus wertvoller Gesprächspartner und Mentor; ihm danke ich für seine wichtigen Kommentare und seine Großzügigkeit. Heidelberg wäre nicht denkbar ohne Frederek Musall, dem ich hier danke für den intellektuellen Austausch und die Freundschaft; seine Büronachbarschaft fehlt mir bereits. Für vielerlei Anregungen und Anmerkungen danke ich Martin Brasser (Luzern) und Anat Feinberg (Heidelberg). Weitere Hinweise verdanke ich David Biale (University of California), Felix Christen (Zürich), Uta Degner (Salzburg), Martin Endres (Berlin), Hertz Gal (Tel Aviv) und Stefanie Leuenberger (Zürich). Mein herzlicher Dank gilt auch Monika Preuß (Heidelberg) für die sorgfältige Lektüre und die mühevolle Arbeit des Korrigierens. Außerdem danke ich den Organisatoren und Teilnehmenden folgender Kolloquien, vor denen ich diese Arbeit im Entstehen präsentieren durfte und von denen ich wertvolle Hinweise bekam: „Leo-Back-Doktoranden-Kolloquium für deutsch-jüdische Kultur und Geschichte“ 2005 in Hamburg, Kolloquium der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, sowie das „6th International Seminar for Research Students on German-Jewish History and Culture in Modern Times“ des Leo-Baeck-Instituts, Jerusalem 2009. Insbesondere dem LeoBaeck-Institut danke ich für das außerordentlich anregende Seminar in Jerusalem. Meinen Eltern, Yvonne Battegay und Charles Battegay, danke ich für ihr stetes Vertrauen und ihre Unterstützung. Dank ihnen konnte ich jederzeit meinen Weg gehen. Den Jungs danke ich dafür, dass sie die Jungs sind. Sylvia Jaworski danke ich von Herzen, dass sie für mich da ist – und für mehr, als es das beschränkte Genre der Danksagung zulässt. Der abschließende, aber größte, Dank gehört der Kleinsten: Meine Tochter Salomé Orly motiviert nicht nur meine wissenschaftliche Arbeit – sie zeigt mir auch jeden Tag eindrücklich deren Grenzen.

I.  Das Blut des Bruders

1.  Rede vom Blut „Ein seltsamer Saft“, sagte Hochbichler, während er betrübt die Öffnung des Flachmanns gegen seinen Handrücken stieß, um ihm noch einen letzten Tropfen zu entlocken, den er dann abschleckte, „Limpieza de sangue, haben die Spanier gesagt, Reinheit des Bluts, und bei den Nazis hieß das auch so, oder so ähnlich, Rassentheorie jedenfalls. Die größten Verbrechen wurden begangen, weil man an das Blut glaubte. […] Und du darfst jetzt nicht glauben, daß ich irgendwie entschuldigen will oder relativieren, was da passiert ist, aber ich fürchte, daß diese Verbrechen nur deshalb in dieser Größenordnung möglich waren, weil auch die Opfer irgendwie daran geglaubt haben, daß da was dran ist, an der Geschichte mit dem Blut. Nicht jedes einzelne Opfer, natürlich nicht, aber irgendwie, wie soll ich sagen, im allgemeinen haben die Opfer und die Henker das gemeinsam gehabt, diesen irren Glauben.“**

Rhetorik des Bluts: „Blut“ zeigt auf drastische Weise an, wie Sprache mit Gemeinschaft interagiert, sie konstruiert oder ihr radikal entgegengesetzt wird. Die vorliegende Untersuchung der Rede vom Blut im deutsch-jüdischen Schreiben ist von der Überlegung geleitet, dass sich darin eine wesentliche Auseinandersetzung mit Gemeinschaftsvorstellungen deutscher Juden im politischen und theologischen Sinn verbirgt. „Das Blut ist tiefer als alles, was man darüber sagen und schreiben mag.“1 In einem Artikel von 1926 für die Standarte, einer faschistischen „Wochenschrift für den neuen Nationalismus“, fordert Ernst Jünger ein notwendig irrationales Fundament von Gemeinschaften ein, das er mit „Blut“ und „Blutsgemeinschaft“ umschreibt. Diese beiden Schlagworte ziehen sich durch Jüngers gesamte politische Publizistik der 1920er und 30er Jahre, ihre inhaltliche Unschärfe ist Programm. Mit dem Gestus des Mystikers bemüht Jünger den klassischen Topos der Unsagbarkeit: „Nicht durch Worte offenbart sich das Blut. Die Sprache ist * Robert Menasse: Die Vertreibung aus der Hölle. Roman, Frankfurt a. M. 2003, S. 137. 1 Ernst Jünger: „Das Blut“, in: ders.: Politische Publizistik 1919–1933, hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 191–196, hier S. 191.

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Das Blut des Bruders

wie ein Netz, durch dessen Maschen die reichste und bunteste Beute entschlüpft, ehe sie aus der Tiefe zum Licht gezogen wird.“2 Wer heute diese Rhetorik des Bluts analysiert und die sprachlichen Maschen enger ziehen möchte, wer jene „blackbox“3 des Bluts öffnet, wer „Licht“ in die „historisch höchst verwinkelte Symbolik des Blutes“4 bringen will, das heißt zu verstehen versucht, was hier gesagt wird, wenn „Blut“ geschrieben steht, gerät in Gefahr, in jene sprachlose „Tiefe“ zu fallen, die diese selber sprachskeptische Sprache beschwört. Bei dem Versuch, in der diskursiven Sprache der Wissenschaft das Motiv des Blutes zu deuten, mag es dem Wissenschaftler darum wie Wolfram von Eschenbachs Parzival gehen, der angesichts dreier Blutstropfen im Schnee von einem Schwindel erfasst wird und sich in bewusstloser Faszination an traumhafte Bilder verliert. Wie dem entgehen? Der Doppelsinn des Wortes Schwindel bezeichnet vielleicht, wie dies Christina von Braun aufgefächert hat,5 den Komplex des Bluts in vielen Texten. Denn nicht nur die Lüge, oder der wissenschaftliche Irrsinn vom anderen Blut, sondern gerade der damit vorgestellte Zustand physischer Andersartigkeit6 ist für eine Analyse einer Sprache des Bluts von zentraler Bedeutung. Die „Juden“ stehen bei Jünger – der an anderer Stelle zwar von der „Manie“ des Antisemitismus warnt – für „das Fremde“7 schlechthin. In einem anderen Artikel behauptet er: „Die Erkenntnis und Verwirklichung der eigentümlichen deutschen Gestalt scheidet die Gestalt des Juden ebenso sichtbar und deutlich von sich ab, wie das klare und bewegende Wasser das Öl als eine besondere Schicht sichtbar macht.“8 2 Ebd. 3 Dagmar Pöpping: „Blut oder die Metaphysik des Wirklichen – Über einige Grundannahmen rassistischer Theorie“, in: Regina Nössler / Petra Flocke: Blut, Tübingen 1997 (Konkursbuch 33), S. 91–105, hier S. 99. 4 Anselm Haverkamp: „Kritik der Gewalt und die Möglichkeit von Gerechtigkeit: Benjamin in Deconstruction“, in: ders. (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, Frankfurt a. M. 1994, S. 7–50, hier S. 31. 5 Christina von Braun: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich / München 2001. 6 Die Vorstellung eines spezifisch „jüdischen Körpers“ spielt in der vorliegenden Arbeit eine bestimmte Rolle, ohne dass jeweils auf die historischen Kontexte oder auf die damit verbundenen biologischen, politischen und philosophischen Konzepte eingegangen wird, die diese Vorstellung bedingen. Geleistet hat diese Vorarbeiten einerseits Sander L. Gilman: The Jew’s Body, New York / London 1991; andererseits sei verwiesen auf Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997. 7 Ernst Jünger: „Schlusswort zu einem Aufsatze“, in: ders.: Politische Publizistik, S. 538–546, hier S. 544. 8 Weiter: „In dem Augenblick jedoch, in dem der Jude als eine eigentümliche und eigenen Gesetzen unterworfenen Macht unverkennbar wird, hört er auf, am Deutschen virulent und damit gefährlich zu sein. Die wirksamste Waffe gegen ihn, den Meister aller Masken, ist: ihn zu sehen. [...] Im gleichen Maße jedoch, in dem der deutsche Wille an Schärfe und

Rede vom Blut

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Innerhalb dieser Metaphorik des Liquiden benötigt es nur eine kleine Verschiebung, um zur Forderung Karl Brandts, Leibarzt Hitlers und Generalleutnant der Waffen-SS, zu gelangen, „den deutschen Blutstrom restlos vom Judenblut zu befreien.“9 „Blut“ und das Wissen vom Leben: Für die phantasmatischen Verstrickungen von Sprache, Politik und Antisemitismus,10 die den Zeitraum zwischen 1830 und 1930 geistesgeschichtlich prägen, ist das Motiv des Bluts von großer Bedeutung. „Blood […] became a powerful symbolic tool in the promulgation of antiSemitism.“11 Und: „Ein Großteil der Bilder und Mythen des Antisemitismus kreist um das Blut.“12 „Blut“ ist ein machtvolles Symbol für die in der Moderne vermeintlich verlorene Authentizität und Vitalität und steht für das unmittelbare und nicht vermittelbare Leben. Doch übernimmt es auch als vermeintliche Substanz in den Ideologien von „Blut und Boden“ verschiedene strukturierende

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Gestalt gewinnt, wird für den Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu können, unvollziehbarer werden, und er wird sich vor seiner letzten Alternative sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein.“ Ernst Jünger: „Über Nationalismus und Judenfrage“, in: ders.: Politische Publizistik, S. 587–592, hier S. 592. Zitiert nach Cornelia Essner: Die „Nürnberger Gesetze“ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn u. a. 2002, S. 34–35. Was ist Antisemitismus? Diese Frage ist theoretisch nicht leicht zu beantworten, denn Antisemitismus ist seit dem Aufkommen des Wortes in den 1870er Jahren wie Faschismus oder Marxismus immer auch ein Kampfbegriff. Vgl. Georg Christoph Berger Waldenegg : Antisemitismus: „Eine gefährliche Vokabel“? Diagnose eines Wortes, Wien / Köln / Weimar 2003. Für meine Zwecke dient jedoch die klare Definition von Werner Bergmann und Mona Körte im Sinn einer Arbeitsdefinition: „Der Begriff Antisemitismus bezeichnet nicht nur xenophobe, religiöse und soziale Vorurteile gegenüber Juden, sondern darüber hinaus eine antiliberale und antimoderne Weltanschauung, die in der ,Judenfrage‘ die Ursache tief greifender sozialer, politischer, religiöser und kultureller Probleme sieht. Der Begriff umschließt hier, wie es inzwischen im wissenschaftlichen wie alltäglichen Sprachgebrauch üblich geworden ist, alle Formen der Judenfeindschaft: von der Judäophobie der Antike über den christlichen Antijudaismus bis hin zum modernen, nationalistisch und rassistisch geprägten Antisemitismus im engeren Sinn.“ Werner Bergmann / Mona Körte: „Einleitung: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften“, in: dies. (Hg.): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, S. 9–23, hier S. 9. Zu ergänzen wäre hier lediglich ein zeitgenössischer ,linker‘ Antisemitismus, der öfter in so genannten globalisierungskritischen Äußerungen auszumachen ist. – Explizit können die Struktur des Phänomens des modernen Antisemitismus im psychologischen wie im historischen Sinn wie die damit verbundenen Motive in den Quellen schon avant la lettre festgemacht werden. Vgl. dazu den unterdessen klassisch gewordenen Band: Rainer Erb / Werner Bergmann: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860, Berlin 1989. Uli Linke: Blood and Nation. The European Aesthetics of Race, Philadelphia PA 1999, S. 197. Christina von Braun: „Blut und Blutschande. Zur Bedeutung des Blutes in der antisemitischen Denkwelt“, in: Julius H. Schoeps / Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München / Zürich 1995, S. 80–95, hier S. 80.

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Das Blut des Bruders

Funktionen im Wissen vom Leben.13 Metaphysisch zeugt es erstens vom Opfer und davon, dass der imaginäre Jude auf blutsaugerische Weise mit Ritualmorden und Hostienschändung die das Leben transzendierende Erlösungsfunktion des Opfers gefährden könnte. Zweitens scheint ein wie auch immer vorgestelltes „jüdisches Blut“ gefährlich für die Legitimation der Nation; auch die Reinheit der Abstammung bezeugt sich scheinbar im „Blut“. Hier ist jenes „Phantasma der genealogischen physis“ am Werk, das nach Jacques Derridas Analysen des Begriffs des Politischen „in allen Rassismen, in allen Ethnozentrismen, genauer: in allen Nationalismen der Geschichte“ das Drinnen und das Draußen der Gemeinschaft reguliert.14 Die Vorstellung des bodenlosen Juden, des als a-territorial gedachten Jüdischen gefährdet drittens in ökonomischer Weise das gemeinsam akkumulierte Blut, denn „der Jude“ funktioniert als eine essentiell entwertende und an sich wertlose Figur, die das essentiell wertvolle „Blut“ der Nation zu zerstreuen droht. Obwohl es eine Reihe von vorzüglichen kulturwissenschaftlichen Studien15 und Sammelbänden zu den „Mythen des Blutes“16, einige historische Untersuchungen17 und theologische18 sowie philologische19 Studien zum Motiv des Bluts im christlichen Denken und in der europäischen Literatur und Geschichte20 sowie in der antisemitischen Phantasie21 gibt, fehlt bis jetzt eine Monographie zur jüdischen Innenseite der beschriebenen Blutvorstellungen in der modernen Literatur und Philosophie. 13 Alessandro Barberi: „‚Blut und Boden‘. Diskursanalytische Anmerkungen zu einem Motiv im Umkreis der Judenfrage“, in: Mariacarla Gadebusch-Bondio (Hg.): Blood in History and Blood Histories, Firenze 2005, S. 347–364. Dieser Aufsatz bezieht sich im Wesentlichen auf Bemerkungen Michel Foucaults zum Blut in: Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, übersetzt von Ullrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1983, S. 131–145. 14 Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, aus dem Französischen von Stefan Lorenzer, Frankfurt a. M. 2002, S. 136. 15 Bruno Camporesi: Das Blut. Symbolik und Magie, aus dem Italienischen von Wolfgang Stützl, Wien 2004; verwiesen sei auch auf die äußerst materialreiche Studie von Melissa L. Meyer: Thicker than Water. The Origins of Blood as Symbol and Ritual, New York 2005. 16 Christina von Braun / Christoph Wulf (Hg.): Mythen des Blutes, Frankfurt a. M. / New York 2007. 17 Vgl. v.a. die beiden Sammelbände, auf die auch im Folgenden immer wieder verwiesen wird: Anja Lauper (Hg.): Transfusionen. Blutbilder und Biopolitik in der Neuzeit, Zürich / Berlin 2005; und der schon zitierte: Mariacarla Gadebusch-Bondio (Hg.): Blood in History and Blood Histories, Firenze 2005. Beide Bände beziehen sich auf die Anregungen Foucaults. 18 Rainer Kampling: Das Blut Christi und die Juden. Mt 27, 25 bei den lateinischsprachlichen christlichen Autoren bis zu Leo dem Grossen, Münster 1984. 19 Anne von der Heiden: Der Jude als Medium. „Jud Süß“, Zürich / Berlin 2005, S. 63-110. 20 Caroline Walker Bynum: Wonderful Blood. Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond, Philadelphia 2007. 21 Mathias Eidenbenz: „Blut und Boden“. Zu Funktion und Genese der Metaphern des Agrarismus und Biologismus in der nationalsozialistischen Bauernpropaganda R. W. Darrés, Bern u.a. 1993.

Rede vom Blut

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In dieser Studie wird durchgehend der Begriff des deutsch-jüdischen Schreibens verwendet, da es nicht nur um im engen Sinn literarische (also fiktive) Texte geht, sondern ebenso sehr um philosophische, essayistische oder weltanschauliche Texte, um Tagebücher oder Briefe. Wirft man auch nur einen oberflächlichen Blick auf den Reichtum dieser Dokumente, wird schnell deutlich, dass Juden selber sich der Rhetorik des Bluts nicht entziehen konnten oder wollten. Darauf hat David Biale in einer magistralen Studie, die den Bogen vom Mittelalter bis zur Neuzeit schlägt, hingewiesen: „The onslaught of modern antisemitism made it impossible for Jews to ignore the symbolism of blood, wether in the form of the ritual murder accusation or in the pseudo-scientific language of race.“22 Juden hätten „die Sprache des Bluts“ adaptiert, seine Symbole, Mythen, Bilder identifikatorisch übernommen – le peuple juif rêve quand même.23 Wenn das Wissen vom Leben in einer bestimmten Zeit in verschiedenen „Wissensordnungen“24 formuliert wird – Metaphysik, Genealogie und Ökonomie – dann lässt sich nämlich feststellen, dass auch jüdische Autoren das „Blut“ als Leitsignifikant diesen drei Ordnungen einfügen, allerdings mit wichtigen Verschiebungen gegenüber den herrschenden Redeweisen und Vorstellungen. Die Art und Weise wie dies geschieht mittels Textlektüren zu untersuchen, ist die Absicht der vorliegenden Studie. Ich möchte zeigen, dass sich in der Rede vom Blut nicht nur völkischer Rassenwahn bezeugt, sondern privilegiert auch moderne jüdische Identität kristallisiert. An der unterschiedlichen Funktion des „Bluts“ in Schriften säkularer deutscher Juden lässt sich eine jeweils unterschiedliche Selbstverortung ablesen. Das Motiv des Bluts gerät zu einem Leitmotiv in der Konstruktion eines Judentums in der Moderne beziehungsweise einer Auseinandersetzung mit der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit und politischer, religiöser, kultureller oder nationaler Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben. Die analysierten Texte werden somit als nicht-lineare Gegengeschichte zu einer fortlaufenden und polyphonen europäischen Erzählung vom „Blut“, die damit zunehmend die Exklusion des europäischen Judentums denkt, gelesen. Ich frage danach, inwiefern jüdische Autoren, wenn sie die Rede vom Blut aufgreifen, nicht nur antworten, sondern mit Figuren der jüdischen Tradition arbeiten, diese transformieren und neu fruchtbar machen – oder bre-

22 David Biale: Blood and Belief. The Circulation of a Symbol between Jews and Christians, Berkeley CA 2007, hier S. 162. 23 Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe / Jean-Luc Nancy: „Le peuple juif ne rêve pas“, in: Adélie et Jean-Jacques Rassial (Hg.): La Psychoanalyse est-elle une histoire juive? Colloque de Montpellier, Paris 1981, S. 57–92. Labarthes und Nancys enorm inspirierendem Text soll hier entgegengehalten werden, dass das „jüdische Volk“, wenn es als Volk formiert wird, ganz gegen das biblische Bilderverbot sehr wohl Bilder braucht, um sich als sich selbst zu formieren. 24 Barberi: „‚Blut und Boden‘“, S. 347.

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Das Blut des Bruders

chen und verneinen.25 Anhand von drei Beispielen soll meine Absicht deutlich werden. Gleichzeitig wird dabei auch ersichtlich, inwiefern sich mein Herangehen von demjenigen Biales unterscheidet, nämlich in der genuin philologischen Methode der Texterschließung. Metaphysik und das rituelle Blut: Eine Masse apologetischer Schriften gegen die Ritualmordbeschuldigung zeugt vom Schrecken moderner Juden angesichts eines existentiell bedrohlichen Mythos. Der bluttrinkende Jude ist ein bis ins 20. Jahrhundert wirkendes „allgemein akzeptiertes Kulturmuster des christlichen Europa, das kirchenpolitisch und zeitweise staatspolitisch, normative Geltung hatte.“26 Ritualmordprozesse begleiten und beeinflussen die Entwicklung und die Ideengeschichte des modernen Judentums, am meisten vielleicht die so genannte Damaskus-Affäre Mitte des 19. Jahrhunderts27 und der BeijlisProzess von 1910-1912. Das komplexe Gemenge aus religiösen Legenden, Verschwörungen und dramatischen Gerichtsfällen im Osten beeindruckte und beschäftigte westeuropäische Intellektuelle stark und war wie prädestiniert für literarische Bearbeitungen. Basierend auf dem aufsehenerregenden Prozess um ein verschwundenes Mädchen im südungarischen Ort Tisza Eszlár, in dem die 25 Gerade dem Judentum sind religiöse Vorschriften, die das „Blut“ betreffen, konstitutiv. So ist in erster Linie der Verzehr von Blut und das Vergießen von menschlichem Blut nicht erlaubt (Gen 9, 4). Wer diese Verbote übertritt, dem wird das Vergehen als „Blutschuld“ angerechnet. Weiter gelten die Gesetze von Reinheit und Unreinheit, deren Grundlage das Buch Leviticus bildet. Die Identifizierung von „Blut“ und Leben wird dort mit dem Opferritual verbunden, welches eine reinigende Funktion hat. Die Berührung mit Blut aber, etwa mit dem Menstruationsblut, ist verunreinigend, eine Frau muss sich nach Geburt und Menstruation rituell reinigen. Vgl. etwa Lev 12. Auf die in der reichhaltigen Kommentarliteratur und auch in der neueren Forschungsliteratur enthaltenen Diskussionen zu diesen Komplexen kann ich in dieser Arbeit nur am Rand eingehen, verwiesen sei auf die einschlägigen Teile bei Biale: Blood and Belief, S. 9–122; sowie William K. Gilders: Blood Ritual in the Hebrew Bible, Baltimore 2004. 26 Rainer Erb: „Zur Erforschung der europäischen Ritualmordbeschuldigung“, in: ders. (Hg.): Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung, Berlin 1993, S. 9–16, hier S. 9. 27 Die Damaskus-Affäre von 1840 ist nach dem Urteil Jonathan Frankels für die jüdische Geschichte von nicht zu unterschätzender Bedeutung: „In the context of jewish history, the crisis of 1840 is, perhaps not as a seed – but as a garden, – plot, containing a variety of historical trends at a very different stage of growth.“ Jonathan Frankel: The Damascus Affair. ‚Ritual Murder‘, Politics, and the Jews in 1840, Cambridge 1997, S. 445. Auch von radikal antisemitischer Seite wird die Wichtigkeit dieses Ereignisses bemerkt: „Es war die Ermordung des [...] katholischen Priesters, welche zum erstenmal im 19. Jahrhundert wieder die Aufmerksamkeit der weitesten Kreise auf die Blutpraxis der Juden lenkte. Die ganze civilisierte Welt geriet damals in Aufregung [...]; aber auch die ganze Judenschaft Europas erhob sich mit bis dahin nie gesehener Einmütigkeit und trat mit beispielloser Frechheit ein für die geständigen und zum Tode verurteilten Mordgesellen.“ Bernadin Freimut: Die jüdischen Blutmorde von ihrem ersten Erscheinen in der Geschichte bis auf unsere Zeit, Münster 1895, S. 43–44.

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lokalen Juden beschuldigt wurden, dem Mädchen aus rituellen Gründen an Pessach den Kopf abgeschnitten zu haben, verfasst der junge Arnold Zweig ein 1915 mit dem Kleistpreis ausgezeichnetes Theaterstück unter dem Titel Ritualmord in Ungarn, das nach dem Krieg als Die Sendung Semaels in Wien uraufgeführt wird. Das Stück wurde zum Beispiel auch von Franz Kafka gelesen, der an einer Stelle in Tränen ausbrach.28 Die Gattungsbezeichnung „Jüdische Tragödie“29 zeigt an, dass es Zweigs Intention war, die klassische Form europäischer Dichtung mit dem Judentum zu synthetisieren. Gleich den antiken Göttern bei Homer und in den griechischen Sagen treten im Stück Gott und Satan (der hier mit dem Namen „Semael“, der eigentlich den Engel des Todes bezeichnet, belegt wird), Dämonen und Engel aus der Kabbala und Gestalten wie Rabbi Akiva und der Baal Shem Tov auf, beeinflussen die Handlung und lösen sie aus.30 Ähnlich wie im Faust beginnt das Stück mit einer Unterhaltung zwischen dem Teufel und der „Stimme“. Diese will dem „[A]bgefallenen vom Sinn“31 demonstrieren, wie das auserwählte Volk in der Verzweiflung nicht nur analog zur Hiob-Geschichte seinem Gott treu bleibt, sondern zu ihm zurückkehrt. „Das Herz meines Volkes soll erglühen in Läuterung. […] Bringe die Lüge des Blutes über die Häupter Israels, und diene, Knecht!“32 Trotz der tragischen Ereignisse – ein jüdischer Junge wird unter Folter zu einer Falschaussage gegen seine Familie gezwungen – ist das Stück getragen von einem optimistischen Gestus. Die antisemitischen Beamten und Aufrührer werden bestraft, der instrumentalisierte Junge, der sich aus Schande über seinen Verrat selbst ein Messer ins Herz sticht, soll „im Lande der Väter wiedergeboren werden“, „in Freiheit, Wissen und Freude.“33 Gegenüber der „Lüge des Bluts“ steht der „Sinn“: Die Vernunft des aufgeklärten Staatsanwalts und die zionistisch gewendete und messianisch aufgeladene Besinnung auf das Judentum, die sich in den mythologischen Figuren zeigt.34 Eindrücklich ist im Stück aber vor allem die gar nicht unsinnige Rede Semaels: 28 Vgl. diese Studie 5.3. 29 Arnold Zweig: Die Sendung Semaels. Jüdische Tragödie in fünf Aufzügen, München 1920 (Zwölfte und dreizehnte Auflage von „Ritualmord in Ungarn“). Vgl. Biale: Blood and Belief, S. 164–175. 30 Mit diesem Versuch bezieht sich Zweig unter anderem auf die zu der Zeit sehr populäre Sammlung biblischer und anderer Geschichten mit dem Titel Sagen der Juden von Bin Gorion, der er den Namen „Semael“ und andere Figuren entnimmt. Vgl. Micha Josef Bin Gorion: Die Sagen der Juden. Von der Urzeit: Jüdische Sagen und Mythen, Frankfurt a. M. 1913. 31 Zweig: Die Sendung Semaels, S. 9. 32 Ebd., S. 10. 33 Ebd., S. 123. 34 Zu einer Einordnung des Stücks in den literaturgeschichtlichen und vor allem zionistischen Kontext vgl. Sebastian Wogenstein: „Jewish Tragedy and Caliban: Arnold Zweig, Zionism and Antisemitism“, in: The Germanic Review 83, 4 (2008), S. 365–389.

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Die Lüge des Blutes: da sehe ich den Leib alles Lebendigen aufgeschnitten unten, tief. In roten Flüssen rinnt’s durch die Adern, umkreist das Leben; rot und wolkig dampfts empor, witternde Dünste heben sich in obere Sphären. Die Seele riecht’s voll Grauen – es fällt sie an, tränkt sie mit Gift und Trunkenheit, löscht die Verbote, alle Gier leckt sich das Maul. Es schrie zum Himmel um Habel; den Mund der Erde schaudert’s und war ihm widerlich zu trinken.35

Der Teufel skizziert eine entfernt an Freud erinnernde Topik der Seele. Das „Blut“ wird „unten, tief“ in der somatischen Schicht, in den Adern verborgen, verortet und es wird ihm, wenn es „in obere Sphären“ gelangt, eine psychologische Wirksamkeit zugeschrieben. Der Lebenssaft verkehrt sich dann in „Gift“ und wie Alkohol löst es „Trunkenheit“ aus, die den Menschen zum archaischen Brechen von Verboten reizt. Das „Blut“ ist dem Trieb verwandt, der, wie Freud ihn in einer ebenfalls 1915 erschienen Schrift beschreibt, „als ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize“36 betrachtet werden kann. Einige Jahre später vermutet Freud im Destruktionstrieb, der sich blindwütig gegen Außenwelt und andere Menschen richtet, die Ableitung des in jedem Organischen vorhandenen Todestriebs – der gleich dem „abgefallenen vom Sinn“ stets den Tod will und doch das Leben schafft.37 Die sinnlos erscheinende Aggression hat ihren Sinn im biologischen Prozess des sich notwendig erneuernden Lebens. Wenn das „Blut“ nach Außen kommt, drängen auch destruktive Triebe aus dem „Untersten“ und fordern ihre Erfüllung. Die historische „Lüge des Bluts“ hat ihren Grund hier im „Blut“ selbst. Der Teufel weiß das schon: „Schwach ist der Mensch vor den Düften des Bluts; Haß, der im Untersten kauert, und der Trieb der Wut schreien laut auf.“38 In eine poetische Teufelsrede verkleidet, verbindet Zweig anthropologische Motive für die Ritualmordlegende mit dem Mord an Abel im vierten Kapitel des ersten Buchs Mose: „Es schrie zum Himmel um Habel; [...].“39 Gott spricht dort zu Kain: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir auf von dem Boden.“ Oder nach Luther: „Die Stimme des Bluts deines Bruders schreit zu mir

35 Ebd., S. 18. 36 Sigmund Freud: „Triebe und Triebschicksale“, in: ders.: Studienausgabe, Frankfurt a. M. 2000, Band III: Psychologie des Unbewussten, S. 75–102, hier S. 85. 37 Vgl. Sigmund Freud: „Das Ich und das Es“, in: ders.: Studienausgabe, Band III: Psychologie des Unbewußten, S. 273–330, insbesondere S. 307–314. 38 Zweig: Sendung, S. 18. 39 Zweig bezieht sich auch hier auf Ben Gorions Sagen. Dem „Blut“ wird dort eine zentrale Bedeutung beigemessen: „Und Habels Blut hatte die Bäume und die Steine umher bespritzt; es stieg nicht nach oben, denn bis dahin war noch keine Seele in den Himmel gefahren; auch drang es nicht in die Erde, denn sie hatte noch keinen Toten bei sich bewahrt.“ S. 137–138.

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von der Erde.“40 – „Blut“ ist eine Metonymie der Gewalttat und Sitz des Lebens, in ihm verbinden und entfesseln sich tellurische und seelische, sündhafte und heilige Energien. Die Urlüge Kains ist deshalb verwandt mit der Lüge vom Ritualmord. Denn warum gibt es Ritualmordbeschuldigungen? Die Gründe dafür sind vielfältig; historische, ökonomische, religiöse, psychologische. Auf einige von ihnen werde ich im Verlauf dieser Untersuchung genauer eingehen. Doch letztlich führt die Frage ins Grundlose, in die Dunkelheit des „Bluts“. Genealogie und das reine Blut: Auch Vorstellungen genealogischer Zwänge, der vermeintlichen Vererbung von Eigenschaften wie Geiz und Temperament, werden in der deutsch-jüdischen Literatur mit der Chiffre „Blut“ bezeichnet. Der Roman Das Blut des mährisch-jüdischen Schriftstellers Jakob Julius David erzählt 1891 die Geschichte einer Familie, in der die junge, uneheliche Gabi von Tante und Onkel aufgezogen wird, jedoch nicht ihrer als unehrenhaft empfundenen Abstammung als Kind einer Schauspielerin entkommen kann und endlich verstoßen im Unglück stirbt. Der Onkel weissagt schon zu Beginn des Buches: Bedenke, es wird sein Lebtag kein Bauernpferd englisch. Das Blut macht’s da aus. Wird’s bei Menschen auch nicht anders sein.41

In diesem naturalistischen Roman kommen die Worte Jude oder jüdisch kein einziges Mal vor. Doch sind im Text leicht Markierungen des Jüdischen zu finden: „Denn die Lohwags waren nicht nur Fremde und fremd im Orte geblieben; auch ihr Bekenntnis schied sich von den anderen. Sie waren Calviner; und man mag die eigentlich nirgends, wo sie versprengt und einsam wohnen.“42 Die Familie ist in ihrer Umgebung unüberwindbar „fremd“, was Jüngers Charakteristik des Jüdischen entspricht. Dazu sind die Lohwags als „Calviner“ auch geldgierig und geizig, was sie mit der Figur eines armen, halb verwahrlosten und hässlichen Jungen namens Eduard Böhm gemeinsam haben. Dieser ist wiederum „ortsfremd und verwaist.“43 Eduard ist leicht als Jude zu erkennen. Er erzählt, dass seine Mutter ihn „mein schöner Ephraim“ genannt hat. Als einziger in der dörflichen Umgebung Mährens bemüht er sich, reines Hochdeutsch zu sprechen 40 Der deutsche Wortlaut der hebräischen Bibel wird in dieser Arbeit aus verschiedenen Übersetzungen zitiert. Entweder aus der Übersetzung Luthers, der Übersetzung Martin Bubers und Franz Rosenzweigs oder aus der unter der Redaktion von Leopold Zunz übersetzten Bibel: Die vierundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift, nach dem masoretischen Text, übersetzt von Leopold Zunz, Tel Aviv 1996; Luther-Bibel hier und an anderen Stellen zitiert nach der revidierten Übersetzung von 1912. 41 Jakob Julius David: Das Blut. Roman, in: ders.: Gesammelte Werke, München / Leipzig 1908, S. 247–393, hier S. 258. 42 Ebd., S. 252. 43 Ebd., S. 298.

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und besitzt eine vom eigenen Dasein auf dem Land abstrahierende Intelligenz. „‚Wer aber gut rechnen kann, der weiß von jeder Sache, was sie wert ist, und kann kaufen und verkaufen, ohne dass man ihm schaden kann. […]‘ Und mit einer hässlichen Gebärde schüttelte er die Faust nach dem Dorfe.“44 Auch dieser junge Mann muss seinem „Blut“ folgen: „[…] der Stadt zu zog er.“45 Urbanismus und kalkulierender Kapitalismus sind in der antisemitischen Imagination seit jeher jüdisch konnotiert. Das Typische an Davids Text liegt in der Ambivalenz, mit der er der unhintergehbaren Logik des „Bluts“ folgt, einem Schwanken zwischen der Zustimmung zu den Stereotypen und ihrer Verwerfung, die darin besteht, dass er in realistischer Manier der sozialen Umwelt und dem Milieu die ausschlaggebende, das „Blut“ der Verwandtschaft letztlich bestätigende oder korrigierende Rolle gibt.46 Die umgangssprachliche und gedankenlose Rede von „Blutsverwandtschaft“ oder den „Blutsbanden“ zeigt an, wie sehr auch heute noch ein „Urgrund der Natur“47 beschworen wird, um biologische Verwandtschaft anzuzeigen, die doch „niemals durch und durch real“48 sein kann, sondern immer – zumindest teilweise – in der „Renaturalisierung“ einer Fiktion besteht. Ökonomie und das kostbare Blut: Auch die Akkumulation des gemeinschaftlichen, überfamiliären „Bluts“ findet eine jüdische, historisch höchst folgenreiche Version. Der Zionismus als jüdische Nationalbewegung vermeint alten und erwachten Stimmen zu lauschen, die „im Blute schliefen …“49 So fasst es beispielhaft Irma Singer, eine 1920 nach Palästina ausgewanderte Kinderbuchautorin aus Prag und Hebräischlernpartnerin von Franz Kafka50 in einem Gedichtband 44 Ebd., S. 302. 45 Ebd., S. 305. 46 Vgl. Florian Krobb: „Jakob Julius David“, in: Andreas B. Kilcher (Hg.): Lexikon der deutschjüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart / Weimar 2000, S. 108–109. 47 Walter Burkert: „ ‚Blutsverwandtschaft‘: Mythos, Natur und Jurisprudenz“, in: Christina von Braun / Christoph Wulf: Mythen des Blutes, S. 245–256, hier S. 255. Burkert zeigt, wie die Rede von der Verwandtschaft durch „Blut“ trotz des Wortes homaímon den Griechen noch nicht ganz selbstverständlich war, sie war „für den denkenden Griechen überraschend, weil man den physiologischen Unsinn sieht.“ S. 248. Einschlägige Stellen lassen sich dennoch gemäß Burkert bereits bei Homer finden, erst im Römischen Recht verfestigt sich jedoch die Vorstellung des „Bluts der Verwandtschaft“ als Begriff der consanguinitas. Das Englische hat den Begriff consanguinity, das Französische den Begriff consanguin; nur das Deutsche hat übersetzt und „mit ,blutsverwandt‘, ,Blutsverwandtschaft‘ etwas geschaffen, was germanischarchaisch klingt.“ Ebd. 48 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 138. 49 Irma Singer: Licht im Lager. Gedichte aus dem Lande Jisrael, Wien / Leipzig 1930, S. 6. 50 Kafka lernte in Prag zuerst bei Friedrich Thieberger Hebräisch, ab Herbst 1917 bei Jiří (Georg) Mordechai Langer. Zu diesem Kreis gehörte auch Irma Singer. Vgl. Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, München 2005, S. 425 und 634. Bei Langer

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mit dem Titel Licht im Lager von 1930, der schon in Palästina entstanden ist und vor allem von dieser neuen, heimatlichen Beziehung eines Volkes zu Land und „Blut“ handelt: „Doch dies Land – so raunt mir zu mein Blut – / Ist mir Vergangenheit und wird mein Zukunftsgut. / Denn Heimat wurde mir im heißen Jordantal.“51 „Das Blut“ ist eine sowohl gemeinschaftliche wie metatemporale Matrix. Die Rede vom Blut: das kann als genitivus subjectivus oder als genitivus objectivus verstanden werden, denn nicht nur über das Blut wird hier gesprochen, sondern dem Blut wird wie in der Genesis-Erzählung von Kain und Abel eine Stimme zugeschrieben: Die Rede des Bluts. Wenn dort diese Rede jedoch in letzter Instanz von Gott vernommen wird (und als anthropomorphe Metapher für die unabwendbare Schuld, welche Kain auf sich lädt, gelesen werden muss), dann ist das Vernehmende hier ein lyrisches Ich, welches sich durch das Vernehmen aus dem Blut in ein Kollektiv einfügt, das sich damit und in der Verbindung zum Erdboden erst formiert: Und heute weiß ich’s wie noch nie, Wie dies Land mir Heimat ward. Dies Land, so karg und felsenhart, Nach dem das Blut geschlechterlang In ungestillter Sehnsucht schrie …52

Auch die Lyrik, welche im ersten Zyklus „Vom Land und Leben“ die Landschaft Palästinas beschwört, schreibt sich direkt aus dem Horchen aufs „Blut“ her: „In meinem Blute klingen Hirtenlieder / Aus Jakobs Zelten. […] In meinem Blute wirbeln Zimbeltöne / Und Mirjams Pauken.“53 Doch ist auch die zionistische Rede vom Blut nicht ohne Ambiguität. Denn die Schuld dieses Geschlechts liegt gerade darin, dass es nicht auf das „Blut“ gehört hat, was zu einer metaphorisch zu lesenden Wunde der Unbehaustheit geführt hat: „Dort aber [im Dunkeln, CB] blutet noch das Volk an seiner Wunde...“54 – In der imaginierten Urszene des Exils, in der sich die „Wunde“ auftut, ist Nicht-Hören und Blutvergießen gekoppelt. So wird im Zyklus „Adam und Eva“ Kains Brudermord als eine Wasserscheide der jüdischen Geschichte, als Eintreten in die Galut aufgefasst.

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handelte es sich jedoch keineswegs, wie Alt schreibt, um „einen frommen Ostjuden“, sondern um den Sohn einer wohlhabenden und gutbürgerlichen Prager Familie, der sich durch Faszination für den Chassidismus und das Studium beim berühmten Rabbiner von Belz re-judaisierte und später Erzählungen und Bücher zum Chassidismus verfasste, vgl. Anja Tippner: „Verwandlung und Verfremdung. Chassidismus in Jiří Langers Devět bran. Chasidů tajemství“, in: Caspar Battegay / Barbara Breysach (Hg.): Jüdische Literatur als europäische Literatur. Europäizität und jüdische Identität, 1860–1930, München 2008, S. 138–158. „Doch dies Land …“, in: Ebd., S. 23. „Der Adar blüht“, in: Ebd., S. 28. „Ich taste nach dem Tor …“, in: Ebd., S. 34. „Licht im Lager“, in: Ebd., S. 9.

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Da hat sich Abels Blut an seine Hand geklebt, Und wie er sie im Grauen an die Stirne hebt, Brennt seines Bruders Blut ihm ein ein ewig Mal. Vom Grauen gejagt entflieht er diesem Ort. Da donnert ihm ein Gott sein grausam Wort: „Nie finde Ruh’, in keines Menschen Tal!“55

Bei Irma Singer ist es nicht der einzige Gott, sondern „ein Gott“, der den mörderischen Bruder verflucht. Die Leiche Abels wird hier von seiner Mutter Eva gefunden, eine Szene, die kontrafaktisch zum biblischen Text weibliches Leid in den Mittelpunkt stellt: Da griff sie nach dem feuchten, roten Band, Um ihn vom Boden loszulösen. Doch ihre Finger wurden blutigrot … Und sie begriff... Und floh in’s dunkle Land, Schrie’s wie ein Tier, was sie ihm abgelesen: Dass ihn in Erde wandelte der Tod!“56

Das „Licht im Lager“ hellt das „dunkle Land“ punktuell auf: Immer dort, wo Juden im Zeichen Zions versammelt sind. Hier ist die Vorstellung wirksam, dass sich der Brudermord umkehren und aus der gemeinsam bearbeiteten Erde ein neues Leben ziehen lässt. Immer schon mit dem zionistischen Diskurs verwoben und ihn eigentlich bedingend, bleibt jedoch die Kehrseite dieser Gemeinschaftsvorstellung: Die romantische Einsamkeit. Sie bildet den Punkt, von dem aus das lyrische Ich spricht. Denn die neue, mit dem Boden verwachsene Gemeinschaft ist eine Vision, die vom Bodenlosen ausgeht und immer brüchig bleibt. Es ist die unsichere Position der jüdischen Frau im „Zauberbann von Blut und Liebe“57, wie ein Zyklus betitelt ist. Dieser „Zauberbann“ ist nicht einseitig aufzulösen – die Landschaft, welche sich in diesen Gedichten auftut, ist in Zwielicht getaucht: Es läuten hohe Gesänge In meinem reifenden Blut … Ich reifte, wie die Trauben Judäas. Aber es pflückte mich in weisser Nacht Nur der bleiche Mond Auf seinen einsamen Gängen.58

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„Kain“, in: Ebd., S. 104 „Abels Tod“, in: Ebd., S. 105. Der Zyklus „Im Zauberbann von Blut und Liebe“, S. 107–124. „Sieh’, ich reifte für Dich...“, in: Ebd., S. 109.

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Im Innern von deren Fehlgehen fasziniert, bleibt Singers zionistische Lyrik in ihrer politischen Botschaft zweifelhaft, und vielleicht ist es mehr die Polysemie des „Bluts“, die diese Lyrik beschäftigt als der zweifelhafte Ethos des neuen Juden, der doch – und das ist die geheime Pointe dieser deutschen Gedichte – nur auf Hebräisch verfasst werden könnte. Das andere Blut: Damit ist immer das Blut des Bruders gemeint, das Blut der Blutsbrüderschaft und das, das beim Brudermord vergossen wird. Als #pWh {d (dam ha nefesch), als Blut des Lebens und des innersten Wesens jeden Lebens, ist „Blut“ das Organ der Ganzheit und der Unversehrtheit. „Blut“ darf um keinen Preis vergossen werden. Doch gerade in der jüdischen Tradition ist „Blut“ die paradigmatisch verunreinigende Substanz, sei es in den Speisegesetzen, welche die absolute Abwesenheit von Blut im Essen verlangen, sei es in den Vorschriften, die die Sexualität betreffen und regeln, welche eine menstruierende Frau als unrein erklären. „Blut“ kann immer entweder als sanguis, das heilende und reine Blut, oder als cruor, das aus einer Wunde ausgetretene und verunreinigende Blut, verstanden werden.59 Bereits die hebräische Bibel kennt diese begriffliche Unterscheidung, so bezeichnet der Plural {ymd (damim) meistens das vergossene fremde Blut, das auf dem Mörder als Schuld lastet, während der Singular benutzt wird, sobald es sich um das dem Menschen eigene Blut handelt.60 Das andere Blut ist damit immer schon das Blut der Vergemeinschaftung61 und das Blut der Vereinzelung. Um einen Raum zu öffnen, in dem die literarischen Texte auf diese Dialektik hin untersucht werden, gilt es in diesem Kapitel in einem ersten Schritt, einen genaueren Blick auf die historischen Bedeutungstransformationen zu werfen, denen „Blut“ im Zusammenhang mit unterschiedlichen Säkularisationsprozessen ausgesetzt ist. Ein nächster Teil soll theoretische Konzepte von „Gemeinschaft“ erläutern, um damit zu zeigen, wie das performative Zusammenspiel von Schreiben/Text und sozialer Gruppe, Nation oder Religionsgemeinschaft gedacht werden kann. Ein das Kapitel beschließender Teil widmet sich einer begrifflichen Klärung meines Untersuchungsgegenstandes selbst und fragt nach einem Begriff des deutsch59 Lebenserhaltend oder rein ist das Blut als sanguis, inneres Blut. Tödlich und unrein wird das cruor, das verschüttete und geronnene Blut empfunden. Vgl. P.G.W. Glare (Ed.): Oxford Latin Dictionary, Oxford 1982. Cruor wird darin u.a. definiert als „blood (fresh or clotted) from a wound“ oder als „the shedding of blood or an instance of it, slaughter etc.“. Sanguis hingegen wird u.a. definiert als „blood in its normal fluid state“ oder „blood as the vital fluid, life-blood“. 60 Vgl. Lemma „{r (dam)“ in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, hg. von G. Johannes Botterweck / Heiner Ringgren, Stuttgart u.a. 1973–2000, Band 2, Sp. 248–266. 61 Vgl. Micha Brumlik: „Blut, Intellekt und Liebe – Faktoren politischer Vergemeinschaftung“, in: Christina von Braun / Christoph Wulf: Mythen des Blutes, S. 257–271.

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jüdischen Schreibens. Wie es sich in der Rede vom Blut jeweils konstituiert, soll diese Untersuchung erweisen. 2.  Das andere Blut: Systematisierungen Das Blut, nicht der Krieg, ist das organisierende Prinzip des menschlichen Lebens.*

Achim von Arnim: Ernst Jüngers sprachskeptische Rhetorik und seine damit verbundene Blutromantik kann auf eine konservative Tradition innerhalb der deutschen Literatur zurückgreifen. Die Tradition hat einen ihrer Ausgangspunkte in der Lyrik Achim von Arnims zur Zeit der Kriege gegen die napoleonischen Armeen, die sich zeitlich mit seiner Heirat überschneiden. Die Sprache soll dort strömen wie das „Blut“, das „Blut“ selbst ist eine Sprache, die Sprache des Lebens: Du fragst mich Stern der Winternacht, Ob ich vom süßen Weine glüh? O freu dich, wie ich duftend blüh Mein blühend Herz beim Röslein wacht, gern tät es sich mit Worten kund So lebens warm wie Tropfen Blut, Doch schließt das Röschen schon den Mund, Und tut da kühlend mir so gut, Die Augen füllt ein süßer Drang. O Liebestau, O frommer Dank.62

So gern es der Dichter möchte: Die Worte können nicht „lebens warm wie Tropfen Blut“ sein. Sprache wird zu Tränen sublimiert und kann erst so als „Liebestau“ und „frommer Dank“ die poetische Gabe in ihrer Reinheit repräsentieren und einen unmittelbaren Ausdruck des lyrischen Ichs bilden. Das heißt, dass es eine gleichermaßen schweigsame wie authentische Innenwelt gibt, die durch „Blut“ codiert ist, und eine andere, äußere Welt, die gleichermaßen unwahr und fremd ist, eine Vorstellung, die noch Martin Bubers ro-

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Es handelt sich hier um ein nicht zu eruierendes Zitat von Judy Grahn in einer Besprechung der Ausstellung „Malerei für die Ewigkeit – Die Gräber von Paestum“ im Berliner MartinGropius-Bau von Catherine Framm: „Nach Süden, Richtung Tod“, in: taz vom 18. September 2008: „,Das Blut, nicht der Krieg, ist das organisierende Prinzip des menschlichen Lebens‘, sagt die amerikanische Dichterin Judy Grahn.“ 62 Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden, Band 5: Gedichte, hg. von Ulfert Ricklefs, Frankfurt a. M. 1994, S. 761.

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mantisierendes Konzept der „jüdischen Renaissance“ prägt, wie sich im dritten Kapitel meiner Untersuchung zeigen wird. Das „Blut“ bestimmt auch Arnims Vorstellung des „Adels“, wie sein einige Tage später entstandenes Stiftungslied der Deutschen Tisch-Gesellschaft vom 18. Januar 1811 anzeigt: „Unsre Krone ward erstritten / Durch der deutschen Ritter Blut, […]“63 heißt es programmatisch. Man kann das für Kitsch halten, und doch ist in Arnims kleiner Poetik von Blut und Tränen angezeigt, inwiefern sich die Rede vom Blut im hier untersuchten Zeitraum transformiert. Erstens ist damit eine biopolitische Wende verbunden, die das „Blut“ nationalisiert und ethnisiert. Zweitens wird das „Blut“ als eine Chiffre eingesetzt, als ein Codewort, das politische Inklusions- und Exklusionsmechanismen steuern soll. Drittens kann bei Arnim ex negativo die Verschiebung in der Metaphorik des Blutsaugers beobachtet werden: Steht in Arnims Rede vom Blut immer das Blut Christi und dessen Integrationsfunktion im Hintergrund, ist der, welcher diese Ganzheit von Außen anzapft, und ohne daran teilzuhaben in den Innenraum der Gemeinschaft eindringt, ein Schädling, der mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Indem diese Struktur kapitalismuskritisch gewendet und von ihren religiösen Inhalten befreit wird, wird „Blut“ zur Metapher für die zirkulierenden Finanzströme. Der sich daran bereichernde „Jude“ wird konsequent zum Inbegriff des Parasiten am „Volkskörper“. Viertens schließlich gibt die Stelle aus Arnims Lyrik Aufschluss über das Phantasma der Schrift des Bluts. Das „Herz“ äußert sich nur authentisch im „Blut“, eben ein „ganz besondrer Saft“, der Autorschaft garantiert, wie der Teufel auch bei Goethe weiß.64 Die vier Punkte, die die Dynamik des anderen Bluts kennzeichnen und hier in Arnims Gedichte abzulesen sind, bilden das historisch-systematische Raster, in dem die vier Kapitel dieser Studie zu Heinrich Heine, zur zionistischen Literatur, zu Franz Rosenzweig und Franz Kafka eingefügt sind. In diesem Abschnitt soll dieses Raster genauer beschrieben werden. Biopolitische Wende der Rede vom Blut: Der preußische Adlige und Berliner Romantiker von Arnim ergreift in seiner Lyrik Partei für den Kampf gegen das revolutionäre Frankreich. Im Blutgericht der französischen Revolution verliert das adlige Blut seinen privilegierten Status und das Blut der Volksgemeinschaft

63 Ebd., S. 763. 64 Gegenüber dem gesprochenen „Manneswort“ sei das beschriebene Papier nicht viel wert und vergänglich, meint Faust gegenüber Mephistopheles: „Allein ein Pergament, beschrieben und beprägt, / Ist ein Gespenst, vor dem sich alle scheuen. / Das Wort erstirbt schon in der Feder, die Herrschaft führen Wachs und Leder [...].“ Auch der Teufel vertraut nicht auf die Schrift allein: „Du unterzeichnest Dich mit einem Tröpfchen Blut.“ Damit erst ist die Wette gültig und die Seele, die mit dem „Blut“ scheinbar innig verbunden ist, versprochen.

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Das Blut des Bruders

rückt ins Zentrum der biopolitischen Aufmerksamkeit,65 einer „mythischen Sorge um die Reinheit des Bluts“66. Das zweite Kapitel wird unter anderem, zum Beispiel in der Analyse von Heinrich Heines Gedicht Vitzliputzli, zeigen, wie diese Umbrüche literarisch reflektiert werden. Theoretisch greife ich hier auf einschlägige Überlegungen Michel Foucaults zurück. Nach diesen ist der Souverän seit 1800 nicht mehr Herr über Leben und Tod, sondern schafft Institutionen, in welchen die Äußerungen des Lebens durch Verwaltungsprozesse reguliert werden können, indem sie diskursiv erfasst werden. Foucaults berühmter Generalthese folgend, dass nicht Repression die Sexualität der modernen Gesellschaft prägt, sondern deren Diskursivierung durch Machttechniken im Zuge der Aufklärung, also Geburtenrate, Sterblichkeit, Fruchtbarkeit, Ernährungsweise und Lebensdauer als statistische und wissenschaftliche Größen entdeckt werden, kann nicht nur von der Sexualität „wie von einer Sache“67 gesprochen werden, es gibt nicht nur einen „Anreiz vom Sex zu sprechen“,68 sondern auch einen Anreiz, vom „Blut“ als Träger des Lebens in ganz neuer Weise zu sprechen.69 Das Blut 65 Vgl. Stephan Malinowski: „Vom blauen zum reinen Blut. Antisemitische Adelskritik und adliger Antisemitismus 1871–1944“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 1 (1992), S. 147–168. 66 Vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 178. 67 Ebd., S. 36. 68 Ebd., S. 35. 69 Foucault beschreibt für die Entwicklung des Verhältnisses der Gesellschaft zu ihrem Blut eine merkwürdige Dialektik: „Lange Zeit war das Blut ein wichtiges Element in den Mechanismen, Manifestationen und Ritualen der Macht. [...] Sein Wert liegt in einer instrumentellen Rolle (Blut vergießen können), in seinem Funktionieren innerhalb der Ordnung der Zeichen (ein bestimmtes Blut haben, vom selben Blut sein, breitwillig sein Blut wagen) und auch in seiner Gefährdetheit (es ist leicht zu vergießen und droht zu versiegen, es vermischt sich nur allzuleicht und verdirbt im Nu). Gesellschaft des Blutes oder richtiger des ,Geblütes‘: im Ruhm des Krieges [...], in der Souveränität des Schwertes, der Scharfrichter und der Martern spricht die Macht durch das Blut hindurch, das eine Realität mit Symbolfunktion ist. Wir hingegen leben in einer Gesellschaft des ,Sexes‘ oder vielmehr der ,Sexualität‘: die Mechanismen der Macht zielen auf den Körper, auf das Leben und seine Expansion, auf die Erhaltung, Ertüchtigung, Ermächtigung und Nutzbarmachung der ganzen Art ab.“ – „Es sind die neuen [...] im 19. Jahrhundert voll eingesetzten Machtprozeduren, die unsere Gesellschaften von einer Symbolik des Blutes zu einer Analytik der Sexualität haben übergehen lassen. [...] Während jedoch die ersten Träume von der Vervollkommnung der Art das gesamte Problem des Blutes in eine Zwangsbewirtschaftung des Sexes umschlagen lassen [...], während also die neue Rassenidee die aristokratischen Besonderheiten des Blutes auszulöschen trachtet und die kontrollierbaren Effekte des Sexes beizuhalten trachtet, versetzt Sade die erschöpfende Analyse des Sexes wieder in die Exzessmechanismen der Souveränitätsmacht und in die alten Zauber des Blutes zurück. Lang und breit strömt das Blut durch die Lust [...].“ Die neue blutige Gesellschaft, deren apokalyptisches Bild de Sade entwirft, zeigt nach Foucault den Gipfel „einer einzigen und nackten Souveränität: schrankenloses Recht der allmächtigen Monstrosität. Das Blut hat den Sex wieder aufgesogen.“

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des neuen „Dispositivs“,70 welches seine Stütze nicht mehr im göttlichen Gesetz hat, sondern auf einem ökonomischen Begriff des Lebens fußt, ist nicht mehr im Überfluss vorhanden. Es ist in Foucaults Diktion eine knappe Ressource, mit der sparsam und vorsichtig umgegangen werden muss. Dieses ökonomische Blut ist nicht mehr das Blut des Königs, so dass alles Blut dem König als eine in einen metaphysischen Sinnzusammenhang integrierte Macht gehörte, dem Leben aber Heiligkeit zusprach, sondern ein Blut, das die nackte Verletzbarkeit und Unhintergehbarkeit des Lebens offenbart. Dass die Gesellschaft nach 1800 nicht mehr eine Gesellschaft des Bluts (oder des Geblüts) ist, heißt allerdings nicht, dass kein Blut mehr vergossen wird. Im Gegenteil: Das Blut fließt in nie geahntem Ausmaß. Denn die Auslösung des Lebens aus dem sakralen Gesetz und der Sakralität der Blutsverwandtschaft bewirkt eine gewaltige Aufladung der Sexualität mit dem „Blut“, nachzulesen beim Marquis de Sade, in Heinrich von Kleists Penthesilea – und auch in Gedichten Heinrich Heines. Das „Blut“ soll nun das individuelle Genie mit Souveränität und Authentizität ausstatten und nicht mehr den Zusammenhang von Familie und Stand garantieren. So hebt ein Bruder die Hand gegen den anderen: Paradigmatisch hat in Schillers Räuber für Franz Moor die „Blutliebe“ zu Vater und Bruder ausgedient. Nicht mehr die vermeintliche Blutsverwandtschaft der Familie bildet das Fluidum des gesellschaftlichen Zusammenhalts, sondern das Blut des Volkes, welches im Herzblut der eigenen Empfindungen pulsiert. Jeder kann Souverän sein und wer es nicht ist, kann getötet, „ausgerottet“ werden: „Soll 70 Das Konzept des Dispositivs erlaubt es, davon auszugehen, dass die Rede vom Blut von einem bestimmten historischen Zeitpunkt an einem neuen Willen zum Wissen unterworfen ist und sich in einer anderen Konstellation mit Institutionen oder wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen und literarischen Aussagen befindet. „Das „Blut“ selbst bekommt dadurch in diesen Aussagen eine neue Bedeutung. Das „Dispositiv“ ist bei Foucault ein schillerndes Konzept, das nicht einfach zu definieren ist. Wie er in einem Interview erklärt, ist das „Dispositiv“ erstens ein Netz, das heterogene Elemente wie „Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt“. Zweitens versteht Foucault darunter gerade „die Natur der Verbindung“ zwischen diesen Elementen, also „ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen“. Drittens hat das „Dispositiv“ eine „vorwiegend strategische Funktion“, es bezeichnet also nicht nur die Gesamtheit von Elementen und die Relation dieser Elemente, sondern auch die „Formation“ der Elemente, „deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten.“ Das „Dispositiv“ ist „also immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben, immer aber auch an eine Begrenzung oder besser gesagt: an Grenzen des Wissens gebunden, die daraus hervorgehen, es gleichwohl aber auch bedingen. Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden.“ Michel Foucault: „Ein Spiel um die Psychoanalyse – Gespräch mit Angehörigen des Département de Psychoanalyse der Univerität Paris VIII in Vincennes“, in: ders.: Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 118–175, hier S. 119–123.

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auch ich mich dadurch [durch die Verwandtschaft, CB] gängeln lassen wie einen Knaben? / Frisch also! mutig ans Werk! – Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich seyn, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht.“71 Das postfamiliäre Zeitalter ist angebrochen, das Zeitalter des Brudermords, in dem der Souverän bestimmt, wer ein anderes Blut hat. Das Zeitalter des anderen Bluts geht von einer dualen Weltordnung aus, von einem Endkampf zwischen dem eigenen und dem anderen Blut. „Blut“ als Medium der Unterscheidung: Diese „binäre Wahrnehmung“ zeugt von einer gnostischen Weltdeutung und einer Geschichtsschreibung, welche Foucault in einer späten Vorlesung „der Historie römischen Typs“72 entgegenstellt. Ist letztere an eine dreigliedrige Ordnung und an die Organisation der drei Stände gebunden, ist „der Diskurs der Revolte und der Prophetie, des Wissens und des Aufrufs zum gewaltsamen Umsturz der Ordnung der Dinge“73 streng dualistisch: „hier die einen und dort die anderen, die Ungerechten und Gerechten, die Herren und jene, die ihnen unterworfen sind, die Reichen und Armen, […], die Leute des gegenwärtigen Gesetzes und jene der künftigen Heimat.“74 Dieser Diskurs, der das gesamte Altertum und Mittelalter über eine Art Gegendiskurs, eine gnostische Häresie zum herrschenden Diskurs der göttlichen Gerechtigkeit bildet, nennt Foucault den „Diskurs vom Krieg der Rassen“ ohne dass das Wort Rasse schon den biologischen Sinn hat, der ihm erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts zugesprochen wird. Foucault denkt möglichweise an jene „race de Caïn“, die Charles Baudelaire der „race de Abel“ entgegenstellt und die dazu aufgerufen wird, in den Himmel zu dringen und Gott auf die Erde zu werfen.75 In dem historischen Moment, in dem der Terminus Klassenkampf durch den Begriff Rassenkampf ersetzt wird – im dritten Kapitel wird mit Moses Hess ein jüdischer Protagonist dieses Gedankens im Zentrum stehen – tritt nach Foucault ein weiterer revolutionärer Diskurs auf, der „in einer biologischmedizinischen Perspektive die in diesem Diskurs gegenwärtige historische Dimension tilgt.“76: Der Rassismus „als der in die Gegenrichtung gewendete revolutionäre Gedanke“. 71 Friedrich Schiller: Nationalausgabe, Dritter Band: Die Räuber. Ein Schauspiel, hg. von Herbert Stubenrauch, Weimar 1953, S. 20 (I. Akt, 1. Szene). 72 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76), aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt a. M. 2001, S. 89. 73 Ebd. S. 92. 74 Ebd. 75 Vgl. das Gedicht Abel et Caïn bei Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal, Texte de la deuxième édition, Édition critique, Paris 1968, S. 241–242: „Race de Caïn, au ciel monte, / Et sur la terre jette Dieu!“ 76 Foucault: Verteidigung der Gesellschaft, S. 100.

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Wenn der Diskurs der Rassen, der gegeneinander kämpfenden Rassen, die Waffe war, die gegen den historisch-politischen Diskurs der römischen Souveränität gerichtet war, so ist der Diskurs der Rasse (Rasse im Singular) eine Methode, diese Waffe umzukehren und ihre Schärfe zugunsten der bewahrten Staatssouveränität einzusetzen, eine Souveränität, deren […] Kraft nicht mehr durch magisch-rechtliche Rituale, sondern durch medizinisch-normalisierende Techniken gesichert werden.77

Im Zug einer Verbindung von populären Rassentheorien, wie sie vor allem durch die in Deutschland auch von jüdischen Autoren äußerst lebhaft rezipierten Schriften Gobineaus,78 Richard Wagners79 und Houston Stewart Chamberlains80 formuliert wurden, mit einer wissenschaftlichen Rassenanthropologie wird der Staat als Nationalstaat zum Garanten der Einheit und Reinheit der „Rasse“, die bald auch diejenige des „Bluts“ ist. Das „Blut“ und die „Rasse“ sind im Nationalsozialismus Synonyme.81 War im ancien régime das Volk die Gesamtheit der Untertanen eines Feudalherren und bezeichneten die Nationen einfach die verschiedenen, durch die zum Teil gleichen Adelsfamilien beherrschten Untertanengebiete, gehört man nun essentialistisch einer Nation an. Die Gemeinschafts-Konstruktionen der Moderne sind denn auch auf die Kategorien Sprache und Boden angewiesen. Beide verbinden sich in den napoleonischen Kriegen mit „Blut“; „Blut“, „Boden“ und Sprache transzendieren sich wechselseitig und werden im Namen des Volkes heilig gesprochen.82 Die drei elementaren Sphären des Nationalen gehen ineinander über: „Blut“ ist „Sprache“ ist 77 Ebd., S. 101–102. 78 Arthur de Gobineau „ist tatsächlich der Herold des biologisch gefärbten Rassismus“, der davon ausging, „dass alles Blut in Europa gleichermaßen heillos vermischt“ sei und deshalb die Zivilisation ihrem Untergang entgegengehe. Vgl. Léon Poliakov: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Wien / München / Zürich 1977, S. 272; sowie in dieser Studie 2.3.2. 79 Für Wagner ist das Blut „Träger der moralisch-sittlichen Eigenschaften einer Rasse.“ Doris Mendlewitsch: Volk und Heil. Vordenker des Nationalsozialismus im 19. Jahrhundert, RhedaWiesenbrück 1988, S. 61; sowie in dieser Studie 1.4. 80 Vgl. in dieser Studie 4.1.2. 81 Vgl. Cornelia Schmitz Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, zweite durchgesehene und überarbeitete Auflage, Berlin / New York 2007, S. 109. 82 Dass der deutsche Adel eben am Blut des deutschen Volkes hängt oder dass jetzt, in nachrevolutionärer Zeit, das deutsche Blut der Adel ist, zeigt auch folgende Apostrophe an das deutsche Volk aus Arnims Gedicht Der Adel: „Des Adels Wappen / ist da zerstreuet / Doch daß nicht reuet / Der bunte Lappen / Seid all von Adel / Ein Volk ohn’ Tadel.“ Arnim: Gedichte, S. 441. Jeder Soldat ist nun ein Adliger und kann sein Blut für das Vaterland opfern wie Christus seines für die ganze Menschheit geopfert hat. In der Erinnerung der Völkerschlacht dichtet Arnim: „Nun des Jünglings strahlend Haupt / Mit dem Lorbeer ist umlaubt. // Aus dem blutig roten Strome / hebt er seine Braut zum Dome / Zu der hohen Sterne Glanz: / Sieh dies ist dein Hochzeitskranz!“ Die Nation wird als Braut des Soldaten – und hier zeigt sich auch die sexuelle Konnotation des „Bluts“ als Blut der Entjungferung – im „blutig roten Strome“ gleichsam getauft.

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„Boden“. Vor allem die Wortverbindung „Blut und Boden“ repräsentiert die mythische Einheit der deutschen Nation.83 Mit diesen essentialistischen Vorstellungen ist unauflösbar die Furcht vor dessen „Zersetzung“ verbunden. Der Staat muss das „Blut“, die Sprache und das Territorium schützen vor dem Eindringen des Fremden, vom Abweichenden und Auflösenden – in letzter Konsequenz bestimmt der Staat dadurch das, „was leben soll und sterben muss“.84 Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wird demgemäß die virulente Angstvorstellung der décadence oder der „Entartung“ von Richard Wagner als „Verderben des Bluts“85 bezeichnet. Schließlich wurde der Begriff „Blutschande“, welcher zuerst vor allem Inzest als sexueller Verkehr zwischen nahen Verwandten bezeichnete, im Nationalsozialismus als wie auch immer gedachte „Verunreinigung des Bluts“ durch sexuellen Kontakt eines „Ariers“ (meist einer „arischen“ Frau) mit einem Nicht-„Arier“ umgemünzt.86 Historisch muss die Essentialisierung der Volkszugehörigkeit, die in den Nürnberger Gesetzen zum „Schutz des deutschen Bluts“ von 1935 kulminiert, auch vor dem Hintergrund des deutschen Kolonialismus sowohl in Osteuropa wie in Afrika, als auch vor der Schande des verlorenen Ersten Weltkriegs verstanden werden, Erfahrungen, welche die Suche nach dem authentischen deutschen Wesen forcierten.87 Ermöglicht wird diese Transformation von kulturellen Codes in der Rede vom Blut aber von einer naturwissenschaftlichen Entwicklung, deren Linien hier bloß skizziert werden können. Von der jungen Wissenschaft der Eugenik wird die „Entartung“ des Volks, also die Idee von der fortschreitenden Erkrankung der erbbiologischen Substanz, um 1900 schon als Faktum begriffen, dem es mit geeigneten Maßnahmen 83 Vgl. Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 110–112. Die Zusammenstellung „Blut und Boden“ ist ab 1900 mehrfach belegt, einflussreich in Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes von 1922 und dann prägend in der Schrift Neuadel aus Blut und Boden von 1930 des späteren „Reichsbauernführers und Reichsministers“ R. Walther Darrés. 84 Vgl. Martin Stingelin: „Einleitung: Biopolitik und Rassismus. Was leben soll und sterben muss“, in: ders. (Hg.): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 7–26. 85 Zitiert nach: Peter Weingart / Jürgen Kroll / Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992, S. 64. 86 Grimm kennt „Blutschande“ als incestus, aber auch als magnum dedecus, als große Schande, vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Band 2, München 1984 (Photomechanischer Nachdruck der Erstausgabe 1860), Sp. 190. Im Folgenden wird das Deutsche Wörterbuch zitiert als Grimm mit Band- und Spaltenzahl. Vgl. Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 118-120. Das Wort „Blutschande“ stammt aus der Luther-Übersetzung, vgl. Lev 20, 17: „Wenn jemand seine Schwester nimmt, seines Vaters Tochter oder seiner Mutter Tochter, und ihre Blöße schaut und sie wieder seine Blöße, das ist Blutschande. Die sollen ausgerottet werden vor den Leuten ihres Volks; denn er hat seiner Schwester Blöße aufgedeckt; er soll seine Missetat tragen.“ 87 Vgl. Yfaat Weiss: „The Racialisation of the Jews – Historical Anthropology of the Nuremberg Laws“, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 1 (2002), S. 201–215.

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zu entrinnen gilt. Durch zwei theoretische Voraussetzungen schafft die Eugenik die Basis für eine wissenschaftlich argumentierende, rassistische Bio-Politik, die die Volksgesundheit erhalten soll. Erstens transformiert sie Darwins Evolutionstheorie der natürlichen Selektion als Anpassung an die Umweltbedingungen in eine Teleologie der Vervollkommnung der Arten88 und zweitens sieht sie sich durch August Weismanns 1892 entwickelte Keimplasmatheorie, die erstmals „die strikte Trennung zwischen den Geschlechtszellen eines Organismus und dessen Körperzellen“89 belegt, darin bestätigt, dass es keine Vererbung erworbener Eigenschaften gibt, und dass darum „Entartung“ nicht durch medizinische oder soziale Reformen bekämpft werden kann. Im Verlauf dieser Studie wird ersichtlich, dass nicht nur jüdische Naturwissenschaftler,90 sondern auch jüdische Dichter und Denker sich rege an diesen Diskursen beteiligten. Möglicherweise halten vielleicht gerade darum so unterschiedliche zionistische Autoren wie Max Nordau und Martin Buber an lamarckistischen Gedanken fest, um eine Transformation nicht nur der Sozialstruktur des Judentums, sondern des einzelnen „jüdischen Körpers“ zu propagieren. Inwiefern auch diese Programme mit der Fiktion des anderen Bluts argumentieren, soll das dritte Kapitel dieser Untersuchung zeigen. 1895 führt Alfred Ploetz den Begriff der Rasse „als eine Grundkategorie der Eugenik“91 ein. Dass das „Blut“ Träger der „Rasse“ sei, war schon länger suggeriert worden, wissenschaftlich stellt den Zusammenhang erst die boomende Blutgruppenforschung während den 1910er Jahren her.92 Die wissenschaftshistorische Forschung weist darauf hin, dass das plötzliche Interesse an der Seroanthropologie in Deutschland zwischen 1910 und 1930 ein Resultat der eigentlich erst durch sie zu beweisenden Annahme sei, dass die Blutgruppe eine Funktion der „Rasse“ darstellen würde.93 Die ideologische (und nicht medizinische) Überzeugung, rassische Merkmale im Blut auffinden zu können und schließlich die InEinssetzung von „Blut“ und „Rasse“, zeigen, mit welcher Unschärfe die Grenzen zwischen wissenschaftlicher und mythischer, beziehungsweise metaphorischer Rede vom Blut verlaufen. Begriff und Metapher sind „untrennbar miteinander 88 Weingart / Kroll / Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 76. 89 Ebd., S. 84. 90 Insbesondere auf folgende Studien werde ich zurückkommen: Veronika Lipphardt: Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900–1933, Göttingen 2008; John M. Efron: Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Siècle Europe, New Haven / London 1994. 91 Ebd., S. 91. 92 Vgl. Myriam Spoerry: „‚Reines‘ und ‚gemischtes‘ Blut. Blutgruppen und ‚Rassen‘ zwischen 1900 und 1933“, in: Lauper: Transfusionen, S. 211–225. 93 Vgl. ebd. S. 222. Vgl. ebenfalls: Gerhard Baader: „Blutgruppenforschung im Nationalsozialismus“, in: Gadebusch-Bondio: Blood in History and Blood Histories, S. 331–345.

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verwoben“94 und fließen ständig ineinander. Blut ist ein ständig zwischen Magie und Wissenschaft, Materialität und Metapher oszillierendes Medium der Unterscheidung, der In- und Exklusion. „Blut“ selbst heißt nichts, es ist offen für verschiedene, oftmals gegensätzliche Bedeutungen, die es in sich vereint. Diese Eigenschaft des „Bluts“ spielt noch, so zeige ich im vierten Kapitel dieser Untersuchung, eine Rolle in Franz Rosenzweigs Konzeption der „Blutsgemeinschaft“. Von der Eucharistie zum Geldkreislauf: Als Träger des Lebens wird das „Blut“ zur Metapher für Gesundheit und Ursprünglichkeit, zu einer Leitmetapher, auf die überall dort zurückgegriffen wird, wo das Abstrakte verabschiedet werden soll. – Das Abstrakte par excellence ist der Geldverkehr, der mit der stetig wachsenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung das Leben bestimmt. Im Anschluss an die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey 1628 wird „in endlosen Variationen das Geld als Blut oder Lebensprinzip in den Gefäßen des Staatskörpers, die Geldzirkulation als Blutkreislauf“95 beschrieben. Es scheint, als ob gegenüber dem „Blutgeld“, das „den Armen und Gerechten abgepresst und ausgesaugt wird, das Geld als das Blut des Staates“ steht, „das mit dem Staatskörper die Individuen belebt und zu produktiver Arbeit ‚am Ganzen‘ animiert.“96 Dagegen bildet sich Widerstand, nicht nur in der Re-Glorifizierung des erlösenden Bluts Christi durch die Romantiker, sondern ebenso im Brandmarken des Kapitalisten als Blutsauger, dessen Archetypus Shylock aus William Shakespeares Merchant of Venice darstellt. Darauf stößt man zum Beispiel in Arnims Erzählung Die Versöhnung in der Sommerfrische. Dieser Text verarbeitet einen folgenschweren Streit Arnims mit einem jüdischen Studenten, dem er dessen Duellforderung mit einer antisemitischen Begründung abgeschlagen hatte.97 Im Text wird stellenweise aus der Perspektive einer jüdischen Figur erzählt: 94 95 96 97

Spoerry: „‚Reines‘ und ‚gemischtes‘ Blut“, S. 224. Joseph Vogl: „Kreisläufe“, in: Lauper: Transfusionen, S. 99–117, hier S. 109. Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt a. M. 1996, S. 343. Nach einer gesellschaftlichen Affäre im Umkreis des Berliner Salons von Sara Levi, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, stellte Levis Neffe Moritz Itzig eine Duellforderung an Arnim, auf die dieser nach Umfragen im Kreis seiner adligen Bekannten nicht reagieren wollte. Beleidigt überfällt Itzig Arnim am 16. Juli 1811 in einem Berliner Badehaus, prügelt auf den Schriftsteller ein, wird jedoch selbst durch den Einsatz von Arnims Spazierstock verletzt. Gemäß der liberalen Einschätzung Varnhagen von Enses blamiert sich Arnim fürchterlich, gemäß der konservativ-antijüdischen Haltung Reinhold Steigs (die jedoch knapp 100 Jahre später formuliert wird) ist die Schande ganz auf der Seite Itzigs, der zu einer geringen Gefängnisstrafe verurteilt wird. Moritz Itzig wird in den Kriegen gegen Napoleon 1813 auf dem Schlachtfeld von Groß-Görschen fallen und so seine vermeintliche Ehre bezeugen. Arnim kämpft nicht, sondern schreibt. Vgl. Karl August Varnhagen von Ense: „Ludwig Achim von Arnim und Moritz Itzig“, in: ders.: Werke in fünf Bänden, hg. von Konrad Feilchenfeld. Band 4, S. 674–680; Reinhold Steig: Heinrich von Kleists Berliner

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[…] ich stellte mich ihm vor und sagte ihm, daß ich mich verpflichtet glaube ihn zum Zweikampfe zu fordern, mir verlange nach seinem Blute. – Der Graf sah mich an und fragte mich: Ob ich etwa ein Abkömmling des Schilock wäre, der solch Lusten nach Christenblut bezeigte, ihm für seinen Teil wär Judenblut keine Delikatesse, Juden gebe er acht Prozent, aber keine Genugtuung. –98

Der Ablösung des Bluts der Eucharistie durch das Geld widme ich mich ebenfalls im Kapitel zu Heinrich Heine. Bruno Camporesi beschreibt, wie das „Erlöschen der hämatischen Kultur“99 mit einer Wiederbelebung der Figur „des vampirischen Bankiers“100 korrespondiert. Dieser Verbindung von „Geld“ und „Blut“ im Zusammenhang mit jüdischer Erfahrung in der Moderne gehe ich im Kapitel zu Moses Hess ausführlich nach. Die Schrift des Bluts: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entfaltet sich in verschiedenen Diskursen eine Rhetorik des Bluts, die gegenüber einer ästhetischen und politischen Moderne eine Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit beschwört, die jedoch selbst ein genuines Produkt der Moderne ist und sich bis in die Avantgarden der ästhetischen Moderne selbst erstreckt. Dichterische Produktion als Ausfluss des Ureigenen – sei es die inspirierte Verbindung zu einer göttlichen Macht oder sei es die organischeVerwurzelung in der Volksgemeinschaft, sei es das Leben selbst, dessen Metonymie das „Blut“ ist – fließt in dieser Vorstellung im ekstatischen Schreibvorgang in den Text. Die Vision begleitet die moderne Literatur. Dabei verliert die alte Idee des Erzählens als Gegenmacht zum Tod, wie sie pointiert in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht oder noch im Decamerone ausgebreitet wird, an Gültigkeit. Nach Foucault hat das Schreiben „eine Metamorphose erfahren; das Schreiben ist heute an das Opfer gebunden, selbst an das Opfer des Lebens“.101 Das heißt, dass das Leben selbst schreibt und es der Schreiber dabei möglicherweise hingeben muss, um Authentizität zu produzieren. Im fünften Kapitel wird sich zeigen, wie diesem Phantasma bei Franz Kafka ein anderes Bild von Schreiben entgegengesetzt wird, ein unblutiges Schreiben, das nicht mehr dem Opfer verpflichtet wäre.



98 99 100 101

Kämpfe, Berlin / Stuttgart 1901, S. 632–639; eine ausgezeichnete Aufarbeitung findet sich bei Michael Ott: „Die Logik der Ausschließung. Ehre und Judentum bei Achim von Arnim und Ludwig Robert“, in: ders: Das ungeschriebene Gesetz. Ehre und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur um 1800, Freiburg i. Br. 2001, S. 299–310. Achim von Arnim: „Die Versöhnung in der Sommerfrische“, in: ders: Werke in sechs Bänden. Band 3: Sämtliche Erzählungen 1802–1817, hg. von Renate Moering, Frankfurt a. M. 1990, S. 564. Camporesi: Das Blut, S. 21. Ebd. S. 29 Michel Foucault: „Was ist ein Autor?“, in: ders.: Schriften zur Literatur, aus dem Französischen von Karin Hofer und Annelies Botond, Frankfurt a. M. 1988, S. 7–31, hier S. 12.

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„Blut“ regelt Leben und Überleben, scheidet opferbares von nicht zu opferndem Leben, es trennt Innen und Außen, Heiliges und Satanisches, es regelt die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Diese Funktionen verdankt es seiner Eigenschaft, gegensätzliche Bedeutungen in sich zu vereinen. Als Medium der Unterscheidung ist das „Blut“ ein Artefakt, ein sprachliches Zeichen, das scheinbar auf das Natürliche schlechthin referiert, dessen signifié jedoch in eine Wucherung des Imaginären führt, das mit dem eigentlichen Referenten dieses Zeichens, der Substanz Blut, nicht mehr verbunden ist und dessen Gehalt auch nicht mehr auf eine feste Bedeutung übertragen werden kann. Diese imaginäre Wucherung vereint die gegensätzlichen symbolischen Bedeutungen des „Bluts“ in sich. Im Reich des Imaginären fallen die Unterscheidungen, die durch das „Blut“ doch möglich werden, wie die zwischen „rein“ und „unrein“, ineinander. In ihm öffnet sich ein Raum, der sich dem Entweder-Oder und den Grenzen entzieht, die vom „Blut“ erst etabliert werden. Um die Mechanismen der soziopolitischen Inklusion und Exklusion offenzulegen, die mit dem Schlagwort des „Bluts“ operieren, muss zuerst dessen einschließende, beziehungsweise ausschließende Funktion analysiert werden. Bezüglich dieses Charakters herrscht in der deutsch-jüdischen Literatur vor 1933 vielleicht mit der Ausnahme Franz Kafkas eine erstaunliche Bewusstseinslosigkeit, eine Vergessenheit noch da, wo scheinbar wie im zionistischen Schreiben der Herausforderung von Ausgrenzung und Abgrenzung getrotzt wird. Gerade der Zionismus als Bewegung zur Formierung, Nationalisierung und Normalisierung des jüdischen Volks und zur Herstellung einer neuen und anderen Gemeinschaft, vertraut, um Zuschreibungen von Außen souverän zu entgehen, auf die zeitgenössische Rede vom Blut. Dabei zeigt das „Blut“, das in der sprachlichen Sphäre die sich ständig verschiebende Grenze von Eigentlichkeit und Metaphorizität ebenso markiert wie tarnt, auch auf politischer und sozialer Ebene Klüfte an, die unsichtbar sind wie Gletscherspalten unter einer Firndecke. Gletscherspalten sind nicht fest, sie öffnen und verschieben sich mit den Bewegungen des Gletschers. Dabei ermöglichen sie seine Bewegung und sind gleichzeitig deren Folgen. Die unheimlichen Risse öffnen sich denn auch mit der Rede vom Blut gegen die Intention der Rede schon in ihr selbst – wie sie sie erst hervorbringt. Die Blutströme, auf die diese Untersuchung immer wieder stoßen wird, zeigen das Fließende dieser unsichtbaren Grenzen an. Wer ihren Verläufen genau folgen möchte, um sie diskursiv einzuholen, wer gleichsam als Glaziologe102 die Wucherungen des Imaginären kartographieren möchte, der muss die Texte lesen, die sich selbst, ohne es immer explizit zu sagen, an den

102 Die Metapher des Gletschers verdanke ich Hermann Burger und dessen alter ego Wolfram Schöllkopf, der „Privatdozent für neuere deutsche Literatur und Glaziologie“ ist. Hermann Burger: Die künstliche Mutter. Roman, Frankfurt a. M. 1982.

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Grenzen entlang bewegen, in denen Sprache und Gemeinschaft wechselseitig enggeführt werden. 3.  Gemeinschaft schreiben: Theoretische Grundlagen Personen sind – Sie wissen es ja – keine Koalisierten. Aber […] vielleicht darf man das, was sie zur Person macht sagen, dass es ein Bund ist. Ein alter. Ein – ich muss es nach allen Erfahrungen mit dem wieder akut gewordenen so nennen –: ein (handschriftlich eingefügt „blut- und“) artfremder (handschriftlich gestrichen: „blutsferner“). Ein geistiger.*

Gemeinschaft und Gesellschaft: Der Begriff der Gemeinschaft ist ein Zentralbegriff des politischen Denkens, der dieses „von innen heraus“ als „Abdriften ins Mythische“ gefährdet.103 „Gemeinschaft“ wird seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts als alternativer Zusammenschluss jenseits des Staates und jenseits der bürgerlichen Institutionen gedacht, der oft in esoterischer Weise an einen fiktiven Urzustand des Menschen anknüpfen will und vermeintliche anthropologische Urkräfte rituell reaktivieren sollte, die in der modernen, als kalt empfundenen Gesellschaft verloren gegangen sind. Gemeinschaft ist für den Menschen notwendig, sie gibt ihm Geborgenheit und erlaubt ihm, sich im Gefühl der Verbundenheit mit anderen selbst zu identifizieren. Wird diese Verbundenheit jedoch essentialisiert und hypostasiert, kann Geborgenheit in Terror und Identität in einen ausgrenzenden Mythos umschlagen. Besonders in Deutschland war der Mythos der Gemeinschaft politisch folgenreich: „Während sich in den anderen europäischen Sprachen die Synonymität von ‚Gesellschaft‘ und ‚Gemeinschaft‘ bis heute bewahrt haben,“ so schreibt Manfred Riedel in den Geschichtlichen Grundbegriffen, „wird ‚Gemeinschaft‘ in Deutschland zum sozialideologischen Leitbegriff jener national-konservativen und völkischen Bewegung, die nach dem 1. Weltkrieg Sozialismus, Kapitalismus und Industrialismus zugleich zu ‚überwinden‘ trachtete.“104 Dabei wird bewusst oder unbewusst ein Mythos der Gemeinschaft animiert und benutzt, der entsteht „wenn an die Stelle der Beto*



Paul Celan an Peter Szondi, Brief vom 15. Januar 1962, in: Paul Celan / Peter Szondi: Briefwechsel, hg. von Christoph König, Frankfurt a. M. 2005, S. 48. 103 Roberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, aus dem Italienischen von Sabine Schulz und Francesca Raimondi, Berlin 2004, S. 29. 104 Manfred Riedel: „Gesellschaft, Gemeinschaft“, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1975, Band 2, S. 801–862, hier S. 859.

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nung des konstitutiv konkaven Charakters der Gemeinschaft deren affirmative Vergegenständlichung tritt.“105 Im Folgenden will ich darstellen, inwiefern der Begriff der „Gemeinschaft“ mit dem „Blut“ verbunden ist – neben dem „Boden“ eine der „Figuren von Identität, Verschmelzung, Endogamie, die der modernen politischen Philosophie zur Repräsentation von Gemeinschaft dienen“106 – und gerade in dieser affirmativen Verbindung auch für jüdische Autoren um 1900 kardinale Bedeutung besitzt.107 Schon Johann Gottfried Herder entdeckt auf seiner Suche nach einem wahren Christentum jenseits der in den Staat eingebetteten „Christhentumsgesellschaft“, die er mit einer Handwerkszunft vergleicht, die lebendige „Gemeinschaft des Geistes“. Dieser Geist kennet keinen Hass und Neid, keine stolze Absonderung, oder privilegiierte Trägheit; am fernsten ist von ihm die Oekonomie des Unsinns und der Begierde, sich selbst zu zerstören, […] denn die Gemeinschaft des christlichen Geistes ist Liebe und Wahrheit.108

„Liebe und Wahrheit“ im Gegensatz zu dem, was „mit dem Wert des Geldes auszumessen ist“,109 fordert etwas später auch Heinrich von Kleist für seine politische Utopie eines neuen Deutschlands nach der französischen Besatzung. Eine Gemeinschaft gilt es, deren Wurzeln tausendästig, einer Eiche gleich, in den Boden der Zeit eingreifen; deren Wipfel, Tugend und Sittlichkeit überschattend, an den silbernen Saum der Wolken rührt; […]. Eine Gemeinschaft, die unbekannt mit dem Geist der Herrschsucht und der Eroberung, des Daseins und der Duldung so würdig ist, wie irgendeine, die ihren Ruhm nicht einmal denken kann, sie müsste denn den Ruhm zugleich und das Heil aller übrigen denken, die den Erdteil bewohnen, deren ausgelassenster und ungeheuerster Gedanke noch […] Unterwerfung unter eine Weltregierung ist, die in freier Wahl, von der Gesamtheit aller Brüder-Nationen, gesetzt wäre. […] Eine Gemeinschaft mithin gilt es, die dem ganzen Menschengeschlecht angehört; die den Wilden der Südsee noch, wenn sie sie kennten, zu beschützen herbeiströmen

105 Esposito: Communitas, S. 29. 106 Ebd. 107 Das wichtige Buch von Vivian Liska: When Kafka says We. Uncommon Communities in German-Jewish Literature, Bloomington / Indianopolis 2010, ist leider erst nach Fertigstellung der vorliegenden Studie erschienen und konnte deshalb nur noch am Rand Beachtung finden. Darin wird anhand von Beispielen vor und nach 1945 die Auseinandersetzung deutsch-jüdischer Autorinnen und Autoren mit Konzepten der Gemeinschaft aufgearbeitet. 108 Johann Gottfried Herder: Christliche Schriften, in: ders.: Sämtliche Werke. Band 20, Stuttgart 1880, S. 101. 109 Heinrich von Kleist: „Was gilt es in diesem Kriege?“, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, München 1993, 2. Band, S. 377–379, hier S. 378.

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würde; eine Gemeinschaft, deren Dasein keine deutsche Brust überleben, und die nur mit Blut, vor dem die Sonne erdunkelt, zu Grabe gebracht werden soll.110

Obwohl schon in dieser an Pathos kaum zu überbietenden Schrift die Motive des Bodens, in den die Gemeinschaft (durch die Baum-Metapher) eingewurzelt sein soll, und des Bluts, mit dem sie verteidigt werden muss, präsent sind, handelt es sich im Gegensatz zu den Gedichten Arnims, auf die ich im vorherigen Abschnitt verwiesen habe, nicht um einen chauvinistischen Text. Im Gegenteil wird von einer „kommenden Gemeinschaft“111 geträumt, die in überzeitlicher Harmonie alle „Brüder-Nationen“ umfassen soll und die im Gegensatz zum gegenwärtigen, auf „Herrschsucht und Eroberung“ gestellten, politischen Gemeinwesen des napoleonischen Frankreichs, die wirkliche revolutionäre und universelle Form des Zusammenlebens auf dem Planeten verkörpern würde. Diese frühen Belege bei Herder und Kleist zeugen zwar von einem Einspruch gegenüber den klassischen Vergesellschaftungstheorien der Aufklärung, die den normativen, rationalen Zusammenhang von Recht und Gesellschaft aufzulösen trachtet. Gemeinschaft hat hier jedoch noch nicht die Funktion eines systematischen Gegenbegriffs zur Gesellschaft, deren Begriff nun nach Hegel ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Nachdenkens über Politik rückt. Erst die Entdeckung der Gesellschaft als Zusammenspiel von vorgängigen natürlichen Bedürfnissen des Einzelnen und dessen in einen ökonomischen Gesamtzusammenhang eingebettete Arbeit als eine spezifische Weise des Sich-der-Welt-Bemächtigens, weist nach den gewaltigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Transformationsprozessen, die in der Mitte des 19. Jahrhundert vonstatten gehen, die Gemeinschaft als deren Gegenbegriff aus.112 Ferdinand Tönnies trifft 1887 als erster explizit die typologische Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft und macht diese sehr einflussreich zur Grundlage einer neuen Wissenschaft des menschlichen Zusammenlebens, der Soziologie. „Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben“, hält er bereits auf den ersten Seiten fest, „Gesellschaft“ dagegen „nur ein vorübergehendes und scheinbares.“113 Obwohl Tönnies an Marx und an sozialistischen Positionen orientiert war (und 1933 aus dem Beamtenstand entlassen wurde), ist auch bei ihm eine neoromantische Emphase des Natürlichen zu finden: „Und dem ist es gemäß, daß Gemeinschaft selber als ein lebendiger 110 Ebd., S. 378–379. 111 Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, aus dem Italienischen Andreas Hiepko, Berlin 2003. 112 Vgl. Riedel: „Gesellschaft, Gemeinschaft“. 113 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, zweite erheblich veränderte und vermehrte Auflage, Berlin 1912, S. 5.

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Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefact verstanden werden soll.“114 Mit seiner unauflösbaren Gegenüberstellung von lebendiger, das heißt identifizierender Gemeinschaft auf der einen Seite und künstlicher, das heißt abstrakter Gesellschaft auf der anderen Seite, exponiert Tönnies eine Antinomie, die „in den Grundriss einer politischen Theorie der Moderne eingegangen ist und deren mythische Funktion begründet: Eine Gesellschaft kann gerecht sein nur in der Auflösung naturwüchsiger Bindungen, nur im Rückgriff auf erste Identifikationen aber erkennt sie das Residuum ihres Zusammenhalts.“115 Auf dieses „Residuum“ kommt es den Propagandisten der Gemeinschaft an. Sie appellieren an es, beschwören dessen Geheimnis, dessen unzerstörbare Urkraft und Kreativität und dessen Unerschöpflichkeit. Diejenigen, die zur Gemeinschaft gehören, müssen an ihm teilhaben, es speist sie und sie dienen ihm. Die Grenzen der Gemeinschaft: Diese Dynamik und die Mechanismen der Gemeinschaft sind von Helmuth Plessner in seinem kleinen Meisterwerk Grenzen der Gemeinschaft, auf das meine Untersuchung an verschiedener Stelle zurückkommt, schon 1924 mustergültig beschrieben worden. Für Plessner gibt es grundsätzlich zwei Arten und Möglichkeiten der Gemeinschaft, die gleichzeitig auch die faschistische und die kommunistische Vision von Gesellschaft beschreiben. Erstens handelt es sich um die irrationale Gemeinschaft des Bluts und der Liebe und zweitens um die rationalistische Gemeinschaft der Sache, die sich auf die Tradition der Aufklärung beruft. Während letztere die Menschen mit der rationalen Kraft des Arguments überzeugen will, beruht die einheitsstiftende Idee der ersten ganz auf der „Gebundenheit aus gemeinschaftlicher Quelle des Blutes“116 und der „Liebe“, die sich daraus entwickelt. Plessner beschreibt die zentrale Rolle des „Bluts“ für die Gemeinschaft: Ohne blutsmäßige Verbundenheit der Glieder, und darunter ist sowohl biologische Verwandtschaft als auch geheimnisvollere Gleichgestimmtheit der Seelen zu verstehen, lebt keine Gemeinschaft, so dass da, wo nicht ursprünglich-natürliche Gemeinsamkeit der Abkunft, sie wenigstens in der Bereitschaft der Glieder liegt, für einander und das Ganze zu opfern, oder die spirituelle Bindung überdies aus vergossenem Blute erwächst, wie etwa das Christentum aus dem Opfertode des Herrn. […] Aber auch die geistigste Gemeinschaft, wie sie der Typus der solidarischen Lebensordnung mit virtueller Existenz des Ganzen (d.h. im Denken und Handeln aller einzelnen) darstellt, braucht, um Gemeinschaft zu sein, die einheitliche Durchblutung der Individuen. Kommt sie nicht

114 Ebd. 115 Joseph Vogl: „Einleitung“, in: ders. (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 7–27, hier S. 11. 116 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, mit einem Nachwort von Joachim Fischer, Frankfurt a. M. 2002, S. 44.

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aus der Geburt, so muss der einzelne in die Gemeinschaft nach bestimmten Zeremonien aufgenommen werden.117

Die „Blutsgemeinschaft“118 muss also nicht unbedingt die reale genetische Verwandtschaft voraussetzen. Das „Blut“ bezeichnet auch die Bereitschaft, dieses zum vermeintlichen Wohl der Gemeinschaft zu opfern, was den Kult des Märtyrers begründet. Die Gemeinschaft ruht „sehr zum Unterschied von Lebensordnungen anderer Art, materiell in der Liebe ihrer Träger.“119 Diese Liebe ist jedoch äußerst problematisch. In ihrer Beschwörung – etwa im Patriotismus – zeigt sich der ganz und gar rhetorische und konstruktivistische Charakter der Gemeinschaft: „Zu einem Ganzen wird die Liebesintention immer gehen können, zu allen Elementen dieses Ganzen dagegen niemals. […] Eine Grenze der Gemeinschaft wird deutlich: Die Chance ihrer Verwirklichung nimmt mit der Wahrscheinlichkeit der Liebe, d.h. mit wachsender Distanz zu individueller Wirklichkeit ab.“120 Weil nie jeder jeden wirklich lieben, sich ihm höchstens zugehörig oder verwandt fühlen kann, kann sich die Gemeinschaft nie wahrhaftig, außer vielleicht in vereinzelten Momenten der Ekstase, verwirklichen. Deshalb wird in allen Gemeinschaften ein zentraler Führer (ein Vater, eine Mutter, ein Stifter oder Lehrer), ein Held oder Prophet eines Herrn oder ein Symbol, eingesetzt, die diese Liebe auf sich vereinen sollen und können. Als zweite Möglichkeit der Gemeinschaft arbeitet Plessner die so genannte Gemeinschaft der Sache heraus, die „durch Teilhaberschaft an ein und demselben Wert“121 zustande kommt. Diese vom wissenschaftlichen Kommunismus propagierte Gemeinschaft hat ihre Hauptmerkmale in der Unpersönlichkeit, dem Universalismus und dem „Arbeitscharakter“.122 „Als Leistungsgemeinschaft mit absoluter Gleichberechtigung aller, die gleichmäßig in der Einheit des Geistes fundiert sind, bildet sie den Gegensatz zum Typus der Existenzgemeinschaft mit ausgesprochener persönlicher Mitte.“123 Auch dieser Typus der Gemeinschaft stößt auf Realisierungsprobleme. Indem er nämlich ganz auf Rationalität und Überzeugung des Menschen basiert, stößt er an eine andere Grenze, die der Lebenswirklichkeit. Diese Grenze „liegt nicht nur daran, dass der Geist willig, aber das Fleisch schwach ist, sondern an der Kürze des Lebens, am Tempo, mit dem es jeden von Entscheidung zu Entscheidung drängt.“124 Die so genannte Sachgemeinschaft scheitert also an der aufgesplitterten Realität, die 117 118 119 120 121 122 123 124

Ebd., S. 45. Ebd., S. 51. Ebd., S. 45. Ebd., S. 47. Ebd., S. 50. Ebd., S. 50. Ebd. Ebd., S. 53.

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mit Theorie nur unzulänglich vom Einzelnen in seinem Leben bewältigt werden kann, an der nicht endgültigen Entscheidbarkeit von Situationen, die Pragmatik abverlangen. Plessners positive Gegenbegriffe zur Gemeinschaft sind „Öffentlichkeit“, „Takt“, „Diplomatie“, „Geselligkeit“, „Spiel“ oder „Distanz“. Diese Kategorien weisen den Verfahrenscharakter, den geregelten und doch weithin offenen Ablauf sozialer Strukturen aus, sie orientieren sich weder an der Utopie der besten aller Welten, noch am Trugbild einer substantiellen Mitte der Gemeinschaft, sondern an der pragmatischen Maxime eines menschenwürdigen, reibungsfreien Zusammenlebens. Ich kann hier Plessners Schrift nicht weiter referieren, mir erscheint aber das Vertrauen125 auf die pragmatischen Kräfte, das sich in ihren Kategorien zeigt, auch heute die einzige Möglichkeit, jenseits von Ideologie den Mythen der Gemeinschaft zu entgehen. Es ist dieses prekäre Vertrauen, das als einer der profiliertesten Denker der Gemeinschaft auch Jean-Luc Nancy als das bezeichnet, das bloßlegt, „daß das Gemeinsame nicht gegeben ist, nichts ist, keine Sache ist, sondern das ist, was sich möglich macht, indem es sich vertraut – einem ‚Selbst‘, das nicht gegeben ist.“126 Damit wird die Gemeinschaft zu dem was nie gegeben, nie schon da ist, sondern immer eine Aufgabe: „Man muss das Undenkbare […], das Nichthandbare des Mit-Seins zu denken wagen, ohne es irgendeiner Hypostase zu unterwerfen.“127 Das Imaginäre – Sprache und Politik: Die Gemeinschaft muss immer zuerst erfunden werden. Sie ist immer schon zuerst eine „imagined community“ und befindet sich auf der Grenze zwischen dem unscharfen Reich des bloß Vorgestellten und der harten Welt der soziopolitischen Tatsachen. Gemeinschaften müssen vielleicht nicht nach ihrer Legitimität beurteilt werden, sondern nach der spezifischen Art und Weise, wie sie sich selbst entwerfen und vorstellen,128 also nach ihren Repräsentationen in Texten, nach den Gründungserzählungen, Metaphern und Symbolen, die die „Grenzen der Gemeinschaft“ mit der Grenze von Imaginärem und Realem als deckungsgleich ausweisen. Die Instanz der Sprache muss in der historischen Analyse anders beurteilt werden, als die meisten Historiker und Sozialwissenschaftler es tun. Es ist die Philologie, die hier in ganz besonderer Weise ein Instrumentarium und eine Er125 Zum Problem des Vertrauens siehe die Teile 4.2 und 4.3 in dieser Studie. 126 Jean-Luc Nancy: Die herausgeforderte Gemeinschaft, aus dem Französischen von Esther von der Osten, Zürich / Berlin 2007, S. 44. 127 Ebd. 128 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Revised Edition, London / New York 1991, S. 6: „In fact, all communities larger than primordial villages of face to face contact (and perhaps even these) are imagined. Communities are to be distinguished, not by their falsity/genuineness, but by the style in which they are imagined.“

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fahrung hat, die Mechanismen der Vergemeinschaftung zu analysieren. Denn nicht nur die Sprache ist durch die Politik geprägt, nicht nur der Sprachgebrauch wird von der Politik geformt, nicht nur ist Sprache auch ein Instrument der Politik, und macht Politik, sondern nationale, soziale oder religiöse Gemeinschaften sind umgekehrt sprachlich verfasst. Gemeinschaft und Sprache, Identität und Davon-Sprechen/Schreiben bezeugen und erzeugen sich ständig in einem wechselseitigen Prozess. Cornelius Castoriadis hat das einleuchtend beschrieben: Die Fahne, der „Boden“, die Regierung sind soziale Institutionen, die über ihre Funktionalität hinaus symbolischen Wert haben. In diesem symbolischen Charakter sind sie mit dem Imaginären verbunden, das nach Castoriadis’ Analyse erst den inneren Sinn und den Ursprung sozialer Institutionen erklärt.129 Das Imaginäre ist Hort jener Residuen des Zusammenhalts von Gemeinschaften, in ihm bildet sich ein Sinn, der „weder wahr noch falsch ist, aber dennoch zur Ordnung der Bedeutung zählt“130 und sich somit logischen Unterscheidungen entzieht. Gemeinschaften ballen sich nicht zusammen wie blinde Naturgewalten, die Geschichte ist nicht bloßes Fatum, sie organisieren sich aber auch nicht rein rational. So erwächst Castoriadis Ansatz, aus dem ich für das Folgende wertvolle Hinweise beziehe, aus einer Kritik der marxistischen Geschichtstheorie, für die der Ablauf (die Dialektik) der Geschichte nach vernünftigen Gesetzen erkennbar ist. Dem gegenüber sieht Castoriadis das System der Institutionen des Sozialen vom Element des Imaginären wesentlich mitbestimmt. Das Imaginäre existiert nicht wie das Unbewusste in der menschlichen Psyche, sondern verkörpert sich in den von ihm determinierten Institutionen, die es gleichzeitig mitkreiert. Es bezeichnet so „dieses ursprünglich strukturierende Moment, dies zentral Bedeutete/Bedeutende, diese Quelle allen unzweifelhaften und unbezweifelbaren Sinns“,131 einen Punkt, der zwischen Realität und Irrealität ihr Verhältnis bestimmt. Die Rolle des Imaginären besteht darin, dass es Antworten liefert auf die Frage nach der Identität des „Wir“, nach den Grundfragen jeder Gemeinschaft. Diese Antworten vermag weder die Wirklichkeit (denn es gibt keine Essenz einer Gemeinschaft, die ganz real ist) noch rationales Nachdenken zu geben, sondern müssen im Imaginären liegen. Dabei sind Fragen und Antworten gleichermaßen konstituierend. Fragen und Antworten werden dabei nicht ausdrücklich gestellt und beantwortet, sondern erfolgen implizit in den Handlungen, Erzählungen, Gebräuchen und Ritualen einer Gemeinschaft. „Der Mensch ist, auch wenn er es nicht weiß, ein philosophisches Tier, das sich die Fragen der Philosophie gestellt hat, lange bevor die Fragen der Philosophie als Reflexion ausformuliert wurden, und er ist ein 129 Vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, übersetzt von Horst Brühlmann, Frankfurt a. M. 1990, S. 225. 130 Ebd., S. 275. 131 Ebd., S. 249.

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poetisches Tier, insofern er sich diese Fragen im Imaginären beantwortet.“132 Wenn der Mensch „ein poetisches Tier“ ist, dann kann die Poetik vielleicht mehr über seine Natur sagen als die Biologie. Jedenfalls müssen poetische Äußerungen, das Schreiben, als Fragen und Antworten bezüglich der Identität von Gemeinschaften ernst genommen, sowie politische Strukturen auch auf ihren poetischen Gehalt, auf ihr Geschrieben-Sein hin verstanden werden. Vieldeutige und widersprüchliche sprachliche Bilder, brüchige und durchaus rätselhafte Allegorien beschreiben nicht nur die Institutionen einer Gemeinschaft oder begleiten sie von Anfang an, sondern ermöglichen und konstituieren sie von innen heraus. Das Imaginäre als poetische Funktion zeigt sich dabei in der Sprache, durch sie und in ihr bilden sich die sozialen Strukturen mit, so wie diese sich in der Sprache abbilden. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung von Gemeinschaftsvorstellungen muss sich genau auf die Rede vom Blut einlassen. „Blut“ ist immer eine Ersetzungsfigur, die sinnverschiebend wirkt. Es ist eine Kombination von Metapher und Metonymie. Indem das „Blut“ als ein menschliches Organ und damit als ein besonders wichtiger physischer Teil des Menschen für den ganzen Menschen selbst oder dessen Kreatürlichkeit steht, ist es eine Metonymie. Indem es aber als ein Bild für das Leben im Allgemeinen, oder die dieses Leben zerstörende Gewaltsamkeit, eingesetzt wird, kann man es als Metapher verstehen. Wenn die Identität einer Gruppe von Menschen durch diese Figurenverknotung bezeichnet wird, werden die damit implizit transportierten imaginären Gehalte stets mitverhandelt, und wenn diese Gemeinschafts-Identität dann als eine natürliche, vermeintlich im Leben selbst begründete, angesehen wird, die durchaus reale politische Konsequenzen zeitigt, dann kann der imaginäre Gehalt als das konstitutive Element der soziopolitischen Wirklichkeit betrachtet werden. Was genau dieser imaginäre Gehalt ist, welche Figur im Wort Blut am Werk ist, das soll diese Studie anhand des deutsch-jüdischen Schreibens herausfinden. Eine Bestimmung des „Deutsch-Jüdischen“ durch das „Blut“ scheint besonders widersprüchlich. Denn bei der deutsch-jüdischen Literatur geht es gerade nicht um eine Nationalliteratur, die sich gern im wie auch immer bestimmten Natürlichen verwurzelt sieht, sondern um ein diesen Begriff immer schon transzendierendes Verständnis von Schreiben, das sich zwar am Gebrauch einer Sprache – Deutsch – ausrichtet, das jedoch nicht eindeutig, weder durch geographische, noch durch nationale, religiöse, kulturelle oder inhaltliche Merkmale konstituiert ist. In diesem unbestimmten Sinn ist deutsch-jüdische Literatur vielleicht paradigmatisch für ein globalisiertes, postnationales und postkoloni-

132 Ebd., S. 253.

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ales Schreiben überhaupt.133 Ihre Untersuchung könnte wegweisend für Untersuchungen indisch-englischer, kreolischer, deutsch-türkischer oder südamerikanischer Literaturen sein. Doch was ist deutsch-jüdische Literatur? Gibt es sie überhaupt? Warum diese Frage letztlich nicht beantwortet werden kann und doch gestellt werden muss, zeige ich im letzten Teil dieser Einleitung. 4.  Deutsch-jüdisches Schreiben? Schalet schöner Götterfunken!*

Herkunft, Stoff und Diskurs: Ein deutsch-jüdisches Schreiben gibt es nicht. Zu diesem Schluss muss kommen, wer sich mit dem beschäftigt, was deutschsprachige Juden mehrheitlich auf Deutsch hervorbrachten. Zu vieldeutig ist erstens der Begriff „jüdisch“ selbst, zu heterogen sind die verschiedenen Interpretationen des individuellen Jüdisch-Seins in der Moderne als Komplex aus religiösen, kulturellen und politischen Faktoren, familiären Bindungen und gefühlsmäßigen, diffusen Dispositionen, während das Adjektiv „deutsch“ zuerst einfach die Sprache bezeichnet, in der ein Text geschrieben ist. Zweitens ist jeder deutsche Text mit der deutschen Literatur und Kultur innig verbunden und fügt sich auf je eigene Weise in deren Horizont ein. Mit der Verbindung „deutsch-jüdisch“ würde man den Text auf eine angenommene jüdische „Herkunft“ des Autors zurückbinden und seine intertextuelle Offenheit und seine poetische Autonomie gewaltsam beschränken. Der Begriff des Deutsch-Jüdischen birgt die Gefahr, etwas einzuordnen, was letztlich nicht zu ordnen ist. Es ist die Gefahr, Identitäten im Nachhinein anzunehmen und festzuschreiben, die so vielleicht nie bestanden haben. Denn gerade das Offene, Identifizierungen und Objektivierungen immer Widerstrebende, ist doch das großartige „Vermächtnis des deutschen Judentums.“134 Verdoppelt man also, wenn man in apologetischer Absicht von deutsch-jüdischer Kultur oder Literatur spricht, unfreiwillig und automatisch die antisemitische Germanistik, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Eugen Dühring und Adolf Bartels betrieben wurde? „Sind zum Beispiel das ‚Kommunistische Manifest‘ oder die Freudschen Texte“, so fragt Vilém Flusser, „als Teil der jüdischen Literatur anzusehen? Wer dies, ohne Zweifel zu bekommen, bejaht, kann 133 So sieht es in Bezug auf den Begriff des Exils: Stefana Sabin: Die Welt als Exil, Göttingen 2008. * Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1973–1997, Band 3,1: Romanzero u.a., S. 128. [Im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert als DHA, Bandnummer und Seitenzahlen in Klammern.] 134 Vgl. Hermann Levin Goldschmidt: Das Vermächtnis des deutschen Judentums, hg. von Willy Goetschel, Wien 1994.

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zu recht des Antisemitismus verdächtigt werden.“135 Prominent und in zugespitzter Form wurde dieser Gedanke auch vom Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich vertreten, der in einer „Diskussionsbemerkung“ zu einer Tagung in London 1997 bemerkte: „[…] ich bin der Meinung, dass der Begriff der jüdischen Kultur von Hitler und seinen Vor- und Nachläufern erfunden wurde.“136 Denn: „Wir haben kein Wort, das alle Menschen jüdischer Abstammung bezeichnet und daher können wir nur eine im Grunde rassistische Terminologie verwenden. Ich glaube nämlich, dass es gerade die Verschiedenartigkeit von Sprache und Kultur unter den Juden der Diaspora war, die die Rasse zum einzigen Unterscheidungsmerkmal machte, nachdem die Religion nicht mehr diesen Zweck erfüllte.“137 Erliegt man mit der Rede vom deutsch-jüdischen Schreiben mit anderen Worten, was für meine Untersuchung fatal wäre, selbst der Fiktion des anderen Bluts? Ein Auszug aus einer Schrift Bartels’ scheint dies zu bestätigen: Notwendig ist die Aufzeigung jüdischen Blutes, selbst geringerer Bestandteile, in der Literaturwissenschaft unbedingt; man kann das Wesen der Dichter […] nicht voll erklären, wenn man ihre Herkunft nicht möglichst genau feststellt. Bei den reinen Juden ist für uns Deutsche die absolute Volksfremdheit durchaus die Regel.138

Das „Blut“ des Schreibenden fließt in dieser Vorstellung direkt in sein Werk. Es ist für den radikalen Antisemiten auf obsessive Weise „notwendig“, vom Text auf das „Blut“ zurückzuschließen. Verhält es sich so, dass die Literaturwissenschaft heute unter umgekehrten Vorzeichen aber genau so obsessiv diesem Mechanismus folgt, wenn sie von der „jüdischen Herkunft“ deutscher Autorinnen und Autoren spricht, um damit ihre Texte zu deuten? In einem umsichtigen Aufsatz warnt Eva Lezzi vor dieser Gefahr angesichts vieldeutiger Texte und meint, dass „die Benennung des Jüdischen im akademischen Diskurs […] längst selbst zu einem loslösbaren Marker, ja einem Klischee geworden ist […].“139 Und doch kann einerseits nicht über das offensichtliche Faktum hinweggegangen werden, dass es in der deutschen Literatur Stoffe und Themen, Motive und Figuren gibt, die eindeutig jüdisch besetzt sind und mit der Problematik jüdischer Identität und Erfahrung verbunden sind oder traditionell verbunden 135 Vilém Flusser: „Juden und Sprache“, in: ders.: Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen, hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser, Berlin / Wien 2000, S. 131–136, hier S. 134. 136 Ernst H. Gombrich: „Zum Wiener Kulturleben um 1900“, in: ders.: Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung, hg. von Emil Brix und Frederick Baker, Wien 1997, S. 33–54, hier S. 33. 137 Ebd., S. 45. 138 Adolf Bartels: Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft. Eine gründliche Erörterung, Leipzig 1925, S. 34. 139 Eva Lezzi: „,ewig rein wie die heilige Jungfrau ...‘ – Zur Enthüllung des Jüdischen in der Rezeption von deutschsprachigen Romanen um 1800“, in: Willi Jasper / Eva Lezzi / Elke Liebsch / Helmut Peitsch (Hg.): Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur, Wiesbaden 2006, S. 61–87, hier S. 78.

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wurden, und dass so bestimmte Texte innerhalb der deutschen Literatur von dieser abgegrenzt werden können. Andererseits stößt man auf Schwierigkeiten, wenn man bloß von einer jüdischen Literatur spricht, die zufälligerweise auf deutsch geschrieben ist. Denn es wäre offenkundig absurd, Kafka ohne Kleist und Goethe, oder Rosenzweig ohne Hegel und Nietzsche verstehen zu wollen. Um diesen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, spricht Dieter Lamping von einem „jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur“, der sich durch die „Suche nach einer jüdischen Identität“140 konstituiere, jedoch in sich stark heterogen sei. Ausschlaggebend ist nach Lamping nicht der diskreditierte Begriff der „Herkunft“, sondern das „Selbstverständnis“ des jeweiligen Autors für dessen Aufnahme in eine „jüdische Literatur deutscher Sprache.“141 Aus zwei Gründen sind für mein Unternehmen Lampings methodische Entscheidungen nicht praktikabel: Erstens fällt man mit dem Bezug auf das „Selbstverständnis“ eines Autors hinter die theoretische Errungenschaft der Trennung von Text und Autor zurück, was zu sehr eingeschränkten Lektüren führen kann.142 Aus Texten erfährt der Leser bekanntlich oft mehr über den Autor, als dieser von sich selbst wissen wollte. Zweitens besteht das Interessante am Motiv des Bluts gerade auch darin, dass es sich in ganz unterschiedlichen Diskursen beobachten lässt, in denen Juden sich jeweils äußerten. Diese Diskurse sind jedoch – wie etwa die im dritten Kapitel untersuchten sozialistischen Schriften Moses Hess’ – nicht spezifisch jüdisch. Es gilt vielmehr, die das Jüdische transzendierenden Aussagen zu analysieren und die Funktion des Bezugs zum jeweiligen Diskurs sowie zum spezifisch Jüdischen in ihnen zu definieren und nicht einen vermeintlich „jüdischen Diskurs“ oder „deutsch-jüdischen Diskurs“ zu beschreiben.143 Sprache und Heilung: Andreas Kilcher hat gezeigt, dass die Debatte um den Begriff des deutsch-jüdischen Schreibens eine lange Vorgeschichte hat. Einen ihrer Kulminationspunkte vor 1933 hatte sie 1912 in der so genannten Kunstwartdebatte, als Moritz Goldstein aus der Perspektive „eines explizit ‚westjüdischen‘

140 Dieter Lamping: Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S. 35. 141 Ebd., S. 30. 142 Vgl. Alfred Bodenheimer: „Eine dauernde Konfrontation. Dieter Lamping reflektiert über den jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts“, in: (Sommer 2008). 143 Der Begriff des „deutsch-jüdischen Diskurses“, wie ihn in einer insgesamt bewundernswerten Arbeit Galili Shahar verwendet, scheint mir aus diesem Grund für meine Untersuchung nicht anwendbar. Vgl. Galili Shahar: theatrum judaicum. Denkspiele im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne, Bielefeld 2007.

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oder ‚europäischen‘ Kulturzionismus“144 und unter dem Eindruck eines sich verschärfenden Antisemitismus forderte, eine neue jüdische Nationalliteratur zu begründen, die nicht an eine Nationalsprache gebunden wäre.145 Von einer assimilatorisch zu bezeichnenden Warte aus antwortete man ihm mit dem Beharren auf der „Interkulturalität von Juden und Deutschen seit der Aufklärung.“146 Gerade die deutsche Sprache, die für die Antisemiten seit Beginn des 19. Jahrhunderts das pièce de résistance der jüdischen Emanzipation war – der „klassische, relevante Text“147 ist Richard Wagners Das Judentum in der Musik148– war für die jüdischen Vertreter der Assimilation wie etwa den Literaturwissenschaftler Ludwig Geiger oder den Schriftsteller Jakob Wassermann ein wichtiges Element im gewünschten Verschmelzungsprozess von deutschen Juden und Deutschen. Noch 1915 schreibt Hermann Cohen in seinem Deutschtum und Judentum mit Bezug auf Moses Mendelssohn: Aus dieser Einheit seines deutschen und seines jüdischen Wesens erwuchs ihm nicht nur die Kraft, sondern auch die Beschränkung und Bescheidung, den deutschen Juden zu helfen, an das Sonnenlicht der deutschen Kultur und Literatur sie emporzuheben, vor dem Jargon des Weltjudentums sie zu befreien, und ihnen das Gepräge des deutschen Judentums einzuimpfen. Die Sprache sollte das Mittel werden zu ihrer Erlösung 144 Andreas B. Kilcher: „Was ist ,deutsch-jüdische Literatur‘? Eine historische Diskursanalyse“, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaft 45. (1999), Heft 4, S. 485–517, hier S. 503. 145 Vgl. Julius H. Schoeps / Karl E. Grözinger / Willi Jasper / Gert Mattenklott (Hg.): Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 2002, Band 13: Deutsch-Jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte, Berlin / Wien 2002. 146 Ebd., S. 496. 147 Shulamit Volkov: „Sprache als Ort der Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in Deutschland, 1780–1933“, in: dies.: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays, München 2001, S. 82–96, hier S. 93. 148 „Unsere ganze europäische Zivilisation und Kunst ist aber für den Juden eine fremde Sprache geblieben; denn, wie an der Ausbildung dieser, hat er auch an der Entwicklung jener nicht teilgenommen, sondern kalt, ja feindselig hat der Unglückliche, Heimatlose ihr höchstens nur zugesehen. In dieser Sprache, dieser Kunst kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen. / Im Besonderen widert uns nun aber die rein sinnnliche Kundgebung der jüdischen Sprache an. Es hat der Kultur nicht gelingen wollen, die sonderliche Hartnäckigkeit des jüdischen Naturells in Bezug auf Eigentümlichkeiten der semitischen Aussprechweise durch zweitausendjährigen Verkehr mit europäischen Nationen zu brechen. Als durchaus fremdartig und unangenehm fällt unsrem Ohr zunächst ein zischender, schrillender, summsender und murksender Lautausdruck auf: eine unsrer nationalen Sprache gänzlich uneigentümliche Verwendung und willkürliche Verdrehung der Worte und der Phrasenkonstruktionen gibt diesem Lautausdruck vollends noch den Charakter eines unerträglich verwirrten Geplappers [...].“ Richard Wagner: „Das Judentum in der Musik“, in: Jens Malte Fischer: Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt a. M. / Leipzig 2000, S. 143–196, hier S. 150–151.

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aus dem Ghetto. Und die deutsche Sprache hat er als dieses Heilmittel des Judentums erwählt.“ [Hervorhebungen im Original.]149

Einem nationalen „Heilmittel“ für das in einen pathologischen Zustand verfallene Judentum des internationalen Galut waren auch zionistische Autoren auf der Spur. Diese waren jedoch der konträren Ansicht, dass jüdische Literatur letztlich nur auf Hebräisch geschrieben werden kann. Martin Buber meinte 1909 in einer Rede zu einer Konferenz für hebräische Sprache und Kultur in Berlin, „daß von allen Krankheiten unseres Volkslebens diese die schwerste und gefährlichste ist, daß unsere Sprache ihre lebendige Kontinuität eingebüßt hat, und daß sie aufgehört hat, alle Elemente des Volkes miteinander zu verbinden.“150 Buber sah auf dem Weg zur „Heilung und Erlösung des Volkes“151 nur „die Wiederbelebung der hebräischen Sprache, der Sprache der Urzeit“ aus der „im Innersten“152 zu erfahren sei, was Judentum bedeute: „Wer die hebräische Sprache in sein Leben aufnimmt, der nimmt die schöpferische Funktion des Volksgeistes in sich auf, der ist […] der innersten Form seines Daseins nach Jude.“153 Konsequent gedacht – Buber vermeidet diesen Schluss jedoch – heißt das auch, dass ein Jude sich auf Deutsch nie „der innersten Form seines Daseins nach“ schöpferisch äußern kann. So wurde auch Cohens Schrift aus dieser Perspektive mit Argumenten hart kritisiert, die den antisemitischen durchaus verwandt sind.154 In ihrer weniger radikalen Version empfahlen zionistische oder „nationaljüdische“ Autoren wie Goldstein als „vielleicht wirksamstes Palliativ“155 die „Thematisierung jüdischer Stoffe in den ästhetischen Formen der deutschen Literatursprache.“156 Ihnen kam es nicht so sehr auf die sprachliche Gestalt, als auf den „Stoff“ oder „Inhalt“ der Dichtung an. Das konnte jedoch im Sinn von Goldsteins Wort „Palliativ“ nur als Linderung verstanden werden. Eine endgültige, wie auch immer geartete „Heilung“, wie sie Cohen mit dem Wort vom „einimpfen“ meinte, lag in weiter Ferne.

149 Hermann Cohen: „Deutschtum und Judentum, mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus“, in: ders.: Werke, Band 16: Kleinere Schriften V, bearbeitet und eingeleitet von Hartwig Wiedebach, Hildesheim / Zürich / New York 1997, S. 465–556, hier S. 502. 150 Martin Buber: „Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur“, in: ders.: Werkausgabe 3. Frühe Jüdische Schriften 1900–1922, hg., eingeleitet und kommentiert von Barbara Schäfer, München 2007, S. 211-218, hier S. 212. 151 Ebd., S. 213. 152 Ebd., S. 214. 153 Ebd., S. 215. 154 Vgl. ebd., S. 546, v. a. die informative Anmerkung von Hartwig Wiedebach. 155 Moritz Goldstein: „Deutsch-jüdischer Parnass (1912)“, in: Menora 13, S. 39–60, hier S. 57. 156 Kilcher: „Was ist ,deutsch-jüdische Literatur‘?“, S. 504.

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Die Metaphorik von Krankheit und Heilung, die bemerkenswertweise alle Partner dieser „gespenstischen Debatte“157 bemühen, scheint heute nicht nur abgelegen und fremd, sondern in hohem Maße kontaminiert. Das Problem hat sich jedoch nicht grundsätzlich geändert. Wenn in unzähligen literaturwissenschaftlichen Arbeiten die Komposita „deutsch-jüdisch“ als Bestimmung des Untersuchungsgegenstands verwendet wird, ist es meistens völlig unklar, was damit gemeint ist. Noch immer schwankt man damit implizit zwischen ethnischnationalen Bestimmungen des Jüdischen (der zionistischen Ansicht) und einem religiösen Verständnis von Judentum, für das alles Volksmäßige erst eine Folge der ursprünglichen göttlichen Offenbarung darstellt und für das das moderne Judentum eigentlich (wie noch bei Cohen) eine Konfession bildet. „Zirkulation der Zustände“: In einem Artikel zum Neuen Lexikon des Judentums etwa definieren Hans-Otto Horch und Itta Shedletzky deutsch-jüdische Literatur als das literarische Werk jüdischer Autoren in deutscher Sprache, in dem explizit oder implizit in irgendeiner Form jüdische Substanz erkennbar ist – als jüdische Thematik, Motivik, Denkformen oder Modelle. Diese jüdische Substanz – im Sinn einer Auseinandersetzung mit jüdischer Tradition oder jüdischer Existenz – entfaltet sich bei den meisten Autoren innerhalb eines dominierend deutschen kulturellen Bewusstseins.158

Auf den ersten Blick ist diese Definition klar und es ist ihr nichts anzufügen. Doch obwohl Horch und Shedletzky sie weiter unten um die Problematisierung der „Rezeptions- und Wirkungsgeschichte“159 erweitern, bestehen weiterhin zwei grundsätzliche Schwierigkeiten. Auch die sorgfältigste Verwendung des Begriffs „Substanz“ kann erstens nicht vergessen machen, dass es im strengen Sinn die Instanz des Lesers ist, die „Jüdisches“ in einem Text findet und als solches bezeichnet.160 Dies gilt theoretisch auch für Texte, die explizit jüdische Erfahrung behandeln und erzählen wie etwa Joseph Roths Hiob. Zweitens ist das Bild einer „jüdischen Substanz“, die sich innerhalb eines „deutschen kulturellen Bewusstseins“ entfalte, auf seltsame Weise in organische Vorstellungen verstrickt; als würde ein verpupptes Judentum im Wald der deutschen Kultur 157 Eine „fast schon gespenstische Debatte“ nennt Christoph Schulte die Auseinandersetzung über „Deutschtum“ und „Judentum“ unter deutschen Juden. Vgl. Christoph Schulte: „Nicht nur zur Einleitung“, in: ders. (Hg.): Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland, Stuttgart 1993, S. 5–27, hier S. 5. 158 Hans-Otto Horch / Itta Shedletzky: „Die deutsch-jüdische Literatur und ihre Geschichte“, in: Julius H. Schoeps (Hg.): Neues Lexikon des Judentums, München 1992, S. 291–294, hier S. 291. 159 Ebd. 160 Vgl. Alfred Bodenheimer: „Wer definiert für wen, was jüdische Literatur ist?“, in: transversal. Zeitschrift des Centrums für Jüdische Studien, 2/2005, S. 3–10.

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zum Schmetterling werden.161 Das Zusammenspiel von deutschem und jüdischem „kulturellen Bewusstsein“, von deutscher Sprache und jüdischen Motiven und Figuren, nichtjüdischen deutschen Motiven und jüdischen Kontexten, ist in Wirklichkeit einiges komplexer und ist mit dem Schema der Entfaltung – was dem Baumschema entspricht – nicht abzubilden, sondern gleicht viel eher Gilles Deleuzes und Félix Guattaris „Rhizom“. Entgegen einem „strukturalen oder generativen Modell“162, „verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen […]“163 Es ist ein „nicht zentriertes, nicht hierarchisches […] System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat, es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert.“164 Es handelt sich in dem Phänomen des deutsch-jüdischen Schreibens, so meine ich, um eine „Zirkulation der Zustände“, von deutschen und jüdischen Zuständen und Zuständigkeiten. Das Modell der Zirkulation entwindet sich auch kartographischen Vorstellungen einer „deutsch-jüdischen Topographie“, in der das „deutsch-jüdische“ jeweils einen Zwischenraum oder den Raum des Weder-noch besetzt.165 Als Beispiel wäre mit dem Begriff der Zirkulation Heines sonst theoretisch gar nicht zu fassende Verschmelzung der Barbarossa-Figur mit dem jüdischen MessiasGedanken beschrieben, wie sie im Buch über Börne zum Ausdruck kommt: […] dieser deutsche Befreier ist vielleicht derselbe, dessen auch Israel harret … / O theurer, sehnsüchtig erwarteter Messias! / Wo ist er jetzt? Wo weilt er? Ist er noch ungeboren oder liegt er schon seit einem Jahrtausend irgendwo versteckt, erwartend die große rechte Stimmung der Erlösung? Ist es der alte Barbarossa, der im Kyffhäuser schlummernd sitzt auf dem steinernen Stuhle und schon so lange schläft, dass sein weißer Bart durch den steinernen Tisch durchgewachsen … (DHA 11, 110)

Das Deutsche und das Jüdische zirkulieren im Text. Es ist dieser Vorgang der unaufhörlichen Zirkulation – nie ist ein Zustand rein und abgetrennt von einem anderen zu denken – der deutschen Juden nach Heine oft körperliches Unbehagen bereitete.166 161 Die Entwicklung von Raupe zu Schmetterling ist eine der ersten Assoziationen des Wortes „entfalten“, wie das Grimmsche Wörterbuch bezeugt. Vgl. Lemma „entfalten“, in: Grimm: Band 3, Sp. 515. 162 Gilles Deleuze / Félix Guattari: Rhizom, aus dem Französischen von Dagmar Berger u.a., Berlin 1977, S. 20. 163 Ebd., S. 34. 164 Ebd., S. 35. 165 Zu einer avancierten Dekonstruktion solcher Vorstellungen vgl. Andrea Schatz: „Geteilte Territorien: Topographie, Genealogie und jüdische deutsche Literatur“, in: Eva Lezzi / Dorothea M. Salzer (Hg.): Dialog der Disziplinen: Jüdische Studien und Literaturwissenschaft, Berlin 2009, S. 483–514. 166 Franz Rosenzweig schreibt 1919 in einem seiner Briefe an die Geliebte Margrit Rosenstock-Huessy, dass er deren Mutter – „um die Abwesenheit der ‚Kinder‘ auszunutzen“ – aus Heines Disputation vorgelesen hatte: „Leise geht es. Aber laut ist es nur gemein. [...] Ich

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Die Zirkulation geht nicht nur innerhalb der motivischen Ebene vonstatten, sondern auch auf der sprachlichen Ebene des Ausdrucks. So sind zum Beispiel Heines folgende Gedichtzeilen aus der Disputazion ohne Hebräischkenntnisse nicht zu verstehen: Hunderttausend Ritter folgten Diesem König von Mizrajim, Stahlbepanzert, blanke Schwerter In den schrecklichen Jadayim. (DHA 3/1, 170)

Ist das nun deutsche oder hebräische, jüdische oder deutsch-jüdische Literatur? Sicher: Die hebräischen Worte werden ironisierend gebraucht. Dennoch stehen sie ohne weitere Erklärung im Text und man könnte nicht sagen, dass sie in den deutschen Text bloß eingefügt sind. Keinesfalls ist hier eine „Entfaltung“ jüdischer „Substanz“ im deutschen Nährboden zu beobachten, sondern eine Zirkulation deutscher und jüdischer Zustände, Sprachen und Motive, im Medium des Textes.167 Die Frage nach dem Begriff des deutsch-jüdischen Schreibens kann nicht mittels Definitionen, sondern nur dann beantwortet werden, wenn in der Antwort die Frage weiter enthalten und dadurch im Sinn Hegels aufgehoben wird. Die Literaturwissenschaft steht vor dem Problem, dass sie der verwirrenden Vielstimmigkeit der deutschen Juden in der Literatur als einem abgeschlossenen historischen Raum gegenüber steht, der trotz seines disparaten Äußeren etwas allen Stimmen Gemeinsames besitzt: Die Problematisierung des eigenen Standortes zwischen den Zuständen „deutsch“ und „jüdisch“, die mit einer nach Deleuze und Guattari als „Zirkulation“ zu benennenden Austauschbewegung von Motiven und Sprachen einhergeht. Trotz aller Bedenken ist der Begriff deutschjüdisch für poetische und theoretische Texte vertretbar, jedoch nur, wenn die traditionelle literaturhistorische Optik umgedreht wird. Es gibt deutsch-jüdisches Schreiben, wie Kilcher festhält, immer nur im singulär zu bestimmenden Einzelfall eines Textes und nicht als logische Kategorie des Ausschlusses: Es ist […] nicht die Aufgabe der Literaturwissenschaft, festzulegen und zu bestimmen, was deutsch-jüdische Literatur sei, welche Autoren zu ihrer Geschichte und welche Texte zu ihrem Korpus gehören. Es geht nicht darum, dass die Literaturwissenschaft kam mir noch am Morgen beschmutzt vor und hatte das Gefühl, mich bei deiner Mutter entschuldigen zu müssen, – was ich auch tat.“ Franz Rosenzweig: Die „Gritli“-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, hg. von Inken Rühle und Reinhold Mayer, Tübingen 2002, S. 240. 167 Auch der philologische Kommentar der DHA versagt hier, denn „Mizrajim“ ist nicht einfach „hebr. für Ägypten“ (DHA 3/2, 945), obwohl diese Übersetzung natürlich stimmt. Wie auch das hebräische Wort Jad für Hand evoziert Mizrajim die Pessach-Haggada und damit die fundamentale politische Erzählung des Judentums.

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selbst Bestimmungen vornimmt oder gar Normen und Kriterien, wie Herkunft, Substanz, Stoffe, Motive, Sprache, Stil etc., vorgibt um zu definieren, was deutsch-jüdische Literatur sein soll. Ein wissenschaftlicher Diskurs, der dies täte, wäre erneut objektivierend und totalisierend. Dagegen wird es darum gehen müssen, unter dem Begriff der deutsch-jüdischen Literatur selbst Bestimmungsdiskurse zum Gegenstand der Analyse zu nehmen. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse der deutsch-jüdischen Literatur wird folglich darin bestehen, die historischen Bestimmungen der deutsch-jüdischen Literatur im einzelnen zu beschreiben und zu fragen, mit welchen argumentativen Strategien in den verschiedenen historischen Diskursen, letztlich aber […] in jeden einzelnen Text, der irreduzibel vieldeutige interkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Literatur konstruiert und interpretiert wird.168

Im Folgenden werde ich Kilchers Forderung zum methodischen Ausgangspunkt der Arbeit machen. Jeder einzelne Text muss daraufhin geprüft werden, mit welchen rhetorischen und literarischen Strategien er auf singuläre Weise das Deutsch-Jüdische „konstruiert“ und „interpretiert“. Kilcher blendet jedoch ein schwerwiegendes theoretisches Problem aus. Schon Vilém Flusser kommt nach der Erörterung der Definitionsschwierigkeiten beim Begriff „Jüdische Literatur“ zum Schluss: „Es bleibt also nichts anderes übrig, als sich an spezifische Texte zu halten“ – im Nebensatz bringt er die Problematik dieses turns auf den Punkt – „wobei allerdings zu bedenken ist, dass die Wahl dieser Texte die Untersuchung vorwegnimmt.“169 In der Tat begibt sich meine Untersuchung bewusst in eine epistemologische Endlosschleife. Natürlich habe ich bereits Texte ausgewählt und erwarte, in ihnen etwas zu finden. Dieses Paradox, das beim Gegenstand des deutsch-jüdischen Schreibens verschärft zu Tage tritt, prägt die hermeneutische Wissenschaft insgesamt und lässt sich in einer Einleitung nicht abhandeln. Mir bleibt nichts anderes übrig, als es in den Gang der Reflexion aufzunehmen. Die vorliegenden Einzeluntersuchungen werden sich primär damit beschäftigen, den „Zirkulationen“ des „Bluts“ zu folgen, das deutsche oder jüdische Zustände besonders intensiv beschreibt. In Heines Reisebildern – um mit einem dritten Beispiel zu Heine diese Annahme zu illustrieren und zu stützen – besucht der Erzähler mit seiner englischen Begleiterin eine Kathedrale: Am Ausgang des Doms tunkte sie den Zeigefinger dreymahl ins Weihwasser, besprengte mich jedesmahl und murmelte: Dem Zefardeyim Kinnim; welches nach ihrer Behauptung die arabische Formel ist, womit die Zauberinnen einen Menschen in einen Esel verwandeln. (DHA 7/1, 183)

Nur der Leser, der sich einmal mit der Pessach-Haggada befasst hat, weiß, dass diese „Formel“ nicht Arabisch, sondern Hebräisch ist. Es handelt sich um die drei ersten ägyptischen Plagen dam (Blut), tsfarde’a (Frösche), kinnim (Ungeziefer), 168 Kilcher: „Was ist ,deutsch-jüdische Literatur‘?“, S. 511. 169 Vilém Flusser: „Juden und Sprache“, in: ders.: Jude sein, S. 134.

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die während des rituellen Seder-Abends an Pessach aufgezählt werden, während zehn Weintropfen die zehn Plagen symbolisieren. Heine setzt diesen religiösen Hintergrund, der für deutsche Juden seiner Zeit, jedoch nicht für seine nichtjüdischen Leser, selbstverständlich war, in einen völlig anderen Kontext. Zwar ist an Pessach noch nie ein Mensch in einen Esel verwandelt worden, dennoch ist Pessach, wie Friedrich Thieberger schreibt, „das Fest der Verwandlung.“170 Denn die Festgemeinschaft vollzieht im Akt des Mahls performativ den Auszug aus Ägypten nach, der für den Übergang von Unfreiheit zu Freiheit und für die Verwandlung des Volkes Israel steht. – Nebenbei wird natürlich auch das Ritual der christlichen Taufe parodiert, die eine „Verwandlung“ durch Wasser darstellt, wenn auch die Taufformel nicht hebräisch ist. – Dieser Komplex schwingt in Heines Text allusiv mit, er wird jedoch selbst bis zur Unkenntlichkeit verwandelt und einem religionskritischen Zusammenhang eingefügt: Die ganze Menschheit soll befreit werden, die alten „Formeln“ sind für diesen Zweck höchstens noch ironisch und im neuen Medium der deutschen Literatursprache verwendbar. In der Pessacherzählung selbst spielt das „Blut“, wie ich im folgenden Kapitel zu Heine ausführlich zeigen werde (und wie Israel Yuval in seiner Untersuchung der Haggadah als „eine Art jüdisches Gegen-Evangelium“171 überzeugend gezeigt hat), eine nicht unerhebliche Rolle. Für Heine allerdings dient es in seinem Text dazu, den Knotenpunkt zu kennzeichnen, an dem verschiedene Zustände – das Erbe der jüdischen Tradition und die Existenz als deutscher Dichter, Mythos und Glauben, Freiheit und Unfreiheit – zirkulieren und ineinander laufen. Damit ist es auch der Punkt, der das spezifisch Deutsch-Jüdische seines Textes bezeichnet. Modelle: Es kann in dieser Untersuchung nicht darum gehen, einen historisch zusammenhängenden Abriss des Blutmotivs im deutsch-jüdischen Schreiben zu liefern. Lektüren können lediglich im Sinne Theodor W. Adornos Modelle172 dafür geben, wie das Deutsch-Jüdische mit „Blut“ jeweils anders beschrieben, erzeugt und gedeutet wird. Jeder einzelne, singuläre Text wird hier als ein Modell dessen gelesen, was deutsch-jüdisches Schreiben heißen mag. Damit ist auch das Moment bezeichnet, das Flusser einmal als den kulturellen Aspekt jüdischen Seins bezeichnete. Es sei „dem jüdischen Engagement in der westlichen Welt vorherbestimmt, konkrete Verhaltensmodelle vorzuschlagen, die mit der 170 Friedrich Thieberger: „Pessach“, in: ders. (Hg.): Jüdisches Fest, Jüdischer Brauch. Ein Sammelwerk, unter Mitwirkung von Else Rabin, Berlin 1967 (Nachdruck der ersten Auflage von 1937), S. 198–216, hier S. 198. 171 Israel Jacob Yuval: Zwei Völker in deinem Leibe. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätmittelalter und Antike, aus dem Hebräischen von Dafna Mach, Göttingen 2007, S. 101. 172 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a. M. 1973, S. 39.

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Erfahrung des Judentums übereinstimmen.“173 Wie die Kibbuzim ein Modell für soziales Verhalten seien, so sei Israel von seinen Gründervätern als ein Modell für einen Staat entworfen worden. Marx habe ein Modell für ein revolutionäres und Freud eines für „individuell bewusstes“ Verhalten vorgeschlagen. „Spinoza schlägt ein philosophisches Verhalten vor und Husserl ein Modell für wissenschaftliches. Schönberg schlägt ein Modell für Komposition vor und Wiener ein kybernetisches Modell; Lévi-Strauss ein Modell für mythisches und Popper eines für rationales Verhalten.“174 Jüdische Schriftsteller, so kann man nach Flussers eigenem Modell ergänzen, schlagen in ihren Texten Modelle zum konkreten Schreiben von Texten vor. Diese Modelle sollen hier kritischen und kontextualisierenden Lektüren ausgesetzt werden. Dabei soll deutlich werden, inwiefern sie die „Erfahrung des Judentums“ jeweils anders in sich tragen, verarbeiten und deuten. Dabei stehen die Analysen nicht ganz unvermittelt nebeneinander. Wie ein „Ensemble von Modellanalysen“ nach Adorno „Verbindlichkeit ohne System“ garantiert, indem das Modell „das Spezifische und mehr als das Spezifische“ trifft, „ohne es in seinen allgemeinen Oberbegriff zu verflüchtigen“, so sollen die vorliegenden Einzelstudien „nicht bloß monadologischer Art“ sein.175 Der wissenschaftliche Charakter dieser Studie verlangt trotz der Singularität der aufgeführten Modelle ihre Verbindlichkeit, er will, dass diese Studie mehr ist als eine Sammlung von Untersuchungen zur Bedeutung des Blutmotivs, sondern sich letzten Endes auf den immer neu zu bestimmenden Begriff des deutsch-jüdischen Schreibens richtet. Dieser Begriff bildet den Horizont der Studie, auf den die einzelnen in ihr angelegten Durchgänge durch die Texte Heinrich Heines, Moses Hess’, Max Nordaus, Martin Bubers, Franz Rosenzweigs und Franz Kafkas ausgerichtet sind. Im Bild des Horizonts gleicht der Begriff dem goldenen Topf am Ende des Regenbogens: Steht man dort, wo er eben noch lokalisiert wurde, hat er sich schon wieder ins ungreifbar Weite verschoben.

173 Vilém Flusser: „Jude sein (2) – Kultureller Aspekt“, in: ders.: Jude sein, S. 67–72, hier S. 71. 174 Ebd. 175 Adorno: Negative Dialektik, S. 39.

II.  Die „Weltblutfrage“ – Heinrich Heine

Die Rede vom Blut verdichtet Diskurse über Zugehörigkeit und Gemeinschaft, ebenso wie über Ausschließung, Gewalt und Einsamkeit. Auf mehreren chronologisch angeordneten Erkundungsgängen durch das Werk Heines – von den frühesten bis zu den letzten Texten – sollen nun die jeweiligen Funktionen und die Funktionsweisen dieser Verdichtungen am Text beschrieben werden. Wenn die Figur Heines ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Art Schibboleth, und die Frage, wie man es mit Heine hält, zu einer Art Gretchenfrage der deutschjüdischen Kultur geworden ist,1 dann lässt sich im Folgenden erweisen, dass gerade in Heines Texten das „Blut“ in seiner ganzen Polyvalenz für die Frage nach deutsch-jüdischer Identität eine zentrale Funktion inne hat. Nach einigen kulturtheoretischen und allgemeinen Beobachtungen zum Motiv des Blutstroms in Heines früheren Texten, das seine Auseinandersetzung mit romantischer Christologie begleitet, sind im zweiten Abschnitt genaue Textlektüren unter anderem zum Gedicht An Edom! eingefügt, die die poetologische Verfasstheit deutschjüdischen Schreibens als Wunschmaschine der Umkehrung theologisch-politischer Verhältnisse beleuchtet. Drittens untersuche ich anhand von Gedichten, die Rachephantasien zum Inhalt haben, wie sich ein jüdisches Subjekt aus der Reaktion gegenüber marginalisierender Gewalt etabliert, und wie sich möglicherweise anhand dieser Gedichte Strategien zur Überwindung der Dialektik von Setzung und Gegensetzung, Ausschluss und Einschluss skizzieren lassen. Immer folge ich dabei dem „Blut“, das auch im Werk Heines immer ambivalent ist: Indem es auf eine virtuelle Ganzheit verweist, bedeutet es die unmittelbare Vergemeinschaftung, indem es Gewalt und Gewaltsamkeit anzeigt, bezeichnet es demgegenüber Vereinzelung und Ausgrenzung.

1 Vgl. Mark H. Gelber (Hg.): The Jewish Reception of Heinrich Heine, Tübingen 1992, darin insbesondere Lothar Kahn / Donald D. Hook: “The Impact of Heine on Nineteenth-Century German-Jewish Writers”, S. 53–66.

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1.  Blutströme Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie.*

1.1  Der narzisstische Messias

Im Anfang der deutsch-jüdischen Literatur steht die Ironie, also die Figur einer Enttäuschung.2 Das Dokument, in dem sich das Bewusstsein dafür vielleicht am reinsten spiegelt, ist ein Brief, dessen Inhalte auf den ersten Blick konventionell erscheinen. Der knapp neunzehnjährige Heine schreibt im November 1816 aus Hamburg an einen Schulfreund über seine unglückliche Liebe zu seiner Cousine, die nicht minder unglücklichen Erfahrungen als angehender Kaufmann und seine ersten Versuche als Dichter. In gut romantischer Manier empört sich der junge Mann gegen den philiströsen „Geist der hier herrscht“3 und bedauert, dass „in dieser Schacherstadt nicht das mindeste Gefühl für Poesie zu finden“ (ebd.) sei. Die abweisende Gesellschaft, die Poesie und die Liebe; der Brief fasst die drei Motive in einer ebenso bemerkenswerten wie ironischen Engführung zusammen: […] so hat sich auch noch dazugesellt seit einiger Zeit eine schwüle Spannung zwischen den getauften und ungetauften Juden (alle Hamburger nenne ich Juden und die ich um sie von den Beschnittenen zu unterscheiden: getaufte Juden benamse, heißen auch vulgo: Christen.) Bey so bewandten Umständen läßt sich leicht voraussehen, daß Christliche Liebe die Liebeslieder eines Juden nicht ungehudelt lassen wird. Da ist guter Rath theur; […]. (Nr. 3)

Es ist vielleicht die erste Prophezeiung Heines, die zutreffen wird. Schon der junge Harry Heine scheint die außerordentlich feindselige Rezeption und die *

Søren Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Düsseldorf / Köln 1961, S. 4 2 Ironie scheint mit dem Argwohn verbunden zu sein, „dass alles Glauben, Hoffen oder Anteilnehmen immer nur in Enttäuschung enden kann.“ Jedediah Purdy: „Das Elend der Ironie“, in: Die Zeit, Nr. 37/2000, (Winter 2009). 3 Die Briefe Heines werden in der vorliegenden Studie nach der unüberbietbaren OnlineAusgabe des „Heinrich-Heine-Portals des Düsseldorfer Heine-Instituts und der Universität Trier zitiert. Textgrundlage dieser Ausgabe sind die Bände 20 bis 27 und 20–27R der Weimarer Säkularausgabe (erschienen von 1970 bis 1984), die erneut mit den Handschriften verglichen und erweitert wurden. . Ich zitiere die Briefe im Folgenden nach dem dortigen Textlaut und mit Angabe ihrer Nummer in Klammern, hier Nr. 3.

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antisemitischen Angriffe, denen sein Werk ausgesetzt sein würde, vorauszuahnen. Die religiöse Moral der Mehrheitsgesellschaft wird – indem der Ausdruck „Christliche Liebe“ ironisch gebraucht wird – als Doppelmoral gebrandmarkt. Sie wird implizit beschuldigt, gegen ihre eigenen Grundsätze dem Vertreter der jüdischen Minderheit nicht die gleichen Gefühle zuzugestehen wie den christlichen Romantikern.4 Dabei betrachtet sich dieser Autor doch selbst nicht mehr als Jude, und „Jude“ ist ihm in selbst antijüdischer Motivik, die in der „Schacherstadt“ ihren klassischen Topos hat, nur der Kapitalist.5 Gerade angesichts einer umfassenden Ökonomisierung der Gesellschaft sieht er sich jedoch wieder zum Juden gemacht. Seine „Liebeslieder“ als Ausdruck einer unbedingten Liebe jenseits der ökonomischen Sphäre erscheinen – gerade weil sie von einem Juden stammen – als Konkurrenz zur konventionellen „Christlichen Liebe“, die sich mit dem Geist des Kapitalismus nach 1800 sehr gut verträgt. Der Litotes „nicht ungehudelt“ verstärkt die schon hier zutage tretende Heine’sche Ironie. Zwei Arten von Liebe werden gegeneinander ausgespielt: Die versöhnende Liebe Christi, die jedoch in der modernen Welt keine Erlösung mehr mit sich bringt und sich ins Gegenteil verkehrt hat, und das sexuelle Begehren des jungen Mannes, welches nicht gestillt werden kann und 4 Die „schwüle Spannung“ – also der latente Antisemitismus – die Heine wahrnimmt, wird sich bald in den so genannten „Hep Hep“-Unruhen manifest entladen, die am 2. August 1819 in Würzburg ausbrachen und sich auf ganz Süddeutschland, Frankfurt, die rheinischen Städte und Hamburg erstreckten. Vgl. Michael A. Meyer / Michael Brenner (Hg.): Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit, Band II: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 1996, S. 43–45. 5 Mit der Gleichung Kapitalismus = Judentum folgt der junge Heine argumentativ den frühen Antisemiten, dem Berliner Historiker Friedrich Rühs und dem Philosophieprofessor Jakob Friedrich Fries, der in einer enthusiastischen Rezension der Rühsschen Schrift Ueber die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht von 1816, einen spezifisch „jüdischen Handel“ auszumachen meint. Zuerst trifft Fries die Unterscheidung zwischen „Juden, unsern Brüdern“ und der „Judenschaft“, der er den „Krieg“ erklärt. Diese Unterscheidung wird aber nicht konsequent durchgehalten, denn das Jüdische scheint in dieser Schrift, in der Juden unter anderem ein „zehrendes und fressendes Gewürm“ genannt werden, essentiell mit dem „Wucher“ verbunden. Weiter heißt es: „Wir bedürfen gewiss für unser Volk harte Gesetze gegen jede Art jüdischen Handel, mag er nun von ebräischen oder christlichen Juden getrieben werden, allein wir bedürfen neben dem noch Befreyung von der ganzen zu unsrem Verderben verschworenen Händlerkaste.“ Jakob Friedrich Fries: Sämtliche Schriften, Band 25, Aalen 1996, S. 150–173, hier S. 172. Später distanziert sich Heine freilich deutlich von diesen Positionen. In einem Brief an Moses Moser vom 21. Januar 1824 schreibt er: „Eigentlich bin ich auch kein Deutscher, wie Du wohl weißt. (vide Rühs, Fries o.m.O. Ich würde mir auch darauf nichts einbilden wenn ich ein Deutscher wäre [.] O ce sont des barbares! Es giebt nur drey gebildete, zivilisirte Völker: die Franzosen, die Chinesen und die Perser. Ich bin stolz darauf, ein Perser zu seyn.“ (Nr. 91). Einige Sätze weiter spricht Heine über Michael Beers in Indien spielendes Trauerspiel Der Paria, worin er eine verdeckte jüdische Thematik vermutet.

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sich in Gedichten Luft verschafft. Der Dichter wird zum zweifachen Außenseiter. Als neuer Messias des Erotischen verkörpert er die Unmöglichkeit der religiösen Erlösung sowie das Scheitern der erotischen Utopie,6 die verbunden ist mit der Enttäuschung über die nicht erfüllten Hoffnungen an eine säkulare Gesellschaft der Gleichheit.7 Das, was „Liebe bei Heine bedeutet“, kann nicht verstanden werden, „wenn man es nicht begreift als epochale Konstellation, als Versuch, in einer modernen Welt an einem absoluten Sinnverlangen festzuhalten.“8 Das Buch der Lieder wird das Scheitern dieses Anspruchs

6 Für diese Sexual-Utopie steht einerseits die auf dem subjektiven, erfüllten Liebeserlebnis basierende Jugendlyrik Goethes Pate. Ihr anderer moderner Gründungstext ist Friedrich Schlegels Lucinde. Der hormongeschüttelte Protagonist ruft gleichsam als Motto aus: „O beneidenswürdige Freyheit von Vorurtheilen! Wirf auch du sie von dir, liebe Freundin, alle die Reste von falscher Schaam, wie ich oft die fatalen Kleider von dir riß und in schöner Anarchie umherstreute.“ Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman. Studienausgabe, Stuttgart 1999, S. 23. Bezeichnenderweise kann die Lucinde auch gelesen werden als chiffrierte Thematisierung von Schlegels Beziehung zu Dorothea Veit, geborene Mendelssohn, die von den Zeitgenossen als Skandal empfunden wurde. In diesem Zusammenhang wird die Bemerkung mindestens doppeldeutig, dass die angesprochene Geliebte „in diesem Büchelchen“ nicht nur „treue Geschichte, schlichte Wahrheit und ruhigen Verstand“, sondern auch „Moral, die liebenswürdige Moral der Liebe“ erwarten dürfe (S. 19). Denn gerade die jüdische Frau war in der „liebenswürdigen Moral der Liebe“ nur geliebt ohne ihr Judentum, das im Text denn auch an keiner Stelle erwähnt wird. Vgl. Lezzi „... ewig rein wie die heilige Jungfrau ...“ – Zur Enthüllung des Jüdischen in der Rezeption von deutschsprachigen Romanen um 1800“. Vielleicht ahnte Heine instinktiv die Doppelmoral dieser doppelten Liebe, die nur als Abstraktum konzipiert ist und nicht als lebbare Praxis, wenn er in seiner Romantischen Schule später die Lucinde nicht nur wegen der „unzüchtigen Nichtigkeit“ höhnisch abfertigt. Das Problem der Heldin sei, „dass sie kein Weib ist, sondern eine unerquickliche Zusammensetzung von zwey Abstrakzionen, Witz und Sinnlichkeit. Die Muttergottes mag es dem Verfasser verzeihen, dass er dieses Buch geschrieben; nimmermehr verzeihen es ihm die Musen.“ (DHA 8/1 166). 7 Die Erwartungen, die mit der Aufklärung verknüpft waren, wurden auf jeden Fall in Deutschland nicht erfüllt. Sehr deutlich zeigt sich dies in Preußen 1822 an der Aufhebung des „Edikts betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ vom 11. März 1811, mit dem die Juden – zurückgehend auf die liberale Einstellung des Staatskanzlers Freiherr Karl August von Hardenberg – zu „Einländern und Preußischen Staatsbürgern“ gemacht und zu akademischen Lehr- und Schulämtern zugelassen wurden. Im April 1823 schreibt Heine an Immanuel Wohlwill einen äußerst bitteren Brief, in der er das Christentum als „diese faule Idee“ beschimpft, die „uns armen Juden […] noch immer die Luft verpestet.“ Er tue dies unter dem „Schlag des aufgehobenen Edikts.“ (Nr. 47). Auch in anderen deutschen Staaten stagnierten die Fortschritte oder verschlechterte sich „vor dem Hintergrund einer erneuten antijüdischen Schriftenkampagne“ die Rechtslage der Juden. Vgl. Meyer / Brenner, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, S. 49. 8 Karl Heinz Götze: „Die unmögliche und die mögliche Liebe. Heines Liebeslyrik in der Geschichte der Gefühle“, in: Heine Jahrbuch 38 (1999), S. 29–45, hier S. 37.

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zeigen,9 doch brieflich bringt schon der Neunzehnjährige diese Erfahrung zum Ausdruck: Der Neffe vom großen (???) [sic] Heine ist zwar überall gern gesehen und empfangen; schöne Mädchen schielen nach ihm hin, und die Busentücher steigen höher, und die Mütter kalkulieren, aber – aber – bleib allein; Niemand bleibt mir übrig als ich selbst. (ebd.)

Der auf das „ich selbst“ zurückgeworfene Dichter verkörpert die Tatsache, dass der Messias „sterblich geworden“ ist, wie dies Jakob Hessing pointiert formuliert hat.10 Die Enttäuschung darüber kann der Verfasser dieses Briefes noch nicht recht in Worte fassen. Das zweifache „aber“ und die Gedankenstriche gleichen einem Stottern, welches davor zurückschreckt, den Grund des Alleinbleibens, des Übrigbleibens zu nennen. Aus dem Stottern werden bald Gedichte. Dieses Kapitel wird zeigen, dass Heine gegenüber einer umfassend empfundenen Kontingenz die Poesie als unverstellter Ausdruck des „Sinnverlangens“ begreift. Schon in den ersten Traumbildern sind die Motive des Liebesverrats11 und des Übrigbleibens, wenn auch noch epigonenhaft, prominent vertreten. Der mit der Liebe verbundene Schmerz wird variantenreich, doch noch reichlich konventionell metaphorisiert. Die frühe Lyrik Goethes, Ludwig Uhlands und vor allem die Formeln des um 1820 wieder erstarkenden Petrarkismus sind die Quellen.12 Was treibt und tobt mein tolles Blut? Was flammt mein Herz in wilder Gluth? Es kocht mein Blut und schäumt und gährt, Und grimme Gluth mein Herz verzehrt. (DHA 1/1, 27)

In den folgenden Strophen aber taucht ein erstaunliches Bild auf, das sich in den Vorbildern kaum finden lässt. Im Traum wird das lyrische Ich in ein mit Licht und Musik erfülltes Haus geführt, wo gerade die Hochzeit der untreuen Geliebten stattfindet: „ein fremder Mann war Bräutigam“. Es rauscht Musik, – gar still stand ich; Der Freudenlärm betrübte mich. Die Braut, sie blickt so hochbeglückt, Der Bräut’gam ihre Hände drückt. 9 Das bringt der Titel einer genauen Untersuchung der Liebeslyrik in Heines Buch der Lieder zum Ausdruck: Johannes Jokl: Die Unmöglichkeit romantischer Liebe. Heinrich Heines „Buch der Lieder“, Opladen 1991. 10 Jakob Hessing: Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns, Göttingen 2005, S. 20. 11 Der Liebesverrat ist nicht ein bloßes Motiv. Er stellt den inneren Antrieb des Schreibens dar, als Enttäuschung ist er gleichsam mit Heines Textproduktion verwachsen. Vgl. Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1989, insbesondere S. 193–194. 12 Vgl. die grundlegende Heidelberger Antrittsvorlesung vom 26. Januar 1966: Manfred Windfuhr: „Heine und der Petrarkismus“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 266–285.

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Der Bräut’gam füllt den Becher sein, Und trinkt daraus, und reicht gar fein Der Braut ihn hin; sie lächelt Dank – O Weh! mein rothes Blut sie trank. Die Braut ein hübsches Aepflein nahm, Und reicht es hin dem Bräutigam. Der nahm sein Messer, schnitt hinein, – O weh! das war das Herze mein. (DHA 1/1, 29)

Das Handlungsschema des Gedichts beschreibt die Struktur des eucharistischen Heilsgeschehens: Der Bräutigam füllt den Becher mit Wein, reicht ihn seiner Braut, die aus dem Becher das „Blut“ eines Dritten trinkt, das „Blut“ des lyrischen Ichs: „O weh! mein rothes Blut sie trank.“ Mit der Übergabe des Bechers verwandelt sich der Wein – es ist unsicher, ob das hier eine metaphorische Übertragung oder eine tatsächliche Transsubstantiation ist – in „Blut“. Nicht das „Blut“ eines abwesenden Heilands wird jedoch serviert, sondern das eines abgewiesenen Liebhabers. Das lyrische Ich wird in dieser Zeile dem christologischen Weltzusammenhang eingefügt und erscheint als der neue Christus, der nicht mehr aus Liebe zu allen Menschen stirbt, sondern aus der Enttäuschung über ein unerfülltes erotisches Begehren. Die Analogie wird in der nächsten Strophe fortgeführt. Wenn die Braut dem Bräutigam einen Apfel reicht, der sich unter dem Messer in das Herz des Ichs verwandelt, dann spielt das nicht nur auf die Szene an, die gemäß dem ersten Buch Moses die Vertreibung aus dem Paradies verursacht, sondern auch auf die Verwandlung des Brotes in den Leib Christi, der am Kreuz durch den Speer an der Seite verwundet wird. Das Ich dieses frühen Gedichts wird in den Topoi des Blutes und des zerschnittenen Herzens zum Messias stilisiert, doch ewiges Leben durch Auferstehung kann es nicht erwarten. Die Liebe des lyrischen Ichs erweist sich gegenüber der altruistischen Liebe Christi nämlich als narzisstisch. Dem narzisstischen Ich ist die Beziehung zu seinem Objekt unsicher und brüchig. Wird ihm das Objekt entzogen, kann die Libido – und als das wird sich die Liebe im Lauf des 19. Jahrhunderts entpuppen – nicht abgebaut werden, sondern muss „auf den Narzißmus regredieren“13 und sich auf das Ich richten, welches sich nun als das verlorene Liebesobjekt identifiziert und sich in melancholischer Ambivalenz selbst gegenübersteht. Dementsprechend beginnt das Gedicht mit den Fragen nach dem eigenen „Blut“ und dem eigenen „Herzen“: „Was treibt und tobt mein tolles Blut? / Was flammt mein Herz in wilder Gluth?“ Angesichts der untreuen Geliebten heißt es in einer der folgenden Strophen: „O Weh! mich küsst der kalte Tod.“ – „Blut“ und Leib werden ohne Erlösung hingegeben; dieser Messias stirbt und opfert sich für sich allein. „Niemand bleibt mir übrig“, schreibt Heine 13 Sigmund Freud: „Trauer und Melancholie“, in: ders.: Studienausgabe, Band III: Psychologie des Unbewußten, S. 193–212, hier S. 203.

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in dem Brief von 1816, „als ich selbst.“ In seiner Romantischen Schule heißt es, dass die „romantische Poesie“ „nichts anderes als die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters“ darstelle. „Diese Poesie aber war aus dem Christenthume hervorgegangen, sie war eine Passionsblume, die dem Blute Christi entsprossen.“ (DHA 8/1 126). Aus dem „Blut“ des jüdischen Narzissus aber, welches kein ewiges Leben verheißt, erwächst lediglich die melancholische Blüte einer zutiefst enttäuschten Dichtung. 1.2  Einsamkeit

Ebenfalls in den Jungen Leiden, die von 1817 bis 1821 entstehen, im Zyklus Lieder, ist ein Gedicht enthalten, in dem das lyrische Ich aus Enttäuschung über die gescheiterte Liebe Europa verlassen will. Der Schmerz wird in folgende, später von Robert Schumann im Liederkreis Op. 24 vertonte, Verse gebracht: Blutquell, rinn’ aus meinen Augen, Blutquell, brich aus meinem Leib, Daß ich mit dem heissen Blute Meine Schmerzen niederschreib’. (DHA 1/1, 61)

Die christologische Bildlichkeit wird hier noch gesteigert, wenn das „heisse Blut“ nicht nur Antriebsquell des Schreibens darstellt, sondern dessen Medium. Was in dieser Blutschrift zu Papier kommt, ist nicht nur das individuelle Leiden, sondern das der ganzen Menschheit. In der folgenden Strophe wird in der Apostrophe an die Geliebte explizit an das „alte Liedchen“ der biblischen Vertreibung aus dem Paradies erinnert, mit dem die menschliche Leidensgeschichte beginnt. Kennst du noch das alte Liedchen Von der Schlang im Paradies, Die durch schlimme Apfelgabe Unsren Ahn in’s Elend stieß? Alles Unheil brachten Aepfel! Eva bracht’ damit den Tod, Eris brachte Trojas Flammen, Du brach’st beides, Flamm’ und Tod. (DHA 1/1, 63)

Die „Flamm“ als Metapher des sexuellen Begehrens14 und der Tod sind die Kräfte, von denen das lyrische Ich gleichzeitig abgestoßen und angezogen wird. 14 Die Zerstörung Trojas wird im homerischen Mythos bekanntlich auf den Schönheitswettbewerb der Göttinnen im Zeichen von Eris’ Zankapfel zurückgeführt, den Aphrodite durch das Urteil des trojanischen Königssohns Paris gewinnt, nicht ohne ihn durch das Versprechen korrumpiert zu haben, ihm die Schönste der sterblichen Frauen willfährig zu machen:

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Auch hier ist es ein narzisstischer Messias, der Eros und Thanatos gleichermaßen hoffnungslos verfallen ist. Der „ausbrechende Blutquell“, der diese „Liebeslieder eines Juden“ hervorbringt und gleichsam schreibt, repräsentiert den unauflösbaren Schmerz, der sich auf keine Weise sublimieren lässt.15 Das Motiv beschäftigt den jungen Heine weiter und schon in einem Gedicht von 1822, welches er als zweitletztes Stück des Lyrischen Intermezzos aufnimmt, begegnet der Leser ihm wieder. Das Stück beginnt mit der erschreckenden Traum-Vision des lyrischen Ichs, das sich als Toten sieht: Nacht lag auf meinen Augen, Blei lag auf meinem Mund, Mit starrem Hirn und Herzen Lag ich im Grabesgrund. (DHA 1/1, 199)

Im Traum bietet sich auf einmal die Möglichkeit zur Überwindung des Todes, die ehemals untreue Geliebte klopft an den Sarg und meldet sich mit verführerischer Rede: „Willst du nicht aufstehn, Heinrich? Der ew’ge Tag bricht an, Die Todten sind erstanden, Die ew’ge Lust begann.“ (DHA 1/1, 199)

Doch der angesprochene „Heinrich“ – wie das lyrische Ich hier heißt, obwohl es noch drei Jahre dauern, bis der Autor sich taufen und so nennen wird – ist nicht fähig, der Geliebten zu folgen. Mein Lieb, ich kann nicht aufstehn, Noch blutet’s immerfort, Wo du in’s Herz mich stachest Mit einem spitz’gen Wort.

Helena, Ehefrau des spartanischen Königs Menelaos. Die politische Krise, der Krieg und der Brand Trojas werden somit indirekt durch den sexuellen Appetit eines einzelnen Menschen ausgelöst. Das Feuer und die Flamme sind darüber hinaus petrarkistisch formelhafte Bilder für das sexuelle Begehren. Vgl. wiederum Windfuhr: „Heine und der Petrarkismus“. Noch für Freud hat diese Bildhaftigkeit Geltung, wenn er in einem heute leicht kurios anmutenden Text von 1932 beschreibt, dass dem „Primitiven“ das Feuer „als Symbol der Libido“ erscheinen musste. „Die Wärme, die das Feuer ausstrahlt, ruft dieselben Empfindungen hervor, die den Zustand sexueller Erregtheit begleitet, und die Flamme mahnt in Form und Bewegung an den tätigen Phallus.“ Sigmund Freud: „Zur Gewinnung des Feuers“, in: ders.: Studienausgabe, Band IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, S. 451. 15 Auch das Weinen, welches in der traditionellen Humoralpathologie um 1800 die Trauer „wegschwemmen“ soll, kann diese Rolle nicht mehr übernehmen: „Fast vor Weh’ das Herz mir bricht, / Aber weinen kann ich nicht.“ (DHA 1/1, 167). Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 92.

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„Ganz leise leg’ ich, Heinrich, Dir meine Hand auf ’s Herz; Dann wird es nicht mehr bluten, Geheilt ist all’ sein Schmerz.“ Mein Lieb, ich kann nicht aufstehn, Es blutet auch mein Haupt; Hab’ ja hineingeschossen, Als du mir wurdest geraubt. „Mit meinen Locken, Heinrich, Stopf ’ ich des Hauptes Wund, Und dräng’ zurück den Blutstrom, Und mache dein Haupt gesund.“ Es bat so sanft, so lieblich, Ich konnt’ nicht widerstehn; Ich wollte mich erheben Und zu der Liebsten gehn. Da brachen auf die Wunden, Da stürzt’ mit wilder Macht Aus Kopf und Brust der Blutstrom, Und sieh! – ich bin erwacht. (DHA 1, 201)

Die Gesundung im Traum kann nicht gelingen und die Überwindung des Todes und der Untreue misslingt. Im Moment des Erwachens zu ewigem Leben und ewiger Lust erwacht das Ich aus einem Wunschtraum. Der Träumer wird in den Alb der trostlosen Existenz entlassen, wo die Lust sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen bricht. Dieser „Blutstrom“ ist nicht wie das stetig fließende Blut Christi ein erlösendes „Blut“. Die Wunden des Heine’schen Schmerzensmannes bluten ebenfalls ohne Unterlass, doch ohne von einem höheren Sinn, einer Gnade oder einer erlösenden Macht zu zeugen. Denn der Moment des Erwachens lässt „Heinrich“ allein mit sich selbst. Der Leser sieht sich im Akt der Lektüre einer Metamorphose der heiligen Messe ausgesetzt und allein für sich – mit dem Gedichtband in den Händen und den Dichterworten statt der Oblate auf der Zunge – muss er zum Voyeurismus gezwungen die vermeintlich privaten Schmerzen dieses Dichters nachvollziehen. Der „Blutstrom“ verwandelt sich in den Wörterstrom von Heines Variationen des immergleichen Themas der treulosen Liebe. Der narzisstische Messias ist aber nicht nur die bluttriefend pathetische Figur unendlicher und postmetaphysischer Trauer, sondern auch die Parodie romantischer Erlösungssehnsucht, wie sie sich exemplarisch in einer Hymne Novalis’ von 1798 darstellt, die das Abendmahl erotisch auflädt. In der zweiten Strophe dieses freirhythmischen Gebildes heißt es:

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Wer hat des irdischen Leibes Hohen Sinn errathen? Wer kann sagen, Daß er das Blut versteht? Einst ist alles Leib, Ein Leib, In himmlischem Blute Schwimmt das heilige Paar. – […] Heissere Wollust Durchbebt die Seele. Durstiger und hungriger Wird das Herz: Und so währet der Liebe Genuß Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Hätten die Nüchternen Einmal gekostet, Alles verließen sie, Und setzten sich zu uns An den Tisch der Sehnsucht, Der nie leer wird. Sie erkennten der Liebe Unendliche Fülle, Und priesen die Nahrung Von Leib und Blut.16

„Leib und Blut“ sind bei Novalis einerseits Metaphern für sexuelles Begehren und erotische Lust. Andererseits zeigt sich gerade darin der „Hohe Sinn“ der körperlichen Liebe: „durstiger und hungriger“ muss der Liebende werden bis „Leib und Blut“ nicht mehr metaphorisch, sondern tatsächlich zu verstehen sind. Erst in der spirituellen Liebe zu Christus und in Christi Gegenliebe, die sich im Trinken des tatsächlich anwesenden Bluts manifestiert, wird die Liebessehnsucht aufgehoben. Heine ist als akkulturierter Jude und als Kritiker der romantischen Innerlichkeit, die sich mit politischer Reaktion verbindet, vom „Tisch der Sehnsucht, / Der nie leer wird“ verwiesen. Gerade Novalis’ merkwürdiger Charakter als rationaler Geologe einerseits und als mystisierender Dichter andererseits,17 den Heine grundsätzlich verkennt,18 kann als paradigmatische 16 Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. von Hans Joachim Mähl und Richard Samuel, Darmstadt 1999, Band 1, S. 187–188. 17 Vgl. Manfred Koch: „Der schöne Bergbau. Vom beruflichen Können des Dichters Novalis“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2./3. September 2006, S. 31. 18 In der Romantischen Schule schreibt Heine: „Sein eigentlicher Name ist Hardenberg. Er liebte eine junge Dame, die an der Schwindsucht litt und an diesem Uebel starb. In allem, was er schrieb, weht diese trübe Geschichte, sein Leben war nur ein träumerisches Hinsterben, und

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Figur gelten. „In seiner Funktion als Assessor beim kursächsischen Salinendirektorium in Weissenfels war Novalis einer der veranwortlichen Leiter der ersten wissenschaftlich fundierten geologischen Landesuntersuchung Sachsens, die die kartographischen Grundlagen für die spätere industrielle Förderung und Verwertung der Bodenschätze des Landes schuf.“19 Während Novalis also die „Nahrung von Leib und Blut“ preist und etwa im Heinrich von Offterdingen eine mystische Verschmelzung von Subjekt und Dingwelt propagiert, wusste er in der Realität sehr gut, wie gerade die rationale Objektivierung der Dinge zum Beispiel im systematischen Ausbeuten der natürlichen Bodenschätze ökonomischen Erfolg und damit nicht nur reale Nahrung, sondern abstraktes Kapital schafft. Die zwei Seiten Hardenbergs trennt kein Gegensatz. Sie erweisen sich vielmehr als jene Pole in der Genese des bürgerlichen Subjekts, die für Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung ineinander fallen. „Die Ratio, welche die Mimesis“ – also das vom vormodernen Menschen angestrebte Einssein mit der Natur – „verdrängt, ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selber Mimesis: die ans Tote. Der subjektive Geist, der die Beseelung der Natur auflöst, bewältigt die entseelte nur, indem er ihre Starrheit imitiert und als animistisch sich selber auflöst.“20 Wenn diese Diagnose zutrifft, dann wäre der nüchterne Assessor nichts als die misstrauische, nicht mehr an die Transsubstantiation glaubende Kehrseite des berauschten Romantikers, der wiederum nur die in Grauen erzeugte Reaktion auf die gewaltsam entfremdete Nüchternheit des aufgeklärten Naturwissenschaftlers darstellt. Heine hatte einen Blick für jene Dialektik. „Im Mittelalter“, so schreibt er im dritten Buch der Romantischen Schule, herrschte unter dem Volke eine Meinung: wenn irgendein Gebäude zu errichten sey, müsse man etwas Lebendiges schlachten und auf dem Blute desselben den Grundstein legen; […]. War es nun der altheidnische Wahnwitz, dass man sich die Gunst der Götter durch Blutopfer erwerbe, oder war es Mißbegriff der christlichen Versöhnungslehre, was diese Meinung von der Wunderkraft des Blutes, von einer Heiligung durch Blut, von diesem Glauben an Blut hervorgebracht hat: genug, er war herrschend, und in Liedern und Sagen lebt die schauerliche Kunde, wie man Kinder oder Thiere geschlachtet, um mit ihrem Blute große Bauwerke zu festigen. Heut zu Tage ist die Menschheit verständiger; wir glauben nicht mehr an die Wunderkraft des Blutes, weder an das Blut eines Edelmanns noch eines Gottes, und die große Menge glaubt nur an Geld. Besteht nun die heutige Religion in der Geldwerdung Gottes oder in der Gottwerdung des er starb an der Schwindsucht [...].“ (DHA 8/1, 193–194). Es stimmt zwar, dass Friedrich von Hardenberg an Lungentuberkulose starb, doch diese zog er sich eher, wie Manfred Koch schreibt, aus Überarbeitung zu – mitverantwortlich waren „die Strapazen einer langen Forschungsreise“ im Jahr 1800 – denn aus Sehnsucht. 19 Koch: „Der schöne Bergbau“. 20 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1988, S. 64.

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Geldes? Genug, die Leute glauben nur an das Geld; nur dem gemünzten Metall, den silbernen und goldenen Hostien, schreiben sie eine Wunderkraft zu; das Geld ist der Anfang und das Ende ihrer Werke; […]. Ja, wie im Mittelalter Alles, die einzelnen Bauwerke ebenso wie das ganze Staats- und Kirchengebäude, auf den Glauben an Blut beruhte, so beruhen alle unsere heutigen Instituzionen auf dem Glauben an Geld, auf wirkliches Geld. Jenes war Aberglauben, doch dieses ist der bare Egoismus. […]. Vielleicht war es Mißmuth ob dem jetzigen Geldglauben, der Widerwille gegen den Egoismus, den sie überall hervorgrinsen sahen, was in Deutschland einige Dichter von der romantischen Schule, die es ehrlich meinten, zuerst bewogen hatte, aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückzuflüchten und die Restaurazion des Mittelalters zu befördern. (DHA 8/1, 221-222)

Hier – ich werde zu Beginn des dritten Kapitels genauer auf diese wichtige Stelle zurück kommen – ist zu konstatieren, dass es für Heine keine Rückkehr zu einer „Wunderkraft des Blutes“ geben kann. Diese gleicht jener ominösen „Zauberkraft“ des Geistes, die Hegel in der berühmten Stelle der Vorrede zu der Phänomenologie des Geistes als die Kraft des Denkens identifiziert, die in der Negation der Negation die Aufhebung der Gegensätze zustande bringt.21 Wenn Heine die Rückkehr zum alten Glauben, dass der Tod sich im „Blut“ in ewiges Leben verkehrt, verneint, dann tut er das nicht nur gegen ein vorreformatorisches Christentum, sondern auch gegen einen bürgerlichen Idealismus in der Folge Hegels, den er vor allem als auf Gewinnmaximierung fixierten Kapitalismus erlebt. Die Rückkehr ins Mittelalter aber als Bewegung gegen die kapitalistische Moderne ist psychologisch als Regression zu betrachten. Im Politischen verfiele sie jener Herrschaft, die sie aufzuheben trachtet. Heine bleibt bei aller emphatischen Bejahung der poetischen Autonomie, um mit Novalis zu reden, „nüchtern“. Dies zeigt sich exemplarisch in den Zyklen der Nordsee, die das Buch der Lieder beschließen. An einer einzigen Stelle seines Frühwerkes gibt es dort einen Text, der ohne jegliche Ironie eine religiöse Vision zu beschreiben und das „rothe Blut“ Christi zu feiern scheint (DHA 1/1, 393). Im zwölften Gedicht des ersten Zyklus, Frieden, erscheint dem lyrischen Ich „halb im Wachen / Und halb im 21 „Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten, das, was die größte Kraft erfodert. [...] Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern, das ihn erträgt, und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, neu hg. von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont, mit einer Einleitung von Wolfgang Bonsiepen, Hamburg 1988, S. 26.

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Schlummer“ die riesenhafte Gestalt Jesu Christi, die „Ueber Land und Meer“ (DHA 1/1, 391) schreitet. Und wo sich Zwei begegneten, Sahn sie sich an, verständnißinnig, Und schaudernd, in Liebe und süßer Entsagung. Küßten sie sich auf die Stirne, Und schauten hinauf Nach des Heilands Sonnenherzen, Das freudig verströmend sein rothes Blut Hinunterstrahlte, Und dreimalselig sprachen sie: Gelobt sey Jesu Christ! (DHA 1/1, 393)

Ganz scheint es, als hätte Heine nach seiner Taufe im Jahr 1825 seine Skepsis und die berühmte Ironie aufgegeben.22 Im Zusammenhang der Reisebilder aber, als deren Teil die Nordsee zusammen mit der umgearbeiteten Harzreise 1826 veröffentlicht wird, folgt nach diesen Zeilen, mit denen das Gedicht im Buch der Lieder abbricht, noch ein ernüchternder Nachtrag, der den eigenen rauschhaften Text als Philistertraum markiert. Angesprochen wird ein namenloser „Rathe bey der Regierung“ Hamburgs, der „in Kopf und Lenden so schwach“ und „im Glauben so stark“ sei und sich „hinaufgefrömmelt“ habe (DHA 1/1 392). Heine stellt sich vor, dass dieser Berufsheuchler und nicht er, der Dichter, sich das „Traumbild“ ausgedacht hätte: Du trügest es, höhern Ortes, zu Markt, […] Und die Hocherlauchte, Verzückt und wonnebebend, Sänke betend mit dir auf ’s Knie, 22 Für eine Deutung des Gedichts als „irenischen Traum eines Christentums [...], in dessen Verlauf es keine Passion gegeben hätte“ (DHA 1/2, 1037) und damit als friedvoller, quasi religionsneutraler Messiasglaube, wie dies der Kommentar der Düsseldorfer Heine-Ausgabe vorschlägt, sehe ich keinerlei Anhaltspunkte. Explizit ist das Blut der Passion genannt und damit ist das Friedliche dieser Friedensfeier immer schon in Frage gestellt. Die Figur des gekreuzigten Christus erscheint bei Heine an vielen Stellen, doch es stellt nie ein Erbauungsbild dar, sondern mehr „eine Schreckensbotschaft der Anklage“, „ein Trauma“ des jüdischen Dichters, seine ihm brutal zu spüren gemachte Unerlöstheit. Vgl. Rudolf Kreis: Antisemitismus und Kirche. In den Gedächtnislücken deutscher Geschichte mit Heine, Freud, Kafka und Goldhagen, Hamburg 1999, S. 72–73. So schreibt Heine am 8. Juli 1826 von Norderney an Moses Moser im Zusammenhang mit seiner ungeliebten Taufe: „Wie tief begründet ist doch der Mythos des ewigen Juden! im stillen Waldthal erzählt die Mutter ihren Kindern das schaurige Mährchen, die Kleinen drücken sich ängstlicher an den Herd, draußen ist Nacht – das Posthorn tönt – Schacherjuden fahren nach Leipzig zu Messe. Wir, die wir die Helden des Mährchens sind, wir wissen es selbst nicht. [...] Mein Christus auf dem Wasser, XIItes Seebild, hat viel Unmut gegen mich erweckt.“ (Nr. 193).

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Und ihr Auge, seelig stralend, Verhieße dir eine Gehaltzulage, Von hundert Thalern Preußisch Courant, Und du stammeltest händefaltend: Gelobt sey Jesu Christ! (DHA 1/1, 392)

„In God we trust“ heißt bekanntlich das Motto, das paradoxerweise gerade auf den amerikanischen Dollarnoten steht; und auch hier gilt das Lob Gottes, das vorher dem erlösenden Blut Christi galt, eigentlich der stabilen preußischen Währung – dem „Courant“ als Geld- und nicht als Blutstrom. Der Zusammenhang von Blut, Gott und Geld wird im dritten Kapitel zu Moses Hess genauer untersucht. Er ist komplizierter als es Heines Kritik bürgerlicher Religiosität als bloße Maskierung des grenzenlosen Profitstrebens hier vermuten lässt. Im Buch der Lieder verzichtet Heine auf diesen Nachtrag, der doch sehr treffend die Verschiebung im kapitalistisch-bürgerlichen Hoffnungshaushalt beschreibt, die in der „Geldwerdung Gottes oder in der Gottwerdung des Geldes“ besteht. Dieser Zusammenhang zwischen Religion und Kapitalismus, Gott und Geld wird eingehend im Abschnitt zu Moses Hess behandelt, der ihn systematisch zu einem Leitmotiv seines ideologischen Denkens machen wird. Bei Heine sind sie in einer noch nicht festen Terminologie ironisch angelegt. Was von seinem eigenen „Traumbild“ zu halten ist, das das Blut Christi als Medium des universalen Verständnisses anpreist, steht im Gedicht Im Hafen am Schluss der zweiten Abteilung der Nordsee. Dort findet sich das lyrische Ich betrunken beim Ratskellermeister von Bremen wieder: Wir seufzten und sanken uns in die Arme, Und er hat mich bekehrt zum Glauben der Liebe, – Ich trank auf das Wohl meiner bittersten Feinde, Und allen schlechten Poeten vergab ich, Wie einst mir sollte vergeben werden, – Ich weinte vor Andacht, und endlich Erschlossen mir die Pforten des Heils, Wo die zwölf Apostel, die heil’gen Stückfässer, Schweigend pred’gen, und doch so verständlich Für alle Völker. (DHA 1/1, 425)

Nach dem Gelage steigt der Berauschte die Stiegen zur Straße hinauf: Die glühende Sonne dort oben Ist nur eine rothe, betrunkene Nase, Die Nase des Weltgeist’s; Und um die rothe Weltgeist-Nase Dreht sich die ganze, betrunkene Welt. (DHA 1/1, 425)

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Aus „Blut“ ist wieder Wein geworden, aus Geist Alkohol. Christliche Versöhnung, die im parodierenden Vater-unser-Zitat aufscheint, und Hegelianischer Weltgeist, der die Geschichte aufhebend vorwärtsträgt, sind nach Heine gleichermaßen nur Produkte einer philiströsen Phantasie, schöne „Traumbilder“ oder Visionen eines vom Rheinwein Betrunkenen. Der heitere Ton ist die ironische Verkleidung eines absoluten Willens zur Aufklärung. Ironie ist die Maske, die diesen Willen davor schützt, in absoluter Nüchternheit sich in einen reflexions- und bedingungslosen Rausch zu verkehren; sie ist als Instrument der Verdoppelung genauer Ausdruck jener Situation universeller Einsamkeit.23 Wenn das lyrische Ich im Gedicht LXIV des Lyrischen Intermezzos als sterblicher Messias erwacht, desillusioniert es schon dort die romantische Sehnsucht nach einer das Körperliche transzendierenden Liebe, die sich vorzugsweise im „Versöhnungstod“24 Jesu Christi zeigt. Demgegenüber fehlt im schaurigen Schlussbild des ausbrechenden Blutstromes jede Versöhnung. Das Bild spiegelt die Erfahrung, dass Gewalt und Abweisung – und nicht die „Christliche Liebe“ – über die Authentizität der Gefühle und damit der Poesie richten und bestimmen, wer am „Tisch der Sehnsucht“ sitzen darf. Es sollte in Erinnerung gerufen werden, dass gerade die so genannte „Deutsche Tischgesellschaft“ in Berlin, gegründet von Clemens Brentano und Achim von Arnim, deren geistes- und sozialgeschichtliche Wirkung nicht zu unterschätzen ist, keine Juden und keine getauften Juden in ihre ganz reale Tischgemeinschaft aufgenommen hat.25 Mit der Anknüpfung an die rituelle Praxis des gemeinsamen Mahls beschwört diese Vereinigung das Phantasma eines christlichen Kollektivleibs, der das Andere, „Philister“ und „Juden“, notwendigerweise ausschließen muss, um eine an eine

23 „Worin bestehen die Techniken der Einsamkeit? Sie lassen sich ganz allgemein als ,Verdoppelungstechniken‘, als Strategien der Selbstwahrnehmung, charakterisieren. Wer nicht einfach bloß von allen Menschen verlassen wird (was gewöhnlich zum Tod führt), sondern seine ,Verlassenheit‘ überlebt, bewältigt und gestaltet, inszeniert irgendeine Art von Beziehung zu sich selbst. Indem er seine Einsamkeit perzipiert, ohne verrückt zu werden, spaltet er sich zumindest in zwei Gestalten auf: als ein Wesen, das mit sich allein – und daher eigentlich ‚zu zweit‘ ist.“ Thomas Macho: „Mit sich allein. Einsamkeit als Kulturtechnik“, in: Aleida Assmann / Jan Assmann (Hg.): Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation VI, München 2000, S. 27–44, hier S. 28. 24 Auf einem Fragmentblatt zu den Hemsterhuis- und Kantstudien vermerkt Novalis: „Ich habe zu Söfchen Religion – nicht Liebe. Absolute Liebe, vom Herzen unabhängige, auf Glauben gegründete, ist Religion.“ Und weiter unten: „Liebe kann durch absoluten Willen in Religion übergehn. Des höchsten Wesens wird man nur durch Tod werth. / Versöhnungstod.“ Novalis: Werke, Band II, S. 223. 25 Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen 2003, insbesondere S. 204–271.

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einheitliche Körperlichkeit gebundene Gemeinschaft im performativen Akt des Essens zu erzeugen.26 Wie die „Deutsche Tischgesellschaft“ sind auch die Burschenschaften im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts neue gesellschaftliche Versammlungsformen, die gesellig-kulturelle mit politischen Absichten zu vereinen wissen, und dabei die pointiert nationalistische Haltung mit einem mehr oder minder explizit antijüdischen, beziehungsweise frühantisemitischen Programm verbinden. Die Erfahrung der Einsamkeit und des Alleingelassenwerdens aus explizit jüdischer Perspektive, gefasst im Bild des Blutstroms, steht am Schluss der Memoiren des Herrn von Schnabelewopski, an denen Heine seit 1822 über mehrere Jahre hinweg bis 1833 arbeitet. Darin verarbeitet Heine nicht nur seine Hamburger Erfahrungen, sondern auch seine Zeit als Angehöriger der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft in Bonn und Göttingen, wo es 1822 anlässlich eines vermutlich antisemitischen Zwischenfalls zu einem Duell und zum Bruch mit der studentischen Gemeinschaft kam.27 In diesem Fragment gebliebenen Prosastück lässt Heine einen jüdischen Studenten, den jungen und körperschwachen Simson, im Duell unterliegen, das er wegen einer heftigen Diskussion mit einem hegelianischen Kommilitonen über die Existenz Gottes, „des alten Jehova, des Königs der Könige“ führt (DHA 5, 190). Der mit Waffengewalt gegen seine philosophische Aufhebung verteidigte Allmächtige „aber gewährte seinem Champion nicht die mindeste Unterstützung und im sechsten Gang bekam der Kleine einen Stich in die Lunge“ (DHA 5, 190). Schwer verwundet liegt Simson im Bett und lässt sich die Geschichte seines biblischen Vorbildes aus dem Buch der Richter vorlesen. Bei der Stelle, an der der gefangene Simson das Haus über sich und den Philistern einstürzen lässt, öffnete der kleine Simson seine Augen, geisterhaft weit; hob sich krampfhaft in die Höhe; ergriff mit seinen dünnen Aermchen, die beiden Säulen, die zu Füßen seines Bettes; rüttelte daran, während er zornig stammelte: es sterbe meine Seele mit den Philistern. Aber die starken Bettsäulen bleiben unbeweglich, ermattet und wehmüthig lächelnd fiel der Kleine zurück auf seine Kissen, und aus seiner Wunde, deren Verband sich verschoben, quoll ein rother Blutstrom. (DHA 5, 195)

Die Zeit der Wunder ist vorbei, und der religiöse Jude, der sein Leben im Muster des biblischen Texts begreift, schafft es nicht einmal mehr, sein Bett zum Einsturz zu bringen, er wird von Gott nicht mehr erhört. Mit dieser trostlosen Szene endet der Text. Oder besser: Er bricht ab. Der rote Blutstrom, der aus Simsons Wunde quillt, ist das Emblem eines absolut sinnlosen Kampfes. Er ist 26 Vgl. Ethel Matala de Mazza: Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der politischen Romantik, Freiburg i. Br. 1999, S. 362–388. 27 Vgl. Jost Hermand: „Unerwiderte Sympathie – Heine und die Burschenschaften“, in: ders.: Judentum und deutsche Kultur. Beispiele einer schmerzhaften Symbiose, Köln / Weimar / Wien 1996, S. 6–24.

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Sinnbild für die enttäuschte Hoffnung in einer hoffnungslosen Welt, spezifisch und konkret für die Hoffnung, jüdische Existenz als Jude mit der modernen deutschen Gesellschaft, die sich mehr und mehr als nationale Gemeinschaft versteht, zu vereinbaren.28 Das Blut Simsons ist das Blut der Vereinzelung und der Gemeinschaftslosigkeit, das weder von Christentum oder Idealismus, noch von der jüdischen Tradition zu transzendierende Blut, es ist das Blut des nicht mehr zu erlösenden Menschen: Blut, das nur noch Blut ist. Es stellt sich jedoch die Frage, ob gerade das nicht zu transzendierende Blut der Moderne als jüdisches Blut gedacht wird. Denn Heines Protagonist heißt nicht nach Luthers Übersetzung – die auch Heine „mit den liebenden, bebenden Lippen, und mit der Brille auf der Nase“ (DHA 8/1, 499) gelesen hatte29 – Samson, sondern nach der hebräischen Aussprache Simson. 1.3.  Selbstironie statt Selbstmord

Eine Antwort auf die quälende Frage, was in dieser Situation der universalen Einsamkeit anzufangen sei, hat „Heinrich“ im Gedicht aus dem Lyrischen Intermezzo schon gegeben: „Es blutet auch mein Haupt; / Hab ja hineingeschossen, / Als du mir wurdest geraubt.“ Der Suizid ist seit dem Werther die bevorzugte Reaktion des auf sich selbst zurückgeworfenen Liebenden. Novalis schreibt im bereits zitierten Fragment: „Der ächte philosophische Act ist Selbsttödtung; […].“30 Wie die Herausgeber meinen, ist dieses Diktum jedoch „nicht aktiv suizitär“, sondern „eher im philosophischen Kontext“, und zwar „in dem Aspekt des Todes als transzendenter Handlung“31 zu verstehen. Der Gedanke hatte bei einem anderen Schriftsteller der Zeit allerdings sehr reale Konsequenzen: „Wir, unsererseits, wollen nichts von den Freuden dieser Welt wissen“, schreibt Heinrich von Kleist in einem seiner letzten Briefe an Sophie Müller, „und träumen lauter himmlische Fluren und Sonnen, in deren Schimmer wir, mit langen Flügeln an den Schultern, umherwandeln werden. Adieu!“32 – Der Traum von den „himmlischen Fluren“ ist bei Heine ausgeträumt: „ – ich bin erwacht.“ Dadurch ist das ganze Geschehen, das sich zwischen Tod und Leben, Wachen 28 So liest die Stelle auch Paul Mendes-Flohr und allegorisiert weitergehend: „Simson’s melancholic grin – shielding a defiant, paroxysmatic pride – would haunt German Jewry and, indeed, may be seen as a foreboding of the catastrophe that befell it a hundred years after Heine penned his novella.“ Paul Mendes-Flohr: German Jews. A dual Identity, New Haven / London 1999, S. 2. 29 Vgl. Ruth Lisband Jacobi: Heinrich Heines jüdisches Erbe, Bonn 1978, S. 26. 30 Novalis: Werke, Band II, S. 223. 31 Ebd., Band III, S. 330. 32 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, München 1952, Zweiter Band, S. 886 (Neunte vermehrte und revidierte Ausgabe 1993).

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und Schlafen bewegt, präzis als Traum markiert, und die geschilderten Leiden – die Untreue, der Selbstmord, die gescheiterte Auferstehung – müssen auch als ironischer Hieb gegen diese als narzisstisch erkannte Art von Liebessehnsucht und Liebestod und damit gegen sich selbst, als Selbst-Ironie, gelesen werden. Selbstironie statt Selbstmord: So lautet die spezifisch Heine’sche Antwort auf den Transzendenzverlust. Die eleganteste und wohl am besten geeignete Gattung um Selbstironie zu kultivieren ist der Brief. Unübertroffen zeigt sich dies in einem nicht genau datierten Brief Heines an Heinrich Straube von Anfang März 1821. Er schildert dort seine Rückkehr nach Hamburg, wo er nach zweijähriger Abwesenheit auch die unglücklich geliebte Cousine wiedertrifft. In einem eingeschobenen Gedicht, welches anscheinend aus diesem Anlass entsteht und geringfügig verändert, doch entscheidend verbessert, Aufnahme ins Buch der Lieder findet, weist Heine das Lachen als die angemessene Reaktion auf Abweisung und Verrat aus: „Und wenn das Herz im Leibe ist zerrissen / Zerschnitten u zerschnitten u zerstochen, / So bleibt uns doch das hübsche gelle Lachen!“ In Prosa fährt er fort: „Ja wenn die weitklaffende Todeswunde meines Herzens sprechen könnte, so spräche sie: ich lache.“ (Nr. 17). Dem Alleingelassenen bleibt also beileibe nicht nur der Suizid. Das „hübsche gelle Lachen“ heilt zwar nicht den Riss, der durch das „Herz im Leibe“ geht, doch schafft es die Möglichkeit des Weiterlebens mit dem Riss als dessen genauer Ausdruck – indem es eine neue Distanz aufreißt und die eigene zerrissene Position noch einmal verdoppelt wird. Im Buch der Lieder wird diese Verdoppelung der Verdoppelung sprachlich noch genauer gefasst: Und wenn das Herz im Leibe ist zerrissen, Zerrissen, und zerschnitten, und zerstochen, – – Dann bleibt uns doch das schöne gelle Lachen. (DHA 1/1, 123)

Indem das Wort „zerrissen“ wiederholt wird, und zwar genau entlang der Versgrenze, werden die beiden letzten Verse ausgerechnet mit dem Wort „zerrissen“ verbunden. Die Anadiplose, so wird diese rhetorische Figur genannt,33 bildet im Text selbst die Figur des durch den Riss Verbundenen ab, des durch den Riss sprechenden Herzens. Die beiden Gedankenstriche am Schluss des Verses spiegeln dann den Riss noch einmal mit typographischen Mitteln, sie gleichen den Schneidstellen im Herzen und sind gleichzeitig das Unaussprechbare, das sich im Riss unaufhebbar auftut und im Lachen „doch“ zu seinem Ausdruck findet. Das Lachen rührt vielleicht von dem Zwiespalt her, der darin besteht, eine Illusion von Ganzheit aufrechtzuerhalten und gleichzeitig um dieses Illusionäre 33 Vgl. Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel / Frankfurt a. M. 1995, S. 122. Heine benutzte die Figur auch an anderen Stellen des Buchs der Lieder, wie Groddeck zeigt.

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zu wissen. Damit gleicht der lachende Heine dem zum Tode Verurteilten, von dem Freud erzählt, dass er auf dem Weg zum Galgen – die Hinrichtung fällt auf einen Montag – sagt: „Na, die Woche fängt gut an.“ – „Das Großartige“, das jene humoristische Bemerkung an sich habe, „liegt offenbar im Triumph des Narzißmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des eigenen Ichs.“34 Heines gedoppelte Ironie, die vergleichbar zum unglücklichen Humoristen Freuds sein Lachen gegen die ihn zerstörende Realität setzt, beruht metapsychologisch ausgedrückt „nicht auf einem Rückzug der Besetzung vom Selbst durch eine rasende Überbesetzung von Objekten, sondern auf der Abziehung der Besetzung vom narzisstischen Selbst und einer […] Umwandlung der narzisstischen Libido“35 in ein erweitertes Selbst. Es ist nicht eine Überwindung des Narzissmus’, sondern dessen Transformation. Diese erlaubt ein ungehemmtes und freies Spiel mit den Versatzstücken des eigenen Leidens und des eigenen Schreibens, wie der Brief vom März 1821 im Folgenden zeigt. Heine zögert nicht, sich selbst als Imitator seiner literarischen Figuren auszugeben. Dabei wird der tragisch Liebende zu einer komischen Figur und Heines eigene Tragödie Almansor zu einer Komödie umgeschrieben. Heine berichtet an Straube, wie er im mitternächtlichen Mondlicht zum Haus seiner Geliebten schleicht, „um unter ihrem Fenster die Rolle meines Almansors in der Wirklichkeit zu spielen.“ (Nr. 17). Die angesprochene Szene des im mittelalterlichen Spanien spielenden Dramas zeigt den Protagonisten, wie er vor dem erleuchteten Schloss steht, in dem seine Geliebte wohnt. „Hör ich der Geigen langsam weiche Töne, / Zieht mir ein Messer schneidend durch die Brust;“ (DHA 5, 25). Almansor ist Moslem, doch Zuleima ist mitsamt der Familie Christin geworden und heißt jetzt Donna Clara. Im Brief schreibt Heine: Aber ich hatte leider keinen Mantel wie mein Almansor, u musste frieren wie ein Schneider. Auch hatte ich statt einer hellgestirnten andalousischen Sommernacht nur einen aschgrauen Himmel, feuchten hamburger Nazionalwind, u durchfröstlendes Regengeträufel. […] Alle Tollhäuser hatten ihre Wahnsinnbilder losgelassen u mir auf den Hals gejagt. In meinem Gehirn feyerte dieses verrückte Gesindel seine Wallpurgisnacht, meine Zähne klapperten die Tanzmusik dazu, und aus meiner Brust ergossen sich warme Ströme von rothem, rothem Herzblut. Unheimlich umrauschten mich diese Blutwogen, betäubend umnebelte mich der Duft ihrer Nähe, u sie selbst, sie selbst erschien oben am Fenster u nickte herab und lächelte herab, in all ihrer leuchtenden Schönheitsglorie, so daß ich zu vergehen glaubte in unendlicher Sehnsucht, u Wehmuth und Seeligkeit. –

34 Sigmund Freud: „Der Humor“, in: ders.: Studienausgabe, Band IV: Psychologische Schriften, S. 275–282, hier S. 278. 35 Heinz Kohut: „Formen und Umformungen des Narzißmus“, in.: ders.: Die Zukunft der Psychoanalyse. Aufsätze zu allgemeinen Themen und zur Psychologie des Selbst, Frankfurt a. M. 1975, S. 140–172, hier S. 164.

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Doch doppeltschneidender Schmerz zerriß mein innerstes Gemüth, als ich bemerkte, daß meine Fantasie mich wieder in den April geschickt hatte. Das schaurigsüße Lockenköpfchen das mir so huldreich herabgenikt, war nur die alte Gouvernante die ihre Jalousien zugemacht, der wundersame Duft der meine Sinne umnebelte, war nur der Geruch aus einem nahen Käseladen, und der herabrauschende Blutstrom war nur der Schiffprügelinhalt, den eine Hure aus ihrem Fenster hinabgoß. (Nr. 17)

Die mit allem übertriebenen Pathos ausgestattete Szenerie des romantischen Liebessehnens verkehrt sich auf groteske Weise in ihre Karikatur. Die Einsamkeit des Poeten vor dem Fenster der Geliebten wird als literarische Rolle, als Text kenntlich gemacht. Wie Simson im Schnabelewopski nicht mehr auf den biblischen Text vertrauen kann, so muss hier der Bezug zum eigenen Text scheitern. Was bleibt ist das Lachen und damit die Erweiterung des bloß zitierenden und liebenden Selbstbezugs in eine sich selbst distanzierende Ironie: Nicht nur der Duft der Geliebten entpuppt sich als Geruch eines nahegelegenen Käseladens, auch sie selber ist eigentlich deren „alte Gouvernante“, und der „herabrauschende Blutstrom“ erweist sich als die Fäkalien einer Prostituierten. Heine gibt die Beschreibung einer schmerzhaften und brutalen Ernüchterung. Doch „doppeltschneidender Schmerz“ darüber kann nicht das Lachen verhindern, das von der eigenen narzisstisch übersteigerten „Fantasie“ ausgelöst wird. In unheimlich rauschenden „Blutwogen“ sieht diese das eigene „Blut“ und das der Geliebten zusammenkommen. Die romantische Vision Novalis’ scheint nicht weit: „In himmlischem Blute / Schwimmt das heilige Paar.“ Heine jedoch zögert nicht, diese Sehnsucht wortwörtlich in den Dreck zu ziehen. Für den jungen jüdischen Poeten entpuppt sich der alles heilende Blutstrom der Romantik als ausfließender Inhalt eines Nachttopfes. Dieses dialektische Bild radikalisiert36 die romantische Ironie bis zur Unkenntlichkeit. Mit diesem Brief schließt sich ein erster Kreis. Der junge Heine, zwischen 1816 und 1826 auf dem Weg zum erfolgreichen Schriftsteller, schreibt sich auf einer ersten Ebene mit christologischen Bildern des Bluts in die Literatur der Epoche ein. Die immer wieder festgestellte Vergleichbarkeit der Sehnsucht nach der Liebesgemeinschaft und dem Wunsch nach Aufnahme in die deutsche Kulturgemeinschaft, lässt den jüdischen Autor als sich für seine Texte opfernder Messias einer utopischen Erotik wie einer utopischen Politik erscheinen. Auf einer zweiten Ebene wird diese Konstellation als narzisstische Struktur begriffen und das Moment des Auf-sich-Selbst-Verwiesenseins pathetisch herausgestellt. Eine dritte Ebene schließlich entlarvt auch die Einsamkeit selbstironisch als „Rolle“, als topisches Muster eines bereits geschriebenen Textes. – Das „gelle 36 Dass Heines kritisches Brechen mit der Romantik paradoxerweise auch als deren Radikalisierung zu lesen ist vgl. Markus Winkler: „Paradoxe Authentizität. Kritik und Radikalisierung der Romantik in Heines Heimkehr-Gedicht XLIV“, in: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Goethe bis Klopstock. Gedichte und Interpretationen, Köln / Weimar / Wien 2003, S. 128–143.

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Lachen“ erschüttert jede feste Position und belässt Autor wie Leser in einem freien Spiel von Motiven, die sich, wie der „Blutstrom“, bald als pathetischer Ausdruck eines doppelten Schmerzens, bald als dessen groteske Spiegelbilder zu verstehen geben. Heines Lachen macht es unmöglich zu entscheiden, was die Essenz jenes Blutstroms bildet. Der Topos des Blutstroms ist als metonymische Verschiebung der Tränenflut eine Metapher für das nicht aufzuhebende Leiden an der Gemeinschaftslosigkeit. Er zeigt das nicht zu hintergehende, vereinzelte Blut ohne symbolische Funktion und er zeigt eine bloße Projektion romantisierender Weltwahrnehmung. Nicht nacheinander oder für sich allein jedoch, sondern jeweils ineinander verschoben, liegen die verschiedenen Deutungsebenen und statten das Motiv des Blutstroms in den frühen Texten Heines mit kaum auszulotender Tiefe aus. Im folgenden Abschnitt wird es darum gehen, das „Blut“ als Markierung spezifisch jüdischer Erfahrung zu lesen. Ausführlich wird dafür auf die religiösen Prätexte eingegangen, die Geschichte von Jakob und Esau in Genesis 25-35 sowie die Pessach-Haggada, welche in Heines Schriften aufgerufen und transformiert werden. 2.  Das Blut Israels […] und ich gebe meine Rache an Edom in die Hand meines / Volks Jisrael, […].*

2.1  Jagdszene

In seinem Reisebild Die Nordsee, das er als „Dritte Abtheilung“ seiner NordseeDichtung versteht und 1826 publiziert, schreibt Heine über die Freuden des Spazierens am Strand und kommt dann auf weitere Urlaubsvergnügen zu sprechen. Die Jagd am Strande soll ebenfalls ein großes Vergnügen gewähren. Was mich betrifft, so weiß ich es nicht sonderlich zu schätzen. Der Sinn für das Edle, Schöne und Gute läßt sich oft durch Erziehung den Menschen beybringen; aber der Sinn für die Jagd liegt im Blute. Wenn die Ahnen, schon seit undenklichen Zeiten, Rehböcke geschossen haben, so findet auch der Enkel ein Vergnügen an dieser legitimen Beschäftigung. Meine Ahnen gehörten aber nicht zu den jagenden, viel eher zu den Gejagten, und soll ich auf die Nachkömmlinge ihrer ehemaligen Collegen losdrücken, so empört sich *

Ez 25, 14: Die Schrift, zu verdeutschen unternommen von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Das Buch Jecheskel, verdeutscht von Martin Buber, Berlin 1936.

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dawider mein Blut. Ja, aus Erfahrung weiß ich, daß, nach abgesteckter Mensur, es mir weit leichter wird, auf einen Jäger loszudrücken, der die Zeiten zurückwünscht, wo auch Menschen zur hohen Jagd gehörten. Gottlob, diese Zeiten sind vorüber! Gelüstet es jetzt solche Jäger, wieder einen Menschen zu jagen, so müssen sie ihn dafür bezahlen, wie z. B. den Schnelläufer, den ich vor zwey Jahren in Göttingen sah. Der arme Mensch hatte sich schon in der schwülen Sonntagshitze ziemlich müde gelaufen, als einige hannövrische Junker, die dort Humaniora studierten, ihm ein paar Thaler boten, wenn er den zurückgelegten Weg nochmals laufen wolle; und der Mensch lief, und er war todblaß und trug eine rothe Jacke, und dicht hinter ihm, im wirbelnden Staube, galoppierten die wohlgenährten, edlen Jünglinge, auf hohen Rossen, deren Hufe zuweilen den gehetzten, keuchenden Menschen trafen, und es war ein Mensch. (DHA 6, 151)

Der Nachsatz „[...] und es war ein Mensch“ formuliert eine Geminatio der Aussage, dass es sich beim Gejagten eben um einen Menschen handelt. Sie hebt damit die Eigenschaft des Menschseins emphatisch hervor, und zeigt das Spiel der Junker, die ironischerweise Humaniora studieren, als menschenverachtende Praxis. Trotz ihrer adligen Herkunft wird ihnen dadurch das abgesprochen, was Heine aufklärerisch der Erziehung zuschreibt: „Der Sinn für das Edle, Schöne und Gute“. Die jungen Männer sind bloß gut geboren und nicht gut erzogen. Dass sie „auf hohen Rossen“ sitzen, ist sprichwörtlich. Der Unterschied von der „legitimen Beschäftigung“ des Jagens auf Rehböcke zur Menschenjagd scheint nur gradueller Art; er liegt im unterschiedlichen „Gelüsten“ der Jäger. Der Schluss des zitierten Absatzes jedoch hat einen eigentümlich beschwörenden Gestus, mit der viermaligen Wiederholung der Konjunktion und einen biblisierenden Spachduktus: „[…] und der Mensch lief, und er war todtblaß und trug eine rothe Jacke, und dicht hinter ihm […].“ Damit verliert die Episode das Anekdotenhafte und kann als eine universelle Allegorie für Ungerechtigkeit überhaupt gelesen werden. Rote Jacke und Totenblässe zeigen metonymisch an, auf was die Jäger es eigentlich – das macht den Reiz des Spiels aus – abgesehen haben: Auf das Blut und damit den Tod des gehetzten Menschen. Die Ungerechtigkeit besteht aber nicht darin, einen Menschen mit dem Tod zu bedrohen, sondern darin, sich dieses Recht auf Blut und Leben, das „Recht zu töten“37, das einstmals dem Adel im Zeichen des Schwertes wirklich zukam, nun für „ein paar Taler“ zu kaufen. Der „arme Mensch“ ist nicht nur der gehetzte Läufer, sondern der in der modernen Wirtschaftsordnung zu kurz Gekommene an sich, der finanziell Arme, der sich und sein vermeintliches Naturrecht Mensch zu sein, zum Vergnügen der Besitzenden billig verkauft. Im Nachsatz „[…] und es war ein Mensch.“ ist implizit der Ausruf „Ecce Homo!“ zitiert, welcher hier unter den Bedingungen des mächtig wachsenden Kapitalismus neu formuliert wird. Dagegen setzt Heine die Kraft einer Sprache, die beinahe pathetisch auf einer unverkäuflichen Menschlichkeit beharrt. 37 Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 162.

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Dieses Beharren führt Heine selbst auf eine familiäre – phylogenetisch erworbene – Erfahrung zurück. In dieser Textstelle stößt meine Untersuchung nämlich auf eine weitere, in der Einleitung angesprochene Bedeutungsebene des „Bluts“; die der Verwandtschaft. Der „Sinn für die Jagd liegt im Blute.“ Mit dieser Bemerkung spannt Heine eine zweiseitige Genealogie auf und behauptet das Vorhandensein einer kollektiven „archaischen Erbschaft“38, die er im „Blut“ des einzelnen verortet. Auf der einen Seite sind die Jäger situiert, deren Ahnen die „wohlgenährten, edlen Jünglinge“ darstellen. Auf der anderen Seite stehen die Gejagten, als deren Nachkomme sich der Ich-Erzähler vorstellt. Nicht nur seine Abneigung gegen diese Art von Vergnügen ist damit erklärt, sondern auch die Empörung, wenn er „auf die Nachkömmlinge“ der „ehemaligen Kollegen“ der Gejagten schießen soll. Das „Blut“ ist in mehrfachem Sinn das Medium des Lebens. Erstens ist es als Träger des Lebens an sich Symbol und Wirklichkeit des Todes. Nur das menschliche Blut darf nicht vergossen werden, darf nicht – die „rothe Jacke“ zeigt die Übertretung an – nach außen gelangen. Die Jagd macht den Gejagten zum Wild, bannt ihn aus der Sphäre des Kultivierten und entzieht ihn damit der Zone des spezifisch menschlichen Lebens, der bíos, die in der klassischen griechischen Unterscheidung, auf die prominent Giorgio Agamben hingewiesen hat, der zoé als physischem Leben entgegengestellt ist. Die Jagd entzieht den Gejagten aber auch dieser Unterscheidung, denn indem Jäger und Gejagter als spiegelbildliche Figuren auf einander verweisen und gegenseitig mit einander verbunden sind, bewegen sie sich in einer ursprünglichen Zone der Nicht-Un38 Als eine „unvermeidliche Kühnheit“ bezeichnet Sigmund Freud den lamarckistisch anmutenden Schritt, den Individual- und Massenpsychologie überbrückt und es erlaubt „die Völker [zu] behandeln wie den einzelnen Neurotiker“, nämlich die Annahme von „Erinnerungsspuren in der archaischen Erbschaft“, die als „Resterscheinungen der analytischen Arbeit“ nicht individuell, sondern nur als „Ableitung aus der Phylogenese“ erklärt werden können. Analog zu den Instinkten der Tiere hätten die Menschen „Erinnerungen an das von ihren Voreltern Erlebte in sich bewahrt.“ Freud, Studienausgabe, Band IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Kultur, S. 547. Es ist übrigens sehr bemerkenswert, dass Freud auf seiner Suche nach dem jüdischen Charakter, der abgesehen vom Religiösen existieren soll – zwar nicht im Mann Moses, aber in seinem Briefwechsel mit Arnold Zweig – ebenfalls beim „Blut“ landet, die Rede vom Blut aber gleich kritisiert: „[...] wie merkwürdig muss dieses tragisch-tolle Land, das Sie besucht haben Ihnen geworden sein. Denken Sie, kein anderer Fortschritt verknüpft sich mit diesem Streifen unserer Muttererde, keine Entdeckung oder Erfindung – [...], Palästina hat nichts gebildet als Religionen, heiligen Wahnwitz [...] und wir stammen von dort [...], unsere Vorfahren haben dort vielleicht durch ein halbes Jahrtausend, vielleicht ein ganzes gelebt [...], und es ist nicht zu sagen, was wir vom Leben in diesem Land als Erbschaft in Blut und Nerven (wie man fehlerhaft sagt) [Hervorhebung CB] mitgenommen haben. Oh, das Leben könnte sehr interessant sein, wenn man nur mehr davon wüsste und verstünde.“ Sigmund Freud / Arnold Zweig: Briefwechsel, hg. von Ernst L. Freud, Frankfurt a. M. 1968, S. 51–52.

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terscheidbarkeit von Mensch und Tier, Kultur und Natur.39 Dieser Vorgang wird durch das Sichtbarwerden des Bluts, das hier freilich dem wiederum die Jagd simulierenden Spiel gemäß nur metonymisch sichtbar ist, repräsentiert. Der Gejagte wird dadurch virtuell zum Todgeweihten und zum nackten Leben.40 Denn das Blut ist, wie der konservative Kulturkritiker José Ortega y Gasset in seinen Meditationen über die Jagd festhält, „die Flüssigkeit, die das Leben trägt und symbolisiert […].“41 Es ist „dazu bestimmt, verborgen, geheim, im Innern des Körpers zu fließen. Wenn es ausströmt und das wesenhafte ‚Innen‘ heraustritt, dann vollzieht sich in der ganzen Natur eine Konvulsion des Ekels und des Schreckens, als ob der radikalste Widersinn begangen worden sei: indem zur Ähnlichkeit gemacht wurde, was reine Innerlichkeit ist. Aber das eben ist der Tod. Der Leichnam ist Fleisch, das seine Innerlichkeit verloren hat, […] ein Stück reiner Materie, in dem nichts mehr verborgen ist.“42 Diese Unverborgenheit kennzeichnet den Heine’schen Schnellläufer in den Augen seiner Verfolger. Sie haben sich ein nacktes Leben gekauft. Zweitens ist das „Blut“ Träger bestimmter menschlicher Eigenschaften, die vererbbar sind, wie in diesem Fall die Lust zu jagen. Gerade die Jagdlust kann aber nicht als eine unter anderen Eigenschaften gelten. Die zwei Abstammungslinien, die Heine hier zeichnet, lassen sich in der jüdischen Tradition – und als Jude bezeichnet der Erzähler sich auf verdeckte Weise, wenn er von den „Gejagten“ spricht – auf einen ihr grundlegenden Text des politischen und geschichtsphilosophischen Denkens zurückführen, nämlich auf Genesis 25-35, wo die Geschichte der unterschiedlichen Zwillingsbrüder Jakob und Essau erzählt wird. Heines Gedicht An Edom! von 1824, das im folgenden Abschnitt genau gelesen werden soll, belegt, dass Heine die Tradition der Benennung der Judenfeindschaft mit dem Namen Edom nicht nur kannte, sondern auch produktiv nutzte. In dieser Geschichte geht es auch um das „Blut des Bruders“, das immer das Blut der Vergemeinschaftung, aber eben als Blut, das Gewaltsamkeit anzeigt, auch das Blut der Vereinzelung darstellt. Schon im Mutterbauch bekämpfen sich die Söhne Rebbekas und Isaaks und werden gerade wegen ihrer Nähe zu Rivalen.43 Esau, der ein paar Augenblicke 39 Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a. M. 2002, S. 119. 40 Vgl. ebd. S. 14–19. 41 Bei aller Fragwürdigkeit dieses Textes, der zu einem merkwürdigen Zeitpunkt (1944) entstanden ist, sind dort doch einige Einsichten formuliert, die für den Umgang der westlichen Kultur mit „Blut“ grundlegend sind: José Ortega y Gasset: Meditationen über die Jagd. Vorwort zu einem Buch über die hohe Jagd des Grafen von Yebes, Stuttgart 1953, S. 105–106. 42 Ebd. 43 Vgl. Stéphane Mosès: Eros und Gesetz. Zehn Lektüren der Bibel, übersetzt von Susanne Sandherr und Birgit Schlachter, München 1999, S. 58.

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älter ist als Jakob, ist mit rötlichen Haaren bedeckt. Dies zeigt die sexuelle oder tellurische Energie Esaus an und weist auf seine archetypische Beschäftigung hin: „Und da nun die Knaben groß wurden, ward Esau ein Jäger und streifte auf dem Felde, Jakob aber war ein sanfter Mann und blieb in seinen Hütten.“ (Gen 25, 27 nach Luther). Während also für Esau das Blutvergießen tägliches Geschäft ist, ist Jakob „sanft“, oder wie es Zunz übersetzt „schlicht“. Er ist, wie Stéphane Mosès formuliert, „der Mann der Innenwelt; nicht dem Krieg ist er zugewandt, sondern den friedlichen Tätigkeiten. Sein Name bedeutet auch ‚verdreht‘: Die traditionellen Kommentatoren deuten ihn als Bezeichnung für einen Menschen, der nicht gleich in der Welt zuhause ist, nicht weil er diesseits des Wirklichen wäre, sondern vielleicht, weil er darüber hinaussieht.“44 Esau ist im Gegensatz dazu „in der Welt verwurzelt. In gewisser Weise ist er ‚fertig‘, von Natur aus mit sich und der Welt in Einklang.“45 Das „Blut“ ist jedoch nicht der Grund dafür, dass man Esau auch Edom, wörtlich den Roten, nennt. Es ist das rote Linsengericht, welches er aus Ungeduld dem planenden Jakob für sein Erstgeburtsrecht verkauft, das zu der Benennung führt. Trotzdem ist mit seinem Namen auch das Blut der Gewalt konnotiert. Nachdem Jakob ihn nämlich mit einer sonderbaren Travestienummer um den Segen des Vaters gebracht hat, bleibt für den weinenden Esau nichts mehr an guten Wünschen übrig und Vater Isaak verkündet: „Von deinem Schwerte wirst du dich nähren und deinem Bruder dienen.“ (Gen 27, 40) Isaaks Aussage ist eine Art self fulfilling prophecy. Unmittelbar darauf heißt es: „Und Esau war Jakob gram um des Segens willen, mit dem ihn sein Vater gesegnet hatte, und sprach in seinem Herzen: Es wird die Zeit bald kommen, da man um meinen Vater Leid tragen muß; dann will ich meinen Bruder Jakob erwürgen.“ (Gen 27, 41). So ganz in Einklang mit der Welt, wie Mosès meint, scheint Esau also nicht zu sein. Er ist der Todfeind Jakobs, der vor Gewalt nicht zurückschreckt um sich zu rächen, um etwas zurechtzurücken, was auch ihm verdreht erscheint. Für die beiden Brüder ist die Welt umgekehrt verdreht – sie selbst sind ineinander verdreht. Diese eigentümliche Dialektik ist es, welche die biblische Erzählung zum Paradigma des Verhältnisses von jüdischer Gemeinschaft und den sie umgebenden, feindlich gesinnten Völkern macht, zuerst den Nachkommen Esaus, den Edomitern, dann in der rabbinischen Literatur dem römischen Reich, dem byzantinischen Ostrom, aber auch der christlichen Kirche.46 Die Bezeichnung Edom 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Vgl. Friedrich Avemarie: „Esaus Hände, Jakobs Stimme. Edom als Sinnbild in der frühen rabbinischen Literatur“, in: Reinhard Feldmeier / Ulrich Heckel (Hg.): Juden, Christen und das Problem des Fremden, Tübingen 1994, S. 177–208. Die Allegorie hat auch für das Mittelalter Geltung, wie folgende ältere Darstellung zeigt: Gerson D. Cohen: „Esau as Symbol in Early Medieval Thought“, in: Alexander Altmann (Hg.): Jewish Medieval and Renaissance Studies, Cambridge MA 1969, S. 19–48.

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wurde also sowohl religiös als auch politisch verstanden. „So wurde Edom zum mythologischen Gegner Israels bis zur Endzeit: es wechselten Identität, Name, zeitliche und geographische Fixierung, was blieb, war der seit Urzeiten bedrohlich klingende Name Edom.“47 Dieser bedrohliche Klang nutzt noch Heine in seinem Gedicht, das auf eine lange Tradition verweist. Edom ist „Israels Bruder und sein Todfeind und die Projektionsfigur aller erlittener Unterdrückung und Ohnmacht.“48 Dabei ist Edom „nicht einfach ein anderes Wort für Rom. Es ist ein spiegelbildlicher Ausdruck des rabbinischen Selbstverständnisses, der Inbegriff eines bestimmten Aspektes der Existenz Israels in dieser Welt – weit mehr als ein Symbol seines Leidens und seiner Knechtschaft als ein Name für den Unterdrücker. Die Perspektive bleibt dabei konsequent; es dominieren Ironie und Hoffnung, Karikatur und Vision.“49 Diese vier Schlagworte charakterisieren sehr gut Heines zeitlebens unpubliziertes Gedicht An Edom!, das gemäß seiner brieflichen Aussage an Moses Moser vom 25. Oktober 1824 zwei Wochen vorher anlässlich des Quellenstudiums beim Schreiben des Rabbi von Bacherach entstanden sein soll. Das Gedicht ist Ausdruck der Empörung und spricht aus, was in jener „Jagd am Strande“ nur allusiv verhandelt wird. 2.2  Fast wie du An Edom! Ein Jahrtausend schon und länger, Dulden wir uns brüderlich, Du, du duldest, daß ich athme. Daß du rasest, dulde Ich. Manchmal nur, in dunkeln Zeiten, Ward dir wunderlich zu Muth, Und die liebefrommen Tätzchen Färbtest du mit meinem Blut’. Jetzt wird unsre Freundschaft fester, Und noch täglich nimmt sie zu; Denn ich selbst begann zu rasen, Und ich werde fast wie Du. (DHA 1/1, 526)

47 Yuval: Zwei Völker in deinem Leib, S. 26. 48 Avemarie: „Esaus Hände“, S. 205. 49 Ebd., S. 206.

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Im Brief an Moser nennt Heine den Text eine „Reflekzion“ über die „schmerzliche Lektüre“ der Histoire des Juifs von Jacques Basnage (Nr. 118). Im Folgenden will ich anhand der vier Stichworte Ironie, Hoffnung, Karikatur, Vision zeigen, dass das Gedicht tatsächlich eine subtile Reflexion auf jüdische Existenz unter den aktuellen Verhältnissen darstellt, die jedoch mit poetisch-rhetorischen Mitteln und nicht mit rationalen Argumenten durchgeführt wird. Es ist Jakobs Stimme, die der Leser des Gedichts hören sollen; oder besser die Stimme Israels als die typologische Fiktion einer zeitlosen Stimme des Judentums. Diese Stimme wird getragen von einer latenten Ironie, die sich als die bestimmende Figur des Textes erweist. Die brüderliche Duldung ist nämlich sehr ungleich. Israel kann zwar „athmen“, wird also am Leben gelassen, doch dieses Überleben ist sehr armselig, denn es ist vom willkürlichen „Rasen“ Edoms eingeschränkt und von diesem abhängig. Dem „Rasen“ kann Israel nichts entgegensetzen als wieder das „Dulden“, das weniger aus Toleranz denn aus Ohnmacht zustande kommt. Auch das Wort „dulden“ selbst wird also ironisch gebraucht. Wie hier in der ersten der drei vierzeiligen Strophen wird die Ironie des Gedichts jeweils in der vierten Zeile pointiert manifest. Das Gedicht beschreibt eine Vision. Die erste Zeile „Ein Jahrtausend schon und länger“ reißt einen metahistorischen Gedächtnisraum auf, der der individuellen menschlichen Erinnerung enthoben und nur der Tradition und damit mittels Allegorien der Literatur fassbar ist. Das „wir“, das im darauffolgenden Vers angesprochen wird, ist eine literarische Figur, nämlich das Brüderpaar Jakob und Esau, in welchem Heine ganz im Einklang mit der jüdischen Tradition, dem intertextuellen Bezug auf die Tora, den clash of civilizations allegorisch fasst. Dabei ist die erste Strophe eine Abwendung vom „wir“ und eine Beschwörung Edoms. „Du, du duldest, daß ich atme, / Daß du rasest, dulde Ich.“ Entgegen der normalen Schreibpraxis ist das „Ich“ in der Handschrift des Briefs50 groß- und das „du“ kleingeschrieben. Dem Anderen, obwohl es „brüderlich“ aufs Engste mit dem Ich verbunden ist, kann nicht viel Wertschätzung entgegengebracht werden. Die Anrede als rhetorische Figur, die Apostrophe, „bezeichnet die Abwendung des Redners von seinem Publikum durch die Hinwendung zu einer anderen, imaginären Person“, und sie ist hier tatsächlich die „Personifikation einer Sache“51, nämlich des Antisemitismus. Das erklärt die merkwürdige Gegenstrebigkeit dieser Apostrophe. Sie vollzieht eine Hinwendung zu genau jener – als Edom allegorisierter – Kraft, die das Ich abweisen will, sie spricht ein Du an, welches dem Ich die Autorität zu sprechen abspricht. Wolfram Groddeck führt anhand eines Hölderlin-Gedichtes aus, wie die Apostrophe als „Reflexionsbewegung“52 mit der Figur des Antithetons verbunden ist. Diese 50 Vgl. Hier das Faksimile auf . 51 Groddeck: Reden, S. 198. 52 Ebd.

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Struktur kommt auch in Heines Text zur Geltung und die Figur des Antitheton ist hier ebenfalls „sinnkonstituierend“. Indem die Apostrophe das feindliche Du aufruft, sich ihm zuwendet, weist sie wieder auf das Ich zurück, gegen welches das Du „rast“. Obwohl der Titel An Edom! lautet, führt der Text, indem er die antithetischen Figuren Jakob und Esau verbindet, eine Reflexion auf Israel, das jüdische Ich vor. Die fast karikaturhafte Reduktion des Judentums auf das bloße Atmen und des Christentums auf das Rasen, welche in der ironischen Entlarvung des „brüderlichen Duldens“ als reiner Nachvollzug des Machtverhältnisses noch zugespitzt wird, enthält, wie jede Karikatur, ein pädagogisches Moment der Erkenntnis der schlechten Zustände und damit die Hoffnung, aus diesem Verhältnis auszubrechen. Zunächst jedoch wird in der zweiten Strophe das historische Machtverhältnis weiter beschrieben. Am meisten sticht heute das als Archaismus erscheinende Adjektiv „wunderlich“ ins Auge. Ist der Ausdruck ursprünglich vom religiösen Wunder abgeleitet, so ist „wunderlich“ seit dem 17. Jahrhundert negativ konnotiert und bedeutet, wie das Grimm’sche Wörterbuch belegt, schon zu Heines Zeiten Verwunderung und Staunen erregend oder sonderbar, merkwürdig, befremdend, ungewöhnlich, oft moralisch verwerflich oder nicht angebracht. „die kennzeichnung einer augenblicklichen gemütsverfassung im sinne von ‚zornig, ungehalten‘ bleibt auf mehr gelegentlichen gebrauch beschränkt.“53 Genau dieser Wortgebrauch scheint aber in Heines Text vorzuliegen. Als „wunderlich“ wird das Rasen Edoms bezeichnet. Im religiösen Kontext, so belehrt das Grimm’sche Wörterbuch weiter, kennzeichnet „wunderlich“ „das geheimnisvolle, unverständliche, fremdartige, absolut souveräne am wesen und handeln gottes […].“54 Nicht Gott, sondern Edom, seine antijüdischen Zorn- und Gewaltausbrüche, sind in den „dunkeln Zeiten“ Israels ebenso „absolut souverän“ wie „unverständlich“ und befremdend für die Betroffenen. Als Protagonist einer Mythographie, die sich von der Zerstörung des zweiten Tempels durch die römische Armee über die Gemetzel während der Kreuzzüge bis hin zu den in Heines Zeiten aktuellen antijüdischen Tendenzen zieht, erscheint Israel als quasi Vogelfreier im Gewaltbereich des souveränen Edoms. Die realen historischen Ereignisse wie die Tatsache eines ungestört blühenden jüdischen Lebens in vielen Phasen europäischer Geschichte oder des jüdischen Widerstandes werden in dieser Mythographie zugunsten einer phantasmatischen Typologisierung ausgeblendet. Die dunklen Zeiten werden durch die auffallende Häufung des Vokals U lautlich erzeugt: „Du, du duldest, daß ich athme...“ / Manchmal nur, in dunkeln Zeiten, / Ward dir wunderlich zu Mut“. Der Klang bereitet das Vergießen des Bluts atmosphärisch vor. Dieses wird noch unheimlicher, indem nicht das 53 Grimm: Band 30, Sp. 1916. 54 Ebd., Sp. 1905.

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Blutvergießen selbst beschrieben wird. Die Wunden werden durch die blutigen Tätzchen gleichsam gespiegelt. Auch der Diminuitiv „Tätzchen“ erhöht den Schrecken, denn damit wird eine Kindlichkeit oder ein kleines und dadurch unschuldiges Tier evoziert, was verbunden mit der Blutrünstigkeit eine besonders groteske Vorstellung ergibt. Esau wird eine tierhafte Natur zugesprochen, wenn nicht von seinen Händen, sondern von seinen „Tätzchen“ die Rede ist. Als Tier, vielleicht als Bär oder Wildkatze, handelt er außerhalb einer sittlichen Ordnung, triebhaft; er kann nicht anders. Wie ein Raubtier seine Beute erlegt, so ist es Edom vorherbestimmt, zu morden. „Von deinem Schwerte wirst du dich nähren […]“ hat ihm sein Vater verheißen. Mit dem Adjektiv „liebefromm“ wird zum wiederholten Mal in Heines Texten die christliche caritas als leere Theorie-Worthülse ironisiert, indem sie mit der judenfeindlichen Praxis konfrontiert wird. Das Blut, das Edom durch diese Praxis vergießt, färbt ihm die „Tätzchen“ rot. Für Heine wird – so wie Israel erst in der Apostrophe an Edom zu Israel wird – Edom erst durch das Blut Israels rot, also zu Edom. Die dritte Strophe gilt der Gegenwart, dem Jetzt: „Jetzt wird unsre Freundschaft fester, / Und noch täglich nimmt sie zu.“ Im aufgeklärten Jahrhundert der Emanzipation liegen die „dunkeln Zeiten“ weit in der Vergangenheit und obwohl Heine keine prophetischen Gaben besaß und nicht wissen konnte, dass die dunkelsten Zeiten über hundert Jahre später noch kommen sollten, vertrat er doch, nachweisbar sicher gegen Ende der 1830er Jahre, einen intuitiven Pessimismus.55 Schon hier lässt das Gedicht das Pathos dieser „Freundschaft“ – dabei wird der Leser vielleicht an die legendäre Freundschaft zwischen Mendelssohn und Lessing erinnert – nicht gelten. Der Komparativ „fester“ impliziert, dass es eine Freundschaft schon früher gegeben habe. Von dieser ist im Gedicht jedoch nichts zu erfahren, nur von der „wunderlichen“ Mutwilligkeit Edoms gegen Israel. Dass es nicht um Freundschaft geht, die ja zwei annähernd Gleiche schon voraussetzt, sondern um eine Angleichung, eine Assimilation, wird am Schluss des Gedichts deutlich. „Denn ich selbst begann zu rasen, / Und ich werde fast wie Du.“ Edom wird nicht etwa friedfertig und tolerant, sondern Israel eignet sich dessen Gewalttätigkeit und Intoleranz an und wird als Rasender selbst „fast wie Du“. Im biblischen Bericht schlüpft Jakob in die Rolle Esaus um das Erstgeburtsrecht von Isaak zu bekommen: Da machte seine Mutter ein Essen, wie es sein Vater gern hatte, und nahm Esaus, ihres älteren Sohnes, köstliche Kleider, die sie bei sich im Hause hatte, und zog sie Jakob 55 An einer zentralen Stelle in Heines Werk, den Texten über Shakespeares Mädchen und Frauen, in die seine Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität gut versteckt ist, schreibt er: „Aber siegt einst Satan, der sündhafte Pantheismus, vor welchem uns sowohl alle Heiligen des alten und neuen Testaments als auch des Corans bewahren mögen, so zieht sich über die Häupter der armen Juden ein Verfolgungsgewitter, das ihre früheren Erduldungen noch weit überbieten wird ...“ (DHA 10, 134).

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an, ihrem jüngeren Sohn; aber die Felle von den Böcklein tat sie um seine Hände, und wo er glatt war am Halse, und gab also das Essen mit Brot, wie sie es gemacht hatte, in Jakobs Hand, ihres Sohnes. Und er ging hinein zu seinem Vater und sprach: Mein Vater! Er antwortete: Hier bin ich. Wer bist du, mein Sohn? Jakob sprach zu seinem Vater: Ich bin Esau, dein erstgeborener Sohn; ich habe getan, wie du mir gesagt hast. Steh auf, setze dich und iß von meinem Wildbret, auf daß mich deine Seele segne. (Gen 27,15-19 nach Luther)

Jakob wird „fast wie“ Esau und gibt sich sogar als ihn aus. Jakob kann erst zu Israel werden, indem er Esau werden will. Er muss sich die Attribute des Jägers und Landmannes aneignen, die haarige Haut und den Geruch. Es ist jedoch nur eine Simulation und er kann die Identität nicht ganz annehmen. Bei dem Vorgang handelt sich um Mimesis. Das Syntagma „fast wie du“ bezeichnet gerade diese Unvollkommenheit der Assimilation, die letztendliche Unmöglichkeit des Gleichwerdens. Wenn jedoch von antisemitischer Seite eine solche ursprüngliche Differenz rassistisch oder pseudoreligiös behauptet wird, und den Juden immer wieder und variantenreich die Simulation und Dissimulation, das Nachahmen des Wahrhaftig-Ursprünglichen, die Täuschung vorgeworfen wird,56 dann wird dieser Vorwurf hier ironisch aufgenommen, indem von den Juden gesagt wird, die üblen Eigenschaften, die Gewalttätigkeit der Gojim anzunehmen. Trotzdem bleibt noch unklar, was mit den letzten zwei Versen genau gemeint ist. Jüdische Gewalt gegen die christliche Mehrheitsgesellschaft um 1824 war ja nicht gerade an der Tagesordnung. Ich werde im nächsten Teil meiner Untersuchung am Kontext des Gedichts An Edom!, nämlich am Rabbi von Bacherach, zeigen, dass das jüdische Rasen sich auf die Literatur selbst, auf das Schreiben Heines bezieht. „Ich werde fast wie du“: Damit wird eine Umkehrung der antisemitischen Gewalt als traumähnliche Wunscherfüllung poetisch artikuliert. Die geschichtstheologische Vision entpuppt sich als Traum des jüdischen Dichters, in dem das jüdische Blut („fast“) über Edom kommen soll. Zuvor jedoch soll ein politisch-theologischer Dichtertraum aus dem Wintermährchen, in welchem, wie Klaus Briegleb bemerkt, „die Reise der verfolgten Juden im Exil seit dem Auszug aus Ägypten eingeholt“ und „neu gedeutet“57 wird, zeigen, wie sich Wunsch und Wunscherfüllung in Heines Texten zueinan56 Gerade Heine war beliebtes Ziel solcher Attacken, die „Hegemonie des Deutsch-Fühlens“, die so unterschiedliche Gestalten wie Adolf Bartels, Wolfgang Menzel oder Franz Sandvoß vereinte, empörte sich wider die täuschende Aneignung der deutschen Sprache durch einen Juden. Vgl. Paul Peters: Die Wunde Heine. Zur Geschichte des Heine-Bildes in Deutschland, Bodenheim 1997, insbesondere S. 59–118. 57 Klaus Briegleb: „Heines Umgang mit Judenhass als Fortführung eines biblischen Programms“, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 3/2006, S. 32–38. Ich zitiere diesen Aufsatz nach der textidentischen Online-Ausgabe des Zeitschrift unter: 58 Ebd.

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stiftende Weise. Wenn das jüdische Volk aus dem ägyptischen Exil aufbricht und sich dadurch konstituiert, so kommt hier ein Dichter aus dem Exil nach Hause, ein Zuhause jedoch, das in seiner physischen Realität als fremd und bedrohlich wahrgenommen wird und das als sprachliches Zuhause trotzdem Heines Schreiben existentiell grundiert. Damit bestätigt sich das Ich als deutscher Dichter. So heißt es in den berühmten Eingangsstrophen des Wintermährchens: Und als ich die deutsche Sprache vernahm, Da ward mir seltsam zu Muthe; Ich meinte nicht anders, als ob das Herz recht angenehm verblute. (DHA 4, 91)

Das Blut aus dem Herz des Dichters im Wintermährchen ist nicht wie das biblische Lämmerblut ein Stellvertreter, es ist kein Verschonungszeichen. Es ist Ausdruck der Gefährdung der innersten Existenz des Dichters, die stets prekäre Möglichkeit und die Bedingung seines Schreibens überhaupt. Das „Blut“ ist das unmittelbare Medium deutsch-jüdischen Schreibens. Die christlichen Kölner werden somit keineswegs wie Briegleb meint „kraft des göttlichen Blutzeichens“ verflucht, sondern einzig und allein kraft des Dichters, kraft des Schreibens. Ganz wie Esau auf Rache gegen Jakob sinnt, sinnt der Dichter auf Rache für vergangenes Unrecht, antisemitische Kränkungen und Gewalt, und ist damit schreibend „fast wie“ Edom geworden. Diese Transformation beschränkt sich ganz auf den phantasmatischen Bereich der Literatur. Ihrer Ohnmacht ist sich Heine bewusst und er erträumt sich auch dafür eine Allegorie. Das Wintermährchen imaginiert einen unheimlichen Doppelgänger, der dem Dichter überall mit einer Axt nachfolgt und in die Tat umsetzt, was er sich ausdenkt. Ich bin kein Gespenst der Vergangenheit, kein grabentstiegener Strohwisch, Und von Rhetorik bin ich kein Freund, Bin auch nicht sehr philosophisch. Ich bin von praktischer Natur, Und immer schweigsam und ruhig. Doch wisse: was du ersonnen im Geist’, Das führ ich aus, das thu’ ich. […] Du bist der Richter, der Büttel bin ich, Und mit dem Gehorsam des Knechtes Vollstreck’ ich das Urtheil, das du gefällt, Und sey es ein ungerechtes. (DHA 4, 104-105)

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Im Traum wird das Urteil des Dichters über die „Totengerippe“ der heiligen drei Könige im Kölner Dom, die „als Symbol für die Mächte der Vergangenheit“59 die reaktionären Kräfte verkörpern, von diesem alter ego ausgeführt. Misslangen im Gedicht aus dem Lyrischen Intermezzo von 1822 die metaphysische Gesundung und die Auferstehung, so scheitert hier auch die politische Revolution und noch einmal bemüht Heines „Poetik des Scheiterns“ das Bild der Blutströme: Er nahte sich, und mit dem Beil Zerschmetterte er die armen Skelette des Aberglaubens, er schlug Sie nieder ohn’ Erbarmen. Es dröhnte der Hiebe Widerhall Aus allen Gewölben entsetzlich, – Blutströme schossen aus meiner Brust, Und ich erwachte plötzlich. (DHA 4, 109)

Die Allmachtsvorstellung des die Dichtergedanken ausführenden, rasenden Dämons bleibt ein Traum, der die Wirklichkeit nicht durchdringen kann. Es ist unsicher, ob Heine sich den Rachetraum überhaupt verwirklicht wünschte, und ob er den Wunsch des lyrischen Ichs erfüllt haben wollte: „Entsetzlich“ dröhnen ihm die Beilschläge. Das Sterbeglöckchen, welches der Träumende vernimmt, klingt dagegen „wehmüthig wimmernd und leise“ (DHA 4, 107). Es bleibt unklar, wessen Tod damit eigentlich angezeigt wird. Es kann sich gleichermaßen um den gewünschten Tod der verhassten Kölner wie um den Tod der im Lauf der Geschichte ermordeten Juden handeln. Mit triumphierenden Klängen ist das Morden in keinem Fall verbunden. In einer bekannten Briefstelle äußert sich Heine im Februar 1823 an Moritz Embden anlässlich dessen Verlobung mit Heines Schwester „Lottchen“ sehr zufrieden, dass der künftige Mann seiner Schwester „kein Revoluzionär“ sei und „nicht den Umsturz der bestehenden Formen wünscht.“ Auch er selber sei alles andere als ein Revoluzzer: „Obschon ich aber in England ein Radikaler und in Italien ein Carbonari bin, so gehöre ich doch nicht zu den Demagogen in Deutschland; aus dem ganz zufälligen und geringfügigen Grunde, daß bey einem Siege dieser letztern einige tausend jüdische Hälse, und just die besten, abgeschnitten werden.“ (Nr. 46). Der Wunsch nach dem politischen Umbau des restaurativen Systems Metternich’scher Prägung hat Grenzen in der Realität, die sehr genau an der jüdischen Identität entlanglaufen.60 59 Vgl. Kommentar, DHA 4, 1115. 60 Die studentischen Burschenschaften, die vor allem für den Umsturz der bestehenden Verhältnisse in Deutschland eintraten, waren liberaldemokratisch und deutschnational gesonnen; ihre zeitweilige Leitfigur, Jakob Friedrich Fries, der zuerst in Heidelberg und ab 1816 in Jena lehrte, einer der bekanntesten Gelehrten der Zeit, Redner am berüchtigten Wartburgfest 1817, war gleichzeitig glühender Anhänger einer Verfassung mit garantierten Bür-

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Die personifizierte Konsequenz der Literatur bleibt eine ambivalente Gestalt. Sie schert sich weder um „Rhetorik“, noch ist sie „philosophisch“ interessiert. Der Doppelgänger bleibt ein buchstäblicher und damit oberflächlicher Leser. Er weiß weder etwas von Hermeneutik noch von den jedem Text inhärenten Techniken, seinen Sinn zu tarnen und zu verschieben. Psychologisch verkörpert er den jeden Traum speisenden Wunsch, dessen Erfüllung immer zwiespältig ist. Im Politischen ist es der von jeglichem Selbstdenken befreite Furor der Revolution, jener Wille zur Veränderung, der bewusstlos ist, weil er vom bewusstlosen Leiden entfacht wurde, und der nicht vor Blutvergießen und der Zerstörung kultureller Werte zurückschreckt. Heine steht der Konsequenz seines Gedichts selbst ambivalent gegenüber, untergründig warnt er vor der Gefahr, die Literatur wörtlich zu nehmen. Dem melancholischen Ich des Wintermährchens bleibt daher nur die Weiterreise, das Weiterziehen in der Heimat, die zum Ausland wurde. Der rasende Dichter wird nur „fast“ zum Doppelgänger des rächenden Gottes der Israeliten. Vor den realen Bluttaten muss er zurückschrecken. Gegen den neuen Edom setzt er die Transformationsmaschine des Schreibens, die Anspielungsnetze seiner Literatur. Das Blut, mit dem sich Edom die „Tätzchen“ färbt, ist das gleiche Blut, das der Dichter im Traum an die Haustüren der Kölner streicht, es ist „mein Blut“, das Blut Israels. Das heißt, dass der Jude Heine erst zum Dichter wird, indem er sich in die biblischtraditionelle Linie dieses gefährdeten Blutes einschreibt. Anders als das zeichenhafte Blut des Exodus-Buches aber, dessen Text Heine als Reflexionsfläche im Ringen mit dem „nie abzuwaschende[n] Juden“ (Nr. 193) unter sein eigenes Schreiben zieht, ist das Blut des neuen Israels das Medium des Schmerzes und der Kränkung selbst. Der Dichter Heine ist Jude – also Nachkomme Israels, des von seinem Bruder Gejagten – erst in der literarischen Reflexion auf Edom, der sich mit dem jüdischen Blut rot färbt. Insofern wird die biblische Vorlage gebrochen und transformiert. Das „Blut“ und speziell das Herzblut markiert diesen doppelten Bezug des Schreibens zum Jüdischen. Das mag ein letzter Rückgriff auf die Jugendbriefe Heines untermauern. In einem der frühsten erhaltenen Briefe schreibt er am 6. Juli 1816 an Christian Sethe: Hauptsächlich, lieber Christian, muss ich Dich bitten Dich des armen Levys anzunehmen. Es ist die Stimme der Menschlichkeit, die Du hörst. Ich beschwöre Dich bey

gerrechten und zorniger Judenhasser. Vgl. Anm. 4 dieser Studie. Konzis analysiert Gerhard Hubmann: „Völkischer Nationalismus und Antisemitismus im frühen 19. Jahrhundert: Die Schriften von Rühs und Fries zur Judenfrage“, in: Renate Heuer / Ralph-Rainer Wuthenow (Hg.): Antisemitismus – Zionismus – Antizionismus, 1850–1940, Frankfurt a. M. / New York 1997, S. 9–34.

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allem was Dir heilig ist, hilf ihm. Er ist in der grösten Noth. Mein Herz blutet. Ich kann nicht viel sprechen; die Worte brennen mir in den Adern. (Nr. 2)61

Weil der Vater Joseph Levys, einem von Harry Heines jüdischen Mitschülern auf dem Düsseldorfer Lyzeum, als Wucherer diffamiert wurde, wurde auch der Sohn geschnitten. „Mein Herz blutet.“ In dieser nüchternen und konventionellen Metapher und in der Bitte „bei allem was Dir heilig ist“, im Einfordern von Christians christlicher Nächstenliebe, ist schon in diesem frühen Brief das Mitleiden mit dem jüdischen Opfer, was viele Jahre später während der Damaskus-Affäre 1840 eine neue Einschätzung seiner eigenen jüdischen Identität bedeuten wird, herauszulesen. Schon hier wird dieses Mitleiden in der „Stimme der Menschlichkeit“ universalisiert, es ist jedoch der einzelne Fall einer Diskriminierung des jüdischen Mitschülers, der die Krise auslöst: „Mein Herz blutet. Ich kann nicht viel sprechen; die Worte brennen mir in den Adern.“ Die Worte brennen unmittelbar in den Adern, weil sie unmittelbar den Kern der eigenen Existenz betreffen, die von zwei Seiten in Frage gestellte deutsch-jüdische Identität des Autors. Das blutende Herz ist ein Signal der eigenen Ohnmacht und wenn das Herzblut später im literarischen Traum an die Türen Edoms gestrichen wird, dann bedeutet dies, dass in einem diese Ohnmacht aufhebenden Akt poetischer Autonomie gleichzeitig das Unabgeschlossene und immer Unabschließbare der Assimilation positiv gesetzt wird, und dass der latente Wille, die christliche Unheilsgeschichte nach Matthäus 27, 25 „gegen den Strich zu bürsten“62 und das über die Juden verhängten Schicksal, dass das „Blut Christi“ über sie kommen soll, phantasmatisch umzukehren. 2.3  Abbrechen

Wenn jetzt der Rabbi von Bacherach auftaucht und eine Weile an der Oberfläche meines eigenen Textes erscheint, dann kann ich nicht so tun, als gehöre dieser Text immer noch „zu den Stiefkindern der Heine-Forschung“, wie Hartmut Kircher 1972 berechtigt feststellen musste.63 Die komplizierte Entstehungsgeschichte des Rabbis ist unterdessen geklärt64 und hier soll ihr nicht noch einmal 61 Im Faksimile der Handschrift sind die von Heine angebrachten, emphatischen Unterstreichungen sehr deutlich zu sehen. 62 So die berühmte Formulierung Benjamins in den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften I, 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, S. 691–704, hier S. 697. [Im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert als GS, Band- und Seitennzahlen.] 63 Hartmut Kircher: „‚Wie schlecht geschützt ist Israel …‘ Zur Szene am Frankfurter GhettoTor in Heines Rabbi von Bacherach“, in: Heine-Jahrbuch 11 (1972), S. 38–55, hier S. 38. 64 Vgl. Manfred Windfuhr: „Der Rabbi von Bacherach. Zur Genese und Produktionsästhetik des zweiten Kapitels“, in: Heine-Jahrbuch 28 (1989), S. 88–117.

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nachgegangen werden. Noch viel weniger möchte ich spekulieren, ob dieses „Fragment“ – das immerhin „zum ersten Mal einen genuin jüdischen Gehalt in einen literarisch anspruchsvollen Text der deutschsprachigen Literatur“65 einführt und damit „eine Ausnahmeerscheinung in der Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ darstellt – gelungen sei. Auch soll nicht noch einmal gezeigt werden, welcher enge Zusammenhang zwischen der Damaskusaffäre, in der Heine als Paris-Korrespondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung selbst eine wichtige Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung gespielt hatte,66 und der Entstehung des dritten Kapitels des Rabbis und der Publikation 1840 besteht.67 Offensichtlich bilden die Blutbeschuldigungen des Mittelalters, auf die Heine durch seine Mitgliedschaft im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden im Austausch mit Leopold Zunz, Eduard Gans und Moses Moser um 1824 aufmerksam geworden war, und die aktuellen Anschuldigungen in Damaskus sechzehn Jahre später die historisch-politische Folie des Textes.68 Im Kontext meiner Untersuchung interessiert hier weniger der tatsächliche historische Hintergrund, der von der Sekundärliteratur schon ausreichend beleuchtet ist, als die impliziten geschichtsphilosophischen Vorstellungen des Textes, die mit „Blut“ auf das engste verknüpft sind. In einer genauen Lektüre hat Alfred Bodenheimer gezeigt, dass „Heinrich Heine der Hegel’schen Lehre mit dem Recht und der Pflicht des Besiegten, entwicklungsgeschichtlich Unwesentlichen entgegentritt“, um „damit gleichsam in sie einzutreten. Es ist eine Geschichte, die gegen den Strom schwimmt, die auf Trümmern gebaut ist und die sich dennoch mit dem Messias eine Perspektive gibt, ohne sie selbst als eminent historische erfasst zu haben. Jüdische Geschichte im Exil ist die andere Geschichte, die Hegel ergänzt und zugleich das tiefe innere Problem seiner monistischen Dialektik in Frage stellt und deren Wesen im Rabbi von Bacherach fiktional gestaltet wird, vielleicht nicht zuletzt, um die Geschichte der Träume mitzuerzählen.“69 65 Bernd Witte: „Der Ursprung der deutsch-jüdischen Literatur in Heinrich Heines ,Der Rabbi von Bacherach‘“, in: Emile G.L. Schrijver / Falk Wiesemann (Hg.): Die Von Geldern Haggadah und Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“, Wien / München 1997, S. 37–45, hier S. 37. 66 Vgl. etwa Sabine Bierwirth: „Meilenstein der Zeitgeschichtsschreibung. Heinrich Heines Berichte über die Judenverfolgung in Damaskus 1840“, in: PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e.V., Heft 12 / 2006, S. 68–74. 67 Vgl. Jakob Hessing: „Wahrheit und Dichtung – Die Damaskusaffäre und Heines Der Rabbi von Bacherach“, in: PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e.V., Heft 12 / 2006, S. 41–51. 68 Vgl. auch Giulio Schiavoni: „Heine e ‚l’accusa del sangue‘“, in: Alida Fliri Piccioni (Hg.): Heinrich Heine, Cittadino d’Europa. Heinrich Heine als Europäer, Milano 1999, S. 89–104. 69 Alfred Bodenheimer: „,Die Engel sehen sich alle ähnlich‘. Heines Rabbi von Bacherach als Entwurf einer jüdischen Histeriographie“, in: Ferdinand Schlingensiepen / Manfred Wind-

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Als Trümmergeschichte bleibt der Rabbi also ein Fragment. Man kann diese Erzählung als paradigmatische Erzählung des Diasporajudentums lesen, „dessen Geschichte – in der Dialektik von Bewahrung und Emanzipation – zu Heines Zeit noch keineswegs abgeschlossen war.“ 70 Diese Geschichte konnte von Heine deswegen „nur als ein historisch unabgeschlossenes Fragment“71 dargestellt werden. Auch Jakob Hessing liest den Rabbi als eine Geschichte, die nicht zu ihrem Ende kommen kann, und zwar als Versuch, die „Urgeschichte des Judentums noch einmal unter den Bedingungen der Moderne zu rekonstruieren.“72 Denn die Erzählung muss auch abbrechen, wenn sie nicht nur, wie Bodenheimer liest, eine Auseinandersetzung mit Hegel und der idealistischen Geschichtsschreibung darstellt, sondern als eine „historisch verschobene Abrechnung mit der jüdischen Elite“73 der Zeit zu verstehen ist. Vor dem Hintergrund von Heines Angriffen gegen die französischen Juden um 1840, die sich nicht um das Schicksal der orientalischen Juden kümmern würden, ist diese Deutung sehr einleuchtend. Der getaufte Dichter gehört selbst zu jener Elite, die „in der Krise ihrer Aufgabe untreu geworden ist.“74 Die beiden Lesarten schließen sich keineswegs aus: Heine als „ebreo battezzato ma non convertito“75 vertritt gegenüber der Universalgeschichte das UnabschließbarPartikulare, wie er gegenüber dem Judentum das durch die Tradition nicht mehr Einzuholende bezeugt. Das Abbrechen des Textes, das sich aus dieser doppelten Abgrenzung ergibt, findet sich im Text an einer signifikanten Stelle als Motiv. Als der Rabbiner Abraham und seine schöne Frau Sara im zweiten Kapitel nach ihrer Flucht vor dem Pogrom in Bacharach am ersten Pessachtag durch das Tor des Frankfurter Ghettos eingelassen werden, singt Jäkel der Narr das traditionelle, die PessachHaggada beschließende Chad gadja-Lied in deutscher Sprache. Oft ist bemerkt worden, dass Heines Jäkel die letzte Strophe weglässt, in der der Todesengel selbst vom Allmächtigen getötet wird. Anstatt derer gibt Jäkel seine eigene theologische Deutung und dem Schlächter wird „eine ganz neue Zuordnung“76 gegeben:

70 71 72 73 74 75 76

fuhr (Hg.): Heinrich Heine und die Religion, ein kritischer Rückblick, Düsseldorf 1998, S. 49– 64, hier S. 63–64. Jost Hermand: „Zweierlei Geschichtsauffassung – Heines Rabbi von Bacherach“, in: ders., Judentum und deutsche Kultur, S. 40–50, hier S. 49. Ebd. Hessing: Der Traum und der Tod, S. 227. Ebd., S. 235. Ebd. Schiavoni: „Heine e ‚l’accusa del sangue‘“, S. 103. Vgl. Alfred Bodenheimer: „Hegel und Abarbanel – Zur Metaphorik des Marranentums bei Heinrich Heine und Robert Menasse“, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 3 (2004), S. 113–127, hier S. 118.

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„Ja, schöne Frau“ – fügte der Sänger hinzu – „einst kommt der Tag, wo der Engel des Todes den Schlächter schlachten wird, und all unser Blut kommt über Edom; denn Gott ist ein rächender Gott – – –“ Aber plötzlich den Ernst, der ihn unwillkührlich beschlichen, gewaltsam abstreifend, stürzte sich Jäkel der Narr wieder in seine Possenreißereyn und fuhr fort mit schnarrendem Lustigmachertone: „Fürchtet Euch nicht, schöne Frau, der Nasenstern thut Euch nichts zu Leid.“ (DHA 5, 130)

Man schloss daraus auf Heines unversöhnliche Haltung und auf seine Ablehnung des Aufhebungsgedankens einer göttlichen Macht. Das mag stimmen, doch die vielen Deutungen des Rabbis haben bis jetzt einen wichtigen Punkt ignoriert. Der Abbruch des Liedes korrespondiert mit dem Abbruch der Sederfeier im ersten Kapitel. Während die „bunt beleuchteten Menschen, die sich behaglich hin- und herschaukelten, an den dünnen Paschabrödten knoperten, oder Wein schlürften, oder miteinander schwatzten, oder laut sangen,“ (DHA 5, 116) schmuggeln zwei als Juden verkleidete christliche Männer „den blutigen Leichnam eines Kindes“ in die Versammlung. Abraham bemerkt das Kind und folgert sogleich, „dass unsre zwey späte Gäste nicht von der Gemeinde Israels waren, sondern von der Versammlung der Gottlosen, die sich berathen hatten jenen Leichnam heimlich in unser Haus zu schaffen, um uns des Kindesmordes zu beschuldigen und das Volk aufzureitzen uns zu plündern und zu ermorden.“ (DHA 5, 117). Er verlässt die Sederfeier in einem günstigen Moment vor dem traditionellen Essen zusammen mit seiner Frau und lässt seine Gemeinde im Stich, ohne die Feier bis zum Schluss anzuleiten, und ohne die Haggada bis zum Schluss zu lesen. Wenn Jäkel der Narr mit dem Singen des Chad-gadja-Liedes aufhört, genau bevor die göttliche Gerechtigkeit in die Abfolge sich gegenseitig gewaltsam beseitigender Kräfte einfällt, und der Todesengel triumphiert, dann spiegelt dieser Abbruch den durch blutige Gewalt provozierten Abbruch der Sederfeier in Bacharach bevor der Auszug aus Ägypten ganz nachvollzogen ist. Auch in der Vorlage der Haggadah selbst gibt es eine Art Bruch. Bevor zum vierten Mal das Glas mit Wein gefüllt wird, soll die Tür des Raumes geöffnet werden, um damit den Propheten Elia hereinzulassen, von dem die Ankündigung des Messias erwartet wird. Darauf hin wird Folgendes, hier nach einer Übersetzung von 1839 zitiert, gelesen: „Ergieße deine Zornglut auf jene Heiden, die dich nicht kennen wollen, und über jene Heidenreiche, welche deinen Namen nicht anrufen wollen […]. Schütte über sie deinen strafenden Zorn und die Glut deines Grimmes treffe sie. Verfolge sie in deinem Zorn und tilge sie weg unter dem Himmel Gottes.“77 Diese eindrückliche Verfluchung wird in Jäkels „Blutruf“ echoartig aufgenommen. In der Pessach-Haggada ist das Motiv 77 „Die Pessach-Haggada, oder Erzählung von Israël’s Auszug aus Egypten, zum Gebrauche der beiden ersten Abende des Mazot-Festes. Von neuem wörtlich aus dem hebräischen Original verdeutscht. Leipzig 1839. In Commission bei C. L Fritzsche“, in: Schrijver / Wiesemann: Die Von Geldern Haggadah, S. 65–80, hier S. 73.

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des Bluts auf verschiedenen Ebenen präsent. Erstens ist das Verwandlungswunder des Nilwassers in Blut angesprochen, mit dem die Ägypter geplagt werden. Zweitens wird gewünscht, dass auch zukünftig das Blut des Pessach-Lammes zu Ehren des Allmächtigen an den Altar spritzen wird, was im Versprengen der Weintropfen gestisch dargestellt ist. Drittens nämlich ist der Wein auch im Judentum ein Medium des Gedächtnisses, der an das Blut des Pessachlammes, das Gott die Häuser der Israeliten angezeigt hatte, erinnern soll. Jäkels Idee des transzendentalen Einbruchs einer blutigen Rache an den Feinden Israels stammt aus dem Text der Pessach-Haggadah selbst. Nicht nur kann der Text des Rabbis – die Reise von Bacherach nach Frankfurt durch das Ghetto-Tor – als performativer, aber unvollständiger Nachvollzug des Pessach-Geschehens selbst gelesen werden.78 Auf vielfältige Weise nimmt er auch intertextuell Bezug zum Text der Pessach-Haggada, wobei hier der „Zorn Gottes“ in das „Blut“ Israels/Edoms transformiert wird. Für diese Transformation sind nicht nur die vielen Blut-Anspielungen der Haggada selbst verantwortlich. Die unchristliche Hoffnung Jäkels, dass „all unser Blut“ über Edom kommen soll, dass „der Engel des Todes“, der laut Rabbiner Abraham in der Sedernacht über Bacharach schwebt,79 auch einmal die Christen schlachtet, ist die Umkehrung der christlichen Hoffnung, am Blut der Juden zu sichern, dass das Blut Christi nicht umsonst vergossen wurde, also „ihr ewiges Heil am weltlichen Unheil derer zu bestätigen“80, die nicht an das Opfer Christi glauben. Denn das „Mysterium, an das die Christen glauben sollen, ist schwer begreifbar“81 und in dem seit dem IV. Laterankonzil dogmatisch festgelegten Substanzwandel von Wein zu Blut und von der Hostie zum Körper Christi in der Eucharistie handelt es sich uneingestandenermaßen „um einen magischen Prozess.“82 Das Magische, das in der eigenen Praxis verdrängt wird, schiebt man gern den Fremden/Anderen unter. „Die antisemitische Legende“ vom Ritualmord der Juden „lässt sich […] als eine Art Entlastungsgeschichte für den Gläubigen verstehen.“83 Wer unbewusst am Erlösungstod Christi zweifelt, der projiziert auf die Juden seinen Zweifel in entstellter Form: Die Juden trinken das reale Blut von Christen; sie erscheinen als die, die sich mit der (rein geistigen) Magie der Umwandlung nicht zufriedengeben und darum unterstellt man ihnen Magie. Als zum Unglauben Verdammte müssen sie ewig den Mord 78 Vgl. den originellen Aufsatz von Edith Lutz: „Der Held in mehrfacher Gestalt. Der Rabbi von Bacherach als Held des mythischen Zirkels“, in: Heine Jahrbuch 35 (1996), S. 55–66. 79 „Siehst du den Engel des Todes? Dort unten schwebt er über Bacherach!“ (DHA 5, 117) 80 Adorno / Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 188. 81 Anne von der Heiden: „Blutiger Mord – Absolutes Bild und Transformation“, in Lauper: Transfusionen, S. 51–70, hier S. 62. 82 Ebd., S. 65. 83 Ebd., S. 62.

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an Jesus wiederholen. Dass die durch diese Dynamik ausgelösten Pogrome wie in Heines Rabbi ausgerechnet an Pessach/Ostern stattfinden, ist Ausdruck jenes „Karfreitagskomplex“, wie die neurotische Beziehung des Christentums zu seinem verdrängten jüdischen Ursprung bezeichnet werden kann.84 Ist Ostern für die Christen die Erinnerung an den Tod und die Auferstehung Jesu und bildet den Aufruf zur geistigen Imitatio Christi des Individuums, so ist Pessach die kollektive Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft und symbolisiert die eigentliche Volkswerdung. Wenn Jäkel nun an Pessach das Blut der Christen fordert, dann imitiert Heines Figur einerseits auf parodistische Weise christliche Stereotype von blutgierigen Juden, andererseits aber wird er, indem er anfängt zu „rasen“, „fast wie“ die Christen selbst. Das Blutgericht wird jedoch in eine messianische Zeit verlegt, in die Zeit, die der Prophet Eliah am Seder-Abend jeden Augenblick verkünden soll. Damit wird auf die Unerlöstheit der Welt angespielt, deren virtuelle Erlösung das Christentum parallel an Ostern feiert. Das Motiv der messianischen Rache für das vergossene jüdische Blut ist spätestens seit den Kreuzzügen um 1096 ein wichtiger Bestandteil der aschkenasischen Liturgie und der euopäisch-jüdischen Imagination, wie Yuval gezeigt hat.85 Als zentrales Element des endzeitlichen Erlösungsgeschehens wird das Blut als Märtyrerblut gedeutet, das ein corpus delicti für das erlittene und wieder gut zumachende Unrecht sein soll. Wenn der Rabbi von Bacherach, wie Bodenheimer ausführt, als Geschichte „von unten“ auch die „Geschichte der Träume“ miterzählt, dann ist Jäkels Wunsch ein jüdischer Wunsch-Traum, dass „all unser Blut“ über Edom kommen wird. Dieser Wunschtraum reiht sich ein in die Heine’schen Träume von Auferstehung und Umkehr, Revolution und Rache und auch bei diesem Traum steht das Traumsubjekt der Realisierung seines Traumes ambivalent gegenüber. Das „Blut“ markiert den Bruch/Abbruch. Erstens markiert die blutige Kinderleiche den gewaltsamen Abbruch der Sederfeier in Bacharach, den Abbruch der Auszugs-Performance und damit historisch das Ende der toleranten Koexistenz von Judentum und Christentum. Zweitens markiert das Blut Edoms den Abbruch des versöhnenden Chad-gadja-Liedes. Beide Abbrüche korrespondieren mit dem Haggada-Text, der durch die Anrufung des Gotteszorns einerseits und dem Öffnen der Haustüre andererseits selbst geöffnet und von einem Riss gezeichnet ist. An der Korrespondenz beider Abbrüche, die sich im Korpus der Heine’schen Texte einer ganzen Linie von blutigen Abbrüchen, zum Beispiel im Schnabelewopski, einreihen, lässt sich weniger der Rachedurst 84 Vgl. Kreis: Antisemitismus und Kirche. 85 Yuval: Zwei Völker in deinem Leib, 104–144.

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als das Beharren des jüdischen Schriftstellers auf einer Perspektive der Unerlöstheit ablesen. Heine propagiert nämlich auch in seinen explizit auf politische Wirkung bedachten journalistischen Texten keine gewaltsamen Lösungen: In seinen Zeitungstexten zur „Blutfrage von Damaskus“ (DHA 8/1, 51), die den Ritualmordvorwurf direkt betreffen und die die Identifikation mit den angeschuldigten Juden direkt zum Ausdruck bringen, empfiehlt Heine die konsequente Aufklärung zur Lösung politischer und gesellschaftlicher Krisen. Er ortet ein politisches Problem, „wenn nicht mehr jene kleine syrische Blutfrage, sondern die weit größere Weltblutfrage, jene fatale, verhängnisvolle Frage, welche wir die orientalische nennen, eine Lösung, oder Anstalten zur Lösung erfordern möchte.“ (DHA 8/1, 61). Denn in Frankreich herrsche die „Unkenntnis der morgendländischen Zustände“. In der absurden Hoffnung, dass „Frankreich, der traditionelle Glaubensvogt jener Lateiner, einst durch sie die Oberhand im Orient gewinnen könne“ (ebd., 62), würden französische Politiker im Gegensatz zu den wohlunterrichteten Briten, nur auf katholische Lobbyisten hören. Die Prämissen, nach denen der liberale Ministerpräsident Adolphe Thiers seine Politik ausrichte, seien nicht rational begründet, sondern „ausgeheckt im fanatischen Sonnenbrand der Klöster des Libanons und ähnlicher Spelunken des Aberglaubens.“ (ebd.). Von der Machtverteilung im Mittleren Osten hänge aber die Zukunft der Weltpolitik ab – eine Einschätzung, die in den letzten 150 Jahren nichts an Brisanz verloren hat. Auch die so genannte „Judenfrage“, ein Begriff der 1838 zum ersten Mal nachgewiesen werden kann86 und nur zwei Jahre nach der Damaskusaffäre von Bruno Bauer prominent in einem Zeitschriftenartikel verwendet und von Karl Marx kurz darauf aufgegriffen wird,87 ist eine „fatale, verhängnisvolle Frage“ und es ist kein Zufall, dass sich gerade an ihr die politische Krise in der Levante entzündet. Denn in ihr kristallisiert sich auf paradigmatische Weise die Dialektik von Emanzipation und Repression, Modernität und Reaktion, Aufklärung und Mythos. Es ist im tiefsten Sinn des Wortes 86 Vgl. Erb / Bergmann: Nachtseite, S. 59. Es handelt sich um den von einem anonymen Autor veröffentlichten Aufsatz „Beiträge zur Lösung der jüdischen Frage“ in der Deutschen Vierteljahres-Schrift von 1838, Heft 1, S. 248–263. 87 „Man sprach von den Problemen der ,Duldung‘, der ,Gleichberechtigung‘, der ,Emanzipation‘ der Juden, wohl auch von der ,Judensache‘, bis sich aus all dem um 1842 der Begriff ,Judenfrage‘ kristallisierte. Der Begriff wurde zunächst in Deutschland geprägt, ging aber dann bald auch auf andere Länder über. Eine der ersten selbständigen Schriften, die das Wort als Titel verwendeten, ist die des Junghegelianers Bruno Bauer, die zuerst 1842 als Zeitschriftenaufsatz (,Die Juden-Frage‘), dann 1843 als Broschüre (,Die Judenfrage‘) erschien. Bauer versteht unter der Judenfrage das Problem der Eingliederung der Juden in Staat und Gesellschaft der christlichen europäischen Völker. Er steht ihr negativ gegenüber, stellt sie mit seiner Schrift in Frage.“ Alex Bein: Die Judenfrage: Biographie eines Weltproblems, Stuttgart 1980, S. 2.

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eine „Weltblutfrage“, wobei das „Blut“ nach einer anderen Welt fragt, in der es nicht mehr vergossen werden müsste und die darum eine gemeinschaftliche sein könnte. 3.  Im Namen des Bluts Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne […] Differenz mit sich selbst.*

3.1  Der Name des Bluts

Eine andere Welt – die „neue Welt“ (DHA 3/1, 56) – zeigt Heines atemberaubende „Historie“ Vitzliputzli aus dem ersten Teil des Romanzeros von 1851. Obwohl dieses Amerika wie es „Christoval Kolumbus / Aus dem Ozean hervorzog. / Glänzet noch in Fluthenfrische“ ganz „gesund“ sein soll und nicht „europäisieret abwelkt“ (ebd.), wird doch rasch klar, dass auch diese Welt den alten Gesetzen gehorcht; den Gesetzen des Bluts. Wenn im letzten Abschnitt vor allem analysiert wurde, wie sich die theologische Rede vom Blut im Werk Heines transformiert und spiegelt, dann werden in diesem Abschnitt die mit dem „Blut“ eng verbundenen Phantasmen der Reinheit thematisiert werden. Es wird ersichtlich, wie die Gesetze des Bluts auf willkürlichen sprachlichen Operationen beruhen, wie sich eine Gemeinschaft im Namen des Bluts, also eine auf der Reinheit des Bluts fußende Gemeinschaft, immer zuerst sprachlich formiert. Ich habe das jüdischer Erfahrung und Perspektive geschuldete Beharren auf Unerlöstheit herausgearbeitet, in diesem Abschnitt nun wird dieses Beharren nicht nur theologisch, sondern auch politisch verstanden. Eine Gemeinschaft ist nie in sich essentiell abgeschlossen, sondern muss sich in konstitutiver Offenheit ständig neu orientieren und formieren. Das reimlose Lang-Gedicht Vitzliputzli schildert frei ausgestaltet eine Episode der Eroberung des aztekischen Mexikos durch die spanischen Abenteurern unter Hérnan Cortéz, wie sie sich Heine aus verschiedenen historischen Beschreibungen vergegenwärtigt haben mag (vgl. DHA 3/1, 677). Heine kehrt die eurozentrische Optik um und charakterisiert Cortéz als „Schächer“ (DHA 3/1, 59) und die Spanier als „fremde Strolche“ (DHA 3/1, 61), die die rechtschaffenen und gutgläubigen Ureinwohner betrügen und ins Unglück stoßen. Nach der tüc*

Jacques Derrida: „Das andere Kap“, in: ders.: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, aus dem Französischen von Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1992, S. 9–80, hier S. 13.

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kischen Ermordung des Königs werden die Spanier, die sich bis jetzt die Bäuche vollgeschlagen haben, in ein beinahe aussichtsloses Gemetzel – als noche triste bekannt – verwickelt: „[…] Hei! da gab’s ein toll Gelage! / Roth in Strömen floß das Blut / Und die kecken Zecher rangen –“ (DHA 3/1, 64). Das „Blut“ als „Abschiedstrunk“ (DHA 3/1, 63) weist auf ein Motiv des Textes hin, dem hier zuerst die Aufmerksamkeit gelten soll: Die Parodie der Eucharistie verbunden mit dem Spott über die limpieza de sangre-Ideologie, der geforderten Reinheit des Bluts, jene Wahnvorstellung, die per offiziellen Dekreten ab 1449 von Toledo ausgehend auf die sogenannten marranos zielend alle Bewohner Spaniens mit jüdischen oder islamisch-maurischen Verwandten und Vorfahren diskriminierten und sie von öffentlichen Ämtern ausschlossen.88 Ob der Überlegenheitsgedanke der limpieza de sangre damit „satirisch-sarkastisch vernichtet“89, oder ob er vielmehr „anthropophagisch auf seinen absurden Punkt gebracht“90 wird, scheint mir nicht ausschlaggebend zu sein. Das Gedicht zeigt meiner Meinung nach in all seiner Vieldeutigkeit die Verschiebung von der offenen Universalität des Bluts in der katholischen Lehre hin zu einem spezifisch christlich-nationalen und hermetischen Blut. Kritisiert wird vom Text damit die theologischpolitische Dimension des „Bluts“: „Blood is theology transformed.“91 Wie Gil Anidjar ausführt, ist die politische Ideologie der limpieza de sangre dem sich in der frühen Neuzeit transformierenden Christentum notwendig. Das reinigende „Blut Christi“ wird immer mehr zu einem reinen Blut, das Angriffen und Kontaminationen ausgesetzt ist und das geschützt werden muss. Das „jüdische Blut“, das sich in dieser Perspektive trotz Konversion über Generationen weitervererbt, kann nur noch mit Feuer und Schwert gereinigt werden. „Mexicos blutdürst’ger Kriegsgott“ (DHA 3/1, 67) Vitzliputzli, wie die zeitgenössisch verballhornende Aussprache des aztekischen Kriegsgottes Huitzlilopochtli lautet, ist die Gestalt, in der sich die Angst vor der dämonischen Entheiligung des Blutes Christi und die Sorge um das eigene, an dieser Gesellschaft der Reinheit teilhabende Blut kristallisiert. Insofern ist Vitzliputzli eine AntichristFigur. In ihr spiegelt sich der gefährliche und entheiligende Blutdurst, der vom Christentum den Juden zugeschrieben wird. Sie verkörpert die Angst, dass die Integrität des reinen Blutkreislaufs von einem unkalkulierbaren Fremden/Anderen 88 Vgl. Norman Roth: Conversos, Inquisition, and the Expulsion of the Jews from Spain, Madison / London 2002, insbesondere S. 229–237. 89 Karlheinz Fingerhut: „Spanische Spiegel. Heinrich Heines Verwendung spanischer Geschichte und Literatur zur Selbstreflexion des Juden und Dichters“, in: Heine-Jahrbuch 31 (1992), S. 106–135, hier S. 125. 90 Anne Maximiliane Jäger: „Große Oper der alten neuen Welt. Überlegungen zu Heines ,Vitzliputzli‘“, in: Heine Jahrbuch 34 (2000), S. 47–68, hier S. 60. 91 Gil Anidjar: „Lines of Blood: Limpieza de Sangre as Political Theology“, in: Mariacarla Gadebusch Bondio (Hg.): Blood in History and Blood Histories, S. 119–136, hier S. 120.

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aufgebrochen werden kann. Diese These werde ich nun durch die Lektüre einiger Textstellen belegen.

Zuerst wird der Kampf der Spanier mit den Azteken explizit mit dem Passionsgeschehen in Verbindung gebracht: Auf der dritten Brücke fiel Junker Gaston, der an jenem Tag die Fahne trug, worauf Conterfeit die heil’ge Jungfrau. Dieses Bildniß selber trafen Die Geschosse der Indianer; Sechs Geschosse blieben stecken Just im Herzen – blanke Pfeile, Ähnlich jenen güldnen Schwertern, Die der Mater dolorosa Schmerzenreiche Brust durchbohren Bei Charfreytagsprozessionen. (DHA 3/1, 65)

Darauf muss das Folgende als bittere Satire auf eben diese „Charfreytagsprozessionen“, das Leiden Christi und die imitatio dieses Leidens, gelesen werden. Vitzliputzli nämlich ist trotz seinem „putzigen“, lächerlichen und kindischen Äußeren „ein böses Ungestüm.“ Der Götze verlangt nach dem Blut der gefangenen Spanier, während die Davongekommen am anderen Seeufer stehen und das Ritual von fern verfolgen müssen. Spätestens hier wird der Text verwirrend vieldeutig. Seine Sympathien sind längst nicht so genau festgelegt, wie es anfänglich den Anschein hat. Auf des Altars Marmorstufen Hockt ein hundertjährig Männlein, Ohne Haar an Kinn und Schädel; Trägt ein scharlach Kamisölchen. Dieses ist der Opfer-Priester, Und er wetzet seine Messer, Wetzt sie lächelnd, und er schielet Manchmal nach dem Gott hinauf. […] Auf des Altars Stufen kauern Auch die Tempel-Musici, Paukenschläger, Kuhhornbläser – Ein Gerassel und Getute –

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Ein Gerassel und Getute, Und es stimmet ein des Chores Mexikanisches Te-Deum – Ein Miaulen wie von Katzen – […] Wenn der Nachtwind diese Töne Hinwirft nach dem Seegestade, Wird den Spaniern, die dort lagern, Katzenjämmerlich zu Muthe. Traurig unter Trauerweiden, Stehen diese dort noch immer Und sie starren nach der Stadt, Die im dunkeln Seegewässer Widerspiegelt, schier verhöhnend, Alle Flammen ihrer Freude – Stehen dort wie im Parterre Eines großen Schauspielhauses. (DHA 3/1, 67-68)

Die Spanier werden hier von Heine von den Subjekten der Weltgeschichte zu deren Zuschauern degradiert, doch die indianischen Riten werden alles andere als anziehend dargestellt. Sie erscheinen vielmehr als archaische Rekonstruktion – „widerspiegelnd, schier verhöhnend“ – des eucharistischen Rituals. Amerika wird damit als dunkle Kehrseite Europas und nicht etwa als andere Welt gezeigt. Das Schicksal der Spanier, die „traurig unter Trauerweiden“ stehen, wird – durch die Figura etymologica leicht ironisierend – mit dem jüdischen Schicksal im Galut überblendet, das der berühmte 137. Psalm damit umschreibt, dass die Juden in der babylonischen Gefangenschaft ihre Musikinstrumente in die Weiden hängen.92 Heine kann es nur darum gehen, die spanischen Junker das Schicksal erleiden zu lassen, welches den zum Christentum konvertierten, jedoch immer noch „judaisierenden“, Juden, in genau dieser Zeit zugedacht war.93 Er benutzt dazu aber das Vokabular der christlich-katholischen Passionserzählungen, die bis zu Mel Gibsons Film The Passion of the Christ von 2004 reichen. Horch! die Todespauke dröhnt schon, Und es kreischt das böse Kuhhorn! Sie verkünden, daß heraufsteigt Jetzt der Zug der Sterbemänner. 92 Vgl. Jäger: „Große Oper“, S. 54. 93 Vgl. Benzion Netanyahu: „The Primary Cause of the Spanish Inquisition“, in: ders.: Toward the Inquisition. Essays on Jewish and Converso History in late Mediavel Spain, Ithaca / London 1997, S. 183–201.

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Achtzig Spanier, schmählich nackend, Ihre Hände auf dem Rücken Festgebunden, schleppt und schleift man Hoch hinauf die Tempeltreppe. Vor dem Vitzliputzli-Bilde Zwingt man sie das Knie zu beugen Und zu tanzen Possentänze, Und man zwingt sie durch Torturen, Die so grausam und entsetzlich, Daß der Angstschrey der Gequälten Überheulet das gesamte Kannibalen-Charivari. – Armes Publikum am See! Cortez und die Kriegsgefährten Sie vernahmen und erkannten Ihrer Freunde Angstrufstimmen – Auf der Bühne, grellbeleuchtet, Sahen sie auch ganz genau Die Gestalten und die Mienen – Sah’n das Messer, sah’n das Blut – Und sie nahmen ab die Helme Von den Häuptern, knieten nieder, Stimmten an den Psalm der Todten, Und sie sangen: De profundis! (DHA 3/1, 69-70)

Hier wird zuletzt den in der katholischen Kirche als Bußgebet traditionell gewordenen 130. Psalm genannt. Davor wird deutlich auf die Leidensgeschichte Jesu angespielt, wenn davon die Rede ist, dass die „Sterbemänner“ „schmählich nackend“ mit gefesselten Händen „hoch hinauf die Tempeltreppe“ geschleppt werden. Das erinnert an volkstümliche Versionen der Karfreitagsgeschichte, in Volks- und Kinderbibeln, wo die Juden über die Textbasis der Evangelien weit hinausgehend oft als blutrünstige Folterknechte erscheinen. Der TanzZwang, der Zwang, sich vor dem fremden Heiligtum zu verneigen und die Folter erinnern daneben jedoch sehr an die Praxis der spanischen Inquisition. Ist es nun wirklich der aztekische Opferkult, ist es das Leiden Jesu oder ist es das jüdische Schicksal, das in dieser blutigen Vision dargestellt wird? Es ist in diesem Moment nicht klar, welche Gruppe die verfolgte, welche die leidende und welche die verfolgende ist. Jäger und Gejagte, Eroberer und Eroberte sind virtuell ineinander verschiebbar und vor dem grausigen Unrecht des vergossenen Bluts nicht zu unterscheiden. Das Opfer-Ritual wird näher beschrieben:

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Und des Vitzliputzli-Tempels Helle Plattform ist die Bühne, Wo zur Siegesfeyer jetzt Ein Mysterium tragiert wird. „Menschenopfer“ heißt das Stück. Uralt ist der Stoff, die Fabel; In der christlichen Behandlung Ist das Schauspiel nicht so gräßlich. Denn dem Blute wurde Rothwein, Und dem Leichnam, welcher vorkam, wurde eine harmlos dünne Mehlbreyspeis transsubstituieret – Diesmal aber, bey den Wilden, War der Spass sehr roh und ernsthaft Aufgefaßt: Man speis’te Fleisch Und das Blut war Menschenblut. Diesmal war es gar das Vollblut Von Altchristen, das sich nie, Nie vermischte hat mit dem Blute Der Moresken und der Juden. Freu’ dich, Vitzliputzli, freu’ dich, Heute gibt es Spanier-Blut, Und am warmen Dufte wirst du Gierig laben deine Nase. (DHA 3/1, 69)

Der Heine’sche Neologismus „transsubstituieret“ bezeichnet ironisch jenen Verfall, der die Bewegung der Transsubstantiation von der Oblate zum corpus umkehrt und den systemtheologischen Gehalt in einen radikal historischen Kontext stellt. Während demzufolge das Sakrament der Eucharistie auf dem Prinzip der Substitution beruhe, sei „bey den Wilden“ das Mysterium in seiner ursprünglichen Form zu sehen; in Mexiko ist es der reale menschliche Körper und das reale menschliche Blut, welche das Heil garantieren sollen. Die Attribute „roh und ernsthaft“ stehen dabei für eine unmittelbare und ursprüngliche Gewalt, welche das ihr entgegen gestellte Überkultivierte des christlichen Rituals nicht aushalten kann und verdrängt hat. In dem Sinn erblicken die traurigen Spanier im Schauspiel des Mordes an ihren Genossen „grellbeleuchtet“ das Drama ihres eigenen Unbewussten. „Ganz genau“ sehen sie „die Messer, sahn das Blut.“ Der Schrecken der Szene liegt erheblich im genauen Sehen dessen, was das Christentum längst überwunden glaubt.

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Eine weitere schwergewichtige Problematik, auf die der Heines Versepos mit leichtem Ton verweist, ist die Doktrin der sogenannten limpieza de sangre. Es ist nämlich nicht einfach nur Menschenblut, das hier vergossen wird; dem Kriegsgott wird unvermischtes „Vollblut“, also hochwertiges „Spanierblut“ vorgesetzt. Der vermeintliche Blutvorteil nutzt den Spaniern nichts. Die Fiktion des „Vollbluts“ wird sogar ironisch zu deren Nachteil umgedeutet, da es dem bösen Gott einfach besser schmeckt: „Freu’ dich, Vitzliputzli, freu’ dich, / Heute gibt es Spanier-Blut, […]“ (DHA 3/1, 69) lautet die ironisch-schadenfreudige Apostrophe an den Aztekengott. Die rhetorische Figur der Apostrophe ist primär eine Aversio, nach dieser unerwarteten Abwendung von der eigentlichen, anonymen Zuhörerschaft, wendet sich der Redner dann aber einem überraschend gewählten, speziellen Publikum zu, das vom großen Publikum unterschieden ist.94 Der Spott, der in dieser Apostrophe zum Ausdruck kommt, ist denn auch ein Spotten gleichsam in kleiner Runde, unter den Opfern der spanischen Gewalt, vom getauften jüdischen Erzähler zum abgesetzten aztekischen Gott. Heine gibt sich darin offen als Anderer der europäischen Eroberungsgeschichte zu erkennen, der unter der Fiktion des anderen Bluts sich nichts vorstellen kann als das Blutvergießen einer sich durch die Benennung des „Blutes“ als nationale Gemeinschaft konstituierenden Klasse von Eroberern. Diese jedoch sind, wie der aztekische Priester mit seinem Messer feststellt, „Menschen […], tödtbar / Wie wir Andre […].“ (DHA 3/1, 72). Diese „Menschensterblichkeit“ ist unhintergehbar und weiß nichts von Erlösung im Jenseits. Die christliche Variante, daran teilzuhaben, wird beinahe nietzscheanisch lächerlich gemacht: „Auch moralisch häßlich sind sie, / Wissen nichts von Pietät, / Und es heißt, daß sie sogar / Ihre eignen Götter fräßen!“ (DHA 3/1, 73). Götter sind jedoch nicht umzubringen – wie Vitzliputzli weiß. In einem das Gedicht abschließenden Monolog rät er seinem Priester sich selbst zu opfern, während er verschwinden werde. Doch ich sterbe nicht; wir Götter Werden alt wie Papageyen, Und wir mausern nur und wechseln Auch wie diese das Gefieder. Nach der Heimath meiner Feinde, Die Europa ist geheißen, Will ich flüchten, dort beginn ich Eine neue Carrière. 94 Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960, S. 378.

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Ich verteufle mich, der Gott Wird jetzund ein Gott-sey-bei-uns; Als der Feinde böser Feind, Kann ich dorten wirken, schaffen. […] Ja, ein Teufel will ich werden, Und als Kameraden grüß’ ich Satanas und Belial, Astaroth und Belzebub. Dich zumal begrüß’ ich, Lilis, Sündenmutter, glatte Schlange! Lehr’ mich deine Grausamkeiten Und die schöne Kunst der Lüge! Mein geliebtes Mexiko, Nimmermehr kann ich es retten, Aber rächen will ich furchtbar Mein geliebtes Mexiko. (DHA 3/1, 75)

„Als der Feinde böser Feind“ begibt sich Vitzliputzli ins Exil und ins Verborgene. Er will ein „Teufel“ werden und als ein solcher Geist, der stets verneint, schließt er sich dem Gegenprinzip zu Christus an: Dem Prinzip der Rache. Es ist gezeigt worden, dass Heines Gedicht auch eine Reminiszenz an die Tradition der „Montezuma“-Opern darstellt, etwa der sehr beliebten am 28. November 1809 in Paris uraufgeführten Oper Fernan Cortez ou la Conquête du Mexique von Gasparo Spontini, die Heine mehrmals gesehen hat und in seinem Werk mehrmals erwähnt.95 Dieser Hinweis ist wichtig, denn Vitzliputzli schildert den Stoff an vielen Stellen mit den Metaphern des Theaters. Heine spricht unter anderem vom „Schauspiel“ und vom „Publikum am See“. Mir scheint jedoch noch eine andere Opern-Dimension anzuklingen: Wäre Richard Wagners Parsifal nicht erst 1882 uraufgeführt worden, also lange nach Heines Tod, könnte man Vitzliputzli als dessen Parodie, ja als sein Gegenmodell lesen. Wohl hat Heine von den Parsifal-Plänen seines Pariser Bekannten Richard Wagners nichts gewusst, dennoch ist es nicht ganz unmöglich, dass in diesem späten Gedicht auch auf die Wagner’sche Monumentaloper, die Uraufführung des Lohengrin fand 1851 statt, angespielt wird.96 Nicht „Erlösung dem Erlöser“ steht mottohaft als 95 Jäger: „Große Oper“, S. 53. 96 In dem erst postum publizierten Gedicht Jung-Katerverein für Poesie-Musik macht sich Heine über Richard Wagner lustig. Die Schilderung dieser musizierenden Katzen – „O, welch ein Krächzen und Heulen und Knurrn, / Welch ein Miaun und Gegröhle!“ (DAH 3/1, 224) – gleicht bis ins Vokabular hinein Vitzliputzlis Schauspiel: „Das tolle Konzert! Ich

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Quintessenz von Heines Gedicht, sondern Feindschaft den Feinden, Eroberung der Eroberer. Das Blut Vitzliputzlis ist Gegenblut – es ist eine transformierte negative Theologie. Sein Drama macht darauf aufmerksam, dass auch die dem Blut des Grals unterstellte, heiligende und heilende, gemeinschaftsbildende und erlösende Kraft, auf Ausschluss des Anderen beruht. 3.2  Name und Blut

Wie reagieren die Ausgeschlossenen, die Anderen? Wie gestaltet sich die Rache derer, deren Schicksal es ist, ein anderes Blut zu haben? Das zeigt überaus beeindruckend Heines frühes Gedicht Donna Clara. Um seine „Gegenüberstellung gewisser tragischer Aspekte des jüdischen Schicksals in Spanien und Portugal einerseits und im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland andererseits“ zu legitimieren, beruft sich der große jüdische Historiker Yosef Hayim Yerushalmi auf die „Intuition“97 Heinrich Heines. Er stellt einem Vortrag, der Parallelen zwischen den Statuten zur limpieza de sangre und dem rassischen Antisemitismus der Moderne untersucht, Heines Donna Clara gleichsam als Incipit voran. Der späte Heine war mit der Idee einer Reinheit des Bluts, deren rassistisch-biologische Komponente um 1850 virulent ist,98 vertraut, wie ein satirisches Gedicht zeigt, welches ein Jahr nach Heines Tod 1857 im Deutschen Musenalmanach veröffentlicht wurde. In der „Republik der Tiere“ ist Wahltag, es soll ein König gewählt werden, denn „die Freiheit hat man satt am End.“ Als ein Mitglied des „Komitees der Esel“ die Kandidatur eines Pferdes empfiehlt, fährt ihn der Vorsitzende „Alt-Langohr“ unsanft an: Du bist ein Verräther, es fließt in dir Kein Tropfen vom Eselsblute; Du bist kein Esel, ich glaube schier, Dich warf eine welsche Stute.

glaube, es ward / Ein großes Tedeum gesungen, / Zur Feier des Siegs, den über Vernunft / Der frechste Wahnsinn errungen.“ Im Vitzliputzli heißt es: „Ein Gerassel und Getute, / Und es stimmet ein des Chores / Mexikanisches Tedeum – / Ein Miaulen wie von Katzen –“ (DHA 3/1, 68). 97 Yosef Hayim Yerushalmi: „Assimilierung und rassischer Antisemitismus. Die iberischen und die deutschen Modelle“, in: ders.: Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte, aus dem Amerikanischen von Wolfgang Heuss und Bruni Röhm, Berlin 1993, S. 53–80, hier S. 53. 98 So spricht Gobineau 1853 von der „intégrité du sang“, also einer Einheitlichkeit des Bluts, die essentiell mit dem Aufstieg einer Nation verbunden sein soll. Arthur de Gobineau: Essai sur l’Inégalité des Races Humaines, Paris 1853, Band I, S. 53. Explizit spricht er auch vom „sang arian“, das den höchsten intellektuellen und politischen Stand einer Zivilisation und im Fall seiner Marginalisierung ihre „Degeneration“ begründet. Vgl. ebd., S. 365.

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Du stammst vom Zebra vielleicht, die Haut Sie ist gestreift zebräisch; Auch deiner Stimme näselnder Laut Klingt ziemlich egyptisch-hebräisch. (DHA 3/1, 341)

Wie Briegleb in seinem Kommentar schreibt, richtet sich das Gedicht gegen den nationalen Flügel der Frankfurter Nationalversammlung in ihrer Endphase.99 Der Angesprochene kann kein Esel sein, weil in ihm „kein Tropfen vom Eselsblute“ fließt. Dazu kommen noch die Haut, die „zebräisch“ gestreift ist, und die Stimme, welche „egyptisch-hebräisch“ klingt. Wie die „Stute“ auf Frankreich als Feindbild verweist, so soll das „Zebra“ für das Jüdische stehen. Die fiktiven Differenzen liegen nicht nur am Äußeren, an der Haut, sondern auch in der Stimme und im „Blut“. Schon über drei Jahrzehnte zuvor hat Heine die Idee eines explizit jüdischen Bluts aufgegriffen. Auch in der Romanze Donna Clara von 1823 geht es um den „Tropfen Blut“, der den Unterschied machen soll. Wenn er aber in den WahlEseln mit den Mitteln der grotesken Fabel auf moderne deutsche Vorstellungen rekurriert, dann spielt er im frühen Gedicht primär auf die frühneuzeitliche limpieza de sangre an. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal benutzt Heine die historische Folie Spaniens im 15. Jahrhundert, um karikierend von seiner eigenen Situation im 19. Jahrhundert zu sprechen.100 Ich behaupte aber, dass gerade nicht die (zu bezweifelnde) historische Kontinuität zwischen der limpieza de sangre und den rassistischen Reinheitsphantasmen für Heine ausschlaggebend ist, sondern die potentielle Vergleichbarkeit durch das Benennen der Differenz im „Blut“, welche zu einer ahistorischen Analogie führt. Diese Analogie ist für die Erklärung des historischen Phänomens des rassischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert nicht von Interesse. Heine ist kein „literarisches Beispiel“, an dem sich die Kontinuitäten von spanischen zu proto-nationalsozialistischen Blutvorstellungen auf poetische Weise verkleidet andeuten lassen. Vielmehr illuminiert die Analogie die literarische Selbstverortung eines getauften jüdischen Dichters, für den die Parallelsetzung von Spanien und Deutschland eine radikale – weil poetische – Gültigkeit jenseits historischer Wahrheit besitzt. Bevor ich dazu Näheres sage, möchte ich das Gedicht in seiner ganzen Länge zitieren und formal beleuchten.

99 Vgl. den Kommentar in Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hg. von Klaus Briegleb, München / Wien 1974, Band 12, S. 86. 100 Vgl. Anne Maximiliane Jäger: „Besaß auch in Spanien manch’ luftiges Schloß“. Spanien in Heinrich Heines Werk, Stuttgart / Weimar 1999.

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Donna Clara. In dem abendlichen Garten Wandelt des Alkaden Tochter; Pauken- und Trommetenjubel Klingt herunter von dem Schlosse. „Lästig werden mir die Tänze Und die süßen Schmeichelworte, Und die Ritter, die so zierlich Mich vergleichen mit der Sonne. Ueberlästig wird mir alles, Seit ich sah, bei’m Strahl des Mondes, Jenen Ritter, dessen Laute Nächtens mich an’s Fenster lockte. Wie er stand so schlank und muthig, Und die Augen leuchtend schossen Aus dem edelblassen Antlitz, Glich er wahrlich Sanct Georgen.“ Also dachte Donna Clara, Und sie schaute auf den Boden; Wie sie aufblickt, steht der schöne, Unbekannte Ritter vor ihr. Händedrückend, liebeflüsternd Wandeln sie umher im Mondschein, Und der Zephyr schmeichelt freundlich, Mährchenartig grüßen Rosen. Mährchenartig grüßen Rosen, Und sie glüh’n wie Liebesboten. – Aber sage mir, Geliebte, Warum du so plötzlich roth wirst? „Mücken stachen mich, Geliebter, Und die Mücken sind, im Sommer, Mir so tief verhaßt, als wären’s Langenas’ge Judenrotten.“ Laß die Mücken und die Juden, Spricht der Ritter, freundlich kosend. Von den Mandelbäumen fallen Tausend weiße Blütenflocken.

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108 Tausend weiße Blütenflocken Haben ihren Duft ergossen. – Aber sage mir Geliebte, Ist dein Herz mir ganz gewogen? „Ja, ich liebe dich, Geliebter, Bei dem Heiland sey’s geschworen, Den die gottverfluchten Juden Boshaft tückisch einst ermordet.“ Laß den Heiland und die Juden, Spricht der Ritter, freundlich kosend. In der Ferne schwanken traumhaft Weiße Liljen, lichtumflossen. Weiße Liljen, lichtumflossen, Blicken nach den Sternen droben. – Aber sage mir Geliebte, Hast du auch nicht falsch geschworen? „Falsch ist nicht in mir, Geliebter, Wie in meiner Brust kein Tropfen Blut ist von dem Blut der Mohren Und des schmutz’gen Judenvolkes.“ Laß die Mohren und die Juden, Spricht der Ritter, freundlich kosend; Und nach einer Myrthenlaube Führt er die Alkadentochter. Mit den weichen Liebesnetzen Hat er heimlich sie umflochten; Kurze Worte, lange Küsse, Und die Herzen überflossen. Wie ein schmelzend süßes Brautlied Singt die Nachtigall, die holde; Wie zum Fackeltanze hüpfen Feuerwürmchen auf dem Boden. In der Laube wird es stiller, Und man hört nur, wie verstohlen, Das Geflüster kluger Myrten Und der Blumen Athemholen. Aber Pauken und Trommeten Schallen plötzlich aus dem Schlosse, Und erwachend hat sich Clara Aus des Ritters Arm gezogen.

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„Horch, da ruft es mich, Geliebter; Doch, bevor wir scheiden, sollst du Nennen deinen lieben Namen, Den du mir so lang verborgen.“ Und der Ritter, heiter lächelnd, Küßt die Finger seiner Donna, Küßt die Lippen und die Stirne, Und er spricht zuletzt die Worte: Ich, Sennora, Eu’r Geliebter, Bin der Sohn des vielbelobten, Großen, schriftgelehrten Rabbi Israel von Saragossa. (DHA 1/1, 313-319)

Das Gedicht findet sich als eines der letzten fünf Stücke der Heimkehr, die schon durch ihre Länge und dadurch, dass sie jeweils einen Titel tragen, von den restlichen, lediglich nummerierten Stücken abgehoben sind. Die Geschichte, die erzählt wird, ist eine Variation einer Romanze aus Friedrich de la Motte Fouqués Roman Der Zauberring von 1812, in dem sich ein islamischer Ritter in eine junge spanische Frau namens Donna Clara unglücklich verliebt. In einem Brief an Fouqué, den Heine zu dieser Zeit „unaussprechlich“ liebte, schreibt er am 10. Juni 1823: „Ich erinnere mich, die Romanze von Donna Clara und Don Gasairos im Zauberring, an die ich in den bedeutendsten Lebenssituationen lebhaft gedacht, und die ich in manchen Augenblicken selber geschrieben zu haben vermeine, diese liebliche Romanze hat mir oft vorgeschwebt, als ich den Almansor schrieb.“ (Nr. 63). Nicht nur bei der Niederschrift des Almansors, sondern auch beim Verfassen der Donna Clara, hatte Heine wohl „lebhaft“ an die Romanze Fouqués gedacht. In einem Brief vom 5. oder 6. November 1823 an den jüdischen Freund Moser ist Heine etwas präziser, was die „bedeutendste Lebenssituation“ betrifft. Er schreibt: Es giebt ein Abraham von Saragossa; aber Israel fand ich bezeichnender. Das ganze der Romanze ist eine Scene aus meinem eignen Leben, bloß der Thiergarten wurde in den Garten des Alkaden verwalten [sic], Baronesse in Señora, u ich selber in einen heil Georgen oder gar Apoll! Es ist bloß das erste Stück einer Trilogie, wovon das zweite den Helden von seinem eigenen Kinde, das ihn nicht kennt, verspottet zeigt, und das dritte zeigt dieses Kinde als erwachsenen Dominikaner der seine jüdischen Brüder zu Tode foltern läßt. Der Refrän dieser beiden Stücke korrespondirt mit dem Refrän des ersten Stücks; – aber es kann noch lange dauern ehe ich sie schreibe. Auf jeden Fall werde ich diese Romanze in meiner nächsten Gedichtesammlung aufnehmen. Aber ich habe sehr wichtige Gründe zu wünschen daß sie früher in keine christliche Hände gerathe; ich empfehle Dir daher, bey etwaigen Mittheilungen derselben, alle mögliche Behutsamkeit. – (Nr. 82)

Anzumerken ist, dass es nicht nur „sehr lange“ gedauert hat, bis Heine die zwei anderen Stücke der „Trilogie“ schrieb, sondern dass er sie nie geschrieben hat.

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Auch hier steht der Leser also vor einem Abbruch, und tatsächlich bricht das Gedicht mit der Nennung des so „bezeichnenden“ jüdischen Namens abrupt ab. Freilich ist das Gedicht kein Bruchstück, vielmehr ist es höchst kunstvoll aufgebaut. Eine Analyse, die „alle mögliche Behutsamkeit“ aufbringt, soll zeigen, dass mit dem Bekenntnis des Autors zum persönlichen Erlebnis noch nicht viel über den Text selbst gesagt ist. Heine wusste das selbst. So schreibt er am 27. November 1823 an Ludwig Robert: „Das Gedicht drückt nemlich nicht gut aus was ich eigentlich sagen wollte, und sagt vielleicht gar etwas anders. Es sollte wahrlich kein Lachen erregen, noch viel weniger eine mokante Tendenz zeigen. Etwas, was ein individuel Geschehenes und zugleich ein Allgemeines, ein Weltgeschichtliches ist, und das sich klar in mir abspiegelte, wollte ich einfach, absichtslos und episch-partheylos zurückgeben im Gedichte […].“ (Nr. 83). Die 22 vierzeiligen Strophen sind durchgehend ungereimt, vierhebig trochäisch und erfüllen damit das Schema der Romanzenstrophe, das von Heine sehr oft verwendet wird. Hier jedoch passt sich die Form dem inhaltlichen Schauplatz des Textes an, denn die Romanzenstrophe, die ihren beliebten Platz in der deutschen Lyrik durch Herders Übertragung des spanischen Nationalepos El Cid erhalten hat, „ist der spanischen Dichtung entlehnt.“101 Dass Heine einen Triptychon geplant hatte, ist strukturell insofern bedeutsam, dass sich die Dreiteilung auf verschiedenen Ebenen des Gedichts wieder finden lässt. So lässt es sich grob dreiteilen. In den Strophen 1–5 wird die schöne Tochter des hohen Beamten beschrieben, wie sie allein während eines Festes im Garten herumspaziert und an den schönen Unbekannten denkt, der ihr ein nächtliches Ständchen gebracht hatte. Der zweite Teil umfasst die Strophen 6-18. Sie schildern das plötzliche Auftauchen des Geliebten und die darauf folgende Szene der Verführung. Die letzten vier Strophen setzen mit den „Pauken und Trommeten“ ein, welche Donna Clara zurück ins Schloss rufen. Sie evozieren damit die mittelalterliche Gattung des Tagelieds, deren Handlungskern darin besteht, dass eine verheiratete adlige Dame und ein Ritter sich nach gemeinsam verbrachter Nacht am Morgen trennen müssen.102 Die lang aufgebaute Pointe, mit der das Gedicht endet, unterläuft jedoch gerade solche Anspielungen, denn der Geliebte entpuppt sich als nicht standesgemäßer Liebhaber und die mit der Enthüllung des Namens verbundene Entehrung der Frau wirft Licht auf die Absurdität des konventionellen Ehrbegriffs, der damit mit nicht wenig Schadenfreude dekonstruiert wird, wie eine erste interpretatorische Aussage festhalten kann. „An der Person der reinblütigen christlichen Prin101 Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, zweite überarbeitete Auflage, Stuttgart / Weimar 1997, S. 103. 102 Vgl. etwa Volker Mertens: „Tagelieder singen. Ein hermeneutisches Experiment“, in: Wolfram-Studien 17 (2002), S. 267–293.

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zessin“, so schreibt Karlheinz Fingerhut, „vollzieht Heine auf grausame Weise poetisch-satirische Gerechtigkeit. […] Seine deutschen LeserInnen bestraft er in doppelter Weise. Er destruiert das romantische Stereotyp von der christlich ritterlichen Spanierin und dem hinterhältigen Sarazenen, das Fouqué benutzt hatte, indem Heine eine Christin mit ganz unspiritualistischer Erotik ausstattet und einen Juden als Ritter auftreten lässt. Zum anderen rächt er sich als deutscher Jude an der deutsch-germanischen Restaurationsgesellschaft, indem er die antisemitischen Vorurteile der eigenen Gesellschaft in spanischer Spiegelung geißelt.“103 Gleichzeitig nämlich wendet die Pointe des Gedichts das mit dem jüdischen Namen Israel, mit dem das ganze Volk mit genannt ist, verbundene Stigma104 in eine Aura der Stärke und Überlegenheit. Zugunsten seines wahren Eigennamens gibt der falsche Ritter seine Verstellung auf, und dadurch – durch die Nennung des zuvor verschwiegenen Namens und nicht durch die Verführung der Frau – authentifiziert und re-maskulinisiert er sich als jüdischer Mann.105 Aus einer durch die Stigmatisierung festgelegten Passivität und Marginalisierung erobert er sich im Aussprechen des Verborgenen eine imperiale Position, die er als gleichsam kolonialisierter Jude nicht,106 beziehungsweise nur verstellt besetzen kann. Heine setzt der christlich-europäischen Reconquista den authentischen Namen des Anderen entgegen: Es ist eine Re-reconquista. Die letzte Strophe beschreibt „heiter lächelnd“ einen Vorgang, den man mit Jacques Lacan eine Rückeroberung des Phallus nennen könnte. Der Phallus lässt sich in der psychoanalytischen Terminologie „in seiner Funktion“107 de103 Fingerhut: „Spanische Spiegel“, S. 116. 104 Vgl. Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag, 1812–1933, Stuttgart 1987. 105 Verstellung ist immer weiblich und jüdisch konnotiert. Dafür kann eine Bemerkung des Heine-Lesers Friedrich Nietzsche zum „Probleme des Schauspielers“ aus der Fröhlichen Wissenschaft stehen, die von der „Lust an der Verstellung“ und der „Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei den Thieren mimicry nennt“ handelt: „Was aber die Juden betrifft, jenes Volk der Anpassungskunst par excellence, so möchte man in ihnen [...] gleichsam eine welthistorische Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern sehn, eine eigentliche Schauspieler-Brutstätte; und in der That ist die Frage reichlich an der Zeit: welcher gute Schauspieler ist heute nicht – Jude? [...] Endlich die Frauen: man denke über die Geschichte der Frauen nach – müssen sie nicht allererst und – oberst Schauspielerinnen sein? [...] das Weib ist so artistisch.“ – Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Fünfte Abteilung, zweiter Band: Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1881 bis Sommer 1882, Berlin / New York 1973, S. 290–291. [Im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert als Nietzsche, KGA mit Band- und Seitenangaben.] 106 Vgl. Daniel Boyarin: „Masada or Yavneh? Gender and the Arts of Jewish Resistance“, in: Jonathan Boyarin / Daniel Boyarin (Hg.): Jews and other Differences. The new Jewish Cultural Studies, Minneapolis / London 1997, S. 306–329. 107 Jacques Lacan: „Die Bedeutung des Phallus“, in: ders.: Schriften II, ausgewählt und hg. von Norbert Haas, Olten / Freiburg i. Br. 1975, S. 121–132, hier S. 125.

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finieren: Er „ist kein Phantasma, wenn man unter Phantasma eine imaginäre Wirkung verstehen muß“108 und er ist noch viel weniger „ein Objekt“ oder „ein Organ, Penis, Klitoris, das er symbolisiert.“109 Der „Phallus ist ein Signifikant“, und zwar „der Signifikant, der bestimmt ist, die Signifikatswirkungen in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen, soweit der Signifikant diese konditioniert durch seine Gegenwart als Signifikant.“110 Der Name „Israel von Saragossa“ fungiert hier als dieser leitende Signifikant, der durch sein Laut- und Präsentwerden sofort die Bedeutung der ganzen Situation umkehrt und mit aller Macht die Bedeutung auf sich zieht. Der Name als Objekt des Begehrens und der Enttäuschung – Clara will nicht umsonst so dringend den „lieben Namen“ wissen – ist als Phallus der privilegierte Signifikant, „in der der Part des Logos mit der Heraufkunft des Begehrens konvergiert.“111 Den Phallus haben, jenes Sichtbarwerden oder Repräsentieren einer absoluten Präsenz, entspricht hier dem einen Namen haben. Genauer betrachten möchte ich die bemerkenswerte rhetorische Struktur des Gedichts, ohne die es nicht verstanden werden kann. Sein Mittelteil ist nämlich noch einmal in dreifach verschränkter Weise in drei Teile gegliedert. Im Gedicht findet sich zuerst dreimal die rhetorische Figur der Anadiplose, die eine sprachliche Einheit am Ende einer Strophe und am Anfang der folgenden wiederholt, was rhetorisch eine dreifache Reduplicatio ergibt. Die Zeilen „Mährchenartig grüßen Rosen.“, „Tausend weiße Blütenflocken“ und „Weiße Liljen lichtumflossen“ werden jeweils wiederholt und verbinden damit jeweils zwei Strophen. Wie die Rose sind auch Mandelblüte und Lilie erotisch und religiös überreich konnotierte Blumen. Die Wiederholungen im Zusammenhang dieser Liebesszene zwischen einem Juden und einer Christin stehen in einem hier nicht erschöpfend auszudeutenden Assoziationsfeld, in dem im Buch der Lieder Pflanzen, Bäume und Blumen als mehrfach deutbare Chiffren für Jüdisches und Christliches lesbar werden.112 Sexualität und religiöse Identität sind im Gespräch auffällig verbunden. Auf die flirtenden Fragen des vermeintlichen Ritters gibt Clara reichlich brachiale Antworten. Zur Bekräftigung ihrer Liebe verweist sie jeweils auf stereotype Schreckfiguren des Jüdischen (und des Arabisch-Afrikanischen): „langenas’ge Judenrotten“, die „gottverfluchten 108 109 110 111 112

Ebd. Ebd. Ebd., S. 126 Ebd., S. 128 Vgl. Hans-Jürgen Schrader: „Fichtenbaums Palmentraum. Ein Heine-Gedicht als Chiffre deutsch-jüdischer Identitätssuche“, in: Hans Jürgen Schrader / Elliott M. Simon / Charlotte Wardi (Hg.): The Jewish Self-Portrait in European and American Literature, Tübingen 1996, S. 5–44; sowie Norbert Oellers: „Mehrfacher Schriftsinn. Rosen und Nachtigallen in Heines Lyrik“, in: Heine Jahrbuch 29 (1990), S. 129–146.

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Juden“, die den Heiland „tückisch einst ermordet“ und das „Blut der Mohren / und des schmutzgen Judenvolkes“. Die Erwiderungen des derart Beleidigten lauten gleichförmig: „Lass die Mücken und die Juden“ – „Lass den Heiland und die Juden“ – „Lass die Mohren und die Juden“ Diese formalen und wörtlichen Wiederholungen jeweils am Anfang der Strophe entsprechen einer dreifachen Anapher. Die dreimalige Anapher ist einer dreimaligen Epipher, also einer Wiederholungen einer sprachlichen Einheit jeweils am Ende der Strophe, entgegengestellt. Diese werden von der formalisierten Anrede „Aber sage mir, Geliebte“ gebildet, die die Dynamik des sich im Kreis drehenden, zwischen Fluch und Liebesschwur alternierenden Dialogs erst antreibt. Denn Clara wiederholt ihren konventionellen antijüdischen Fluch ebenfalls dreimal. Diese drei Strophen sind durch Anapher und Epipher von jeweils zwei anderen Strophen eingefasst. Die Verbindung von Epipher und Anapher, die das Gedicht dreimal vorführt, nennt die Rhetorik Complexio oder auch Symploke, was man mit Verflechtung oder Kampf übersetzen kann.113 Der begriffliche Aufwand einer rhetorischen Analyse würde sich nicht lohnen, wenn davon nicht auf Interpretatorisches geschlossen werden könnte. Und im Fall der Donna Clara wird die Analyse belohnt: Der persuasive Gestus, das Überreden-Wollen, die den Figuren der Wiederholung eigen ist, liegt auf der Referenzebene des Gedichts genau in der Intention des Verführers. Zusätzlich bildet das Gedicht mit der Figur der Symploke rhetorisch die Doppeldeutigkeit ab, die auf der referentiellen Ebene entfaltet wird. Das Paar schwankt zwischen dem Kampf im Wortgefecht und der Liebesumarmung. Diese Ambivalenz von Gewaltsamkeit und Eros treibt das Gedicht von Innen heraus an; sie lässt sich schon an der Überblendung der glühenden Rosen mit der errötenden Clara ablesen. Die zwiespältige Umarmung wurde bereits in der Zeile „Mährchenartig grüßen Rosen“ angekündigt. Durch die Wiederholung der Zeile wird die anthropomorphistische Aussage emphatisch, und der Vorgang weist über sich selbst hinaus. Die Rosen sind nicht bloß wörtlich, sondern in einem uneigentlichen, allegorischen Sinn zu lesen und zeigen die zukünftige Erfüllung des erotischen Begehrens der Liebenden an. Das wird gestützt von der Aussage, dass die Rosen „glüh’n wie Liebesboten.“ Die Rosen sind deutungsbedürftig; ihnen kommt eine hermeneutische Aufgabe zu, nämlich etwas anzuzeigen oder wiederzugeben, einen Gruß und damit etwas, was an anderer Stelle gesagt oder empfunden wurde – oder vielleicht schon im Himmel beschlossen – anders noch einmal zu sagen. Doch sie sind keine „Liebesboten“, sie „glüh’n“ nur „wie Liebesboten“, sie erinnern also nur an Boten, sie sind Boten der Boten und damit Repräsentanten eines doppelt Unsagbaren. Das Gedicht führt in eine erste Untiefe. Auch Donna Clara glüht, sie wird „plötzlich roth“ und scheint ebenfalls nicht sagen 113 Vgl. Groddeck: Reden, S. 125.

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zu können, was sie bedrängt. „Mücken stachen mich“, gibt sie als Antwort auf die Frage nach dem Grund des Rotwerdens an. Stichhaltig ist diese Antwort jedoch nicht. Claras Sprache ist, wie die der Rosen, immer eine zu deutende. Rosen und Mücken stechen beide, sie zeugen vom Phantasma des „Bluts“ und jener das Erotische mit der Gewalt unauflösbar verbindenden, faszinierenden wie angsteinflößenden Figur der „langenas’gen Judenrotten“, die es als amorphe Masse wie blutsaugende Insekten auf das christliche Blut und die christliche Jungfrau abgesehen haben. Die konstitutive Ambivalenz der Figur der Symploke wird im ritualhaften Frage-und-Antwort-Spiel dargestellt, ein Ritual, das Gewalt und Begehren codiert zur Sprache bringt. Beide Dialogpartner führen eine simulierte Rede. Während Clara in ihrem Doppelspiel jedoch ganz konventionellen Codes folgt, und die codierte Bedeutung ihrer Aussagen – da er ihren Namen kennt – vom männlichen Part leicht erschlossen wird, ist das Doppelspiel des männlichen Widerparts in Wahrheit ein dreifaches Spiel. Sie kennt seinen Namen nicht, ihr fehlt damit der Schlüssel zum Verständnis des eigentlichen Begehrens ihres Begehrten. Das Rituelle des dreifachen rhetorischen Aufbaus bildet die Maskerade der Konventionalität ab, hinter der sich nicht nur das erotische Begehren des Mannes, sondern der jüdische Mann versteckt, und die er mit der Nennung des Namens, mit der er gleichzeitig mit seinem authentischen Begehren seine Persönlichkeit artikuliert, ja zur Person als Mit-sich-selbst-identisch-Seiendem114 erst wird, abschüttelt. In einem skandalösen Augenblick, in dem die Süße der Rache und die Demütigung der erkannten Täuschung zusammenschießen, findet die Konvergenz von Logos und Begehren im Namen statt.

114 Die Frage, was eine Person ist, wurde im okzidentalen Denken auf unterschiedlichste Weise beantwortet. Die Theorie der Person scheint mit der europäischen Philosophie überhaupt eng verbunden zu sein und ist daher unüberblickbar. Für meinen Zusammenhang entscheidend ist jedoch die Art und Weise, wie Hegel den Begriff der Person in seiner Rechtsphilosophie fasst: „Die Allgemeinheit“ des „für sich freien Willens ist die formelle, die selbstbewusste sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelnheit, – das Subjekt ist insofern Person. In der Persönlichkeit liegt, dass ich als Dieser vollkommen nach allen Seiten [...] bestimmte und endliche, doch schlechthin reine Beziehung auf mich bin und in der Endlichkeit mich so als das Unendliche, Allgemeine und Freie weiß. Die Persönlichkeit fängt erst da an, insofern das Subjekt nicht bloß ein Selbstbewusstsein überhaupt von sich hat als konkretem [...], sondern vielmehr ein Selbstbewusststein von sich als vollkommen abstraktem Ich, in welchem alle konkrete Beschränktheit und Gültigkeit negiert und ungültig ist. In der Persönlichkeit ist daher das Wissen seiner als Gegenstandes, aber als durch das Denken in die einfache Unendlichkeit erhobenen und dadurch mit sich rein-identischen Gegenstandes.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, nach der Ausgabe von Eduard Gans hg. und mit einem Anhang versehen von Hermann Klemmner, Berlin 1981, S. 72 (§ 35).

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Was ist der Skandal dieses Gedichts? Warum wollte Heine, dass es keinesfalls in „christliche Hände gerathe“? Die Küsse, das Überfließen der Herzen, das Anklingen des „schmelzend süßen Brautliedes“, die Nachtigall und die tanzenden Feuerwürmchen, der „Fackeltanz“ in der Laube als klassischem Liebesort sind die Signale einer vollzogenen Hochzeitsnacht. Das Sexuelle wird jedoch nicht explizit genannt. In der Laube wird es stiller, Und man hört nur, wie verstohlen, Das Geflüster kluger Myrten Und der Blumen Athemholen.

Der doppelte, wiederum auf Blumen gemünzte, Anthropomorphismus nimmt das Grüßen der Rosen auf. Wie das erotische Versprechen kann auch das Einlösen nicht artikuliert werden. „Geflüster“ und „Athemholen“ zeugen vom Unaussprechlichen. In dem Moment, in dem die explizit benennende Sprache versagt, weicht das Gedicht in eine überdeterminierte Sprache der Blumen aus. Rosen, Mandelblüten, Lilien und Myrten verkörpern einerseits die sinnliche Liebe, andererseits ist das Unaussprechliche des Gedichts kaum die erotische Tatsache, sondern die Tatsache, dass die Christin unwissentlich mit einem Juden schläft, und sich damit der Andere/Ausgeschlossene auf Kosten der christlich-adligen Ehre mit den Insignien der Männlichkeit ausstattet. Indem dieser sich am Ende als Anderer zu erkennen gibt, wird er zu einem selbstbestimmten Subjekt. Durch die Blume gesagt erscheinen in dieser symplokeïschen Szene die undurchdringliche Grenze und die Untrennbarkeit von Judentum und Christentum. Die Liebesszene ist identisch mit dem Kampf um phallisch konnotierte Autonomie, die sich jeweils nur auf Kosten des anderen herstellen lässt. In der Symploke verbunden sind nicht bloß Sätze und Wörter, sondern in dieser Umarmung, die Kampf ist, und in diesem erotischen Gefecht streiten sich verbindend Christin und Jude. Heines Gedicht hat sein eigenes Programm und man kann daran zweifeln, ob es tatsächlich so „episch-partheylos“ geraten ist, wie Heine an Robert schreibt. Doch die Beteuerung Donna Claras, dass in ihren Adern „kein Tropfen / Blut ist von dem Blut der Mohren / Und des schmutzgen Judenvolkes“ kann keinesfalls einfach eine Illustration eines historischen Tatbestandes sein. Der Ritter mit dem „edelblassen Antlitz“, der in Claras verliebter Erinnerung sogar dem christlichen Heiligen Georg gleicht, wird nur durch einen Namen zu dem gemacht, der mehr als nur einen Tropfen des falschen Bluts in sich hat. „Und er spricht zuletzt die Worte:“ – Damit macht Heine deutlich, dass die Vorstellung des reinen Bluts der Gemeinschaft nicht an das „Blut“, sondern an die „Worte“, eben die Sprache gebunden ist, die das „Blut“ benennen oder verschweigen kann. Wenn es das Moment der Nobilität ist, das die Kontinuität einer „Blutlinie“ vom frühneuzeitlichen Spanien nach Frankreich, England und Deutschland des

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19. Jahrhunderts bildet, wenn sich also der Adel nicht mehr nach dem Namen, sondern nach dem Blut richtet, dann ist es doch der Name und die ihn tragende Genealogie, die das „Blut“ erst benennt. Dieses Verhältnis kann erst durch seine Paradoxie überhaupt in sozialen Ausgrenzungsmechanismen wirksam werden: Das „Blut“ trägt den Namen, der Name macht das „Blut“. Nicht umsonst haben die deutschen Behörden ab 1938 Juden gezwungen, ihrem Vornamen die offiziellen Namen Israel und Sara hinzuzufügen. Es sind Namen, die schon Heine „bezeichnend“ fand. Die, in denen man ein anderes Blut weiß, brauchen einen anderen Namen, um dieses Wissen zu bestätigen und es erst zu ermöglichen. In der Donna Clara stellt Heine diesen Mechanismus dar, indem er den Namen als Objekt des Begehrens und der Enttäuschung zu einem in der Pointe des Gedichts erscheinenden Leitsignifikanten macht, in dem sich Sexualität und Politik kristallisieren. Ironisch spiegelt sich in ihm die Erkenntnis, das der Tropfen Blut und die langen Nasen willkürliche und gewalttätige Zuschreibungen sind. Dass dabei gerade die Verführung in der Rolle eines christlichen Ritters die Folie der jüdischen Autonomisierung oder Subjektwerdung bildet, hat freilich nichts mit wirklicher Emanzipation zu tun. Schon Fingerhut empfindet Heines „literarische Bestrafung“ der Mehrheitsgesellschaft in der Figur eines jungen Mädchens als „nicht unproblematisch.“115 Denn der „jüdische Ritter bestätigt, indem er sich für die Demütigung seines Volkes durch eine Demütigung einer ‚reinblütigen‘ Christin rächt, die Vorurteile, die den Juden gegenüber bei den Christen im Umlauf sind und die sein literarischer Schöpfer doch gerade hatte abbauen wollen.“116 Abgesehen davon aber, dass es sehr zweifelhaft ist, ob Heine „Vorurteile abbauen“ wollte – der Brief an Moses Moser spricht eine ganz andere Sprache – und abgesehen davon, dass die Forderung an einen Juden, doch bitte nicht so zu sein, wie man sich ihn immer schon vorgestellt hatte, an Perfidie kaum zu überbieten ist, scheint mir das Problematische des Gedichts tiefer zu liegen. Nicht nur wird die Rache auf Kosten einer genau wie der Jude gesellschaftlicher Gewalt und Kontrolle ausgesetzten Frau vollzogen, sie bedient sich auch genau der Aneignungs- und Ausgrenzungsmechanismen, gegen die sie sich eigentlich richtet; nämlich der männlich-imperialen Logik der Eroberung und Unterwerfung, in der Präsenz gegen Abwesenheit, Repräsentation gegen das Nicht-Repräsentierbare, Idealität gegen Körperlichkeit gedacht werden. Es wäre das Verständnis von autonomer Person als Repräsentation einer männlich/europäisch konnotierten Ganzheit (als den Phallus haben117), das von der Bewegung der Emanzipation kritisiert werden müsste. Mit einem theoretischen Rückgriff auf Judith Butler und deren binnenfemini115 Fingerhut: „Spanische Spiegel“, S. 116. 116 Ebd. 117 Vgl. Boyarin: „Massada or Yavneh“, S. 307.

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stische Kritik des Feminismus kann man für Heines Gedicht feststellen, dass gerade die geforderte Integrität des jüdischen Subjekts als Person „von den Einschränkungen des Repräsentationsdiskurses unterminiert wird, in dem dieses Subjekt funktioniert.“118 Die autonome Kategorie „jüdisch“ gewinnt im Diskurs der Heine’schen Rachephantasie ihre authentische „Stabilität und Kohärenz“119 nur im Rahmen der Matrix einer christlich-europäischen Mehrheitsgesellschaft, die festgelegt hat, dass die Anerkennung einer Person und ihre Selbstbestätigung als anerkannte120 notwendigerweise auf Aus- und Abschließung beruhen. Alexandre Kojève hat als erster auf die Wichtigkeit des unterdessen vieldiskutierten Anerkennungs-Konzeptes121 im hegelianischen Denken aufmerksam gemacht, und festgestellt, dass nach Hegel der Mensch „die Welt, in der er nicht anerkannt wird, in eine Welt verwandeln“ muss, „in der diese Anerkennung stattfindet.“122 Die Verwandlung einer feindlichen Welt in eine Welt, die mit seiner Selbstwahrnehmung übereinstimmt, „beginnt damit, dass man sich dem ‚ersten‘ anderen, dem man begegnet, aufzwingt. Und da dieser andere, wenn er ein menschliches Wesen ist […], ebenso handelt, nimmt die erste anthropogene Tat notwendig die Form eines Kampfes an: eines Kampfes auf Leben und Tod zwischen zwei Wesen, die sich als Menschen ausgeben; eines reinen Prestigekampfes, der um der ‚Anerkennung‘ durch den Gegner willen geführt wird.“123 Die Nennung seines Namens durch Heines Ritter ist noch nicht dieser Kampf um Anerkennung, sie kann aber als Kampfansage gelesen werden und als Bereitschaft, sich dem Kampf zu stellen. Der jüdische Mann will sich damit als der Andere des christlich-europäischen Herrschaftssystems installieren, indem er wiederum Herrschaft ausübt: „um zu ver118 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies, aus dem Amerikanischen von Katharina Menke, Frankfurt a. M. 1991, S. 20. 119 Ebd., S. 21. 120 Das Konzept der Anerkennung geht auf Hegels unheimlich wirkungsmächtiges IV. Kapitel der Phänomenologie des Geistes zurück. Es bezeichnet den intersubjektiven Prozess, in dem das Selbstbewusstsein sich selbst (sozial) vergewissert und zu einem „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ wird. Hegel, Phänomenologie, S. 127. Dabei müssen sich zwei Selbstbewusstseine als selbstbewusst erkennen, was in einer zweifach gedoppelten Struktur geschieht: „Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend.“, S. 129. Nun verläuft dieser Prozess jedoch nicht auf friedlichem Weg. Um sich selbst jeweils absolut zu setzen, müssen sich beide Parteien „in einem Kampf auf Leben und Tod bewähren. [...] Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins als eines selbstständigen Selbstbewusstseins nicht erreicht.“, S. 130–131. 121 Vgl. vor allem das zentrale Buch: Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992. 122 Alexandre Kojève: Hegel. Kommentar zu Phänomenologie des Geistes, aus dem Französischen von Iring Fetscher und Gerhard Lehmbruch, Frankfurt a. M. 1996 (1975), S. 29. 123 Ebd.

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führen und zu lenken, um sich auszubreiten und zu kultivieren, um zu lieben und zu vergewaltigen […].“124 Einer wirklichen Emanzipation müsste es darauf ankommen, gegen das System von Herrschaft und Gegenherrschaft125 eine neue Weise von Autonomie ohne Aneignung, von Anerkennung ohne Unterwerfung zu erfinden indem gezeigt wird, dass Stabilität und Kohärenz der Person auf Fiktionen und sprachlich-performativen Konstrukten und nicht auf natürlichen Tatsachen beruhen. Nicht nur Toleranz gegenüber dem Anderen – ihn „aufzunehmen, um ihn einzugliedern“ – wäre eingefordert, sondern eine De-Essentialisierung von Gemeinschaften, was auch einen anderen Umgang mit dem Anderen mit sich bringen würde. Es würde bedeuten, den Anderen „aufzunehmen, um seine Andersheit zu erkennen und anzunehmen […].“126 Das heißt, dass die Emanzipation der Fiktion eines anderen Bluts mehr entgegensetzen müsste, als die bloße Umkehrung von dessen Wertung, nämlich die Einsicht in die Uneinheitlichkeit – und letztlich die Uneigentlichkeit – des Eigenen. Diese vom Gedicht abstrahierenden Bemerkungen sind natürlich nicht originell, sie fügen sich in eine selbst schon fast zur großen Erzählung geronnene postidealistische und postkoloniale Kritik an den großen Erzählungen,127 in ein mehrfach entworfenes Denken jenseits des transzendentalen Subjekts. Die hier vorgebrachten Überlegungen laufen Gefahr, zu bequemen Phrasen zu erstarren. Zerstreut wird die Gefahr jedoch vom unbequemen Text Heines, anhand dessen und aus dem die Überlegungen in der Lektüre formuliert wurden. Und schließlich kann es nicht bloß philologische Erkenntnis sein, die aus der Lektüre dieses Gedichts gewonnen wird. Wie kaum ein anderer mir bekannter Text stellt dieser gewaltsame, ironische, erotische, fürchterliche, romantische, bittere, skandalöse Text ein Konzept von Gemeinschaft in Frage, dem sich Politik bis heute verpflichtet hat. Eine prinzipiell immer noch vom jus sanguinis formierte Gemeinschaft fordert von ihren „Fremden“ in erster Linie immer noch „Integration“. Warum befördert sie nicht eine gegenseitige Erkenntnis von Andersheit? Es müsste um eine Andersheit gehen, die im Rahmen von rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen nur als solche belassen werden kann. Das erst wäre Aufklärung, die die Reflexion auf die totalitären Tendenzen von Aufklärung in sich tragen würde und vielleicht – wenn diese optimistische Verkürzung in einer 124 Derrida: „Das andere Kap“, S. 38. 125 Für dieses System könnte der Begriff „phallogozentrisch“ stehen, wenn er heute nicht selbst schon einen dogmatischen Klang hätte. Vgl. Jacques Derrida: Éperons. Les Styles de Nietzsche, Paris 1978, S. 78. 126 Derrida: „Das andere Kap“, S. 56. 127 Vgl. Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2005, S. 13.

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literaturwissenschaftlichen Arbeit erlaubt ist – dazu beitrüge, die gegenwärtigen interkulturellen Spannungen abzubauen. 3.3  Namenloses Blut

Heines Werk steht zweifellos im Zeichen der Uneinheitlichkeit. So stehen in seinem letzten Gedicht „Es träumte mir von einer Sommernacht“, das noch einmal in einem surrealen Traumpanorama die großen Motive und Themen seiner Dichtung Revue passieren lässt, Gestalten der griechischen und römischen Antike „grell gepaart“, unvermittelt neben biblisch-jüdischen Motiven. (DHA 3/1, 393). Es ist jedoch schwierig zu sagen, ob bei Heine wirkliche Alternativen gegenüber der Logik der Unterwerfung und Ausschließung gedacht werden. Gibt es eine Identität jenseits des Kampfes? Im Romanzero, in dem „vorwiegend aus der Perspektive der Opfer und Paria der Geschichte“128 erzählt wird, gibt es ein Gedicht, das wie Vitzliputzli in dessen erster Abteilung, den „Historien“, zu finden ist, in dem zwar die binäre Ordnung Eigenes-Anderes nicht explizit ins Wanken gebracht wird, das aber das Andere der Weltgeschichte belichtet, die Verlierer in ihrer ganzen Wortlosigkeit zeigt, ohne schließlich das System von Herrschaft und Ausschluss zu reproduzieren. Auf dem Schlachtfeld bey Hastings – historisch 1066 als erster militärischer Erfolg des normannischen Invasionsheeres über die Angelsachsen verbürgt – fällt auch der englische König Harold II. In Heines Gedicht suchen zwei Mönche Harolds Leiche, können diese jedoch unter den grausam zugerichteten Toten nicht ausmachen und ziehen eine frühere Geliebte des Königs, die alt gewordene Edith Schwanenhals, heran, um den Monarchen zu identifizieren. Es folgte baarfuß das arme Weib Durch Sümpfe und Baumgestrüppe. Bey Tagesanbruch gewahrten sie schon Zu Hastings die steile Klippe. Der Nebel, der das Schlachtfeld bedeckt Als wie ein weißes Leilich, Zerfloß allmählig; es flatterten auf Die Dohlen und krächzten abscheulich.

128 Gerhard Höhn: Heine Handbuch. Zeit, Person, Werk, Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart / Weimar 2004, S. 142.

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Viel tausend Leichen lagen dort Erbärmlich auf blutiger Erde, Nackt ausgeplündert, verstümmelt, zerfleischt, Daneben die Aeser der Pferde. Es wadete Edith Schwanenhals Im Blute mit nackten Füßen; Wie Pfeile aus ihrem stieren Aug’ Die forschenden Blicke schießen. (DHA 3/1, 24)

Es fehlt nicht viel und man könnte diese eindrücklichen und gänzlich ironielosen Verse in ihrem expressiven Naturalismus für eine Beschreibung eines Schlachtfelds des ersten Weltkriegs halten. Die mit nackten Füßen im Blut watende Greisin, aus deren „stieren“ Augen die Blicke „wie Pfeile“ schießen, von krächzenden Dohlen umgeben, könnte eine Allegorie auf einem Antikriegsplakat der 1920er Jahre sein. Die Leichen – „nackt, ausgeplündert, verstümmelt, zerfleischt“ – liegen neben den toten Pferden. Dieses krude und obszön wirkende Bild passt nicht in die Heldenmystik der Zeit. Es ist nicht verwunderlich, dass die „Historien“ größtenteils auf Ablehnung stießen, ja als „widrigste Unreinlichkeit“ empfunden wurden.129 Vielleicht liegt die Ablehnung aber noch tiefer begründet. Denn die Gestalten dieses Gedichts sind im Hegel’schen Sinn keine Personen, die von anderen als Personen anerkannt werden. Die alt gewordene Ex-Geliebte und die Mönche sind Figuren, die sich dem Kampf nicht stellen, die übrigbleiben. Es sind Schatten der Weltgeschichte. Das Blut der anonymen Toten ist ein namenloses Blut. Heine geht es überhaupt nicht um das Beklagen der angelsächsischen Niederlage, es geht nicht um nationale Zuschreibungen des Bluts, das für irgendein Vaterland vergossen worden sein sollte. Das Gedicht zeigt allein den Schmerz der Verlierer, es ist Eingedenken an die von der Geschichte nicht erinnerten „viel tausend“ Toten. So ist denn auch Ediths Reaktion, als sie den einstmals Geliebten findet – „ein geller Schrey, entsetzlich“ (DHA 3/1, 25) – wortlos: […] Sie sprach kein Wort, sie weinte nicht, Sie küsste das Antlitz, das bleiche. Sie küßte die Stirne, sie küßte den Mund, Sie hielt ihn fest umschlossen; Sie küßte auf des Königs Brust Die Wunde blutumflossen. (DHA 3/1, 25)

129 Vgl. Höhn: Handbuch, S. 151.

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Und als der König schließlich zur Beerdigung in die Abtei getragen worden ist, heißt es in der letzten Strophe des Gedichts: Sie sang die Todtenlitaney’n In kindisch frommer Weise; Das klang so schauerlich in der Nacht – Die Mönche beteten leise. – (DHA 3/1 25)

Die machtlose Frau und die Gemeinschaft der traurigen Mönche repräsentieren das Andere der Geschichte ohne sich dem System der Repräsentation diskursiv einzuschreiben. Der Schrei, der Kuss, die Totenlitanei und das stille Gebet sind die alternativen Modi, in denen sie sich der Logik der Eroberung und der Rache widersetzen und die der „Wunde blutumflossen“ entgegengestellt sind, ohne sie heilen zu können. Es sind unartikulierte und flüchtige, ungelenke oder zärtliche Gesten, der Kuss, der auch ein Hauch sein kann, nicht in-Besitz-nehmende Sprechmittel, sondern Sprache als Medium, in dem nicht das Subjekt der Rede gesetzt wird, sondern im Sprechen das Ich sich einem Anderen, dem Schmerz oder Gott, überlässt; Sprache als versagende Sprache. So ist auch das Letzte dieses Gedichts nicht ein Wort, sondern ein Gedankenstrich, graphisch dargestellt vielleicht Heines Seufzer oder sein Kuss – oder ein Tropfen des namenlosen Bluts von Hastings.

III.  Vom Mammon zu Zion – Moses Hess, Max Nordau, Martin Buber

Dass der erste moderne, nichtreligiöse Zionist zuerst und gleichzeitig einer der ersten deutschen Sozialisten war, ist eine Tatsche, über die noch zu wenig nachgedacht wurde.1 In diesem Kapitel zeichne ich anhand von Texten, die heute zum Teil zum zionistischen Kanon gezählt werden, jenen verschlungenen Weg nach, der von einer Kritik des Geldes – von der Reflexion darüber, wie Geld, Gesellschaft und Gemeinschaft sich idealiter zueinander verhalten sollten – zur Entdeckung der modernen jüdischen Nationalität geführt hat. Dieser Weg ist schon bei Heine angelegt.2 Er führt durch die Straßen von Paris, die gleichsam eine Kartographie der jüdischen Erfahrung der Moderne abgeben. Als „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ ist Paris Ort des Exils für Heine, Hess und Karl Marx. Auch Nordau und Theodor Herzl verbrachten prägende Jahre in der Metropole, die die Flucht aus dem Judentum ebenso wie dessen Wiederentdeckung ermöglichte. Steht am einen Ende der hier gezogenen historischen Linie das Bild des „jüdischen Blutsaugers“, so steht an ihrem anderen Ende das einer somatischen jüdischen Wesensschicht im „Blut“. Die Rede vom Blut ist mit der zionistischen Sprache so eng verknüpft, dass sie selbst von Historikern des Zionismus im Nachhinein und ohne jegliches Problembewusstsein für ihre mythisierenden Funktionen verwendet wird.3 Auf den folgenden Seiten will ich diese Funktionen herausarbeiten und damit einen sprachkritischen Beitrag zur Literaturgeschichte des Zionismus leisten. Auch hier zeigt das „Blut“ an, wie Sprache und Gemeinschaft interagieren und sich wechselseitig konstituieren oder in Frage stellen. Dabei muss „Blut“ 1 Shlomo Avineri hat darauf aufmerksam gemacht, dass der sozialistische und der zionistische Hess nicht zwei verschiedene Autoren sind; vielmehr war Hess’ Sozialismus von Anfang an tief in seinem Verständnis jüdischer Geschichte und jüdischen Erbes verankert, andererseits stand sein Zionismus immer im Licht eines ganz eigenen Verständnisses von sozialistischer Gemeinschaft. Vgl. Shlomo Avineri: Moses Hess: Prophet of Communism and Zionism, New York / London 1985. Die Konsequenzen aus dieser Einsicht, die meines Erachtens erst die spezifisch appellative Struktur seiner Texte erklärt, wurden jedoch noch zu wenig beachtet. Für eine Untersuchung des Blutmotivs ist sie auf jeden Fall zentral. 2 Eine brillante Analyse von Nordaus Verbindung zu Heine, gibt Michael Stanislawski: Zionism and the Fin de Siècle. Cosmopolitism and Nationalism from Nordau to Jabotinsky, Berkeley / Los Angeles / London 2001, S. 74–97. 3 So überschreibt David Vital in seinem Standardwerk zur Geschichte des Zionismus das Kapitel zur zweiten Aliyah (ca. 1904–1914) mit dem Titel „New Blood“, ohne die Verwendung des Wortes „Blood“ zu thematisieren. David Vital: Zionism: The formative Years, Oxford 1982, S. 367.

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Ein radikaler Jude – Moses Hess

immer in seiner Ambivalenz zwischen dem Blut der Blutsbrüderschaft, seiner vergemeinschaftenden Funktion, und dem Blut des Brudermords, seiner vereinzelnden Funktion, gelesen werden. 1.  Ein radikaler Jude – Moses Hess Jewishness disrupts the very categories of identity, because it is not national, not genealogical, not religious, but all of these, in dialectical tension with one another.*

1.1  Gott und Geld

Es geht in diesem Kapitel um die Gemeinschaftskonzepte von Moses Hess, Max Nordau und Martin Buber und wie diese mit einem je eigenen Verständnis von Judentum oder jüdischer Identität in der Moderne zusammenhängen. Jüdisch-Sein erscheint dabei mehr und mehr als etwas, das in positiver Weise, aber teilweise parallel zu antisemitischen Vorstellungen nicht auswechselbar, nicht zu konvertieren ist. „Blut“ erfüllt in diesen Konzepten verschiedene, durchaus widersprüchliche Funktionen. Das Werk Heines stellt einen Korpus dar, auf den sich die Protagonisten dieses Kapitels in unterschiedlicher Weise beziehen oder sich davon absetzen. Im ersten Abschnitt zeige ich, wie Moses Hess sich in seinen Anfängen auf Heine beruft, um aus der Absage an eine kapitalistisch verfasste Gesellschaft seine alternative Form der Gemeinschaft zu konstruieren, die zuerst als sozialistisch mit jüdischer Grundierung und später als jüdisch mit sozialistischer Verfassung bezeichnet werden kann. Um die reaktionären Tendenzen der späten Romantiker zu erklären, die aus „Widerwille gegen den Egoismus“ (DHA 8/1, 221) in den Schoß der katholischen Kirche flüchteten, entwirft Heinrich Heine 1833 in der Romantischen Schule in einer bereits im letzten Kapitel zitierten Stelle eine vieldeutige Bildlichkeit: Im Mittelalter herrschte unter dem Volke eine Meinung: wenn irgendein Gebäude zu errichten sey, müsse man etwas Lebendiges schlachten und auf dem Blute desselben den Grundstein legen; […]. War es nun der altheidnische Wahnwitz, dass man sich die Gunst der Götter durch Blutopfer erwerbe, oder war es Mißbegriff der christlichen Versöhnungslehre was diese Meinung von der Wunderkraft des Blutes, von einer *

Daniel Boyarin: A radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Berkeley CA / Los Angeles / London 1994, S. 244.

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Von „Mammon“ zu „Zion“

Heiligung durch Blut, von diesem Glauben an Blut hervorgebracht hat: genug, er war herrschend, […]. Heut zu Tage ist die Menschheit verständiger; wir glauben nicht mehr an die Wunderkraft des Blutes, weder an das Blut eines Edelmanns noch eines Gottes, und die große Menge glaubt nur an Geld. Besteht nun die heutige Religion in der Geldwerdung Gottes oder in der Gottwerdung des Geldes? Genug, die Leute glauben nur an das Geld; nur dem gemünzten Metall, den silbernen und goldenen Hostien, schreiben sie eine Wunderkraft zu; das Geld ist der Anfang und das Ende ihrer Werke; […]. Ja, wie im Mittelalter Alles, die einzelnen Bauwerke ebenso wie das ganze Staats- und Kirchengebäude, auf den Glauben an Blut beruhte, so beruhen alle unsere heutigen Instituzionen auf den Glauben an Geld, auf wirkliches Geld. Jenes war Aberglauben, doch dieses ist der bare Egoismus. Ersteren zerstörte die Vernunft, letzteren wird das Gefühl zerstören. Die Grundlage der menschlichen Gesellschaft wird einst eine bessere sein, und alle großen Herzen Europas sind schmerzhaft beschäftigt, diese Grundlage zu entdecken. (DHA 8/1, 221-222)

Anstelle der „Wunderkraft“ des Blutes sei in der säkularisierten Welt eine Religion des Geldes getreten. Dem Geld wird eine eben so irrationale „Wunderkraft“ zugeschrieben wie der Hostie, im Gegensatz zum Mittelalter vertrauen „alle unsere heutigen Instituzionen“ auf das Geld. Diese Institutionen werden als Kirche und Staat benannt: Die beiden abendländischen Systeme, in denen Gemeinschaft organisiert, der intersubjektive Austausch strukturiert und Herrschaft formiert wird. In ihnen werden Wirklichkeit und Idee, Sein und Sinn verschränkt und vermittelt. Bildete der transformationsfähige corpus Christi in der präreformatorischen Gesellschaft diesen Universalklebstoff, die „Grundlage der menschlichen Gesellschaft“ und damit die Matrix der Systeme Kirche und Staat, wird diese Funktion jetzt vom multikonvertiblen und mittelbaren Körper des Geldes erfüllt. Karl Marx wird in diesem universellen Zusammenhang die Lösung der „Judenfrage“ sehen, wenn er in einer wegen ihrer offensichtlichen Idiosynkrasie oft zitierten Stelle der Rezension zu Bruno Bauers Die Judenfrage von 1843 schreibt: „Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“4 Marx benutzt oberflächlich besehen deutlich antisemitische Worte: „Der Wechsel ist der wirkliche Gott der Juden.“5 Der Wechsel, der überhaupt nicht mehr an irgendeinen äußeren Wert gebunden ist, sondern als das abstrakte Prinzip des Geldes dessen Arbitrarität und Konventionalität besonders klar macht, offenbart sozusagen als Idee des Geldes seine absolute Konvertibilität – eben die Auswechselbarkeit. Für Marx sind die „Juden“ Agenten dieser „Entfremdung“, die die Welt ihres eigentlichen und nicht eintauschbaren Wertes berauben und an dessen Stelle das Geld als unlauteres Macht-Mittel einsetzen. Marx scheint unter den „Juden“ weder das 4 Karl Marx: „Zur Judenfrage“, in: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke, Band 1, Berlin 1976, S. 347–377, hier S. 372. 5 Ebd. S. 374.

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als Chimäre betrachtete jüdische Volk noch die jüdische Religion, sondern in mehrdeutiger Weise Kapitalisten – oder spezifisch „jüdische“ Kapitalisten zu verstehen. Die Funktion der „Juden“ in diesem Text ist um einiges komplexer als der Vorwurf des einfachen Antisemitismus (oder des verkappten Selbsthasses) glauben machen möchte. Es scheint mir eine grundlegende, offene Referenzialität des Signifikants „Juden“ am Werk zu sein.6 Der „Jude“ ist selbst ein „Wechsel“, ein eintauschbares Wort, das an Stelle des Menschen tritt. Dessen radikale Entselbstung wird für Marx in der Projektionsfolie „Judentum“ angezeigt. Auf diese Mechanik kann hier jedoch nur verwiesen werden.7 Noch Georg Simmel spricht in seiner Philosophie des Geldes von 1900 von einer strukturanalogen Beziehung von Gott und Geld. Im Unterschied zu Marx beschreibt er jedoch „deskriptiv bleibend“8 lediglich eine „psychologische Formähnlichkeit zwischen der höchsten wirtschaftlichen und der höchsten kosmischen Einheit.“9 Indem nach Simmel das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich in abstrakter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zum Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips, uns dieses Einzelne und Niedrigere in jedem Augenblick gewähren, sich gleichsam wieder in dieses umsetzen zu können.10

6 Im Zusammenhang einer Untersuchung zur Figur des „Jud Süß“ verweist auch Anne von der Heiden auf eine „Polysemie des ,Jüdischen‘“. Vgl. Anne von der Heiden: Der Jude als Medium. „Jud Süß“, Zürich / Berlin 2005. Sie führt überzeugend aus, dass es im Grund gleichgültig ist, welche Vorwürfe vorgebracht werden, „da jedem Vorwurf der Gedanke innewohnt, dass ,der‘ mit Geld beschäftigte ,Jude‘ ein verachtenswerter und ehrloser Außenseiter und Zerstörer der Ordnung ist. Der Jude wird immer schon – vor jeder konkreten Beschuldigung – mit Geld identifiziert. [...] Als Geldverleiher und Wucherer ist ,der Jude‘ der Zerstörer der traditionellen Zyklizität, der gewaltsame Zerstörer jeder organischen Ordnung.“, S. 93. 7 Vgl. Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, München 2000, S. 280–318; Edmund Silberner: Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus, Opladen 1983, S. 16–56; Robert S. Wistrich: Socialism and the Jews. The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, Toronto 1982, S. 15–34. 8 Hans Blumenberg: „Geld oder Leben. Eine metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmels“, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, S. 177–192, hier S. 189. 9 Georg Simmel: Philosophie des Geldes, Berlin 1977 (Unveränderter Nachdruck der 1958 erschienen 6. Auflage), S. 241. 10 Ebd., S. 240.

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Von „Mammon“ zu „Zion“

Das Paradox, dass das Geld als absolutes Mittel für viele Menschen zum Endzweck wird, macht es gemäß Simmel zu einer Art Inbegriff des modernen sozialen Lebens, für das es zugleich Symbol und strukturierender Motor ist. Im Geld zeigt sich einerseits besonders deutlich der „relativistische Charakter des Seins“,11 andererseits wird diese Relativität aller Seinsbeziehungen erst durch das Geld und im Zeichen des Geldes angetrieben. Philosophisch zugespitzt heißt das, dass jedes Ding erst durch das Geld Anteil am Sein hat, und das Sein erst im Geld den Dingen zukommt. In dieser Doppelfunktion kann das Geld über die Zuschreibung als „weltlicher Gott“ oder Götze hinaus als Nachfolgeinstanz des monotheistischen Gottes gelten. Wenn gesagt wird, dass das Geld „der Anfang und das Ende“ aller Tätigkeiten sei, ist diese Verschiebung in Heines Text die Offenbarung des Johannes zitierend12 gleichsam abgebildet. Dass das Geld eine religiöse Dimension hat, ist spätestens in der so genannten Finanzkrise 2009 deutlich geworden – und auch wenn die folgenden Überlegungen und Lektüren zu Moses Hess vor dem Bekanntwerden der ganzen Ausmaße dieser Krise formuliert wurden, muss hier darauf hingewiesen werden, dass seither in verschiedener Weise versucht wurde, eine moderne Theologie des Geldes zu entwerfen, die in ihrem Diskurskern bereits bei Heine und Hess als Anlage vorhanden ist.13 Indem Heines Feststellung einer dem Geld zugeschriebenen „Wunderkraft“ auf Simmels systematische Ausführungen vorausgreift, reicht sie weiter als das bloße Aperçu. Seine eingestreut wirkenden Bemerkungen sind in Wirklichkeit präzis analytische Beobachtungen einer „Umstellung der tradierten, aufs Abendmahl zentrierten realistischen Ontosemiologie auf das funktionale Zentralmedium Geld“14 und man könnte gegenüber Jochen Hörischs Feststellung, dass diese „in den Theoriebildungen um 1800 […] keine angemessene Analyse“15 findet, durchaus Heines Werk ins Feld führen, das diese Umstellung nicht systematisch, so doch an verschiedenen Stellen – wenn auch erst in den 1830er Jahren – sehr genau registriert. Hörisch beschreibt die Setzung des transzendentalen Subjekts oder des seiner selbst bewussten Bewusstseins im deutschen Idealismus als eine Bewegung, die nach der Dezentralisierung des Abendmahls vorgibt, sie wäre die neue Instanz, die in der Moderne Sinn und Sein verschränkt, jedoch bloß die realen ökonomischen Verhältnisse überspielt. Schon Heine deutet an, dass diese 11 Ebd., S. 585. 12 „Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will den Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst.“ Off 21, 6. 13 Basierend auf Simmel geht folgende Studie den vielfältigen «Wechselwirkungen» von Gott und Geld und den Verbindungslinien religiöser und ökonomischer Diskurse nach: Alois Halbmayr: Gott und Geld in Wechselwirkung, Paderborn / München / Wien / Zürich 2009; vgl. auch Philip B. Goodchild: Theology of Money, Durham 2009. 14 Hörisch: Brot und Wein, S. 22. 15 Ebd.

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Instanz das „Geld“ ist. Er zeigt den Idealismus als eine Maskierung des Kapitalismus. Wie die Vernunft gegen den „Aberglauben“ des „Bluts“ antreten musste, nimmt Heine jetzt das „Gefühl“ für eine zweite Aufklärung in die Pflicht und sieht „alle großen Herzen Europas“ damit beschäftigt ein neues Zentralmedium zu suchen, welche die ökonomische Vermittlung des Seins überwinden könnte. Die „großen Herzen“ waren tatsächlich schon auf dem Weg. Ein paar Jahre nach dem Abfassen dieser Zeilen bekommt Heine einen Brief eines 25 Jahre alten, unbekannten jüdischen Intellektuellen, der wie Heine Rheinländer war, und der sich in einem damals wie heute kaum gelesenen Buch mit dem Titel Die heilige Geschichte der Menschheit bereits der Suche nach dieser „neuen Grundlage“ verschrieben hatte. Der Brief vom 19. Oktober 1837 ist ein über die Grenze der Peinlichkeit hinausgehendes Dokument uneingeschränkter Bewunderung. Ohne Sie wäre ich nicht geworden, was ich bin – ohne Sie könnte ich mein geistiges Leben nicht fortführen. Sie haben mich gefördert, ehe Sie mich kannten – Sie werden es um so mehr, nachdem ich mich Ihnen entdeckt habe. – Gefühl meines Werthes ist’s nicht, was mich, Ihnen gegenüber, so sicher macht, sondern das Bewußtsein, daß Keiner Sie tiefer verehren und inniger lieben kann, als ich. – Worauf sollte ich auch stolz sein? Stehe ich doch nicht durch eignes Verdienst auf einer neugeschaffenen Volkstribune, sondern auf einem uralten ererbten Throne durch Gottes Gnade – verdanke ich doch, was ich bin, einem bloßen Zufalle der Geburt, den ich so gering schätze! (Nr. 378)

Eine imitatio Heinei möchte dieser Verehrer vollführen und damit nicht etwa zu Geld kommen, sondern Erleuchtung erlangen. Wille kann ich das nicht nennen, was mich bis jetzt getrieben hat, sondern Instinkt, der freilich mächtiger wirkt, als der eisernste Wille. Mich lehrte er, im tiefsten Schlamme jüdischen Schacher’s den Reichthum verachten, in der klösterlichsten Abgeschiedenheit von Welt und Leben meine Zeit kennen. Er erleuchtete mich in der finstersten Umgebung. Er trieb mich endlich, diese heilige Geschichte der Menschheit zu schreiben – er wirkte mächtig, wunderbar! – Aber worauf sollte ich stolz sein, ich, der ich nichts verstehe, als in meiner Muttersprache denken und Gedanken ausdrücken??? (ebd.)

Der Brief des jungen Moses Hess besteht „aus nichts als Widersprüchen.“16 Seine „Muttersprache“ war gerade nicht Deutsch, die Sprache seiner Schriften und des Briefes an Heine, sondern das Jiddisch, das man in der Bonner Judengasse sprach,17 in die ihn der gering geschätzte „Zufalle der Geburt“ gebracht hatte. Dieser Umstand wird verschwiegen. Dennoch spricht Hess pathetisch von „einem uralten, ererbten Throne durch Gottes Gnaden“, womit nur seine 16 Helmut Hirsch: „Moses Hess und Heinrich Heine. Soldaten im Befreiungskrieg der Menschheit“, in: Heine-Jahrbuch 26 (1987), S. 78–91, hier S. 82. 17 Vgl. die biographischen Angaben bei Avineri: Moses Hess, S. 9.

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jüdische Familie, in der sich einige bekannte Rabbiner befanden, gemeint sein kann. Den gegenwärtigen Standpunkt seiner Familie kann der Autor nicht positiv bewerten. Er benutzt dafür den gleichen Topos wie der 19-jährige Heine, der das Hamburg seines reichen Onkels Salomon Heine als „Schacherstadt“ beschrieben hatte. Auch Hess möchte sich vom „tiefsten Schlamme jüdischen Schacher’s“ los machen. Ironischerweise zeigt gerade das fehlerhafte Apostroph in der Genitiv-Endung des antijüdisch konnotierten Wortes „Schacher“18 – in der faksimilierten Handschrift, die das sehr hilfreiche Heinrich-Heine-Portal zur Verfügung stellt, ist ersichtlich, dass es tatsächlich dort steht – dass Hess sich 1837 offensichtlich noch nicht bis in die letzen Feinheiten der deutschen Orthographie hinein assimiliert hatte. Die angestrebte Assimilation läuft zu einem Teil über die Lektüre der Schriften eines anderen, 15 Jahre älteren assimilierten Juden, nämlich über Heine. „[…] ohne Sie könnte ich mein geistiges Leben nicht fortführen“, schreibt Hess an diesen. Unter dem Titel „Die Revolution“ zitiert Hess in seiner Heiligen Geschichte der Menschheit eine bekannte Stelle aus Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, und zwar die Sätze, die eine Art ironisch-philosophiegeschichtlicher Lebenslauf Gottes vom jüdischen Nationalgott zum christlichen Gott hin zu einem philantropischen Prinzip mit seinem Tod beschließen (DHA 8/1, 78): „Hört ihr das Glöckchen klingen? Knieet nieder – Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte.“19 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Hess neben der Religion und Philosophie auch die Romantische Schule gelesen hatte und von dort Heines Gedanken, was nach dem Tod Gottes die Welt im Innersten zusammenhält, übernimmt. „Das Geld“, so schreibt er, „ist der einzige Hebel der Gesellschaft, seitdem freier Handel und Industrie vorherrschend geworden […]. Diese Kraft aber wird eine göttliche sein, wenn die Erblichkeit aufgehoben ist, hingegen eine teuflische, solange diese besteht. Und diesem Geldteufel wird der Mensch immer mehr zugetan werden, der in keinem heiligen Bunde lebt, der weder Vaterland noch Familie mehr hat.“20 [Hervorhe18 Grimm vermerkt: „(aus hebr. rxs, quaestus, lucrum), kleinhandel, besonders gewinnsüchtiger hausirhandel, gewöhnlich von den juden, in verächtlichem sinne gebraucht […].“ Bezeichnenderweise stammt eine der zwei Belegstellen bei Grimm aus Heines Ludwig Börne. Eine Denkschrift (DHA 11, 104), Grimm: Band 14, Sp. 1959–1960; Auch Adelung schreibt zum Verb „schachern“: „Es ist ohne Zweifel von den Juden entlehnet, welche dieses Wort bey ihrem Handel beständig im Munde führen, daher es auch nur von einer jüdischen, gewinnsüchtigen Art zu handeln gebraucht wird.“ Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Wien 1811, Band 3, Sp. 1315. [Im Folgenden wird dieses Nachschlagewerk zitiert als Adelung, Band, und Spaltennummer.] 19 Moses Hess: Die heilige Geschichte der Menschheit. Von einem Jünger Spinozas, in: ders.: Ausgewählte Schriften, ausgewählt und eingeleitet von Horst Lademacher, Köln 1962, S. 55–80, hier S. 59. 20 Hess: Gesammelte Schriften, S. 77.

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bungen im Original]. Der junge Hess versteht sich als Linkshegelianer, jedoch noch nicht als Kommunist im späteren, durch Marx wissenschaftlich geprägten Sinn. Vielmehr tritt er mit dieser Schrift als „indeed the earliest German Socialist“21 hervor und beharrt auf einer gefühlsmäßig empfundenen Kongruenz von Humanität und Göttlichkeit.22 Das Geld ist das Element, das die Gemeinschaften der Blutsverwandtschaft (Familie) und des nationalen Verbandes (Vaterland) ersetzt, das jedoch nicht an sich negativ ist. Seine satanische, gemeinschaftszerstörende Kraft bekommt es erst durch seine dem „Blut“ nachgebildete Vererbbarkeit. Harmonie ist die Grundlage des heiligen Reiches, das Ziel, nach dem unsere Zeit zunächst strebt […]. Es ist die Aufgabe unserer Zeit, die Erblichkeit der Verdienste aufzuheben, den Gegensatz der Individuen und Völker zwar noch nicht zu vernichten, wohl aber, auf dass er sich beständig ausgleiche, in ewigen Einklang zu bringen. Denn wir werden erkennen, dass das allgemeine Leben am Ende notwendig da stocken muss, wo es eine Aristokratie gibt, die die Kräfte der Gesellschaft auf der einen Seite konzentriert, während sie die andre mit Schmach und Knechtschaft bedeckt. – Wir sprechen hier nicht von jener Aristokratie, deren Macht schon gebrochen ist, nicht von der Adelsaristokratie […]. Wir sprechen von der Geldaristokratie.23 [Hervorhebungen im Original]

Es soll also nicht etwa das Geld abgeschafft, sondern seine Verteilung besser geregelt werden. Die „Harmonie“ des Staates entdeckt Hess als dessen neue „Grundlage“. Was er darunter versteht, ist unklar. In erster Linie hängt sie von der Abschaffung des Prinzips der Vererbung ab. Eine Gleichheit in Freiheit kann es demnach nur geben, wenn die „Ungleichheit der Güterverteilung“24 durch Enteignung großer Vermögen ausgeglichen wird. Dieser Vorgang soll nicht unbedingt durch eine gewaltsame Revolution erreicht werden, sondern, die spätere Sozialdemokratie vorwegnehmend, in einem beständigen politischen Prozess die Verhältnisse „in ewigen Einklang“ bringen. Was die Besitzenden dazu bewegen sollte, ihre Ansprüche und Privilegien aufzugeben, wird freilich nicht verraten. Hess erblickt ein Idealbild einer solchen ewigen Gemeinschaft im alten Israel und seinen Propheten: „jenem alten, heiligen Volksstaate, der längst untergegangen ist, aber in den Gemütern seiner zerstreuten Gliedern bis heute 21 Isaiah Berlin: The Life and Opinions of Moses Hess. The Lucien Wolf Memorial Lecture delivered in London, December 1957, Cambridge 1959, S. 8. 22 Hess konstatiert einen wild um sich greifenden Egoismus als Leitmotiv der Gesellschaft und stellt fest: „[...] so bleibt uns im Leben nichts mehr übrig, als der hohle Totenschädel einer in sich nichtigen Selbstsucht, die da lebt und tätig ist, um zu schmausen, zu zechen, zu huren, zu glänzen, kurz, die für alles andre lebt, alles andre liebt, denn das rein Humane, das Göttliche!“ Hess: Gesammelte Schriften, S. 78. 23 Ebd., S. 76. 24 Ebd., S. 79.

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noch fortlebt.“25 Den alten Israeliten habe sich die Einheit Gottes offenbart, die sich nun, zur Idee von der Einheit der Menschheit transformiert, wieder als „neue heilige Verfassung“26 zeige: „Es wird ein Gesetz erscheinen, das als Einheit des Bewusstseins der Menschheit auf diese zurückwirken, sie durchdringen, seine Bestimmung erfüllen und seinen Kreislauf vollenden wird.“27 Mit diesem prophetischen Gestus setzt sich Hess doch affirmativ auf den „uralten ererbten Throne“. Seine Geringschätzung des Erbens und seine im Brief an Heine offengelegte jüdische Selbstabwertung sind angesichts dieser selbstverständlichen Inanspruchnahme eines geistigen Erbes des Judentums widersprüchlich. Vielleicht lässt sich hier mit Yuri Slezkine „‚Selbsthass‘ (Theodor Lessing) als niedrigstes und frühestes Stadium von Nationalstolz“28 vermuten. Doch von seinem späteren, jüdisch-humanistischen Nationalismus ist Hess noch weit entfernt. Das Ziel ist ein einheitliches Bewusstsein, der Menschheit als solcher, und nicht eines einzelnen Volkes oder einer Familie, anzugehören. Dieses soll dazu führen, dass auch die Rolle des Geldes wechselt: „Wenn erst das Geld aufgehört hat, Teufel zu sein, kann es Gott werden.“29 „Gott“ wird das „Geld“ nach Hess in dem Sinn, dass es die Einheit der Menschheit durch seine gerechte Verteilung garantiert. Eine Rückkehr zum „Ackerbau“, zu einer rein agrarischen Gesellschaft, betrachtet Hess realistischerweise als Illusion. Das ökonomische Streben nach materiellen Gütern mittels moderner Technik sei nicht an sich schlecht. Es sei gut, insofern es gleichzeitig Streben nach dem Allgemeinwohl ist. Aus diesem doppelten Streben entströmt nach Hess ein segensreicher Geldfluss, der der Gnade Gottes gleichkommt. Hess hatte seinen Heine jedoch schlecht gelesen. Das „Grundübel der Welt“, so erklärt der Ich-Erzähler in Heines Englischen Fragmenten im Gespräch mit einem fiktiven Philosophen, sei der Umstand, „dass der liebe Gott zu wenig Geld erschaffen habe.“ Doch Heines launische Ironie stellt die Hoffnungen auf eine Gottwerdung des Geldes bei gerechter Verteilung in Frage. „‚Du hast gut reden,‘ antwortete der Philosoph, ‚der liebe Gott war sehr knapp bey Cassa, als er die Welt erschuf. Er mußte das Geld dazu vom Teufel borgen, und ihm die ganze Schöpfung als Hypothek verschreiben‘“ (DHA 7/1, 232). Die Welt, das mag diese Allegorie verdeutlichen, ist immer schon dem Primat der Ökonomie unterworfen und muss damit samt sozialdemokratischen Reformhoffnungen zum Teufel gehen. 25 26 27 28

Ebd., S. 80. Ebd. Ebd. Yuri Slezkine: Das jüdische Jahrhundert, aus dem Englischen von Michael Adrian, Bettine Engels und Nikolaus Gramm, Göttingen 2006, S. 90. 29 Hess: Gesammelte Schriften, S. 79.

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1.2  „Blut“ und Geld

Gut sechs Jahre später hat Hess die Hoffnungen auf eine segensreiche, Gott substituierende Funktion des Geldes aufgegeben und seine Ansichten im Aufsatz Über das Geldwesen radikalisiert. Nun geht es ihm gleichsam darum, die Welt als Hypothek aus den Klauen des Teufels nicht freizukaufen, sondern durch die Beseitigung des Geldes den Teufel seiner Mittel zu berauben und sie als „Schöpfung“ wieder in ihrer vermeintlich ursprünglichen Gestalt frei zugänglich und lebbar zu machen. Augustinus’ bekannte Bemerkung über die Zeit paraphrasierend, lässt sich sagen, dass man solange genau weiß, was Geld ist, bis man es definieren muss. Was ist denn eigentlich Geld? Auch Simmel hätte vielleicht dazu nicht eine ganze „Philosophie“ entwerfen müssen, wenn es ihm vollkommen klar gewesen wäre. Und doch versucht er sich an Definitionen, von denen eine lautet: […] Geld ist dasjenige teilbare Tauschobjekt, dessen Einheit sich für den Wert jedes noch so unteilbaren Gegenobjektes kommensurabel erweist und dadurch die Lösung des abstrakten Wertes in diesem von seiner Fesselung an seinen konkret-speziellen Inhalt erleichtert, oder auch: sie voraussetzt.30

Diese komplexe ökonomische Definition, die das Geld historisch auf die anthropologische Grundtatsache des Tauschen-Wollens und Tauschen-Müssens zurückführt, hat für Simmel philosophische Implikationen, nämlich dass das Geld „innerhalb der praktischen Welt die entschiedenste Sichtbarkeit, die deutlichste Wirklichkeit der Formel des allgemeinen Seins ist, nach der die Dinge ihren Sinn aneinander finden und die Gegenseitigkeit der Verhältnisse, in denen sie schweben, ihr Sein und Sosein ausmacht.“31 Geld zeigt also und ist die absolute Kommensurabilität der Dinge in der Moderne, was bedeutet, dass jedes Ding absolut mit jedem anderen Ding vergleichbar ist und es keine Verabsolutierung des Sinnes geben kann. Simmels Metapher des Schwebens für den Zustand, in dem sich die Dinge zueinander verhalten, ist bemerkenswert; damit ist eine Grund- und Bodenlosigkeit assoziiert, die dem modernen Kapitalismus bis heute vorgeworfen wird. Es bedeutet auch eine gewisse Unheimlichkeit, die mit der Idee des Geldes einhergeht. Geld hat etwas Gespenstisches, was sich nicht nur daran zeigt, dass es immer flüchtig ist: Wie gewonnen so zerronnen. Diese Charakteristik geht tiefer: „Die Allgemeinheit des Geldes“, meint Hans Blumenberg, „ist dynamisch, nämlich insofern es den Grad seiner Abstraktion ständig steigert, alle Dinglichkeit hinter sich lässt und in die reine Form der bloßen Notiz überzugehen ständig auf dem Sprunge 30 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 97. 31 Ebd., S. 98.

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ist.“32 Im Zeitalter von Kreditkarte, New Economy und Finanzkrise ist dies umso einleuchtender. Geld, das wird immer deutlicher, ist selbst nichts. Es bedeutet nur, dass „die Dinge ihren Sinn aneinander finden“ und ist damit immer schon metaphorisch gemeint. Es ist tatsächlich „auf dem Sprunge“, was heißt, dass Geld nur Geld ist, wenn es zwischen zwei Dingen springt: Ein Verhältnis, eine Vergleichbarkeit oder einen Sinn herstellt. Dem, der keines hat, mag der metaphorische Charakter des Geldes erstmal egal sein, und doch liegen gerade die sozialen In- und Exklusionsmechanismen des Geldes – es zu haben bedeutet zum sozialen Leben dazuzugehören – an dessen Uneigentlichkeit. Marx hat darauf in seiner Definition des Geldes insistiert, die er in der frühen Schrift Zur Judenfrage gibt: „Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.“33 Das Geld ist das „fremde Wesen“ schlechthin, weil es die Unmittelbarkeit des Weltbezugs, die Unvergleichbarkeit und Singularität eines Dinges (und eines Menschen mit seiner je eigenen Zeit) nicht nur unterläuft, sondern diese „Entfremdung“ in sich begreift und sie darstellt. Die Frage mag nun sein, wie man diese Eigenart des Geldes bewertet, und ob es überhaupt möglich ist, Begriffe von Arbeit, von Dingen zu haben, ohne den vermittelnden Faktor, ohne die Ersetzungs-Figur, die Geld genannt wird. Eine andere Frage ist, warum gerade die „Judenfrage“, also die Frage nach dem Status der Juden in einem säkularen Europa, mit einer Definition des Geldes beantwortet wird.34 Paul Lawrence Rose hat gezeigt, wie das Judentum, seit Kant und Fichte mit einem ökonomischen Parasitismus verbunden, beschuldigt wird, Gott mit Geld zu vertauschen. Auf der Basis der Evangelien wird das Wort „Mammon“ zu einem Leitsignifikanten des antisemitischen Codes gemacht, bei Mathäus 6, 24 heißt es: „Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ – „[…] it did not take long for the European Christian mind to see in Christ’s words an intimation that the Jews were the demonic servants of a false devil-god of money opposed to God and the truly human.“35 Auch jüdische Autoren sehen einen Zusammenhang zwischen „Mammon“, dem Prinzip des Kapitalismus und „Zion“, dem Judentum. Moses Hess’ Aufsatz

32 Blumenberg: Ästhetische und metaphorologische Schriften, S. 177. 33 Marx / Engels: Werke 1, S. 376. 34 Diese Frage hat bis zum Moment der Finanzkrise von 2008 nichts an Aktualität verloren, Vgl. Jens Jessen: „Unheilsgeschichte – Warum der Kapitalismus zwanghaft mit Juden assoziert wird“, in: Die Zeit, Nr. 45/2008, (Herbst 2008). 35 Paul Lawrence Rose: Revolutionary Antisemitism in Germany from Kant to Wagner, Princeton 1990, S. 46.

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Über das Geldwesen ist dafür ein eindrückliches Beispiel, das im Folgenden analysiert sein soll. Der Text erscheint 1845 in den Rheinischen Jahrbüchern zur Gesellschaftlichen Reform, wurde jedoch schon 1843 verfasst. Möglicherweise steht die darin exzessiv aufgebotene Blutmetaphorik in einem Zusammenhang mit der Damaskus-Affäre von 1840, in der sich die europäischen Juden ihrem längst überwunden geglaubten Zerrbild des Blutsaugers gegenübersahen.36 Wie der Text damit konkret verbunden ist, ist jedoch alles andere als klar und muss im Folgenden diskutiert werden. Auch David Biale setzt den Text in Zusammenhang mit der Suche nach jüdischer Identität und bemerkt in der Thematisierung von „Geld“ und „Blut“ dessen Brisanz im Zusammenhang mit jüdischer Geschichte.37 Hess hält seinen Text, wie schließlich Micha Brumlik festhält, „zumindest an der Oberfläche“38 frei von antisemitischen Einlassungen und Stereotypen und ersetzt diese durch „eine Semantik aus der Welt der Warmblüter, das vampyrische Blutsaugen durch raubtiergemäßes Fressen und die Abstraktion des jüdischen Gottes durch die Konkretion des Kannibalismus beim Abendmahl.“39 Im Kontext dieser Untersuchung interessiert Hess also weniger als „Kontrastfigur zu Marx“,40 der Essay steht vielmehr deshalb im Zentrum dieses Kapitels, weil er das „Blut“ mit seinem gesamten Bedeutungs- und Assoziationsspektrum aufbietet und es in einen engen Zusammenhang mit dem Geld stellt. Hess lässt keinen Zweifel daran, dass das Geld etwas Negatives und auf dem Weg zum wahren menschlichen Wesen Abzuschaffendes ist. „Das Geld“ so schreibt er, „ist das sociale Blut, aber das entäusserte, das vergossene Blut.“41 Die Definition ist merkwürdig, denn wenn es stimmt, dass Geld immer eine Metapher ist, dann wird diese hier anscheinend mit einer weiteren Metapher erklärt. Wie kommt Hess zu dieser Definition, in welchem Zusammenhang steht sie und was sagt sie eigentlich aus? Mit den folgenden Ausführungen und genauen Textlektüren will ich diese Fragen klären und Hess’ Verwendung des Terminus „Blut“ genauer fassen. Im 36 Ebd., S. 50. 37 „Although Hess does not say so, it is likely that the Jews were suspect because they did the same thing to money that they were believed to do to blood: they turned what was fixed and circumscribed into what was liquid and ephemeral. Just as they violated the Eucharist (the body of Christ) and the bodies of actual Christians by stealing their blood, so, by taking usury, they transmuted fixed wealth into liquid capital.“ Biale: Blood and Belief, S. 177. 38 Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass, S. 307. 39 Ebd., S. 308. 40 Ebd., S. 307. 41 Moses Hess: „Über das Geldwesen“, in.: ders.: Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850, eine Auswahl, hg. und eingeleitet von Wolfgang Mönke, zweite, bearbeitete Auflage, Vaduz 1980, S. 329–347, hier S. 345. [Im Folgenden als PhS und Seitenzahl in Klammern.]

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Weiteren beschreibe ich sein Modell einer utopischen Gemeinschaft aus der Frage nach dem „Blut“ und anhand verschiedener intertextueller Verweise auf Paulus. Schließlich soll die im Geldwesen verhandelte Religionskritik in einen Bezug dazu gesetzt werden. Es geht darum, den Text als deutsch-jüdisches Schreiben im Sinn meiner einleitenden Bemerkungen42 zu lesen und ihn somit als Ausdruck spezifisch jüdischer Erfahrung zu deuten, woraus auch Hess’ saint-simonistisch inspirierte Bezugnahme auf Paulus eine besondere Gewichtung erfährt. Biale meint, dass im Geldwesen „the groundwork for Hess’s later nationalism“43 zu sehen sei. In einem folgenden Abschnitt möchte ich darum die Verschiebungen beobachten, die sich in seinem Gemeinschaftsmodell auf dem Weg zu Rom und Jerusalem ergeben. Hess beginnt mit einer Definition des Lebens: Es ist „Austausch von productiver Lebensthätigkeit“ (PhS 330). Der Körper ist das Medium des Lebens, da in ihm der Austausch vonstatten geht, was bei Hess kosmologisch für die Himmelskörper wie anthropologisch für die „socialen Körper“ gilt. Analog zur Atmosphäre der Erde sieht er demzufolge im intersubjektiven Austausch in der Gesellschaft „das unveräußerliche sociale Lebenselement.“ (ebd.). Schon zu Beginn bietet Hess eine traditionelle Körpermetaphorik auf und postuliert, dass sich der Einzelne zum „Gesellschaftskörper“ ebenso verhält, wie das einzelne Organ zu einem einzelnen Körper.44 Im Zusammenwirken der Individuen sieht Hess denn auch ihr wesensmäßiges Leben realisiert. Jedes freie Handeln kann nur als „Gattungsact“ (PhS 331), als Zusammenwirken individueller Kräfte bestehen. Das eigentliche Wesen der Menschen, das Hess nach dem Hegel’schen Modell als sich geschichtlich entwickelnd und vervollkommnend annimmt, ist noch nicht verwirklicht. Er konstatiert: „[…] wir leben noch immer im Kampfe.“ (PhS 331) Aber: „Schon sehen wir in der Ferne das gelobte Land der organisirten Menschheit; schon können wir es mit unseren Augen erreichen, dieses Land der Verheissung […], obgleich wir es noch nicht mit Füssen betreten können.“ (ebd.). Es ist auffällig, dass Hess Jahre vor der Abfassung seiner zionistischen Schriften hier das biblische Bild des alten Moses benutzt, der das Volk Israel heimführt ohne selber anzukommen, und ich werde weiter unten darauf zurückkommen. Hess nennt das Ziel des historischen Prozesses oder das telos aller kommunistischen Anstrengungen, die „organisirte Menschheit“. Die alltäglichen Wörter 42 Vgl. in dieser Studie 1.4. 43 Biale: Blood and Belief, S. 179. 44 Die Wirkungsgeschichte der Metapher des sozialen Körpers erstreckt sich von Platon über Paulus bis hin zur Biopolitik des 20. Jahrhunderts. Vgl. Albrecht Koschorke / Susanne Lüdemann / Thomas Frank / Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. M. 2007, S. 9-102.

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organisiert und Organisation haben heute ihre eigentliche Bedeutung als etwas, was körperlich und in einem größeren Zusammenhang mit Leben versehen ist, in der Umgangssprache beinahe ganz verloren. In Hess’ Texten muss sie immer mitgelesen werden. Die „organisirte Menschheit“ ist als eine organische Gemeinschaft, als etwas Körperliches und Lebendiges zu verstehen. Hess stellt sie sich so vor, dass sie „mit mannichfaltigen, harmonisch zusammenwirkenden Productionen, mit mannichfaltigen organisirten Wirkungskreisen, welche den verschiedenen Lebensrichtungen, den mannichfaltigen Thätigkeiten des Menschen entsprechen“ funktioniert, „so dass jeder ausgebildete Mensch seine Fähigkeiten und Talente nach Beruf und Neigung in der Gesellschaft frei bethätigen kann.“ (PhS 332). Zu dieser Einsicht muss sich die Menschheit jedoch erst hocharbeiten, denn an ihrem Ursprung, also im Eintritt in die Zivilisation, stehen gemäß Hess Mord, Raub und Kannibalismus als brachiale Formen des intersubjektiven Austausches. Die geschichtsphilosophische Annahme, die zum Teil auf Rousseau und seinen Discours sur l’Origine et les Fondaments de l’Inégalité zurückgeht,45 ist nun, dass die Gesellschaft und die Gesetze diesen ersten Zustand der Menschheit sanktioniert, reglementiert und legitimiert hätten. „Kannibalismus, der gegenseitige Raubmord und die Sklaverei“ (PhS 333) sind demnach die zum Prinzip transformierten historischen Grundlagen des gesellschaftlichen Menschen und bilden einen universellen Ausbeutungszusammenhang, in dem es zu einer „Verschacherung der Producte“ anstatt zu einem „organisirten Austausch“ (ebd.) kommt. In einer topischen Unterscheidung trennt Hess also eine moralisch gute von einer moralisch schlechten Ökonomie: „Organisirter Austausch“ besteht nach Hess dann, wenn das Primat des Handelns der Gattung zukommt, während das einzelne Individuum nur Mittel zur Erhaltung des lebendigen Ganzen ist. Gegenwärtig besteht jedoch eine Umkehrung dieses idealen Verhältnisses, eine in sich verderbliche Ökonomie, deren Codewort ebenso topisch das des „jüdischen“ ist. Unseren Philistern, unsern christlichen Krämern und jüdischen Christen, ist das Individuum Zweck, das Gattungsleben dagegen Mittel des Lebens. Sie haben sich eine aparte Welt für sich geschaffen. – Theoretisch ist die klassische Gestalt dieser verkehrten Welt der christliche Himmel. In der wirklichen Welt stirbt das Individuum, im christlichen Himmel lebt es immer fort; im wirklichen Leben bethätigt sich die Gattung im Individuum und mittelst desselben, im Himmel lebt das Gattungswesen, Gott, außerhalb der Individuen, und nicht diese sind das Medium, durch welches Gott sich bethätigt, durch welches das Gattungswesen lebt, sondern umgekehrt vermittelst Gottes leben die Individuen. Das Gattungswesen ist hier zum Mittel für das Leben der Individuen herabgewürdigt; das christliche ‚Ich‘ braucht seinen Gott; es 45 „Il suit de cet exposé“, so schreibt Rousseau als Fazit seines Discours, „que l’inégalité étant presque nulle dans l’Etat de Nature, tire sa force et son acroissement du dévelopment de nos facultés et de progrès de l’Esprit humain, et devient enfin stable et légitime par l’établissement de la propriété et des Lois.“ Jean Jacques Rousseau: Œvres Complètes 3, Paris 1964, S. 193.

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braucht ihn für seine individuelle Existenz, für seine heilige, unsterbliche Seele, für sein Seelenheil! […] Das Christenthum ist die Theorie, die Logik des Egoismus. […] In unserer Krämerwelt ist daher praktisch, wie im christlichen Himmel theoretisch, das Individuum Zweck, die Gattung nur Mittel des Lebens. Das Gattungsleben bethätigt sich hier ebenfalls nicht im Individuum […]; es ist hier das Geld. Was der Gott für’s theoretische Leben, das ist das Geld für’s praktische Leben der verkehrten Welt; das entäußerte Vermögen der Menschen, ihre verschacherte Lebensthätigkeit. […] Das Geld ist der geronnene Blutschweiß der Elenden, die ihr unveräußerliches Eigenthum […] selbst zu Markte tragen, um dafür das caput mortuum derselben, ein sogenannten Capital einzutauschen und kannibalisch von ihrem eigenen Fette zu zehren. – Und diese Elenden sind wir Alle! […] Denn das Geld, das wir verzehren und um dessen Erwerb wir arbeiten, ist unser eigenes Fleisch und Blut, welches in seiner Entäußerung von uns erworben, erbeutet und verzehrt sein muss. Wir Alle sind – das dürfen wir uns nicht verhehlen – Kannibalen, Raubthiere, Blutsauger. – Wir sind es so lange, als wir nicht Alle für einander thätig sind, sondern Jeder für sich erwerben muss. (PhS 334–335) [Hervorhebungen im Original]

Kapitalismus ist für Hess also im Gegensatz zu Marx, für den die Juden als Folie herhalten mussten, realisiertes Christentum.46 Denn wie es im Christentum – hier denkt Hess wohl vor allem an die protestantischen Konfessionen – um die Erlösung des Einzelnen geht, so steht im kapitalistischen System der individuelle Anspruch auf Glück und materielles Wohlergehen auf Kosten der Gattungsgemeinschaft im Fordergrund. Die Stelle, die Gott im Christentum einnimmt, nämlich die des bloßen Garanten des eigenen Seelenheils statt des Endzwecks allen Handelns, wird in der kapitalistischen Gesellschaft vom Geld besetzt. Ganz wie Marx sieht Hess dieses als das Eigentliche der Menschen, das sie in entfremdeter Form beherrscht. Der Zusammenhang wird von Hess jedoch bildlicher gefasst. „Geld ist der geronnene Blutschweiß der Elenden […].“ – „Blutschweiß“ ist ein Ausdruck, der im Deutschen vor allem die Redewendung „Blut und Wasser schwitzen“ anklingen lässt, was bedeutet, dass man große Angst hat. Das Ausscheiden von Blut im Schweiß, die Hämhydrose, ist ein seltenes medizinisches Phänomen, und es ist zu vermuten, dass Hess eine Wendung des Lukasevangeliums aufgreift. Dort wird davon berichtet, wie Jesus in Gethsemane im Angesicht des Kreuzestodes betet. „Und es kam, daß er mit dem Tode rang und betete heftiger. Es ward aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.“ (Lk 22,44). Jeder Mensch, das ist mit dieser Anspielung implizit verhandelt, ist im Kapitalismus wie Jesus dazu gezwungen, sein Blut zu opfern, doch nicht für das Seelenheil, sondern um der Vermehrung des Kapitals willen. „Unser eigenes Fleisch und Blut“ muss „in seiner Entäuße46 Gleichwohl verfällt Hess an einer Stelle in die traditionelle antisemitische Diktion. Hess spricht von der bürgerlichen Gleichheit als einer „Gleichheit des Todes“, und das bürgerliche Recht habe für den Einzelnen nur Bedeutung „vermöge ihrer gemeinsamen Qualität als Raubthiere, als Blutsauger, als Juden, als Geldwölfe.“ (PhS 346) [Hervorhebungen im Original].

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rung“ in der Lohnarbeit hergegeben werden, was die Individuen zu Kannibalen macht. „Das Geld ist das Product der gegenseitig entfremdeten Menschen, der entäußerte Mensch.“ (PhS 335) [Hervorhebungen im Original]. Auch Hess denkt das Geld wesentlich als etwas, das erst in der Relation zwischen den Individuen generiert wird, aber nicht als die Wahrheit und das Eigentliche, das Organische dieser Beziehung, sondern als deren Umkehrung und Verletzung. Das Geld wird als das Äußere der intersubjektiven Beziehungen gedacht, das nicht wirklich besessen werden kann, das vielmehr den Menschen besitzt. Es ist Ausdruck des Gegenteils der „organisirten Menschheit“. Das Geld kann nie und nimmer Eigenthum werden, muss vielmehr […] als etwas so Äußerliches, dem Menschen nicht Eigenthümliches betrachtet werden, dass gerade das, was den Charakter jedes wahren und wirklichen Eigenthums bildet, das innige Verwachsensein von Besitzer und Besitzthum, hier als das widerwärtigste, verächtlichste Laster erscheint. (PhS 343) [Hervorhebungen im Original]

Das „wahre sociale Eigenthum“ (ebd.) ist nach Hess die Disposition zum sozialen, intersubjektiven Verhalten. So wie jeder Mensch einen physischen Leib besitzt, ohne den auch sein Geist nicht lebendig ist, so wird das soziale Leben als „organischer, lebendiger Leib“ (ebd.) beschrieben, der die Grundlage des gemeinsamen Lebens bildet. Dieser ist in Zahlen oder Summen nicht auszudrücken, da der „Werth eines lebendigen Wesens“ (ebd.) prinzipiell nicht in Zahlen auszudrücken ist. Verantwortlich für diesen „Unsinn“ (ebd.) ist der christliche wie der idealistische Dualismus von Geist und Körper, der die beiden Sphären als getrennt existierend betrachtet. In Wahrheit, so Hess, sind beide Sphären für sich allein betrachtet – eine Geisterwelt ohne Körper sowie Körper ohne geistiges Prinzip – nicht real. Ausdruck dieses Trugbildes ist nicht nur das falsch verstandene, nämlich nicht organisch mit seinem Eigentümer verwachsene Eigentum, sondern auch die Person als juristisch geschützte Entität. Die bürgerliche Person, also der Mensch ohne seine soziale Umwelt, ist nach Hess ein toter Körper oder ein totes Organ, da sie vom interpersonalen Überkörper abgetrennt ist. Die Gesetzgeber dachten nicht daran, dass der von seiner Umgebung abgeschnittene Mensch ein abgezogenes, ein geschundenes Wesen ist, welches ebenso wenig noch lebendig, wie das rohe Thierfleisch, von dem die Haut abgethan, wie ein athmendes Geschöpf, dem die Luft entzogen worden ist. Sie haben dem Menschen alle sociale Lebensluft entzogen und es ihm frei gestellt, sich dafür mit dem Gelde, diesem materialisierten, christlichen Geiste oder Gotte, zu umdunsten und möglichst zu conservieren. (PhS 341) [Hervorhebungen im Original]

Die Metapher der Atemluft, an deren Stelle das Geld getreten ist, verdeutlicht, wie das Geld als bloßes Material an die Stelle eines inspiriert gedachten intersubjektiven Austausches tritt. Dem Stück vakuumiertem Fleisch, auf das der moderne Mensch hier im Grund genommen reduziert wird, kommen Bedürf-

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nisse zu, die nur falsche, entäußerte Bedürfnisse sind, die seinem eigentlichen Interesse widersprechen. Die Gewerbefreiheit, in der sich die Person verwirklichen kann und soll, ist nichts anderes als gegenseitige Ausbeutung und sanktioniert bloß den „Gelddurst“: der Gelddurst, der nichts Anderes, als der Blutdurst des socialen Raubthieres ist. […] – wir sind Blutsauger, die sich gegenseitig schinden und aufzehren. Wie das Thier im Blute nur sein eignes Leben, aber in einer thierischen, brutalen Weise – so genießt der Mensch im Gelde sein eignes Leben in einer brutalen, thierischen, kannibalischen Weise. Das Geld ist das sociale Blut, aber das entäußerte, das vergossene Blut. (PhS 341) [Hervorhebungen im Original]

Hess sieht den Menschen der Gegenwart am Kulminationspunkt der phylogenetischen Entwicklung vom Tier hin zu einem genuin menschlichen Wesen. Das Tier ist wesensgemäß vereinzelt und hat kein Sozialleben – eine Ansicht, die Hess mit ein bisschen Beobachtungsgabe als mindestens zweifelhaft hätte empfinden müssen. Das soziale Sein ist das wesentlich Menschliche, dem sich die Menschen aber in einem Zustand bewusster Tierhaftigkeit enthalten, was juristisch und kulturell festgeschrieben ist. Das soziale Sein denkt Hess essentiell als „Leib“, als organisches Verwachsensein aller Mitglieder der Gesellschaft. „Das Geld ist das sociale Blut“ – Hess fügt ein „aber“ hinzu und präzisiert, dass es eben „das entäußerte, das vergossene Blut“ ist. „Blut“ steht hier demzufolge nicht im Sinn von sanguis, dem in seiner Ganzheit kreisenden, fließenden und jedes Organ versorgenden und reinigenden Blut, sondern im Sinn von cruor, dem Blut, das aus einer Wunde ausgetreten und geronnen ist.47 „Blut“ ist hier eine Metapher, die mit der Metapher der organischen Gemeinschaft einhergeht und mit ihr zusammenwirkt, sie drückt die Verletzbarkeit und Verletztheit der wahren menschlichen Gemeinschaft aus. Wenn das Blut der Ganzheit die Vollkommenheit und Eigentlichkeit der Gemeinschaft anzeigt, so signalisiert das „entäußerte, das vergossene Blut“ die dem Menschen uneigentliche, bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, als deren Sinnbild und Treibstoff das Geld erscheint. Die Gleichung von Geld und Blut meint bei Hess die dem Menschen inadäquate Daseins- und Lebensform in der bürgerlich-kapitalistischen Welt. Die Gleichsetzung von „Blut“ und Geld geht auf Hobbes Leviathan zurück und verdankt sich der Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey.48 Das Bild organischer Integrität, das Hess als Wunschbild zeichnet, setzt sich krass ab vom Bild des vergossenen Bluts, welches die Kehrseite der Körpermetapher ist und die das rhetorisch wirksame „Schreckbild einer vor-organischen Dissozia47 Vgl. in dieser Studie 1.1. 48 Vgl. Vogl: „Kreisläufe“.

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tion“ entwirft, „das die Psychoanalyse als Phantasma des zerstückelten Körpers kennt und zu den Urängsten des Menschen rechnet.“49 Auch die Vorstellung einer organischen Gemeinschaft ist alles andere als originär. Sie geht zurück auf eine lange Reihe europäischer Konstruktionen des politischen Körpers. So spricht Rousseau in seinem Du Contrat sociale von einem „moralischen und kollektiven Körper“, der anstelle der Einzelpersonen jedes Vertragspartners beim Abschluss des Gesellschaftsvertrages entsteht.50 Dieser „corpus mysticum des sozialen Ganzen“51 war jedoch schon in organologischen Staatslehren des Mittelalters angelegt, die den Staat als „unvordenkliche soziale Substanz“52 entwarfen. Im Kern gehen diese Vorstellungen auf römische Modelle der historischen Beschreibung des Staates zurück,53 doch sind sie in Europa wirkungsmächtig vor allem von Paulus geprägt worden. Ich möchte behaupten, und ich werde es im Folgenden im Semantischen und in der argumentativen Struktur des Textes zeigen, dass bei Hess die Vorstellung der organischen Gemeinschaft einem paulinischen Modell folgt. Hess ist als Apostel eines unvermeidlichen und im Grund außerdiskursiven und außergesetzlichen Ereignisses, das Universalität stiftet – nicht der gewaltsamen Revolution, sondern dem allmählichen Eintreten einer neuen Form der Organisation54 – der 49 Koschorke u.a.: Der fiktive Staat, S. 62. 50 „Chacun de nous met en commun sa personne et toute sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale; et nous recevons en corps chaque membre comme partie indivisibe du tout. / A l’instant, au lieu de la personne particulière de chaque contractant, cet acte d’association produit un corps moral et collectif composé d’autant de membres que l’assemblée a de voix, lequel reçoit de ce même acte son unité, son moi commun, sa vie et sa volonté. Cette personne publique qui se forme ainsi par l’union de toutes les autres prenait autrefois le nom de Cité, et prend maintenant celui de République ou de corps politique, lequel est appelé par ses membres Etat quand il est passif, Souverain quand il est actif, Puissance en le comparant à ses semblables.“ Rousseau, Œvres complètes 3, S. 361. 51 Vgl. wiederum Koschorke u.a.: Der fiktive Staat, S. 112. 52 Ebd. 53 In Livius’ Ab urbe condita wird geschildert, wie bei einer politischen Krise in Rom 494 v.u.Z. der Gesandte des Senats, Menenius Agrippa, um die aufständischen Plebejer zu beschwichtigen eine Geschichte erzählt. Sie handelt davon, dass einst die Glieder sich gegen den Magen verschworen haben, endet jedoch mit der Einsicht, dass der menschliche Körper nicht gedeihen kann ohne das sinnfällige und einträchtige Zusammenwirken aller seiner Organe. Genau gleich soll es nun um den Staat stehen, in dem alle Teile seine Aufgaben im Hinblick auf das Allgemeinwohl erfüllen sollten. Vgl. Koschorke u.a.: Der fiktive Staat, S. 15–54. 54 Im Kommunistischen Bekenntniß in Fragen und Antworten, das 1846 im zweiten Band der Rheinischen Jahrbücher erscheint, schreibt Hess: „Ist es nöthig, das jetzige Eigenthum, das Geld, durch ein Dekret abzuschaffen? / Es ist nicht nöthig und auch nicht möglich; die jetzigen Eigenthumsverhältnisse werden sich almählig zu kommunistischen umgestalten [...]. Das Geld verliert in demselben Maaße seinen Werth, in dem die Menschen an Werth zunehmen. [...] Dagegen müsste eine gewaltsame und plötzliche Aufhebung der jetzigen

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Form nach Paulus verpflichtet. Diese Genealogie ist auf den ersten Blick nicht sehr erstaunlich, galt doch Paulus im Frühsozialismus der Saint-Simonisten als eine Art Urvater des Kommunismus. Jacques Rancière weist beispielsweise auf Pierre Leroux’ Schriften De l’égalité von 1838 und De l’humanité von 1840 hin.55 Saint-Simon selber zitiert Paulus’ Römerbrief sogar als Motto auf dem Titelblatt seiner postum publizierten Schrift Nouveau Christianisme,56 die die verschiedenen christlichen Konfessionen und explizit auch das Judentum – die Leser sind „même comme israélites“57 angesprochen – auf eine gemeinsame Basis des Gebots der Nächstenliebe reduzieren möchte. Für einen jüdischen Autor ergeben sich aus dem Bezug aber noch völlig andere Konsequenzen, die diskutiert werden müssen. Auffallend sind in dem Text paulinische Motive, zum Beispiel in einer Passage, in der Hess die Verwirklichung der neuen Gemeinschaft ausmalt: Wir werden unser Leben nicht mehr vergebens außer und über uns suchen. Kein fremdes Wesen, kein drittes Mittelding wird sich mehr zwischen uns eindrängen, um uns äußerlich und scheinbar zu vereinigen, zu „vermitteln“, während es uns innerlich und wirklich trennt und entzweit. – Mit den Handelsspeculationen werden die philosophischen und theologischen Speculationen, mit der Politik die Religion aufhören. Getrieben von der innern Nothwendigkeit unserer Natur und der äußeren Noth der Verhältnisse werden wir mit diesem ganzen Unsinn und Heuchlerkram […] ein für allemal ein Ende machen, indem wir uns in Gemeinschaft vereinigen und alle die äußerlichen Verkehrsmittel, alle diese Pfähle in unserem Fleische als fremde Körper ausstoßen. (PhS 347) [Hervorhebungen im Original]

Die Vergemeinschaftung soll von einer Art Katharsis ausgehen, von einer Ausstoßung des Fremden aus dem Eigentlichen und Inneren, wobei das von Hess oft gebrauchte Wort „Verkehrsmittel“ für Geld einen aufschlussreichen Doppelsinn besitzt. Einerseits soll aus der verkehrten Welt die wahre Welt werden. Andererseits soll sich aus den nur vermittelten, über das Medium des Geldes sich austauschenden Einzelnen, ein unmittelbares Zusammenwirken aller Menschen entwickeln. Die Distanz zwischen den Einzelnen soll überwunden werden, für die man „Verkehrsmittel“ im Sinn von Transportmitteln brauchte, Eigenthumsverhältnisse nothwendig schlechte Früchte tragen. Ein vernünftiges Eigenthum setzt eine vernünftige Gesellschaft, und diese setzt wiederum gesellschaftlich gebildete Menschen voraus, so dass an eine plötzliche Umgestaltung des unorganischen Eigenthums in organisches nicht zu denken ist. –“ Hess: „Kommunistisches Bekenntniß in Fragen und Antworten“, in: PhS 359–368, hier S. 365. 55 Jacques Rancière: „Die Gemeinschaft der Gleichen“, in: Joseph Vogl: Gemeinschaften, S. 101– 132. 56 Henri Comte de Saint-Simon: Nouveau Christianisme: dialogues entre un conservateur et un novateur: premier dialogue, Paris 1825. 57 Ebd., S. iij.

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und die eben diese Distanz erst schufen. Die Wendung „Pfähle in unserem Fleische“ ist ein leicht modifiziertes Zitat aus dem zweiten Korintherbrief. Dort heißt es im zwölften Kapitel, der so genannten Narrenrede: „Und auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe.“ (2 Kor 12, 7). Die Stelle steht im Zusammenhang mit einer berichteten Himmelsreise und ekstatischen Visionen im Paradies. Paulus erzählt diese Ereignisse in der dritten Person – von einem „Menschen in Christo“ – und vermeidet es, sich selbst als Person zu glorifizieren und so ganz der unchristlichen Narrheit des Eigenlobes zu verfallen. Der Pfahl, oder je nach Übersetzung Dorn, ist als Symbol für die Misshandlungen und Nöte, denen Paulus (und die frühchristlichen Gemeinden) ausgesetzt waren, möglicherweise aber auch als Bild für tatsächliche physische Schmerzen des Autors zu verstehen.58 Die Schmerzen und die Schwäche müssen ertragen werden, denn gemäß Paulus’ Verständnis der christlichen Offenbarung, gibt sich die Gnade Gottes erst dem Schwachen, der sein Selbst ganz zurückstellt: „[…] denn, wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ (2 Kor 12, 10). Insofern verbildlicht der „Pfahl im Fleisch“ eine Erinnerung der eigenen Schwäche angesichts der nach Paulus erlösenden Kraft Jesu Christi. Zwar bezieht sich die Wirkung des Spitzigen (Pfahl, Dorn, Stachel) auf den Körper, auf das „Fleisch“, und psychische Leiden sind im ersten Wortsinn ausgeschlossen.59 Dennoch ist es gerade bei einem Text, der exzessiv mit Metaphern aus dem Bereich des Körpers arbeitet, nicht allzu spekulativ, auch hier einen übertragenden Sinn anzunehmen. Die Metapher vom Dorn geht zurück auf den Propheten Hesekiel: „Und nicht sei […] dem Hause Jisraël ein einschneidender Dorn und ein schmerzlicher Stachel, von all ihren Umgebungen, die sie anfallen, und sie sollen erfahren, dass ich Gott der Herr bin.“ (Ez 28, 24 nach Zunz). Hess steht mit seiner Metaphorik in einer langen Tradition von Texten, die von überirdischen, göttlichen Visionen berichten um damit ein sehr irdisches, politischtheologisches Ziel zu erreichen. So schließt auch Ezechiel im babylonischen Exil mit einer detaillierten Beschreibung des wieder zu errichtenden Tempels in Jerusalem. Leider enthält sich Hess in seinem utopischen Entwurf dieser Genauigkeit, auch wenn er sich in seinem Text als spiritueller Anführer eines neuen Exodus gibt: „Schon sehen wir in der Ferne das gelobte Land der organisirten Menschheit; schon können wir es mit unseren Augen erreichen, dieses Land der Verheißung […], obgleich wir es noch nicht mit Füssen betreten können.“ (PhS 331). Wie soll dieser noch fehlende Schritt ins Land von Milch und Honig ge-

58 Vgl. Christian Wolff: Der zweite Brief an die Korinther. Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament VIII, Berlin 1989, S. 239–250. 59 Ebd, S. 246–247.

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staltet werden und wie stellt sich Hess die dafür notwendige Abschaffung des Geldes vor? Nicht willkürlich kann und wird dieses todte und tödtende Verkehrsmittel abgeschafft werden; […] So wie das Bedürfniß eines äußerlichen Vereinigungsmittels während der inneren Zerfallenheit des Menschengeschlechts die geistigen und materiellen Götzen in’s Leben gerufen hatte, so wird das Bedürfniß einer unmittelbaren, innigen Vereinigung der Menschen diese Götzen wieder vernichten. (PhS 347) [Hervorhebungen im Original]

Hess vertraut ganz dem dialektischen Gedanken, dass die „organische Gemeinschaft, […] erst in Folge der höchsten Entfaltung aller unserer Kräfte mittelst des schmerzlichen Stachels der Noth und der bösen Leidenschaften in’s Leben treten“ (PhS 347) wird. Die Wendung ist verwandt mit dem paulinischen Paradox der Stärke in der Schwäche durch die Gnade Gottes. Für den entfremdenden Charakter des Geldes benutzt Hess interessanterweise wie Marx später im Kapital mit dem Fetischbegriff für den Charakter der Ware, einen Begriff aus der religiösen Sphäre.60 Freilich ist das Wort „Götze“ für einen falschen Gott viel älter und wurde durch Luthers Bibel-Übersetzung bekannt und gebräuchlich.61 Die „innige Vereinigung der Menschen“ kann durchaus, wenn das Geld als Götze verschwindet, an die Stelle der im einzigen wahren Gott versammelten Gemeinde Israels gerückt werden. Die Bilder dieser neuen Versammlung sind jedoch neutestamentarisch. Im ersten Korintherbrief benutzt Paulus die elaborierte Allegorie eines Körpers, zu dessen Wohl alle Glieder einträchtig funktionieren müssen, um damit die weit verstreuten Gemeinden zur Einheit aufzurufen.62 Im Zeichen einer escha60 „Es ist ein physisches Verhältnis zwischen physischen Dingen. Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist. / Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt, wie die vorhergehende Analyse bereits gezeigt hat, aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert.“ Marx / Engels: Werke. Band 23, S. 87–88. 61 Jes 44, 17; im Korintherbrief heißt es, „daß ein Götze nichts in der Welt sei und daß kein andrer Gott sei als der eine.“ (1 Kor 8, 4). 62 „Denn gleichwie ein Leib ist, und hat doch viele Glieder, alle Glieder aber des Leibes, wiewohl ihrer viel sind, doch ein Leib sind: also auch Christus. Denn wir sind auch durch einen Geist alle zu einem Leibe getauft, wir seien Juden oder Griechen, Knechte oder Freie, und sind alle zu einem Geist getränkt. Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. So

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tologischen Hoffnung, im Hinblick auf die Möglichkeit der Taufe als Ausdruck einer Gemeinschaft des Geistes im Gegensatz zum alten Bund der Beschneidung besteht für jeden Einzelnen – und jede Gemeinde – die Chance, in den Leib Christi aufgenommen zu werden. Der Leib Christi gilt als eine der zentralen ekklesiologischen Gemeinschaftsmetaphern bei Paulus, dem weitere Termini und Metaphern wie „Erben“, „Kinder Gottes“, „das Volk Gottes“, „Brüder“ und andere zur Seite gestellt sind.63 Dieser Leib – die Frage, ob er im übertragenden oder im wörtlichen Sinn gemeint ist, bildet den zentralen Streitpunkt des Christentums – ist durch das Opfer von Christi Blut und Fleisch gestiftet, an dem jeder Gläubige Teil hat. Die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen ist ein Lebendiges. Hess’ Beschreibung der kommunistischen Gemeinschaft als „organischer, lebendiger Leib“ (PhS 343) zitiert diese Semantik wörtlich.64 Damit wird die appellative aber der Fuß spräche: Ich bin keine Hand, darum bin ich des Leibes Glied nicht, sollte er um des willen nicht des Leibes Glied sein? Und so das Ohr spräche: Ich bin kein Auge, darum bin ich nicht des Leibes Glied, sollte es um des willen nicht des Leibes Glied sein? Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör? So er ganz Gehör wäre, wo bliebe der Geruch? Nun hat aber Gott die Glieder gesetzt, ein jegliches sonderlich am Leibe, wie er gewollt hat. So aber alle Glieder ein Glied wären, wo bliebe der Leib? Nun aber sind der Glieder viele; aber der Leib ist einer. Es kann das Auge nicht sagen zur Hand: Ich bedarf dein nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich bedarf euer nicht. Sondern vielmehr die Glieder des Leibes, die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten; und die uns dünken am wenigsten ehrbar zu sein, denen legen wir am meisten Ehre an; und die uns übel anstehen, die schmückt man am meisten. Denn die uns wohl anstehen, die bedürfen’s nicht. Aber Gott hat den Leib also vermengt und dem dürftigen Glied am meisten Ehre gegeben, auf daß nicht eine Spaltung im Leibe sei, sondern die Glieder füreinander gleich sorgen. Und so ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; und so ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit. Ihr seid aber der Leib Christi und Glieder, ein jeglicher nach seinem Teil.“ (1 Kor 12, 12-27). 63 Vor allem die Rede vom Volk Gottes nimmt wegen der Übernahme aus dem jüdischen Kontext und der christologischen Transformation eine ambivalente und besonders untersuchenswerte Sonderstellung ein, für deren faszinierende Analyse ich hier nur auf folgende theologische Untersuchung hinweisen kann: Wolfgang Kraus: Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus, Tübingen 1996, v. a. S. 111–119. 64 Hess war der Allegorie der im Körper zusammenwirkenden Organe für seine Gemeinschaftsutopie auch an anderer Stelle verpflichtet. So schreibt er in einem kleinen anthropologischen Aufsatz von 1844 mit dem Titel Bestimmung des Menschen: „Das organische Leben der blinden Natur beschämt das gesellschaftliche Leben der noch nicht vereinigten Menschen. Was der Mund an Nahrungsmitteln aufnimmt, hält er nicht im Rachen fest als sein ,unveräußerliches Eigenthum‘, sondern nachdem er es verarbeitet oder genossen hat, übergibt er es dem Magen; dieser verarbeitet oder consumirt es in seiner Weise und übergibt es dem Blute; das Blut leitet es weiter zu den verschiedenen organischen Wirkungskreisen, die es zu ihrer Thätigkeit bedürfen usf. […] Solche organische Wirkungskreise haben wir in unserer Gesellschaft nicht, und so lange die Gesellschaft noch nicht in dieser Weise organisiert ist, tritt in ihr jede individuelle Schöpfung allen anderen feindlich entgegen. Es entstehen lügenhafte Widersprüche, blutige Collisionen, Gegensätze, die das einige Leben trennen und daher vernichten, z.B. der Gegensatz von Producenten und Consumenten,

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Wirkung des Textes unterstützt, denn der Bezug auf den paulinischen Prätext beschwört eine schon bekannte Absatzbewegung und die fiktive, politisch noch zu konstituierende Gemeinschaft erscheint durch das traditionelle rhetorische Gewand als eine plausible Konsequenz und erhält außerhalb des Textes, in der politischen Wirklichkeit, scheinbare Konsistenz. Was aber hält die neue Gemeinschaft zusammen?

Die Verwirklichung der jeweils postulierten Gemeinschaft ist bei Hess auf die gleiche Basis wie in den paulinischen Episteln gestellt: Auf die „Liebe“. (Vgl. Eph 1-6). Der Universalbegriff der Liebe spielt auch bei Hess eine Schlüsselrolle in der Konstitution der organischen Gemeinschaft. Die theoretische Schwäche seines Textes liegt, wie der Herausgeber ausführt, gerade im Verkennen der Sprengkraft in den ökonomischen Produktionsverhältnissen,65 die Karl Marx und Friedrich Engels wenig später zum Motor des historischen Materialismus machen werden. Stattdessen sieht Hess bloß den Widerspruch zwischen einem ins Auge springenden Reichtum der Kapitalisten und einer Masse an verarmten Proletariern. Vor diesem Widerspruch sieht er grundsätzlich nur die zwei Möglichkeiten: Tod oder „Communismus“ durch „Liebe“. Wir können uns auf der Stufe der Entwickelung, wohin wir gelangt sind, nur mehr gegenseitig ausbeuten und aufzehren, wenn wir uns nicht in Liebe miteinander vereinigen. (PhS 348)

Wird es in den folgenden Schriften Hess’ vor allem die Erziehung sein, die er zur Erreichung seiner idealen Gemeinschaft aufbieten will, ist es hier ganz einfach die „Liebe“, in der die Vereinigung der organischen Gemeinschaft zustande kommen soll. Darin liegt auf den ersten Blick wenig theoretische Raffinesse. Im Grund lässt sich das schon bei Paulus im 13. Kapitel des ersten Briefs an die Korinther lesen.66 Auf den zweiten Blick ergeben sich aber minwährend doch jede Production Consumption und jede Consumtion Production ist.“ Hess: „Bestimmung des Menschen“, in: PhS 275–277, hier 276. 65 Vgl. Wolfgang Mönke: „Einleitung“, in: PhS, S. XII–CIII, vor allem S. LXXI–LXXIV. 66 „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“ (1 Kor 13, 1) – „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit; sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu

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destens zwei Komplexionen. Erstens ist das, was bei Paulus Liebe, agape, heißt, nicht so einfach zu verstehen. In seinem Buch zu Paulus fasst der französische Philosoph Alain Badiou die paulinische Liebe als das, was dem Subjekt im Bezug auf eine ihm zukommende universelle Wahrheit und in der Trennung von einem immer nur partikularen Gesetz eine neue Konsistenz verleiht. „Das Gesetz kehrt zurück als für alle gültige Artikulation des Lebens, als Weg des Glaubens, als Gesetz jenseits des Gesetzes. Das ist es, was Paulus die Liebe nennt.“67 Leider kann ich im Lauf dieser Untersuchung nicht so ausführlich, wie es nötig wäre, auf die paulinischen Texte eingehen. Es muss hier reichen, festzustellen, dass auch Hess seinen Begriff der Liebe im endgültigen Bruch mit einer Welt des Gesetzes und einem diskursiven, vermittelten Begriff von Wahrheit sieht. Zweitens ist Hess nämlich nicht in der Weise wie Marx dem philosophischen Diskurs verpflichtet. Während Marx trotz seines Aktionismus’ immer von einem diskursiven Bezug zur Erkenntnis ausgeht, ist für Hess die Ankunft der anderen Gemeinschaft ein Ereignis, das die bisherigen Diskurse radikal durchstreicht und irrelevant macht: „Mit den Handelsspeculationen werden die philosophischen und theologischen Speculationen, mit der Politik die Religion aufhören.“ (PhS 347). Das verweist wiederum auf Paulus, der im Korintherbrief schreibt: „Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.“ (1 Kor 13, 8-10). Mit der Ankunft der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit, die im paulinischen Sinn als das Vollkommene gedacht wird, werden die „Pfähle in unserem Fleisch“ als satanisches Prinzip, das heißt die unwahren und verkehrenden Diskurse der Philosophie, der Theologie, der Ökonomie und der Politik „ein für allemal“ – vermittlungslos – ausgestoßen. Das „Bedürfniß einer unmittelbaren, innigen Vereinigung der Menschen“ wird die neue Gemeinschaft schaffen, und zwar aus der aktuellen und Not der materiellen Verhältnisse heraus. Natürlich hat Hess im hier zur Diskussion stehenden Text Über das Geldwesen oberflächlich gesehen wenig mit Paulus und dessen froher Botschaft, der Auferstehung der Toten im Glauben an Christus, zu tun. Sein Text bietet sogar eine rabiate Religionskritik auf, die ebenfalls bei dem Motiv des „Bluts“ einhakt.

Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1 Kor 13, 4–13.) 67 Alain Badiou: Paulus. Die Begründung des Universalismus, aus dem Französischen von Heinz Jatho, München 2002, S. 164.

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Das Mysterium des Judenthums und Christenthums ist in der modernen jüdisch-christlichen Krämerwelt offenbar geworden. Das Mysterium des Blutes Christi, wie das Mysterium der altjüdischen Blutverehrung, erscheint hier endlich ganz unverhüllt als das Mysterium des Raubthieres. – Im alten Judenthum war der Blutcultus nur ein prototypischer; im mittelalterlichen Christenthum war er theoretisch, idealistisch, logisch verwirklicht, d.h. man verzehrte wirklich das entäußerte, vergossene Blut der Menschheit, aber nur in der Imagination, das Blut des Gottmenschen. In der modernen jüdisch-christlichen Krämerwelt tritt endlich dieser Hang und Drang der socialen Thierwelt nicht mehr symbolisch oder mystisch, sondern ganz prosaisch hervor. In der Religion der socialen Raubthiere war noch Poesie. (PhS 345) [Hervorhebungen im Original]

Mit dem „Mysterium der altjüdischen Blutverehrung“ ist wohl das biblische Sühneopfer gemeint, welches die Priester für das ganze Volk vornehmen. Hess betrachtet es als Vorläufer der Eucharistie und als „prototypisch“ für den Opfertod Jesu, der mit seinem Blut jedem Einzelnen die individuelle Erlösung verspricht. In dieser Individualität schließlich sei die Eucharistie die poetische Form des kapitalistischen Strebens nach Gewinn. Aus der „Theopophagie“ des Christentums habe sich eine „offenbare Anthropophagie“ entwickelt. In dieser letzten Form kann „Blut“ nur als eine Metapher verstanden werden. Es ist bemerkenswert, wie Hess diese metaphorische Verwendung, welche sich als Leitmotiv durch seinen ganzen Text zieht, über die Linie der Eucharistie – in der das Blut zwischen Metapher und Substanz schwankt – bis hin zum zweifellos realen Blut des biblischen Opferkultes zurückführt. Mit anderen Worten hat für ihn die Metapher vom Blut einen nichtmetaphorischen Ursprung. Ohne auf die metapherntheoretischen Konsequenzen dieser Passage eingehen zu können, bleibt festzustellen, dass für Hess die jüdische und die christliche Religion nur phylogenetische Stationen auf dem Weg zum Kapitalismus sind, die in sich schon dessen Tendenzen tragen, das tierische Sein des Menschen zu verwirklichen und sein soziales Sein im Zeichen einer nur äußerlichen Gleichheit zu unterbinden. Dieses historische Kontinuum macht Hess am durchgängigen Motiv des Bluts fest. Die in der bürgerlichen Gesellschaft angelegte Gleichheit der Rechtspersonen ist für ihn bloß eine „Gleichheit des Todes“, die auf der „Freiheit des Raubthieres“ beruht, sich gegenseitig auf sublimierte aber totale Weise das Blut auszusaugen. Diese Denunziation der Eucharistie liegt dem antiken Autor Paulus natürlich fern, da es ihm gerade darum geht, diese erst zu institutionalisieren. Bemerkenswert ist jedoch, dass auch Badiou seine Paulus-Lektüre, die er ausdrücklich als Atheist unternimmt,68 mit einem ebenso ausdrücklich kapitalismuskritischen Interesse verbindet. Er begreift seine Annäherung an Paulus als Suche nach einer Alternative zur „leeren Universalität des Kapitals“69 einerseits und zu einer identitären Singularität, das heißt einem in letzter Konsequenz faschistoiden Nationalstaatenbegriff andererseits. Es geht also um eine Suche 68 Vgl. Badiou: Paulus, S. 8. 69 Ebd.

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nach einer Identifikationsgrundlage jenseits der Pole „Geld“ (Universalismus) und „Blut“ (Partikularismus). Paulus geht es gemäß Badiou darum, „den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Subjekt neu zu begründen“,70 was dazu führen muss, „eine universale Singularität zugleich gegen die etablierten Abstraktionen (damals die juridischen, heute die ökonomischen) und gegen den kommunitären oder partikularistischen Anspruch zur Geltung zu bringen.“71 Paulus interessiert auch mich (und ich unterstelle: auch Hess) nicht als Verkünder des Evangeliums und in seinem Bekenntnis der Auferstehung, sondern in seinem Bekenntnis eines wahrhaftigen (sei es eines transzendenten oder die Immanenz absolut bestätigenden) Ereignisses an sich, in dem ein endgültiger und unumkehrbarer Bruch enthalten ist und das zu einem vorher unvorstellbaren Universalismus führt. Dieser ermöglicht, dass ein singuläres Ereignis weder privilegiert noch vermittelt, sondern unmittelbar jedem Individuum zuteil wird und dieses Individuum zum Subjekt macht, sofern es sich zum Glauben an das Ereignis bekennt. „Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu.“ (Gal 3,28). Es kann also mit anderen Worten auch im Vergleich des Textes von Moses Hess mit dem von Paulus nicht bloß um eine ideenmäßige Übereinstimmung gehen. Vielmehr ist eine formale Übereinstimmung am Werk, die in der intertextuell durchgängigen Semantik angezeigt ist. Für Hess mag Paulus insofern wegweisend sein, als er ein Modell bereitstellt, wie eine Gemeinschaft zu fordern und zu entwerfen ist, die eine auf ein singuläres Ereignis bezogene Wahrheit bezeugt und darin Universalität beansprucht. Dieses Ereignis ist bei Hess im Jahr 1845 die kommende Revolution. Wie Paulus um diese Gemeinschaft zu behaupten zwischen den verstreuten und unter einander zerstrittenen Gemeinden im östlichen römischen Reich herumreiste und sich in Fraktionskämpfen engagierte, gleicht stark dem Aktivismus des Frühsozialisten Hess, der zu einem rastlosen Leben zwischen Deutschland, Paris und Brüssel gezwungen war. Wie Paulus stammt Hess aus einem traditionellen jüdischen Umfeld und bricht damit, ohne jedoch die Auseinandersetzung damit aufzugeben. Schwerer als biographische Parallelen wiegt aber, dass beide in ihren Schriften nur ein Unvordenkliches, dem Menschen wesentlich Zukommendes, das von beiden „Liebe“ genannt wird, für die Teilhabe an einer Wahrheit anerkennen. „[…] indem er das Wahre vom Gesetz losriss“72, ist Paulus somit nicht nur für Alain Badiou und eine Reihe weiterer zeitgenössischer Autoren als Denker einer „universalen Singularität“ interessant geworden, sondern bildet auch eine Folie für die Lektüre der Texte von Moses Hess. Das verdeutlicht ein letztes Zitat aus dem Geldwesen: 70 Ebd., S. 17. 71 Ebd., S. 28. 72 Ebd., S. 31.

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Das Geld ist das zum todten Buchstaben erstarrte, das Leben tödtende, wie der Buchstabe das zu todtem Gelde erstarrte, den Geist tödtende Verkehrsmittel ist. Die Erfindung des Geldes und Buchstabens wird den Phöniciern, demselben Volke zugeschrieben, welches auch den Judengott erfunden hat. […] Die Sprache ist das lebendige, geistreiche Verkehrsmittel, aber nicht die Buchstaben gelten. Das geistige Geld ist nur geltend, sofern es organisch mit dem Menschen verwachsen ist. Die Sprache kann organisch mit dem Menschen verwachsen sein, weil sie ein organisches gegliedertes Ganzes ist. Das Geld kann nicht mit dem Menschen organisch verwachsen sein […]. Das Geld gleicht daher nicht der Schrift als lebendiger Sprache, sondern der Schrift als todten Buchstaben. Der Buchstabe, das ist allerdings sehr bezeichnend, soll wie das Geld von den Erfindern des Molochs erfunden worden sein. Die Sprache ist aber weder hier, noch dort erfunden worden. (PhS 346-347) [Hervorhebungen im Original]

Es ist erstaunlich, wie sehr Hess einerseits der traditionellen abendländischen Abwertung der Schrift zugunsten des phonos, der Rede, verbunden ist, die sich von Platons Phaidros bis zu Ferdinand de Saussure zieht: „[…] die Schrift wurde als Eindringen der künstlichen Technik, als Einbruch einer ganz eigenen Spezies, als archetypische Gewalt denunziert; als Einfall des Draußen in das Drinnen, welcher die Innerlichkeit der Seele, die lebendige Selbstrepräsenz der Seele im wahren Logos und das bei sich selbst seienden gesprochenen Wortes verletzt.“73 Die „Schrift“ steht also auf der gleichen Seite wie das „Geld“. Andererseits ist es noch erstaunlicher, wie explizit die paulinische Entgegensetzung von Buchstaben/Fleisch und Sinn/ Geist aus dem Römerbrief aufgeboten wird. Geld, Schrift und „der Judengott“ sind, folgt man Hess, partikulare Entitäten und im Gegensatz zur Sprache, die ein unvordenkliches, substantielles Ganzes ist, sind sie wesentlich menschliche Erfindungen. Das Geld und die graphische Buchstabenschrift sind von den Phöniziern erfunden worden, denen in der biblischen Überlieferung das kultische Opfern von Kindern für den so genannten Moloch, einem Götzen, zugeschrieben wird.74 Damit ist erstens der äußerliche und gewaltsame Charakter von Geld und Buchstaben als „Verkehrsmittel“ angezeigt. Zweitens ist diese Stelle von einer latent antisemitischen Argumentation und Metaphorik durchdrungen. Nicht nur der Mammon, sondern auch Moloch, der Gott des Menschenopfers, gilt im 19. Jahrhundert als emblematische Schreckfigur, die auf Jüdisches hinweist. „It is no accident that Moloch, the blood cult, money, and egoism should all have their matrix in judaism.“75 Die Intentionen des Geldwesens sind gemäß Rose direkt politisch: „Hess was no doubt trying in this essay to rescue Jews from the Blood Libel allegations of the Damascus Affair by insisting that the Jewish interest was in metaphorical 73 Jacques Derrida: Grammatologie, übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a. M. 1983, S. 61. 74 Vgl. etwa: Lev 18, 21 oder Jer 32, 35. 75 Rose: Revolutionary Antisemitism, S. 315.

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blood rather than real Christian blood.“76 Der Rettungsversuch liegt jedoch noch auf einer anderen Ebene. Mit der Metapher vom vergossenen und geronnenen Blut der Gemeinschaft wird das Phantasma des gemeinsamen Körpers aufgerufen und dadurch auch ein in seiner Ganzheit kreisendes Blut vorgestellt. Hess’ utopisches Ziel muss nun sein, als Jude die trennenden Prinzipien von Geld, Buchstaben und Opferkult, als deren Embleme Mammon und Moloch stehen, hinter sich zu lassen, um gerade als Jude am ganzen Körper und am ungehinderten Fließen von dessen „Blut“ beteiligt zu sein. In seiner Polemik gegen das jüdische Verständnis der Erfüllung des Gesetzes als Weg zur Erlösung, geht Paulus von der Dichotomie von Geist und Fleisch aus. Diese Entgegensetzung hat nichts zu tun mit dem griechischen Dualismus von Seele und Körper. „Beide sind sie vielmehr Gedanken, die ihr Reales unter entgegen gesetztem Namen identifizieren.“77 Das christliche Subjekt wird in zwei Modalitäten, dem Fleisch und dem Geist, vom Ereignis der Auferstehung Christi affiziert. Dieses neue Subjekt überschreitet die Differenz von jüdischem Gesetzesdenken und griechischem Weisheitsdenken und macht sie ungültig; vom erlösenden Ereignis kann es keine Zeichen geben, und es kann nicht philosophisch bewiesen, sondern nur bekannt werden. Paulus organisiert dadurch „das Verschwinden der Herrschaftsformel“,78 ohne die weder die philosophische noch die prophetische Rede bestehen kann. Damit wendet er sich auch gegen den jüdischen Brauch der Beschneidung, in der der Bund des Volkes Israel mit Gott dargestellt ist. Die Beschneidung ist wohl nütz, wenn du das Gesetz hältst; hältst du das Gesetz aber nicht, so bist du aus einem Beschnittenen schon ein Unbeschnittener geworden. So nun der Unbeschnittene das Gesetz hält, meinst du nicht, daß da der Unbeschnittene werde für einen Beschnittenen gerechnet? Und wird also, der von Natur unbeschnitten ist und das Gesetz vollbringt, dich richten, der du unter dem Buchstaben und der Beschneidung bist und das Gesetz übertrittst. Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das nicht eine Beschneidung, die auswendig am Fleisch geschieht; sondern das ist ein Jude, der’s inwendig verborgen ist, und die Beschneidung des Herzens ist eine Beschneidung, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht. (Röm. 2, 25-29)

Die „Beschneidung des Herzens“, also die Einhaltung des Geistes des Gesetzes – und nicht dessen buchstäbliche Auslegung, die in der Brit Milah ihr Symbol findet – soll dem Subjekt in der universellen Gemeinschaft Christi zur Erlösung verhelfen. Wobei das Motiv der „Beschneidung des Herzens“ von Paulus eben-

76 Ebd. 77 Badiou: Paulus, S. 106. 78 Ebd., S. 111.

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falls der Hebräischen Bibel entnommen ist.79 Schon im prophetischen Schriftverständnis wird damit eine Erneuerung und eine gewisse Spiritualisierung des Bunds der Beschneidung ausgedrückt. Paulus’ Einstellung gegenüber dem Gesetz, ja selbst seine Verwendung des griechischen Wortes nomos für das hebräische Torah, ist nicht eindeutig und in der Forschung alles andere als geklärt.80 Das im Judentum formulierte Gesetz ist nicht einfach abzuschaffen, sondern im Glauben aufzuheben. So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Oder ist Gott allein der Juden Gott? Ist er nicht auch der Heiden Gott? Ja freilich, auch der Heiden Gott. Sintemal es ist ein einiger Gott, der da gerecht macht die Beschnittenen aus dem Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben. (Röm 3, 28-30)

Erst aus diesem Universalismus des Glaubens heraus wird das letztendliche InEinem-Sein von Tod und Leben verständlich. Tod und Leben sind im christlichen Subjekt aufgehoben, das im Modus des Geistes und im Modus des Fleisches besteht. So heißt es im achten Kapitel des Römerbriefs: Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede. Denn fleischlich gesinnt sein ist wie eine Feindschaft wider Gott, sintemal das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist; denn es vermag’s auch nicht. Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, so anders Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. So nun aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. So nun der Geist des, der Jesum von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird auch derselbe, der Christum von den Toten auferweckt hat, eure sterblichen Leiber lebendig machen um deswillen, daß sein Geist in euch wohnt. (Röm. 8, 6-11)

Auf eine oberflächliche Weise und vielleicht ganz ohne sich dessen bewusst zu sein, bezieht sich Hess auf den Römerbrief, wenn er von der Schrift als toten Buchstaben im Gegensatz zur lebendigen Sprache spricht. Steht für Paulus die Gemeinschaft im Zeichen des Glaubens an das Blut Christi,81 in dem das Fleisch des Einzelnen seinen Anteil am ewigen Leib hat, so ist für Hess die organische Gemeinschaft gerade dadurch ausgezeichnet, dass der artifizielle und mortifizierende Kreislauf des Geldes zugunsten eines wieder herzustellenden natürlichen Blutkreislaufs abgeschafft werden muss. Hess’ Vorstellungen und Ziele mögen dem Gedanken der Auferstehung diametral entgegengesetzt sein, mit seiner Polemik gegen jegliche Art der Vermittlung und mit seiner Forderung nach „Liebe“ jenseits des Gesetzes ist er jedoch weder ein „Prophet“, wie 79 Hes 16, 30; Jer 4, 4; Jer 9, 25. 80 Vgl. E.P. Sanders: Paulus. Eine Einführung, aus dem Englischen von Ekkehard Schöller, Stuttgart 1995, S. 110–131. 81 Vgl. Kor. 10, 16.

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Avineri meint, noch ein „Philosoph“ des Sozialismus, als der er in den Philosophischen und Sozialistischen Schriften präsentiert wird, sondern im Sinn von Paulus dessen unermüdlicher Apostel. „Der Philosoph“, so Badiou, „kennt die ewigen Wahrheiten, der Prophet kennt den univoken Sinn dessen, was kommen wird (selbst wenn er ihn nur figural und in Zeichen freilegt). Der Apostel aber, der eine unerhörte Möglichkeit, die selbst von einer ereignishaften Gnade abhängt, verkündet, weiß eigentlich nichts.“82 Die affirmative Setzung der „Liebe“ als das totale Nicht-mehr-Wissen jenseits aller diskursiven Felder, als das Aufgeben der individuellen Autonomie zugunsten einer universellen Gemeinschaft unterscheidet sowohl Paulus als auch seinen jüdischen Nachfahren Hess vom griechischen Denken einerseits und vom prophetischen Denken des alten Israels andererseits. Das Gebot der Nächstenliebe aber, welches bei Hess wie bei Paulus in destillierter Form als Basis der Gemeinschaft genommen wird, relativiert die Abwertung des Judentums, die Hess in seiner Schrift Über das Geldwesen vornimmt83 und weist zurück auf seine frühere Heilige Geschichte der Menschheit, die gerade das antike Judentum als Geburtsstätte der universellen Idee der Nächstenliebe feiert.84 Aber noch in einem anderen Sinn bleibt der Hess des Geldwesens an sein Judentum zurückgebunden. Nicht erst Giorgio Agamben hat in seinem Buch Die Zeit, die bleibt, das streckenweise explizit als Kritik an Badiou zu lesen ist,85 auf das aus den biblischen/ jüdischen Propheten abgeleitete Konzept von Paulus’ Messianismus hingewiesen. Im paulinischen Gedanken der Erlösung in Christi würde es nicht um die Alternative zwischen Auflösung oder Beibehaltung des Gesetzes gehen, sondern um einen diese Dichotomie übersteigenden „Rest“, der „die vom Gesetz definierten Teilungen teilt.“86 Ohne das hier weiter ausführen zu können, ist damit ein Denken angedeutet, das die Figur des auserwählten Volkes als zurückkehrender Rest (gemäß Jesaja87) in die Figur eines gegenwärtig sich auftu82 Badiou: Paulus, S. 86. 83 Dies geschieht auf der semantischen wie auf der inhaltlichen Ebene. Erstens verwendet Hess sehr oft das Wort „Schacher“, welches wie schon ausgeführt antisemitisch besetzt ist. Zweitens sieht er den „welthistorischen Beruf“ des Judentums als Vorläufer des Christentums darin „das Raubthier aus der Menschheit zu entwickeln [...].“ PhS 345. 84 Vgl. Hess: Ausgewählte Schriften, S. 80. 85 Vgl. auch die erhellende Studie von Dominik Finkelde: Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou-Agamben-Žižek-Santner, Wien 2007, S, 41–48, 86 Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, aus dem Italienischen von Davide Giuriato, Frankfurt a. M. 2006, S. 62. 87 Jes 10, 21-22: „Der Überrest kehrt zurück, der Überrest Jaakob’s zum starken Gotte. Denn ist auch dein Volk Jsrael wie der Sand des Meeres, kehrt nur davon der Rest zurück.“ (nach Zunz).

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enden Restes, einer Möglichkeit des Rests transformiert. Damit nimmt Agamben für Paulus an, dass dieser jenseits der Dichotomie von Partikularismus und Universalismus „die Unmöglichkeit für den Juden und den Griechen mit sich selbst identisch zu sein“88 postuliert. „Die messianische Berufung trennt jede klesis [Berufung, C.B.] von sich selbst, sie erzeugt in ihr eine Spannung zu sich selbst, ohne ihr eine Identität zu geben: Jude als ob nicht Jude, Grieche als ob nicht Grieche.“89 Die paulinischen Briefe müssen dem zu folge nicht als Abkehr sondern als unabschließbare, ständig sich aktualisierende Auseinandersetzung mit dem Judentum ihres Autors gelesen werden. Darauf hat teilweise schon Schalom Ben-Chorin aufmerksam gemacht, indem er herausgestellt hat, wie sich die paulinischen Kategorien Glaube, Hoffnung und Liebe mit dem Judentum in einem dialektischen Verhältnis wüssten.90 Grieche und Jude, Erlösung und Unerlöstheit, bleiben in radikalem Gegensatz virtuell untrennbar verbunden. Damit ist angedeutet, inwiefern für Moses Hess das paulinische Modell weit mehr bietet als für den Frühsozialismus der christlichen Saint-Simonisten. Es stellt eine modellhafte Struktur zur Verfügung, welche ihm erlaubt, aus dem Judentum auszutreten und dennoch in ihm zu bleiben. Im Brief an Heine von 1838 schreibt Hess, er stünde „auf einem uralten ererbten Throne durch Gottes Gnade.“ Dieser Thron überblickt ein ganz anderes, neues Königreich, welches die ganze Menschheit umfasst. Auf welcher Seite der Grenze sich der Thron befindet, ist schwer zu bestimmen. Schon bevor er sich explizit dem Zionismus verschreibt, lesen sich Hess’ Aussagen über Nationalität/Partikularität und transnationalem „Kosmopolitismus“ ambivalent, wie eine kurze Notiz aus der „Kölnischen Zeitung“ vom 14. Oktober 1843 zu einer Preisfrage der Akademie von Macon, „welche Ursachen dem Nationalhasse zu Grunde liegen“ (PhS 251), belegt: Die Nationalität ist die Individualität eines Volkes. Die Individualität aber ist die Wirklichkeit, und so wenig die Menschheit ohne einzelne Individuen, ebenso so wenig ist sie ohne einzelne, bestimmte Nationen und Volksstämme wirklich. Die Menschheit kann sich, wie jedes Wesen, nicht unmittelbar, sondern nur durch das individuelle Medium verwirklichen. Aber in der Wirklichkeit ist bisher nur zu oft die Wahrheit, im Individuum sein Wesen, verloren gegangen; man hat über dem Mittel den Zweck vergessen. (Ebd.) 88 Agamben: Die Zeit, S. 65. 89 Ebd. 90 1. Der Glaube, dass Gott, der seinem Volk die Thorah gegeben hat, sein Volk erlösen wird. 2. Die Hoffnung auf die Ankunft (oder Wiederkunft) eines Messias. 3. Die Liebe Gottes zu den Menschen, die in seinem Ebenbild geschaffen sind, von ihm abfallen und wieder zu ihm zurückkehren können. Vgl. Schalom Ben-Chorin: Paulus. Der Völkerapostel aus jüdischer Sicht, München 1970, S. 20.

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Hess sieht „das Problem unserer Zeit“ darin, „den Widerspruch aufzulösen, mit anderen Worten die Identität des Menschen mit sich selbst, die Einheit seiner Gattung wiederherzustellen, ohne die Verschiedenheit der Arten, in welchen sich die Gattung auswirkt, zu verletzen.“ (ebd.). Ihre „Wirklichkeit“ erlangt also die Abstraktion der „Menschheit“ erst in der Nationalität oder im „Volksstamm“ und dieser bekommt sein Mit-sich-gleich-Sein, seine Identität, erst im Aufgehobensein in der „Gattung“. Hess ruft nach einem Gesetz, welche die ökonomische „Concurrenz“ der Individuen und Nationen durch Sicherstellung der Distributionsgerechtigkeit beendet. Darin sieht er die Auflösung des Widerspruchs „von Individuum und Gattung“. Die Auflösung wäre jedoch nicht einfacher Universalismus, sondern bezeichnete einen Zustand der Unentschiedenheit zwischen der „Wirklichkeit“ der Nation und der „Wahrheit“ ihres universalen Zusammenhangs. Ebenso falsch wäre es, die einzelne Nation partikularistisch zu verabsolutieren, wie diese durch eine absolut gesetzte „Wahrheit“ zu „verletzen“. Der universale Zweck heiligt nicht die Mittel; das Partikulare bleibt unverletzbar. Das Beharren auf dieser ambivalenten Position war für Hess keine abstrakte Überlegung, sondern Ausdruck seiner spezifisch jüdischen Erfahrung, sich als moderner und emanzipierter Jude nie ganz assimilieren zu können.91 Somit kann man Hess mit Daniel Boyarins Titel für seine Paulus-Lektüren einen „radikalen Juden“ nennen. „My fundamental idea“, so Boyarin, „is that what motivated Paul ultimately was a profound concern for the one-ness of humanity. […] Despite this powerful, nearly irresistible concern for universal ‚Man‘ and critique of ‚Judaism‘, Paul nevertheless remained convinced that the Hebrew scriptures contained God’s revelation and the Jews had been the at least the vehicle for the communication of this revelation.“92 Die Antwort auf die soziokulturelle Frage, die Paulus wie noch Moses Hess beschäftigt, nämlich wie man unverletzbar Jude bleiben und gleichzeitig universalistischer Mensch werden kann, sieht Boyarin in Paulus’ dualer Struktur Christi und der gesamten Realität angelegt. Geist und Fleisch als Modi des In-der-Welt-Seins korrespondieren mit einer zweifachen Aufgehobenheit: „He could preserve both the significance of Israel and the Book, as well as include everyone in the People of God.“93 – Die Radikalität Moses Hess’ liegt weniger an seiner kommunistischen Gesinnung, sondern in der Weise begründet, mit der er sein Judentum in diese aufnehmen konnte. „Ein radikaler Jude“ meint beides, die unbedingte Universalität des Kommunismus wie das darin enthaltene, unbedingte Festhalten am partikularen Jüdisch-Sein. „Blut“ kann in dieser Spannung zweierlei bedeuten. Als vergossenes und geronnenes ist es das Zeichen einer verkehrten Welt, in der die Widersprüche und 91 Vgl. Wistrich: Socialism and the Jews, S. 35–44. 92 Boyarin: A radical Jew, S. 52. 93 Ebd., S. 53.

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die Konkurrenz zwischen den Individualitäten nicht aufgelöst werden können und das Einzelne wie das Ganze verletzt werden. Unausgesprochen steht hinter dieser Bildlichkeit aber die Vorstellung des geschlossenen Blutkreislaufs, der perfekt ausgleichend die einzelnen, heterogenen Teile eines organisch verwachsenen Ganzen versorgt. 1.3  „Blut“ und Organisation

Dieser optimistische Horizont ist spätestens 1862 mit dem Erscheinen von Rom und Jerusalem nicht mehr sichtbar. Die Formulierung, dass das Judentum „mit den Kulturvölkern, in deren Mitte es lebt, mit welchen es aber, trotz eines zweitausendjährigen Zusammenlebens und Strebens, nicht organisch verwachsen kann“,94 wie Moses Hess eines seiner Axiome fasst, zeugt zwar von einer seit dem Geldwesen durchgängigen Bildlichkeit – jedoch mit einer entschieden verschobenen Optik. Diese Verschiebung geht einher mit dem Risorgimento des jüdischen Volkes, der Entstehung jener heterogenen politischen, sozialen und philosophischen Bewegungen, die man unter dem Namen Zionismus zusammenfasst, und als eines deren ersten literarischen Werke Rom und Jerusalem gelten kann. Diesem ebenso umfangreichen wie labyrinthischen Buch, das teilweise aus fiktiven Briefen, teilweise aus unübersichtlichen Anmerkungen besteht, kann ich hier unmöglich in toto gerecht werden, sondern muss mich mit einigen Aspekten begnügen, die im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung wichtig sind. Wenn im letzten Abschnitt die Rede vom Blut in einem traditionell als sozialistisch verstandenen Text untersucht wurde und sich erwiesen hat, dass auch dort das „Blut“ nicht bloß Element der antikapitalistischen Argumentation, sondern Ausdruck spezifisch jüdischer Erfahrung in der Moderne ist, dann werden jetzt traditionell als frühzionistisch gelesene Texte hinsichtlich der Rede vom Blut auf ihre Konzeption von Gemeinschaft hin gelesen. Die mit der Überzeugung einer nationalen Wiedervereinigung in Palästina verbundene Zuwendung zu jüdischer Religion und zu Jüdischkeit in weitestem Sinn nennt Hess eine „Rückkehr nach Hause“.95 Inwieweit diese aber nicht bruchlos, sondern „a return to an identity in conflict“96 war, wurde in der Sekundärliteratur bereits deutlich gemacht. Sich im säkularen Europa des 19.  Jahrhunderts im nationalen Sinn als Jude zu bekennen, zumal als sozia94 Moses Hess: Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätenfrage. Briefe und Noten, in: ders.: Ausgewählte Schriften, ausgewählt und eingeleitet von Horst Lademacher, Köln 1962, S. 221– 320, hier S. 227. [Im Folgenden zitiert als AS und Seitenzahl in Klammern.] 95 Ebd. 96 Ken Koltun-Fromm: Moses Hess and Modern Jewish Identity, Bloomington / Indianapolis 2001, S. 46.

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listischer Jude, bringt Probleme und Konflikte mit sich, die nicht so einfach übergangen werden können. Hess’ „Rückkehr nach Hause“ kann heute nicht biographistisch gelesen werden, sondern als textuelle Strategie, diesen unlösbaren Konflikten zu begegnen, indem sie in ein kohärentes Narrativ eingefasst werden. Hess’ Erzählung der Rückkehr bildet auf narrative Weise eine feste jüdische Identität. Denn: „Hess’ biography is the story of Zionism itself, the existential movement of return to land, Judaism, and Jewish identity.“97 Das Narrativ der Rückkehr begradigt den tatsächlichen Lebensweg und stilisiert diesen als Modell für Nachfolger. Als Leser darf man nicht in die von Hess rhetorisch aufwändig angelegte Falle tappen, Rom und Jerusalem bloß als biographisches Dokument eines leidvollen Umkehrprozesses hin zu den jüdischen Wurzeln zu lesen. Obwohl Hess’ persönliches Engagement für die nationale jüdische Sache nicht bezweifelt werden kann, sollte sich jeder Interpret seiner Schriften stets des narrativ erzeugten Charakters dieser temps retrouvé und des darin angestrebten typologischen Gehalts bewusst sein. So muss gerade Hess’ (Wieder-)Entdeckung der Familie als Basis und als Grund nicht nur des Judentums selbst, sondern der jüdischen Spiritualität und der dem Judentum inhärenten Potentialität, in letzter Konsequenz über das Judentum hinauszutreten, als eine melancholische Wunscherfüllungsphantasie und als politischen Aufruf an die assimilierten, modernen Juden seiner Zeit gelesen werden. Im Text selbst wird diese Entdeckung als lange verdrängte und nun manifest gewordene Erkenntnis dargestellt.98 Hess selber war mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet und hatte keine Kinder. Als Alternative zum „Geld“ als vermittelndem Faktor der Gesellschaft erscheint hier die Familie und – damit die Allgemeinheit der „Liebe“ im Geldwesen präzisierend – die Familienliebe. An seine fiktive Briefpartnerin schreibt er: Was in mir den Entschluß zur Reife brachte, für die nationale Wiedergeburt meines Volkes aufzutreten, ist Ihr unendlicher Seelenschmerz über den Verlust einer teuren Hingeschiedenen. Solcher Liebe, die gleich der Mutterliebe aus dem Blute stammt, und doch so rein wie der Geist Gottes ist, einer so unbegrenzten Familienliebe ist nur das jüdische Herz fähig. Und diese Liebe ist der natürliche Born einer intellektualen Liebe Gottes, welche nach Spinoza das Höchste ist, wozu es der Geist überhaupt bringen kann. Aus der unversiegbaren Quelle der jüdischen Familienliebe stammen die Erlöser des Menschengeschlechts. „Durch Dich“, sagt in seiner Selbstoffenbarung der göttliche Genius der jüdischen Familie, „werden alle Familien gesegnet.“ Jeder Jude hat den Stoff zu einem Messias, jede Jüdin hat den zu einer mater dolorosa in sich. (AS 227) 97 Ebd., S. 57. 98 „Ein Gedanke, den ich für immer in der Brust erstickt zu haben glaubte, steht wieder lebendig vor mir: Der Gedanke an meine Nationalität, unzertrennlich vom Erbteil meiner Väter [...]. Seit Jahren schon pochte dieser lebendig Begrabene in der verschlossenen Brust und verlangte einen Ausweg.“ (AS 227).

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Wie Biale lakonisch bemerkt, wäre Spinoza erstaunt gewesen, den Schlussstein seiner Ethik, auf die jüdische Familialität zurückgeführt zu sehen.99 Hess benutzt „Spinoza“ denn auch bloß als Chiffre für ein Verhältnis von Immanenz und Transzendenz, in der Seele und Körper nicht dualistisch getrennt sind, sondern auf einander verweisen. In den familiären Banden wird eine Liebe gehegt, die ihre Herkunft „aus dem Blute“, also aus der biologischen Verwandtschaft oder dem „Geschlecht“, übersteigt und zu einer Liebe zum ganzen „Menschengeschlecht“ expandiert wird. „Blut“ steht hier nicht mehr wie im Geldwesen für eine verletzte Gemeinschaft, sondern zeigt an, wie für Hess das Judentum gerade wegen seiner Organisation, die die Gemeinschaft und den Einzelnen in Liebe und in der daraus hervorgehenden Idee des Messianismus verbindet, als Modell für die Gemeinschaft der gesamten Menscheit dient. Der Messiasgedanke ist als Transzendenzvorstellung nicht etwa nur das Produkt einer mentalen oder kulturellen Anstrengung, nicht nur an die Sphäre der Ideen gebunden, sondern muss organisch aus der immanenten jüdischen Existenz hervorwachsen, wie sich aus dem vierten Brief ergibt: Sie sehen hier wieder deutlich die Quelle des jüdischen Glaubens an Unsterblichkeit; er ist das Produkt unserer Familienliebe. Unser Unsterblichkeitsglaube reicht in die Vergangenheit hinein bis zu den Patriarchen, in die Zukunft bis zum Messiasreich. – Aus der jüdischen Familie ist der lebendige Glaube an die Kontinuität des Geistes in der Geschichte organisch hervorgewachsen. Die Blüte des Judentums, deren Wurzel die jüdische Familienliebe und deren Stamm der jüdische Patriotismus ist, diese herrlichste Blume unseres nationalen Geschichtskultus, ist zum Glauben an eine atomistische Unsterblichkeit der isolierten Seele zusammengeschrumpft und wie welkes Laub verdorrt, als sie von ihrer Wurzel und ihrem Stamme abgefallen war. Nur in der jüdischen Familie hat sie sich noch lebendig erhalten […]. (AS 238)

Aus dem „Blute“ der Familie wächst die „Blüte“ des Judentums, die Idee der kollektiven Erlösung in der die Geschichte transzendierenden messianischen Zeit. Diese Idee sei im Christentum isoliert und individualisiert worden. Und: „ [N]ur in der jüdischen Familie“ ist die „Kontinuität des Geistes“ noch „lebendig“, was heißen soll, dass im Judentum die Idee der Unsterblichkeit mit ihrer organischen Basis verwachsen ist. Darum hat nach einem der bemerkenswertesten Sätze des ganzen Buches jeder einzelne Jude „den Stoff zu einem Messias“: Für Hess ist die durch den unabweisbaren Antisemitismus (auch seiner sozialistischen Mitstreiter100 vor allem in Deutschland) stetig erinnerte Tatsache „dass ich einem unglücklichen, verleumdeten, von aller Welt verlassenen, in allen 99 Biale schreibt: „Spinoza might have been surprised to learn that his amor dei intellectualis derived directly from the Jewish family, but, for Hess, this association allowed him to marry his love for Spinoza with Jewish nationalism.“, Biale: Blood and Belief, S. 179. 100 Vgl. den fünften Brief, AS 240–244.

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Ländern zerstreuten, aber nicht getöteten Volk angehöre“ (AS 240), also das Bewusstsein im Exil zu sein, der Grund für die unvergleichliche Intensität der Familienliebe. Weil die Ungerechtigkeit und der Hass der Welt mit dem eigenen „Blut“ erlebt werden, sind Juden bereit, dieses „Blut“ zu transzendieren und es als Messias zu dem der ganzen Menschen-Familie zu machen. Weil Juden Ungerechtigkeit erfahren, wollen sie, folgt man Hess, die Gerechtigkeit universalisieren. Weil Juden im Exil sind, wollen sie die ganze Welt zur Heimat machen. Dafür sind sie bereit, Opfer zu bringen, auch wenn das Opfer das eigene Blut sein sollte. Das partikulare jüdische „Blut“ ist gleichermaßen der Stoff, aus dem die Utopien des Universalen gemacht sind. Der Verweis auf die an Abraham ergangene Gottesrede101 wird so gedeutet, dass das Judentum – oder besser die durch die Zeit und in ganz Europa physisch existierenden Juden – zum Träger einer der ganzen Menschheit zukommenden Erlösung erscheinen. Dieser Gedanke verbindet, wie im vierten Kapitel dieser Arbeit deutlich wird, überraschend Moses Hess mit Franz Rosenzweig. „Blut“ ist bei diesen beiden so unterschiedlichen Autoren verbunden mit einer metatemporalen, dem Judentum singulär zukommenden Organisation, die jedoch in eigenartig antithetischer Hinwendung essentiell den christlichen Völkern zuwächst und sich so, um ihre inhärente Bestimmung zu erreichen, transzendiert. Die Allegorie für diese Struktur ist die Blume, welche aus Wurzeln (jüdischer Familie), Stiel oder Stamm (jüdischem Patriotismus) und Blüte (Messianismus) besteht. Familialität und Jüdische Identität werden bei Moses Hess im zentralen und heute – wenigstens in der deutschen Sprache – skandalisierten Begriff der Rasse aufgehoben. „Rasse“, „Natur“, „Organisation“ und „Nationalität“ sind bei Hess beinahe synonyme Kontingenzformeln – um systemtheoretisch zu sprechen –, die Authentizität und Identität garantieren sollen. John M. Efron hat gezeigt, wie die Wissenschaft von der „Rasse“ im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert keineswegs nur Rassenantisemiten beschäftigt, sondern ein äußerst anziehendes Feld für deutsche Juden bildet.102 Jüdische Mediziner hofften, in der zeitgenössischen Sprache und in der aktuellen anthropologischen Methodologie einen Weg zu finden, das jüdische Volk wissenschaftlich neu zu definieren und sich so auf rationale Weise – gleichgültig ob sie Zionisten waren oder einem bürgerlichen Selbstverständnis verpflichtet – gegenüber antisemitischen Wissenschaftlern zu verteidigen. „Their reliance on statistics, measurement, and quantification of various aspects of Jewish existence was an attempt to find a rational, scientific, and empirical

101 Gen 12. 102 John M. Efron: Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Siècle Europe, New Haven / London 1994.

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answer to the Jewish Question.“103 Die „Jüdische Frage“ auf eine Rassenfrage im apologetischen Sinn zurückgeführt hat einige Jahrzehnte zuvor schon Moses Hess. Freilich geht es Hess nicht nur um Rationalität. Die Rassentheorie in Rom und Jerusalem soll vielmehr das Gefühl der organischen Zugehörigkeit, das sich in der Familienliebe ausdrückt, aufnehmen und weiterführen, wobei er diesen Prozess, wie ich noch ausführen werde, durchaus naturwissenschaftlich verbürgt weiß.104 Im Bild der Pflanze, welches Hess’ Metaphysik der Rasse konzeptualisiert, entspricht der Wurzel die Familienliebe (die Liebe zur Mutter), der Stamm versinnbildlicht den Patriotismus (also die Liebe zum Vater und zum Vaterland) und die Blüte den Gedanken der Unsterblichkeit des Volkes. Hess war ein Vertreter eines so genannten Polygenismus, er ging davon aus, dass die Menschheit nicht von einer „Urrasse“, sondern von mehreren ursprünglichen „Rassen“ stammt, die sich im ständigen Kampf befinden.105 In krassem Gegensatz zu seinen sozialistischen Mitstreitern macht er diesen Antagonismus zur Basis der menschlich-historischen Entwicklung. Im „Epilog“ zu Rom und Jerusalem heißt es: „Die ganze bisherige Geschichte bewegt sich in Rassen- und Klassenkämpfen. Der Rassenkampf ist das Ursprüngliche, der Klassenkampf das Sekundäre.“ (AS 317). Hess war jedoch kein Anhänger einer rassischen Überlegenheit. Aus einem angedeuteten letzten Kampf „kann keine neue Rassenherrschaft, muss die Gleichberechtigung aller welthistorischen Völker hervorgehen“ (AS 318). Hess hängt nicht einem Rassismus an, sondern vertritt ein Rassedenken, das trotz angenommener biologischer Differenz eine gemeinsame Würde aller Menschen proklamiert, was ihn zum Vorläufer einer im so genannten Kulturzionismus sehr häufigen Ideologie macht.106 Jede „Rasse“ hat nach dieser Ideologie ihre spezifische, „welthistorische“ Aufgabe. Das geschichtsphilosophische Konzept der „welthistorischen Völker“, das Hess in seinen Grundgedanken von Hegel übernimmt, erklärt Hess im neunten Brief, indem er auf die traditionelle Körpermetaphorik zurückgreift. Noch einmal entwirft er dort die einzigartige Rolle des jüdischen Volkes in der Organisation der Menschheit: Das jüdische Volk ist bis zur französischen Revolution das einzige Volk der Welt gewesen, welches zugleich einen nationalen und humanitären Kultus hatte. Durch das Judentum ist die Geschichte der Menschheit eine heilige Geschichte geworden, ich meine ein einheitlicher, organischer Entwicklungsprozeß, der mit der Familienliebe beginnend, nicht eher vollendet ist, bis die ganze Menschheit eine einzige Familie sein wird, deren Glieder ebenso solidarisch durch den heiligen Geist, den schöpferi103 104 105 106

Ebd., S. 9–10. Vgl. Koltun-Fromm: Moses Hess, S. 68. Vgl. ebd., S. 79–87. Vgl. Mark H. Gelber: „Deutsche Rassentheorie und Kulturzionismus“, in: Andrea Schatz / Christian Wiese (Hg.): Janusfiguren. „Jüdische Heimstätte“, Exil und Nation im deutschen Zionismus, Berlin 2006, S. 103–124.

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schen Genius der Geschichte, sein werden wie die verschiedenen Organe eines lebendigen Körpers es mittelst einer ebenso heiligen, schöpferischen Naturkraft sind. (AS 264–265)

Auch die Geschichte ist ein organischer Prozess, analog zum Wachsen einer Pflanze. Die Kräfte, die sie antreiben sind „heilig“ und „schöpferisch“, weil sie natürlich sind: Der Bezug auf die „Natur“, wie Hess sie fasst, vereint die vermeintliche Wissenschaftlichkeit seiner Ansicht und damit ihre Rationalität, mit einem unabweisbaren und unhintergehbaren Gefühl der Zugehörigkeit, das sich nie im Allgemeinen, sondern immer bloß im Partikularen manifestieren kann. Aber die Menschheit ist als selbstständige Lebenssphäre, als die Sphäre des sozialen Lebens, noch in der Entwicklung begriffen. Wir finden hier eine ursprüngliche Verschiedenheit von Volkstypen, die zuerst wie im Pflanzenreich, nur nebeneinander existierten, die sich sodann, nach dem Plane der Tierwelt, gegenseitig bekämpften und absorbierten, um erst schließlich wieder frei zu werden, friedlich nebeneinander und solidarisch füreinander zu leben, ohne deshalb ihre typischen Unterschiede aufzugeben. (AS 265)

Hess wehrt sich gegen den humanistisch-aufklärerischen Gedanken von der „Einartigkeit aller Menschen“, und spricht demgegenüber von verschiedenen Arten, die idealerweise jedoch nicht gegeneinander kämpfen, sondern jede nach ihrer Façon107 in der Menschheit organisiert sind, wobei sich Eigenarten und Organisation nach Naturgesetzen richten, die der „ursprünglichen Volkskraft“ gleichkommen (AS 266). Die Menschheit ist wie das universale, kosmische Leben, welches erst in ihr zum Abschluss gelangt, und wie das individuelle, mikroskopische Leben, in welchem alle Blüten und Früchte des Geistes erst zum Dasein kommen, ein lebendiger Organismus, von dem die ursprünglichen Rassen- und Volksstämme die Organe und Glieder sind. – In einem Organismus können gewisse Teile, die während der embryonischen Entwicklung hervorragten, in dem Maße wieder zurücktreten und schwinden, in dem der Organismus seiner Vollendung entgegenschreitet. Andre Organe, die früher ein unscheinbares, kümmerliches Dasein hatten, erlangen erst Einfluss und Bedeutung, nachdem der Organismus zur Reife gelangt ist. (AS 266)

Zu diesen späten Völkern gehört nach Hess auch das jüdische, das die antike Welt gleich einem greisen Embryo überlebt „um gleichzeitig mit deren geistigen Wiedergeburt sich selbst zu verjüngen.“ (AS 266).

107 Dies ist eine Vorstellung, die die zionistische Utopie als einen vermeintlich menschenfreundlichen Nationalismus immer begleitete. In Herzls Roman Altneuland ist so auch das Zusammenleben in der „neuen Gesellschaft“ Palästinas organisiert: „Friedrich sprach nachdenklich: ,Ich verstehe. Hier in Ihrer neuen Gesellschaft kann jeder nach seiner Fasson leben und selig werden.‘ Sarah erwiderte: ,So ist es, Herr Doktor! Jeder und Jede.‘“ Theodor Herzl: Altneuland. Roman, Wien 1933 (Zehnte Auflage), S. 107.

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Heute, nachdem der geistige Verjüngungsprozess der welthistorischen Rassen vollendet ist und jedes Volk wieder seinen speziellen Beruf im Organismus der Menschheit zu erfüllen hat, fangen wir an die Bedeutung dieser verschiedenen Organe der Menschheit zu begreifen. (AS 266)

Hegels Konzept der welthistorischen Völker folgend weist Hess den jeweiligen Völkern ihre Funktion zu, ihren als natürlich verstandenen „Beruf“. Während die Engländer das „Ernährungssystem“ der Menschheit antreiben, sollen die Franzosen den allgemeinen Bewegungsapparat betreiben. Den Deutschen als Nation des Idealismus kommt das Denken zu. Amerika wird als eine Art Speicher für Zellen gedacht, die alles andere enthalten, es soll einem Organ der „allgemeinen Keimflüssigkeit“ gleichen. Hess interessiert sich nicht für die Frage, welchem Organ zum Beispiel die Russen oder sogar die Japaner entsprechen. Die einen sind ihm wohl bloß eine marginale Erscheinung der europäischen Geschichte und die anderen sind für ihn gar kein „welthistorisches Volk“. Auch sonst bleibt die Körperallegorie blass, es gibt weder ein Volk für die Niere oder die Leber, noch eines für die Lunge. Hess geht es nur darum, dem „jüdischen Volk“ seinen organischen Platz und seine damit verbundene Funktion zuzuweisen. Das jüdische Volk […] war und ist heute noch das Organ des lebendigen Schöpfers in der Geschichte der Welt, das Organ der einheitlichen und heiligenden Liebe. – Diesem Organe ist das Denkorgan verwandt, aber entgegengesetzt. Beide schöpfen aus demselben unendlichen Lebensborn. Während aber das religiöse Genie das Unendliche individualisiert, entkleidet der philosophische und wissenschaftliche Gedanke das Lebendige aller seiner individuellen und subjektiven Formen. (AS 267) [Hervorhebungen im Original]

Die Juden und die Deutschen sind gemäß einem wohl Heine geschuldeten Gedanken,108 Figuren, die einander spiegelsymmetrisch gegenüber liegen. Während im Geldwesen die „Liebe“ aus einem universalistischen Impuls herrührt, der den Organismus der befreiten Menschheit erst zum Ziel hat, stammt sie hier organisch aus dem Judentum, das ontologisch mit der Liebe als deren Organ verbunden ist. Durch die „Liebe“, die jedoch nicht frei schwebend, sondern mit dem Grund des Volks – als dessen wesentlicher Ausdruck – ver108 „Es ist in der That auffallend, welche innige Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Völkern der Sittlichkeit, den Juden und Germanen, herrscht. Diese Wahlverwandtschaft entstand nicht auf historischem Wege, weil etwa die große Familien-Chronik der Juden, die Bibel, der ganzen germanischen Welt als Erziehungsbuch diente, auch nicht weil Juden und Germanen von früh an die unerbittlichsten Feinde der Römer, und also natürliche Bundesgenossen waren: sie hat einen tiefern Grund, und beide Völker sind sich ursprünglich so ähnlich, daß man das ehemalige Palestina für ein orientalisches Deutschland ansehen könnte, wie man das heutige Deutschland für die Heimath des heiligen Wortes, für den Mutterboden des Prophetenthums, für die Burg der reinen Geistheit halten sollte.“ (DHA 10, 125).

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bunden ist, wird „das Unendliche individualisiert“. Das heißt, das Abstrakte der Existenz – das Sein, sei es biologisch-physisch oder ideell gedacht – bekommt ein menschliches Antlitz. Gerade in diesem Individuationsprozess liegt paradoxerweise das Vereinheitlichende der „Liebe“. Denn erst die aus der Vereinzelung in das Ganze des organischen Zusammenhangs transzendierten Partikularitäten – Völker oder Individuen – können sich frei fühlen, das heißt ihrem Wesen gemäß platziert, und die anderen als Andere ernst nehmen und dadurch anerkennen. Wie kann die ökonomische Struktur der Beziehungen von Dingen und Menschen und von Menschen zueinander überwunden werden, beziehungsweise, was tritt an Stelle der universalen Kontingenz? Dies war die Ausgangsfrage, die Hess unter anderem von Heine übernimmt. Für Heine ist die Antwort zweifellos die Poesie, der er eine zwar elitäre, doch uneintauschbare Kraft jenseits von Funktionalität von etwas zutraut. Hess benennt im Geldwesen die universelle „Liebe“ als die eigentliche, das „Geld“ als Wesentliches ersetzende und gemeinschaftsstiftende, das heißt immer: organisierende Kraft. In Rom und Jerusalem wird das jedoch skeptisch beurteilt; die neuen Instanzen heißen „Nationalität“ und „Natur“: In der Tat, das Judentum hat als Nationalität eine Naturbasis, die nicht wie ein Glaubensbekenntnis durch ein anderes verdrängt werden kann. Ein Jude gehört seiner Abstammung nach stets dem Judentum an, gleichviel ob er oder seine Vorfahren Apostaten geworden sind. (AS 253)

Jude sein ist etwas Uneintauschbares, etwas, das sich jenseits jeglicher Konvertibilität befindet. Erst in der Besinnung auf dieses organische, eigentliche An-Gehören kann die nationale und dadurch die menschliche Befreiung anheben. Wenn die Aufklärung und mit ihr die Instanz der Ratio diesen Gedanken in die Latenz verbannte, dann gilt es, ihn durch unermüdliche Beschwörung des „Patriotismus“ wieder zum Bewusstsein zu bringen. Hess will evident machen, dass es auch im aufgeklärten Judentum noch patriotische Erinnerungen gibt, und es nur einer Anregung bedarf, um diesen poetischen und idealen Patriotismus Fleisch und Blut und Kraft zum Handeln zu geben. […] Die junge jüdische Generation, die für alles Erhabene und Heilige empfänglich ist, wird sich nationalen jüdischen Bestrebungen mit Begeisterung anschließen; und hat einmal der frische Nachwuchs seine Triebkraft in diese Richtung hin genommen, so wird auch das dürre Holz sich mit den Blättern und Blumen Israels schmücken. (AS 250)

Das begeisterte Handeln, auf das es nun ankommt, und das vor allem die Jugend beschäftigen soll, benötigt also „Fleisch und Blut und Kraft“ – so heißt das Motto, das in Rom und Jerusalem die paulinische Triade von Glaube, Liebe und Hoffnung ablöst. Nur etwas mehr als dreißig Jahre später – eine Genera-

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tion – ist es das Leitmotiv des politischen Zionismus, der ausgestattet mit ganz beträchtlicher „Triebkraft“ in Hess’ „Anregung“ eines seiner Gründungsdokumente findet. 2.  Muskeln lügen nicht – Max Nordau In der Natur liegt kein Trieb zur Lüge; [...].*

Im Gegensatz zu den Schriften, die dem Kulturzionismus109 zugerechnet werden, verzichtet der politische Zionismus auf exzessive Blutrhetorik. Bei Theodor Herzl und Max Nordau lässt sich die Vokabel „Blut“ kaum finden. Das mag zuerst widersprüchlich erscheinen, beruht doch gerade „Kultur“ auf abstrakter Schrift, „Politik“ dagegen auf Emotionen, als deren Metapher oft das „Blut“ steht. Doch die Vermeidung folgt einer für diese Studie zentralen Logik. Der politische Zionismus arbeitet nämlich „planmäßig darauf hin“, wie Nordau schreibt, „das jüdische Volk wieder zu einem normalen Volke zu machen, das auf eigener Scholle lebt und alle wirtschaftlichen, geistigen, sittlichen und politischen Funktionen eines gesitteten Volkes zu verrichten.“110 Die Planmäßigkeit der Arbeit verbindet das Projekt des Zionismus – durch sein Ausgerichtetsein auf ein Ziel und die systematische Struktur, in der sich das Selbst als Selbst bewährt – mit der europäischen Philosophie. Das Judentum soll sich zu einem im Kampf sich konstituierenden und dabei sich selbst bewusst werdenden Subjekt entwickeln. Damit erreicht es den Zustand der Sittlichkeit: Ein „normales Volk“ ist ein „gesittetes Volk“. Heines jüdischer Ritter, der Sohn „Israels von Saragossa“, soll nun offen kämpfen. Dabei ist für Nordau – ganz im Gegensatz zu Buber, der im nächsten Abschnitt thematisiert wird –, wichtig, dass der Zionismus sich „aller Mystik entsagt.“111 Für Nordau *



Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, in: ders.: Werke 1798–1799, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart / Bad Canstatt 1977, S. 1–317, hier S. 256. 109 Die Frage nach der „Kultur“ innerhalb des Zionismus wird durch Nathan Birnbaum etabliert. Auf dem ersten Zionistenkongress 1897 in Basel hält Birnbaum ein Referat mit dem Titel „Der Zionismus als Kulturbewegung“, in dem er für die „einheitliche jüdische Nation“ ein „Kulturzentrum“ fordert, das die Schaffung einer „nationalen Kultur“ ermöglicht, durch die die von den Juden erworbene europäische Kultur gemäß Birnbaum erst fruchtbar wird. Nathan Birnbaum: „Der Zionismus als Kulturbewegung“, in: ders.: Die Jüdische Moderne. Frühe zionistische Schriften, mit einem Vorwort von Henryk M. Broder, Augsburg 1989, S. 83–102. 110 Max Nordau: „Der Zionismus (1902)“, in: ders.: Zionistische Schriften, hg. vom Zionistischen Aktionskomitee, Köln / Leipzig 1909, S. 18–38, hier S. 22. 111 Ebd.

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ist das „Blut“ erstens eine zu sehr mit Mystik, Magie und Religion konnotierte Größe, als dass sie im Zentrum seiner Argumentation stehen könnte, zweitens ist das „Blut“ immer statisch und kann „durch eigene Anstrengung“112, auf die alles ankommt, nicht geformt oder verändert werden. Deshalb benötigt Nordau eine flexible Größe um die Juden fit zu machen, er entdeckt die „Muskeln“. Das „Blut“ kommt erst in den Muskeln zu seinem planmäßigen Ausdruck. In diesem Abschnitt soll Nordaus Konzept der Muskeln untersucht werden. In ihm findet sich der Versuch, gegenüber anderen Gemeinschaften die jüdische Gemeinschaft als Kampfgemeinschaft zu formieren und zu authentifizieren. Gegen dieses Konzept, das die Grundlage des politischen Zionismus bildet, wird unter anderem Martin Buber mit seinem alternativen Gemeinschaftsdenken Einspruch erheben. Für diesen Einspruch ist „Blut“ von enormer Wichtigkeit, wie sich aus dem letzten Abschnitt dieses Kapitels ergibt. Bevor ich jedoch Bubers Rede vom Blut und die in ihr angelegten Problematiken untersuchen kann, soll hier Nordaus Konzept – mit einigen Hinweisen auf Herzl – ausführlicher zur Sprache kommen. Nordaus Zionismus ist aus dem Bewusstsein eines reaktionären Bildungsbürgers geboren, das sich einerseits aus einem ungebrochenen Vertrauen auf den naturwissenschaftlichen Fortschritt und einem (vulgär-)darwinistisch inspirierten Materialismus speist, andererseits aber verbunden ist mit einem postromantischen Idealismus von Wahrheit, Wissen, Freiheit und Güte.113 Das Signum der Epoche war für dieses Bewusstsein die Lüge, wie man in Nordaus Bestseller von 1883 Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit nachlesen kann. Nordau entwirft dort ein düsteres Bild des bürgerlichen Daseins Ende des 19. Jahrhunderts, das durch den Widerspruch von Form und Inhalt gekennzeichnet ist. Die bedingungslos als wahr erkannte naturwissenschaftliche Weltanschauung, die sich auf die moderne Physik und auf Charles Darwins Evolutionstheorie stützt und die zu einem demokratischen Selbstverständnis führt, wird von den „conventionellen“ Banden der aristokratischen Gesellschaftsordnung, der Religion und der mit der natürlichen Sexualität nicht zu vereinbarenden Zweckehe gefesselt. Anstatt frei in seiner Natur zu wohnen, ist der westliche Mensch Gefangener eines Lügengebäudes, das in politischer, metaphysischer und sexueller Hinsicht ein Welttheater, eine „ewige Komödie“, darstellt. Jedes Wort, das wir sprechen, jede Handlung, die wir üben, ist eine Lüge gegen das, was wir in unserer Seele als Wahrheit erkennen. So parodieren wir uns gleichsam selbst und spielen eine ewige Komödie, […], die von uns eine beständige Verleugnung unserer

112 Ebd. 113 Eine gute Darstellung von Nordaus Weltbild gibt Stanislawski: Zionism and the Fin de Siècle, S. 19–35.

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Erkenntnis und Überzeugung verlangt und uns in Momenten der Selbsteinkehr mit Verachtung vor uns und dem Welttreiben erfüllen muss.114

Die jüdische Identität des Autors wird in dieser Schrift nicht erwähnt, ja durch den universellen Anspruch des Buches und der Allgemeinheit der in ihm gestellten Zeitdiagnose ist sie offensichtlich nicht Thema. Nordaus Utopie ist die „Zivilisation der Wahrheit, der Nächstenliebe, des Frohmuts“. Er prognostiziert: „[…] die Menschheit, die bis heute ein abstrakter Begriff ist, wird dann eine Thatsache sein.“115 Bezeichnenderweise dient aber bereits auf der zweiten Seite gerade der Antisemitismus als paradigmatisches Symptom der unverwirklichten Menschheit und damit der falschen Zustände. Nicht nur die Sensibilität für antisemitische Tendenzen verbindet Nordaus früheres Ego als Kulturkritiker mit seinem späteren als zionistischer Gründungsvater. Von den präzionistischen Schriften Nordaus laufen verschiedene untergründige Verbindungslinien zu den „Zionistischen Schriften“.116 Es wurde etwa darauf hingewiesen, dass Nordau, indem er die Einleitung der Conventionellen Lügen mit „Mene, Tekel, Upharsim“ betitelt, sich über den von ihm explizit als Mythos verworfenen Prätext der Bibel als Seher und Warner der modernen Gesellschaft, als ein Daniel des 19. Jahrhunderts inszeniert. Die Selbstrepräsentation über die Matrix der Bibel offenbart eine dem Autor verborgene Dimension des Textes. „[…] there was one inscription, that Nordau had tried to overlook; he, like the ancient prophet, was an alien Jew in a gentile court. Despite his persistent efforts to displace Jewishness in these texts – as in his life – Nordaus vision of European destiny betrayed his tainted, Jewish origins. His assimilationist desires could not escape the structures of Jewish representations.“117 Nicht nur als Citoyen und naturwissenschaftlich gebildeter Mann war Nordau gezwungen, sich „gleichsam selbst“ zu „parodieren“ – auch als Jude spielte er die Tragikomödie der Assimilation, jedoch perfekt inszeniert als Trauerspiel des modernen Menschen.118 Im Gewand einer Menschheitsutopie erscheint der Wunsch nach jüdischer „Normalität“. Wie ist diese beschaffen und wie soll sie erreicht werden? Das sind im Folgenden die Fragen, denen nachgegangen werden muss. Der Verweis auf Nordaus präzionistische Werke ist dabei nicht bloß eine historische 114 Max Nordau: Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit, Leipzig 1883 (Vierte Auflage), S. 28–29. 115 Ebd., S. 350. 116 Vgl. Jay Geller: „The conventional Lies and Paradoxes of Jewish Assimilation: Max Nordau’s Pre-Zionist Answers to the Jewish Question“, in: Jewish Social Studies 1, 3 (1995), S. 129–160. 117 Ebd., S. 149. 118 Wie wichtig die Rede vom Theater und die Denkfiguren des Theatralischen für die deutschjüdische Literatur und die Beschreibung deutsch-jüdischer Zustände sind, hat eindrücklich gezeigt: Galili Shahar: theatrum judaicum. Denkspiele im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne, Bielefeld 2007.

Muskeln lügen nicht – Max Nordau

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Fußnote, denn Nordau benutzt beinahe die gleichen Worte und Wendungen, um die „conventionellen Lügen der Kulturmenschheit“ wie die Lüge des assimilierten Judentums zu brandmarken. In seiner Rede auf dem ersten Zionistenkongress in Basel, gehalten am 29. August 1897, malt Nordau ein schauerliches Panorama des zeitgenössischen Judentums. Er vergleicht den Antisemitismus in den verschiedenen Ländern. Die Juden Osteuropas leben „geistig, sittlich, leiblich“ im „Elend“.119 Doch „die heutige Lage des emanzipierten Juden in Westeuropa“ ist noch schlimmer. Sie ist die der universalen Boden-, Zusammenhangs- und Heimatlosigkeit. Nicht nur die christlichen Mitmenschen und die ganze Welt sind dem „assimilierten Juden“ gegenüber feindlich eingestellt: Er ist selbst sein größter Feind. Seine besten Kräfte verbraucht er in der Unterdrückung und Ausrottung oder mindestens in der mühsamen Verhüllung seines eigensten Wesens, denn er besorgt [sic], dass dieses Wesen als jüdisch erkannt werden möchte, und er hat nie das Lustgefühl, sich ganz zu geben, wie er ist, er selbst zu sein, wie in jedem Gedanken und Gefühle, so in jedem Ton der Stimme, in jedem Augenlidschlag, in jedem Fingerspiel. Innerlich wird er verkrüppelt, äußerlich wird er unecht und dadurch immer lächerlich und für den höher gestimmten, ästhetischen Menschen abstoßend wie alles Unwahre.120

Das „eigenste Wesen“ ist nun nicht mehr die naturwissenschaftliche Gewissheit, sondern die Gewissheit, anders als die anderen, eben jüdisch und damit sogar anders als man selbst zu sein. Das eigene Jüdisch-Sein ist ein Nicht-Sein. Es ist im Zustand der Assimilation gleichsam gespenstisch anwesend und abwesend gleichzeitig. Assimilation ist immer auch Simulation – doch „der Jude“ wird nicht anerkannt, weder als Jude, noch als gleichberechtigter Bürger. Er bleibt ein Gespenst. Deshalb ist es „dem Juden“ unmöglich, „sich ganz zu geben, wie er ist“, das heißt er kann nicht „er selbst“ sein, was sich mental und körperlich als Lüge niederschlägt. Die Lüge ist „in jedem Gedanken und Gefühle, so in jedem Ton der Stimme, in jedem Augenlidschlag, in jedem Fingerspiel.“ Der assimilierte Jude ist, wie es Nordaus großer Antipode Friedrich Nietzsche121 fasst, ein Meister in der „Kunst des ewigen Verstecken-Spielens“. Während Nietzsche selber die Kunst des „Verstecken-Spielens“ wie kein anderer betrieb, konnte Nordau diesem Spiel nichts abgewinnen. Als Autor ordnete er sich wohl selber jenen „höher gestimmten, ästhetischen Menschen“ zu, die Abscheu vor dem empfinden, was hier als das „Unwahre“ bezeichnet wird. Emblematische Figur des 119 Max Nordau: „I. Kongressrede“, in: Zionistische Schriften, S. 39–57, hier S. 41. 120 Ebd., S. 51. 121 Vgl. Steven E. Aschheim: „Max Nordau, Friedrich Nietzsche et Dégénerance“, in: Delphine Bechtel / Dominique Bourel / Jacques Le Rider (Hg.): Max Nordau (1849–1923). Critique de la dégénerance, médiateur franco-allemand, père fondateur du sionisme, Paris 1996, S. 133– 148.

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Von „Mammon“ zu „Zion“

Unwahren ist der Marrane, der heimliche Jude in der christlichen Gestalt, der jedoch noch „einen idealistischen Zug von geheimer Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, von herzbrechender Gewissensnot und Reue“122 besitzt. Nordau macht eine moderne Version des Marranentums aus, der selbst diese letzte „sittliche“ Regung abgeht. Die neuen Marranen scheiden aus dem Judentum mit Grimm und Erbitterung, aber im innersten Herzen, wenngleich vor ihnen selber uneingestanden, tragen sie ihre eigene Erniedrigung, ihre eigene Unehrlichkeit, den Hass, der sie zu ihrer Lüge gezwungen, auch dem Christentum nach. Mir graut vor der zukünftigen Entwicklung dieses Geschlechtes der neuen Marranen, das sittlich nicht gehalten wird von irgendeiner Überlieferung, dessen Gemüt vergiftet ist durch Feindlichkeit gegen das eigene wie das fremde Blut, dessen Selbstachtung zerstört ist durch das immer gegenwärtige Bewußtsein einer fundamentalen Lüge.123

Die Kategorien, an denen Nordau den degenerierten Zustand der „neuen Marranen“ abliest, sind „Sittlichkeit“, „Gemüt“ und „Selbstachtung“. Es sind Kategorien, die für den beschworenen Idealismus – den deutschen Idealismus – konstituierend sind und die hier versagen. Die „Sittlichkeit“, also „der höchste moralische Zustand einer Persönlichkeit, die Reinheit ihrer Gesinnung und ihres Handelns“,124 wie es das zeitgenössische Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe weiß, ist nach Hess nicht mehr gesichert. Denn die Tradition, die die „Sittlichkeit“ lehren soll, wurde unterbrochen. Das „Gemüt“ als „innerstes Leben“ der Seele und als Ausdruck jener subjektiven Ankopplung an die Tradition, der Er-innerung, ist verdorben. Wenn als „Grundlage der jedesmaligen Gemütsstimmung“ gemäß der Philosophischen Grundbegriffe „das Gemeingefühl“125 angenommen wird, dann muss den „neuen Marranen“ gerade durch das Misstrauen in dessen Medium, das „Blut“, jede „Gemütlichkeit“ verunmöglicht sein. Die „Feindlichkeit gegen das eigene wie das fremde Blut“ ist eine Metapher, die ein isoliertes, unangeschlossenes und im tiefsten Wortsinn ungemütliches Dasein zeichnet und damit einen Zustand des totalen Außens, einer universalen Unversöhntheit, abbildet. Dazu kommt eine Wertlosigkeit des Eigenen. Die „Selbstachtung“ ist das „von Eitelkeit freie Bewußtsein eines Menschen von seinem eigenen Wert.“126 Der metaphysische Verlust hat ethische Konsequenzen, denn: „Die Selbstachtung hält uns von Niedrigem und Unedlem, wie Lüge, Betrug, Hinterlist, Heuchelei u. dgl., ab und treibt uns 122 Nordau: Zionistische Schriften, S. 52. 123 Ebd. 124 Friedrich Kirchner / Carl Michaëlis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, Leipzig 1907 (Fünfte Auflage), S. 578–579. „Sittlichkeit“ wird als Schlüsselkategorie des Idealismus angesehen: „Für Kants Leben und Philosophie ist die Sittlichkeit der höchste Gesichtspunkt gewesen.“ Ebd. 125 Ebd., S. 226. 126 Ebd., S. 560–561.

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zum Guten an, selbst wenn man uns nicht sieht noch lobt. Auch bietet sie uns den Lohn dar, wenn uns die billige Anerkennung nicht zuteil wird, und tröstet uns bei unverdienten Beleidigungen und Kränkungen.“127 – Die „fundamentale Lüge“ der Assimilation verhindert die Selbstachtung und ist gleichzeitig das Resultat dieses Fehlens. Das Bewusstsein, sich in diesem Zirkel der Lüge zu befinden, führt zur Trostlosigkeit jüdischer Existenz und zu einer ethischen Gefahr,128 die Nordau in seiner Kongressrede eindrücklich entwirft. Abhilfe davon zu finden, erklärt er zur „großen Aufgabe des Kongresses“ und damit zur Aufgabe des Zionismus; die metaphysische, ethische und ästhetische Regeneration und Normalisierung des jüdischen Volkes – die Versöhnung mit dem „eigenen Blut“. Als konkrete Aufgaben des politischen Zionismus sieht Nordau einerseits die Bestrebungen zur Schaffung einer völkerrechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina, andererseits aber – und diese zweite Aufgabe sieht er als die wichtigere an – die Vorbereitung des jüdischen Volkes für die Bildung einer Nation.129 Diese Bildung beschwört Nordau, indem er die Juden auffordert, sich vereinsrechtlich zu organisieren. So sollen die partikularisierten Juden erkennen, dass sie eine „Gemeinschaft“ sind, die dem Einzelnen „Achtung und Ehre“130 verschaffen kann. Der Einzelne wiederum soll „Mannszucht“131 üben, um sich seiner Gemeinschaft würdig zu erweisen und die Besiedlung Palästinas sicherzustellen, die von der militärisch geordneten Gemeinschaft – Nordau spricht nicht nur von „Zucht“, sondern auch von „Kompanien und Regimentern“132 – ausgehen muss. „Das Galuth“, so führt er aus, „hat ein Chaos aus uns gemacht. Wir sind ein loser Haufe von Individuen ohne organischen Zusammenhang. 127 Ebd. 128 Folgt man Nordau, geht von den artifiziell vom Leben abgeschnittenen Juden tatsächlich eine politische Gefahr aus, denn die Juden werden mit ihrer Unterdrückung und Ausschließung zu „Feinden der bestehenden Ordnung“ und damit potentiell zu „Schädlingen“ gemacht. Nordau: Zionistische Schriften, S. 56. Leider kann ich hier nicht die Abgründe ausmessen, die sich in Nordaus Analogien auftun: „Die Mikrobiologie lehrt uns, dass kleine Lebewesen, die harmlos sind, so lange sie in der freien Luft leben, zu furchtbaren Krankheitserregern werden, wenn man ihnen den Sauerstoff entzieht, wenn man sie, wie der Fachausdruck lautet, in anaërobische Wesen verwandelt. Die Regierungen und Völker sollten Bedenken tragen, aus dem Juden ein anaërobisches Wesen zu machen! Sie könnten es schwer mitzubüßen haben, was immer sie dann auch unternehmen würden, um den durch ihre Schuld zum Schädling gewordenen Juden auszurotten.“ Ebd. 129 Vgl. Max Nordau: „Die Aufgabe des Zionismus“, in: ders.: Zionistische Schriften, S. 320–328. 130 Ebd., S. 324. 131 Ebd., S. 32. 132 Ebd., S. 328. Vgl. auch Max Nordau: „Heloten und Spartaner“, in: ders.: Zionistische Schriften, S. 374–378.

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Diesen müssen wir erst wieder finden.“133 Dieses Wiederfinden des harmonischen Volkskörpers beginnt beim individuellen Körper, der nun von einem Körper im Zustand der Lüge in einen authentischen Körper transformiert werden soll. Die Stärke, die Nordau für das jüdische Volk einfordert, und ohne die die Gründung des neuen Gemeinwesens nicht vonstatten gehen kann, muss zuerst von jedem Einzelnen trainiert werden. Es ist hier also im Gegensatz zu Moses Hess keineswegs die „Liebe“, die das „Chaos“ – das Schreckbild des disparaten und zerstückelten Körpers – schließlich zu einem „organischen Zusammenhang“ fügen soll, sondern eine Art militärischer Trainingsplan, ein Plan, der sich an den Weisungen der zionistischen Anführer ausrichtet und der Weisung selbst, die „von Zion ausgeht.“ ( Jes 2, 3). Die Struktur der Gemeinschaft ist auf das erst zu erobernde telos „Zion“ hin disponiert und – das ist die Aporie des zirkulären idealistisch-zionistischen Unternehmens134 – schon von „Zion“ her organisiert. Es handelt sich hier, nebenbei gesagt, um eine aporetische Struktur, die für das nach-antike Judentum insgesamt von großer Bedeutung ist, ja vielleicht dessen grundlegende Struktur bildet. Das Turnen, für das Nordau in zwei sehr bekannt gewordenen, kurzen Aufsätzen mit den Titeln „Muskeljudentum“ und „Was bedeutet das Turnen für uns Juden?“ wirbt, ist denn auch nicht als Sport oder gar als Spiel zu verstehen. Nordau und andere transportierten Friedrich Ludwig Jahns moralisch-biologisches Konzept zur Aufrichtung der deutschen Nation um 1810 in den jüdischen Kontext um 1900.135 Turnen ist eine pädagogische Übung, es ist ein planvolles Arbeiten am jüdischen Körper und steht in enger Verbindung zur zionistischen Körperpolitik, die sich auch in der dazugehörigen Ikonographie ausdrückt, die etwa Moses Ephraim Lilien kreiert.136 Nordau geht von einer lamarckistisch inspirierten Vererbungslehre aus, das heißt, er nimmt an, dass erworbene physische Eigenschaften vererbt werden können.137 Zwar wird die antisemitische

133 Ebd., S. 323. 134 Vgl. Philipp Theisohn: Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur – eine andere Poetik der Moderne, Stuttgart / Weimar 2005, S. 23-31. 135 Einen sehr guten Überblick gibt: Todd Samuel Presner: „,Clear Heads, Solid Stomachs, and Hard Muscles‘: Max Nordau and the Aesthetics of Jewish Regeneration“, in: Modernism/ Modernity 10, 2 (2003), S. 269–296. 136 Vgl. wiederum Stanislawski: Zionism and the Fin de Siècle, S. 98–115. 137 Wenn hier von Lamarck und Lamarckismus gesprochen wird, dann sollte darauf verweisen werden, dass die mit diesen Chiffren bezeichnete Annahme der Vererbbarkeit erworbener Charaktere nicht ausschließlich auf den Biologen Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet de Lamarck zurückgeht, in dessen System diese Idee bloß ein Element unter anderen bildet, und dass diese Idee vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts herumgeisterte, dass also ein „mythischer Lamarck“ entstand, vgl. L. J. Jordanova: Lamarck, Oxford / New York 1984, v. a. S. 100–113.

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Zuschreibung eines degenerierten und pathologisierten jüdischen Körpers138 teilweise akzeptiert, doch stellt Lamarck auch „eine Möglichkeit bereit, deterministischen und biologistischen Auffassungen zu entgegehen.“139 Denn sie ermöglicht die Berichtigung des jüdischen Körpers. Das Turnen macht aus dem ungerichteten und falschen Körper einen richtigen – gibt ihm eine Richtung. „Bei keinem Volksstamme“, so schreibt Nordau in der Jüdischen Turnzeitung im Juni 1900, „hat das Turnen eine so wichtige erzieherische Aufgabe wie bei uns Juden. Es soll uns körperlich und im Charakter aufrichten.“140 Die zionistische Pädagogik ist Biopolitik. Erziehung wird wörtlich genommen als Streckung und Reformierung des jüdischen Körpers zwecks Schaffung einer nationalen Gemeinschaft. So macht sich Nordau zwei Jahre später Gedanken darüber, „ob die Juden ursprünglich größere Körperlänge hatten und erst infolge ihrer ungünstigen Lebensbedingungen verkümmerten oder ob sie schon von allem Anfang an eine Rasse von unansehnlichem Wuchse waren.“141 Nordau kann und will diese Frage nicht beantworten und weist darauf hin, dass die Disposition zur Entwicklung von Körperstärke bei jeder „Rasse“ vorhanden ist – entscheidend sind die Intention, die Methode und die „Übung“, also die weisungsgemäße Präparation des Volkskörpers. Unsere Muskel [sic] sind hervorragend entwicklungsfähig. Man kann ohne Uebertreibung sagen, niemand braucht sich mit den Muskeln zufrieden zu geben, die er hat. Jeder kann vielmehr die Muskel haben, die er sich selbst wünscht. Methodische, ausdauernde Uebung ist alles, was dazu nötig ist.142

Der Muskelaufbau ist systematische Selbstdefinition. Spätestens hier wird klar, dass das „Turnen“– obwohl es tatsächlich von hunderten begeisterten jüdischen Hobbyathleten ausgeübt wurde – eine Metapher ist. Es steht für die idealistische Selbstsetzung des Subjekts, die Begeisterung des Geistes. Die „Muskel“ sind als „zuverlässige Diener“ das Medium dieser autonomen Subjektwerdung, und zwar sind sie nicht etwa wie das Geld oder politische Rhetorik nur äußerliche, willkürliche Mittel, sondern bereits in der Natur angelegte, unbedingte, organische Teile des Selbst, in deren Entwicklung es erst zum Selbst wird. Die Selbstautonomisierung des Judentums braucht „Muskel“, ist jedoch vom „Geist“ angewiesen: 138 Zum Begriff des pathologisierten jüdischen Körpers vgl. Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. 139 Jens Elberfeld: „,Körperliche Entartung der Juden‘. Die Debatte über Degeneration in der Jüdischen Turnzeitung 1900–1914“, in: Transversal. Zeitschrift des Centrums für Jüdische Studien 8 (2007), S. 23-48, hier S. 41. 140 Max Nordau: „Muskeljudentum“, in: ders.: Zionistische Schriften, S. 379–381, hier S. 380. 141 Max Nordau „Was bedeutet das Turnen für uns Juden?“, in: ders.: Zionistische Schriften, S. 382–388, hier S. 384. 142 Ebd., S. 385.

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Von „Mammon“ zu „Zion“

Worauf es wesentlich ankommt, das sind drei Bedingungen: erstens rücksichtslose Kühnheit, zweitens vollkommene Beherrschung aller Muskelgruppen, deren genaues, harmonisches Zusammenwirken bei der Ausführung einer verwickelten Bewegung erforderlich ist, drittens rasche und scharfe Ausarbeitung des Bildes der ausführenden Bewegung in der Vorstellung unter energischer Ausschließung aller Hemmnisvorstellungen banger oder zweifelnder Natur. Diese drei Bedingungen werden aber ausschließlich vom Gehirn, vom Geist erfüllt, dessen willenlos ergebene und zuverlässige Diener die Muskel sind.143

Die Bewegung des Turnens, die Nordau hier anhand der Momente der „rücksichtslosen Kühnheit“ und des „harmonischen Zusammenwirkens“ der Muskeln gemäß eines beherrschenden Willens und der Schnelligkeit der Ausführung entwirft, ist analog zur zionistischen Bewegung selbst. Kühnheit, Geschlossenheit und Schnelligkeit sind Kategorien militärischer Aktion. Die Bewegung als kolonialisierende Bewegung sieht sich als Vorhut oder Speerspitze des Geistes: Die Muskeln, die selbst „willenlos“ sind wie die Soldaten eines Korps, ermöglichen die Bewegung, in der sich eine mit sich selbst identische Identität, ein wahres und nicht eintauschbares Selbst, gewaltsam erzeugt. Gewaltsam ist diese Bewegung, weil dabei jeder Zweifel an ihr selbst vom sich realisierenden Geist „energisch“ ausgeschlossen werden muss. Hier erst passiert die endgültige Unterscheidung zwischen dem „eigenen Blut“, das unter vollständige Kontrolle gebracht wird, und dem „fremden Blut“, das nun das bedrohliche, weil nicht zu kontrollierende Außen kennzeichnet. Die bedingungslose Vereigentlichung des „Bluts“ und des Körpers – also die harmonische Scheidung zwischen Innen und Außen, Eigenem und Fremdem – stellt für Nordau den natürlichen und sittlichen Zustand von „Rasse“ oder Volk dar, einen Zustand jenseits von Konvention und Lüge. Dieser neue Zustand des jüdischen Körpers soll jedoch mit der Feindschaft gegen das eigene auch die Feindschaft gegen das „fremde Blut“ beenden, er sollte nicht zu Krieg führen. Das Muskelspiel des jüdischen Körpers soll als Rhetorik der Muskeln die Nichtjuden von der Gleichwertigkeit des jüdischen Volkes überzeugen, „sei es auch nur zur widerwilligen Anerkennung der Tatsache […], dass wir es ihnen als Turner ebenso spielend mindestens gleichtun wie als Hirnarbeiter.“144 Zwar liegt Nordau nicht viel an der Meinung der Antisemiten: „Was diese Leute von uns denken, ist uns einerlei.“145 Dennoch ist für ihn zu bedenken, „dass der Jude in der Zerstreuung nun einmal gegen die nichtjüdische Meinung besonders empfindlich ist und an sich nur schätzt, was seine nichtjüdische Umwelt als Wert anerkennt.“146 Anerkennung kann nur von Außen kommen. 143 144 145 146

Ebd., S. 386. Ebd., S. 387. Ebd. Ebd., S. 387–388.

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In Herzls von Nordau hochgelobtem und verteidigtem147 Roman Altneuland wird dieses Außen vom deutsch-amerikanischen Millionär adliger Abstammung Kingscourt verkörpert. Kingscourt steht für den rationalistisch-idealistischen Nichtjuden, der die jüdische Regeneration positiv bewertet und damit legitimiert, wie sich bei einer Reitervorführung in der landwirtschaftlichen Kolonie Rehovot zum ersten Mal zeigt. Wie Nordaus Turner bewegen sich die jüdischen „Kerls“ dort kühn, harmonisch und schnell, was eine „hinreißende“ Ästhetik erzeugt und Kingscourt ein politisches Statement abringt: Die Burschen stürmten weit weg ins Feld hinaus, warfen die Rosse herum, kehrten jauchzend zurück, warfen im vollsten Lauf ihre Mützen oder ihre Gewehre in die Luft, fingen sie wieder auf. Schließlich ritten sie in einer Reihe und sangen ein hebräisches Lied. Kingscourt war hingerissen. „Da soll doch ein mehrfach gesalzenes Donnerwetter dreinschlagen. Die Kerls reiten ja wie der Deibel! Mit so ’was hätte mein Ur-Ur auch die Attacke bei Roßbach — —“. Aber Friedrich hatte wenig Interesse für die Betätigungen einer gesunden Lebenslust, und er war froh, als sie die Ansiedelungen verließen, um nach Jaffa zurückzukehren.148

In der genannten Schlacht bei Roßbach fügte das preußische Heer unter Friedrich dem Großen den Franzosen im siebenjährigen Krieg 1757 eine vernichtende Niederlage zu. Die Juden werden hier a posteriori für würdig erklärt, an diesem für das Bewußtsein deutscher Einheit äußerst wichtigen Ereigniss Teil zu haben, wenn auch der jüdische Protagonist Friedrich selbst noch wenig Interesse an einer „gesunden Lebenslust“ hat. Die Stelle entlarvt den politischen Zionismus deutlich als – im Grunde deutschen – Nationalismus, in dem „Zion“ auch mit irgendeinem anderen Territorium wie „Uganda“ substituiert werden könnte. Das Wichtigste an der historischen Vorführung der Juden ist der nichtjüdische Beobachter – auch „ein hebräisches Lied“ kann diesen Eindruck nicht zerstreuen. Weil die individuelle Assimilation misslingt, muss das ganze Volk den anderen Völkern assimiliert werden. Herzls Bezug auf die Schlacht bei Roßbach und Nordaus Rhetorik des Militärischen implizieren eine zeitgenössische, nicht nur preußische Logik. Die Teilhabe am militärischen Kampf verleiht eine phallisch konnotierte Ehre, und öffnet eine heilsgeschichtliche Perspektive, nämlich als Soldat und Kamerad sinnvoll zur nationalen Gemeinschaft beizutragen.149 In einer Prosaminiatur, die 1917 unter dem Titel Judenzählung vor Verdun in der Schaubühne erscheint, führt Arnold Zweig diesen Diskurs in schwindelerregende Tiefen, die sich kontrapunktisch zu Nordaus und Herzls Visionen jüdischer 147 Vgl. Barbara Schäfer: „,Über einem Hypocaust erbaut‘. Zu Herzls Roman Altneuland“, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1993, S. 79–89. 148 Herzl: Altneuland, S. 41. 149 Vgl. George L. Mosse: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, aus dem Amerikanischen von Udo Rennert, Stuttgart 1993.

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Kraft auftun. Das Ereignis der so genannten „Judenzählung“ von 1916 kann als eines der einschneidenden Ereignisse in der deutsch-jüdischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts gewertet werden.150 Vom Kriegsministerium wurde eine statistische Erhebung über die von Juden im Heer bekleideten Positionen angeordnet. Damit wird den Betroffenen, indem man sie als „Drückeberger“ verdächtigt, virtuell nicht nur die sittliche Existenz, sondern die Dimension der Erlösung aberkannt. Erst die Bereitschaft und die Möglichkeit als Soldat zu sterben, führen zur Anerkennung von Außen und damit zu einem sittlichen Leben und zu einer heilsgeschichtlichen Perspektive in der nationalen Gemeinschaft. Vom Anfang des 21. Jahrhunderts aus gesehen, erscheint diese idealistische Sicht als Mythos, der machtpolitisch instrumentalisiert wurde. Für die Betroffenen ging es aber um alles oder nichts: Der Mythos des einfachen Soldaten, der im Ersten Weltkrieg seinen traurigen Höhepunkt erleben wird, schafft in einer kalten, abstrakten Welt erst sinnhafte Beziehungen. Der „idealisierte einfache Soldat war ein sowohl integraler Bestandteil des Mythos als auch ein Beispiel für den neuen Menschen, der die Nation erlösen sollte.“151 Arnold Zweig fasst die Demütigung und die metaphysische Desillusion der deutsch-jüdischen Soldaten in einem grotesken Bild. Im Traum sieht der Ich-Erzähler die gefallenen Juden wieder aufstehen und in einer unterirdischen, nächtlichen Reise nach Palästina strömen.152 Doch zuerst sammeln sich die Untoten unter dem Schwert des Todesengels Azrael und müssen sich in eine Liste eintragen. Stöhnen stieg auf vom Gelände, als klage der Boden, und die Stimme rief schmerzlich: „Großes Vaterland, ich gedachte für dich zu sterben und zu ruhn!“ Aber ein Wirbel bewegte die Toten […]. Und eine dürre Feder gab der Schreiber in jede Hand, sie floß wie ein geritzter Finger, seinen hebräischen Namen schrieb ein jeder in kleinen roten Lettern, die leuchteten wie quadratische Siegel. Da standen die Leichname geduldig und warteten, und wer geschrieben, der legte schweigend die Abzeichen auf den Tisch, die er trug und trat zurück, einer in die Menge.153 150 Vgl. Eva G. Reichmann: „Der Bewusstseinswandel der deutschen Juden“, in: Werner E. Mosse (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution, Tübingen 1971, S. 512–613, insbesondere S. 518; vgl. Ulrich Sieg: „‚Nothing more German than the German Jews‘? On the Integration of a Minority in a Society at War“, in: Rainer Liedtke / David Rechter (Hg.): Towards Normality. Acculturation and Modern German Jewry, Tübingen 2003, S. 201– 216; sowie Steven M. Lowenstein / Paul Mendes-Flohr / Peter Pulzer / Monika Richarz: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Band 3: Umstrittene Integration 1871–1918, München 2000, S. 366–370. 151 Georg L. Mosse: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, aus dem Amerikanischen von Udo Rennert, Stuttgart 1993, S. 83. 152 Arnold Zweig: „Judenzählung vor Verdun“, in: Die Schaubühne. Wochenzeitschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft, 13. Jg., 1. Band, S. 115–117; vgl. Caspar Battegay: „Ende mit Schrecken – Arnold Zweigs Judenzählung vor Verdun als Bild aufgeschobener Identität“, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaft 54 (2008), Heft 3, S. 353–364. 153 Zweig: „Judenzählung“, S. 116.

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Durch ihr Blutopfer erhoffen sich die Toten zu „ruhn“ – doch sogar im Tod ist der Ewige Jude von einem „Wirbel“ erfasst. „Blut und Boden“ sind im Text als Motive präsent. Der Boden behält das Blut der gefallenen Juden nicht, „als klage der Boden“ heißt es, und die rote hebräische Schrift wird lesbar als Metonymie ihres transformierten Bluts. Im „hebräischen Namen“ bezeugt sich dessen uneinholbare Differenz. Was schon in der Analyse von Heines Gedicht Donna Clara deutlich geworden ist, dass die Dialektik von Blut und Namen unauflösbar ist, wird in diesem Albtraum noch einmal vorgeführt. Die Angabe des Namens führt zur postumen Degradierung, das deutsche Heer speit seine jüdischen Angehörigen aus wie der Boden das „jüdische Blut“ einklagt. Vergeblich ist nicht nur der religiöse Versuch des Eintritts in die nationale Gemeinschaft: Manchen aber leuchtete ein helles Kreuz über der Stirn, die waren getauft; der Schreiber fragte jeden: Jude? Und er nickte, er sagte: „Sie wissen doch“; er sagte: „Mosaischer Konfession“; „Israelit“ sagte er, „Deutscher jüdischen Glaubens“ – „Jude, ja“ sprach mancher und streckte sich, und die Kreuze verblichen jedem.154

Vergeblich ist auch der idealistische Versuch, den jüdischen Körper so abzurichten, dass er den Respekt der anderen Gemeinschaften bekommt. Nicht nur die Taufe, sondern auch die Feuertaufe und der Soldatentod bewähren den „Juden“ nicht und verweigern ihm den Eingang in den Zustand der Sittlichkeit und den Horizont der Erlösung. Das Judentum kann auch als Volk nicht assimiliert werden. Vielleicht lügen Muskeln nicht, doch der „Muskeljude“ sieht sich plötzlich einer Welt ausgesetzt, in der es egal ist, ob man lügt oder die Wahrheit sagt: Sittlichkeit ist für „Juden“ per se unmöglich. Ein Bild für diese Situation ist der „Wirbel“, der die jüdischen Körper in Zweigs Text erfasst. Alternativ zum historisch-politischen Konzept Herzls und Nordaus steht deshalb das Konzept der kulturellen Konzentration auf das Eigene und des totalen Ignorierens des Fremden. Anhand der frühen Texte Martin Bubers – einem wichtigen Briefpartner Zweigs – zeige ich im folgenden Abschnitt, dass dieses Konzept wesentlich vom Motiv des Bluts bestimmt ist. Es ist ein Denken, dass sich im Absatz vom politischen Zionismus und dessen Bezug auf die „Natur“, jenseits von Wahrheit und Lüge bewegt und ihren Gegensatz suspendiert.

154 Ebd.

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3.  Der Sound des Bluts – Martin Buber Aber wenn ich […] mich dann zwang aufzumerken und mir genau den Sinn seiner Reden einzuprägen, statt sie nur immer rauschen zu lassen, erging es mir oft seltsam. Solange ich jedes Gespräch als Musik auf mich einwirken ließ, schwoll ich von Gedanken. Sobald ich einen einzelnen Satz genau zu befragen unternahm, ward ich irre.*

3.1  Einstimmung

Selbst ein nüchterner und analytischer Beobachter wie Felix Weltsch spricht in seiner kleinen Schrift zu Nationalismus und Judentum von 1920, in der er vehement vor den Gefahren des Rassedenkens und vor verabsolutiertem Nationalismus warnt, von einer „eminent jüdischen Verpflichtung, der Verpflichtung des Blutes.“155 In seiner Schrift liest man zwischen den Zeilen noch den Schrecken des Ersten Weltkriegs heraus, für die Weltsch das gesellschaftliche Primat der Ökonomie und übersteigerte Eigenliebe des Einzelnen wie der Nation verantwortlich macht. Die Intention der kurzen Abhandlung ist die doppelte Rettung der Begriffe Nation und Nationalismus vor dem „Egoismus des Geldes“ und dem „Egoismus der Eitelkeit“.156 Das Ziel und die Berechtigung des Nationalismus nach der Katastrophe des Kriegs sind gemäß Weltsch weder politisch noch religiös, sondern kulturell. Die utopische Vision einer europäischen Kultur, wie sie paradigmatisch das jämmerliche Scheitern des so genannten „Forte-Kreises“ – einer internationalen Intellektuellenvereinigung, der auch Martin Buber angehörte – zum Ausdruck bringt, und der sich die Juden aller Länder hätten anvertrauen können, war zerbrochen.157 Dennoch stand das Schlagwort der Kultur im Zentrum: Einer nationalen Kultur. Um die Krise zu bewältigen, in die das Judentum der Diaspora durch Assimilation geraten ist, soll die europäische Kultur nicht verworfen, vielmehr um eine zu reanimierende, authentisch jüdische Kultur ergänzt werden, wobei unklar bleibt, wie diese beschaffen ist. Was es nach Weltsch in erster Linie braucht, ist eine „Entscheidung für die jüdische Nationalität“: „Die Verpflichtung, die Aufgabe, die aus der jüdischen Gegebenheit entspringt, auf sich zu nehmen.“158 Auffallend ist die inhaltliche Unbe* 155 156 157

Hermann Bahr: Expressionismus, München 1916, S. 42. Felix Weltsch: Nationalismus und Judentum, Berlin 1920, S. 40. Ebd., S. 25. Vgl. Richard Faber / Christine Holste (Hg.): Der Potsdamer Forte-Kreis. Eine utopische Intellektuellenassoziation zur Friedenssicherung, Würzburg 2001. 158 Ebd., S. 40.

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stimmtheit dieser Schlagworte. Es sind „das jüdische Blut, der jüdische Geist“ und „der Stamm“159, aus dem „Blut“ und „Geist“ als „Gabe“ kommen, die diese „Gegebenheit“ ausmachen. Hier sind fast alle „unterminologischen Termini“160 versammelt, die seit 1900 für den Kulturzionismus zentral sind und die eine Art „Gestimmtheit“, einen kulturzionistischen Slang oder nach Adorno einen existentialistischen „Jargon“ ergeben, der „kernig“ sein und suggerieren soll, „dass der ganze Mensch rede.“161 Während für Herzl die Begriffe „Rasse“, „Blut“ und „Stamm“ eher marginal sind, nehmen Martin Buber, dessen frühe zionistische Schriften in diesem Abschnitt verhandelt werden, und andere diese schon von Moses Hess und später von Nathan Birnbaum benutzten Begriffe begeistert auf,162 wobei sie sich in binnenzionistischer Opposition zu Herzl befinden, für den die zu erreichende Staatlichkeit im Zentrum des Bemühens steht. Die adoleszenten jüdischen Protagonisten im Schauspiel des Fin de Siècle misstrauen der persuasiven Strategie Herzls und Nordaus in der Bildung der jüdischen Gemeinschaft. Die Frage stellt sich, was die Gemeinschaft im Innersten zusammenhält, wenn es nicht der auf Sittlichkeit fußende Gegensatz von Wahrheit und Lüge sein kann. Die Antwort ist wie bei Hess weder utopischer Internationalismus noch das kapitalistische System. Gegenüber „weltbürgerlicher Phantasie und mammonistischer Berechnung“ 163 als den beiden Möglichkeiten der Assimilation empfehlen die jungen Zionisten vielmehr die Wendung zum Judentum auf der Basis einer nationalen Kultur. In ähnlicher Metaphorik wie Nordau spricht auch Birnbaum von einem „Maskenspiel“ und einem „widerliche[n] Schauspiel“, dem „Ost-“ und „Westjuden“ sich nur entziehen können, wenn beide „ein einheitliches Volk mit abendländischer Zivilisation und innerlich fortschreitender nationaler Kultur“164 anstreben. Auch für Birnbaum kann diese Transformation nur auf einem eigenen Land erfolgen, benötigt jedoch primär ein kulturelles Bewusstsein der Nation, was oft in den Metaphern vom „Blut“, „Blutstamm“ und der „Stimme des Bluts“ gefasst wird. In diesem Abschnitt soll genau analysiert werden, was Buber mit „Blut“ meint, das er immer in emphatischer Weise und positiv konnotiert verwendet. Es wird ersichtlich werden, dass die in der Einleitung dieser Arbeit herausgestellte Ambivalenz des „Bluts“ auch bei Buber nicht beachtet wird. Ich werde hier vor allem von dieser ‚Ambivalenz-Blindheit‘ her operieren, denn gerade die andere Seite des „Bluts“, seine Konnotation mit Gewalt und Gewalttätigkeit, 159 Ebd., S. 36. 160 Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: ders.: Gesammelte Werke, Band 6, S. 417. 161 Ebd., S. 419. 162 Vgl. Gelber, „Rassentheorie und Kulturzionismus“, S. 106. 163 Birnbaum, „Zionismus als Kulturbewegung“, S. 89. 164 Ebd., S. 91.

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nicht nur seine gemeinschaftsstiftende, sondern seine vereinzelnde Kraft, ist es, die dann in den Texten Franz Kafkas die verstörende Wirkung erzielt. Die enorme Wirkung Bubers, nicht nur seiner Drei Reden über das Judentum, gehalten 1909/1910 und 1911 publiziert, auf die immer wieder hingewiesen wurde und als deren Beispiel hier die Rezeption bei Felix Weltsch gelten kann, sondern auch anderer Schriften wie etwa dem lebensphilosophischen Dialogbuch Daniel von 1913, liegt nicht ausschließlich in ihrem politischen, ideologischen oder philosophischen Gehalt, sondern an der perfekten Kreation dessen, was man einen unverkennbaren Sound nennen kann. 165 Mit Tonfall, Ton, Klang oder Klangkulisse zu übersetzen, bezeichnet Sound ein bewusst konstruiertes Brausen, das Aufbauen einer Konstellation von innigkeitsverheißenden Signalwörtern, ein Einschwingen in die schon vorhandene Gestimmtheit der Zeit, ein Sich-Einstimmen. Mit dem Begriff des Sounds ist eine Vagheit bezeichnet, die durch einen bestimmten Sprachgestus hervorgebracht wird: Wörter, die ganz verschiedenes und gegensätzliches bedeuten können, werden bewusst in dieser Polysemie gehalten. Die Syntax ist oft beschwörend – wobei nicht klar ist, was außer „Schönheit“, „Glück“ und „Einheit“ eigentlich beschworen werden soll. Von Fichtes Reden an die Deutsche Nation,166 Nietzsches Zarathustra,167 Hugo von Hofmannsthal168 und Stefan George ist unter anderem vorgegeben, was Buber aufnimmt und in jüdischer Tonart weiterklingen lässt. Die jüdische Rezeption Fichtes vor dem Ersten Weltkrieg ist für die Genese des Zionismus ausschlag165 Zum Begriff des Sounds bei Martin Buber vgl. Martin Treml: „Einfache Form, Pathosformel, Nachleben der Renaissance. Martin Bubers Entdeckung der jüdischen Mystik als Figuration (des Ostens) Europas“, in: Battegay / Breysach: Jüdische Literatur als europäische Literatur, S. 101–123. 166 Vgl. Manfred Voigts: „Wir sollen alle kleine Fichtes werden!“ Johann Gottlieb Fichte als Prophet der Kulturzionisten, Berlin / Wien 2003, v.a. S. 119–168. 167 Vgl. Paul Mendes-Flohr: „Zarathustra’s Apostle: Martin Buber and the Jewish Renaissance“, in: Jacob Golomb (Hg.): Nietzsche and Jewish Culture, London / New York 1997, S. 233–243; Martin Treml meint, dass „Buber Nietzsche aber nicht nur imitierte, sondern auch produktiv machen konnte.“ Nietzsches Projekt wurde „entscheidend modifiziert, nämlich judaisiert, sodass sich das Projekt jetzt in der Hauptsache auf die jüdische Wiedergeburt bezog. Darum finden wir in den zionistischen Frühschriften überall Spuren Nietzsches. In ihm fließt das Pathos der Erneuerung mit einer aristokratischen Verachtung des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl zusammen.“ Martin Treml: „Einleitung“, in: Martin Buber: Werkausgabe 1. Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891–1924, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Martin Treml, Gütersloh 2001, S. 13–92, hier S. 38. [Im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert als MBW mit Band- und Seitenzahlen.] 168 Vgl. Karl Pestalozzi: „Zur zeitgenössischen Rezeption des Chandos-Briefes“, in: Karl Pestalozzi / Martin Stern (Hg.): Basler Hofmannsthal-Beiträge, Würzburg 1991, S. 113–128.

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gebend, wobei weniger die konkreten Inhalte von Fichtes komplizierter Philosophie, als die „metaphysische Atmosphäre“ und der Aktivismus, die Betonung des Willens und der Akzent auf die Begeisterung, die Rückkehr zu einem säkularisierten Messianismus wichtig für die Aufnahme und Fruchtbarmachung Fichtes durch Buber und andere im Zionismus sind.169 Gegen Fichtes Pathos der Tat steht die schwermütig-lyrische Beschwörung eines ins Nichts führenden Lebensgefühls der Einsamkeit. Im Unterschied zu Heines Lyrik, die wie ich gezeigt habe, die Situation universaler Einsamkeit mit universaler Ironie kompensiert und durch Selbstironie eine Strategie der Verdoppelung anwendet, wird nun neoromantisch eine plötzliche, im unmittelbaren Erlebnis stattfindende Einkehr des Selbst in eine empfundene Ursprünglichkeit gefeiert, etwa bei dem vom jungen Buber bewunderten Hofmannsthal.170 Dessen Gedicht Lebenslied von 1896 erzeugt beim Neunzehnjährigen einen „heiligen Schauder“ und in der Lektüre des nur vier Jahre älteren Dichters macht Buber die „erste Erfahrung des durchdringend Gleichzeitigen“ 171 – eine Wirkung, die das jugendliche Publikum bald mit Bubers eigenen Schriften machen sollte. Auf den heutigen Leser wirkt das Lebenslied auffallend inhaltslos. Seine Wirkung ist derer mancher Popsongs zu vergleichen, in denen vermeintlich oder real die Zeit selbst gehört wird und die eine Gemeinschaft gleich Empfindender stiften, dessen Anhören jedoch genau deswegen einige Jahre später Peinlichkeit auslöst. Buber hört, ja erlebt in Hofmannsthals Gedicht seinen Sound. Er findet darin „[g]eheimnisvoll die Schwelle“172, die ihn von einem Sein, das er wie das lyrische Ich des Gedichts als „Erben“ und „Heimatlosen“ empfinden mag, in eine Leben und Welt im Jetzt verschmelzende, ursprüngliche Gemeinschaft führt, die bald auch in Bubers eigenen Texten und Reden eingefordert wird. Bemüht um einen Kontakt zum Glutkern des wirklichen Lebens jenseits der bürgerlichen Welt der Eltern, suchen die Leserinnen und Leser „das Erlebnis auch in Lesehallen und Bibliotheken“173 – und bei Buber finden sie eine Nietzsches Zarathustra ebenbürtige Leseerfahrung, die sich hauptsächlich auf den Sound stützt. „Mir ist das Buch seit Wochen ein lieber Gefährte“, schreibt Hermann Bahr zum Daniel, „so einer, dem man gern zuhört, weil man dabei sich selber zu hören meint.“ Die Lektüre sei, „wie man in einen Garten geht und die Blätter rauschen.“174 Der Sound evoziert ein unmittelbares Erlebnis, das über die Semantik hinausgeht. In einer zeitgenössischen Rezension zum Daniel heißt es: 169 170 171 172

Vgl. Voigts, „Wir sollen ...“, S. 119–167. Vgl. Martin Buber: „Zur Wiener Literatur“, in: MBW 1, 119–129. Vgl. Treml, „Einleitung“. „Ihm bietet jede Stelle / Geheimnisvoll die Schwelle; / Es gibt sich jeder Welle / Der Heimatlose hin.“ Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe I: Gedichte 1, hg. von Eugene Weber, Frankfurt a. M. 1984, S. 63. 173 Treml: „Einleitung“, S. 63. 174 Bahr: Expressionismus, S. 46.

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„Ja, ich glaube, dass in der Melodie dieser biegsamen Sprache, in ihrem tönenden Fluss, in diesen Versen, die die ihnen innewohnenden Gesetze des eigenen Zeitmaßes mit auf die Welt gebracht haben, ganz ebenso die Ideen ausgedrückt sind wie in der Bedeutung der Worte. Man kann bloß dem Tonfall lauschen und muss die Absichten des Autors mit seinem Herzen verstehen. Darauf kommt es Martin Buber auch an.“175 Heute erscheint die „Melodie“ von Bubers Sprache wohl den meisten Lesern nicht mehr „biegsam“ oder gar „exquisit“176, wie es in einer Rezension zu den Drei Reden in Ost und West heißt, sondern bloß prätentiös. Die „Bedeutung der Worte“ erschließt sich im 21. Jahrhundert nicht mehr unmittelbar. Wie kann man überhaupt etwas „mit seinem Herzen verstehen“? Verstehen ist hier kein rational nachvollziehbarer Prozess des logischen Verfahrens, keine traditionell philosophische Stufenfolge der Erkenntnis, sondern ein Erlebnis, das sich gleichsam lauschend vollzieht und auf einmal sich in anschwellender Einsicht entlädt. Genau für diesen irrationalen und bewusst irrationalen Vorgang steht als emphatische Figur des Ursprungs die Stimme des Bluts. „Blut“ ist kein Begriff, sondern ein Thema des Sounds. In ihm hat er eines seiner ihn aufladenden Elemente, denn das als „lieber Gefährte“ empfundene „Rauschen“ ist dem Rauschen des Bluts in den Ohren nachempfunden. Der im ersten Kapitel dieser Studie dargestellte Charakter des „Bluts“ als in sich selbst ununterschiedenes Medium der Unterscheidung, seine Unbestimmtheit und seine semantische Leere, bestimmt die Sinnfülle, die aus ihm gelesen und in ihm gefunden wird. Gegenüber einer kontingenten Umwelt erscheint das „Blut“ als unauswechselbar; es ist gegeben – man braucht bloß darauf zu hören um heimzukommen, den Ursprung wiederzufinden. Während das Land und der eigene Boden in weiter Ferne liegen, hat das „Blut“ den Vorteil, dass man es wie das Buch überall mit sich herumtragen kann. Das „Blut“ ist überall. Gegenüber dem Buch, das ein Artefakt ist – die Bücherwelt ist eben die unlebendige Welt – ist das „Blut“ reine Präsenz: Wenn es blutet, dann schmerzt es, dann bekommt die reine Physis ihr Recht, das Recht des Lebens.177 Im frühen Aufsatz Juedische Renaissance charakterisiert Buber das Programm des Zionismus folgendermaßen: „Nicht das Programm einer Partei, sondern das ungeschriebene Programm einer Bewegung.“ (MBW 3, 146). Nicht Schrift, sondern der natürliche Ablauf der Bewegung selbst ist es, die ein „ungebrochenes, einheitliches Lebensgefühl des 175 Oskar Baum: Martin Bubers neue Dichtung, zitiert nach Treml: „Einleitung“, S. 65. 176 pa.: „Martin Buber“, in: Ost und West, 11. Jg, Heft 11 (November 1911), Sp. 998–999, hier Sp. 999. 177 Auf den Zusammenhang der frühen Schriften Bubers mit der so genannten Lebensphilosophie um 1900 und deren Anspruch, „ein vermeintlich unmittelbares Verhältnis zu lebendigen Natur“ zu begründen, wurde hingewiesen von Yotam Hotam: Moderne Gnosis und Zionismus. Kulturkrise, Lebensphilosophie und nationaljüdisches Denken, Göttingen 2010, S. 41; vgl. insbesondere S. 214–219.

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Juden“ ausdrücken soll. Wenn das Programm des „Bluts“ gelesen wird, ist der im Prozess dieser Lektüre gewonnene Sinn nicht willkürlich, der Sinn des „Bluts“ ist wirklich. Aus dem „Blut“ als Medium des Schreibens bei Heine ist also bei Buber das „Blut“ zum Substitut der Schrift geworden, beziehungsweise zu einer Verinnerlichung und Verwirklichung des Schreibens. Das Motiv der Stimme des Bluts führt die Literatur der Décadence denn auch für den Prozess der Verwirklichung an, zugleich eine zentrale Kategorie zionistischer Poetik.178 Sprachmächtig schildert das Richard Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs von 1900. „Aber“, so heißt es dort über den jungen Dandy Paul, „was diese Abendstunde ihm gegeben, blieb; immer in ihm und nur in ihm; dem Blut in seinen Adern nicht bloß vergleichbar – sein Blut selbst, das zu ihm geredet hatte; und darauf zu horchen hatte ihm diese Stunde gelehrt.“179 Paul hat eine synästhetische Vision seiner Vorfahren und hört den „Gesang vesperlicher Hymnen.“180 Begleitet vom Sound mystischer Einkehr sieht er vor seinem inneren Auge „ein Volk, um Gnaden nicht bettelnd […], durch Meere wandernd, von Wüsten nicht aufgehalten, und immer vom Fühlen des gerechten Gottes so durchströmt, wie vom Blut in ihren Adern: […]. / Und von ihrem Blute war auch er.“181 Die Erkenntnis, die Paul hier durchfährt, ihn aus seiner Isolation reißt und damit in ein lebbares Leben jenseits des Ästhetischen führt, ist die des gemeinsamen „Bluts“. Dieses ist ein „Symbol für eine alle Menschen verbindende reale Substanz“ und ein „archaisches Mysterium“ der Zusammengehörigkeit.182 BeerHofmanns Text, auf den noch zurückzukommen sein wird, ist nicht der einzige literarische Text der Epoche, der mit dem Motiv des wiedergefundenen Bluts arbeitet. Doch genügt hier der Verweis darauf, um deutlich werden zu lassen, in welche Klangkulisse, in welchen Sound Buber seine Texte webt 3.2  „das, was ich das Blut nannte“

In einem kurzen, in lyrischer Prosa gehaltenen Artikel mit dem Titel Feste des Lebens, der 1901 im zentralen Organ der Zionistischen Bewegung Die Welt erscheint, schreibt Buber: „Alles gilt mir meines Blutstammes Schönheit und Glück. / Und ich weiß: die kann er nur gewinnen in seinem Volksthum.“183 Das 178 Vgl. Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 305. 179 Richard Beer-Hofmann: Werke, Band 3: Der Tod Georgs, hg. und mit einem Nachwort von Alo Allkemper, Paderborn 1994, S. 133. 180 Ebd., S. 133–134 181 Ebd., S. 134. 182 Daniel Hoffmann: „Die Masken des Lebens – Die Wiener Moderne im Lichte jüdischer Hermeneutik“, in: ders. (Hg.): Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Paderborn u.a. 2002, S. 235–270, hier S. 254. 183 Martin Buber: „Feste des Lebens. Ein Bekenntnis“, in: MBW 1, S. 153–155, hier S. 153.

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„Volksthum“ und die „organische Einheit“ des Volkes sind für Buber in den jüdischen Feiertagen sichtbare Wirklichkeit, nicht so sehr im traditionell religiösen Sinn, sondern in der Ankündigung einer kommenden jüdischen Gemeinschaft, als „Weihegärten eines jungen Volkes.“ (MBW 1, 155). Die Feiertage bestätigen nicht den Bund des Volkes mit Gott. Sie bezeugen damit nicht die Religion, sondern bestätigen die Lebendigkeit des Volkes, das aus dem „Blutstamm“ kommt. Im gleichen Jahr erscheint auch der bekannte Text Juedische Renaissance, in dem Buber die Vision einer „neuen Einheit“ des Judentums entwirft, die „das Ruhen im Brudertum der Herzen gewährt […]. (MBW 3, 147). Diese „Lebensgemeinschaft“ der Brüder ist „die alte angestammte und doch wieder eine neue“ (ebd.), sie ist hier nicht in den traditionell religiösen Ritualen gekleidet, sondern fügt sich ein in eine allgemeine Tendenz zur Nationalisierung der Kunst und umgekehrt einer kulturellen Überformung des Nationalen um 1900, sowie in einen von Nietzsche und Jakob Burckhardt geprägten Diskurs zur „Renaissance“184 und eine antibürgerliche „Wiedergeburt des ganzen Menschen.“ (MBW 3, 144). Diese vitalistische Rhetorik ist noch wirksam in Bubers berühmten Drei Reden über das Judentum, in denen er „die Frage nach dem Sinn des Judentums für die Juden“ nicht mit „einer Abstraktion“, sondern mit Bezug zu „unserem eigenen Leben“ (MBW 3, 219) beantworten will. Die erste dieser drei Reden – die hier im Zentrum steht – hat seit ihrer Publikation „Irritationen bis heftige Kritik“ hervorgerufen, und zwar vor allem wegen der „in vielen Variationen immer wieder beschworene[n]‚ Gemeinschaft des Blutes‘.“185 Hier kann ich weder den vielfältigen Einflüssen auf Bubers Reden noch der Rezeptionsgeschichte nachgehen, noch kann ich eine ausstehende „endgültige Würdigung“186 dieser Texte vorlegen. Ich werde mich im Kontext meiner Untersuchung ganz auf den Terminus „Blut“ und dessen Funktion im Text konzentrieren. Dabei geht es mir nicht um eine Einordnung Bubers in einen schwer zu bestimmenden „Zeitgeist“. Eine Entscheidung darüber, ob Buber „Blut“ analog zur nationalsozialistischen Redeweise benutzt, oder ob – wie sich Buber selber nach 1945 äußerte – „in keinem Falle einen Zusammenhang mit dem Begriff Rasse“187 und seiner rassistischen Implikation besteht, kann nicht sinnvoll getroffen werden. Schon Victor Klemperer fiel die beunruhigende „Verwandtschaft des Stils zwischen 184 Im Sinn Burckhardts muss Bubers Titel Juedische Renaissance nicht nur als Wiedergeburt des Jüdischen, sondern als „Entdeckung der Welt und des Menschen“, als Entdeckung des jüdischen Menschen an sich verstanden werden. Vgl. Jakob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Leipzig 1908 (10. Auflage), hier das Kapitel „Die Entdeckung der Welt und des Menschen“. 185 Barbara Schäfer: „Einleitung“, in: MBW 3, S. 13–50, hier S. 37. 186 Ebd., S. 38. 187 Zitiert nach Ebd.

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Rosenberg und Buber, die Verwandtschaft mancher Wertung“188 auf. Klemperer führt sie auf „nicht nur verkitschte, sondern auch echte Romantik“ zurück: „aus ihrem Quell schöpfen beide, die Unschuldigen und die Giftmischer, die Opfer und die Henker.“189 Die Intention dieser Reden, die sie nicht verfehlten, ist ein romantisches Projekt, nämlich die Herstellung einer Gemeinschaft über die Kreation eines Sounds, und dieser hat sein großes Thema im „Blut“. Doch was liegt hinter dem Rauschen? Wie kann Bubers Rede vom Blut nicht „mit dem Herzen“, sondern mit dem Auge des Philologen verstanden werden? Die Frage, was es heißt, „Jude“ zu sein, ist die Grundfrage des modernen Judentums; dass sie gestellt wird, darauf hat Emmanuel Lévinas aufmerksam gemacht, offenbart den Bruch mit der Tradition und das Festhalten daran.190 Buber stellt sie effektvoll im exordium seiner Rede: Die Frage, die ich Ihnen und mir heute vorlege, ist die Frage nach dem Sinn des Judentums für die Juden. Warum nennen wir uns Juden? Weil wir es sind? Was bedeutet das, dass wir es sind? Ich will zu Ihnen nicht von einer Abstraktion sprechen, sondern von Ihrem eigenen Leben, von unserem eigenen Leben. Und nicht von seinem äußeren Getriebe, sondern von dieses Lebens innerem Recht und Wesen. […] Welchen Sinn hat uns dieses Überlieferte, Name, Losung und Wegbefehl: Judentum? Welcher Art ist die Gemeinschaft, von der wir Zeugnis ablegen, wenn wir uns Juden nennen? (MBW 3, 219)

Gegenüber der als unwirklich und äußerlich empfundenen Bezeichnung fordert Buber „Recht und Wesen“ des inneren Lebens und den „Sinn“ hinter dem Wort „Jude“. Mit dem Sinn verbunden ist die Gemeinschaft, die sich im Namen „Juden“ bezeugt. Die klassischen Stichworte, die man hier – nach Situation oder Intention je unterschiedlich gewichtet – als Antworten geben könnte, sind Religion und Nation, also der Verweis auf die doppelte Tradition dessen, was das Judentum als Volk Israel zusammenhält. Beide Stichworte sind für Buber in der Moderne nicht mehr ausreichend. Eine unmittelbare jüdische Glaubenserfahrung jenseits der bürgerlichen Religion als privater Konfession, ist im Judentum des frühen 20. Jahrhunderts eine „Erinnerung, vielleicht auch eine Hoffnung, aber keine Gegenwart.“ (MBW  3, 221). Buber bemüht die von seinem akademischen Lehrer Georg Simmel eingeführte Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität, wo188 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 2005 (21. Auflage), S. 274. 189 Ebd. 190 „S’interroger sur l’identité juive, c’est déjà l’avoir perdue. Mais c’est encore s’y tenir, sans quoi on évitérait l’interrogatoire. Entre ce déjà et cet encore, se dessine la limite, tendue comme une corde raide sur laquelle s’aventure et se risque le judaïsme des juifs occidenteaux.“ Emmanuel Lévinas: „Pièces d’Identité“, in: ders.: Difficile Liberté. Essais sur le judaïsme, troisième Edition, revue et corrigée, Paris 1976, S. 74–78, hier S. 74.

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bei er sie inhaltlich neu bestimmt. Während Simmel Religiosität als soziologische Kategorie unter anderen definiert, ist sie für Buber „etwas Metaphysisches“, sie stellt den Bezug zum Absoluten und Unbedingten dar und wird „verkörpert vom biblischen Juden.“191 Für Simmel war Religiosität „ein an sich gegenstandsloser Zustand oder Rhythmus der Innerlichkeit“,192 die als „religiöse Stimmung des Menschen“193 schließlich in einem komplizierten Prozess zur institutionalisierten Religion führt. Für Buber aber ist Religiosität als „elementares Gottgefühl, heilige, brennende Elohimgewalt“ gerade der Gegensatz zur Religion, die er eine „mit Monotheismus verbrämten Humanität“ nennt. Mendes-Flohr führt treffend aus: „Religion ist die Antithese zur Religiosität. Mit ihrem Überbau von Dogma und Ritualvorschriften droht die Religion, die Religiosität an ein Bedingtes zu fesseln und dadurch ihr innerstes Wesen anzutasten.“194 Während die Religion des Judentums für Buber noch als äußerliches Bekenntnis existiert, ist seine lebendige Religiosität verschwunden. Gerade in der Prager Studentenverbindung „Bar Kochba“, der historischen Szenerie dieser Reden, muss Buber mit diesem Urteil auf Zustimmung gestoßen sein195 – damit hat der Anfang der Rede seinen Zweck erfüllt, das Publikum wohlwollend zu stimmen.196 Auch der Begriff der Nation entfaltet für Buber nicht die gesuchte Innerlichkeit. Die „nationale Existenz“ bestimmt, wie Juden „erleidend und reagierend“ (MBW 3, 221) zur nichtjüdischen Umwelt stehen. Die angestrebte Nation kann jedoch nicht der ersehnten „autonome[n] Wirklichkeit“ des Menschen gerecht werden. „Was macht es,“ so fragt sich der junge Jude bei Buber, „daß er das Volk nicht bloß um sich: daß er es in sich fühlt?“ (MBW 3, 221). Noch einmal wird hier die Frage nach dem „in sich“ gestellt, nach der au191 Paul Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zum „Ich und Du“, mit einer Einführung von Ernst Simon, aus dem Englischen von Dafna A. von Kreis, Königstein im Taunus 1979, S. 84. 192 Georg Simmel: Die Religion, Frankfurt a. M. 1922 (9.–11. Tausend), S. 42. Buber war Herausgeber der wissenschaftlichen Reihe „Die Gesellschaft“ im Verlag Rütten & Loening, in der zwischen 1906 und 1912 vierzig Bände von zum Teil namhaften Philosophen und Publizisten wie Werner Sombart, Fritz Mauthner oder Bubers Freund Gustav Landauer erschienen. Der Reihe ging es u.a. darum, den Begriff der „Gesellschaft“ und die damit verbundene Disziplin der Soziologie im konservativen Umfeld des wilhelminischen Universitätsbetriebs zu etablieren. Als Nummer 2 erschien 1906 Georg Simmels Studie Die Religion, in der die Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität getroffen wird. 193 Simmel: Die Religion, S. 16. 194 Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog, S. 111–130. 195 Das berühmteste Dokument, in der sich Bubers Klage spiegelt, ist ein Prager Dokument. Es ist sicher Kafkas Brief an den Vater, der die Gleichgültigkeit assimilierter Juden gegenüber der institutionalisierten Religion, aber auch das Unbehagen und die Verlegenheit damit, prägnant zum Ausdruck bringt. 196 Vgl. Groddeck: Reden, S. 7.

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thentischen „Grundlage der menschlichen Gesellschaft“, nach der Heine gefragt hatte, dem Kontinuum des Sinns, das sich um und durch den Einzelnen und die Gemeinschaft spannt. Die Nation, die Moses Hess als Fundament des Wirklichen jeglicher menschlichen Existenz, jeglicher Autonomie ansah, ist für Buber durch den politischen Zionismus und dessen Streben nach Anerkennung von Außen desavouiert, es muss ein anderes Substrat von Gemeinschaft und Einzelnem gefunden werden. Das Zugehörigkeitsgefühl des Individuums zur Gemeinschaft basiert nach Buber auf „drei konstanten Elementen seines Erlebens“, nämlich der „Heimat, Sprache und Sitte.“ (MBW 3, 222). Doch wie das Kleinkind in der Entwicklung der Wahrnehmung erst allmählich seinen eigenen Körper als seinen eigenen entdeckt, der es von der Umwelt trennt und der es unablösbar mit seinem Ich verbindet, so gibt es auch in der psychologischen Entwicklung der Adoleszenz eine Entdeckung dessen, was das Ich uneintauschbar und transtemporal mit der Gemeinschaft verbindet, der gemeinschaftlichen „Substanz“. Dieser junge Mensch, den der Schauer der Ewigkeit angerührt hat, erfährt in sich, dass es ein Dauern gibt. Und er erfährt es noch nackter und noch heimlicher zugleich […] wenn es angesehen wird: in der Stunde, da er die Folge der Geschlechter entdeckt, die Reihe der Väter und Mütter schaut, die zu ihm geführt hat, und inne wird, was alles an Zusammenkommen der Menschen, an Zusammenfließen des Blutes zu ihm geführt, welcher Sphärenreigen von Zeugungen und Geburten ihn emporgerufen hat. Er fühlt in dieser Unsterblichkeit der Generationen die Gemeinschaft des Blutes, und er fühlt sie als das Vorleben seines Ich, als die Dauer seines Ich in der unendlichen Vergangenheit. Und dazu gesellt sich, von diesem Gefühl gefördert, die Entdeckung des Blutes als der wurzelhaften, nährenden Macht im Einzelnen, die Entdeckung, dass die tiefsten Schichten unseres Wesens vom Blute bestimmt, dass unser Gedanke und Wille zu innerst von ihm gefärbt sind. Jetzt findet und empfindet er: die Umwelt ist die Welt der Eindrücke und Einflüsse, das Blut ist die Welt der beeindruckbaren, beeinflussbaren Substanz, die sie alle in ihren Gehalt aufnimmt, in ihre Form verarbeitet. Und nun fühlt er sich zugehörig nicht mehr der Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche konstante Elemente des Erlebens haben, sondern der tieferen Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche Substanz haben. […] Jetzt ist ihm das Volk eine Gemeinschaft von Menschen, die waren, sind und sein werden, eine Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen, die zusammen eine Einheit darstellen; und dies ist eben die Einheit, die er als Grund seines Ich empfindet, seines Ich, das in diese große Kette als ein notwendiges Glied an einem von Ewigkeit bestimmten Orte eingefügt ist. (MBW 3, 222-223)

Ich ist ein anderer, oder viele andere, nämlich die „Reihe der Väter und Mütter“, die genetischen Vorfahren. Anteil an einer „Dauer“ hat der Einzelne gemäß Buber in der Konstanz biologischer Fortpflanzung, die zum „Sphärenreigen“ geadelt wird. Dass Sphären, also die Vorstellung ineinander verschichteter Himmelskörper, als eine Metapher für Geschlechtsorgane herhalten müssen, entbehrt nicht unfreiwilliger Komik; doch gerade auf die hier evozierte Vorstel-

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lung eines Vernehmens der Sphärenharmonie, also jener dem Menschen unhörbaren Musik der Planeten, kommt es Bubers Pathos an. Denn mit moderner naturwissenschaftlicher Begründbarkeit will diese Argumentation nichts zu tun haben. So sind das „Zusammenfließen des Blutes“ und „die Gemeinschaft des Blutes“ kaum physische Prozesse, sondern Verbildlichungen des mystischen Erlebnisses in säkularisierter Form: Bubers Protagonist wird von einem „Schauer“ angerührt, er „schaut“ seine Vorfahren und wird gleichzeitig von ihnen „emporgerufen“. Es ist das Nicht-allein-Sein, das Ende aller Isolation, das mit „Blut“ codiert ist und das mehr sein will als kulturelle, religiöse oder politische Verbundenheit. Es ist eine in beide Richtungen der Zeitachse sich bewegende Matrix der Innerlichkeit, in die sich der Einzelne eingeschmolzen findet. Dabei ist die Rede vom Blut hier doppeldeutig. Gedanken und Willen des Einzelnen werden einerseits vom „Blut“ „zu innerst“ „gefärbt“, also aktiv determiniert. Das „Blut“ ist die von innen heraus formende Kraft. Wenn andererseits vom „Blut“ als der „Welt der beeindruckbaren, beeinflussbaren Substanz“ die Rede ist, dann ist es schon dieses Innerste oder hat Teil an ihm und ist passiv den Eindrücken der Umwelt ausgesetzt, die es nun selbst formbar von Außen aufnimmt. „Blut“ ist also immer beides, aktives und passives Element der Verbindung des Einzelnen mit der Gemeinschaft. Als ein Wort für das Innerste dieses Prozesses benennt es die Willkürlichkeit dieser Verbindung und wird genau deswegen als das Unwillkürliche und Unmittelbare überhaupt ausgewiesen. „Blut“ und „Substanz“ sind, obwohl es den Anschein hat, nicht synonyme Bezeichnungen dieser unverbrüchlichen Verbindung, sondern deren Modi. Das einheitliche, mit der Gemeinschaft verbundene Ich ist auf sein „Blut“ bezogen, wenn die Verbindung unter dem Aspekt seines Selbst, seines Innen beschrieben wird; „Substanz“ heißt sie demgegenüber, wenn sie unter dem umgekehrten Aspekt ihres Außens, der Welt betrachtet wird. Die „Einheit“, die im „Blut“ nach Innen und in der „Substanz“ nach Außen hergestellt werden soll, wird im ambivalenten Bild der „Kette“ gefasst. Von der Vorstellung dieser „Kette“ geht Trost aus, doch auch, das zeige ich im Kapitel zu Franz Kafka, der das Bild aufnimmt, Zwang und Terror. Für Buber hat sie ausschließlich positive Aspekte: „Was alle Menschen in dieser großen Kette geschaffen haben und schaffen werden, das empfindet er [„der Jude“, CB] als das Werk seiner innersten Eigentümlichkeit […]. Der Weg des Volkes lehrt ihn sich selbst verstehen und sich selbst wollen.“ (MBW 3, 223). Das Bild der „Kette“, in die das Ich als eine Glied eingefügt ist, suggeriert einen „Grund des Ich“ und damit eine Kongruenz von Notwendigkeit des Vererbten mit dem eigenem Willen, verdeckt jedoch, dass die „Einheit“ nicht nur „Grund“ des Ichs, sondern auch dessen Abgrund sein kann. Für Ambivalenzen hat Buber 1909 kein Sensorium. Er lenkt freilich auf die Schwierigkeiten hin, die sich aus seiner Rede vom Blut für die assimilierten Juden Westeuropas ergeben: „Dieses Sicheinstellen in die große Kette ist die

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natürliche Situation des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Volke, von der Subjektivität aus betrachtet. Der natürlichen subjektiven Situation entspricht aber nicht immer eine natürliche objektive.“ (ebd.). Eine „natürliche subjektive Situation“ entspricht für Buber dann einer „natürlich objektiven“, wenn die drei von ihm als konstante Elemente des Erlebens bezeichneten Kategorien Heimat/Land, Sprache sowie Sitte/Lebensformen zugleich die „seines Blutes sind.“ (ebd.). Die innere „Substanz“ des Individuums muss mit seinen äußeren Bedingungen in der Umwelt übereinstimmen, wobei diese Übereinstimmung als eine Entfaltung der inneren Substanz im zufälligen Außen gedacht wird. Die Gemeinschaft der konstanten Elemente – also die Sprachgemeinschaft, die Bevölkerung und die kulturelle Gemeinschaft – muss mit der „Gemeinschaft des Bluts“, als deren Ausprägungen die drei Elemente verstanden sind, synchron sein. Sprache, Land und Kultur, äußere Bedingungen der Existenz, können sich jedoch auch umgekehrt in die „Welt der Substanz“ (ebd.) einprägen. Die „natürliche, objektive Situation“ stellt sich wechselseitig von Außen nach Innen und von Innen nach Außen her, ein Vorgang, in dem zwischen Aus- und Einprägung nicht zu unterscheiden ist. Wichtig für Bubers Argumentation ist jedoch nicht das Ambivalente an diesen Bestimmungen, sondern die Feststellung des Fehlens der beschworenen Situation des Ausgleichs: „Diese natürliche, objektive Situation ist in dem Verhältnis des Juden, insbesondere des Westjuden, zu seinem Volke nicht gegeben.“ Land, Sprache und Lebensformen, sind nicht der Gemeinschaft seines Blutes, sind einer anderen Gemeinschaft zugehörig. Die Welt der konstanten Elemente und die Welt der Substanz sind für ihn zerfallen. Seine Substanz entfaltet sich nicht vor ihm in seiner Umwelt, sie ist in tiefe Einsamkeit gebannt, und die einzige Gestalt, in der sie sich ihm darstellt, ist die Abstammung. (MBW 3, 223-224)

Die Klage, dass Zwiespältigkeit und Zerrissenheit den Juden der Galut kennzeichnen, ist nicht originell. Buber konnte sich nach den komplexen, allgemeinen anthropologischen Ausführungen sicher sein, dass seine Zuhörer ihn nun verstanden. Das Innerste des „Westjuden“ kann sich nicht äußern, das Wahre, Wahrhaftige und Authentische in ihm besitzt kein Spiegelbild in der Umwelt, das es bestätigen und bewähren könnte und bleibt deshalb „in tiefe Einsamkeit gebannt“. Der Ausweg aus der Einsamkeit liegt in der Besinnung auf „das Blut als die tiefste Machtschicht der Seele“ oder das, was ich das Blut nannte: das in uns, was die Kette der Väter und Mütter, ihre Art und ihr Schicksal, ihr Tun und ihr Leiden in uns gepflanzt haben, das große Erbe der Zeiten, das wir in die Welt mitbringen. (MBW 3, 224)

Das „Blut“ ist ein Speichermedium, dessen Gedächtnis über die Lebensspanne des Einzelnen weit hinausreicht. Es sind die Geschichte der Verfolgung und das Elend, aber auch „die Art der Propheten, der Sänger und der Könige Judas“

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(ebd.), deren Spuren sich im „Blut“ erhalten haben und auf die sich die mäeutische Energie richten soll: Die Geburt des neuen Juden aus dem „Blut“ des alten steht bevor, dazu sind nur ein Blick und ein Griff in die Tiefe nötig. Um den Bann zu sprengen, muss sich der „Westjude“ zuerst völlig in die Isolation begeben, um daraus hervorkommend die neue Gemeinschaft zu stiften, was nicht nur Zarathustras Isolation in den Bergen und dem anschließenden Gang unter die Menschen entspricht, sondern auch einem üblichen Schema der Mystik. Die erlebte Fülle des Sinns kommt aus einer Leere, aus den „stillsten Stunden“ jenseits der Tagesrationalität, aus Askese und Abgeschiedenheit. Um aus der Zwiespältigkeit zur Einheit zu kommen, dazu bedarf es die Besinnung auf das, was unser Blut in uns bedeutet, denn in dem Getriebe der Tage werden wir uns immer nur der Umwelt und der Wirkung der Umwelt bewusst. Vertiefen wir den Blick der stillsten Stunden: schauen wir, erfassen wir uns selber. Erfassen wir uns: ziehen wir unser Leben in unsre Hand, wie man einen Eimer aus einem Brunnen zieht, sammeln wir es in unsere Hand, wie man zerstreute Körner zusammenrafft. (MBW 3, 224)

Die Metapher vom Blut wird hier über die Assoziationen des Tiefen, Dunklen und Flüssigen erweitert: Das Leben soll in die Hand gezogen werden können „wie man einen Eimer aus dem Brunnen zieht“. Etwas, das unterirdisch und nicht sichtbar schon da war, etwas Verborgenes soll ans Tageslicht gebracht und verfügbar gemacht werden. Dabei wird etwas geschöpft: Das Wasser im Eimer ist Leben spendend, die Körner, die man damit zum keimen bringt, sind die Nuklei künftigen Lebens. Der Brunnen ist ein romantisches Bild par excellence. Es gibt den „Brunnen vor dem Tore“ aus Schuberts Lied und den Brunnen, in den die goldene Kugel der jüngsten und schönsten Königstochter fällt, und aus dem dafür der unheimliche Frosch kommt, der Wünsche erfüllt und damit an das Verdrängte rührt. Wie die Kette ist auch der Brunnen ein ambivalentes Bild. Denn genau wie er Erfüllung verspricht, öffnet er eine unauslotbare Tiefe, einen dunklen Schacht, der grundlose Angst versinnbildlicht. In diesem Sinn kehrt auch das Bild des Brunnens in Kafkas Aufzeichnungen wieder, ohne dass dort der Eimer je in die Hand gelangen würde. Bubers Blick in die Tiefe blendet die Ambivalenz, die jeder Verwirklichung eines Wunsches eigen ist, aus. Ihm geht es gerade darum, eine zu „erneuernde verlorene Natürlichkeit“197 zu beschreiben und damit das Judentum aus seiner Froschgestalt in die Gestalt des Prinzen zurück zu verwandeln: „diese elenden, gebückten, schleichenden Menschen“ (MBW 3, 226) sollen „nicht etwa bloß als unsere Brüder und Schwestern“, sondern als „Stücke von mir“ (ebd.) in einem neuen, ganzen jüdischen Lebenskontinuum geborgen werden. War vorher „Zwiespältigkeit“, soll jetzt „Einheit“ sein. Die Erlösung kann jedoch nicht plötzlich vonstatten gehen, sie entfaltet sich im Lebensprozess, der über den Einzelnen hinausreicht. Die freie Zukunft des Judentums, die „Gewal197 Hotam, Moderne Gnosis und Zionismus, S. 19.

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ten in uns“, die „auf ihren Tag warten“, können erst gefühlt werden und kommen zukünftigen Generationen zu. Doch wie stellt sich Buber den Übergang von partikularisierten und „gebückten“ zu einheitlichen und aufrechten Juden vor? Für Hess lag der Verwirklichungsprozess zuerst im Akzeptieren der nationalen Essenz des Judentums selbst, seiner vermeintlichen Natur; für Nordau war es die biopolitische Disziplinierung des jüdischen Körpers und damit die vermeintliche Re-Naturalisierung; für Herzl analog die Kolonialisierung des jüdischen Territoriums. Für den jungen Buber geht der geheimnisvolle Weg nach Innen. Das „Blut“ oder, wie es gegen Ende der ersten Rede heißt, „die Einheit der Substanz in uns“ müssen dabei nicht nur propagiert, sondern gelebt werden: Nicht auf ein Bekenntnis kommt es an, nicht auf eine Erklärung der Zugehörigkeit zu einer Idee oder einer Bewegung, sondern darauf, dass der, der seine Wahrheit in sich aufgenommen hat, sie lebe, dass er sich von den Schlacken der Fremdherrschaft reinige, sich aus der Zwiespältigkeit finde zur Einheit: dass er sich erlöse. (MBW 3, 226-227)

Dieser Satz ist in der späteren Ausgabe von 1963 nicht mehr enthalten. Vielleicht war es die Kühnheit, mit der hier die sich münchhausiadisch selbst aus dem Sumpf oder Brunnen ziehende Bewegung der „Autoemancipation“ gefordert wird, die religiös verbrämte Selbsterlösung, die nicht mehr in eine nüchtern gewordene Zeit passte. Die Metapher von den „Schlacken“ evoziert, dass das Ich selbst aus einem schlammigen Brunnen auftaucht. Es ist das Bild der Geburt, allerdings einer Selbstgeburt. Um aus der Fremde in die „Einheit“ zu kommen, bedarf das Ich der Reinigung, was auch an den Vorgang des Eintauchens in die Mikwe, das rituelle jüdische Bad, erinnert. Reinigung und Erlösung stehen hier in einem dialektischen Verhältnis zueinander, sie haben einen konkreten Bezug zur individuellen Lebensführung, analog zu den religiösen, rabbinischen Vorstellungen, von denen Buber sich doch freimachen will: Denn wie die Juden der Urväterzeit, um sich aus der Entzweiung ihrer Seele, aus der ‚Sünde‘ zu befreien, sich ganz an […] den einen einheitlichen Gott hingaben, so sollen wir, die wir in einer andern, besonderen Zweiheit stehen, uns daraus befreien, nicht durch Hingabe an einen Gott, den wir nicht mehr wirklich zu machen vermögen, sondern durch Hingabe an der Grund unseres Wesens, an die Einheit der Substanz in uns, die so einig und einzig ist, wie der eine und einzige Gott, den die Juden damals aus ihrer Sehnsucht hinaufgehoben haben an den Himmel ihres Daseins und ihrer Zukunft. (MBW 3, 227)

Der monotheistische Gott wird religionskritisch als Projektion einer jüdischen „Sehnsucht“ nach Einheitlichkeit gedeutet. „Substanz“ und „Blut“ sind die zwei Aspekte des Doppelgesichts, das seine Nachfolge antritt. Hat die Struktur traditionellen jüdischen Lebens sein Zentrum in der Tora, die in sich einheitlich und singulär ist und die die Einheit und Singularität der Welt und des Menschen garantiert, so steht hier die „Einheit der Substanz in uns“ als Fluchtpunkt

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Von „Mammon“ zu „Zion“

des Lebens, dessen Einheitlichkeit und Singularität in der Hingabe an „Blut“ und „Substanz“ hergestellt werden soll. Die Frage nach der Verinnerlichung und Verwirklichung, nach der das Individuum und die Gemeinschaft unvermittelt zusammen schweißenden Kraft, erfährt bei Buber eine existentialistische Wendung, eine Wendung von der Schrift zum „Blut“. Die Frage wird beantwortet mit dem Hinweis auf den, der die Frage stellt. Wer die Frage stellt, hat sie schon beantwortet. Diese paradoxe Struktur führt Buber anhand eines erweiterten talmudischen Gleichnisses aus, das er an den Schluss seiner Rede stellt: Als ich ein Kind war, las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte. Sie erzählte nichts weiter als dies: „Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias.“ Damals kam ich zu einem alten Manne und fragte ihn: „Worauf wartet er?“ Und der alte Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht verstand und erst viel später verstehen gelernt habe; er sagte: „Auf dich.“ (MBW 3, 227)

Buber stellt die Nacherzählung dieser bekannten talmudischen Stelle in einen legendären Rahmen, wobei sich die Legende um sein eigenes Leben rankt. Der Redner „Buber“ erscheint damit als ein jüdischer Zarathustra, und die autobiographische Episode ist eine Art Auto-Hagiographie. Auch diese Selbststilisierung mag zum Erfolg der Drei Reden beigetragen haben. Denn der Zuhörer hatte jemand vor sich, der ihm auf dem Weg der Entscheidung schon vorangegangen war. Damit war weniger schwer zu akzeptieren, was er als Moral mit auf den Lebensweg nehmen sollte: Befreiung, Verwirklichung und Vereigentlichung sind immer vom Einzelnen selbst abhängig. Der Bettler und der Messias, der gebückte und der neue Jude, hat der Zuhörer beide virtuell „in sich“, es kommt darauf an, die in ihm latenten Möglichkeiten zu bergen und zu verwirklichen. Jeder Jude und jede Jüdin muss also dem Beispiel „Bubers“ folgen und die Entscheidung zum Judentum in sich treffen. Dafür braucht es zuallererst eine „Besinnung auf das, was unser Blut in uns bedeutet“. Doch was „bedeutet“ das „Blut“? Auf welches Signifikat bezieht sich jener Signifikant? Es ist klar, dass Buber meint, in den jüdischen Subjekten lägen der Klang und die Struktur des vor Generationen vergessenen Hebräischen verborgen, dass in ihrem Innersten die Weisheiten Salomos und die Anmut Esthers auf ihre Aktualisierung warteten und dass sogar das subtropische Klima Palästinas noch irgendwo abgespeichert läge. Nach Buber ist „das, was ich das Blut nannte“, eben ein Container, in dem sich jene Reihung von positiven Stereotypisierungen jüdischer Existenz, jene vermeintlich essentiellen Attribute des Jüdischen verbergen. Doch Bubers Rhetorik müht sich bloß, die Willkürlichkeit dieser Vorstellung zu verdecken. Nur wenn man schon weiß, dass man Jude ist, findet man in seinem Innersten ein Stratum, zu dem man dann Judentum sagen kann. Nur wenn man sich schon entschieden hat, Jude zu sein, kann man sich darauf besinnen. Der Punkt, an dem diese Tautologie verborgen wird, heißt eben „Blut“,

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es ist der Punkt, an dem das eigene Jüdisch-Sein vergessen ist und schon wieder erinnert wird. Die Bedeutung des „Bluts“ als Scheitelpunkt dieser zirkulären Struktur, also „das, was ich das Blut nannte“, ist kontingent, sie ergibt sich aus dem, was hineingelesen wird. Der Brunnen zeigt das Spiegelbild desjenigen, der hineinblickt. Im „Blut“ findet der, der sich darauf besinnt – falls er nicht vorher von einem Schwindel erfasst wird – am Ende nur eine Bestätigung dessen, was er schon zu sein glaubt. In den letzten Sätzen von Richard Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs wird das explizit: Wie dicht der Nebel war und wie weit die Stadt lag! Aber durch alle Müdigkeit hindurch empfand Paul Ruhe und Sicherheit. Als läge eine starke Hand beruhigend und ihn leitend auf seiner Rechten; als fühle er ihren starken Pulsschlag. Aber was er fühlte, war nur das Schlagen seines eigenen Bluts.198

Der Sound des Bluts suggeriert einen Zusammenschluss über Zeit und Raum hinweg, ein Zusammenfließen von Selbst und Gemeinschaft in einer ontologischen Essenz des Judentums. Doch im Rauschen geht unter, dass das vermeintliche Ende der Isolation nur eine gespenstische Verdoppelung ist. Was im „Blut“ zu vernehmen ist, das ist nur „das Schlagen seines eigenen Bluts“, der im Innenraum des Ichs einsam hallende Klang, der nach einem Namen ruft.

198 Beer-Hofmann: Tod Georgs, S. 136.

IV.  „Blutsgemeinschaft“ und Sprachgemeinschaft –   Franz Rosenzweig

Die folgenden zwei Kapitel zeichnen die Erschütterungen nach, die von Martin Bubers Drei Reden über das Judentum ausgehen. In den primär philosophischen und theologischen Texten Franz Rosenzweigs und in den primär literarischen Franz Kafkas stößt man jeweils in sehr anderer Bearbeitung auf Spuren von Bubers Prätexten; vor allem das Motiv des Bluts wird aufgenommen und im Fall Rosenzweigs zu einem zentralen Moment der politischen Theorie des Judentums gemacht, im Fall Kafkas zu einem Element parodistischer Simulation zionistischer Diskurse. Kafka wie Rosenzweig gehen in ihren die gesamte Moderne prägenden und inspirierenden Schriften natürlich weit über Bubers Impuls hinaus, ihr jeweiliges Werk ist lesbar und verständlich auch ohne dessen Texte zu kennen. Doch im Rahmen der hier vorgeschlagenen Lektüren deutsch-jüdischen Schreibens anhand der Rede vom Blut sind diese zentral, nicht im Sinn eines alles erklärenden Bezugsystems, sondern im Sinn einer Provokation, auf die mehr oder weniger explizit, öfters implizit, eingegangen – deren Bedeutung jedoch durch den eigenen Text mit verschiedenen Mitteln absorbiert wird. Die Feststellung einer intertextuellen Situation erklärt noch nicht die Texte: Es sind ganz eigene Konzepte, die anhand von Rosenzweig und Kafka verhandelt werden müssen. In diesem Kapitel ist Rosenzweigs irritierender Gebrauch von „Blut“ und „Blutsgemeinschaft“ im dritten Buch seines philosophischen Hauptwerks Der Stern der Erlösung, welches 1918–1919 entstand und 1921 publiziert wurde, zentral. Einbezogen in die Untersuchung werden hier frühere und spätere Texte, die auf diese Textstellen im Stern verweisen, sie präfigurieren oder auffallend gegensätzlich ausgerichtet scheinen. In den Blick kommen dabei auch Rosenzweigs frühe Essays, die zu seinen Lebzeiten teilweise ungedruckt geblieben sind, die so genannten „Gritli-Briefe“ und die späten Briefe, in denen nicht mehr der Historiker und Philosoph, sondern der Gründer des erfolgreichen „Freien Jüdischen Lehrhauses“ in Frankfurt am Main und damit der jüdische Pädagoge spricht. Obwohl diese Studie zum „Blut“ das ganze Werk Rosenzweigs in den Blick nimmt, muss sie sich gezwungenermaßen an Marginalien halten. Sie ist mehr ein Umgehen als ein Durchgang. Und doch stößt gerade dieser Randgang am Schluss ins Zentrum von Rosenzweigs Denken vor, wenn nach dem Status der Sprache gegenüber dem „Blut“ gefragt wird. Rosenzweigs Konzepte von Gemeinschaft und Zugehörigkeit gehen immer vom „Blut“ aus, das durchgehend einer anderen Komponente („Gemüt“, Staat, Sprache) entgegengestellt wird. Die Fragen müssen sein, wie das Verhältnis dieser anderen Komponenten

Volk, Glauben und „Blut“

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zum „Blut“ beschaffen ist, und wie diese verschiedenen anderen Begriffe sich im Werk Rosenzweigs zu einander verhalten. 1.  Volk, Glauben und „Blut“ Wie ich trotz der Millionen Getaufter für mein eigenes Christwerden die Menschen suchen musste, und muss, die es mit oder vor mir tatsächlich sind, so musst Du mir beweisen, dass dieses Volk Israel tatsächlich existiert. Die Frage der Zugehörigkeit ist die Frage der Existenz überhaupt. –*

1.1.  Offenbarung und „Blut“

Jüdisches Denken besteht seit jeher zu einem großen Teil in der Auseinandersetzung über den Status des Gesetzes, beziehungsweise über das Verhältnis von Gesetz, Kollektiv und Einzelnem. Diese wird auch zwischen Rosenzweig und Buber geführt, noch im Aufsatz „Die Bauleute. Über das Gesetz“ von 1923, den Rosenzweig ausdrücklich Buber widmet.1 Hier soll jedoch nur die frühe Kritik Rosenzweigs an Bubers Volksbegriff diskutiert werden, die im Zeichen des Begriffs der Offenbarung steht. Franz Rosenzweig selbst bezeichnete seinen Aufsatz „Atheistische Theologie“, den er 1914 nur einige Monate vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs für das unter anderem von Buber geplante zweite Jahrbuch Vom Judentum verfasst, und der als ungeeignet zurückgewiesen wird, fünf Jahre später als „Antibuberaufsatz“.2 Tatsächlich handelt es sich bei diesem Text um eine scharfe Entgegnung auf die Drei Reden des späteren Freundes und Arbeits*

Brief von Rudolf Ehrenberg an Franz Rosenzweig vom 3. November 1913, in: Franz Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I. Briefe und Tagebücher 1. Band 1900-1918, hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig Scheinmann unter Mitwirkung von Bernhard Casper, Den Haag 1979, S. 138. [Im Folgenden als GS I und Seitenzahl in Klammern im fortlaufenden Text zitiert.] 1 Zur Entwicklung des allgemeinen Verhältnisses zwischen Rosenzweig und Buber vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: „Martin Buber und Franz Rosenzweig. Stationen eines Wegs zur Freundschaft“, in: ders.: Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, Freiburg i. Br. / München 2006, S. 161–175. 2 Brief an Margrit Rosenstock-Huessy, 23. März 1919, in: Franz Rosenzweig: Die „Gritli“Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, hg. von Inken Rühle und Reinhold Mayer, Tübingen 2002, S. 258. [Im Folgenden als GB und Seitenzahl in Klammern im fortlaufenden Text zitiert.]

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„Blutsgemeinschaft“ und Sprachgemeinschaft – Franz Rosenzweig

partners bei der berühmten Bibel-Übersetzung. Die Intention des noch nicht 28-jährigen Autors ist es, „eine noch junge, doch wie es scheint wirkungsstarke Richtung im modernen Judentum“ zu schildern und „Bedenken gegen sie“3 zu erwecken, also den Zionismus zu kritisieren. Es ist nicht verwunderlich, dass die Redaktion den Aufsatz ablehnte, denn „Atheistische Theologie“ ist, wie schon der oxymoronartige Titel ankündigt, ein exzentrischer und stellenweise dunkler Text. Es geht um Einwände gegen die von Buber vertretene Richtung des Zionismus im Allgemeinen und die von ihm getroffene Bestimmung des Judentums als „Besinnung auf das Blut“ im Speziellen, die Rosenzweig mit Hilfe eines Vergleichs mit der protestantischen Leben Jesu-Theologie, der er eine „Volksjudentums-Theologie“ (GS III, 690) zur Seite setzt, vorbringt. Rosenzweig kritisiert eine Art Kulturjudentum analog zur kulturprotestantischen Leben Jesu-Theologie. „Statt den Gotttmenschen zu glauben“, so fasst er deren Absicht aphoristisch zusammen, „galt es, sich vom Lehrer belehren zu lassen.“ (GS III, 688). Doch: „Es erwies sich als unmöglich.“ (ebd.). Der Versuch, Christentum und Aufklärung zu versöhnen, musste sich vom Dogma befreien, dass Jesus der wirkliche Sohn Gottes und sein Wort das geoffenbarte Wort Gottes sei. Stattdessen suchte man im Vertrauen auf kritische Geschichtsschreibung eine sich als historisch erweisende Person: Einen Philosophen, der die christliche Lehre schrieb und den man lesen konnte wie Platon oder Kant. Dies ist jedoch nach Rosenzweig eine Verkehrung und Entleerung des Christentums, das durch die Menschwerdung Gottes überhaupt erst zum Christentum – und damit zu Lehre – wird. Als geheimer Motor des rationalistischen Efforts entpuppt sich die Ideologie „vom unendlichen Werte der Persönlichkeit“ (ebd.), die sich aus dem genieästhetischen Modell des Lebens Goethes speist. Der kulturprotestantische Versuch scheitert an den Implikationen des modernen Begriffs der Persönlichkeit, von der er ausgeht. „Das Gefühl, dass kein Mensch den anderen versteht, dass Fremdheit gesetzt ist zwischen den nächsten so gut wie den fernsten und die Persönlichkeit in die Mauern ihrer eigenen Individualität eingeschlossen bleibt, begann zu rebellieren gegen jene Voraussetzung, nach der das Leben eines andern […] schlechthin allgemeingültig sein und ein Mensch als bloßer Mensch […] der Menschheit das werden sollte, was ihr der Gottmensch des Dogmas hatte sein können. […] Der bloße Mensch vertrug das helle Licht des Glaubensbrennpunkts, in das man ihn hineinzustellen versucht hatte, nicht.“ (GS III, 689). Mit anderen Worten präjudiziert Rosenzweig, dass es unmöglich ist, aus der historischen Existenz eines Individuums eine universell gültige, universell vermittelbare Wahrheit abzuleiten. Der Lehrer mag noch 3 Franz Rosenzweig: „Atheistische Theologie“, in: ders.: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III. Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. von Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht / Boston / Lancaster 1984, S. 687–697, hier S. 687. [Im Folgenden als GS III und Seitenzahl in Klammern im fortlaufenden Text zitiert.]

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so groß sein, er bleibt ein Mensch und damit der Bedingung der „Fremdheit“ unterworfen. Das Christentum bleibt, wenn es sein Dogma – „das helle Licht des Glaubensbrennpunktes“ –, das man letztlich nicht lehren sondern nur glauben kann, nicht aufgeben will, auf den unhistorischen Begriff der Offenbarung zurückverwiesen, der gerade jene „Fremdheit“ überwindet und dem „bloßen Menschen“ ein Gewand gibt. Analog zur Suche nach der historischen Persönlichkeit Jesu, deren Göttlichkeit nach kulturprotestantischer Ansicht eine nachträgliche psycho-theologische Projektion der Kirche darstellt, hat sich für Rosenzweig die Rede vom auserwählten Volk „theologisch geradezu verflüchtigt“ (GS III, 690) und zu einer „rationalistischen Vergötterung des Volkes“ (GS III, 692) transformiert. In der Leben Jesu-Theologie wie im Zionismus wird Transzendenz nicht als den Menschen im Glauben formierende Realität, sondern umgekehrt als ein auf die Welt projizierter Ausdruck des Menschen gesehen. So wird die Göttlichkeit Jesu wie die Auserwähltheit des jüdischen Volkes zum „Mythos“: „Der Mythos ist in beiden Fällen das Übermenschliche als Ausgeburt des Menschlichen gefaßt.“ (GS III, 692). Wie die „Persönlichkeit“ um 1800 einen Wert an sich, eine autonome Existenz und Berechtigung bekommt, so bekommt auch das „Volk“ gegen Ende des 19. Jahrhundert „nicht ohne Berührung mit jenem älteren Volkstumsbegriff des deutschen Idealismus“ – also vor allem mit Bezug auf Hegels Vorstellung der welthistorischen Völker – „aber doch wesentlich neu“ (GS III 691) eine in seinem Eigenwert liegende „Daseinsewigkeit“ (ebd.). „Das Volk“, so schreibt Rosenzweig, hat in seinem eigenen Charakter, im Rauschen seines „Blutes“ sein Daseinsrecht; und wo nun der Wille zur geschichtsphilosophischen Verankerung dieses Rechts hervorbricht, da heißt es nicht mehr wie vor hundert Jahren von einem Volk, dass in ihm die welterneuernde „Idee“ ausgetragen wird, wonach es dann, entleerte Schale, liegen bleiben mag, sondern nun wird das so gefasst, dass an seinem „Wesen“ die Welt genesen wird. (GS III 691)

Das Wort „Blut“, das Rosenzweig hier in Anführungszeichen setzt, ist Teil der „pseudonaturalistischen Umhüllungen des Rassebegriffs“ (ebd.) und ist der „Idee“, die ebenfalls nur noch als Zitat aus der Sprache des Idealismus verwendbar scheint,4 entgegengesetzt. Rosenzweig konstatiert eine säkulare Ontologi4 Dazu passt, wie Christoph Miething zeigt, dass sich Rosenzweig wenig später, im Sommer 1915, auch gegen Hermann Cohens Aufsatz „Deutschtum und Judentum“ wendet und dort durchaus positiv an Bubers „zuvor als Mythos diskreditierte Position“ anknüpft. „An Stelle der religiösen Glaubensgemeinschaft“ – der israelitischen Konfession des wilhelminischen Bürgertums – „tritt das politische Volk, das sich in seinem Verhältnis zu den anderen Völkern bestimmt und sich diesen gegenüber zu behaupten sucht.“ Christopher Miething: „Rasse oder Religion? Zu einer konstitutiven Ambivalenz des Judentums“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Franz Rosenzweigs „neues Denken“. Internationaler Kongreß Kassel 2004, Freiburg i. Br. / München 2006, S. 1067–1081, hier S. 1076. Allerdings muss festgehal-

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„Blutsgemeinschaft“ und Sprachgemeinschaft – Franz Rosenzweig

sierung, eine Biologisierung des Begriffs des Volkes, die er ablehnt und die er trotz ihrer naturwissenschaftlichen Rhetorik als Einsetzung des „Mythos“ sieht. Rosenzweig parallelisiert also Bubers Rede vom Blut durchaus der zeitgenössischen deutsch-völkischen Rede vom Blut und ist damit ein gewichtiger Zeuge dafür, dass entgegen Bubers späterer Selbstaussage, „Blut“ dort nicht von seiner Bedeutung in der rassistischen Redeweise unterscheidbar ist. Aus dem Volk Gottes ist das Judentum des Zionismus zu einem Volk geworden, das sich als Ausdruck seines Strebens nach Einheit seinen Gott selbst machte. Einheit und Erlösung, konstitutive Kategorien des traditionellen Begriffs des Volkes Israel, die ihm erst aus seinem treuen Bund mit Gott zukommen, werden dem „Wesen“, also der angenommenen inneren Essenz des Volkes selber zugeschrieben, das sich selbst die Treue halten muss und dessen Einheit als historisch zu verwirklichende Aufgabe erscheint. Nicht Gott, sondern sein Volk ist nun ewig. Die „Idee und Tendenz der Einheit“ entspringen nach Buber dem überzeitlichen, vom Einzelnen jeweils aus einer somatischen Schicht neu zu schöpfenden „Volkscharakter“. (MBW 3, 244). Für Rosenzweig ist dieser „Versuch entschlossener Verdiesseitigung des Judentums“ (GS III 697) unter Beibehaltung seiner religiösen, säkular umgewendeten Kategorien unmöglich. Der Name „atheistische Theologie“ soll das Paradoxe des Unterfangens und damit sein Scheitern bezeichnen. Rosenzweigs Nachweis dieses Scheiterns – den ich hier verkürzt darstelle – läuft darauf hinaus, dass mit der nominellen Umwendung der transzendenten Instanzen zu immanenten Eigenschaften des Volks dieses selbst de facto wieder eine über sich hinaus weisende Instanz wird. „Indem dann freilich diese Einheit des Lebens mit ihrem nunmehr letzten und sich selbst genügenden Träger, dem jüdischen Volk, nur als seine Sehnsucht, nicht als sein erfülltes Wesen, zusammengedacht wird, erhält sie wieder die Bedeutung eines über diesen Träger Hinausliegenden; […].“ (GS III, 694–695). Am Gedanken der Einheit führt Rosenzweig Bubers Versuch zur Verinnerlichung des Judentums im „Blut“ ad absurdum: So rückt der Einheitsgedanke, obwohl er als Inhalt des Volksgeistes angesehen wird, dennoch durch seine besondere Bestimmung, ewige Sehnsucht zu sein, wieder in einen übervölkischen und damit hier, wo das Volk ein religiös Letztes bezeichnen soll, überirdischen Zusammenhang; obwohl der Absicht nach Kernstück des „Wesens“; wird er faktisch Lehre; was vom Volk ausgesagt wird, ist als solches zugleich Aufgabe für den Einzelnen; was im Glaubensgegenstand da ist, nämlich als Forderung, ist für den Gläubigen erst zu erfüllen. Der Glaubensgegenstand verliert so seine schlechthinnige Innermenschlichkeit, er tritt dem Einzelnen wiederum gegenüber; der bloß menschliche Inhalt des Glaubens wird, abgesehen von seiner Ganzheit, an einem bestimmten ten werden, dass Rosenzweigs Ablehnung der Cohen’schen Schrift auch hier keinesfalls ganz zionistisch argumentiert. Das Judentum ist für Rosenzweig „kein Volk wie andere Völker und ist es, trotz des naiven Vulgärzionismus, auch nie gewesen.“ (GS III, 173).

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Punkt wieder „dogmatisch“ maßgebend. […] So wird beim jüdischen Volk das, was der Kern seines Wesens ist, nun zugleich für den Einzelnen doch Gesetz. Das Menschliche ist hier wie dort durchbrochen, das Übermenschliche droht durch die Bresche in den Bezirk der atheistischen Theologie einzudringen. (GS III, 695)

Ich habe im letzten Kapitel versucht zu zeigen, wie bei Buber das, was er das „Blut“ nennt, ein kontingent eingesetztes Prinzip der Herstellung von Identität ist. Die „Besinnung“ darauf, die sich von der als Mythos oder Märchen erkannten Tora abwendet, ist als Forderung des Zionismus „an einem bestimmten Punkt“ – nämlich dort, wo zionistische Theorie eine reale Gemeinschaft herstellen soll, also gerade in der Situation der Rede, in die Bubers Texte hineingeschrieben wurden – wieder eine Art Gesetz, ohne dessen Erfüllen durch den Einzelnen sich „Einheit“ nicht herstellt. Buber kann nicht erklären, inwiefern es sich bei dem Streben nach Einheit um einen spezifisch jüdischen Wesenszug handelt.5 Er selbst wusste um die Fragilität seiner Vision, sah sie jedoch nicht durch ihren inneren Widerspruch, sondern durch die Sabotage des Individuums gefährdet, das möglicherweise partout nicht nach Einheit streben will. In der „Losung“, dem Geleitwort zur ersten Nummer der Zeitschrift Der Jude, die im April 1916 erscheint, und in der er sein kulturzionistisches Credo im Hinblick auf den Krieg formuliert, schreibt er gegen diesen potentiellen Einzelwillen an und wendet sich martialisch gegen Individualismus und Liberalismus. Der Krieg stellt für Buber die Chance für eine „wahrhafte Sammlung und Einigung“ (MBW 3, 286) dar. Er ruft dazu auf, „die hemmenden Kräfte der Eigensucht und Zersetzung zu bezwingen, die im Judentum selbst der Aufgabe entgegenstehen.“ (MBW 3, 289). Rosenzweig liegt es fern, gegen diesen Standpunkt Anarchie oder Gesetzlosigkeit zu predigen. Ihm geht es gerade nicht darum, die Hierarchien aufzulösen, sondern zu zeigen, dass sie sich in der Hypostasierung des „Volks“ bloß verkehren, jedoch unter der Gefahr, das zu verlieren, was eigentlich Judentum ausmacht und ist. Die Versenkung in das und die sinnzuweisende Schöpfung aus dem, was bei Buber das Volk von innen her formiert, ist eine Bewegung, die ihre Arbitrarität im Pathos von „Blut“ und „Substanz“ bloß verschleiert. Die Offenbarung jedoch hebt Kontingenz auf, sie hat in der Tora einen verbindlichen Kanon, die das Volk Israel überhaupt erst zum Volk Israel macht. Der Sinn der Offenbarung kann nicht der historisch immanente Sinn sein, der sich mit dem Mythos verbindet, wie Rosenzweig in einem aphoristisch vieldeutigen Satz festhält: „Wo sich Mythos bildet, da schlägt das Herz der Geschichte.“ (GS III, 693). Das jüdische Volk muss diesem dunklen Herz entwunden werden. Um es demgegenüber antihistorizistisch6 „als Herzstück des 5 Vgl. Miething: „Rasse oder Religion?“, S. 1072. 6 Vgl. auch die Einreihung Rosenzweigs (und des Aufsatzes „Atheistische Theologie“) in einen jüdischen Antihistorizismus bei David N. Myers: Resisting History. Historicism and its Discontents in German-Jewish Thought, Princeton / Oxford 2003, S. 68–105.

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„Blutsgemeinschaft“ und Sprachgemeinschaft – Franz Rosenzweig

Glaubens zu verstehen“ – und ich lese hier „jüdisches Volk“ mit Betonung auf dem Wort jüdisch – muss der Mensch „den Gott denken, der zwischen Volk und Menschheit die Brücke schlägt. Seine Theologie mag wissenschaftlich sein, wie sie will und kann: um den Gedanken der Offenbarung kommt er nicht herum.“ (GS III, 697). Rosenzweig stellt Bubers antinomistischem Nomos des Bluts also den Begriff der Offenbarung entgegen. Diesen verwendet er jedoch nicht in einem traditionellen, sondern in einem entschieden säkularisierten Sinn, wie er ihn unter dem Einfluss seines Freundes Eugen Rosenstock und gegen dessen und Rudolf Ehrenbergs Forderung zum Christentum zu konvertieren ab 1913 entwickelt. Offenbarung steht bei Rosenzweig nicht nur für die Manifestation Gottes, sei es in Visionen, Träumen oder sonstigen Erscheinungen, oder sei es in direkten Willensbekundungen wie dem Diktat von Geboten und Verboten, sondern ist weiter gefasst. Dennoch: Wenn auch „Offenbarung“ hier „nicht als theologischer Begriff, sondern als Urgegebenheit“ verstanden wird, jedoch „keine mystische Erfahrung, sondern das Faktum, als Person im Zentrum einer Welt zu stehen, deren Koordinaten die der jüdisch-christlichen Religion sind“7 bezeichnet und wenn auch „Offenbarung“ hier säkularisiert „primär im Kontext eines philosophischen Diskurses und nicht eines religiösen Bekenntnisses“8, als Begriff „eines Verständnisses von Wirklichkeit, das wir nicht aus uns selbst schöpfen, nicht denkend erzeugen, sondern das uns widerfährt“,9 verstanden werden muss, so ist doch der Bezug auf die transzendente Dimension wegweisend für die Bestimmung des Judentums als Gemeinschaft oder Volk. Diese Konsequenz mag biographisch auch am Eifer dessen liegen, der sein Judentum als religiöse Identität gerade frisch entdeckt hat. Trotzdem ist die Radikalität bemerkenswert, mit der Rosenzweig zum Gesetz als überhistorischem Bezugspunkt jüdischer Existenz mahnt. Der junge Rosenzweig leugnet die von Buber konstatierte Zwiespältigkeit der jüdischen Situation in der Moderne keineswegs. Als „Fremdheit“ gilt sie ihm jedoch nicht nur für die säkularen Juden Westeuropas, sondern für den modernen Menschen an sich. Zum Angehörigen des jüdischen Volkes – zum Juden – wird dieser Mensch erst im Denken des Gottes, der sich gerade diesem Volk offenbart hat. Dennoch bleibt eine Frage, die Rosenzweig mit seiner Kritik an Buber nicht zu lösen vermag, nämlich das Problem der konkreten 7 Stéphane Mosès: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, mit einem Vorwort von Emmanuel Lévinas, aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 1985, S. 30. 8 Martin Fricke: „Offenbarung und Verantwortung. Ein Kapitel nach Franz Rosenzweigs Philosophie der Offenbarung“, in: Schmied-Kowarzik: Franz Rosenzweigs „neues Denken“, S. 817–829, hier S. S. 821. 9 Ebd.

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Existenz des Volkes Israel als theologisch-politisches Partikel in der Weltgeschichte. Die Offenbarung erging ans Volk und damit an ein Kollektiv, und nicht an den konkreten Einzelnen, der sich seiner Zugehörigkeit erst noch versichern muss. Das Problem der Zugehörigkeit war Rosenzweig selbst als Problem bewusst, so schreibt er im berühmten Briefwechsel mit Rudolf Ehrenberg, dem er zuerst seinen Entschluss schildert „also Jude“10 zu bleiben: „Ganz so hatte ich es gemeint, als ich die Zugehörigkeit des Einzelnen zu diesem Israel als ‚problematisch‘ hinstellte: nur als ein praktisches Problem; für die Theorie ist es gar nicht zu fassen. […] Wir werden darüber sprechen, zusammen mit dem hier gehörigen religiösen Problem des politischen Zionismus. Es hängt alles daran, dass das Volk Israel zwar ‚neben Christus‘ steht aber nicht wie dieser ‚bei Gott‘ ist, sondern ‚in der Welt‘.“ (GS I, 141). Während die Heiden in Christus ihren Reiseführer zur fernen Erlösung haben, sind die Juden schon im Hier und Jetzt heimisch auf dem väterlichen Terrain – das als eine temporale Exklave im weiten Raum des Unerlösten besteht. Wie aber macht sich der einzelne Jude dieses Heimischsein nach außen und nach innen plausibel? Was ist der Modus dieses In-der-Welt-Seins? Diese Probleme und Bestimmungen entwickelt Rosenzweig systematisch unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in seinem religionsphilosophischen Entwurf des Sterns der Erlösung in der Auseinandersetzung vor allem mit Hegel, anknüpfend vor allem an Schelling und intertextuell aufgeladen mit jüdischen Quellen. Im Dritten Teil des Sterns wird es das „Blut“ sein, das den Zusammenhang des jüdischen Volkes mit seiner Existenz in der Welt herstellt. Es muss im Folgenden danach gefragt werden, wie, warum und mit welchen Implikationen Rosenzweig im Stern die Rede vom Blut verwendet, ohne das Wort „Blut“ dort in Anführungszeichen zu setzen.

10 Rosenzweig schreibt am 31. Oktober 1913 an Rudolf Ehrenberg den berühmten Bekenntnisbrief, in dem er die Gründe nennt, sich entgegen seines Versprechens doch nicht taufen zu lassen: „Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn. / Es kommt niemand zum Vater – anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel (nicht des einzelnen Juden). Das Volk Israel, erwählt von seinem Vater, blickt starr über Welt und Geschichte hinüber auf jenen letzten, fernsten Punkt, wo dieser sein Vater, dieser selbe, der Eine und Einzige ,Alles in Allem‘ sein wird. An diesem Punkt, wo Christus aufhört der Herr zu sein, hört Israel auf erwählt zu sein; an diesem Tage verliert Gott den Namen, mit dem ihn allein Israel anruft; Gott ist dann nicht mehr ,sein Gott‘. Bis zu diesem Tage aber ist es Israels Leben, diesen ewigen Tag in Bekenntnis und Handlung vorwegzunehmen, als ein lebendes Vorzeichen dieses Tages dazustehen, ein Volk von Priestern, mit dem Gesetz, durch die eigene Heiligkeit den Namen Gottes zu heiligen.“ (GS I, 135).

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1.2  „Gemüt“ und „Geblüt“

Bevor ich im nächsten Abschnitt zu dieser Analyse komme, möchte ich einen Brief an Rosenzweigs Geliebte, die Protestantin Margrit Rosenstock-Huessy, die Frau seines Freundes Eugen Rosenstock, vom Sommer 1918 untersuchen, in dem Rosenzweig über die Beziehung von Christentum und Judentum nachdenkt – unter dem Eindruck der offensichtlich verstörenden persönlichen Erfahrungen, die diese amour fou mit sich brachte.11 Dies erfordert einige Vorbemerkungen. Die so genannten „Gritli“-Briefe umfassen eine Korrespondenz von ca. 1200 Briefen, die hauptsächlich vom Sommer 1917 bis zum Frühjahr 1922 geschrieben wurden. Oft schrieb Rosenzweig täglich einen Brief, noch am Tag vor seiner Hochzeit mit Edith Hahn, dem 27. März 1920, schreibt Rosenzweig an „Gritli“ einen Liebesbrief, in dem er sich über die Sprachlosigkeit zwischen ihm und seiner Braut beklagt. Erst mit dem Ausbruch der amyotrophen Lateralsklerose und mit der fast zeitgleichen Geburt seines Sohnes Raphael verebbt der Schreibstrom. Ohne „disrespectful“12 zu sein, muss die Forschung heute doch Fragen an die Briefe stellen, die über die Feststellung hinausgehen, es hier mit Dokumenten zu tun zu haben, die „most moving and intimate“13 sind. Das extrem hohe Niveau an Reflexion und Selbstreflexion macht die Texte erst zur Sensation. Es ist mehrfach beschrieben worden, wie in den Briefen an „Gritli“ und an Eugen Rosenstock die Entwicklung und die Niederschrift des Sterns fortlaufend kommentiert wird,14 wobei auch die methodische Frage aufgeworfen wurde, ob 11 Vgl. dazu die Briefe Rosenzweigs an Margrit Rosenstock-Huessy aus der ersten Juni-Hälfte 1918 (GB 105-111). 12 Harold Stahmer: „Franz, Eugen, and Gritli: ‚Respondeo etsi mutabor‘“, in: Schmied-Kowarzik: Franz Rosenzweigs „neues Denken“, S. 1151–1168, hier S. 1154. 13 Ebd. 14 Zum Beispiel bei Martin Brasser: „Einleitung“, in: ders. (Hg.): Rosenzweig als Leser. Kontextuelle Kommentare zum Stern der Erlösung, Tübingen 2004, S. 1–10; Rivka Horwitz: „The Shaping of Rosenzweig’s Identity According to the Gritli Letters“, in: ebd., S. 11–42; Reinhold Mayer: „Die Entstehungsgeschichte des Stern der Erlösung“, in: ebd., S. 53–70. – Die Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy sind meines Erachtens eine der wichtigsten Publikationen zur Geschichte deutsch-jüdischen Schreibens der letzten Jahrzehnte. An der Print-Edition kann zwar einiges bemängelt werden, denn sie ist unvollständig. Darauf hat am eindringlichsten vielleicht Freya von Moltke (die nach dem Tod Margrit Rosenstock-Huessys lange in den USA mit Eugen Rosenstock zusammenlebte) hingewiesen: Freya von Moltke: „Über Eugen, Margrit und Franz“, in: Stahmer: „Franz, Eugen, and Gritli“, S. 1155–1158. – Die Online-Publikation ist zwar (fast) vollständig, doch ist es schwierig, damit zu arbeiten. Franz Rosenzweig-Margrit Rosenstock. Vollständiger Briefwechsel. Franz Rosenzweigs Briefe an „Liebes Gritli“, mit einigen Briefen von und an Eugen Rosenstock u.a. dechiffriert und transkribiert von Ulrike von Moltke, gegengelesen von Michael Gormann-Thelen und Elfriede Büchsel, hg. im Auftrage der Rechtsinhaber des Werkes von Margrit und Eugen Rosenstock-Huessy,

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es „so etwas wie Autoexegese“ geben kann.15 Nicht nur inhaltliche Erläuterungen und launische, zwischen Melancholie16 und Größenwahn17 oszillierende Selbst-Kommentare sind hier allerdings nachzulesen. Die Briefe geben nicht nur Auskunft über die Genese des Sterns, sie sind auch – darin gleichen sie Kafkas Briefen an Felice Bauer – ausdauernde Reflexionen über den Prozess des Schreibens selbst. Dauernd stößt man auf Bemerkungen zur „Schreibszene“ als „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Materialität und Geste.“18 Am 14. Januar 1919 zum Beispiel schreibt Rosenzweig: „Liebes Gritli, ich stürze mich nun wirklich in dies Papier, es gefällt mir auf dem weissen nicht mehr. Ich fürchte, dies III, 2 [Drittes Buch, zweiter Teil des Sterns der Erlösung, CB] wird nur schlecht, ganz einfach schlecht. […] Wenn es nur an überschriebener Feder liegt, dann wird es ja danach wieder gehen.“ (GB 221). Rosenzweig schreibt oft unterwegs, in Wirtshäusern, auf Bahnhöfen oder im Zug, was mit der Materialität des Schreibens zu einem Thema der Briefe wird. So auch am 21. Oktober 1919: „Geliebte, ich sehe die Bleistiftschrift kaum, so dunkel ists im Zug. Es ist auch nur ein blosses Stammeln – alles was ich dir sagen kann.“ (GB 451). Rosenzweigs Briefe reflektieren nicht nur über das Schreiben/die Schrift „als eine Instanz der Sprache im Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, sondern thematisieren auch „eine Praktik, ein Repertoire von Gesten und Vorkehrungen.“19 Dies tun sie erstens im Prozess des Schreibens am Stern und zweitens im Prozess des Brief-Schreibens selbst. Damit machen sich die Briefe in hohem Maß selbstreferentiell. Öfters schreibt Rosenzweig über die durch den Krieg stark eingeschränkte Wahl des Papiers, die zum „Repertoire von Gesten und Vorkehrungen“ gehört, die zur „Schreibszene“ beitragen. Wenn „alles“, was gesagt werden kann, „blosses Stammeln“ ist, dieses aber als Metapher für die verwackelte Schrift gemeint ist und als das, was Rosenzweig eigentlich mitzuteilen hätte, das sich aber jenseits der Sprache befindet, dann gibt es

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mit bibliographischen Hinweisen versehen von Michael Gormann-Thelen: (Sommer 2008). Dennoch ist der Grundstein für eine Auseinandersetzung mit dem Briefkorpus durch die zwei Publikationen gelegt und es bietet sich hier Stoff für eine Vielzahl von Lektüren. William H. Hallo: „Gibt es so etwas wie Autoexegese“, in: Schmied-Kowarzik: Franz Rosenzweigs „neues Denken“, S. 1169–1180. Zum Beispiel am 25. November 1918: „Liebes Gritli, ich bin wirklich ,müde und ausgeleert‘, [...]. Eigentlich ist Schreiben eine mörderische Tätigkeit; es bleibt nicht viel von einem übrig.“ (GB 199). Zum Beispiel am 19. Oktober 1918: „Ich schreibe in die Jahrtausende hinein und krümme mich dabei unter den Geiselhieben des Jahrhunderts.“ (GB 171). Rüdiger Campe: „Schreibszene. Schreiben“, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772, hier S. 760. Ebd., S. 759.

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eine genaue Entsprechung zwischen konkreter Schreibsituation (im dunklen Zug mit dem Bleistift) und der psychologisch-biographischen Situation, in die hineingeschrieben wird (die schwierige Liebesbeziehung). Schreiben und Beschriebenes, die beiden Aktanten der „Schreibszene“, machen es dem Schreiber gleichermaßen schwer, etwas Sinnvolles zu schreiben. Das „alles“ der Mitteilung – ihr Sinn – ist dann aber die Bleistiftschrift selbst. Das Medium wird die Botschaft, wie Rosenzweig einige Monate vorher der Geliebten erklärt: „[…] das Beste am Brief ist das braune Papier, das Siegel, die Über- und die Unterschrift. Alles andere ist Füllsel.“ (GB 398). Dass das „braune Papier“ jedoch nicht nur sein eigener Sinn ist, sondern an der Verfertigung der Gedanken teil hat, bezeugt Rosenzweigs Aussage über die Niederschrift des Sterns, deren Tempo und Inhalt offenbar mit der Papierqualität und der „Feder“ zusammenhängen.20 Dieser Komplex muss bedacht werden, wenn inhaltliche Analysen der „Gritli-Briefe“ vorgenommen werden, gerade wenn diese den „Dialog“ zwischen Judentum und Christentum betreffen.21 Denn möglicherweise besteht auch diese Beziehung mehr im Schreiben selbst, einem Schreiben in einem dunklen Zug. In einem Brief vom 25. Juni 1918, der im Folgenden ausführlich gedeutet werden soll, heißt es: „ […] es tut mir gut, dir so lang zu schreiben wie gestern und heute; es trägt mich etwas weg über die Risse, die noch im Boden unter uns 20 Rosenzweig selbst hatte ein feines Gespür für das wechselseitige Zusammenspiel von Aussage und Medialität von Texten. Von seinen Hegel-Studien, die er für seine Dissertation Hegel und der Staat um 1910 in Berlin an damals noch unpublizierten Manuskripten Hegels betrieb, berichtet er in einem Brief an seinen ersten philosophischen Mentor Hans Ehrenberg: „Ich bin unter die Philologen gegangen. Ich excerpiere, kollationiere, erlebe Kommas, pause durch, graphologisiere und bin [...] vernarrt ins würdig Pergamen. [...] Dies unmittelbare Dabeisein, ihn bei allen Formulierungsversuchen auf frischer Tat beobachten – das ist etwas Herrliches. Außerdem hat man das angenehme Gefühl am letzten Stoff zu sitzen, nicht wie beim Druck immer so drüberweg zu arbeiten mit dem Gefühl, dass ein Blick ins Manuskript einem alle Kartenhäuser umwürfe.“ (GS I, 115). 21 Gegenüber einer Behauptung Ephraim Meirs möchte ich an dieser Stelle zwei Einschränkungen vornehmen: „The letters to Gritli emphasize concrete life: they are about speech, dialogue, love and experience of time. They were written not because Rosenzweig wanted to tell his beloved something, but because he believed that a word only really becomes a word in dialogue, when it receives an answer.“ Ephraim Meir: Letters of Love. Franz Rosenzweig’s Spiritual Biography and Œvre in Light of the Gritli Letters, New York u.a. 2006, S. 1. Meirs Kommentar trifft zu, dass es um das Konkrete geht und Rosenzweig nicht „etwas“ mitteilen wollte. Erstens geht es in Wirklichkeit in den Briefen aber genau so häufig um intellektuellen Klatsch, Sex, Gerüchte, Zukunftsängste, Wünsche, also den menschlichen Alltag, den die Philosophie gerne ausblendet, paradoxerweise gerade wenn sie vom Konkreten spricht, das dann natürlich gar nicht mehr konkret sein darf. Zweitens sollte man meiner Meinung nach behutsamer mit der Emphase des „Dialogs“ umgehen, die es bei Rosenzweig sicherlich gibt, jedoch durch seine ganz und gar apodiktische Art mindestens kritisch gelesen werden sollte.

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klaffen, verdeckt, überwachsen schon, aber noch nicht zugeschlossen ...“ (GB 113). Die geologischen Metaphern beziehen sich auf die Rupturen innerhalb der ménage à trois „Franz-Gritli-Eugen“ und die im Sommer 1918 aufbrodelnde Eifersucht; sie meinen religiös-philosophische Differenzen, vor allem die fehlende Anerkennung von Rosenzweigs Judentum durch den getauften Eugen Rosenstock, aber immer mit. Der „Boden unter“ „Gritli“ und „Franz“ ist jedoch zuerst das beschriebene und der Post übergebene Papier. Denn obwohl sich die Protagonisten dieser „Schreibszene“ einige Male real getroffen, gesprochen und geliebt haben, findet doch ein Großteil der Beziehung nur im Schreiben statt – und geschrieben wird hier auch deswegen, weil es dem Schreibenden „gut“ tut, und nicht nur weil er jemandem etwas sagen will. „Das Papier ist doch herrlich“ hält Rosenzweig einmal fest. „Ich werde den Rest an Dich verschreiben; […].“ (GB 104). Das Wort „verschreiben“ könnte als mehrdeutiges Motto dieser Briefe gelten. Rosenzweig verschreibt sich. Er verschreibt sich ganz einer Barthes’schen „Lust am Text“, was heißt, dass die Schrift ihrem eigenen inhärenten Gesetz, dem Gesetz des Materials gehorcht.22 Er verschreibt sich „an Dich“, also an „Gritli“ und damit der Frage nach der Überwindung der „Fremdheit“, die Rosenzweig vor dem Krieg als condition humaine konstatierte. Gerade die Materialität der Schrift – und damit das „Verschreiben“ – ist Rosenzweig Garant dieser Überwindung. Das heißt, es geht bei den „Gritli“-Briefen vielleicht nicht nur um letters of love, sondern um love of letters. Gegenüber Hegel und der europäischen philosophischen Tradition behauptet Rosenzweig nämlich explizit das Primat der Schrift vor dem gesprochenen Wort: „Das Wort verweht, oder vielmehr verwandelt sich in die Antwort. Aber das geschriebene Wort, die Schrift überhaupt bedeutet ja, dass der Mensch sich nicht begnügen wollte mit Augenblick und Gegenwart, sondern sich Dauer schuf, Brücken über die Entfernungen im Raum und in der Zeit. […] Gesprochnes Wort mag man vergessen, geschriebnes muss man verwahren – wenigstens solang man selber ‚verwahrt‘ wird, eben so lang man lebt.“ (GB 141). Geschriebenes wird „verwahrt“, also nicht nur aufbewahrt, sondern auch wahr gemacht, wie der Mensch ebenso nur „verwahrt“ ist, „solang man lebt.“ Gelebtes Leben und geschriebene Schrift widerstehen der vorschnellen Annexion durch den Sinn und bedürfen zum Verstehen verschiedener verwahrender Techniken der Aufmerksamkeit. Diese Emphase des Schreibens, der 22 „Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich.“ Roland Barthes: Die Lust am Text, aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt a. M. 1974, S. 26. In einem anderen Aufsatz schreibt Barthes: „Schreiben bedeutet [...] an den Punkt gelangen, wo nicht ,ich‘ sondern nur die Sprache ,handelt‘.“ Ders.: „Der Tod des Autors“, in: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez / Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–193, hier S. 187.

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materiellen Seite der „Schreibszene“, fügt sich bruchlos ein in Rosenzweigs Ruf nach dem Akzeptieren gegenseitiger „Wirklichkeit“ des Lebens. Es liegt Rosenzweig daran, „den wirklichen mMensch-zu-mMenschen-lichen Glauben an die Wirklichkeit meiner Existenz“ (GB 111) vom Christen einzufordern, wie er sich zwei Mal verschreibend festhält. Doch wie Rosenstocks Unfähigkeit dies zu tun zeigt, „ist eben nichts schwerer als dies scheinbar Einfachste: einander gegenseitig unsre Wirklichkeit zu glauben.“ (ebd.). Aus der Demütigung der Nichtanerkennung des Judentums als jüdischer Existenz von christlicher Seite, reagiert Rosenzweig mit einer kleinen, aber denkwürdigen Theorie des AntiJudaismus, die er im bereits zitierten Brief vom 25. Juni 1918 gegenüber seiner Freundin entwickelt. Nicht weil es sich um intime Liebesbriefe eines großen jüdischen Denkers handelt, sollen die Briefe hier also gelesen werden, sondern weil Rosenzweig erst im Medium dieser Briefe an die Ehefrau seines Freundes – dabei brauchte es den Freund genau so wie sie – sein Denken „verschreiben“ und „verwahren“ konnte. Die Briefe vom Mai und vom Juni 1918 sind geprägt von der Frage der sozialen und individuellen Reaktionen auf die Taufe, und zwar auf die Taufe von bürgerlichen, gänzlich assimilierten „nichtjüdischen Juden“23 wie Rudolf Ehrenberg und Eugen Rosenstock es waren, und umgekehrt von der Frage nach deren eigenen Reaktionen gegenüber dem, der „also Jude“ bleibt.24 Rosenzweig wendet sich im Brief vom 25. Juni 1918 mit Worten, die der zeitgenössischen Diskussion um „Rasse“ und „Blut“ entlehnt sind, gegen die Ansicht, dass das Judentum eine bloße Sache der biologischen Abstammung sei. Er behauptet, „dass sogar das Judentum nicht bloss im ‚Geblüte‘ gegründet zu sein braucht, sondern notwendig auch im ‚Gemüte‘.“ (GB 112). Damit zitiert Rosenzweig Paul de Lagardes berühmte Formel „Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte“,25 die immer wieder, auch einflussreich in Houston Stewart Chamberlains Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 23 Im Sinn von Isaac Deutscher: „Der nichtjüdische Jude“, in: ders.: Die ungelöste Judenfrage. Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus, Berlin 1977, S. 7–21. 24 Ich muss hier auch Freya von Moltkes Aussage widersprechen, dass die Briefe aus dieser Periode für die Forschung eigentlich uninteressant seien. Sie sind, wie sich im Folgenden zeigt, äußerst aufschlussreich. 25 Wie Ulrich Sieg zeigt, liefen die Grenzlinien der Rezeption solcher Auoren wie Lagarde oder Julius Langbehn vor 1933 durchaus nicht nach den Vorstellungen, die heute davon herrschen. Es wird angemerkt, „dass Lagardes Pathos der Entscheidung oder sein völkisches Religionsverständnis auf junge jüdische Intellektuelle [nicht] ohne Wirkung blieb. Beispielsweise stellte Leo Strauss 1924 in Bubers diskussionsprägender Zeitschrift Der Jude nachdrücklich die Modernität Lagardes heraus. [...] Trotz der Faszination, die von Lagarde ausging, hielt sich allerdings die vorbehaltlose Zustimmung in Grenzen.“ Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007, S. 330.

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zitiert wird, dort jedoch, indem auf ihre eingeschränkte Gültigkeit verwiesen wird.26 Wenn Rosenzweig „Geblüt“ und „Gemüt“ in Anführungszeichen setzt, signalisiert er zwar deutlich das bloß Zitierte jener Termini, die er möglicherweise ironisch verwendet oder als nicht zutreffend empfinden mag, und markiert damit Distanz zum Diskurs. Rosenzweig hatte sich schon früh mit Chamberlain beschäftigt und notiert am 24. April 1906 (im Alter von 20 Jahren): „Chamberlains ‚Rasse‘ ist für mich nur ein Element der ‚Kultur‘ [...].“ (GS 40), was die Ablehnung deutlich macht.27 Im Verlauf des Briefes aber wird 26 Sieg schreibt: „Die Crux aller radikal-völkischen Lagarde-Interpretationen bestand darin, dass sich der Göttinger Professor nicht mit der gewünschten Eindeutigkeit zum Rassismus bekannt hatte. Vielmehr ließen sich in seinem Œuvre genügend Äußerungen finden, die Reserven gegenüber den ,materialistischen Rassenlehren‘ beinhalteten. Da es jedoch über die Vehemenz von Lagardes Judenhass schwerlich Zweifel gab und die ursprünglichen Kontexte seines Denkens längst in Vergessenheit geraten waren, stellte man ihn auf der extremen Rechten gern als überzeugten Rassisten dar.“ Sieg: Deutschlands Prophet, S. 335; Ganz unzweideutig ist dann Chamberlain, der das Hohelied der „germanischen Rasse“ anstimmt. Er beklagt sich über „die bekannten Phrasen der Herren Naturforscher, Parlamentsredner u. s. w. über die Gleichheit der Menschenrassen“; nach Chamberlain lehren diese „auch einsehen, in welchem genau bedingten Sinne das bekannte Wort jenes echt germanischen Mannes, Paul de Lagarde, Geltung beanspruchen darf: ,Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte.‘ Beim Einzelnen, ja, da mag das Gemüt das Geblüt beherrschen, hier siegt die Idee, doch bei einer grossen Menge nicht. Und um die Bedeutung des Physischen, sowie die Beschränkung, die es mit sich führt, zu ermessen, bedenke man ferner, dass das, was man ,die germanische Idee‘ nennen kann, ein unendlich zartgebauter, reichgegliederter Organismus ist. Man braucht ja nur zum Vergleich auf die jüdische hinzusehen, diese enfance de l’art, deren ganze Kunst darin besteht, die menschliche Seele so zusammenzuschnüren, wie die chinesischen Damen ihre Füsse, nur dass diese Damen sich dann nicht mehr rühren können, wogegen eine halberdrosselte Seele sich leichter trägt und dem geschäftigen Körper weniger Umstände verursacht als eine vollentwickelte, traumbeladene. In Folge dessen ist es verhältnismässig leicht, ,Jude zu werden‘, dagegen fast bis zur Unmöglichkeit schwer, ,Germane zu werden‘. Gewiss liegt das Germanentum im Gemüte; wer sich als Germane bewährt, ist, stamme er, woher er wolle, Germane; hier wie überall thront die Macht der Idee; doch man hüte sich, einem wahren Prinzip zu Liebe, den Zusammenhang der Naturerscheinungen zu übersehen. Je reicher das Gemüt, um so vielseitiger und fester hängt es mit dem Unterbau eines bestimmt gearteten Geblüts zusammen. [...] Seien wir darum nicht zu schnell bei der Hand mit der Behauptung, das Germanentum liege nicht im Geblüte; es liegt doch darin; nicht in dem Sinne, dass dieses Geblüt germanische Gesinnung und Befähigung verbürge, doch aber, dass es sie ermögliche.“ Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, München 1912 (10. Auflage), S. 484–486. 27 Relativiert wird diese Ablehnung jedoch durch die spätere Wertschätzung, ja Bewunderung, die Rosenzweig Chamberlains Buch zu Kant (Immanuel Kant – Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk. München 1905) zollte. So schreibt er in einem Brief an die Eltern vom 1. Februar 1917: „Ich wollte im Ernst, ihr schaffet für 6 M die billige Ausgabe von H. St. Chamberlains ,Kant‘ an und sähet wie ein wirklicher Mensch denkt und lehrt. Simmel ist nur eine klappernde Gedankenmühle.“ (GS 343).

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die Argumentation ganz auf den Gegensatz von „Geblüt“ und „Gemüt“ gestellt. Beide Termini werden von Rosenzweig nicht weiter definiert, sondern bei der Briefpartnerin als selbstverständlich vorausgesetzt. Dazu kommt, dass Rosenzweig das Wort „Blut“ ohne Anführungszeichen und offensichtlich als Synonym für „Geblüt“ verwendet. Was heißt es eigentlich, wenn man ein Wort in Anführungszeichen setzt? „Man will oder kann den alten Begriff nicht mehr einfach verwenden, aber ebensowenig kann oder will man ihn durch einen neuen ersetzen.“28 Dadurch entsteht eine merkwürdige Dynamik, denn „das in Anführungszeichen gesetzte Wort“ wartet darauf „sich zu rächen. Und keine Rache ist scharfsinniger und ironischer als die seinige. Wer ein Wort in Anführungszeichen setzt, kann sich nicht mehr von ihm befreien: aus dem Schwung seiner Bedeutung gerissen, über einer Leere hängend, wird es unersetzlich – oder besser, es lässt sich nicht mehr verabschieden.“29 Indem also Rosenzweig das „Blut“ aus einem ihn umgebenden Diskurs zitiert, kann er sich doch nicht von diesem Diskurs befreien. Sein Abschied vom „Blut“ ist ein Nicht-Abschied. Trotz Distanz dazu ist Rosenzweig ein Protagonist des Diskurses, aus dem er sich mit den Stichworten von „Geblüt“ und „Gemüt“ bedient. Er überträgt das Pathos der Zugehörigkeit und die Metaphorik des Geheimnisses, die den zeitgenössischen Diskurs vom Germanentum bestimmen, auf das Judentum. Ob das „Blut“ in diesem Diskurs als ausschlaggebende oder bloß unterstützende Macht installiert wird – es ist dieses Pathos, das seinen verschiedenen Akteuren bei aller Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit der Positionen30 gemeinsam ist. Für das Judentum, so Rosenzweig, gilt Lagardes Diktum vom Primat des „Gemüts“ „sogar“ auch. Dieses „sogar“ deutet an, dass die Macht des physischen Substrats, des Biologischen, gerade im Judentum als besonders stark angenommen wird, womit Rosenzweig implizit mit der Bemerkung Chamberlains einig geht, dass unterschiedliche „Rassen“ unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen von „Geblüt“ und „Gemüt“ unterliegen. Aber um Jude wirklich zu sein, muss man nicht nur das Kind einer jüdischen Mutter sein, sondern benötigt ebenso ein spirituelles Band: Das „Gemüte“, also jene der Ratio und dem Intellekt entgegengesetzt gedachte, bloß in der deutschen Sprache existierende Matrix der ideellen Innerlichkeit, die auch mit kulturellen Konzepten wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Originalität verbunden ist.31 Diese im weitesten 28 Giorgio Agamben: „Idee des Denkens“, in: ders.: Idee der Prosa, aus dem Italienischen von Dagmar Leupold und Clemens-Carl Härle, Nachwort Reimar Klein, Frankfurt a. M. 2003, S. 101. 29 Ebd., S. 101–102. 30 Einen Überblick gibt Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. 31 Vgl. in dieser Studie 3.2.

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Sinn spirituelle, kulturelle oder sittliche Dimension der Verbundenheit mit dem Judentum fehlt „Eugen“ ganz. „Er ist und bleibt Heidenchrist.“ (ebd.). Der „Schrecken über (und infolgedessen Zorn auf ) das Judentum“ (ebd.) des „Heidenchristen“ unterscheidet sich aber beträchtlich von dem des jüdischen Christen. Der getaufte Heide hasst die Juden, weil er in ihnen die sieht, die des indirekten Wegs über Christus nicht bedürfen und vor seiner Nase virtuell den Zustand der Erlösung leben. Dafür muss „der Jude“ vermeintlich nichts leisten, er muss bloß sein auf ihn gekommenes, latentes Potential zum jüdischen Leben akzeptieren, aktualisieren und im Leben manifest werden lassen. Angesichts dieser jüdischen Leichtigkeit – einer die christliche Heilsgeschichte perforierenden, vorweggenommenen „bluterblichen Gnadengabe“ (ebd.) – spürt der getaufte Heide seine ihm auferlegte Bürde des christlichen Glaubens als schwere, weil nicht mit dem „Blut“ verbundene Last, die er durch die Geschichte schleppen muss. Ihm fehlt die Stimme des Bluts, die ihn organisch mit seinem Glauben verbindet, die gerade „der“ getaufte „Jude“ als lästigen Tinitus wahrnimmt, ein quälendes Wispern aus der Region des Vergessenen. Der Renegat kämpft mit diesem als biologische Tatsache verstandenen Erbe des „Bluts“. Rosenzweig ortet in diesem Kampf den Grund für den seiner Meinung nach unüberwindbaren Antisemitismus getaufter Juden: Es ist etwas Unlösbares: die Stimme spricht zu ihm, hat den, ich möchte sagen juristischen Anspruch auf ihn – das ist die Macht des „Geblüts“ –, aber weil kein Funken von „Gemüt“ je in ihm entzündet ist, so wehrt sich sein ganzes wirkliches Wesen gegen diesen dennoch nicht stumm zu kriegenden, aber ganz leeren* Anspruch des Bluts. Das Recht ist unverjährbar, aber unfähig sich zu verwirklichen – und solche Rechte erregen Wut und Hass. *wirklich für ihn nur „schattenhaften“ (GB 112–113)

Ganz wie in der zionistischen Redeweise spricht Rosenzweig von einer Stimme des Bluts, die jedoch für den getauften und ganz und gar seinem Judentum entfremdeten Juden nicht mehr mit einer irgendwie zu belebenden Wirklichkeit korreliert. Judentum kann für diesen nur noch, wie Rosenzweig nachträglich einfügt, „schattenhaft“ sein. Mit der Metapher von den Schatten bedient Rosenzweig die traditionelle philosophische Metapher für das Unwirkliche.32 Um dem „schattenhaften“ Dasein zu entfliehen, benötigt das als tatsächliche physiologische Realität angenommene „Blut“ eine Entsprechung oder eine Verwahrung in der irgendwie psychisch existierenden Kategorie „Gemüte“ und vice versa.

32 Vgl. Hans Blumenberg: „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbestimmung“, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, S. 139–171.

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Ebenso traditionell parallelisiert Rosenzweig das „Blut“ mit dem Gesetz. Der „Anspruch des Bluts“ gleicht einem „juristischen Anspruch“, der allerdings ohne wenigstens einen „Funken des ‚Gemüts‘“ nicht einzulösen ist. „Das Recht ist unverjährbar, aber unfähig sich zu verwirklichen […].“ Dieses Recht des „Bluts“ gleicht dem jüdischen Gesetz, dem man „wohl entlaufen, nicht aber es ändern“33 kann, wie es Rosenzweig nur einige Monate später im Stern der Erlösung beschreiben sollte. Wie das „Blut“ bleibt auch das „Gesetz“ immer präsent, das erste als wie auch immer gedachte somatische Schicht im Menschen, das zweite als metaphysische Kategorie der ethisch-religiösen Orientierung in der Welt. Von beiden kann man sich entfernen, beides kann in die Latenz verbannt werden, beides kann aber nie integral vergessen oder verändert werden. Damit nimmt Rosenzweig ex negativo seine 1914 ausgeführte Abwertung des „Bluts“ zurück, dem er auch hier nicht die entscheidende Rolle zuspricht. Die biologische Verwandtschaft kann für Rosenzweig, der sein Judentum auch als Protest und Trotz gegenüber seiner ganz assimilierten und allem Jüdischen misstrauisch gegenüberstehenden Mutter verstand, keine Wirklichkeit des Jüdischen begründen, obwohl die Verwandtschaft als „Anspruch des Bluts“ es gleichsam juristisch wie eine noch nicht abgezahlte Schuld einfordert. Deshalb ist das Judentum auch ein „Schrecken“. Das Konzept der Verwandtschaft hat etwas Gespenstisches: „Es ist etwas Unheimliches um das Blut.“ (GB 236). Dieses Unheimliche ist im Sinn Freuds auch die Wiederkehr des Verdrängten, das Eigene, gegen das man sich verwahrt hatte und dessen man sich entledigt meinte, das einen nun in verwandelter Gestalt bedrängt. Auch für „Eugen“, der „ja im eignen Hause und nirgends anders zuhause“ ist, gilt: „alles andre sind Gespenster bloss, die nach ihm greifen.“ (GB 113). Im Christ gewordenen Juden, der hier von „Eugen“ paradigmatisch repräsentiert wird, muss daher aufsteigen: die Berufung, galt sie nicht auch dir? hast du nicht deine angeerbte Krone von dir geworfen? Und gegen diese Stimme, wenn sie ihm laut wird, setzt er sich mit allen Mitteln der Selbstbehauptung, des Renegatenhasses, der Verzerrung u.s.w. zur Wehr. Du weißt, dass ich stets diese Gefahr für Eugen gefürchtet habe und mich deshalb gehütet habe, ihm je einen Blick in das Judentum von innen zu gestatten (ich muss wieder sagen: genau wie bei Hans), was ich bei keinem „Heidenchristen“ zu scheuen brauchte. (GB 112)

Erst durch „Gritli“, der Rosenzweig von innen heraus vom Judentum „vorgeschwärmt“ hat, „ist etwas davon zu ihm herübergedrungen, und nun siehst du die Wirkung, er verträgt das einfach nicht; er wird es auch nie vertragen; wird immer zu Gewaltsamkeiten der ‚Selbstbehauptung‘ dadurch herausgefordert werden.“ (ebd.). Rosenzweig abstrahiert die spannungsgeladene Beziehung zum 33 Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung, mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem, Frankfurt a. M. 1988, S. 332. [Im Folgenden zitiert als SE und Seitenzahl in Klammern im fortlaufenden Text.]

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Ehemann seiner Geliebten zu einer Theorie des Verhältnisses zwischen Juden und getauften Juden. „Eugen“ „verträgt das einfach nicht“ – dabei kommt Rosenzweig nicht in den Sinn, dass „das“ vielleicht nicht nur das vorgezeigte, gelebte und lebendige Judentum ist, sondern auch die Liebesbeziehung seiner Frau mit „Franz“, immerhin einem seiner besten Freunde. Folgt man Rosenzweig, wird „Eugen“ erst durch das Medium „Gritli“ auf das lebendige Judentum „Franzens“ aufmerksam und findet sich in jenem unauflösbaren Komplex wieder, in dem die leere Stimme des Bluts mit dem „wirklichen Wesen“ streitet. Im indirekt vermittelten, wirklichen Judentum spürt „Eugen“ einen bedrängenden Phantomschmerz, es stellt seine amputierte Vergangenheit dar: „Es ist eine Wunde. Ich habe das, eben als Jude, instinktiv gewusst, du nicht.“ (GB 113). Die Metapher der „Wunde“ taucht hier plötzlich auf und evoziert ein Gewaltsames, das mit dem Christwerden verbunden ist. Die Wunden, die die europäische Imagination am meisten beschäftigen, sind sicher die Wunden Christi, mit denen der Jude Jesus durch den Tod zum Erlöser aller Völker wird.34 „Eugen“ bekommt denn auch einen merkwürdig ambivalenten Status zwischen Erleiden und Fordern. Dabei greift Rosenzweig Eugen nicht an, sondern bestätigt ihn in einer an Komplexität der Bezüge kaum zu überbietenden Stelle in seinem Christentum: Dass er „Findelkind“ ist, braucht ihn nicht zu irren, denn es giebt in diesem Hause nur Findelkinder: Christianus fit, non nascitur. Wiltfebers, des ewigen Deutschen, Blut ist noch viel ungebärdiger gegen den „unreinen“ Krist aus Nazareth, als jüdisches Blut sein könnte. Nicht das „Geblüte“, sondern das „Gemüte“ kocht uns auf, wenn wir an ihn denken; das Geblüt bräuchte nichts gegen den Davididen zu haben, aber das Gemüt sträubt sich gegen diesen Sohn Davids, der sich Gott gleichsetzte, weil es mit der kleinen Esther von dem Sohn Davids weiss, der noch ‚bei Gott‘ ist. (GB 113)

Als Christ ist man nicht geboren, man wird es, so zitiert Rosenzweig aus dem Gedächtnis Tertullians Apologetikum35 – auch ein Jude kann, wie Paulus, Christ werden. Noch einmal betont er dann, dass es das „Gemüt“ ist, das das Judentum – viel mehr als „jüdisches Blut“ – vom Christentum trennt. Der Weg vom Judentum zum Christentum scheint kürzer als der Weg, der vom „ewigen Deutschen“ zum Christentum führt. Denn aus heidnischer Sicht erscheint Jesus als „Krist aus Nazareth“, also als Fremder, während aus jüdischer Sicht Jesus zur Familie gehört, er ist ein „Davidide“, stammt also dynastisch von König David ab – er ist ein „Reis aus gesalbtem Königsstamm“ (SE 341) – wie es 34 Vgl. die allgemeinen Ausführungen bei Galili Shahar: „Fragments and Wounded Bodies: Kafka after Kleist“, in: The German Quarterly 80, 4 (2008), S. 449-467. 35 Das Zitat lautet wörtlich: „de vestris sumus: fiunt, non nascuntur Christiani.“ [„Wir gehören zu euch – man wird, ist nicht von Geburt an Christ.“] Tertullian: Apologeticum. Verteidigung des Christentums, Lateinisch und Deutsch, München 1952, S. 122 (18, 4).

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sich aus dem Stammbaum Jesu im ersten Kapitel des Matthäus-Evangeliums ergibt, und wie es seit dem zweiten Buch Samuel von einem Messias erwartet wird. Gerade dieser vorhergesehene Messias ist für die Juden aber „noch ‚bei Gott‘“, das heißt, eben noch nicht in die Weltgeschichte eingetreten. Deshalb lehnen die Juden Jesus als Erlöser ab – ihr „Gemüt sträubt sich“. Noch „ungebärdiger“ gegen Christus sind allerdings die völkischen Deutschen, die nicht vergessen, dass Jesus eben doch Jude ist. Er ist ihnen, und Rosenzweig weiß um das Phantasmatische dieser Vorstellung, wie die Anführungszeichen zeigen, „unrein“. Rosenzweig scheint hier auf Bestrebungen anzuspielen, das Christentum als ein germanisch-deutsches Christentum von seinem jüdischen Ursprung abzukoppeln, wie sie im Rückgriff auf Marcion – den Gegner Tertullians36 – einflussreich Adolf von Harnack vertrat. Zwar erscheint Harnacks Marcion-Buch erst 1921, doch Harnack – zu dem Rosenzweig ein ambivalentes Verhältnis hatte37 – taucht schon vorher immer wieder in Rosenzweigs Korrespondenz auf; über die Zeit vor seiner Entscheidung Jude zu bleiben etwa, schreibt er 1921 rückblickend im Zusammenhang mit Harnack von der Zeit „als ich selber noch Marcionist war“. (GB 736).38 Im vorliegenden Brief gilt jedoch nicht Marcion, sondern Wiltfeber als paradigmatische Figur des deutsch-nationalen, deutsch-völkischen Deutschen, der das „AT“ verabschiedet. Der Namen Wiltfeber ist heute, ich möchte sagen: zum Glück, erklärungsbedürftig. Martin Wiltfeber ist der Held eines 1912 erschienenen, erfolgreichen proto-nationalsozialistischen Romans mit dem Titel Wiltfeber der ewige Deutsche von Hermann Burte, der für das Buch mit dem Kleistpreis ausgezeichnet wurde.39 Obwohl Rosenzweig den Programmen der um die Zeit des Ersten Weltkriegs vielgesichtigen und zerstrittenen deutsch-völkischen Bewegung ablehnend gegenüberstand, ist er zeitweise von Wiltfeber begeistert, er nennt den Roman ein „herrliches Buch“. Er empfiehlt es mehrmals gerade Eugen Rosenstock zum lesen oder verschenkt es seinen Bekannten, zum Beispiel – 36 Rosenzweig las als Soldat in Mazedonien ausführlich das Werk Tertullians, „der als kirchlicher Polemiker das Alte Testament gegen den radikalen Dualismus von Marcion verteidigt hatte [...].“ Und „die Erkenntnis dieses Gegensatzes hatte schon 1913 seine Auseinandersetzung mit dem Christentum bestimmt.“ Hans Liebeschütz: Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum Jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich, Tübingen 1970, S. 152– 153. 37 Am 26. November 1917 schreibt Rosenzweig an Eugen Rosenstock: „Leute wie Harnack mögen übrigens Arschlöcher sein, aber [im Gegensatz zu katholischen Theologen, CB] in puncto Wissenschaft sind sie rabiat und hinterhaltslos wie Kinder.“ (GB 42). 38 Am 20. Februar 1921 bedankt sich Rosenzweig bei Margrit und Eugen Rosenstock dafür, dass diese ihm anscheinend Harnacks Marcion geschenkt hatten. 39 Vgl. Ernst Loewy: Literatur unterm Hakenkreuz. Das Dritte Reich und seine Dichtung. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1990, S. 309–310.

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mit einer martialischen Widmung versehen – dem Historiker Siegfrid August Kähler.40 Warum war Rosenzweig ausgerechnet von Hermann Burte, der später im nationalsozialistischen Deutschland große Erfolge feiert und dessen „alemannisches Blutgeschwätz“ noch Thomas Mann „zu dumm“41 findet, so fasziniert? Es lohnt sich trotz Ekel und Langeweile, die einem bei der Lektüre des Buchs abwechselnd befallen, diesen Intertext etwas näher zu betrachten. Kurz gesagt geht es in Burtes Roman um einen Abenteurer, der nach neun Jahren Militärdienst, Herumreisen und Staatsdienst in seine Heimat „im Winkel am Rheine“42 – gemeint ist der südliche Schwarzwald – als ein nietzscheanisch aufgeladener Über-Alemanne zurückkehrt. Dort erweist er seinem Luther geschuldeten Vornamen Martin alle Ehre. Denn Martin Wiltfeber sucht im Dorf „eine Welt, welche Art und Gattung hatte, welche echter, schöner, vornehmer war als die Mischmasch- und Rischraschwelt von heute.“43 Diese alte Welt soll in der Absage an den Wulst der Konvention neu erstehen und genau daran muss sich auch Wiltfeber messen als derjenige, der sich auf den Ursprung besinnt. Ich bin gekommen als einer mit gutem Herzen, mit reiner Liebe zu Land und Leuten, mit dem Stolze des angestammten Landeskindes, mit dem unversauten Blut der Eingeborenen. Und in den Dingen des Glaubens, der Rasse und der Macht, da verstehe ich keinen Spaß. Und sofern mir verwehrt ist, den dreien nachzuleben, wie ich es soll und will, so achte ich mich als einen Heuchler, wenn ich eine Minute am Leben bliebe.44

„Leben“, das nicht im Einklang mit „den Dingen des Glaubens, der Rasse und der Macht“ ist, wäre eine Lüge und nicht lebenswert. Und „Rasse“ besteht ganz erheblich im „unversauten Blut der Eingeborenen“, das „echt“ gehalten werden soll.45 Doch die „zeitgemäßen Deutschen“ sind nicht mehr die originalen „Goten, Sachsen, Normannen“, die „ihr arisches Blut: frisch und unverbraucht“46 hatten, denn Glauben, Recht, Literatur und Kunst sind bloß übergestülpt und 40 Am 12. Mai 1918 schreibt Rosenzweig noch aus dem Militärdienst: „Heut verschlinge ich in meine Müdigkeit hinein ein herrliches Buch, das ganz trunken-betrunken ist und infolgedessen nichts erfindet aber alle Geheimnisse des Herzens ausschwatzt, eines germanischen Rasseherzens. Eugen kennt es wohl schwerlich [...]. Ich will es ihm schicken.“ (GB 96). Am 12./13. November 1918 heißt es: „Ich schrieb gestern Kähler in den Wiltfeber, den ich ihm schenkte: ,Ajas fiel durch Ajas Kraft‘.“ (GB 186). 41 Thomas Mann: Tagebücher 1935-1936, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1978, S. 204. 42 Hermann Burte: Wiltfeber der ewige Deutsche. Die Geschichte eines Heimatsuchers, Leipzig 1928 (36.–40. Tausend), S. 11. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 65. 45 Ebd., S. 304. 46 Ebd., S. 226.

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dem „Blut“ und der „Rasse“ nicht wesensgemäß. Mit einem ehemaligen Pfarrer teilt Wiltfeber die Überzeugung vom „reinen Krist“, der die Deutschen wieder zum Ur-Eigenen führen soll. Der alte und bärtige Pfarrer predigt nun den Rassismus als neue Heilsbotschaft: Und ich war entschlossen, meinen deutschen Leuten, welche kamen, um ihrem Gotte zu dienen, nicht mehr den Gott der Juden zu predigen, sondern ihnen zu helfen, den Strom ihres Glaubens von allen unreinen Beimengungen zu klären, damit er ihnen das Blut nicht fürder verderbe.47

Die „Eingeborenen“ sind jedoch mit Ausnahmen nicht willig, die Lehre vom „reinen Krist“ anzunehmen, sie sind noch zu sehr von der übernommenen christlichen Religion und dem gesellschaftsprägenden Prinzip des Kapitalismus eingenommen. Gemäß Wiltfeber ist diese Ablehnung programmatisch. Denn die „Blonden“ haben die Juden als auserwähltes Volk abgelöst und müssen nun mühsam gegen Widerstände angehend ihre Heimat suchen. Der von diesem Gedanken Erleuchtete heißt „mit Recht der ewige Deutsche, welcher ablöst den ewigen Juden.“48 Burtes unsäglich stupides Werk vereint Antikapitalismus, Demokratiefeindlichkeit, stereotypen Antisemitismus – zum Beispiel in der Rede vom „witzige[n] Juden“, der die Menge oberflächlich gegen Wiltfeber einnimmt49 – und Antiintellektualismus. Dennoch ist es ein aufschlussreicher Intertext von Rosenzweigs Rede vom Blut, da es in auffallender Weise theologische Ideen und Redeweisen der Zeit mit rassistischen Vorstellungen synthetisiert – wie es sich auch bei Rosenzweig, zum Teil natürlich mit umgekehrten Vorzeichen, finden lässt. Neben dem nach dem Krieg starken Empfinden von Verlorenheit und Fremdbestimmtheit ist der Grund für Rosenzweigs Faszination wohl gerade in der Engführung von Völkischem und Religiösem zu sehen, die in der Figur Wiltfebers angelegt ist. Der darin sichtbare, unbedingte und auf Widerstände stoßende Wille zur Verwirklichung von etwas, was als uralt Lebendiges unter der konventionell und arbiträr erscheinenden Kruste geahnt wird, musste Rosenzweig für Wiltfeber einnehmen. Wie Wiltfeber mit seinem zwischen „Krist“ und „Blut“ schwankenden Kampf sein „Deutschtum“ als Meta-Nation sucht, so ringt Rosenzweig zwischen „Gemüt“ und „Geblüt“ mit seinem Judentum, das der Weltgeschichte entgegenstehen soll. Vielleicht war Rosenzweig aber auch nur amüsiert über den provinziellen Wiltfeber, „dessen ganzes wildes völkisches Kreissen zuletzt die Maus ‚Basel muss wieder heim zum Reich‘ gebar[.]“ (GB 120). Tatsächlich erschöpft sich Burtes Vision am Schluss des Romans in diesem, zur Weltenscheidung 47 Ebd. 48 Ebd., S. 208. 49 Ebd., S. 212.

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stilisierten Gedanken, dass die Bevölkerung Basels eine „rassische“ Einheit mit dem Südschwarzwald bildet und zum deutschen „Reich“ gehört. Dass Margrit Rosenstock-Huessy Baslerin war und Baseldeutsch sprach (vgl. GB 116), mag zum Amüsement über diese Idee beigetragen haben. Leider können nach dem absurden Terror des 20. Jahrhunderts Burtes gleichzeitig lächerliche und bedrohliche Wahnvorstellungen nicht mehr so gelesen werden, wie es Rosenzweig offensichtlich tat, mit einem ironisierenden Blick: Rosenzweig nahm die Sache ganz einfach nicht so ernst, wie es die Nazis und ihre Vorgänger meinten. Doch tatsächlich gibt es am Schluss des Romans eine Parallele zu Rosenzweigs Denken, die wieder jenseits des Ironischen führt. Wiltfeber wird genau um Mitternacht vor dem Basler Münster hoch über dem Rhein im Moment der kultischen, sexuellen Vereinigung mit seinem weiblichen Widerpart vom Blitz erschlagen. Mann und Frau bilden eine an Georges Bataille oder Maurice Blanchot erinnernde Gemeinschaft der Gemeinschaftslosen,50 die anarchistisch und singulär ist. Dieser Augenblick außerhalb der Zeit und außerhalb der Gesellschaft, der als einzige Realität das Körperliche gelten lässt, ist einerseits ein Scheitern an der messianischen Aufgabe der biologischen Volkserneuerung, andererseits gerade eine Erfahrung des biologisch Absoluten, die nicht weiter vermittelt werden kann. Der einsame Schauplatz der Szene, auf einem „Felsen“ über dem Abgrund, ist bezeichnend. Er findet sich wieder in einem Brief Rosenzweigs an „Gritli“ vom 20. August 1918 von seiner durch den Krieg geprägten Generation: So sind wir wahrhaftig auf eine Klippe gestellt und müssen […] zum Himmel der Ewigkeit auffliegen oder im Meer der Vergangenheit ersaufen; der Strom der Zeit hat uns ausgespieen. Wir müssen das Zeitlose leisten […]. Aber wie soll einen dieser Zwang zum Allesodernichts nicht verzagt machen? Man kann wohl Allesodernichts wollen, aber es müssen ist mehr als der Mensch erträgt. Und es giebt keine Rückkehr in die Zeit; wer einmal herausgefallen ist, bleibt draussen; nur wenn das eigene Leben lückenlos läuft, hält es mit der Zeit Schritt, und der Krieg war Lücke. Es gibt keinen Rückweg, nur der Weg jenes Müssens; nur die Gefallenen sind über jenes Muss hinaus. Und doch kann ich mich selber nur als Übrigbleibenden denken. (GB 122)

Auch Rosenzweig beschwört – halb melancholisch bedauernd, halb feiernd – einen Augenblick der Einsamkeit, der eine singuläre Gemeinschaft außerhalb der Gemeinschaft und außerhalb des Politischen auftut. Es ist nicht nur die Erfahrung des Krieges, sondern sicher auch die Erfahrung dessen, der sich gegen seine getauften, mit der Zeit gehenden Freunde behaupten muss, die Rosenzweig sich „selber nur als Übrigbleibenden denken“ lässt. Nur zwei Tage später formuliert Rosenzweig zum ersten Mal den Titel „Stern der Erlösung“, 50 Vgl. das Motto „La communeauté de ceux qui n’ont pas du communeauté.“ von „G. B.“ bei Maurice Blanchot: La communeauté innavouable, Paris 1983, S. 9.

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der den „Zwang“ zum Absoluten wie das „Zeitlose“, das Rosenzweigs Existenzgefühl grundiert, systematisch zu fassen versucht. (GB 123-125). In diesem Buch wird die in Zeitlosigkeit gebannte Gemeinschaft des Judentums als an ihre „Blutsgemeinschaft“ gebundene beschrieben, was der Denkfigur auch hier eine Komponente verleiht, die biologistische Anklänge zumindest zulässt. Inwiefern aber Rosenzweigs Versuch dann weit über die historische Situation hinausführt und ein Stück philosophisches Denken ist, inwiefern er aber auch durch den historischen Kontext gefährdet ist, muss der folgende Abschnitt zeigen. Der Schluss des hier ausführlich zitierten und kommentierten Briefes vom 25. Juni 1918 ist in der Buch-Ausgabe leider weggelassen, vielleicht weil Rosenzweig dort einige etwas boshafte Bemerkungen über seine Mutter macht. Einfach nicht gedruckt wurde dann aber auch folgender, wunderschön zwiespältige Gruß: Gritli – du hast mir keine Schmerzen gemacht, keine andern als die die wir uns alle dreie gemacht haben und also keiner „gemacht“. Oder wer? – ?? Ich hülle meine Schmerzen in meine Liebe und trage sie zu dir – o du Geliebte. Franz (25. Juni 1918)

Wer hat die „Schmerzen gemacht“? Sie werden durch die einzigartige Konstellation der drei Brief- und Liebespartner erzeugt und können auch nur in ihr gehegt werden, die auch erst die Liebe ermöglicht. Die drei Fragezeichen bilden in ihrer Anordnung, eines vor und zwei nach dem Gedankenstrich, die Dreieckskonstellation zwischen „Gritli“, „Eugen“ und „Franz“ ab. Die drei Figuren sind drei Fragezeichen, die an den jeweils anderen nichts anderes vermitteln als die Wirklichkeit der Frage selbst und gleichzeitig die Frage nach dem Wirklichen – getrennt nicht durch die Abstraktion des Sinns, sondern durch die Materialität des Worts und das Konkrete der menschlichen Existenz; durch die Unverfügbarkeit des Wirklichen, die auch „Blut“ heißt. Im nächsten Abschnitt möchte ich die Problematik aufzeigen, die sich aus Rosenzweigs Emphase des Unverfügbaren ergibt. Wie in diesem Teil schon an Rosenzweigs Theorie der Schriftlichkeit gezeigt, bedarf aber auch die „Blutsgemeinschaft“ ein sie aktualisierendes Anderes, das sie „verwahrt“. Im dritten Abschnitt dieser Untersuchung zeigt sich, dass das Medium dieser Aktualisierung die Sprache ist, nicht verstanden als Schreiben oder Sprechen, sondern als Möglichkeit der Kommunikation überhaupt.

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2.  Kritik des reinen Lebens51 Die meisten Gedanken sind nur Profile von Gedanken. Diese muss man umkehren, und mit ihren Antipoden synthesieren. Viele philosophische Schriften, die es sonst nicht haben würden, erhalten dadurch ein großes Interesse.*

In Udi Alonis Film Mechilot (Forgiveness) aus dem Jahr 2006 gibt es eine Szene, die in verstörender Weise auf Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung verweist. Der junge amerikanische Jude David Adler lässt sich, kurz bevor er nach Israel fährt und in die Armee eintritt, einen Davidsstern auf die Brust tätowieren – zusammen mit den Worten hlW)gh bkWk [Stern der Erlösung]. Auf die Frage des Tätowierers, ob es für Juden nicht verboten sei, sich tätowieren zu lassen, entgegnet David: „We are New Jews!“ Doch der Neue Jude – der seinen Körper als Ort der Erlösung betrachtet – trägt den Alten mit sich. David ist Sohn eines Shoah-Überlebenden. Während er verzweifelt versucht, von seinem überlebensgroßen Vater loszukommen, erschießt er bei einem Einsatz in den besetzten Gebieten versehentlich ein kleines Mädchen und erleidet einen psychischen Zusammenbruch. In gewisser Weise interpretiert und aktualisiert David mit einer Tätowierung Rosenzweigs Bestimmung des Jüdischen im „eigentlichen und reinen Lebenspunkt, [in] der Blutsgemeinschaft“ (SdE 333). Gerade dass seine Identität als Jude nicht vom phantasmatischen eigenen „Lebenspunkt“, sondern von der Gemeinschaft mit dem Anderen abhängt, muss David aber lernen, um das Trauma zu überwinden und schließlich – ohne potentielle Erlösung ins Leben zu gelangen. Aloni scheint sich mit Gershom Scholems Ausführungen in einem seiner bekanntesten Essays einig zu sein, in dem dieser die Bemerkung gemacht hat, dass der jüdische Messianismus nicht nur zu einem Leben in der Hoffnung, sondern damit zu einem „Leben im Aufschub“ führt. Dieses „ist etwas Großes, aber 51 Dieser Teil ist die ergänzte und umgearbeitete Fassung eines Aufsatzes, der für die Konferenz „Faith, Truth and Reason – The Philosophy of Franz Rosenzweig“ 2006 in Jerusalem geschrieben wurde. Der Tagungsband ist in Vorbereitung: Yehoyada Amir / Yossi Turner (Ed.): Proceedings of the International Conference: Faith, Truth and Reason – The Philosophy of Franz Rosenzweig, 2006, Freiburg i. Br. / München; einige Formulierungen, Vorüberlegungen und Ansätze finden sich auch schon in meinem Aufsatz: „Gegen eine Politik des Bluts – Franz Rosenzweig mit Giorgio Agamben gelesen“, in: Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Judaistische Forschung 13 (Beiheft zu Judaica 3, 2004), S. 21–35. * Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente, in: ders.: Kritische und Theoretische Schriften, Auswahl und Nachwort von Andreas Huyssen, Stuttgart 1978, S. 76–142, hier S. 81.

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es ist auch etwas tief Unwirkliches.“52 Für Scholem ist die messianische Idee die „eigentliche anti-existentialistische Idee. Es gibt, genau verstanden, jenes Konkrete gar nicht, das von nichterlösten Wesen vollzogen werden könnte.“53 Wie steht die von Scholem konstatierte Unwirklichkeit jüdischen Seins zum Denken Rosenzweigs, das öfters als eine Art „jüdischen Existentialismus“54 angesehen wird? Die Antwort muss sich näher auf die enorme Komplexität des Sterns einlassen und entsprechend komplex ausfallen. Auch Rosenzweig geht nämlich von einer konstitutiven Fremdheit der jüdischen Gemeinschaft aus, die zuinnerst mit der Kategorie der Hoffnung verbunden ist. Es ist denn, so werde ich am Schluss dieses Abschnitts argumentieren, auch der Stern selbst, in dem sich Motive gegen die symbolische Aneignung Alonis im Zeichen einer Negativfolie einer utopischen Friedenslösung im Nahen Osten finden lassen. Der Dritte Teil des Sterns ist ein großer Gegenentwurf zum liberalen und bürgerlichen Judentum der „Assimilation“ einerseits, aber auch zum zionistischen Verständnis des Judentums als Nation andererseits. Rosenzweig geht nicht von religionslosen Nationen aus, sondern von Völkern, die sich selbst als christlich definieren. Die christlichen Völker erwarten nach Rosenzweig die Ewigkeit jenseits der Zeit. Das Mittel, mit dem sie sich ihrem telos annähern, ist der Staat. „Im Gottesvolk“ aber „ist das Ewige schon da, mitten in der Zeit.“ (SE 369). Während die Nationen immer im Kompromiss leben, also Politik machen, befinden sich die Juden nach Rosenzweig auf eine noch zu erläuternde Art jenseits des Staates und des Politischen: Das jüdische Volk „darf die Lösung der Widersprüche im Heute nicht anerkennen, weil es dadurch der Hoffnung auf die endliche Lösung der Widersprüche untreu werden würde.“ (SE 368-369). Die Hoffnung zeichnet das Judentum aus, wobei gerade sie bei Rosenzweig mit der konkreten Existenz verbunden ist. „[...] nur im jüdischen Blute lebt blutmäßig die Hoffnung, deren die Liebe wohl gern vergisst, der Glaube entbehren zu können meint.“ (SE 317). Mit diesem Verweis auf Paulus ist auch die triadische Struktur von Rosenzweigs teilweise von Schelling übernommener Geschichts- und Weltalterphilosophie angedeutet, die hier aber nicht näher erläutert werden kann. Viel mehr interessiert der Gedanke, dass die Hoffnung, 52 Gershom Scholem: „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. Mit einer Nachbemerkung: Aus einem Brief an einen protestantischen Theologen“, in: ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1996, S. 121–170, hier S. 167. 53 Ebd. 54 „In this sense: of placing the Jewish subject and his experiental world at the center of the system, one may speak of Jewish existentialism.“ Hagai Dagan: „Franz Rosenzweig: Biography and Personal Philosophy“, in: The Journal of Jewish Thought and Philosophy 10, 2 (2001), S. 289–312, hier S. 294. Dagan verweist auch auf Reinhold Mayer: Franz Rosenzweig – Eine Philosophie der dialogischen Erfahrung, München 1973, „who sees in Rosenzweig’s philosophy an explicitly Jewish existentialism.“ Ebd.

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die bei Scholem „etwas tief Unwirkliches“ hat, bei Rosenzweig „im jüdischen Blute“ Wirklichkeit wird. Wie muss jene Gemeinschaft beschaffen sein, die schon dort ist, wo die anderen, die doch Zeitgenossen sind, erst noch hinkommen? In der Einleitung zum Ersten Buch des Dritten Teils mit dem Titel „Das Feuer oder Das Ewige Leben“ gibt Rosenzweig die Antwort, über die ich in diesem Abschnitt nachdenken will: „Eine Gemeinschaft des Bluts muss es sein, denn nur das Blut gibt der Hoffnung auf die Zukunft eine Gewähr auf die Gegenwart.“ (SE 331). „Blut“ und „Gemeinschaft des Bluts“: Die Rede vom Blut, die im Dritten Teil des Sterns „exzessiv“55 aufgeboten wird, hat immer wieder Irritationen ausgelöst. Die Sekundärliteratur hat sich erst in den letzten Jahren ernsthaft um ein Verständnis dieser irritierenden Begrifflichkeit gekümmert, als würde sie versuchen eine Verstörung zu umgehen, die Jacques Derrida einmal in folgende Formulierung gebracht hat: „Am Blut hängt der ganze Unterschied. Die Deutung dieses Blut-Gedankens, dieses Denken des Bluts ist – ungeachtet gewisser Dissonanzen – bei Benjamin wie bei Rosenzweig ebenso verstörend (besonders wenn wir an die ‚Endlösung‘ denken).“ 56 In der Rede vom Blut versteckt sich, so die Überlegung, die ich in diesem Abschnitt entwickeln will, die konstitutive Ambivalenz von Rosenzweigs politischer Theorie des Judentums. Denn sie impliziert eine Weise politische Souveränität zu denken, die der von ihm selbst geforderten Unverletzbarkeit des Lebens diametral entgegengesetzt ist. Mit anderen Worten denkt Rosenzweig mit „Blut“ im Stern emphatisch die Vergemeinschaftung, ist aber blind für die im „Blut“ immer ebenso angezeigte Vereinzelung. Um diese Überlegungen plausibel zu machen, möchte ich zuerst auf einige Ansätze der Forschungsliteratur eingehen. Danach möchte ich noch einmal genau den Terminus „Blut“ in Rosenzweigs geschichtsphilosophischer Konstruktion verorten, um abschließend zu erweisen, dass Rosenzweig mit der Rede vom Blut nicht nur ein ewiges, sondern in emphatischer Weise auch ein reines Leben denkt. Die nationalsozialistische Strategie der Schaffung unwerten Lebens kann als Verkehrung dieser absoluten Positivität ins absolute Negativ gedeutet werden. Der Stern hat eine dunkle Seite, die ich hier erkunden möchte.

55 Es ist bemerkt worden, dass das Blut ein „excessively frequent and central term“ im Dritten Teil des Sterns ist. Steven S. Schwarzschild: „Franz Rosenzweig and Martin Heidegger: The German and the Jewish Turn to Ethnicism“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929). Internationaler Kongress – Kassel 1986. Bd. II: Das neue Denken und seine Dimensionen, Freiburg i. Br. / München 1988, S. 887–889, hier S. 888. 56 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, aus dem Französischen von Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1991, S. 106.

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2.1  „Blut“ und Politik

Angesichts der bisher diskutierten Texte erstaunt es, dass Rosenweig im Dritten Teil des Sterns so emphatisch auf den Begriff des Bluts zurückkommt. „Volk“ ist für Rosenzweig dort nur als „Vereinigung der Blutsfamilien gegenüber allen Gemeinschaften des Geistes“ (SE 332) denkbar. Die Juden seien nun in ganz besonderem Maß eine solche „lebendige Gemeinschaft des Bluts“ (ebd.). Rosenzweig behauptet sogar, dass „dem ewigen Volk seine Selbsterhaltung im Abschluss des reinen Quells des Bluts vor fremder Beimischung“ (SE 379) notwendig sei. Es handelt sich bei diesen Formulierungen nicht um obskure Randbemerkungen, sondern, wie sich zeigen wird, um zentrale Sätze in der geschichtsphilosophischen und politischen Konstruktion des Sterns. Denn anscheinend hat Rosenzweig nun die Antwort auf die Frage gefunden, die ihn vor dem Ersten Weltkrieg im Briefwechsel mit Rudolf Ehrenberg quälte, nämlich wie der Einzelne seine Zugehörigkeit zum tatsächlichen Volk Israel in der Geschichte bezeugt. „Das Bezeugen“, so Rosenzweig, „geschieht im Erzeugen.“ (SE 331). Hat Rosenzweig trotz aller Distanz in einer vielleicht besonders verhängnisvollen Weise Aspekte vom völkischen Nationalismus, nämlich dessen biologisch-rassistische Kriterien, übernommen? Stéphane Mosès beeilt sich in seiner Exegese zu versichern, dass „derartige Beiklänge seinem [Rosenzweigs, CB] Denken natürlich völlig fremd sind.“57 Und weiter: „An erster Stelle ist zu bemerken, dass der Ausdruck ‚Blutsgemeinschaft‘ den Begriff des Volkes im Allgemeinen im Gegensatz zur Geistesgemeinschaft definieren soll und in keiner Weise das jüdische Volk im Gegensatz zu anderen Völkern.“58 Diese Bemerkung ist offensichtlich irreführend. Sicher ist für Rosenzweig jedes Volk auch eine „Blutsgemeinschaft“, doch das Judentum ist eben die einzige ausschließliche „Blutgemeinschaft“, die es gibt und damit für ihn sehr wohl „im Gegensatz zu anderen Völkern“ definiert. Gemäß Mosès trennt Rosenzweig ein kulturell codiertes System der Übermittlung von Generation zu Generation von einem natürlichen Faktor der Übermittlung. Paradigmatisch für das erste ist das Verhältnis von Lehrer und Schüler, für das zweite das Verhältnis von Vater und Sohn. Mosès meint, dass „der Begriff ‚Blutsgemeinschaft‘ als eine Metapher für das zu verstehen sei, was man heute eine ethnische Gemeinschaft nennen würde.“59 Die „Gemeinschaft des Bluts“ wäre demnach nicht durch ihre genetische Essenz bestimmt, sondern durch die Vermittlung von kulturellen Grundwerten, die aber in der natürlichen Kontinuität der Generationen eine 57 Mosès: System und Offenbarung, S. 136. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 136–137.

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besondere Konstanz erhält. Das würde bedeuten, dass nur das Fehlen der drei historischen Kategorien Land, Sprache und Gesetz das Judentum von anderen Völkern trennt. Abgesehen von der Fragwürdigkeit des Begriffs „ethnische Gemeinschaft“ denke ich nicht, dass „Blut“ bei Rosenzweig in dieser Weise kulturalisiert werden kann. In einem kurzen und sehr prägnanten Aufsatz vermutet Haggai Daggan, dass Rosenzweig „Blut“ mit einer Bedeutung versieht, die viel mehr umfasst als nur eine Biologisierung oder Ethnisierung des Judentums.60 „Blut“ ist eine Metapher für unhintergehbare Existenz oder für Existentialität, die immer an partikulare Existenz gekoppelt ist. Das Motiv des Bluts dient nach Dagan zur Zurückweisung des Primats des Geistigen im Idealismus. Anders als die romantische Tradition, welche Blut und Volk mit dem Boden, dem Territorium verbindet, trennt Rosenzweig mit einer antinationalistischen Figur Volk und Territorium. „Wir allein vertrauten dem Blut“, meint er, „und ließen das Land [...].“ (SE 332). Die Ewigkeit des Judentums sei keine Ewigkeit jenseits vom physischen Leben: „eternity that is non other than life itself, or to be more precise, the essence of life itself, cut off from every extraneous thing associated with it (soil, spirit).“61 Das „jüdische Blut“, von dem Rosenzweig spricht, bezeichnet also nicht eine essentielle Reinheit oder eine essentielle Differenz vom Blut anderer Nationen. Vielmehr muss mit Dagan festgehalten werden, dass nach Rosenzweig die Essenz jüdischen Daseins darin besteht, Nationalität ohne Territorium, die Daseinsform des Exils, in sich selbst zu verkörpern. „Blut“ hat demnach immer eine politische Dimension. Peter Eli Gordon widerspricht dem jedoch in seinem Buch Rosenzweig and Heidegger,62 in dem er ebenfalls auf die Problematik des Bluts – „perhaps one of the most troubling aspects of Rosenzweigs philosophy“63 – zu sprechen kommt. Er verbindet „Blut“ weniger mit dem Aspekt des Territoriums und des Raums als mit dem der Zeit. Auch für ihn ist „Blut“ nicht in einem rassistischen, sondern in einem symbolischen Sinn zu verstehen. Als Emblem einer philosophischen Konstruktion ist „Blut“ der Name einer spezifisch jüdischen Zeitlichkeit: „As a fluid rather than static medium, blood captures the idea that philosophy must move within the temporal flow of life.“64 Gegenüber dem normalen Ablauf der Weltgeschichte behauptet die jüdische Gemeinschaft ihre eigene Zeitlichkeit, ein von Ritualen bestimmtes Leben, in dem Zeit nicht im 60 Hagai Dagan: „The Motif of Blood and Procreation in Franz Rosenzweig“, in: AJS Review 26, 2 (April 2002), S. 242–249. 61 Ebd., S. 247. 62 Peter Eli Gordon: Rosenzweig and Heidegger. Between Judaism and German Philosophy, Berkeley / Los Angeles / London 2003. 63 Ebd., S. 210. 64 Ebd., S. 212.

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säkularen Sinn verstreicht, sondern in sich ruht, die Erlösung nicht als Ziel vor sich hat, sondern in sich trägt. Rosenzweig schreibt zur Verständigung von Vater und Sohn in der Pessach-Liturgie, dass „der Fluss des Blutes unversiegend hin durch die lange Nacht der Zeiten dem einstigen Morgen zurolle [...]“ (SE 354). Die Erlösung, die dem Christentum am Ende der Weltzeit zukommt, trägt das Judentum schon in sich selber. Symbolisch dafür steht das „Rollen des Bluts“: Jede andre, nicht blutmäßig sich fortpflanzende Gemeinschaft kann, wenn sie ihr Wir für die Ewigkeit festsetzen will, es nur so tun, dass sie ihm einen Platz in der Zukunft sichert; alle blutlose Ewigkeit gründet sich auf den Willen und die Hoffnung. Die Blutgemeinschaft allein spürt die Gewähr ihrer Ewigkeit schon heute warm durch die Adern rollen. [...] In der natürlichen Fortpflanzung des Leibes hat sie die Gewähr ihrer Ewigkeit. (SE 332)

Nach Gordon steht das „Blut“ also für eine andere Zeitlichkeit des Judentums. Für Michael Mack, der sich in seiner Studie German Idealism and the Jew65 unter anderem ebenfalls dem Dritten Teil des Sterns widmet, setzt Rosenzweig sein Konzept des Bluts gegen philosophische Konzepte, welche das Vergießen des Bluts für das politische Besitzen eines Bodens rechtfertigen. Rosenzweig assoziiert demnach die Erde mit dem Tod und das „Blut“ mit dem Leben. Das Judentum ist dem reinen Leben, also dem „Blut“ verpflichtet. Das unterscheidet das Judentum in der postidealistischen Welt von den geschichtlichen Nationen und markiert es als unheroisch oder unidealistisch. In dieser Perspektive wendet sich Rosenzweig gegen eine Politik des Bluts, welche das Töten im Krieg als Opfer in einem dialektischen Prozess, der die Geschichte zu ihrem letzten Ziel führt, rechtfertigt. Gemäß Mack ist Rosenzweigs Beharren auf dem Begriff des Bluts der zionistischen Blutrhetorik also genau entgegengesetzt. Mir erscheint Macks Lektüre, die den Zusammenhang von „Blut“ und Gewalt betont, sehr hilfreich. „Blut“ bezeichnet den Ort, an dem für das Judentum Politik zur Gewalt wird und ist keineswegs eine Metapher für irgendeine spezielle Qualität des Judentums. Im Folgenden möchte ich noch einmal von vorne anfangen und fragen: Was meint Rosenzweig, wenn er „Blut“ schreibt? Das Judentum wird im Stern als wesentlich a-historisch charakterisiert und für den heutigen Leser befremdlicherweise als Volk, welches sich von den in der Zeit verändernden Völkern grundsätzlich unterscheidet und abgrenzt. Die drei Kategorien Land (Eretz Israel), Sprache (Hebräisch) und Gesetz (Halacha) sind mit dem jüdischen Volk auf eine paradoxe Weise verbunden. Es handelt sich nicht um Beziehungen des Besitzens und Gebrauchens, nicht um ein Verhältnis der Mittelbarkeit. Mit einem melancholischen Gestus kennzeich65 Michael Mack: German Idealism and the Jew. The inner Anti-Semitism of Philosophy and German Jewish Responses, Chicago / London 2003, S. 117–135.

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net Rosenzweig die Verbundenheit der Juden mit Land und Sprache als eine Sehnsuchtsbeziehung. Die Heiligkeit des Landes entzieht es dem Besitz, die der Sprache dem alltäglichen Gebrauch. Auch das jüdische Gesetz ist heilig und grundsätzlich unveränderlich. Wenn sich das säkulare, das heißt ursprünglich griechisch-römische Gesetz mit den sich ändernden Lebensformen ändern muss und diese Innovationen jeweils mit den sich verändernden Umständen gerechtfertigt werden, gilt eine Neuerung im jüdischen Gesetz nur, wie Rosenzweig an anderer Stelle ausführt, „wenn erwiesen werden kann, dass und wie sie schon auf dem Sinai mitoffenbart, also keine Neuerung ist.“66 Dieses Paradox ist das Paradox des Judentums, das trotz und bei aller Vergangenheit und Zukunft in einer ewigen Gegenwart lebt.67 Diese Ewigkeit ist nach Rosenzweig „das stündlich Gegenwärtige“ (SE 340), ein jedem Augenblick inhärentes Potential zur Erlösung, das in einer Spannung steht zum finalen Telos der Geschichte im Idealismus oder zum erwartenden Jüngsten Tag am Schluss der christlichen Heilsgeschichte. Säkulare Gesetze werden von Generation zu Generation im Prozess der Geschichte geändert, das Judentum jedoch ist diesen Mutationen nicht unterworfen. Seinem Gesetz kann man „wohl entlaufen“ (SE 337), das heißt von ihm abfallen oder es für irrelevant erklären. Da es aber unveränderlich ist, kann man auch immer wieder zu ihm zurückkehren. Rosenzweigs Judentum ist ein erratisches, sich der historischen Zeit entziehendes Medium des Lebens – eines reinen Lebens in dem Sinn, dass der Wille zum Volk selbstbezüglich ist und ohne Land und Sprache auskommen muss. Dieses Verhältnis zwingt es, die volle Wucht des Willens zum Volk in einem Punkt zu sammeln, der bei den Völkern der Welt nur einer unter anderen ist, dem eigentlichen und reinen Lebenspunkt, der Blutsgemeinschaft; der Wille zum Volk darf sich hier an kein totes Mittel klammern; er darf sich verwirklichen allein durch das Volk selber; das Volk ist Volk nur durch das Volk. (SE 333)

Das gemeinschaftliche „Blut“ bildet den „reinen Lebenspunkt“, was die metageschichtliche Dimension des Judentums ausmacht. Das Judentum sichert sich diese „Unvergänglichkeit seines Lebens“ tatsächlich – hier klingen Buber’sche Motive an – „im Schöpfen der eigenen Ewigkeit aus den dunklen Quellen des Bluts.“ (SE 338). Das „Schöpfen der eigenen Ewigkeit aus den dunklen Quellen des Bluts“ ist denn auch als eine Aufgabe zu lesen, die darin besteht, sich der genetischen Herkunft zuzuwenden. Diese Aufgabe unterscheidet sich aber wesentlich von der zionistischen Aufgabe. Sie kann sich nicht im Staat erschöpfen: 66 Franz Rosenzweig: „Geist und Epochen der jüdischen Geschichte“, in: GS III, S. 527–538, hier S. 536. 67 Vgl. Robert Gibbs: „Gesetz in The Star of Redemption“, in: Brasser (Hg.): Rosenzweig als Leser, S. 395–410.

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Dem jüdischen Leben, das in jedem Augenblick am Ziel war, konkurriert der Staat mit seinen unaufhörlichen Zielsetzungen, mit seinem immer wieder in den Raum und die Zeit hineingeschrieenen Feldgeschrei: bis hierher und nicht weiter; die Ewigkeit des ewigen Volks überlärmen in der Welt die schwerttaktierten Epochen der Völker. (SE 418)

Das Judentum ist sehr wohl ein geschichtlich gewordenes, folgt man aber Rosenzweig, so ist die eigentliche Besonderheit der Juden der starke und immer wieder aktualisierte Wille, über das „Feldgeschrei“ des Historischen hinaus eine Gemeinschaft zu bilden. Wie „alles Schöpfungsmäßige“68 wird die bewusste Existenz als Jude zur Aufgabe und führt damit „zum Licht einer Offenbarung.“69 In Genesis 15, 5 wird Abraham verheißen, seine Nachkommen werden so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel. In einem entschiedenen und individuellen Akt der Hinwendung zu der natürlichen Abstammung soll nach Rosenzweig im familiären und kollektiven Verbund jedem Individuum das Licht aufgehen, als das es an Abrahams Himmel geschienen hat:70 seine ihm „eigene Ewigkeit“. Das kollektive Gebet „reißt das Ewige mit starkem Griff herein in den Augenblick und beschenkt das Einzelne [...] mit dem herabgeholten Funken des ewigen Lichts, der in ihm bleibt als Same des ewigen Lebens.“ (SE 326). Im Christentum bildet die Taufe die Aufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen. Im Judentum reicht es, Kind einer jüdischen Mutter zu sein, sie ist es, „durch die sich das jüdische Blut fortpflanzt.“ (SE 362). Rosenzweig stellt das „Blut“, das reale Existentialität repräsentiert, dem Wasser der Taufe, das ein geistiges Band repräsentiert, gegenüber: „Statt des fleischlichen Fortströmen des einen Bluts, das im gezeigten Enkel den Ahn bezeugt,“ muss im Christentum „die Ausgießung des Geistes in dem ununterbrochenen Wasserstrom der Taufe von einem zum anderen weiterfließend die Gemeinschaft des Zeugnisses stiften“ (SE 379). Wie in Bubers Reden versichert sich der Jude seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk also über das „Blut“. Dieses „Blut“ ist jedoch anders als bei Buber bestimmt, beziehungsweise anders ausgerichtet, nämlich auf die Auseinandersetzung mit dem politischen Idealismus hin. Auch für Hegel ist die Gemeinschaft – nicht das religiöse, sondern das staatliche „Gemeinwesen“ – Geist, welcher einerseits im einzelnen Bürger als Bewusstsein davon und andererseits im Volk als Substanz dieses Geistes seine Wirklichkeit besitzt.71 Während Hegel also das Volk als eine Kategorie der „sittlichen Welt“ ansieht, die eine Stufe in der historischen Entwicklung des 68 Otto Pöggeler: „Rosenzweig und Hegel“, in: Schmied-Kowarzik: Der Philosoph Franz Rosenzweig, S. 839–853, hier S. 848. 69 Ebd. 70 „Über dem Dunkel der Zukunft brennt der Sternenhimmel der Verheißung: so wird dein Same sein.“ (SE 331). 71 Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 292ff.

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Geistes darstellt, behauptet Rosenzweig demgegenüber ein Volk, welches trotz seiner historischen Sendung in der Offenbarung seine unhistorische Realität im Körper besitzt. Dieses Volk ist nicht ein Volk unter Völkern, welches sich mittels politischer Vorgänge und Kriege verändert. „Weil das jüdische Volk also schon jenseits des Gegensatzes steht, der die eigentliche bewegende Kraft im Leben der Völker bildet, [...] so kennt es auch den Krieg nicht. Ein Volk, das in den Krieg zieht, übernimmt die Gefahr des eigenen Tods.“ (SE 365-366) Rosenzweig spielt hier implizit auf Hegels Dialektik von Herr und Knecht im IV. Kapitel der Phänomenologie des Geistes an; das Selbstbewusstsein gewinnt erst im Kampf auf Leben und Tod Anerkennung und damit die „Wahrheit der Gewissheit seiner selbst.“72 Ohne hier näher auf diese schon im Kapitel zu Heine herangezogene Stelle eingehen zu können, muss festgestellt werden, dass Rosenzweig das Judentum dieser Dialektik entzieht. Ein Jude erfährt nach Rosenzweig Anerkennung als Jude eben nicht im Zusammenstoss mit dem Anderen, sondern im Rückbezug auf sein Selbst. Denn wie für das Judentum das erlösende Zu-sich-selbst-Kommen nicht am Schluss eines historischen Prozesses zu erwarten ist, so besteht es „außerhalb einer kriegerischen Zeitlichkeit“ (SE 368) in sich schon als virtuelle Ganzheit. In dem Sinn bildet Rosenzweigs Konstruktion eine späte und im Grunde nicht realisierbare Alternative zu Heines jüdischem Ritter, der sich im Kampf seiner Identität als Person versichern wollte. Mack weist darauf hin, dass Rosenzweig dem „Blut“ das Land gegenüberstellt. Während der deutsche Idealismus den Krieg als notwendiges Mittel zum Erreichen des absolut sittlichen Zustandes preist und damit den Körper zum Opfer für die Idee macht, sperrt sich Rosenzweig mit der Rede vom Blut gegen diesen Zusammenhang der Gewalt. Die Völker der Welt können sich nicht genügen lassen an der Gemeinschaft des Bluts; sie treiben ihre Wurzeln in die Nacht der selber toten, doch lebenspendenden Erde und nehmen von ihrer Dauer Gewähr der eigenen Dauer. Am Boden und an seiner Herrschaft, dem Gebiet, klammert sich ihr Wille zur Ewigkeit fest. Um die Erde der Heimat fließt das Blut ihrer Söhne; denn sie trauen nicht der lebendigen Gemeinschaft des Bluts, die nicht verankert wäre in dem festen Grund der Erde. Wir allein vertrauten dem Blut und ließen das Land; also sparten wir den kostbaren Lebenssaft, der uns Gewähr der eigenen Ewigkeit bot, und lösten allein unter Völkern der Erde unser Lebendiges aus jeder Gemeinschaft mit dem Toten. (SE 332)

Gegenüber der idealistischen Körperpolitik, die das Blut unter dem Primat der Idee des Territoriums, welches Herrschaft und Boden verbindet, zu opferbarem Blut macht, führt bei Rosenzweig das spezifisch jüdische Vertrauen in das „Blut“ zu einer absoluten Lebendigkeit jenseits des Territoriums und damit jenseits der Politik. Hier ist ebenfalls die Differenz zwischen cruor und sanguis 72 Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 120ff.

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ausschlaggebend.73 Für Hegel wäre „Blut“ im Sinn von cruor zu verstehen, dem Blut, das aus einer Verletzung austritt. Rosenzweig dagegen operiert mit „Blut“ im Sinn von sanguis, dem in einer Ganzheit kreisenden Blut. Diese Unterscheidung bestimmt Rosenzweigs Vorstellung von Leben, das nicht an einen bestimmten Boden gebunden ist, sondern ein reines Leben ist und seine Seinsweise im Exil hat. Um ein Land dauerhaft zu besitzen, muss Blut vergossen werden. Die Kriegstoten werden als Opfer für das Vaterland geehrt – in feierlichen Staatsakten, zum Beispiel am Grab des unbekannten Soldaten, wird an sie erinnert. Auf diese Weise bildet sich eine so genannte „Gemeinschaft mit dem Toten“, denn der Tod wird in das System integriert. Gerade weil Rosenzweig dem Tod in seinem Denken die „grauenhafte Wirklichkeit“ (SE 5) zurückgibt und nicht versucht, die Negativität des Todes qua Negation der Negation aufzuheben, muss die absolute Lebendigkeit des Lebens das Morden verbieten. Die „Blutsgemeinschaft“ ist darum eine Gemeinschaft, welche nicht in abstrakten Prinzipien der Sittlichkeit ihr Einigendes besitzt, sondern im konkreten physischen Leben. Diesem Leben ist nichts äußerlich, es ist heiliges Leben, das nicht geopfert werden kann. Damit stellt Rosenzweig mit seiner jüdischen „lebendigen Gemeinschaft des Bluts“ (SE 332) der „Politik des Bluts“, die von der Physis abstrahiert und dadurch zwangsläufig Blut opfern muss, mit größter Emphase ein Konzept entgegen, das in der Singularität des Lebens und nicht in dessen Verbindung mit der Politik des Territoriums Transzendenz aufbietet. Ihm ist das Blut „kostbar“ und bietet die „Gewähr der eigenen Ewigkeit“. Die sperrige und physisch verbürgte Ewigkeit des Judentums muss christliche sowie idealistische Universalitätsansprüche als vergeblich vorführen und hat darum, wie auch die Sekundärliteratur festgestellt hat,74 immer wieder brutalen Antisemitismus provoziert. Jene „dunklen Quellen des Bluts“, aus denen nach Rosenzweig das Judentum seine Ewigkeit schöpft, werden um der Versicherung der eigenen Identität und Souveränität willen aufgebrochen und in die Politik des Blutes integriert. Die Rosenzweig’sche Kritik des reinen Lebens ist an diesem Punkt als Kritik in dem Sinn zu verstehen, wie sie das Grimm’sche Wörterbuch als intellektuelle Praxis definiert, als „jene function des verstandes, die wir wol die höchste nennen dürfen, die kritik nämlich, das absondern des ächten vom unächten.“75 Rosenzweig sondert das reine – jüdische – Leben von einem politisch-historisch bedingten ab. Genau dadurch ist dieses Leben jedoch auch verletzlich geworden. Denn auch wenn es nicht intentionalisiert ist, meint „Blut“ immer beides: sanguis und cruor, Vergemeinschaftung und Vereinzelung. Diesen Ambivalenzen soll im Folgenden nachgegangen werden. Ohne auf die 73 Vgl. in dieser Studie 1.1. und 3.1.2. 74 Cordula Hufnagel: Die kultische Gebärde. Kunst, Politik, Religion im Denken Franz Rosenzweigs, Freiburg i. Br. / München 1994, S. 93–99. 75 Grimm: Band 11, Sp. 2335.

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vieldiskutierte Komplexität und Abgründigkeit eines Essays von Walter Benjamin eingehen zu können, muss ich hier doch darauf verweisen, um damit die Problematik von Rosenzweigs Theorie des Judentums – die historisch vielleicht nur in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg möglich war – zu beleuchten. In dem heute berühmten Aufsatz zur Kritik der Gewalt hat Walter Benjamin im selben Jahr, in dem der Stern erscheint, ebenfalls den oben erläuterten Sinn des Terminus’ Kritik ausgespielt, um damit eine Unterscheidung zwischen „mythische(r) Gewalt“, die „Blutgewalt über das bloße Leben um ihrer selbst“ willen ist, und „göttliche(r) reine(r) Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen“ (GS II 200) ist, einzuführen. 2.2  „Blut“ und Souveränität

„Blut“, so schreibt Benjamin in seinem Essay, „ist das Symbol des bloßen Lebens.“76 Was ist damit gemeint? Nach Benjamin wurde das Recht durch eine ursprüngliche Gewalt willkürlich gesetzt, diese Gewalt ist eben die mythische Gewalt, die „blutig“ ist. Die mythische Gewalt vernichtet nicht vollkommen. Vielmehr verletzt sie den Gegner, unterwirft ihn und setzt in „dämonischzweideutiger Weise“ (GS II 198) Rechte fest. Durch den Kampf zum Herrn geworden, lässt die überlegene Gewalt den Knecht leben, aber als Untertan, als Rechtssubjekt. Das Recht in diesem Zusammenhang ist das römische, säkulare Recht. Als Beispiel dient Benjamin der Mord an den Kindern Niobes durch Apollo: Die unglückliche Mutter bleibt „als Markstein der Grenze zwischen Menschen und Göttern“ gleichsam „als stummer Träger der Schuld“ (GS  II 197) leben. Niobes Leben ist im Überleben „bloßes Leben“ geworden, mit dem die „Herrschaft des Rechts über den Lebendigen“ aufhört, sich aber gerade in ihm konstituiert. Mit seiner „Frage nach einer reinen unmittelbaren Gewalt [...], welche der mythischen Einhalt zu gebieten vermöchte“ (GS II 197) stellt Benjamin die Frage nach einer Gewalt, die, um letztlich „alles Leben“ (rein) zu erhalten, restlose Gewalt über alles Leben ist. Diese ist auf „unblutige Weise letal“ (ebd.). Benjamins Beispiel ist Gottes Strafe an Korah und seinen Leuten im vierten Buch Moses. Dort werden die rebellierenden Leviten in einem Erdspalt vollständig vernichtet, ohne dass Blut vergossen wird. „Der Unterschied, der hier etabliert werden soll“, schreibt Bettina Menke, „ist nicht der zwischen zwei Symbolen, sondern zwischen ‚Blut‘ als Symbol für die mythische Gewalt als drohendes Schicksal und Nicht-Symbolik. [...] Das ‚Blut‘ stellt so einerseits die Frage der Geschichte, andererseits die Frage [...] nach dem Modus der Repräsentation reiner Gewalt, die nicht Mittel ist und nicht repräsentiert 76 Walter Benjamin: „Zur Kritik der Gewalt“, in: GS II, S. 179–203, hier S. 199.

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werden kann.“77 Wenn „Blut“ also das Symbol des bloßen Lebens im Sinn des Mythos ist, bei Rosenzweig aber für das jüdische Leben stehen soll, das nicht im Staat oder irgendwie sonst (in Sprache, Gesetz oder Land) repräsentiert werden kann, dann hat Rosenzweigs Judentum doch Anteil am Mythos. Diese Inkohärenz in Rosenzweigs Theorie und nicht die oberflächliche Ähnlichkeit mit der nationalsozialistischen Redeweise macht das Unbehagen aus, das man gegenüber seinem Text empfinden kann. Auch an Benjamins Text lässt sich ein Unbehagen festmachen. Ich möchte aber weniger den beunruhigenden Korrespondenzen mit der nach Derrida tatsächlich unblutigen „Endlösung“ der Gasöfen nachgehen, als dem Zusammenhang mit Rosenzweigs Vorstellung eines jüdischen Begriffs von Leben. Denn spätestens bei Benjamins biblischem Beispiel wird klar, dass er die „göttliche Gewalt“ als wesentlich jüdisch denkt. Rosenzweig spricht ebenfalls vom „Arm der Gewalt“ (SE 372), nämlich von der Weltgeschichte und den wechselnden Rechtsverhältnissen darin, die sich mit historischen Bezügen eine ewige Dauer schaffen wollen, die jedoch illusionär ist. Im Judentum aber findet nach Rosenzweig „die Versöhnung des spätesten Enkels mit dem ältesten Ahn“ (ebd.) wahrhaftig statt. Durch das „ruhige, stumme Bild unseres Daseins“ (ebd.) wird diese „wahre Ewigkeit“ des Judentums den Staaten als reines Leben vorgeführt: Im Leben des Judentums „allein brennt das Feuer, das sich aus sich selber nährt und das darum des Schwertes nicht bedarf, das einer Flamme aus den Gehölzen der Welt Nahrung zubrächte. Das Feuer brennt in sich selber.“ (ebd.). Die beiden deutschjüdischen Autoren beschreiben hier in ihren zeitgleichen Texten annähernd dasselbe: ein jüdisches, absolutes Leben, das im Gegensatz zu einem politisch verwendbaren Leben nur sich selber und nicht dem Blut einfordernden Recht verpflichtet ist. Im „reinen Lebenspunkt“ jedoch droht dieses Konzept in das bloße Leben zu kippen. Ebenfalls 1921 erscheint Jakob Wassermanns Buch Mein Leben als Deutscher und Jude, in dem eine resignative Bemerkung auf die Kehrseite der beschriebenen jüdischen Singularität hinweist: „Leider steht es so, dass der Jude heute vogelfrei ist.“78 Der Vogelfreie ist der aus der Gesellschaft verbannte, dem jegliche Rechte abgenommen wurden und den jeder straflos töten kann. In dieser Figur stößt man auf die andere Seite des Rosenzweig’schen Begriffs des Bluts. Denn wenn 77 Bettina Menke: „Benjamin vor dem Gesetz: Die Kritik der Gewalt in der Lektüre Derridas“, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt a. M. 1994, S. 217–278, hier S. 239. 78 Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude, zitiert nach Christoph Schulte (Hg.): Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden in Deutschland, Stuttgart 1993, S. 79–88, hier S. 79.

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bei Rosenzweig dem Judentum ein auf das „Blut“ reduziertes Leben jenseits des Staates und jenseits der Politik zukommt, dann stellt es auch die, um mit Giorgio Agamben zu sprechen, „ausschließende Einschließung des nackten Lebens in den Staat“79 dar. Damit tritt „der Jude“ auf eine noch viel fatalere Weise, als es zuerst den Anschein hatte, in Beziehung zur politischen Gewalt. Rosenzweig schreibt: Eben in diesem Sichabscheiden des einzelnen Volks von andern einzelnen Völkern hängt es mit ihnen zusammen. Alle Grenze hat zwei Seiten. Indem etwas sich abgrenzt, grenzt es sich an etwas andres an. Indem ein Volk einzelnes Volk ist, ist es Volk unter Völkern. [...] Nicht so, wenn das Volk es verweigert, einzelnes Volk zu sein, und ‚das eine Volk‘ sein will. Dann darf es sich nicht in Grenzen einschließen, sondern es muss die Grenzen, die es ja durch ihre Zweiseitigkeit zum einzelnen Volk unter anderen machen würden, in sich einschließen. (SE 339)

Das jüdische Leben ist ein entgrenztes Leben, ein Leben jenseits der Grenzen. Ein Jude lebt nicht als ein natürlicher Angehöriger eines Volkes, sondern als natürlicher Angehöriger des Lebens schlechthin. Damit entzieht sich sein Leben der klassischen griechischen Abgrenzung des natürlich reproduktiven Lebens, der zoé, vom bios als qualifiziert menschlicher Lebensform.80 Der Jude wird auf negative Weise zur paradigmatischen Figur dessen, der keine Grenzen mehr kennt: des Vogelfreien oder des homo sacer. Letzterer bildet eine eigenartige Figur im römischen Recht. Es handelt sich um einen Menschen, der straflos getötet werden darf, aber als absolut heiliges Leben nicht mehr rituell opferbar ist.81 Was Rosenzweig – auch vor dem erlebten Hintergrund des Ersten Weltkrieges und der Deutschen Revolution – als positive Figur zeichnet, die Figur des reinen Lebens, ist vom totalitären Staat des 20. Jahrhunderts negativ verkehrt realisiert worden: das bloße Leben. „In der modernen Biopolitik“, so referiert Agamben, „ist derjenige souverän, der über den Wert und Unwert des Lebens als solches entscheidet.“82 Das „nackte oder heilige Leben“, ist „die stets gegenwärtige und tätige Voraussetzung der Souveränität.“83 Der Souverän kann sich, indem er sich das absolute Naturrecht bewahrt, aus dem Recht herausnehmen, welches er gerade dadurch begründet. Der Souverän der modernen Politik sucht nicht mehr die Macht über Leben und Tod, er tötet nicht mehr im Namen Gottes, sondern um des Lebens des Volkes willen, als dessen Verkörperung er sich jetzt versteht. Insofern biopo79 Agamben: Homo Sacer, S. 117. 80 Vgl. ebd., S. 119. 81 Agambens Gebrauch dieser Figur ist durchaus zwiespältig und wurde als abstrakt und vereinfachend kritisiert. Vgl. etwa: Koschorke u. a.: Der fiktive Staat, S. 26–32. 82 Agamben: Homo Sacer, S. 151. 83 Ebd., S. 116.

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litisch, ist er auf seine Gegenfigur angewiesen, das Leben, welches nicht Leben des Volkes ist und dennoch in das Recht eingeschlossen wird. Das Judentum als die historisch betroffene Gruppe wird so paradoxerweise zum Urphänomen der modernen Politik. Diese unheilvolle Verknüpfung von Judentum und Politik/Biopolitik weist auf den zweiten Sinn einer Kritik des reinen Lebens hin: Das emphatisch gezeichnete Moment der Exklusion aus der Politik und der historischen Zeitlichkeit des Judentums bei Rosenzweig lässt sich als Illusion lesen und als eine tragische Verkennung der historischen Umstände. Rosenzweigs Metapher für die Lebensform des Judentums ist das Exil. Das „Leben des Exilierten“ aber grenzt an das „tötbare und nicht opferbare Leben des homo sacer.“84 Denn dasjenige, „was unter Bann gestellt wird, ist der eigenen Abgesondertheit überlassen und zugleich dem ausgeliefert, der es verbannt und verlässt, zugleich ausgeschlossen und eingeschlossen, entlassen und gleichzeitig festgesetzt.“85 Es erweist sich also, dass das von Rosenzweig emphatisch gedachte reine Leben jenseits von Politik, gerade dadurch, dass dieses „die verborgene Matrix der Politik“86 bildet, real in ihr furchterregendes Negativ umgekippt werden kann. Agamben schreibt: Unter dem Nazismus ist der Jude die privilegierte Negativreferenz der neuen biopolitischen Souveränität. Und als solcher ein flagranter Fall von homo sacer, im Sinn eines tötbaren und nicht opferbaren Lebens. [...] Die für die Opfer selbst schwer zu akzeptierende Wahrheit, die nicht mit Opferschleiern zu verhüllen wir gleichwohl den Mut haben müssen, ist, dass die Juden nicht im Verlauf eines wahnsinnigen und gigantischen Holocaust, sondern buchstäblich, ganz Hitlers Ankündigung gemäß, ‚wie Läuse‘, das heißt als nacktes Leben vernichtet worden sind.87

Das ist meiner Meinung nach die eigentliche Tragik und gleichzeitig die eigentlich moderne Komponente von Rosenzweigs Konstruktion eines Judentums, das dem modernen Staat immer äußerlich bleiben muss. Der Umkehrung von positiv gedachtem Exil in tatsächliche Ausschließung könnte nur ein Denken entgehen, das seine Matrix nicht mehr im Blut hätte. Dieses Denken müsste anerkennen, dass das „Blut“ als Medium der Unterscheidung nie ausschließlich und prinzipiell das Eigene oder das Fremde, den Freund oder den Feind, Exil oder Heimat repräsentiert. Die grundsätzlich offene Referenzialität des „Bluts“ bringt diese Unterscheidungen in einem Prozess der Fiktionalisierung erst hervor. Weil, wie Derrida schreibt, am „Blut“ tatsächlich „der ganze Unterschied“ hängt, hat es selbst keine Identität, sondern beschreibt eine 84 85 86 87

Ebd., S. 120. Ebd., S. 119. Ebd., S. 185. Ebd., S. 124.

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sprachliche Möglichkeit, Identität erst herzustellen.88 Rosenzweigs Rede vom „Blut“ und der „Blutsgemeinschaft“ ist tief von „der fundamentalen biopolitischen Spaltung des Abendlandes“89 durchzogen. Dieser Graben führt auf die dunkle Seite des Sterns. Denn diese Rede vom Blut geht zwar von der kohäsiven Kraft des „Bluts“ für die Souveränität der Gemeinschaft aus, kann aber die gleichzeitig immer mitgemeinte Beziehung zur Gewalt und Gewalttätigkeit nicht unterdrücken. Auch sie bringt also keine wirkliche Alternative zu einer literarischen Politik, wie sie etwa vom jungen Heine betrieben wurde, mittels Ironie und aggressiver Einforderung von Anerkennung zu einer souveränen Persönlichkeit zu finden.90 Wie eine alternative Politik aussehen würde, die die „biopolitische Spaltung“ überwinden könnte, das können wir – um das Blatt mit Rosenzweig selbst zu wenden – im Stern der Erlösung lesen: „[...] nichts weiter wird da gefordert als ein ganz gegenwärtiges Vertrauen. Aber Vertrauen ist ein großes Wort. Es ist der Same, daraus Glaube Liebe Hoffnung wachsen, und die Frucht, die aus ihnen reift. Es ist das Allereinfachste und gerade darum das Schwerste.“ (SE 472). Hoffnung ist hier nicht mehr bloß „blutmäßig“ angebunden, sondern auf das Vertrauen angewiesen, welches mit dem Stern eine Perspektive über den Stern hinaus ermöglichen würde. Eine Kultur, die ihr Kostbarstes nicht mehr im ‚Lebenssaft‘, sondern in einem Vertrauen auf den demokratischen Prozess und einem rechtsstaatlichen Begriff der Souveränität hätte, wäre allein imstande, die Mechanismen von Souveränität und „Blut“ auszuhebeln.91 Das aber ist keine Kritik mehr, sondern Utopie – auch wenn gerade das soziale Vertrauen auch in Helmuth Plessners utopiefreiem Buch zu den Grenzen der Gemeinschaft, wie in der Einleitung dargelegt, eine wichtige Basis von „Öffentlichkeit“ oder „Diplomatie“ bildet. Wie soll dieses Vertrauen zustande kommen? Ich zeige im letzten Teil dieses Kapitels, dass Rosenzweig mit der im Stern zentralen Kategorie der Sprache ein Konzept anbietet, das die Rolle des „Bluts“ im Prozess der Vergemeinschaftung relativiert. Wenn Rosenzweig schon vor dem Ersten Weltkrieg das „Gemüt“ vor dem „Geblüt“ priorisierte und damit die Wirksamkeit des „Bluts“ von seiner kulturellen Aktualisierung abhängig machte, dann bedarf auch die „Blutsgemeinschaft“ eines kulturellen Faktors zu deren Verwirklichung. Dieser Faktor 88 89 90 91

Vgl. in dieser Studie 1.2. Agamben: Homo Sacer, S. 189. Vgl. in dieser Studie 2.3.2. Dieser Gedanke ist verwandt mit der Figur der Nachbarschaft, die die fixierende Trennung und Verbindung von Freund und Feind löst. Vgl. Kenneth Reinhard: „Messianism and the Neighbor“, in: Rosenzweig Jahrbuch/Rosenzweig Yearbook 1 (2006), Rosenzweig heute, im Auftrag der Internationalen Franz Rosenzweig-Gesellschaft hg. von Martin Brasser, S. 114–133.

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heißt Sprache. Sprache, so zeige ich, ist bei Rosenzweig verstanden als Sprache überhaupt, als Möglichkeit der Kommunikation und damit auch als Bedingung von Vertrauen überhaupt. 3.  „Sprache ist doch mehr als ‚Blut‘.“ Die Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen Wesen ist aber in sprachtheoretischer Hinsicht von so großer Tragweite, weil sie auf denjenigen Begriff hinführt, der sich immer wieder wie von selbst im Zentrum der Sprachtheorie erhoben hat und ihre innigste Verbindung mit der Religionsphilosophie ausgemacht hat. Das ist der Begriff der Offenbarung.*

„Ich kann sonst wenig mit Rosenzweig anfangen [...]“92 bemerkt Victor Klemperer in der verzweifeltesten Situation 1942 gegenüber einem zionistischen Gesprächspartner. Der Satz „Sprache ist mehr als Blut!“93 aber schien ihm nicht nur ein Argument gegen den Zionismus in dieser Diskussion, sondern so gewichtig zu sein, dass er ihn nach dem Krieg als Motto für seine LTI übernahm. Der Philologe und Sprachkritiker Klemperer sah darin wohl emblematisch ausgedrückt, dass der Sprache erstens das Primat vor jeglicher vermeintlich substantieller Bestimmung von Identität zukommt und dass sie zweitens ein konstitutives Element jeglicher (nationalistischer) Ideologie darstellt, das es galt freizulegen und zu beschreiben. Er las „Sprache“ als deutsche Sprache, die nicht nur ihn, sondern auch Rosenzweig innig an die deutsche Literatur und Kultur band. Im Folgenden möchte ich Rosenzweigs epistolarische Bemerkung jedoch in den Kontext seines philosophischen Denkens stellen, in dem „Sprache“ viel weiter verstanden wird, nämlich als „Organon“ (SE 122) der Offenbarung. Damit ist – wie sich erweisen wird – eine tiefer liegende und universale Bedeutung von Sprachkritik angesprochen, die diesen späten Moment mit dem Stern der Erlösung und Rosenzweigs frühen Schriften zusammenschließt und seinem Satz den Charakter eines Testaments gibt. Sprache, die nur im wirklichen Sprechen oder wie ich im ersten Teil dieses Kapitels gezeigt habe im geschriebenen Wort wahr wird, stellt „das qualitative, intersubjektive Sich-Öffnen“94 dar, wie Martin *

Walter Benjamin: „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: GS II/1, S. 140–157, hier S. 146. 92 Klemperer: LTI, S. 261. 93 Ebd. 94 Martin Brasser: „Rosenstock und Rosenzweig über Sprache. Die Angewandte Seelenkunde im Stern der Erlösung“, in: ders.: Rosenzweig als Leser, S. 173–207, hier S. 191.

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Brasser schreibt, und verbürgt damit eine Realität der Gemeinschaft jenseits des „Bluts“. Klemperer hatte den Satz in den 1935 von Edith Rosenzweig unter Mitwirkung von Ernst Simon im Schocken-Verlag herausgegebenen Briefen gelesen. In der heute maßgeblichen Ausgabe der Briefe und Tagebücher ist der kurze Brief an die Mutter, in dem die Äußerung gemacht wird, ebenfalls (leider gekürzt) abgedruckt, er lautet folgendermaßen: Liebe Mutter, über ...’s Wort wundre ich mich. Mein Deutschtum wäre doch genau was es ist, auch wenn es kein Deutsches Reich mehr gäbe. Sprache ist doch mehr als „Blut“... (GS 1, 1230)

Der Brief ist vom 6. Oktober 1929 datiert, wurde also ungefähr zwei Monate vor Rosenzweigs Tod am 10. Dezember diktiert – schreiben konnte Rosenzweig schon seit 1923 nicht mehr selber.95 Zwei Details sind gerade deswegen bemerkenswert. Erstens fällt auf, dass Klemperer in seinem Zitat das Wörtchen „doch“ weglässt, welches den Satz im Original nicht ganz so allgemein klingen lässt, sondern ihn gegen etwas, gegen eine andere, vorher oder von jemand anderem geäußerte Meinung absetzt. Zweitens erstaunt, dass Rosenzweig trotz seiner beinahe vollständigen Lähmung und der großen Anstrengungen, die ihm das Diktieren verursachte, so viel Energie aufwandte, um anzuzeigen, dass das Wort „Blut“ in Anführungszeichen gesetzt sein sollte. „Sprache ist doch mehr als ‚Blut‘.“ Was bedeutet diese Aussage unter Berücksichtigung dieser zwei Beobachtungen? Das Wort „Deutschtum“ verweist auf die Entgegnung auf Hermann Cohens Kriegsschrift „Deutschtum und Judentum“, die 1915 geschrieben, jedoch erst in den Gesammelten Schriften vollständig publiziert wurde.96 Rosenzweigs CohenKritik macht sich dort an einem sprachkritischen Moment fest: Judentum und Deutschtum liegen nicht auf gleicher Ebene. Man mag Deutschtum und Britentum, Deutschtum und Osmanentum vergleichen, nicht Deutschtum und Judentum. Versucht man sie zu vergleichen, so wird immer das eine auf die Ebene des 95 Seit dem Frühjahr 1922 hatte Rosenzweig große Schwierigkeiten zu sprechen und die Hand zum Schreiben zu bewegen und begann, Briefe (vor allem seiner Frau Edith) zu diktieren. Ab 1923 schrieb er auf einer mechanischen Schreibmaschine, bis er auch das nicht mehr konnte. Ab Ende 1923 sah die „Schreibszene“ ungefähr so aus, dass Rosenzweig mit der Hand, mit einem Finger oder später mit einem Augenblinzeln auf einzelne Buchstaben zeigte, die ihm seine Frau auf einer Tafel hinhielt und diese dann zu Wörtern vervollständigte (vgl. den Kommentar in GS 1, 890, 905). Die Konsequenzen dieser extremen Schreibbedingungen auf die Texte sind bis jetzt nicht untersucht worden, und auch hier kann nur darauf verwiesen werden. Erst eine historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Schriften Rosenzweigs, das im Grunde erste und notwendigste Desiderat der Rosenzweig-Forschung, könnte eine philologische Untersuchung in dieser Hinsicht stützen. 96 Franz Rosenzweig: „Deutschtum und Judentum“, in: GS III, 169–175.

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anderen, und damit aus seiner Natur heraus, gedrängt. Wer vom Deutschtum (oder von irgend einem anderen Volkstum) ausgeht, wird dem Judentum das Unrecht tun, es als Volk zu wiegen; auf dieser Wage wird es stets zu leicht empfunden werden; es ist kein Volk wie andere Völker und ist es, trotz des naiven Vulgärzionismus, auch nie gewesen. Wer hingegen vom Judentum ausgeht – und das tut Cohen –, der tut dem Deutschtum die gefährliche Ehre an, es nicht als Volkstum, sondern als Religion zu bewerten. Hier steckt die Wurzel aller Sonderbarkeiten der Cohenschen Schrift. (GS III, 173)

„Judentum und Deutschtum“ kann man nicht vergleichen: Das erste bezeichnet eine in der Offenbarung zentrierte Gemeinschaft, das andere eine historische Nation, die durch einen modernen Staat geformt ist. Die „gefährliche Ehre“, die Cohen implizit der deutschen Nationalität antat, sie als „Religion zu bewerten“, war Ende 1929 schon lange zu einem verbreiteten Credo geworden. Dazu hatten auch Bücher wie Burtes erwähnter Roman Wiltfeber oder der ewige Deutsche mitgeholfen, in dem „Deutschtum“ explizit als Nachfolgereligion des Judentums, als neues auserwähltes Volk gilt. Die Beziehung zwischen „Judentum und Deutschtum“ oder das, was Rosenzweig als sein „Deutschtum“ galt, ist immer mehr oder weniger ambivalent formuliert. Obwohl er sich oft über das assimilierte Judentum seiner Eltern und das Hermann Cohens lustig macht (vgl. GS I, 443), will er gegenüber anderen Briefpartnern die „Zulässigkeit des Standpunkts, daß gutes Deutschtum und gutes Judentum in Einem Menschen verträglich zusammen wohnen können, grundsätzlich anerkennen [...].“ (GS I, 505-506). Es fällt auf, dass in Rosenzweigs Briefen in diesem Zusammenhang nie die Rede vom „Blut“ ist. Vielmehr legt Rosenzweig Wert auf das „und“ zwischen „Deutschtum und Judentum“, das jedoch nicht zu definieren, kein festzulegendes Verhältnis und schon gar nicht ein essentialistisches Substrat bezeichnen kann. Worin besteht das „und“, das doch die Verträglichkeit garantieren muss? „Wenn ich also die Flinte nicht nach der einen oder anderen Seite ins Korn werfen wollte – die eine Seite: Zionismus, die andere: Übertritt –, so musste ich mir wohl überlegen, wie der Mittelweg [...] so ausgebessert und befestigt werden könnte, dass man auf ihm wirklich ‚tutissimus‘ gehen könnte.“ (GS I, 506). Die Topographie, durch die Rosenzweigs „Mittelweg“ führen soll, ist jedoch gebirgiges Niemandsland – oder besser noch: vielleicht ist es auf Rosenzweigs Landkarte verzeichnet, doch in Wirklichkeit existiert dieses Gelände gar nicht. Rosenzweig rechnet im Grund nicht mit dem mörderischen Rassenantisemitismus, obwohl er diesen, wie seine Lektüre zeigt, zur Kenntnis genommen hat. Er argumentiert immer noch mit dem metaphysischen „Gegensatz von Judentum und Christentum“, der in der Moderne für uns deutsche Juden praktisch wird als ‚Deutschtum und Judentum‘. Wir leben ihn, aber wir sprechen ihn nicht aus. Wir lassen das ‚oder‘ dem lieben Gott und pflegen selber das ‚und‘. Aber freilich dies ‚und ‘ erhalten wir, wenn andres wir Juden bleiben;

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denn ohne unser Pflegen des ‚und‘ würde Gott selbst nicht [...] sein dereinstiges ‚oder‘ sprechen können. Seien wir also Deutsche. Und Juden. Beides, ohne uns um das ‚und‘ zu sorgen, ja ohne viel davon zu reden, – aber wirklich beides. Wie, das ist im Grunde eine – Taktfrage. (GS I, 508)

Das Deutsch-Jüdische ist das Leben eines Gegensatzes, der nicht ausgesprochen werden kann. Rosenzweig empfiehlt allzu sorglos, das Unaussprechliche in das Taktgefühl zu verlagern. Taktgefühl ist nach Helmuth Plessner jenes „Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen“ sowie „der ewige wache Respekt vor der anderen Seele und damit die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens.“97 Rosenzweigs Strategie besteht in Schweigen und Diplomatie und darin, die Entscheidung (das „oder“) dem Gericht Gottes zu überlassen, also in ein metaphysisches Jenseits aufzuschieben. Ein Problem für diese stillschweigende Aufhebung ist freilich die Radikalität eines Antisemitismus, der das ‚oder‘ schon in dieser Welt mit aller Brutalität vollziehen will. Rosenzweig nimmt das Gewicht „unwägbarer Verschiedenheiten“ zwar wahr, misst ihm aber nicht die Bedeutung zu, mit der es politisch schließlich in die Waagschale gelegt wurde. Nach dem Mord an Walther Rathenau am 24. Juni 1922 hatte sich die politische Situation in Deutschland verändert. Rosenzweig schien, wenn er auch seine Strategie nicht grundsätzlich änderte, etwas von dieser Gefahrenlage zu ahnen. „Über diese Sachen rede ich nicht gern“, heißt in einem Brief von Ende Januar 1923 an Rudolf Hallo, der die Leitung des „Lehrhauses“ in Frankfurt am Main übernahm, „seit dem Rathenau-Mord noch weniger gern als vorher.“ (GS I, 887). Er fährt fort: Ich habe ja vielleicht eine besondere Harmlosigkeit gegenüber dem Problem Deutschtum und Judentum. Ich glaube, die Verjudung hat aus mir keinen schlechteren, sondern einen besseren Deutschen gemacht. [...] der Stern wird wohl einmal und mit Recht als ein Geschenk, das der deutsche Geist seiner jüdischen Enklave verdankt, angesehen werden. (Ebd.)

Das Wort „Verjudung“ wird hier nicht im Sinn der Nazis gebraucht, sondern im Sinn von Rosenzweigs Bewegung der Rejudaisierung, seiner Annäherung an das orthodoxe Judentum und das Führen eines jüdischen Haushaltes. Dies hat aus Rosenzweig sogar „einen besseren Deutschen“ gemacht, denn erst diese Bewegung erlaubte es ihm, aus der „jüdischen Enklave“ heraus die deutsche Kultur anzureichern – also den Stern zu schreiben, der tatsächlich in seiner intertextuellen Struktur ein Gewebe aus jüdischen Quellen und deutschen Klassikern darstellt. „Deutschtum“ ist hier etwas Literarisches oder Kulturelles, das 97 Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, S. 107.

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„Blutsgemeinschaft“ und Sprachgemeinschaft – Franz Rosenzweig

durch die traditionell jüdische Lebensweise nicht unbedingt zu beeinflussen ist, wie ironisch angemerkt wird: „[...] noch glaube ich durch meinen Verzicht auf Schweinefleisch das Deutschtum, woran ich Anteil habe, verloren zu haben.“ (GS I, 888). In diesem Brief besteht aber ein merkwürdiger Widerspruch, der das „und“, das Rosenzweig so sehr als Selbstverständliches ausgibt, dass er es stillschweigend voraussetzen will, doch als schmerzhafte Kluft ahnen lässt. „Unsere Arbeit“, schreibt er hellsichtig, „wird uns von Deutschland höchstens posthum honoriert, aber darum tun wir sie doch, solange wir sie in Deutschland tun, für Deutschland. [...] je jüdischer wir sind, um so realer können wir sein und um so schwerer wiegen wir. Dieses Gewicht fällt in die Waagschale Deutschlands.“ (GS I, 887). Die Aussage, dass die ganze Arbeit im „jüdischen Lehrhaus“, die Vorlesungen und der Unterricht und auch die philosophischen und pädagogischen Schriften, also die Arbeit an der jüdischen Authentifizierung, Deutschland zukommt, ist ebenso pathetisch wie widersprüchlich. Denn während dieses Deutschland die von Juden „für Deutschland“ geleistete Arbeit erst nach deren Tod anerkennen wird, besteht deren Arbeit in eigener Perspektive ja gerade darin, lebendig zu werden, „Ins Leben“ zu gelangen. In einem drastischen Bild kommt der Widerspruch zum Ausdruck: „[...] wenn das Leben mich einmal auf die Folter spannen würde und mich in zwei Stücke reißen, so wüßte ich freilich, mit welcher der beiden Hälften das Herz, das ja unsymmetrisch gelagert sei, mitgehen würde; ich wüsste auch, dass ich diese Operation nicht mit lebendigem Leib überstehen würde [...].“ (GS I, 888). Die Folter blieb Rosenzweig erspart. Dennoch zeigt sich hier der prekäre Status jenes ‚und‘, einer „Ganzheit, die man, soweit sie gelernt werden kann, durchs Lehrhaus lernen kann.“ (ebd.). Rosenzweigs Projekt war nicht nur eine Re-authentifizierung des Jüdischen, sondern ebenso eine Re-authentifizierung des Deutschen. Dieses Doppelprojekt war im Deutschland der Weimarer Republik jedoch unmöglich, es wurde, wie Rosenzweig selbst weiß, nicht zugelassen. Somit lief nicht nur die Strategie des Taktes, sondern auch die jüdische Arbeit „für Deutschland“ ins Leere – sie fiel der Operation zum Opfer, die „nicht mit lebendigem Leib“ zu überstehen ist. Dem Deutschland, das Rosenzweig die Anerkennung als lebendiger Mensch absprach, sprach Rosenzweig umgekehrt die intellektuelle Berechtigung ab, über sein Deutsch-Sein zu urteilen. Wie es im Brief an die Mutter vom Oktober 1929 heißt, ist Rosenzweigs „Deutschtum“ „genau was es ist, auch wenn es kein Deutsches Reich mehr gäbe.“ „Deutschtum“ ist also nicht an einen Staat oder eine politische Gemeinschaft gebunden, sondern liegt eben in der „Sprache“: „Sprache ist doch mehr als ‚Blut‘“ heißt es. Festgestellt wird das Primat der Sprache gegenüber einer essentialistischen Sphäre der Identität. Das Wort „doch“ kann hier zwei Bedeutungen haben, wobei nicht klar ist, welche der beiden Be-

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deutungen gemeint ist. Erstens kann sich die Feststellung gegen eine von Rosenzweig selbst getroffene Bestimmung wenden, also eine Wendung in seinem Denken anzeigen. Zweitens kann sie sich gegen eine außerhalb des Textes geäußerte Meinung richten, dass das „Blut“ der entscheidende Faktor der deutschen Identität, etwa der „Rasse“ sei. Die zweite Bedeutung könnte sich auf Rosenzweigs Kenntnis der Schriften Houston Stewart Chamberlains oder die in dieser Studie herausgearbeiteten Bezüge zu Hermann Burtes Wiltfeber stützen. Obwohl sich in den bis jetzt publizierten Briefen kein Hinweis darauf finden lässt, kann man auch vermuten, dass Rosenzweig Arthur Dinters radikal antisemitischen Beststeller Die Sünde wider das Blut zur Kenntnis genommen hat.98 Interessanter ist jedoch die erste Bedeutung. Sie wäre gestützt durch die Bestimmung des Terminus „Volk“ als „Vereinigung der Blutsfamilien gegenüber allen Gemeinschaften des Geistes“ (SE 332) im Stern der Erlösung. Anteil am „Volk“ hat der Einzelne hier wesentlich im „Blut“, obwohl auch kulturelle und sprachliche Faktoren mitbestimmen. Schon in seiner frühen Schrift „Atheistische Theologie“, die ich eingehend diskutiert habe, hat Rosenzweig das Wort „Blut“ anders als später im Stern, in Anführungszeichen gesetzt. Diese im Zeichen markierte Distanz ist nun im späten Brief wieder eingesetzt, kann jedoch nicht mehr ohne Assoziation zum „Blut“ im Stern gelesen werden. Während die Passagen im Stern also in direkter, eigener Rede geschrieben sind, handelt es sich hier um einen indirekten Ausdruck, um etwas bloß Zitiertes. Im Fall der ersten Bedeutung des Wortes „doch“ würde es sich um ein Selbstzitat handeln. Rosenzweig zitiert sich selber, schreibt sich selber ab und kann „doch“ nicht davon loskommen. Er verabschiedet sich von seiner eigenen Rede vom Blut, kann sich aber nicht integral davon verabschieden. Dieser Nicht-Abschied geht über die „Sprache“. Diese ist „mehr als ‚Blut‘.“ Wenn sie „mehr“ ist, dann heißt das nicht, dass das „Blut“ auf einmal nicht mehr gilt. Die wirklichkeitsprägende und -schaffende Kraft des „Bluts“ besteht weiter und am Werk ist bloß ein Überwiegen der Sprache. In Rosenzweigs spätem Denken würde sich also ein Kraftfeld verschieben und nicht grundsätzlich etwas ändern. Doch was heißt eigentlich „Sprache“? Diese Frage zielt in den Kern von Rosenzweigs Denken. Glich diese Untersuchung bis jetzt einem peripheren Umkreisen des Werkes Franz Rosenzweigs, so führt dieser kleine Brief tatsächlich in eines seiner Zentren. „Blut“ ist zeitlos. Es ist das dem Einzelnen und der Gemeinschaft vorgängige, das sie zusammenschließt. Es ist das, was die jüdische Gemeinschaft in 98 Vgl. Biale: Blood and Belief, S. 141–147, 204: „Whereas Dinter – and Chamberlain before him – thought that the Jews wanted to pollute the Aryan blood line, Rosenzweig celebrated the insularity of Jewish blood. The Jewish blood community had no need for miscegenation or intermarriage, for it remained splendidly autochthonous.“

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die temporale Exterritorialität bannt, in den inneren „reinen Lebenspunkt“. Die sprachliche Verfasstheit wie die zeitliche sind aber genau die zwei Qualitäten des „Neuen Denkens“, wie es Rosenzweig 1925 in seiner berühmten Selbstexegese unter diesem Titel skizziert.99 Denken bewährt sich erst in der gelebten Zeit – Erkenntnis kann sich nur im Sprechen, das immer dialogisches Sprechen ist, einstellen. Denn Sprache ist bei Rosenzweig nicht bloß ein Zeichensystem, das ein Instrument zum Verständnis von hinter der Sprache liegenden Bedeutungen und Erkenntnisinhalten darstellt, sondern bezeichnet die Möglichkeit des Verstehens, der Kommunikation überhaupt. Sprache ermöglicht und ist die Erfahrung des Anderen in der Zeit und ist damit die Matrix dessen, was bei Rosenzweig Offenbarung heißt. Sprache meint Sprache überhaupt: „es kann zwar viele Sprachen geben, aber nur eine Sprache.“ (SE 164). Damit schließt sich annähernd der Kreis meiner Untersuchung, die von Rosenzweigs Opposition von „Blut“ und Offenbarung in seinem frühen Essay ausgegangen war. Um ihn ganz zu schließen, ist es nötig, mich kurz in die Untiefen des Zweiten Teils des Sterns zu versenken, der zwischen der „Atheistischen Theologie“ und dem späten Brief steht. Ich habe bereits angedeutet, dass Offenbarung bei Rosenzweig nicht bloß die biblische Offenbarung meint. Sie ist auch keine bloße Kategorie des Denkens. Vielmehr ist sie grundsätzlich poetisch gedacht „als das Sichauftun eines Verschlossenen“ und „als die Selbstverneinung eines bloßen stummen Wesens durch ein lautes Wort“ (SE 179). Ist es im Idealismus Hegels der Gang des Denkens, der Welt, Mensch und Gott im All verbindet, so ist das mit Rosenzweig bloß ein leeres Außen des Denkens. Für ihn bedarf es der Wirklichkeit der Schöpfung, die Welt und Gott, der Offenbarung, die Gott und Mensch, und der Erlösung, die Welt und Mensch verbindet. Erst diese als wirklich erfahrenen Verbindungen können das Denken mit dem Leben harmonisieren und es authentifizieren. Offenbarung ist als „Aufleuchten eines solchen Augen-blicks“ charakterisiert, in dem „die Schöpfung im Gestalthaften befestigt wird.“ (SE 180). Das Erlebnis eines unmittelbar hereinbrechenden Sinns verfestigt sich in der Sprache. Darin wird der Mensch auch erst zum Subjekt. Durch das Sprechen aktualisiert der Mensch die Formen der Sprache, ordnet sie um das hic et nunc seiner persönlichen Erfahrung an und verleiht ihnen damit einen Sinn in der Erlebniswirklichkeit. Umgekehrt setzte sich der Mensch als Subjekt und begründet seine Existenz in dem er Ich sagt.100

Das kann (wie meistens im Stern) entweder theologisch oder philosophisch verstanden werden: Theologisch gesprochen bekommen die Dinge der Schöpfung einen Namen (der Mensch spricht mit Gott und umgekehrt), philosophisch ge99 Franz Rosenzweig: „Das neue Denken“, in: GS III, 139-162, v. a. S. 148–152. 100 Mosès: System und Offenbarung, S. 94.

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sagt wird Sinn erst in der Sprache diskursiv und die Wirklichkeit somit zugänglich und mitteilbar. Die Sprache als „Organon“ der Offenbarung „ist zugleich der Faden, an dem sich alles Menschliche aufreiht, das unter den Wunderschein der Offenbarung und ihrer allzeit erneuten Gegenwärtigkeit des Erlebens tritt.“ (SE 123). In der Sprache überhaupt als Möglichkeit der Benennung der Welt und damit als Möglichkeit der Verständigung über die Welt mit dem Anderen hat der Mensch den Schlüssel zur Schöpfung. Die Erfahrung dieser Möglichkeiten ist die Offenbarung. Sprache wird dabei als eine Urgegebenheit gedacht, die ebenfalls schon in der Schöpfung latent angelegt ist. Nur durch manifeste Nutzung der Sprache ist der Offenbarung die Möglichkeit gegeben, „als historische Offenbarung in die Zeit einmal einzutreten und sich dort zu erweisen als etwas, was schon von uran ist.“ (SE 212). Dieser Eintritt steht bei Rosenzweig im Zeichen eines universellen Zusammenhangs der Liebe, die den Augenblick des Öffnens und Sprechens erst ermöglicht: Wir hatten die Offenbarung als das unter der Liebe Gottes geschehende Mündigwerden des stummen Selbst zur redenden Seele erkannt. Wenn Sprache mehr ist als nur ein Vergleich, wenn sie wahrhaft Gleichnis – und also mehr als Gleichnis – ist, so muß das, was wir in unserem Ich als lebendiges Wort vernehmen und was uns aus unserem Du lebendig entgegentönt, auch in dem großen historischen Zeugnis der Offenbarung [...] ‚geschrieben stehn‘. Wiederum suchen wir das Wort des Menschen im Wort Gottes. (SE 221)

Die Sprache, die den Einzelnen nicht nur mit den Anderen verbindet und somit Gemeinschaft und Zugehörigkeit erst ermöglicht und etabliert, sondern ihn auch als Matrix der Offenbarung mit der Schöpfung verbindet und somit in den Horizont der Erlösung stellt, ist „mehr“ als „Blut“. Man kann diese Sätze nicht nur theologisch, sondern in einem soziologischen und politischen Sinn lesen. Rosenzweig flüchtet sich nicht in religiöse Schwärmerei, sondern wendet sich gerade gegen jedes regressive Moment. Es geht um ein „Mündigwerden“ und damit ein Sich-Lösen von der reinen Dinghaftigkeit und Materialität der Existenz und damit auch von einem essentialistischen Verständnis von Identität. Gemeinschaft hat ihr Vergemeinschaftendes im „Blut“ – dieses muss jedoch erst in der Sprache aufgehoben oder aktualisiert werden, wie die Sprache erst im „Blut“ authentifiziert wird. Das „doch“ kann so gelesen werden, dass Rosenzweig seinen eigenen Ausführungen nun einen neuen Gedanken entgegenstellt, der doch alt ist, weil er ebenfalls aus dem Stern stammt, der nicht nur eine dunkle Seite, sondern schillernde Facetten besitzt. Mit seinem Satz „Sprache ist doch mehr als ‚Blut‘“ streicht Rosenzweig die Definition eines Volks als „Blutsgemeinschaft“ nicht durch, installiert aber ein im „Blut“ sich bewährendes und dadurch es aufhebendes Medium der Gemeinschaft. Was die absolute Subjektivität der Erfahrung mit der Objektivität von rationaler Erkenntnis verbindet, ist die Gründung in etwas, was von Außen kommt, sei es die göttliche Transzendenz, die Natur oder ein anderer Mensch. Was also Zugehörigkeit

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„Blutsgemeinschaft“ und Sprachgemeinschaft – Franz Rosenzweig

über die essentialistische Sphäre hinaus garantiert, ist nicht der Bezug auf das vermeintlich Eigene und Ureigene, sondern das Wissen um die Möglichkeit der Kommunikation mit dem Anderen. „Sprache“ ist nicht nur die deutsche Sprache, sondern bezeichnet dieses universelle Potential. Die Gemeinschaft der Sprache hat Platz für viele Sprachen, für die Sprache Luthers und die Sprache Goethes und die Sprache Franz Rosenzweigs. Die Gegebenheit dieser Möglichkeit des Sich-Öffnens in der Sprache wird zur selben Zeit, nicht in Frankfurt, sondern in Prag, radikal in Frage gestellt. Es ist Franz Kafka, der die Ambivalenz des „Bluts“ in seinen Texten, die man zum Teil durchaus als Meditationen über Sprache und Gemeinschaft lesen kann, vollständig zum Ausdruck bringt.

V.  Das Schweigen des Bluts – Franz Kafka

Wenn ein Hund versucht, das Wesen des Hund-Seins zu ergründen, ist er auf seine „Nebenhunde“ angewiesen – und kann trotzdem nicht auf deren Mithilfe zählen. Er stößt bloß auf ihr Schweigen und auf die hündische „Sehnsucht nach dem größten Glück, dessen wir fähig sind, dem warmen Beisammensein.“1 Diese Sehnsucht teilt auch der einzelne Hund. Wenn er dabei aber gerade das Rätsel des „Beisammensein[s]“ zu begreifen sucht, macht ihn genau dieses Begehren zum Außenseiter, der der Wärme entsagen muss. Und doch ist er immer schon einer von ihnen. Er kann genau so wenig auf seine Fragen nach dem Wesen der Gemeinschaft antworten wie die anderen Hunde. „Ich verstehe sie“, sagt der Hund über sie, „ich bin Blut von ihrem Blut, von ihrem armen, immer wieder jungen, immer wieder verlangenden Blut. Aber nicht nur das Blut haben wir gemeinsam, sondern auch das Wissen und nicht nur das Wissen, sondern auch den Schlüssel zu ihm.“2 Wegen des kollektiven Charakters des Wissens um das Wesen des Hund-Seins, ist der einzelne, forschende Hund auf das Kollektiv der Hunde angewiesen, sein „Blut“ kann er nicht verleugnen. Dafür entwirft der hundgestaltige Erzähler ein Bild, das, wie könnte es anders sein, ganz aus dem Erfahrungsbereich eines Hundes stammt: Das Wissen sei wie das Mark in einem Knochen, das allerdings, wenn alle Hunde zusammenkommen würden, ganz ohne Nagen und Beißen „dem Zugriff des schwächsten Hündchens“ frei läge. Etwas „Ungeheuerliches“ erträumt sich nun der isolierte Hund, nämlich genau dieses Ereignis der totalen Gemeinschaft, die jedoch im Moment ihrer Realisation nur ihm allein in seiner Isolation zugute kommen soll. „[Ich] will sie dann zu ihrem Leben, das ihnen lieb ist, entlassen und dann allein, weit und breit allein, das Mark einschlürfen. Das klingt ungeheuerlich, ist fast so, als wollte ich mich nicht vom Mark eines Knochens nur, sondern vom Mark der Hundeschaft selbst nähren. Doch es ist nur ein Bild. Das Mark, von dem hier die Rede ist, ist keine Speise, ist das Gegenteil, ist Gift.“3 Wie das „Blut“ ist auch das „Mark“ eine gemeinschaftliche Substanz. Dabei ist das „Bild“ des Marks ambivalent. Im Augenblick, in dem das damit repräsentierte Wissen 1 Franz Kafka: „Forschungen eines Hundes“, in: ders.: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlass [Gesammelte Werke, hg. von Max Brod], New York 1954, S. 240–290, hier S. 242. 2 Ebd., S. 257. Die so genannte Kritische Kafka-Ausgabe verzeichnet diese Stelle als „Variante“. Vgl. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Apparatband, hg. von Jost Schillemeit, Frankfurt a. M. 1992, S. 358. [Im Folgenden werden die Nachgelassenen Schriften und Fragmente II zitiert als KKAN2 mit Seitenzahl in Klammern; auf die weiteren Bände der KKA wird wo nötig verwiesen.] 3 Kafka: „Forschungen“, S. 258.

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Das Schweigen des Bluts – Franz Kafka

dem einzelnen zufällt, verkehrt es sich aus einer „Speise“ in sein „Gegenteil“, ein „Gift“ und damit einer Metonymie des Todes. Auch das „Blut“ ist nicht nur die Substanz des Lebens, wie der Hund im Verlauf seiner Biographie ebenfalls erfahren musste. Eine „Blutlache“ dient dem noch ganz jungen Hund dazu, seine Schnauze in „Angst und Scham“ zu versenken.4 Für den Hund ist das „Blut“ auch der Begleiter einer Grenzerfahrung, eine Markierung der Grenze zwischen „Speise“ und „Gift“, Wissen und Bedrohung. Diese Grenze verläuft mitten durch die Körpermetaphorik; anders als in den Texten, die ich in dieser Studie bis jetzt untersucht habe, stellt Franz Kafka die Grenze jedoch aus, anstatt sie zu verschweigen. Auch der postum publizierte Text Kafkas, der unter dem Titel Forschungen eines Hundes bekannt ist, wurde wie seine anderen Texte literaturwissenschaftlich durchexerziert. Dabei kam auch die Teilabteilung der Kafka-Deutung zum Zug, die sein Schreiben auf einen mehr oder weniger kritischen Bezug zu dem absucht, was man Zionismus zu nennen gewohnt ist.5 Mit der Rede vom „Volkskreis“ und anderen Indizien ist dieser historisch verortende Deutungsansatz sicherlich mit einigen Einschränkungen gerechtfertigt. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels soll denn auch Kafkas Verhältnis zum Zionismus vor allem aus theoretischer Perspektive noch einmal verhandelt werden. Hier aber stehen die Forschungen eines Hundes gleich einer Vignette. Sie zeigen an, was in diesem Kapitel anhand verschiedener, schwerpunktmäßig in den Jahren 1916 und 1917 entstandener Texte Kafkas ausführlich zur Diskussion gestellt wird: Die Dialektiken von Gemeinschaft und Einsamkeit, von Ganzheit und Verwundbarkeit, von Erlösung und Opfer. Für diese Dialektiken bildet „Blut“ den Umschlagspunkt, ein in alle Richtungen verweisendes Bündel sich überkreuzender Bedeutungsstränge. 1.  Ambivalenz Bei näherem Hinsehen erweist sich die Hoffnung auf Ankunft als der Drang zu fliehen.*

Die Frage, wie sich das Schreiben Kafkas zum Zionismus als Ideologie verhält und wie sich dieses Verhältnis theoretisch begreifen lässt, ist trotz der oft beklagten und geradezu beschworenen (Un-)Menge an Sekundär- und Tertiärli4 Ebd., S. 287. 5 Vgl. Iris Monica Bruce: „‚Aggadah raises ist paw against Halakha‘: Kafka’s Zionist critique in ‚Forschungen eines Hundes‘“, in: Journal of the Kafka Society of America 16, 1 (1992) S. 4–18. * Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, aus dem Englischen von Martin Suhr, Hamburg 2005, S. 27.

Ambivalenz

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teratur nicht zufriedenstellend beantwortet worden.6 Ausgerollt wird in diesem Abschnitt nicht noch einmal Kafkas anhand biographischer Dokumente und anderer Texte belegbares Verhältnis zum Zionismus und zu den Protagonisten der zionistischen Bewegung.7 Weder Kafkas Hebräisch-Studien, noch sein Interesse für gesellschaftliche Ereignisse in zionistisch orientierten Kreisen, noch seine verschiedenen zionistischen Lektüren sollen hier noch einmal im Zentrum stehen. Vielmehr soll versucht werden, eng am Text eine theoretische Fassung dieses überaus komplexen Verhältnisses zu finden.8 6 Eine Ausnahme bildet die bereits mehrmals zitierte Studie von Philipp Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, welche die hier aufgeworfene theoretische Fragestellung präzise zu beantworten sucht. Theisohn geht wie andere Autoren davon aus, dass Kafka dem „Akt der Landnahme die fortwährende Durchstreichung des Ortes, das Schreiben, gegenüberstellt.“ (S. 208). Innovativ ist Theisohns Bestimmung von Kafkas Schreiben als „Umdeutung“ oder „Re-Fragmentarisierung“ dessen, „was wir die ,Margo‘ nennen und das hierin jene Bahn bezeichnet, die entlang all der Bezirke des Randständigen verläuft [...].“ (S. 212) Gemäß Theisohn geht es also nicht einfach um eine dem Denken der Präsenz (Zion als Zeichen, das auf einen realen, politisch zu schaffenden Ort verweist) entgegen gesetzte Position, sondern um eine „andere Poiesis“ (ebd.). Diese „fundamentale Neukonsolidierung jüdischen Denkens“ besteht in der „Unterbrechung“ und lässt sich anhand von drei Punkten theoretisch spezifizieren. Gegenüber dem zionistischen Ansinnen „der Rettung einer durch die fortschreitende Assimilation bedrohten Kontinuität“ befindet sich Kafka erstens in „einem Verhältnis der Überbietung, insofern außer Frage steht, dass der Schlüssel, der eine Rückkehr zur Zivilisation ermöglichen würde, längst verloren ist.“ (S. 214) Zweitens besteht das radikal andere von Kafkas Texten darin, dass sein Zion „kein Ort der Rekonstruktion“ ist. Kafka öffnet im Schreiben einen anderen Raum, der erst im Abbruch aller „Anknüpfungspunkte, Übergänge, Deutungstraditionen“ entstehen kann. Drittens „wird das zionistische Projekt der Rückkehr der Erde zu einer Frage von Textverfahren“, das heißt, dass im Schreiben/Schrift als materielle Seite der Schreibszene „ein ganz neues – geo-logisches – Verhältnis zum Nomos“ entsteht (S. 216). Diese Theorie der „Unterbrechung“ gilt auch für die von mir untersuchte Rede vom Blut, an der sich Kafka in radikal anderer Weise beteiligt (wie an der Rede von der Landnahme). Für die vorliegende Untersuchung eignet sich Theisohns zeichentheoretische Begrifflichkeit jedoch weniger, hier soll der psychoanalytisch geprägte Begriff der Ambivalenz das theoretische Verhältnis Kafkas zum Zionismus fassen. 7 Vgl. Ritchie Robertson: Kafka. Judaism, Politics and Literature, Oxford 1985; Marthe Robert: Einsam wie Franz Kafka, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.  M. 1987; Giuliano Baioni: Kafka – Literatur und Judentum, aus dem Italienischen von Gertrud und Josef Billen, Stuttgart 1994, insbesondere Kapitel 5 „Zionismus und Literatur. Die Reise des Landarztes“ S. 109–143; Mark H. Gelber (Hg.): Kafka, Zionism and beyond, Tübingen 2004; jüngst der Beitrag von Mark H. Gelber: „Kafka und zionistische Deutungen“, in: Bettina von Jagow / Oliver Jahraus (Hg.): Kafka Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Göttingen 2008, S. 293–303; sowie Manfred Voigts: Geburt und Teufelsdienst. Franz Kafka als Schriftsteller und Jude, Würzburg 2008, insbesondere S. 75–94. 8 Dieses Vorhaben ist auch die Konsequenz, die man z. B. aus der Lektüre eines hervorragenden Überblicks über „jüdische Kafka-Deutungen“ ziehen kann: Ekkehard W. Haring: „Wege jüdischer Kafka-Deutung. Versuch einer kritischen Bilanz.“, in: The KafkaProject, (Herbst 2008):

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Das Wechselverhältnis von Sprache und Gemeinschaft in der zionistischen Rede ist nicht bloß gleichsam nach außen gerichtet in der Projektion des Textes auf ein Territorium. Indem sie einen anderen und neuen Körper anruft, besteht dieses Verhältnis auch gleichsam gegen innen. So kann anhand der Rede vom Blut – und nicht nur, wie auf anregende Weise unternommen wurde, in der Dialektik von Re- und Deterritorialisierung, also im „Disjunktiv zwischen Literatur und Landnahme“9 – diesem Verhältnis nachgegangen werden, wobei die Texte Kafkas eine Art Kulminationsraum dieser Rede im deutsch-jüdischen Schreiben bilden. Die in dieser Studie behauptete prinzipielle Ambivalenz des „Bluts“ wird in ihnen aus- und durchgespielt. Aber nicht nur wird am „Blut“ ersichtlich, wie Kafkas Schreiben sich bezüglich des Zionismus verhält – nämlich grundsätzlich so, dass Ambivalenz aufgedeckt und ausgehalten wird – vielmehr wird im Spezifikum des Verhältnisses Kafkas zur zionistischen Schreibweise auch die spezifische Ambivalenz des „Bluts“ ersichtlich. Wenn ich hier Ambivalenz als literaturtheoretischen Begriff einsetze, meine ich nicht die stereotype Feststellung, dass Kafkas Texte per se ambivalent sind. Vielmehr soll Ambivalenz ein intertextuelles Verhältnis begreifen, das sich keinesfalls in der positivistischen Auflistung der Bezüge erschöpft. In Kafkas Texten wird – dieser Vorgang wird hier als ihre Literarizität aufgefasst – eine prinzipielle Ambivalenz relational gegenüber anderen Texten sichtbar gemacht. Ambivalenz ist ein vor dem Ersten Weltkrieg von der Psychoanalyse, zuerst durch den Zürcher Psychiater Eugen Bleuler in der Behandlung der so genannten dementia praecox, der Schizophrenie, gemünzter Terminus. Er bezeichnet nicht bloß die affektive Zwiespältigkeit, sondern kann weiter definiert werden als „Aufrechterhaltung eines Gegensatzes vom Typus ja-nein, wo Bejahung und Verneinung simultan und unauflösbar sind“10. Ambivalenz besteht also auf einem temporalen und inhaltlichen Zugleich, aber auch auf einem semantischen „Ambivalenzen, wie sie mit Blick auf die Interpretationsgeschichte die herkömmlichen Kafka-Imagologien infrage stellen, sind zu großen Teilen beim Autor selbst angelegt. Zu den Eigentümlichkeiten seiner Person und seines Werkes zählen die oft zwiespältigen und unabschließbaren Aussagen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Forschung mit übertriebenem Aufwand das Vorhandensein empirischer Hinweise untersucht (hat), um konkrete Auskünfte über Leben und Schreiben des Prager Autors zu erlangen. Die konkret-pragmatische Situierung der Texte in lebensweltliche Bezüge brachte so zwar viele überzeugende Darstellungen hervor, konnte aber letztlich die Unbestimmtheit nicht – bzw. nur mittels Sinnfestlegung – aufheben.“ Weiter schreibt Haring: „Aufgabe des Interpreten wird auch in Zukunft das genaue, ja vielleicht ein noch gründlicheres Lesen der Texte sein. Selbstverständlich wird Kafkas Judentum diesen Deutungen wichtige Schlüssel zum Verständnis seines Werkes liefern – allerdings eher in Form fortgesetzter Befragungen denn als abschließende Befunde.“ 9 Theisohn: Urbarkeit der Zeichen, S. 214. 10 Jean Laplanche / Jean-Bernard Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, aus dem Französischen von Emma Moersch, Frankfurt a. M. 1991 (12. Auflage), S. 56

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Zugleich, auf das Bleuler in einem Aufsatz anhand eines Gesprächs mit einer Patientin eindrücklich aufmerksam macht: „Da glaubt eine Frau, ihr Mann sei in der Anstalt eingesperrt. Wenn ich ihr sage, er sei nicht eingesperrt, so ist das für sie ganz gleichbedeutend, wie wenn ich ihr sage, er sei es. So wird auch die Bedeutung der Worte oft ganz systematisch verkehrt wie im Traum: ‚Gift‘ kann ‚Speise‘ bedeuten, ‚Lohn‘ ‚Strafe‘ usw.“11. Es ist interessant, dass Bleuler hier genau das Beispiel nennt, das auch Kafka in seinem Hundetext anführt: „‚Gift‘ kann ‚Speise‘ bedeuten“. So kann auch das Wort „Blut“ Leben oder Tod bedeuten. Die zionistische Schreibweise aber kann mit der Ausrichtung auf ‚Entscheidung‘, ‚Aufgabe‘, oder ‚Entschluss‘ Ambivalenz nicht zulassen. Genau wie für die moderne Medizin ist für den Zionismus Ambivalenz pathologisch. Er beschneidet die negative Bedeutung des „Bluts“ und meint das Wort bloß im positiven Sinn. Ambivalenz ist der natürliche Feind des Zionismus, wie sie der Feind der auf Ordnung drängenden wissenschaftlichen und politischen Moderne überhaupt ist. Es handelt sich freilich um einen paradoxen Kampf: „Ambivalenz“, so schreibt Zygmunt Bauman, „stellt unstrittig die genuinste Beunruhigung und Sorge für die Moderne dar, da sie, anders als andere Feinde, geschlagen und versklavt, mit jedem Erfolg der modernen Mächte an Stärke zunimmt.“12 Indem die abgründige Polysemie des „Bluts“ unterdrückt wird, kehrt sie gespenstisch umso bedrängender wieder. Für Baumann hat Kafka die archetypische Gegenfigur zum „Konkreten, Spezifischen, Eindeutigen“13 geschaffen, nämlich den „Fremden“, der sich jeglicher Zuordnung entzieht und damit als Figur des Verdrängten beunruhigend wirkt. Die Texte Kafkas stellen für den Zionismus diese Beunruhigung dar, denn mit ihnen wird das verdrängte Zugleich des Zionismus lesbar. Zion ist Ziel und Zentrum und gilt als privilegierter Ort, an dem die Wandernden ankommen sollen. Kafka hingegen beschreibt, das zeigt sich in diesem Abschnitt, Übergangs- und Schwellenräume, die sich dem Gegensatz von Heimat und Exil widersetzen. Der Platz, den seine Figuren besetzen, ist „weder ein bestimmter Ort noch ein Nicht-Ort, sondern ein entorteter Ort, eine räumliche Lage, die jeden bestimmten Platz ins Wanken und Gleiten bringt.“14 Der Erkenntnisgewinn dieser Feststellung wäre aber noch bescheiden. Die Ambivalenz, die Kafkas Verhältnis zum Zionismus prägt, muss differenzierter erfasst werden, was in den folgenden drei Abschnitten unternommen wird. Sie kann theoretisch auf drei Ebenen beschrieben werden: Auf der Ebene der Schrift/dem Schreiben stellt Kafka dem Plan, dem Planmäßigen und der 11 Eugen Bleuler: „Die Ambivalenz“, in: Festgabe zur Einweihung der Neubauten. 18. April 1914 /Universität Zürich, Zürich 1914, S. 85–97, hier S. 95–96. 12 Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 34. 13 Ebd., S. 148. 14 Joseph Vogl: Über das Zaudern, Zürich / Berlin 2007, S. 84.

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Ausrichtung auf Anfang und Ziel die radikale Unplanbarkeit und Unkontrollierbarkeit des Schreibens entgegen. Auf der Ebene der Topoi/der Motive des Erzählten zeigen sich neben Positivität, Sinnhaftigkeit und Verwertbarkeit die bedrohlichen, erschreckenden und absurden Seiten der erzählten Welt. Auf der abstrakten Ebene von Allegorie/Allegorese und Deutung steht gegenüber Eindeutigkeit, Kohärenz und Deutbarkeit das Wuchern eines grotesken und in sich instabilen Sinngebildes. 1.1  Plan und Poesie

Erstens kann Ambivalenz auf der Ebene des Schreibens als materialer Schreibakt, wie er in den Handschriften Kafkas auch inhaltlich als das Schreiben aus sich selbst heraus generierendes Moment reflektiert wird, beobachtet werden. Die Besonderheit von Kafkas Œuvre, das in seiner authentischen Gestalt zu einem großen Teil eigentlich nur als handschriftlicher Nachlass und nicht als autorisierte Drucke vorliegt, und Kafkas in hohem Maß ambivalenter Auftrag an Max Brod, alle seine Manuskripte „ungelesen zu verbrennen“,15 machen es möglich, gerade die Vorläufigkeit des Handschriftlichen und die beim Lesen immer mitzudenkende Nicht-Autorisiertheit der Texte als konstituierende Momente von Kafkas Schreiben16 gegenüber dem notwendig immer Festlegenden ideologischer Literatur zu begreifen. Personalisiert zeigt sich diese Ambivalenz im Verhältnis Kafkas zu seinem auf Publikationen drängenden Freund Max Brod,17 ohne den die Nachwelt den Autor Kafka gar nicht oder ganz anders kennen würde. 15 So der bekannte Wortlaut des „Zettels“, den Brod in Kafkas Schreibtisch fand. Vgl. Max Brod: „Nachwort“, in: Franz Kafka: Der Prozeß. Roman, Berlin 1925, S. 402–411, hier S. 402 [Faksimilenachdruck der Erstausgabe des Buchdrucks von 1925 (Verlag Die Schmiede, Berlin), hg. und eingeleitet von Roland Reuß, Basel / Frankfurt a. M. 2008.]. 16 Vgl. Roland Reuß: „Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe“, in: Einleitungsband von Franz Kafka: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Basel / Frankfurt a. M. 1995, S. 9–24. [Im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert als HKKA, Bandname, Jahresangaben des Bandes und Seitenzahl.] 17 Beispielhaft kann man das an Brods Einsatz für Kafkas Texte bei Martin Buber in der Zeitschrift Der Jude sehen. Anhand der Korrespondenzen zwischen Brod, Buber und Kafka, hat dies Eleonore Lappin geschildert. Vgl. Eleonore Lappin: Der Jude, 1916–1928. Jüdische Moderne zwischen Universalismus und Partikularismus, Tübingen 2000, S. 43: „Brod setzte sich nach Kräften für Den Juden ein. Er verfasste zahlreiche Beiträge und half Buber beim Aufbau eines Mitarbeiterstabes. Als ersten schlug Brod seinen Freund Franz Kafka vor, bei dem er schriftstellerisch eine Wendung hin zum Judentum wahrzunehmen glaubte. Buber wandte sich tatsächlich an Kafka und bat ihn um ein eindeutiges Bekenntnis zum jüdischen Volk. Damit war der zurückhaltende, in jüdischen Belangen so überaus ambivalente Kafka, wie er

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Vom Jahresende 1916 an schreibt Kafka hauptsächlich mit Bleistift in kleine Notizbücher im Oktavformat, wahrscheinlich oft in der zu diesem Zweck von seiner Schwester Ottla gemieteten Wohnung an der Alchemistengasse 22 unterhalb des Hradschin in Prag. In diesen so genannten Oxforder Oktavheften sind Notizen, wenige diaristische Einträge und Briefentwürfe und Textkomplexe gesammelt, die Kafka teilweise als Erzählungen publizierte, wie etwa Der neue Advokat, Schakale und Araber oder Bericht an eine Akademie. Andere nicht zu Kafkas Lebzeiten veröffentlichte Textzusammenhänge wie Die Brücke, Der Jäger Gracchus oder Beim Bau der chinesischen Mauer haben später als „Erzählungen aus dem Nachlass“ große Bekanntheit erlangt, ohne dass ihre authentische Form und die von Kafka gestrichenen Textteile bekannt gewesen wären. Auch dass dieses Schreiben weniger ein erzählendes, als eines ist, dass die Bedingungen von Erzählbarkeit ausstellt, wurde erst mit der Publikation der HandschriftenFaksimiles vollkommen deutlich.18 In seiner Einführung in die ersten beiden Oxforder Oktavhefte hat Roland Reuß den radikal experimentellen Charakter von Kafkas Aufzeichnungen betont und „Kafkas kritische Ausstellung der Äußerungsperformanz überall, und d.h. auch und vielleicht gerade dort am schärfsten, wo sie als ‚Lehre‘ erscheint“19 herausgestellt. Kafkas Schreiben läuft primär nicht nach einem vorgefertigten Schema ab, es funktioniert nicht so, dass es auf einem zurückzulegenden Weg von einem Anfangspunkt zu einem Endpunkt von etwas erzählen möchte. Vielmehr werden, indem Erzählfäden immer wieder unterbrochen und neu und anders wieder aufgenommen werden, die Erzeugung einer Äußerung, eines Inhalts implizit und explizit thematisiert und Sinnkonstitutionen im unkontrollierten Schreiben erprobt. Kafkas Schreiben zeigt (auf jeden Fall in den Oktavheften), dass „sich Poesie vollzieht [...] unabhängig von der Kontrolle und von der Planung des vermeintlichen Kontrollzentrums Subjekt“20. Wenn gerade der Zionismus nicht nur als historische Bewegung zur Erlangung einer jüdischen Staatlichkeit, sondern metahistorisch als kontrollierte Subjektwerdung des Judentums verstanden wird, dann ist dieses so charakterisierte Schreiben dessen Aufhebung. Anhand der einschlägigen Texte Martin Bubers wurde in dieser Studie ersichtlich, dass Zionismus nicht einfach als politisches Programm oder als Partei unter anderen, sondern als die Bewegung an sich verstanden werden muss. Wichtig ist auf jeden Fall, dass die Bewegung Buber in seiner Absage mitteilte, überfordert [...].“ Ob Kafka „überfordert“ war, ist jedoch zweifelhaft. Vielleicht waren auch die Leser des Juden, inklusive Buber und Brod, überfordert von der Ambivalenz, die Kafka nur stehen lassen konnte. 18 Vgl. bereits Annette Schütterle: Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als „System des Teilbaus“, Freiburg i. Br. 2002. 19 Roland Reuß: „Die ersten beiden Oxforder Oktavhefte Franz Kafkas – Eine Einführung“, in: Franz Kafka Hefte 5 (2006), S. 3–26, hier S. 6, Beiheft zu HKKA, Oxforder Oktavhefte 1/2, 2006. 20 Ebd., S. 12.

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des Zionismus absolut geordnet und nach einer vorher festgehaltenen Methode verläuft und teleologisch in jedem ihrer synchronen Momente auf Zion (als ein fiktives Zentrum) ausgerichtet ist, kurz, ihr muss ein Plan zugrunde liegen. In Theodor Herzls utopischem Roman Altneuland wird beschrieben, wie die Juden in Palästina mit großer Geschwindigkeit und Effizienz öffentliche Bauten, Eisenbahnen und Straßen, „Betriebsämter, Verwaltungsstellen, Schulen, Krankenhäuser und so weiter“ aufbauen. Dabei stoßen sie auf keine nennenswerten Schwierigkeiten: „Die Sache war, wie gesagt, sehr einfach, es mußte nur ein Plan da sein.“21 Auch für Nordau ist der Zionismus „planmäßige“22 Arbeit am jüdischen Volkskörper und damit die Leit-Erzählung der jüdischen Moderne, neben Neo-Orthodoxie und Assimilation wohl ihr Masterplan, ja vielleicht in seinem Selbstverständnis der Plan an sich. Für Kafka und überhaupt gilt aber: „Planung und Poesie schließen sich aus.“23 Das Spezifikum der Poesie besteht nicht darin, Pläne zu durchkreuzen, sondern das Planmäßige an sich zu simulieren, ad absurdum zu führen und in Frage zu stellen. Um diesen Gedanken zu illustrieren, könnte man auf den von Brod mit Der Bau betitelten späten Text verweisen, in dem viel von Bauplänen die Rede ist: „Der neue vernünftige Plan lockt mich und lockt mich nicht. Es ist nichts gegen ihn einzuwenden, ich wenigstens weiß keinen Einwand, er muß, soweit ich es verstehe, zum Ziele führen. Und trotzdem glaube ich ihm im Grunde nicht, glaube ihm so wenig, daß ich nicht einmal die möglichen Schrecken seines Ergebnisses fürchte, nicht einmal an ein schreckliches Ergebnis glaube ich; [...].“24 Der Plan ist einwandfrei und doch ist er nicht ausführbar. Dem tief ambivalenten Ich-Erzähler erscheint er nicht einmal mehr planmäßig: „Ich verstehe plötzlich meinen früheren Plan nicht. Ich kann in dem ehemals verständigen nicht den geringsten Verstand finden, [...].“25 Hier wirkt nicht mehr eine ambivalente Einstellung gegenüber dem Plan, sondern die konstitutive Ambivalenz des Plans selber. So kann Der Bau durchaus allegorisch für Kafkas Be-Schreibungen des Zionismus gelesen werden, sind doch die Grabungen des Ich-Erzählers immer angetrieben von der Angst vor einem ebenfalls grabenden, feindlichen Anderen. Das zugleich planmäßige und planlose Graben des Ich-Erzählers könnte aber auch als ein Bild für Kafkas Schreiben selbst gelten, das sich eben jenseits des Gegensatzes von Planmäßigem und Planlosem bewegt. Solche spekulativen Deutungen, die meistens erstaunlich einleuchtend sind, haben die KafkaForschung bekanntlich seit den Tagen Max Brods umgetrieben. Ich möchte hier dem gegenüber ganz konkret am Handschriften-Faksimile zeigen, in welcher 21 22 23 24 25

Herzl: Altneuland, S. 249. Nordau: Zionistische Schriften, S. 22. Vgl. in dieser Studie 3.2. Reuß: „Die ersten beiden Oxforder Oktavhefte Franz Kafkas“, S. 12. Franz Kafka: „Der Bau“, in: ders.: Beschreibung eines Kampfes, S. 173–219, hier S. 206. Ebd., S. 210.

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Weise und in welchem Maß sich Kafkas Schreiben als poetisches Schreiben durch seine Verabschiedung des Planmäßigen auszeichnet. Plan und Poesie sind enger und tiefer miteinander verbunden, als es die zionistische Programmatik wahrhaben möchte. Anhand einer Stelle aus Theodor Herzls programmatischem Roman Altneuland zeige ich, wie im Moment, in dem der Plan verwirklicht scheint, doch wieder die Poesie erinnert wird. Verschweigt der zionistische Plan jedoch ängstlich seine konstitutive Ambivalenz, zeigt Kafka im Schreibvorgang gerade die Erzeugung von ambivalenten Strukturen. Eine wahrhaft außerplanmäßige, ambivalente Existenz führt der Jäger Gracchus, der aus dem „Schwarzwald in Deutschland“ kommt, wo er „eine Gemse verfolgte und abstürzte.“26 Anstatt tot in der Erde zu liegen, unterhält er sich in einer postum publizierten Aufzeichnung Kafkas aus dem zweiten Oxforder Oktavheft mit dem Bürgermeister von Riva über die außerordentlichen Umstände seines Daseins, das er in dem Schiff verbringt, das ihn seiner Meinung nach wie in der griechischen Mythologie ins „Jenseits“ hätte führen sollen. „Alles ging der Ordnung nach. / Ich verfolgte, stürzte ab, verblutete in einer Schlucht, war tot und diese Barke sollte mich ins Jenseits tragen.“ (8°Ox2, 44). Gracchus stirbt nicht an der Verwundung, sondern durch das Verbluten, er stirbt an der vergehenden Zeit. Sein Sterben ist aber nicht abschließbar, die Zeit hat kein Ziel – oder verfehlt ihr Ziel. Dieses merkwürdige Verfehlen zwischen Diesseits und Jenseits erregt auch die Neugier von Gracchus’ Gesprächspartner: Sind Sie tot?“ „Ja“ sagte der Jäger „wie Sie sehn. [...] „Aber Sie leben doch auch?“ sagte der Bürgermeister. Gewissermassen sagte der Jäger, gewissermassen lebe ich auch. Mein Todeskahn verfehlte Fahrt d[as]ie Ziel, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat, ich weiss nicht alles was es war, nur das weiss ich, dass, dass ich auf der Erde blieb und [m]dass mein Kahn seither die irdischen Gewässer befährt. [...] (8°Ox2, 28) 26 HKKA, Oxforder Oktavheft 2, S. 44 [Im Folgenden zitiert als 8°Ox2 mit Seitenzahl in Klammern].

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Der Jäger ist tot, aber nicht so sehr wie man „sehn“ kann, denn der visuelle Eindruck zeigt dem Bürgermeister gerade einen Lebenden, „wozu das Bejahen der selbst schon paradoxen Frage in paradoxem Gegensatz steht.“27 Der Jäger führt eine Existenz in einem Dazwischen, das mit amtlich klingenden Füllwörtern wie „gewissermassen“ und „auch“ als papierenes Prekariat charakterisiert ist. Es ist denn auch nur das Papier, nämlich die Handschrift Kafkas, in der man auf einen sehr signifikanten Schreibvorgang stößt, der Aufschluss über die Entstehung solcher ambivalenter Phänomene gibt. „Mein Todeskahn“ so heißt es, „verfehlte das Ziel [...].“ Kafka strich das Wort „Ziel“, schrieb darüber „Fahrt“ – wie es die Brod’sche Ausgabe für den Drucktext übernahm – und passte den bestimmten Artikel an, er überschrieb also „das“ mit „die“. Diese kleine Streichung ist für den hier dargestellten Problemkomplex zentral, sie führt auf semantische Abwege. Während man ein Ziel anstrebt, es ins Auge fasst, es anpeilt und darauf zugeht, es also durchaus verfehlen kann, kann man eine Fahrt nur antreten oder unternehmen. Man kann sie machen oder nicht machen, aber man kann eine Fahrt nicht verfehlen. Kafkas Schreiben vollführt wie Gracchus’ Kahn „eine falsche Drehung“, der Steuermann wird abgelenkt und es entsteht ein Sinn-Strudel, ein Augenblick, in dem das Schreiben seiner Auktorialität verlustig geht. Entweder hatte Gracchus’ Todeskahn gar nie ein „Ziel“, sondern befand sich immer schon auf einer Fahrt, oder er hatte ein Ziel, das er dann „verfehlte“. In Kafkas Text gelten aber nach der Streichung beide semantisch sich ausschließende Varianten. Besser gesagt: Es sind nicht Varianten, die sich ausschließen, sondern im Augenblick dieser Wortersetzung verwirrt Kafkas Text die einem Text traditionell gedachte Linearität, mit der ein zu erzählender Sinn entfaltet wird. Diese Verwirrung lässt auch den Ausdruck ‚Variante‘ für die bei Kafka zu beobachtenden Phänomene hinfällig werden, weil kein privilegiertes Thema existiert, von dem es dann Varianten geben könnte. Die Wortersetzung öffnet damit den Raum für ein unauflösbares Zugleich, dass sich dem „Ziel“, der Ordnung eines vom Leben in den Tod übergehenden Lebens-Narrativs und schließlich dem Planmäßigen widersetzt. Die Brüchigkeit, auf die aufmerksam gemacht wird, lenkt den Blick auf andere narrative Inkonsistenzen des Textes. So erfährt man von Gracchus etwa, dass er seit seinem Unfall „die irdischen Gewässer“ befährt und „durch alle / Länder der Erde“ kommt. (8°Ox2, 28). Einige Heftseiten weiter aber erzählt der Jäger: „Mein Kahn ist ohne / Steuer, er fährt mit dem / Wind der in den untersten / Regionen des Todes bläst“ (8°Ox2, 39). Von einem „Führer“ ist hier keine Rede mehr und statt auf der Erde, schiffert Gracchus nun „in den untersten Regionen des Todes“, wo auch immer sich diese befinden mögen.28 27 Schütterle: Franz Kafkas Oktavhefte, S. 111. 28 Vgl. Martin Endres: „Chronographie des Todes. Die utopische Zeitlichkeit des Schreibens in Kafkas Der Jäger Gracchus“, in: Caspar Battegay / Felix Christen / Wolfram Groddeck

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Wenn es für Kafkas Schreiben in den Oktavheften stimmt, dass Schrift nicht bloß die Funktion eines Sinn-Transports hat, sondern dass im Schreiben dieser Transport verhandelt wird, und dass dem Schreibprozess seine Selbstverständlichkeit genommen, indem implizit danach gefragt wird, wie er funktioniert, dann zeigt die paradoxe Wortersetzung von „Ziel“ in „Fahrt“ paradigmatisch, wie Schreiben ‚normalerweise‘ verfährt, nämlich planend und ordnend, auf ein Ziel hin. Indem dieses Schreiben gerade nicht so verfährt, sondern eine ‚normalerweise‘ unzulässige Verschiebung vornimmt, wird gezeigt, wie sich Kafkas Schreiben gegenüber dem Plan verhält, nämlich so, dass es die dem Plan konstitutive Ambivalenz sichtbar macht. Auf insgeheime Ambivalenz stößt man etwa in Herzls Roman Altneuland, der das Ziel der jüdischen Wanderung schildern und eine Art Plan zur nationalen Vereigentlichung vorführen soll. In diesem futuristischen Palästina finden die Reisenden wieder nur die europäischen Staffagen, die doch in der zionistischen Ideologie als das Äußerliche an sich gelten, das endlich abgestreift werden soll. Verschiedene Leser stellten schon fest, dass Herzls Palästina im Grund gar nicht besonders jüdisch sein durfte. Man spricht Deutsch und besucht am Abend in europäischer Garderobe eine Oper. Zwar wird pathetisch ein Ziel beschworen, doch dieses Ziel ähnelt in verschiedenen Aspekten dem Ausgangspunkt der Sehnsucht, modernistischen und ästhetisierten Versionen von Berlin oder Wien, von Baden-Baden oder Salzburg, Orte, die für den Zionisten doch nur Stationen auf der Fahrt des jüdischen Subjekts zu seinem Ziel darstellen. Diese Widersprüchlichkeit ist nicht nur eine äußerliche, sondern bedroht die innere, konstituierende Unterscheidung der zionistischen Theorie selbst, nämlich die Unterscheidung zwischen Exil und Zion, Ausgangspunkt und Ziel des zionistischen Narrativs.29 Dieses Narrativ ist auch jenes, in dem sich der junge Jude Friedrich auf seiner Fahrt vom Wien des Fin de Siècle über die einsame Insel ins zukünftige, altneue Palästina bewegt. Obwohl er es beim Aufbruch noch nicht weiß, ist das Ziel seiner Reise Eretz Israel, wo sich seine Geschicke erfüllen. Auch im Moment des ganz Eigenen – dem messianischen Eingedenken – stößt man bei Herzl jedoch auf eine spezifische Romantik des Exils, das Ziel erin(Hg.): Zeit und Schrift in Franz Kafkas Oktavheften, Göttingen 2010, S, 25–36. Endres führt sehr schön aus, dass es sich bei diesen Inkonsistenzen nicht lediglich um thematische Modifikationen im Verlauf einer immer wieder neu ansetzenden Aufzeichnung handelt. Vielmehr sind die Brüche als Folge einer grundlegenden Metaphorik zu lesen: der fehlerhaften Übersetzung des Jägers Gracchus ins Jenseits. Darüber hinaus kann die Erzählung als (scheiternde) Allegorie für die schwierige Beziehung zwischen Metaphorik und Erzähltem selbst gelesen werden. 29 Vgl. hier und im Folgenden: Philipp Theisohn: „Galuth erzählen. Jüdische Segregation und ästhetische Sphäre: Kurzes Gespräch mit Shemaryahu Gorelik“, in: Battegay / Breysach: Jüdische Literatur als europäische Literatur, S. 191–203.

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nert bloß an die Fahrt. Am Anfang des letzten Teils seines Romans beschreibt Herzl unter dem Titel „Jerusalem“, wie Friedrich an einem Schabbat-Abend den „Tempel“ besucht, der anscheinend im Stil einer aschkenasischen Synagoge wieder aufgebaut ist, „weil die Zeiten sich erfüllten.“30 Um diese Erfüllung ist es aber merkwürdig bestellt. Durch den herrlichen Raum begannen Gesänge und Lautenspiel zu rauschen. Wundersam ergriffen diese Klänge das Gemüt Friedrichs. [...] Die Beter um ihn herum singsalierten und murmelten die vorgeschriebenen Worte. Ihm aber kamen schöne deutsche Verse in den Sinn: die „Hebräischen Melodien“ von Heinrich Heine. Der Tempelsänger hob das alte Lied zu singen an, das in vielen hundert Jahren dem zerstreuten Volke heimwehweckend erklungen war, in unzähligen Synagogen auf dem Erdenrunde, das Lied des edlen Dichters Salomon ben Halevy: „Lecho Daudi Likras Kallo …“ Und wie es Heine deutsch gemacht: „Komm, Geliebter, deiner harret Schon die Braut, die dir entschleiert Ihr verschämtes Angesicht!“ Ja, Heine fühlte als ein wahrer Poet die Romantik, welche im Schicksale seines Stammes enthalten war. Und daß er die innigsten deutschen Lieder sang, hinderte ihn nicht, auch die Schönheit der hebräischen Melodien zu finden. 31

Im Moment, in dem die Juden im Tempel zu Jerusalem den Schabbat feiern und die hebräische Liturgie erklingt, im Moment also, in dem das beschworene Heimweh erfüllt sein sollte, erinnert sich Herzls Protagonist sehnsüchtig an den Moment der Unerfülltheit. Denn Heines Prinzessin Sabbat aus den Hebräischen Melodien – die eben nicht auf hebräisch, sondern in „schönen deutschen Versen“ geschrieben sind – beschreibt die Dialektik von Verwandlung und Rückverwandlung, von Eigenem und Fremdem und entwirft damit eine „Romantik“ des jüdischen Volks, die eine Romantik des Exils ist. Denn nur von dort aus, von unterwegs, von der Fahrt aus, ist eine Beschwörung all dessen, was Ziel, Heimat, Ankommen und Erfüllung heißt, sinnvoll. Heine, „als ein wahrer Poet“ die archetypische Figur des assimilierten Juden, taucht hier auf, weil die planenden Ziel-Visionen des Zionismus eben nur von der Fahrt aus möglich sind, weil sie von innen heraus romantisch, das heißt poetisch verfasst sind. Poesie und Plan schließen sich nicht aus, sondern bedingen und konstituieren sich wechselseitig, manchmal sind sie nicht zu unterscheiden. Hätten sich im Ziel „die Zeiten“ wirklich erfüllt, gäbe es keine Romantik und kein Gedächtnis an die Fahrt mehr, es gäbe nicht einmal mehr Zeit. Was Ziel und was Fahrt ist, ist für das zionistische Schreiben aber viel weniger klar, als es behauptet. Während der Zionismus von einem eindeutigen Narrativ des Ankommens träumt, erweist Kafka mit seiner kleinen Verschiebung im Verhältnis dazu dieses Narrativ tief von Ambivalenz durchzogen. In der Ambivalenz, die bereits auf der Ebene der Schrift/des Schreibens durch die Wort-Ersetzung eingeführt und 30 Herzl: Altneuland, S. 276. 31 Ebd., S. 277.

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nicht etwa in einen vereindeutigenden Druck überführt, sondern ausgehalten wird, verfehlt Kafkas Text die vom Zionismus entworfene Poetik der gelingenden Überfahrt (nach Zion) und verlegt das Ziel in ein(e) „ZielFahrt“ – ein endloses Schreiben. Dies zeigt sich auch daran, dass der ‚Stoff‘ des Jäger Gracchus’ im zweiten und vierten Oktavheft verschiedene Male wieder auftaucht und aus anderen Perspektiven, etwa aus der Ich-Perspektive, erzählt wird. Anhand von intertextuellen Verweisen kann auf der Ebene der Motive diese Verschiebung noch genauer und besser analysiert werden. 1.2  „Blut“ und Zeit

Das vielleicht bekannteste deutsche Märchen überhaupt, das in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm enthaltene Aschenputtel, könnte man auch ganz anders erzählen. Wer weiß, ob die zwei Stiefschwestern Aschenputtels tatsächlich so faul und bösartig sind, wie sie aus der Perspektive des mutterlosen Mädchens und des pädagogischen Textes erscheinen. Man könnte auch von zwei vaterlosen Schwestern erzählen, deren Mutter einen anderen Mann heiratet und die in dieser Situation aus Hunger nach Liebe und aus der Furcht, die Mutter zu enttäuschen und zu verlieren, versuchen, Schuhe anzuziehen, die für jemand anderen bestimmt sind. Dafür schneiden sie sich physisch zurecht: Zehe und Ferse werden abgeschnitten. Es ist ein Betrug, aber es ist auch der unglückselige und allzu wörtlich genommene Versuch, jemand zu werden, der sie nicht sind. Die missglückte Assimilation wird am „Blut“ erkannt. Die Tauben auf dem Haselstrauch rufen: „Rucke di guck, rucke di guck, / Blut ist im Schuck (Schuh).“32 Und am Blut, mit dem sich der Strumpf vollgesogen hat, erkennt der Prinz tatsächlich, dass er die falsche Braut auf dem Pferd sitzen hat, er „sah, wie das Blut herausquoll.“33 Niemand wird nach dem Schicksal dieser gequälten Mädchen fragen, denen schließlich sogar die Augen ausgehackt werden. Das Kind, dem das Märchen erzählt wird, identifiziert sich wie selbstverständlich mit Aschenputtel. Aber die ungeheure Grausamkeit gegenüber dessen Stiefschwestern ist der Erzählung konstitutiv, und doch wird sie meistens vergessen – oder vielleicht besser verdrängt. Die Belohnung Aschenputtels ist die maßlose Folterstrafe der anderen Mädchen und umgekehrt. Auch der Zionismus ist zu allererst, wie Herzl es in seinem berühmten Motto zum Altneuland formuliert, ein Märchen. Auch dieses könnte man ganz anders erzählen. Es geht darin nicht nur um die Figur eines sich aus elender 32 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, nach der Großen Ausgabe von 1857, textkritisch revidiert, kommentiert und durch Register erschlossen, hg. von Hans-Jörg Uther, Erster Band: Märchen Nr. 1–60, München 1996, S. 126. 33 Ebd.

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Gestalt in die Tanzsäle der Gesellschaft bewegenden Aschenputtel-Juden, sondern auch um die Figur dessen, der diese Verwandlung nicht mitmachen kann oder will. Um nicht missverstanden zu werden, möchte ich betonen, dass ich dabei weniger an die Ungerechtigkeiten denke, die den Arabern Palästinas seit der Staatsgründung Israels widerfuhr. Ich spreche primär von innerjüdischen Phänomenen, die einen ihrer großen Erzähler nach 1945 zum Beispiel im hebräischen Autor Aharon Appelfeld haben. In dessen Romanen geht es u.  a. genau um den, der sich als Überlebender der Shoa auch im zionistischen Narrativ als Vergessener und Ausgegrenzter wiederfindet.34 Ich möchte behaupten, dass schon Kafka, ohne die Erfahrung des großen Mordens gemacht zu haben, diese Figur besetzt und dass man das an verschiedenen Motiven seiner Texte ablesen kann. Im blauen Schulheft, dessen Eintragungen Kafka vermutlich im Sommer 1916 mit „Jeder Mensch ist eigentümlich [...]“ beginnt und das zum Zeitpunkt dieser Studie noch nicht in Faksimile vorliegt, findet sich eine selten zitierte Aufzeichnung: Der tiefe Brunnen. Jahrelang braucht der Eimer um heraufzukommen und im Augenblick stürzt er hinab, schneller als dass Du Dich hinabbeugen könntest; noch glaubst Du ihn in den Händen zu halten und schon hörst Du den Aufschlag in der Tiefe, hörst nicht einmal ihn. (KKAN2, 15)

„Der tiefe Brunnen“ könnte der Titel eines Märchens sein. Der Leser wird an verschiedene Texte der Brüder Grimm, wie den Froschkönig oder den Eisenhans erinnert, in denen ein Brunnen jeweils das zentrale Motiv in einem psychologisch oder metaphysisch zu deutenden Prozess der Subjektbildung ist. Kafkas Aufzeichnung hält dagegen einen immer instabilen Moment von Vergeblichkeit und Stagnation fest. Dieser Moment entzieht sich dem sensorischen Zugriff, er ist zeitlich und räumlich nicht greifbar: „noch glaubst Du ihn in den Händen zu halten und schon hörst Du den Aufschlag in der Tiefe“. Der temporale Gegensatz zwischen dem „Augenblick“ des Hinabstürzens und dem jahrelangen Heraufziehen zeigt gegenüber dem romantischen Märchen ein radikal anderes Zeitverständnis, in dem die Dauer der Bewegung diese nicht bewährt, sondern in dem jeder Moment der Bewegung durch die Zeit gleich nah und gleich weit von einer wie auch immer gedachten Erfüllung der Zeit steht, die freilich nie eintritt.35 Vielleicht könnte man die Notiz des34 Vgl. Yigal Schwartz: Aharon Appelfeld. From Individual Lament to Tribal Eternity, translated by Jeffrey M. Green, Hanover / London 2001, S. 6. Auf die Beziehung Appelfelds zu Kafka kann hier nicht eingegangen werden, sie ist – wie man erwarten würde – sehr komplex und spiegelt sich nicht nur in Topoi und Figuren, sondern zeigt sich an Stil und Syntax. Vgl. Schwartz: Aharon Appelfeld, S. 91. 35 Vgl. Beda Allemann: „Stehender Sturmlauf. Zeit und Geschichte im Werk Kafkas (1962)“, in: ders.: Zeit und Geschichte im Werk Kafkas, hg. von Diethelm Kaiser und Nikolaus Lohse,

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halb als Allegorie des unverfügbaren Gedächtnisses lesen, in dessen tiefsten Schichten unerinnerbare Bilder abgelegt sind, die man doch irgendwie ahnt und denen man nie habhaft werden kann. „Der tiefe Brunnen“ ist ein Schwarzes Loch, das selbst den Schall zurückhält und aus dem nichts heraufkommen kann, es ist ein Bild für die für immer verlorene Zeit, für das Vergessene, das nicht einfach weg, sondern immer noch verortbar bleibt. „Der diesem Vergessen entgegensetzte Pol besteht in der Erneuerung einer ‚urzeitlichen‘ oder ‚klassischen‘ jüdischen Zeit, Kultur und Politik. [...] Kafkas Gegenparadigma ist [...] das selbstbewusste kulturelle Gedächtnis des von Martin Buber und Achad Haam geprägten zionistischen Programms.“36 Leser oder Zuhörer von Martin Bubers Reden über das Judentum werden denn auch in der Notiz zum Brunnen einen deutlichen intertextuellen Zusammenhang sehen. Kafkas Aufzeichnung ist als verfremdetes Buberzitat lesbar, das ich bereits im Abschnitt zu Buber angeführt habe: Um aus der Zwiespältigkeit zur Einheit zu kommen, dazu bedarf es die Besinnung auf das, was unser Blut in uns bedeutet, denn in dem Getriebe der Tage werden wir uns immer nur der Umwelt und der Wirkung der Umwelt bewusst. Vertiefen wir den Blick der stillsten Stunden: schauen wir, erfassen wir uns selber. Erfassen wir uns: ziehen wir unser Leben in unsre Hand, wie man einen Eimer aus einem Brunnen zieht, sammeln wir es in unsere Hand, wie man zerstreute Körner zusammenrafft. (MBW 3, 224)

In Bubers Vision von Erfüllung und Selbstauthentifizierung verbildlicht das Heraufziehen des Eimers einen problemlosen Erinnerungsvorgang. Hier ist „unsre Hand“ zupackend und es entgeht ihr nichts, sie begreift das Leben, das man „wie einen Eimer“ aus dem Brunnen zieht. Der Wille genügt, um aus dem Märchen Wirklichkeit werden zu lassen, um das Subjekt anamnetisch zu bewähren. Die Tiefe und die Dunkelheit des Brunnens verkehren sich erst in Kafkas Aufzeichnung aus einem Bild für gelingende Subjekt-Werdung in eines für die Unverfügbarkeit des Ichs. Der Vorgang der Authentifizierung scheitert bei Kafka im Moment seines Abschlusses. Der Brunnen erscheint nun als zutiefst ambivalentes Bild, das sich hinter oder in das Bild von Bubers Brunnen schiebt ohne dieses ganz unsichtbar zu machen. In diesem Doppelbild ist wortwörtlich die Abgründigkeit der Gründungsmotive zionistischer Rhetorik sichtbar geworden, denn Bubers Brunnen wird um die Möglichkeit seiner nie ergründbaren Tiefe ergänzt. Zeit und Raum sind nicht planmäßig in Anspruch zu nehmende Koordinaten für die Arbeit der Sujektwerdung, sondern entziehen sich der Hand des Handelnden. Göttingen 1998, S. 15–36. 36 Andreas Kilcher: „Dispositive des Vergessens bei Kafka“, in: Ashraf Noor (Hg.): Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der deutsch-jüdischen Moderne, Freiburg i. Br. 1999, S. 213–252, hier S. 238.

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Noch deutlicher kann der gleiche Mechanismus am Motiv der Kette gezeigt werden. In Bubers erster Rede heißt es: Jetzt ist ihm [dem Individuum, CB] das Volk eine Gemeinschaft von Menschen, die waren, sind und sein werden, eine Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen, die zusammen eine Einheit darstellen; und dies ist eben die Einheit, die er als Grund seines Ich empfindet, seines Ich, das in diese große Kette als ein notwendiges Glied an einem von Ewigkeit bestimmten Orte eingefügt ist. Was alle Menschen in dieser großen Kette geschaffen haben und schaffen werden, das empfindet er als das Werk seiner innersten Eigentümlichkeit […]. Der Weg des Volkes lehrt ihn sich selbst verstehen und sich selbst wollen. (MBW 3, 223)

Das Individuum ist „als ein notwendiges Glied“ einer Kette „eingefügt“, die seine Vorfahren, es selbst und seine Nachkommen als Volk überzeitlich zusammenbindet. Die Gemeinschaft konstituiert sich aus der Besinnung auf das „Blut“, das die Notwendigkeit und Authentizität der Kette garantiert. Wenn bei Buber die Einheit der „Grund“ des Ichs ist, dann kann man herausarbeiten, wie sich dieser „Grund“ bei Kafka als Abgrund auftut. In den Aufzeichnungen im Dritten Oxforder Oktavheft unter dem Titel „Beim Bau der chinesischen Mauer“, postum unter eben diesem Titel publiziert, ist das Bild der Kette zentral. Dort geht es ebenfalls um einen Bau, zu dem die Chinesen „wie ewig hoffende Kinder“ und mit unbezwinglicher Lust aufbrechen um am „Werk Volkswerk zu arbeiten“.37 Im Zusammenhang von Forschungen zum Zionismus bei Kafka wird diese Stelle oft zitiert, sie scheint emphatisch Bubers Aufruf zur „Einheit“ aufzunehmen und eine existentiell verbundene Volksgemeinschaft zu beschwören:38 niemals hatten sie gesehn wie gross und reich und schön und liebenswert ihr Land war, jeder Landsmann war ein Bruder, für den man ein Schutzmauer baute und der mit allem was er hatte und war sein Leben lang dafür dankte, Einheit [,]! Einheit[,]! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut,nicht mehr kümmerlichen eingesperrt im dürren Kreis[kärglichen] kärglichen 37 HKKA, Oxforder Oktavheft 3, 2008, S. 35. [Im Folgenden zitiert als 8°Ox3 und Seitenzahlen in Klammern im Text]. 38 Vgl. Vivian Liska: „Nachbarn, Feinde und andere Gemeinschaften“, in: Gelber: Kafka, Zionism and Beyond, S. 89–105, v. a. S. 98–101.

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lauf des Körpers, sondern süss rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China. (8°Ox3, 35–36)

„Blut“ bildet die Klimax des parataktischen Gefüges „Einheit [,]! Einheit[,]! / Brust an Brust, ein Reigen / des Volkes, Blut [...].“ Es ist das „Blut“, das den „Kreislauf des Körpers“ bildet, der hier aber nach längerem Suchen und Schwanken zwischen „kümmerlich“ und „dürr“ als „kärglich“, also als zu arm und zu eng bezeichnet wird. Dem „kärglichen“ Einzelkörper gegenüber steht „das unendliche China“, eine Gemeinschaft, die erst im Aufsprengen des individuellen Körpers – wenn „Brust an Brust“ gelegt wird und das individuelle, vereinzelte „Blut“ zum „süss-rollend[en]“ wird – sich zur Einheit transformiert. Rosenzweigs Bestimmung der „Blutsgemeinschaft“ scheint nicht weit. Diese „spürt die Gewähr ihrer Ewigkeit schon heute warm durch die Adern rollen. [...] In der natürlichen Fortpflanzung des Leibes hat sie die Gewähr ihrer Ewigkeit.“ (SE 332). Auch Kafkas „China“ versichert sich seiner „Einheit“ und Beständigkeit nicht etwa in Verträgen oder Verfassungen, sondern im biologischen „Reigen des Volkes“, einer im gemeinsamen „Blut“, der Folge der Generationen, fundierten Gemeinschaft. Doch auch hier ist das Bild der „Brust an Brust“ stehenden Chinesen zumindest merkwürdig, wenn nicht in sich ambivalent, denn eine geschlossene Gemeinschaft wird eigentlich mit dem Ausdruck „Schulter an Schulter“ umschrieben, während „Brust an Brust“ mehr auf eine Gegnerschaft hinweist.39 So ist im Unterschied zu Rosenzweig bei Kafka diese Gemeinschaft „zugleich ein Objekt der Sehnsucht und eine Instanz des Terrors.“40 Das wird nur vier Heftseiten weiter deutlich. Gerade „weil sich so viele möglichst auf einen Zweck hin zu sammeln such[en]ten“ gibt es so viel „Verwirrung“ (8°Ox3, 44) unter den mauerbauenden Chinesen. Wenn Einheit generiert werden soll, stiftet gerade dieser Versuch Uneinheitlichkeit. Kafka hat für dieses Paradox eine anthropologische Erklärung, die die Ambivalenz einer Schutzmauer (die immer auch eine Gefängnismauer ist) zum Ausdruck bringt: [...] Das menschliche Wesen, leichtfertig in seinem Grunde, von der Natur des auffliegenden Staubes, verträgt keine Fesselung, fessel[l]t es sich selbst, wird es bald wahnsinnig an den

39 Für den Hinweis danke ich Roland Reuß. 40 Liska: „Nachbarn, Feinde“, S. 99.

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Fesse[l]ln zu rütteln anfangen und Mauer Kette und sich selbst in alle Himmelsrichtungen zerreissen. (8°Ox3, 44)

Die Kette verbindet nicht nur, sie fesselt auch. Kafka zeigt beide Funktionen oder Bedeutungen der Kette, die sich hier keineswegs ausschließen, sondern nebeneinander bestehen, ja sich sogar gegenseitig bedingen. Es ist paradigmatisch, wie Kafka die Ambivalenz des Gemeinschaftlichen zwischen Gewalttätigkeit/ Terror und Geborgenheit im Motiv der Kette, dem bei Buber eine zentrale Rolle in der Rhetorik der zionistischen Gemeinschaftsverfassung zukommt, aufdeckt. Die Fessel kann so beklemmend werden, dass mit deren Zerreißen auch das „menschliche Wesen“ selbst sich zerreißt. Man kann nicht genau sagen, ob mit „menschlichem Wesen“ der Mensch an sich als Gattung, fassbar im „Reigen des Volkes“, oder ein einzelnes Individuum gemeint ist. In beiden Fällen sind die Folgen im „Blut“ sichtbar. In der Kette wird nicht nur eine Zeit und Raum umspannende Gemeinschaft gebildet, die gewaltsam durchgesetzte Kontinuität von Ich und Gemeinschaft verletzt das „Wesen“ des je singulären Ichs, das nicht mehr über seine Zeit verfügen kann. Die Kette wird dann zum Instrument der totalen Vereinzelung. Sie wird zum Instrument, das den Einzelnen „aufs Radikalste der Gemeinschaft entrückt und jenseits aller menschlichen Gebundenheiten“41 bannt, wie es Brod 1916 für die Figuren Kafkas im Allgemeinen bestimmt hat. Es ist die Spezifik von Kafkas Schreiben gegenüber dem Zionismus, die Ambivalenz seiner Bildlichkeit durch deren Ergänzung mit gewaltsamen und abgründigen, verletzenden und unverfügbaren Dimensionen offenzulegen. Es muss hier in einem kleinen Exkurs angemerkt werden, dass Kafka auch sein Leben mit dieser Bildlichkeit deutete und es darin einschrieb. Bekanntlich interpretierte er den Ausbruch seiner Tuberkulose, den als „Quellen aus der Kehle“ beschriebenen „Blutsturz“ von 1917,42 als inneres Selbst-Zerreißen und 41 Max Brod: „Unsere Literaten und die Gemeinschaft“, in: Der Jude, Heft 7 (Oktober 1916), S. 457–464, hier S. 464. 42 Am 9. September 1917 schreibt Kafka an Felice Bauer: „2 Tage nach meinem letzten Brief, also genau vor 4 Wochen, bekam ich in der Nacht, um 5 Uhr etwa, einen Blutsturz aus der Lunge. Stark genug, 10 Minuten oder länger dauerte das Quellen aus der Kehle, ich dachte, es würde gar nicht mehr aufhören. Nächsten Tag war ich beim Doktor, wurde diesmal und später öfters untersucht, röntgenisiert, war dann auf Drängen des Max bei einem Professor. Das Ergebnis ist, ohne dass ich mich hier auf die vielen doktoralen Einzelheiten einlasse, dass ich in beiden Lungenspitzen Tuberkulose habe. Dass eine Krankheit ausbricht, hat mich nicht erstaunt, dass Blut kam auch nicht, ich locke ja durch Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen die große Krankheit schon seit Jahren an und das misshandelte Blut sprang eben hinaus, aber daß es gerade Tuberkulose ist, überrascht mich natürlich, jetzt im 34. Jahre kommt sie,

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verstand ihn als Realisierung der väterlichen Drohung „Ich zerreiße Dich wie einen Fisch[.]“43 Schon anlässlich der Niederschrift des Urteils von 1912, das mit dem Suizid des Protagonisten endet, spricht Kafka von einem „Blutkreis, der sich um Vater und Sohn zieht“. Auch im Text Beim Bau der chinesischen Mauer bildet das Blut „süss rollend und doch wieder-/kehrend“ einen Kreis. Genau von diesem „Blutkreis“ spricht auch Buber in seiner ersten Rede über das Judentum, in der das „Blut“ eine Matrix der Innerlichkeit bedeutet, die den Einzelnen mit der Gemeinschaft transgenerationell zusammenschmiedet, wie ich im Abschnitt zu Buber gezeigt habe. Es ist konsequent, dass derjenige, der sich diesem „Blutkreis“ entzieht, der „Mauer Kette“ zerreißt, auch sich selbst zerreißt, denn er ist selbst mit seinem „Blut“ diesem Kreis eingefügt. Kafkas Rede von der Verwirrung und vom Zerreißen weist ex negativo auf eine zionistische Rhetorik der Sammlung und der Gemeinschaft hin, die Buber bemüht. Freiheit ist für den jungen Buber, den „Kriegsbuber“, wie er in der Literatur öfters genannt wird, nie die Freiheit des Einzelnen, sondern immer die des Kollektivs, der Gemeinschaft. In der schon im letzten Kapitel zitierten Losung zum Juden schreibt er: [...] wir meinen nicht den Einzelnen, sondern den Juden als Träger des Volkstums und seiner Aufgabe. Wir fordern nicht Gewissensfreiheit für die Angehörigen eines Glaubens, sondern Lebens- und Arbeitsfreiheit für eine niedergehaltene Volksgemeinschaft [...]. Diese Freiheit zu erkämpfen, ist die eine Losung unseres Kriegs; die andere aber, die hemmenden Kräfte der Eigensucht und Zersetzung zu bezwingen, die im Judentum selbst der Aufgabe entgegenstehen. (MBW 3, 289)

Kafkas „menschliche[s] Wesen“ ist das, was sich der von Buber propagierten „Freiheit“ des Volks widersetzt. Es ist das, was den Zionisten „Eigensucht und Zersetzung“ anzeigt, aber Kafkas Schreiben von innen heraus antreibt. Gerade weil Kafka versucht, wie Gerhard Neumann ausführt, „von Anfang an, sich aus der Welt seines Körpers und des diesen durchströmenden Blutes – also aus der Welt der Animalität, aus der Familie, aus der Welt der Sexualität und aus der Welt der Zugehörigkeit zu einem Volkskörper – förmlich herauszuschreiben in eine ‚andere‘ Welt, die von der Schrift bestimmt ist und durch sie definiert wird“44 ist das Schreiben vom Blut der Gewaltsamkeit begleitet. Die ohne weit und breit in meiner Familie die geringste Vorgängerin zu haben, über Nacht.“ Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. von Erich Heller und Jürgen Born, Frankfurt a. M. 2003 (10. Auflage), S. 753. 43 Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hg. von Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1993, S. 401. [Im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert als KKAN1 und Seitenzahl in Klammern.] 44 Gerhard Neumann: „‚Der Blutkreislauf der Familie‘. Genealogie und Geschichte bei Franz Kafka“, in: Lauper: Transfusionen, S. 179–198, hier S. 180. Neumann kommt u. a. das Verdienst zu, auf das „Argument des Blutes“ bei Kafka aufmerksam gemacht zu haben und einen in vielerlei Hinsicht inspirierenden Aufsatz dazu verfasst zu haben. Im Folgenden

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‚andere‘ Welt ist nicht nur eine Welt jenseits des Lustprinzips, sie ist auch die Welt des Todestriebs. Kafkas „Schreibakt“ ist ja nicht nur ein Befreiungsversuch, sondern ebenso ein „Verzweiflungsakt“45. Auf die immer ambivalenten Bilder des Schreibens und der Schrift komme ich im nächsten Abschnitt zu sprechen. Hier genügt der Verweis darauf, dass gerade das Solitäre, als das sich Kafkas Schreiben gegenüber dem Zionismus versteht, mit dem vereinzelnden Blut von Schuldhaftigkeit, Gewaltsamkeit, Selbstmord und (selbst verschuldeter) Krankheit markiert ist. Denn der Zionismus ist wie die Familie ein „Blutkreislauf des menschlichen Lebens“46 und wer sich ihm entzieht, macht sich schuldig, aus eigenem Verschulden perpetuiert er den pathologischen Zustands des Judentums. Dass gerade eine schuldhafte Existenz ohne „Blutsverwandten“ vom Todestrieb beherrscht wird, zeigt ein merkwürdiges Wesen zwischen Katze und Lamm, für welches vielleicht „das Messer des Fleischers eine Erlösung“47 wäre.

sollen Neumanns Thesen kritisch hinterfragt werden, ohne dass das im Text immer explizit ausgeführt wird. Gemäß Neumann bezeichne das „Blut“ an neuralgischen Punkten von Kafkas Werk immer die „Transgression als Ort kultureller Bedeutungsstiftung“. Wenn Kafka aber, wie Neumann ausführt, die „Literatur“ als System an Stelle des „Blutes“ und der Rituale des Blutes setzt, so kann daran nicht nur eine ethnologisch universale Perspektive abgelesen werden. Vielmehr müssen erstens die Bilder des Schreibens selbst vor den historischen Kontexten genau untersucht werden, um zu bestimmen, wie denn dieses Schreiben auf „Blut“ verzichtet – das versuche ich im nächsten Abschnitt zu tun. Zweitens betrifft die „Transgression“ nicht von Kafka abstrakt beobachtete soziologische oder anthropologische Prozesse, sondern sie betrifft konkret seinen eigenen Status als deutschsprachiger Jude in Prag und seine Auseinandersetzung mit dem Zionismus als relevante jüdische Gemeinschaftsutopie und „Bedeutungsstiftung“ im Sinne Neumanns. „Blut“ bezeichnet damit immer einen neuralgischen (und historisch präzis verortbaren) Punkt von Kafkas Schreiben im Verhältnis zu diesem historischen Status. Es ist noch lange keine illegitime ,Heimholung‘ Kafkas, wenn das Beharren auf der Historizität seiner Texte einer Lektüre entgegengestellt wird, die sie universalisiert und damit letztlich entleert. 45 Ebd. 46 Ebenfalls im Konvolut „Jeder Mensch ist eigentümlich“ findet sich eine Aufstellung Kafkas, die verschiedene Begriffe und Sätze einander gegenüber setzt. So stehen u.a. „reinbleiben“ vs. „verheiratetsein“ und „ich halte alle meine Kräfte zusammen“ vs. „Du bleibst außerhalb des Zusammenhangs wirst ein Narr, fliegst in alle Windrichtungen kommst aber nicht weiter ich ziehe aus dem Blutkreislauf des menschlichen Lebens alle Kraft die mir zugänglich ist“ (KKAN2, 24). 47 HKKA, Oxforder Oktavheft 4, 2008, S. 31. [Im Folgenden zitiert als 8°Ox4 und Seitenzahlen in Klammern im Text].

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1.3  „Ein(e) Erbstück Kreuzung“

Die von Kafka mit „Ein(e) Erbstück Kreuzung“ überschriebene Aufzeichnung im Vierten Oxforder Oktavheft (8˚Ox4, 16-31), wurde ebenfalls erst postum publiziert und gilt heute als eine der bekannteren „Erzählungen“ Kafkas. Ich möchte in diesem Abschnitt zeigen, wie sich dieser Text gerade nicht als Erzählung eines zu vermittelnden Inhalts, sondern als Allegorie der spezifischen Literarizität von Kafkas Schreiben deuten lässt, wenn diese Literarizität als Sichtbarmachung von Ambivalenz verstanden wird. Ich möchte anhand des Textes erweisen, wie Ambivalenz drittens (nach der Ebene des Schreibaktes und der Ebene des Motivs) auch auf der Ebene der Deutung Kafkas Verhältnis zum Zionismus theoretisch begreift. Die hier vorgenommene, oder besser die hier versuchte, Deutung soll also bloß das Paradigma der (Un-)Deutbarkeit eines Textes Kafkas vorführen und keinesfalls dessen geheimer ‚Sinn‘ aufschließen. So stellt der Text, wie ich zeigen will, eine in sich selbst ambivalente Allegorie des ambivalenten Verhältnisses zum Zionismus dar, dessen Poetik immer auf Deutbarkeit und Verwertbarkeit beharrt. Ein Ich-Erzähler beschreibt in diesem Text ein höchst befremdliches Wesen, „ein eigentümliches T[ur]ier, halb Kätzchen, halb Lamm“ (8°Ox4, 16), das er von seinem Vater geerbt habe. Im Verlauf der Schilderung werden die stereotypen Eigenschaften der Tiere (die man ihnen etwa in Fabeln oder Märchen zusprechen würde) abgerufen, jedoch dadurch parodiert, dass das Hybridwesen die jeweiligen, disparaten Eigenschaften in sich vereint. „[...] früher wa[s]r es viel/mehr Lamm als Kätzchen, jetzt aber hat es von beiden wohl gleichviel. Von der Katze Kopf und Krallen, vom Lamm Grösse und Gestalt, von beiden die Augen die flackernd und mild sind, das Fellhaar, da[ss]s weich [un] ist und knapp anliegt, die Bewegungen, die hüpfend sowohl Hüpfen als Schleichen sind, auf dem Fensterbrett i[n]m derSonnenschein rund macht es sich rund und schnurrt, auf der Wiese läuft es wie toll und ist kaum einzufangen, // vor Katzen flieht es, Lämmer will es anfallen, in der Mondnacht ist die [¿]Dachtraufe

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sein liebster Weg, Miauen kann es nicht und vor Ratten hat es Abscheu, aber neben dem Hühnerstall kann es stunden lang auf der Lauer liegen, doch hat es noch niemals eine Mordgelegenheit ausgenutzt, ich nähre es mit süsser Milch, [i]die bekommt [a]ihm am besten, in langen Zügen saugt es sie über seine Raubtierzähne hinweg in sich ein. [...] (8°Ox4, 18-19)

Das „es“ dieser Rede ist also weder Katze noch Lamm, sondern präzise die „Kreuzung“ von beiden, wobei die Unentschiedenheit seiner Existenz paradox ist. Ein „Lamm“ ist keine Tierart, sondern bezeichnet ein junges Schaf. Ein „Lamm“ ist mit Unschuld – dem ‚Unschuldslamm‘ oder dem ‚Opferlamm‘ – sowie mit Hilflosigkeit konnotiert. Die Katze dagegen hat „Raubtierzähne“ und lauert den Hühnern auf, wenn sie auch noch keine „Mordgelegenheit“ ausgenutzt hat. Die ambivalente Existenz von Raubtier und Beutetier in einem ist unauflösbar, wenn auch noch nicht ganz unmöglich. Bewegungen jedoch, die „sowohl / Hüpfen als Schleichen“ sind, sind nach den Gesetzen der Motorik vollkommen ausgeschlossen. Hüpfen bedeutet nach Adelungs Grammatisch-Kritischem Wörterbuch die Bewegung, „da ein Geschöpf sich schnell ein wenig in die Höhe hebet; da es denn einen geringern Grad der Erhebung ausdrucket als Springen.“48 Gemäß Grimmschem Wörterbuch stellt Hüpfen die „eigenthümliche bewegung leichtfüsziger oder freudig bewegter menschen und gewisser thierarten“49 dar, ist also eine Bewegung der Leichtigkeit, die sich der Gravitation in senkrechter Weise zu entziehen sucht. Schleichend dagegen bewegen sich „fuszlose thiere“, es bedeutet „gleiten, sich leise und dicht über eine Fläche hinbewegen“50 oder nach Adelung „leise und langsam gehen, besonders so fern man dadurch seinen Gang zu verheimlichen sucht [...].“51 Das Schleichen ist moralisch negativ konnotiert, mit der diabolischen Schlange oder mit bedrohlichen und unehrlichen Absichten. Hüpfen aber steht für Kindlichkeit und Unschuld. Führt die Bewegung des Schleichens von unten nach oben und wieder nach unten, zieht das Schleichen eine waagrechte Linie. Würde man beide Bewegungen in einem Koordinatensystem als Kurven eintragen, ergäbe sich ein Kreuz, also genau die „Kreuzung“, mit der der Text überschrieben ist. 48 49 50 51

Lemma „Hüpfen“, in: Adelung: Band 2, Sp. 1329. Grimm: Band 10, S. 1954. Grimm: Band 15, Sp. 562. Lemma „schleichen“, in: Adelung: Band 3, Sp. 1514.

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Das „sowohl“ dieser Kreuzung bezeichnet eine semantische Unmöglichkeit. Die Unwirklichkeit dieses Tieres ist nicht kongruent mit der Unwirklichkeit eines Fabelwesens, etwa einem Einhorn oder einem Drachen, die zwar nicht einer erlebten zoologischen Realität entsprechen, aber in der Vorstellung oder der erzählten Welt eine durchaus sinnvolle Existenz führen. Die Eigentümlichkeit des Tiers ist, dass es auf nichts außerhalb des Textes – auch nicht auf eine bloße Vorstellung – referieren kann. Es ist ein signifiant ohne dass es dazu einen signifié geben könnte. Dieses „es“ ist ein Solitär. Werden ihm andere Tiere vorgeführt, seien es Lämmer oder Katzen, kommt es „zu / keinen Erkennungsscenen“ (8°Ox4, 20). Im Text werden keine Angaben zu seiner Herkunft gemacht, es wurde nicht biologisch geboren, es ist ein Findling und „hält zur Familie, die es aufgezogen hat“, hat also keine biologische Familie, sondern ist einfach da: [...] Es hält zur Familie die es aufgezogen hat. Ich Es ist das wohl die nicht irgendeine aussergewöhnliche Treue, sondern wohl der richtige Instinkt eines Schutzsu Tieres, das zwar auf der Erde zwar unzählige Verwandte, Verschwägerte, aber nahen vielleicht keinen einzigen Ver wan Blutsverwandten hat, // dem und deshalb de[n]r Schutz den es bei mir uns gefunden hat, ist heilig h[a]älten muss. [...] (8°Ox4, 23-24)

Das Tier hat groteskerweise „unzählige Verschwägerte“, was heißen müsste, dass es sich verheiratet oder sich mit anderen Tieren gepaart hat, von denen im Text aber nicht die Rede ist. Es ist aufschlussreich, dass Kafka zwei Mal das Wort „Verwandte“ benutzen wollte, es wieder streicht und dann das Wort „Blutsverwandten“ einsetzt. Offenbar ging es hier darum, dem Konzept der Verwandtschaft, das sich im „Blut“ bezeugen muss um wirksam zu sein, ein anderes Konzept entgegenzuhalten, dass mit der unbestimmten Rede von der Verschwägerung abstrakter, jedoch nicht weniger biologisch bestimmt ist. Die Zugehörigkeit des Tieres entstammt denn auch nicht etwa der kulturell und moralisch bestimmten „Treue“, sondern dem „Instinkt“, wobei diese damit ebenso biologisch begründete Zugehörigkeit dann – wie der Ich-Erzähler vermutet – doch wieder „heilig ist.“ Es lässt sich nicht klar bestimmen, worin die Zugehörigkeit des Tiers zum Ich-Erzähler besteht, sie bewegt sich in einem Raum zwischen Natur/Biologie und Kultur/Religion, wie es der Titel bereits

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besagt: Das Konzept des Erbens und des Erbstücks ist einerseits biologisch bestimmt durch die „Blutlinie“ der Verwandtschaft, andererseits ist jede Erbschaft kulturell geregelt in traditionellen Praktiken und juristischen Regelwerken, im religiösen und moralischen Sinn ‚heiligen‘ Vorschriften, die das Biologische überschreiben und verfassen.52 Ebenso sind Kreuzungen nicht allein biologisch bestimmt, sie sind das Produkt historischer Erfahrung. Züchtungen wie Obstsorten und Hunderassen sind genau so sehr kulturell wie natürlich bestimmt, und man kann kaum sagen, wo die Grenzen verlaufen oder wo die Ursprünge liegen. Das Kafka’sche „Erbstück“ stellt eine Art Verkörperung dieser Unbestimmbarkeit dar. Denn von wo ‚stammt‘ es? Was ist der Grund seiner Existenz? Diese Fragen gehören zu den „sonder / barsten Fragen“, „die / kein Mensch beantworten kann.“ (8°Ox4, 19-20). In einem gestrichenen Passus erfährt man, dass sie dem Ich-Erzähler von neugierigen Kindern gestellt werden: „Warum es nur ein solches / Tier gibt, warum gerade ich / es habe, ob es vor ihm schon ein solches Tier gegeben / hat und wie es nach seinem / Tode sein wird, ob es sich / einsam fühlt, ob es warum / es keine Junge hat, wie es / heisst,“ (ebd.). „Es sind Fragen nach der Gattung, nach der Zugehörigkeit, nach dem Geschlecht, nach der Herkunft, nach der Identität, nach dem Namen. Es sind also Fragen der Genealogie, [...].“53 Das Besondere an dem unheimlichen „Erbstück“ scheint zu sein, dass es sich jeder Genealogie entzieht, dass es gar keine Genealogie hat, aber als „Kreuzung“, die sich der Unterscheidung von biologischer und kultureller Sphäre entzieht, die Möglichkeit der Genealogie, das heißt der Verschränkung von Biologie und Kultur,54 selbst bezeichnet. Dabei geht es weniger um eine „politische Zoologie“, sondern um den Status des Textes, um das Schreiben selbst. „Jedes Graphem“, so hält Derrida einmal fest, „ist seinem Wesen nach testamentarisch.“55 Jedes Graphem, so hätte er auch sagen können, ist eine Kreuzung. Der Schrift/dem Schreiben geht es immer schon um materielle und symbolische Hinterlassenschaft. Und dieses Tier, von dem bei Kafka die Rede ist, ist zu allererst Schrift/Schreiben, das sich in der und durch die Unmöglichkeit seiner Referenz seiner Materialität besinnt. Die Materialität der Schrift widersetzt sich im Schreiben der Materialität des „Bluts“. Etwas übereilig könnte man so den berühmten Brief an Max Brod vom Juni 1921 auf diesen Text von 1917 beziehen. Dort schreibt Kafka über die jungen 52 Vgl. Sigrid Weigel: „Vom Phantasma des Nachlebens im Erbe“, in: dies.: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006, S. 59–70. 53 Marianne Schuller: „Lauter Kreuzungen. Zur Poetik des Unreinen bei Kafka“, in: Anne von der Heiden / Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Zürich / Berlin 2007, S. 15–22, hier S. 18. 54 Vgl. Weigel: Genea-Logik, S. 9–18. 55 Derrida: Grammatologie, S. 120.

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jüdischen Autoren seiner Generation, die „zwischen drei Unmöglichkeiten“ lebten: „der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben [...].“56 Vielleicht existiert diese „Kreuzung“ ohne existieren zu können, genau so, wie die deutschsprachigen Juden gemäß Kafka schreiben, ohne schreiben zu können. Ohne die Analogie strapazieren zu wollen, scheint mir Kafkas Beharren auf der unauflösbaren Ambivalenz von Lamm und Katze die „Unmöglichkeit“ sichtbar zu machen, für die andere Autoren blind sind. Wenn etwa Buber behauptet, die jüdische „Sprache der Urzeit“ sei das Hebräische und nur diese Sprache könne die Rolle als „schöpferische Funktion des Volksgeistes“ (MBW 3, 215) spielen, aber gleichzeitig diesen „Volksgeist“ in rhetorisch perfektem, an Nietzsche und Hofmannsthal geschultem Deutsch beschwört, liegt darin eine bewusst verschwiegene Ambivalenz – die im Schreiben bewusst verschwiegene „Unmöglichkeit zu schreiben“. Nur um den Preis dieses Schweigens kann Gemeinschaft herbeigeschrieben werden, eine Gemeinschaft, die nicht nur eine kommende und neue, sondern eine an sich unmögliche Gemeinschaft ist. Kafkas Tier ist ein Solitär, das „die Unmöglichkeit zu schreiben“ darstellt, indem er die Unmöglichkeit der Dazugehörigkeit vorführt. Als ein solcher Solitär sperrt das Tier sich dem biologischen Zusammenhang, es hat „keinen einzigen nahen Blutsverwandten“ und scheint sich jeder körperlichen Zugehörigkeit, sogar seiner eigenen, zu widersetzen. Wie das „menschliche Wesen“ im Text zum Bau der chinesischen Mauer will es die Fesseln des „Blutkreises“ zerreißen, wobei es sich in seiner „Unruhe“ selbst zu zerreißen droht. [...] Es hat beiderlei

der Unruhe in sich, die von Katze und die vom Lamm, so verschiedenartig sie sind. Darum findet es in seiner

aber Haut kein Genügen. ist ihm seine Haut zu eng. [...] (8°Ox4, 27)

Es geht in diesem Text vielleicht um die Idee der (Gattungs-)Reinheit, in deren Zentrum immer schon eine konstitutive Unreinheit diese als Phantasma erweist.57 Es geht aber noch viel mehr um das Problem der Mischbarkeit und um die Idee, dass Mischungen in körperlicher und geistiger Hinsicht gefährlich sind und auseinanderzufallen drohen. Die so genannten „Mischehen“ galten 56 Franz Kafka: Briefe 1902–1924, Frankfurt a. M. 1958 [Franz Kafka: Gesammelte Werke, hg. von Max Brod], S. 337–338. 57 So sieht es Schuller: „Lauter Kreuzungen“.

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nicht nur aus religiöser, sondern gerade aus zionistischer Sicht als besonders problematisch und gefährlich. Wie Veronika Lipphardt ausführt, waren die zeitgenössischen Schriften zur „Mischehe“ „angereichert mit Metaphern der Auflösung, des Absterbens, des Zugrundegehens und des Selbstmordes des jüdischen Volkes.“58 Wer eine „Mischehe“ eingehe, verschulde sich an der Gemeinschaft und an sich selbst. So heißt es in einem Leitartikel vom März 1917 aus Ost und West, dass die häufigen Verbindungen zwischen einem jüdischen Mann und einer christlichen Frau oder umgekehrt, „eine schwere Krankheit am Körper unserer jüdischen Gemeinschaft“59 bedeuteten. Aber auch in sich ist die „Mischehe“ instabil, denn „zu leicht fehlt hier jede Übereinstimmung in den tiefsten Grundlagen des Lebens, die sich leicht ergibt, wo die Gatten demselben Bekenntnis angehören und aus dem gleichen Ursprung stammen.“60 Die „Mischehe“ macht die Gemeinschaft und den Einzelnen krank. Die Ungleichheit des nicht näher spezifizierten „Ursprungs“ führt zu einer physisch wirksamen Ungleichheit, zu einer pathologischen Disharmonie. Kafka hatte, wie man weiß, diese zeitgenössische Diskussion um „Mischehen“ verfolgt.61 So geht aus seinem Tagebuch hervor, dass er am 28. Januar 1912 „im Festsaal des jüdischen Rathauses“ einen Vortrag von Felix A. Theilhaber besuchte, dessen „volkswirtschaftliche Studie“ zum Untergang der deutschen Juden von 1911 mit ihrem alarmistischen Ton auch in Prag eine erregte Diskussion ausgelöst hatte. Theilhaber geht in seinem Buch davon aus, dass das lange Überleben des Judentums darauf zurückzuführen sei, dass dieses „das Recht auf die freie Liebesbetätigung und den Verkehr der Geschlechter dem Zweck der generativen Politik unterordnet.“62 Die Religion hat gemäß Theilhaber bloß die Institutionen und Vorschriften geliefert, die das jüdische Volk schließlich zu einer Art Weltmeister der Fortpflanzung machten. Sex (innerhalb der jüdischen Ehe) ist die höchste und heiligste Pflicht des Individuums, weil er die Gemeinschaft regeneriert und zusammenhält. Die moderne „Mischehe“ ist für Theilhaber darum unter anderen ein Faktor, der konsequent die Auflösung des Judentums herbeiführt, „weil die Kinder von Mischpaaren 58 Veronika Lipphardt: Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900–1933, Göttingen 2008, S. 154. 59 Max Eschelbacher: „Mischehen“, in: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, Heft 3/4 (März 1917), S. 73–79, hier S. 73. 60 Ebd., S. 77. 61 Vgl. Manfred Voigts: „Kafka und die jüdische Frau. Diskussionen um Erotik und Sexualität im Prager Zionismus“, in: ders.: Kafka und die jüdisch-zionistische Frau. Diskusionen um Erotik und Sexualität im Prager Zionismus, mit Materialien, Würzburg 2007, S. 7–56, v.a. S. 49–51. 62 Felix A. Theilhaber: Der Untergang der deutschen Juden. Eine volkswirtschaftliche Studie, Berlin 1921 (2. veränderte Auflage), S. 10–11.

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nicht mehr Träger der jüdischen Rasse sein können und religiös zumeist aus dem Judentum ausscheiden.“63 Wie Kafkas sorgfältige Notiz von Theilhabers Thesen zeigt, war er an dieser Diskussion durchaus interessiert.64 Ziemlich sicher las er 1912 auch die zwei Aufsätze über und von Theilhaber in der Selbstwehr,65 wenn sich auch nicht genau sagen lässt, wie weit er diese soziologischen, beziehungsweise gesellschaftspolitischen Diskurse verfolgte. Die öffentliche Debatte zu der Frage der „Mischehen“ muss im größeren Rahmen der Frage nach der Mischbarkeit von „Rassen“ gesehen werden. Schon 1905 erschien in der zionistisch ausgerichteten Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, herausgegeben von Arthur Ruppin, ein Aufsatz mit dem Titel „Über die Entmischung der Rassen“ des Wiener Rassen-Theoretikers Leo Sofer. Darin wird (entgegen der späteren Annahme Theilhabers) prinzipiell die Mischbarkeit von menschlichen „Rassen“ bestritten und behauptet, „daß im Organismus der Rassen ein Mechanismus tätig sein muss, der die fremden Elemente wieder ausscheidet.“66 Auf die vererbungstheoretischen Schriften Darwins und Mendels gestützt, meint Sofer, „daß sich in der zweiten und dritten Generation, die der Mischehe folgt, die Entmischung vollzieht. Es werden nämlich nicht Nachkommen mit einem, wenn auch nur angedeuteten, Mischcharakter produziert, sondern die Keime entmischen sich, so dass ein Teil der Nachkommenschaft wieder Reinkulturen sozusagen der Stammrasse sind, während der andere, kleinere und schwächlichere Teil Reinkulturen der fremden Art sind: die Mischung zerlegt sich wieder in ihre Komponenten.“67 Der Prozess der „Entmischung“ sei nicht mit „Rassenmystik“ zu begreifen, sondern durch Heranziehen des „biogenetischen Grundsatzes, der besagt, daß jedes Lebewesen in seiner individuellen Entwicklung durch die Zustände seiner Ahnen hindurchgehen muß.“68 Diese Überlegungen – die von einer festen biologischen Instanz der 63 Ebd., S. 126–127. 64 „Vor einer Woche Vortrag Dr. Theilhaber im Festsaal des jüdischen Rathauses über den Untergang der deutschen Juden. Er ist unaufhaltsam denn 1.) sammeln sich die Juden in den Städten, die jüdischen Landgemeinden verschwinden. Das Streben nach Gewinn verzehrt sie. Ehen werden nur mit Rücksicht auf die Versorgung der Braut geschlossen. 2 Kindersystem. / 2. Mischehen 3.) Taufen / Komische Szenen, als Prof. Ehrenfels [...] vor Vertrauen zur Versammlung lächelnd für Mischrassen sich einsetzt.“ Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Tagebücher, hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1990, S. 370. [Im Folgenden wird dieser Band zitiert als KKAT mit Seitenzahl in Klammern.] 65 Vgl. Voigts: „Kafka und die jüdische Frau“, S. 50. 66 Leo Sofer: „Über die Entmischung der Rassen“, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden [Alte Folge], Heft 10 (Oktober 1905), S. 9–12, hier S. 9. 67 Ebd., S. 9–10. 68 Ebd., S. 12.

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„Rasse“ ausgehen – sollen der nach der Jahrhundertwende virulenten jüdischen Angst vor dem Aufgehen der Juden in der nichtjüdischen Bevölkerung entgegenwirken. Die Debatte um „Mischehen“ hatte ab 1912 regelrecht Konjunktur.69 Im Juden wird im März 1917 die „Mischehe“ als die „denkbar schwerste Auflösungsgefahr für die deutsche Judenheit“70 bezeichnet und sogar Max Brod sah in ihr die „einzige ernsthafte Gefahr, die dem Judentum droht!“71 Der Zionismus hatte unterschiedliche Antworten für diese Gefahr bereit. Brod verlangt eine „neue Sicherung für den jüdischen Geist“, die er „neben gründlicher Erziehungsreform“ vor allem im Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina erblickt.72 Für den Rassetheoretiker aber ist die Auflösung des Judentums unmöglich, denn unmöglich ist auch die „Rassemischung“, die sich notwendigerweise „entmischt“. Innerhalb des Zionismus war diese „noch recht wackliche Rassetheorie“73 umstritten, wie man etwa an einem Aufsatz Jakob Klatzkins von 1916 sehen kann. Gemäß Klatzkin liegt die „vollständige Assimilierung der Juden“ durchaus im Bereich des Möglichen und Vorstellbaren. Sie ist sogar bereits in vollem Gang und „der erst vor einem Jahrhundert eingesetzte Entnationalisierungsprozeß hat bereits viele und wesentliche Glieder unseres Volkskörpers verunstaltet, entartet, und treibt nun Blüten der Verwesung.“74 Auch die Autoren, welche die Funktion der „Rasse“ bestreiten, arbeiten mit vitalistischen und biologistischen Termini und gehen von einem „Volkskörper“ aus, der aufleben oder sterben kann. Die Angst vor der Auflösung oder dem Untergang dieses Körpers, des jüdischen Volks, ist nicht ohne Ambivalenz. Denn um als Ideologie sinnvoll zu sein, benötigt der Zionismus die Annahme eines wie auch immer präsenten, unveränderbaren physischen Substrats des Jüdischen, das nicht in der religiösen Sphäre besteht. Geht man aber von dieser festen Qualität aus, dann ist nicht ganz klar, inwieweit sich diese überhaupt auflösen kann. Es ist nur zu spekulieren, wie Kafka diesem Diskurs gegenüberstand und ob er selbst wie sein Freund die „ernsthafte Gefahr“ der Vermischung oder doch eher den Trost der „Entmischung“ empfand. In seinem Text jedenfalls ist eine Bezugnahme darauf erkennbar, die aber vollkommen unbestimmt und uneindeutig ist und die dadurch auf die Ambivalenz innerhalb des zionistischen Diskurses zielt. 69 Vgl. Lipphardt: Biologie der Juden, S. 152–163. 70 Ernst Kahn: „Die Mischehe bei den deutschen Juden“, in: Der Jude 1. Jg., Heft 12 (März 1917), S. 855–856, hier S. 855. 71 Max Brod: „Der ‚Herderverrein‘“, in: ders.: Im Kampf um das Judentum, Wien / Berlin 1920, S. 69. Der „Herderverrein“ war die Jugendgruppe der Prager Bnai-Brith-Loge, die Positionen vertrat, die gemäß Brod viel näher am Prager Zionismus als am abgelehnten Liberalismus des Bnai-Brith selbst lagen. 72 Ebd. 73 Jakob Klatzkin: „Grundlagen des Nationaljudentums“, in: Der Jude, 1. Jg, Heft 9 (Dezember 1916), S. 609–618, hier S. 609. 74 Ebd., S. 610.

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Die merkwürdige Vorstellung von der „Mischung“, die sich im Individuum wieder „in ihre Komponenten“ zerlegt, ist auch in der höchst instabilen „Kreuzung“ aus Lamm und Katze wirksam, wie auch die Vorstellung der „Entartung“. Die einzelnen Eigenschaften der „Kreuzung“ sind heterogen und unvereinbar, sie sind „verschiedenartig“, fügen sich also nicht zu einer neuen Art, etwa einem ‚Katzenlamm‘. So ist allegorisch die Bemerkung zu verstehen, dass dem un-artigen oder ‚ent-arteteten‘ Wesen die „Haut zu eng“ ist. Es ist sich selbst unmöglich, so wie die „Mischehe“ aus zionistischer Perspektive sich selbst unmöglich und schuldhaft ist – und so, wie Kafka das Schreiben deutscher Juden als sich selbst unmögliches Schreiben bezeichnet. Aus zionistischer Sicht ist Kafkas Schreiben pathologisch und schuldhaft, und weil Kafka das weiß, ist sein Schreiben zum Tod verurteilt, ein Urteil, das er schreibend jedoch nicht vollstrecken kann. Es ist bedrückend, wie weit sich die Analogie von Schreiben und „Mischehe“ führen lässt, bedenkt man Lipphardts Fazit der Debatte um „Mischehen“ vor 1933: „Nähe und Ferne der Verwandtschaft galten als biologisches, geradezu pathologisches Problem der Juden. […] Zwischen Inzucht und Rassenkreuzung gab es offenbar keine normale Eheschließung. […] Biologische Nähe und biologische Distanz waren immer zu groß oder zu klein.“75 So wie die Ehe – so ist auch das Schreiben aus sich heraus unmöglich. Der Text lässt sich damit als Allegorie, allerdings als eine nie ausdeutbare Allegorie, der spezifischen, paradoxen Kafka’schen Poetizität in ihrem Verhältnis zum zionistischen Diskurs lesen. In einem längeren gestrichenen Passus malt Kafka die monströse Todessehnsucht des Tiers aus. Vielleicht aber ist diese eine Projektion des Ich-Erzählers, der nur „nahezu überzeugt“ von seinen Beobachtungen ist. Unter anderem heißt es: Ich bin nahezu überzeugt, es wüsste sich vor Neid nicht zu fassen, wenn [es] ich ihn einmal zeigen würde, wie der Fleischer die jungen Lämmer absticht. (8°Ox4, 28)

Das Lamm möchte sich wie in der Redewendung zur Schlachtbank führen lassen, es ist eine Art Opferlamm, das sich selber vielleicht zum Zweck der eigenen „Erlösung“, von der im Text die Rede ist, opfern lassen will.76 Es schaut den Erzähler „wie aus verständigen Menschen- / augen“ an, „die zu ver- / ständigem Tun auffordern.“ Doch dieser ist ein allzu guter Hirte77 und kann dem Tier gerade die „Erlösung“ durch das Schlachten nicht gewähren – wenn denn der Tod überhaupt eine „Erlösung“ wäre, denn die Rede ist bloß von „vielleicht“. Die es75 Lipphardt: Biologie der Juden, S. 162–163. 76 Vgl. Schuller: „Lauter Kreuzungen“, S. 21. 77 Vgl. Thomas Macho: „Gute Hirten, schlechte Hirten. Zu einem Leitmotiv politischer Zoologie“, in: von der Heiden / Vogl (Hg.): Politische Zoologie, S. 71–90.

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chatologische Dimension der Schlachtbank ist nur als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, ist aber alles andere als feststehend. Vielleicht wäre für das Tier das Messer des Fleischers eine Erlösung, die muss ich ihm aber als einem Erbstück versagen. (8°Ox4, 31)

Wenn Kafkas „Erbstück Kreuzung“, gebannt an die Materialität des Zeichens, die Singularität des Schreibens gegenüber den Phantasmen der Gemeinschaft vorführt, gleichzeitig aber die Unmöglichkeit dieses Schreibens – weil es sich selber im Moment seiner Entstehung auch zerreißen würde, was der Status dieses Textes als Unpubliziertes, Verworfenes bestätigt – dann spricht der Text auch von der Unmöglichkeit der Nicht-Dazugehörigkeit. Der, der nur „Mischung“ ist, „entmischt“ sich unwillkürlich, es ist ihm in seiner „Haut zu eng“ und „Erlösung“ wäre ihm nicht die Verschmelzung in der Gemeinschaft, sondern der Akt der radikalen Dekomposition: Der Tod. Im nächsten Abschnitt werde ich zeigen, wie Kafka in gewaltsamen Visionen des Schreibens als Einritzen und Stechen, verbildlicht, wie sich das Schreiben im Schreiben selbst zerreißt. Hier muss zunächst festgehalten werden, dass gerade der Erb-Charakter des Tieres diese Gewaltsamkeit an ihm selbst und die Opferung, zu der es als Erbe selbst auffordert, verhindert. Das Verhältnis von Tier und Ich-Erzähler bleibt rätselhaft. Weil das Tier ein „Erbstück“ ist, also aus Tradition, muss dieser jedenfalls das Opfern unterlassen.78 Wie Gracchus bewegt sich auch das Tier in einem jeden Raum aufhebenden Raum, der nur in der Bleiwüste des Textes bestehen kann. Um aber in der Allegorie des Verhältnisses zum Zionismus zu bleiben, kann Kafkas Schreiben wiederum gelesen werden als das, was sich jenseits der Gemeinschaft und den Zielen der Gemeinschaft bewegt, sich aber nicht in der direkten Opposition dazu befindet. Indem es den Gegensatz zwischen Dazugehörigkeit und Nicht-Dazugehörigkeit suspendiert, bezeugt es vielmehr die Inkonsistenz dieser Unterscheidung. Die Unverfügbarkeit des Schreibens ist auch jene des Tieres, das sich zwar wegen seiner Unmöglichkeit töten lassen möchte und müsste, dem man dies aber aus Gründen „versagen“ muss, die gerade zu seiner unmöglichen Situation geführt haben. In diesem Abschnitt habe ich zu zeigen versucht, dass das ambivalente Ungeheuer, von dem im Text mit dem Titel „Ein(e) Erbstück Kreuzung“ die Rede ist, eine Allegorie des Kafka’schen Schreibens in seinem ambivalenten Verhältnis zum Zionismus darstellen könnte. Doch ist das natürlich alles andere als ausgemacht. Gerade die Instabilität und Brüchigkeit, letztlich die Unmöglichkeit 78 Schuller: „Lauter Kreuzungen“, S. 21: „Die Tradition, das Erbe also ist es, welche Erlösung versagt.“

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und das Scheitern des hier präsentierten Deutungsversuchs, machen es möglich, den Begriff der Ambivalenz für Kafkas Text theoretisch als Spezifikum gegenüber zionistischer Literatur zu erweisen, die doch immer auf der Deutbarkeit und der Verwertbarkeit ihrer Rede beharrt. Es spielt denn auch keine Rolle, wie Kafka sich – hätte er sich jemals geäußert – gegenüber dem zionistischen Diskurs der „Mischehe“ positioniert hätte. Sein Text reagiert darauf, nämlich indem er diesen Diskurs als eine Art Fabel aufnimmt und die in ihm innewohnende Ambivalenz als Mischung darstellt, die sich weder synthetisieren, noch entmischen lässt. Kafka zeichnet eine selbst inkonsistente Allegorie der Inkonsistenz, ein selbst ambivalentes Bild von Ambivalenz. Dem zionistischen Aktivismus begegnet der Text damit mit abgründiger Ironie. Seiner Strategie der Festlegung mit immer uneindeutiger, schiefer und doch erkennbarer Bezugnahme. Dieses Verhältnis lässt sich auch anhand der Erzählung Schakale und Araber beschreiben, die im nächsten Abschnitt genauer untersucht werden soll. 2.  „Blut“ und Schrift79 [...] davon träume ich stets, von einer Feder, die eine Spritze, eine atmende, saugende Nadel und nicht jene allzu harte, unnachgiebige Waffe wäre, mit der es vor dem Filtern des Unschreibbaren einzuschreiben, einzukerben, zu wählen [...] gilt, während es hier, hat man die richtige Ader einmal getroffen, keinerlei Mühe, keinerlei Verantwortung und keinerlei Risiko – weder der Geschmackslosigkeit noch der Gewaltsamkeit – mehr gibt, das Blut gibt sich ganz (von) alleine hin, das Innere liefert sich aus [...].*

2.1  Ins Fleisch schreiben

In Leopold Komperts Erzählung Die Kinder des Randars, die 1848 in seinem ersten Buch Aus dem Ghetto erscheint, kommt ein herumziehender „Schnorrer“ namens Mendel Wilna vor, dessen größter Wunsch der Wiederaufbau des jüdischen Jerusalems ist. „Sonst war er schweigsam und zurückhaltend“, heißt es von 79 Dieser Teil wurde, anders gewichtet und kürzer, auf der Tagung „Schrift und Zeit in Kafkas Oktavheften“ vom 17.–19. März 2008 an der Universität Zürich vorgestellt. Umgearbeitet ist er publiziert in: Caspar Battegay / Felix Christen / Wolfram Groddeck (Hg.): Schrift und Zeit in Kafkas Oktavheften, Göttingen 2010, S. 193–212. * Jacques Derrida: „Zirkumfession“, in: Goeffrey Bennington / Jacques Derrida: Jacques Derrida. Ein Porträt, aus dem Französischen von Stefan Lorenzer, Frankfurt a. M. 1994, S. 17–18.

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Mendel, „wenn er aber von Jerusalem zu reden anfing, kannte er kein Maß.“80 Die längere Erzählung schildert das Schicksal des Sohnes und der Tochter eines jüdischen Schankwirtes in einem böhmischen Dorf, das sich zwischen jüdischer Tradition, tschechischem Nationalismus und Emanzipations- oder Assimilationsversuchen bewegt. Mendel der Schnorrer bildet in der Erzählung eine merkwürdige Doppelfigur. Einerseits verkörpert er das traditionelle, von tiefer Frömmigkeit und Schriftkenntnissen geprägte Leben, andererseits entzündet sich an dieser Figur beim jungen Moschele/Moritz die diffuse Idee vom Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens, die konträr zur religiösen, symbolisch verfassten Zionssehnsucht steht. So überlegt sich der Heranwachsende Herzl antizipierend: „Ob er nicht noch jetzt Jerusalem aufbauen würde? / Es war gar kein Zweifel, dass sich der Wunsch ausführen ließ – wenn man nur wollte.“81 Die Idee von der Rückkehr nach Jerusalem durchzieht die Erzählung als Leitmotiv, in dem sich die geheimen Sehnsüchte der jüdischen Protagonisten bündeln. Am Anfang der Erzählung spaziert Mendel mit dem kleinen Knaben Moschele am Schabat durch den Wald und erzählt ihm von seiner Absicht, nach Jerusalem zu wandern. Dabei wird deutlich, dass sein Begehren nach Jerusalem tatsächlich jedes „Maß“ sprengt: Der Schnorrer war bei den letzten Worten aufgestanden, auf sein Antlitz fiel ein dicker Strahlenstrom der untergehenden Sonne; er sah merkwürdig aus. Er wandte sich aber nach der entgegengesetzten Seite, wo schon der Abend seine dunklen Tinten herabließ. „Dort, dort hinaus,“ sagte er, „liegt Jeruschulaim!“ Moschele sah ebenfalls gegen Ost. Plötzlich machte der Bettler, der unverwandten Blickes hingesehen hatte, eine heftige Bewegung. „Ich muss dir noch etwas zeigen, Moschele,“ rief er, „etwas, was du noch nie gesehen hast, schau her.“ Er schob sich dabei die Ärmel seines Kaftans zurück, so daß der linke Arm ganz nackt erschien. „Was siehst du da, Moschele?“ fragte er. Es waren blutrünstige hebräische Buchstaben, die mit einem scharfen Instrument in das Fleisch geätzt waren. „Das heißt Jeruschulaim,“ schrie der Knabe, „darf man das tun?“ „Und ich hab’s getan,“ sagte der Bettler mit starker Stimme; „wenn ich die ‚Tefillim‘ umleg’, hab ich das immer vor mir.“82

Mendel genügt es nicht mehr, „gegen Ost“ bloß zu blicken, in einen sakralisierten Abend, der nicht nur den Ausgang des Schabbats bedeutet, sondern die Vergeblichkeit der messianischen Hoffnung auf die Rückkehr. Nicht umsonst liegt Jerusalem im Dunkeln. Der Bettler fragt nicht danach, ob seine Einschreibung erlaubt ist, die nackte Möglichkeit, es zu tun, legitimiert sie. Er säkularisiert damit das alte Ideal von der Rückkehr in seinem eigenen Körper; „blutrünstige 80 Leopold Kompert: Sämtliche Werke in zehn Bänden, Erster Band: Einleitung – Aus dem Ghetto, Leipzig 1906, S. 84. 81 Ebd., S. 137. 82 Ebd., S. 88.

„Blut“ und Schrift

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hebräische Buchstaben“ sollen den Namen {yl#Wry von einem bloßen Zeichen in einen physisch realen topos transformieren.83 Im Gegensatz zu einer Schrift aus „dunklen Tinten“, die hier eine sicher nicht zufällig gewählte Metapher für die beginnende Nacht ist, bezeugt die in das Fleisch geätzte Schrift unmittelbar die Wahrheit des Geschriebenen. Sie soll das Begehren nach einer Heimat im Diesseits wortwörtlich verkörpern. „Jeruschulaim“ ist kein Name für eine Abwesenheit mehr, keine bloße Utopie, sondern das in Blut und Fleisch bewährte Zeugnis eines wirklich präsenten Ortes. Mit ihrer Drastik sprengt diese Szene den sentimentalen Rahmen der „Ghetto-Erzählung“. Die Selbst-Einschreibung Mendels könnte man auch als Selbstverletzung lesen, und die blutige Schrift ist auch eine Wunde. In dieser Zweideutigkeit weist die Erzählung auf die ästhetische und politische Moderne hin, deren soziale, ökonomische und religiöse Umwälzungen auch die „Kinder des Randars“ in ihrem Lebenslauf einholen – und die im europäischen Schicksalsjahr 1848 bereits in vollem Gange waren. Die „blutrünstige hebräische“ Schrift weist auf eine Ikone der Moderne voraus, die in dieser Arbeit schon öfters am Rand aufgetaucht ist: Friedrich Nietzsche. In seinem Also sprach Zarathustra, ein Buch, das Kafka besaß, wenn man auch nicht genau weiß, ob er es gelesen hatte,84 heißt es ganz am Anfang unter dem Titel „Vom Lesen und Schreiben.“: Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist.85

Der Sinn der Aussage bleibt – auch wenn der folgende Text beigezogen wird86 – dunkel. Auf jeden Fall ruft sie anhand der eucharistischen Gleichung von „Blut“ und „Geist“ eine wirkungsmächtige Vorstellung der Moderne auf, dass das Schreiben an das „Blut“ und an das Opfer des „Bluts“ gebunden sei, um die Erfahrung von Wahrhaftigkeit zu vermitteln. Doch auch der jüdische Pilger Mendel sieht in der Blutschrift sein spirituelles Idol bewährt und verwirklicht. Das Blut des Dichters ist ein ganz besonderer Saft, wie beispielsweise auf der Documenta 12 in Kassel 2007 eine Installation von Eleanor Antin mit dem Titel Blood of the Poet anzeigte. Von 1965-1968 sammelte die amerikanische Künstlerin Blutproben von Schriftstellern wie Allen Ginsberg oder Lawrence Ferlinghetti 83 Vgl. Stefanie Leuenberger: Schrift-Raum Jerusalem. Identitätsdiskurse im Werk deutsch-jüdischer Autoren, Köln / Weimar / Wien 2007, S. 53–59. 84 Vgl. Jürgen Born: Kafkas Bibliothek. Ein beschreibendes Verzeichnis. Mit einem Index aller in Kafkas Schriften erwähnten Bücher, Zeitschriften und Zeitschriftenbeiträge, Frankfurt a.  M. 1990, S. 119. 85 KGA, Sechste Abteilung, erster Band: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und Keinen (1883–1885), Berlin 1968, S. 44. 86 „Es ist nicht leicht möglich, fremdes Blut zu verstehen: ich hasse die Müssiggänger. / Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr für den Leser. Noch ein Jahrhundert Leser – und der Geist selber wird stinken.“ Ebd.

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und stellte sie auf Objektträger für Mikroskope mit den zugehörigen Namen der Blutspender aus. Damit spielte sie direkt auf Jean Cocteaus 1930 entstanden Film Le Sang d’un poète an, in dem zu Beginn ebenfalls mit der Gleichsetzung von Haut und Papier gearbeitet wird, ironisierte jedoch gleichzeitig romantische und postromantische Konzepte von Kreativität. In der Installation ist Blut nichts anderes als ein Fleck verkrustetes, dunkelrotes Plasma unter einer Glasscheibe. Damit ist jene Vision parodiert, die auch Antonin Artaud in seinem Theater der Grausamkeit entfaltet, eine Vision „einer Schrift aus Blut und Leben, die sich der Schrift des Buches entgegensetzt.“ 87 Antin stellt die „Schrift aus Blut und Leben“ aus, was der Betrachter dort sieht, hat jedoch keinen Anteil an der vermeintlichen Authentizität. Die Ausstellung verweist ihn zurück auf das Buch, nämlich den Ausstellungskatalog, in dem man eine Erklärung für das Gezeigte sucht. Die Vorstellung, die die literarische Moderne begleitet, dass das Schreiben, um wahrhaftig zu sein, an das Opfer des Lebens gebunden wäre, ist damit auf subversive Weise aufgerufen. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Faszination einer Schrift aus Blut und Leben bei Kafka aufgenommen wird und schließlich in den Oktavheften kritisch einem anderen Bild von Schreiben weicht, einem intimen und fragilen Schreiben,88 das nicht mehr dem Opfer verpflichtet ist.

Auch wenn Kafkas Nietzsche-Kenntnisse mindestens unsicher sind, ist es doch ziemlich sicher, dass er die zitierte Nietzsche-Stelle kannte. Sie bildet nämlich das Motto zu einem Buch, das er 1916 vom Autor selber geschenkt bekommen hatte, Ein jüdisch-polnisch-russisches Jubiläum (Der grosse Pogrom von Siedlce im Jahre 1906) von Abraham Grünberg, einem aus Galizien kommenden Schriftsteller, der sich während des Ersten Weltkriegs in Prag aufhielt. Das Motto steht auf der dritten Deckblatt-Innenseite, gegenüber hat Grünberg eine handschriftliche Widmung für den „geehrten Herrn Dr. u. Schriftsteller / Franz Kafka“ angebracht.89 Das Motto musste Kafka also auffallen. Abraham Grünberg ist heute ein Name, der – falls überhaupt – gerade noch eine Fußnote der 87 Gilles Deleuze: „Schluss mit dem Gericht.“, in: ders.: Kritik und Klinik, aus dem Französischen von Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 2000, S. 171–181, hier S. 174. Nach Artaud handelt es sich „nicht etwa um lasterhafte Grausamkeit, um Grausamkeit, die perverse Begierden weckt und ihren Ausdruck in blutigen Gebärden findet wie krankhafte Auswüchse am Fleisch, das bereits angesteckt ist; sondern im Gegenteil [...] um eine echte Geistesregung, welche die Gebärde des Lebens selber nachvollziehen sollte [...].“ Antonin Artaud: „Briefe über die Sprache“, in: ders.: Das Theater und sein Double, aus dem Französischen übersetzt von Gerd Henniger, ergänzt und mit einem Nachwort versehen von Bernd Mattheus, München 1996, S. 113–130, hier S. 122–123. 88 Vgl. Reuß: „Die ersten beiden Oxforder Oktavhefte Franz Kafkas“, S. 5. 89 Vgl. Born: Kafkas Bibliothek, S. 137–139: „Dem geehrten Herrn Dr. u. Schriftsteller / Franz Kafka / Nicht Nationaljude sein, heißt nur / zwei Generationen zurückdenken wollen. Abraham Grünberg / Prag, im Monate Marcheschwan 5677 – 29/XI – 16.“

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Kafka-Forschung darstellt. Doch es ist diese Randfigur, über die ein ganz anderes, unheimliches Licht auf die zitierte Nietzsche-Stelle fällt. Vor einem Buch über einen Pogrom kommt dem „Blut“ eine Bedeutung zu, die den ursprünglichen Kontext „Lesen und Schreiben“ sprengt. Zum Nietzsche-Zitat bei Grünberg kann man zwei grundlegende Beobachtungen anstellen. Erstens wird durch den Kontext Nietzsches ästhetische Theorie des Schreibens (in der das „Blut“ metaphorisch verwendet wird) re-sakralisiert. Das ästhetische „Blut“ wird damit zum realen Blut der Ermordeten, an das erinnert werden soll, ihr Tod wird in einen eschatologischen Sinnzusammenhang gestellt. In dieser Vorstellung spielt das theologische Konzept des kiddusch ha-schem, der Heiligung Gottes durch das Märtyrertum, eine wichtige Rolle. In der jüdischen Tradition ist jeder ein Märtyrer, der wegen seines Judentums ermordet wird, und der Zionismus überträgt diesen Gedanken in einen säkularisierten, nationalistischen Zusammenhang. Zweitens wird die emphatische und positiv besetzte Verwendung des „Bluts“ bei Nietzsche durch eine negative, melancholische Konnotation ergänzt, „Blut“ verweist nun auf Gewaltsamkeit und Grausamkeit. Durch den Kontext des Zitats wird deutlich, dass das mit dem „Blut“ immer verbundene Opfer nicht nur das sacrificium, sondern eben auch das Englische victim bezeichnet. Auch das Wort „Blut“ erhält damit seine volle Ambivalenz zurück, die es in der hebräischen Bibel immer besitzt. Ich möchte zuerst anhand von drei Beispielen aus der Phase zwischen 1911 und 1914 zeigen, wie bei Kafka das Phantasma von der Schrift des Bluts auftaucht, bevor ich mich wieder den Oktavheften zuwende, in welchen diese Ambivalenz voll entfaltet wird. 2.2  „Blut“ und Sinn

Vor aller Ambivalenz soll „Blut“ Wahrheit be-zeugen und er-zeugen. Das lässt sich nicht nur von Mendel Wilna aus Komperts Erzählung lernen, sondern auch aus Kafkas berühmter Geschichte Das Urteil. Um den Vater Bendemann an den fernen Freund zu erinnern, erzählt Georg eine von dessen Anekdoten nach: Er erzählte damals unglaubliche Geschichten von der russischen Revolution. Wie er z.B. auf einer Geschäftsreise in Kiew bei einem Tumult einen Geistlichen auf einem Balkon gesehen hatte, der sich ein breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese Hand erhob und die Menge anrief.90

Die „unglaubliche Geschichte“, die Georg dem Vater erzählt um ihm den Freund glaubhaft zu machen, handelt selbst von der Auseinandersetzung mit dem Unglauben der „Menge“ in den Zeiten der bolschewistischen Revolution. Der Prie90 Das Urteil. Eine Geschichte, in: HKKA, Einleitungsband, S. 95–110, hier S. 104.

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ster vollzieht, indem er sein Blut opfert, eine Art imitatio Christi. Das in seinen Körper geschriebene Zeichen soll genau wie die hebräischen Buchstaben der heiligen Stadt bei Kompert die Zeichenhaftigkeit verlieren und die Anrufung über die Rhetorik weit hinausgehend unterstützen. Die Botschaft soll durch den Körper als „Blutkreuz“ glaubhaft werden. Der Priester aus der Geschichte des Freundes vollzieht gewissermaßen an sich das Urteil, welches Georg später an sich vollstreckt. Auf dem Weg zu seinem Selbstmord kommt Georg eine Dienerin entgegen, die „Jesus!“ ruft,91 was als Ausdruck des Schreckens oder aber als Anrede an den verurteilten Sohn zu verstehen ist. Die russische Szene verweist auf das Schreiben selbst: „diese Hand“ die der Geistliche sich beschneidet, ist auch das Organ des Schreibens und damit das des Autors Kafka, zu dem er in der Niederschrift des Urteils in eigener Perspektive bekanntlich erst wird. Der Schreibvorgang, von dem er am 23. September 1912 in seinen Notizen berichtet, scheint Georgs Opfer, sein Suizid im Wasser, aber gerade zu verneinen: „Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte wie ich in einem Gewässer vorwärtskam.“ (KKAT 460). Der Autor kann schwimmen – obwohl es eine „fürchterliche Anstrengung“ kostet. Um zu schreiben muss er sich aber in eine Position der Verwundbarkeit begeben, sich, wie Kafka einmal an Felice Bauer schreibt, dem „Wellengang des Schreibens“92 überlassen. „Nur so“, hält er in einer bekannten Stelle fest, „kann geschrieben werden. [...] mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“ (KKAT 461). Um Sinn zu erzeugen, muss das Verschlossene aufgetan werden. Es braucht eine Öffnung, durch die das Innere nach Außen quillt und sichtbar wird. Das ambivalente Symbol dafür, das Schrecken und Ekel, aber eben auch Lust hervorbringt, ist das „Blut“. Dies erfährt der anonyme Reisende in Kafkas Strafkolonie, die 1914 entstanden ist, und die das grausame Scheitern der Sinnproduktion durch die Schrift des Blutes zeigt. Hat ein Soldat der Kolonie ein Gesetz übertreten, wird es ihm mit zu einer „Egge“ angeordneten Nadeln „auf den Leib geschrieben.“93 Als Vorlage für die dafür notwendige Apparatur werden Gesetzestafeln hergestellt, die jedoch nicht entziffert werden können. Denn es handelt sich, wie der zynische Offizier meint, nicht um „Schönschrift für Schulkinder. Man muss lange darin lesen.“ (KKAD 217). Erst unter der Folter erschließt sich dem unglücklich Verurteilten die Schrift und damit der Sinn des übertretenen Gesetzes. Doch 91 Ebd., S. 110. 92 Kafka: Briefe an Felice, S. 67. 93 Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, Frankfurt a. M. 1996, S. 207. [Im Folgenden wird dieser Band zitiert als KKAD mit Seitenzahl in Klammern.]

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nicht „sofort“: Die Schrift „soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden; für die sechste Stunde ist der Wendepunkt berechnet.“(KKAD 218). Das maschinelle Prozedere wechselt ständig zwischen blutigem Einschreiben und Stillen der Blutungen durch die bereitgehaltene Watte, während der Verurteilte durch einen in den Mund geschobenen Filzstumpf am Schreien gehindert wird. Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja weiter nichts, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung. (KKAD 219)

In Notizen anlässlich der Korrektur des Urteils hatte Kafka am 11. Februar 1913 geschrieben, dass Georgs Verlobte „vom Vater leicht vertrieben“ wird, da sie in den „Blutkreis, der sich um Vater und Sohn zieht“, nicht eintreten kann. (KKAT 492). Um einen hermetischen „Blutkreis“, nicht den der Verwandtschaft, sondern den einer gnadenlosen Vereinzelung, handelt es sich auch im Prozedere des Schreibens in der Strafkolonie. Der Verurteilte ist zu einem autistischen Verstehen gezwungen, das ihm nicht hilft, sondern ihn erst an der Grenze zum Sterben ereilt. Der Verurteilte der Strafkolonie muss zwar zwölf Stunden lang in furchtbarer Agonie „dem Tod ins Angesicht“ schauen – im Gegensatz zu Hegels Geist mangelt es ihm aber an dessen „Zauberkraft“, die den Tod dialektisch in das Sein umkehren könnte. Der Sinn, der sich hier aus der Schrift gewinnen lässt, lässt sich nicht in ein hermeneutisches System integrieren, sondern ist absolut undialektisch und hermetisch. Das Gericht endet mit dem Tod, mit dem Verscharren der namenlosen Leiche. Die Wahrheit des Gesetzes wird in der Strafkolonie nicht idealistisch durch die Begeisterung des Geistes, sondern durch das Blut des nackten Körpers bezeugt. Der „Blutkreis“ stiftet aber auf der anderen Seite auch hier Gemeinschaft: Für die Bewohner der Strafkolonie, die Zuschauer, ist er – oder war er in den Erzählungen des Offiziers – eine ekstatische „Einheitserfahrung“94 angesichts des Todes. Dem Reisenden aber wird der Anblick der zwölfstündigen Schreibfolter vorenthalten. Er wehrt sich gegen die Komplizenschaft mit dem Offizier. Damit scheint er sich mit der gegenwärtigen öffentlichen Meinung der Strafkolonie einig, in die sich Idealismus geschlichen hat. Die „Gemeinschaft, die sich im Tod, im Opfer wiedererkennt und erneuert, zeigt sich in doppelter Hinsicht unwiederbringlich, verloren in der Vergangenheit und verloren im einsamen 94 Joseph Vogl: „Grenze der Gemeinschaft“, in: ders.: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990, S. 196–229, hier S. 197.

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Phantasma des Offiziers.“95 „Dann ist es also Zeit“, antwortet der Offizier dem Reisenden auf dessen Weigerung, den Apparat beim Kommandanten in Schutz zu nehmen, und legt sich selber in die Maschine. (KKAD 236). Doch das letzte Gebot, das er sich auf den Leib schreiben lassen möchte, sprengt das Gericht und dessen Apparat: „Sei gerecht.“ Dieses Gebot überfordert die Maschine. Die Egge schreibt nicht, sondern sticht bloß in den Körper hinein und tötet den Offizier sofort. Das Blut floß in hundert Strömen, nicht mit Wasser vermischt, auch die Wasserröhrchen hatten diesmal versagt. Und nun versagte noch das letzte, der Körper löste sich von den langen Nadeln nicht, strömte sein Blut aus, hing aber über der Grube, ohne zu fallen. (KKAD 245)

Absolute Gerechtigkeit lässt sich nicht darstellen. Statt in Sinn umzuschlagen, verkehrt sich die Schrift in den stummen Horror „des großen eisernen Stachels“ (ebd.), der quer durch die Stirn des Offiziers geschlagen ist. Statt in einer lesbaren Schrift von der „versprochenen Erlösung“ (ebd.) zu künden, fließt das Blut „in hundert Strömen“ aus dem toten Körper, der nicht begriffen hat, was ihm geschah. Die Tortur – und damit das Deutungsverfahren – bleibt sinnlos. Das Scheitern des Gerichts, dessen Gerechtigkeit sich im Schreiben des Urteils auf den Körper realisieren würde, wird im sinnlos gewordenen, sich jenseits von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit befindlichen Körper angezeigt, dieser „strömte sein Blut aus“. Damit ist nicht nur die Metaphorik des Liquiden aufgerufen, die schon im Urteil den Diskurs von Strafe und Erlösung begleitete, sondern dem Gesetz an sich wird die feste Verbindung zu seinem metaphysischen Fundament in der Maxime „Sei gerecht.“ abgesprochen. Will man dem Gesetz auf den Grund gehen, stößt man nicht auf die unhintergehbare Idee der Gerechtigkeit, sondern bloß auf ein Fließen und Strömen, von Blut und von Gewässern, in denen man nur mit fürchterlicher Anstrengung vorwärtskommt.96 Einschreibungen in den Körper, die vom Gesetz zeugen und Sinn stiften sollen, sind Teil traditioneller Konsolidierungsrituale von Gemeinschaften, mit der Beschneidung sehr prominent der jüdischen Gemeinschaft. Zwischen den Überlegungen zu einer „kleinen Literatur“ hat Kafka in seinen Aufzeichnungen von 1912 zwei kleine, miniaturartige Beschneidungsszenen eingefügt. Nach Galili Shahar wechselt damit die Beschreibung der „jüdischen Literatur“ mit der Beschreibung der Geburt des jüdischen Körpers ab. Die Beschneidungsszenen 95 Ebd. 96 So schreibt Derrida in Gesetzeskraft, S. 29: „Weil sie sich definitionsgemäß auf nichts anderes stützen können als auf sich selbst, sind der Ursprung der Autorität, die (Be)gründung oder der Grund, die Setzung des Gesetzes in sich selbst eine grundlose Gewalt(tat).“

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lassen sich „als ein allegorisches Schema eines nationalen Werks lesen,“97 aber auch als Inszenierungen der „Schrift des Körpers“98. Es geht um Grenzen, Sinn und Gemeinschaft. Der brit milah, dem Bund der Beschneidung, kommt im Judentum, wie es in dem von Kafkas zeitweiligem Hebräischlehrer Friedrich Thieberger herausgegebenen Band zum Judentum heißt, „eine umfassende, grundlegende, für das Wesen des Judentums charakteristische und in hohem Grad symbolische Bedeutung zu.“99 Wie der Schabatt nach dem religiösen Ritus an die Schöpfung der Welt erinnert und jeweils den Bund des Kollektivs mit Gott besiegelt, so ist die Beschneidung für jeden einzelnen Mann ein individuelles Zeichen des Bundes. Die Beschneidung gilt als eine der wichtigsten mitzvot, wie das Anbringen von mesusot an Türrahmen hat sie eine repräsentierende Funktion, die auch für nicht mehr besonders religiöse Juden noch wichtig bleibt. Der Schnitt erinnert tatsächlich das nicht erfüllbare Gesetz: „Sei gerecht.“ Aus christlicher Sicht jedoch galt die Beschneidung immer „als eminentes Merkmal der jüdischen Differenz.“100 Daneben wurde sie „auch mit bestimmten, als pathologisch bezeichneten sexuellen Praktiken in Verbindung gebracht.“101 Die Beschneidung wird also aus jüdischer wie aus christlicher Sicht als elementarer Ausdruck von Jüdisch-Sein betrachtet, wenn auch in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine immer wieder aufflammende Debatte um die medizinischen, gesellschaftspolitischen und religiösen Implikationen der Beschneidung geführt wurde. Reformorientierte Kreise wollten die Beschneidung am liebsten abschaffen, denn für sie stand diese für einen unnötigen physischen Unterschied zwischen Juden und Nicht-Juden.102 Damit ist auch jenes Unangenehme, die Irritation und die Peinlichkeit bezeichnet, die assimilierte bürgerliche Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Ritual verbanden. Davon 97 Shahar: theatrum judaicum, S. 261. 98 Jacques Derrida hat sich in seinem eigentümlichen, wilden Text, welcher Geoffrey Benningtons Derridabase unterlegt und gleichsam beschneidet, zur Beschneidung und zum Beschnittensein geäußert: „Beschneidung: über nichts anderes habe ich stets gesprochen, denken Sie nur über den Diskurs über die Grenze, die Ränder, [...] die Marken oder Markierungen, [...] die Schrift des Körpers [...].“ Derrida: Zirkonfession, S. 82. 99 Max Joseph: „Berit Mila“, in: Friedrich Thieberger (Hg.): Jüdisches Fest, Jüdischer Brauch. Ein Sammelwerk, unter Mitwirkung von Else Rabin. Berlin 1967. [Nachdruck der ersten Auflage von 1937], S. 421–424, hier S. 421. 100 Klaus Hödl: „Die Konstruktion ,jüdischer‘ Sexualität. Selbstzuschreibungen und Fremdzuschreibungen“, in: Claudia Bruns / Tilmann Walter (Hg.): Von Lust und Schmerz. Eine historische Anthropologie der Sexualität, Köln / Weimar / Wien 2004, S. 175–194, hier 178. 101 Ebd. 102 Vgl. Robin Judd: „Circumcision and modern Jewish Life: A German Case Study, 1843– 1914“, in: Elizabeth Wyner Mark (Hg.): The Covenant of Circumcision. New Perspectives on an ancient Jewish Rite, Hanover / London 2003, S. 142–156.

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ist in Kafkas Text über die Beschneidung seines Neffen Felix, den Sohn seiner Schwester Elli (Gabriele Kafka), noch einiges zu spüren. Heute vormittag Beschneidung meines Neffen. Ein kleiner krummbeiniger Mann, Austerlitz der schon 2800 Beschneidungen hinter sich hat, führte die Sache sehr geschickt aus. Es ist eine dadurch erschwerte Operation, daß der Junge statt auf dem Tisch auf dem Schoß seines Großvateres liegt und daß der Operateur, statt genau aufzupassen, Gebete murmeln muß. Zuerst wird der Junge durch Umbinden, das nur das Glied frei läßt, unbeweglich gemacht, dann wird durch Auflegen einer durchlochten Metallscheibe die Schnittfläche präcisiert, dann erfolgt mit einem fast gewöhnlichen Messer einer Art Fischmesser der Schnitt. Jetzt sieht man Blut und rohes Fleisch, der Moule [umgangssprachliche Form des hebräischen Mohel (Beschneider)] hantiert darin kurz mit seinen langnägeligen zittrigen Fingern und zieht irgendwo gewonnene Haut wie einen Handschuhfinger über die Wunde. Gleich ist alles gut, das Kind hat kaum geweint. Jetzt kommt nur noch ein kleines Gebet, während dessen der Moule Wein trinkt, und mit seinen noch nicht ganz blutfreien Fingern etwas Wein an die Lippen des Kindes bringt. Die Anwesenden beten: „Wie er nun gelangt ist in den Bund, so soll er gelangen zur Kenntnis der Tora, zum glücklichen Ehebund und zur Ausübung guter Werke“ (KKAT 311)

Blut, Alkohol und Gebete als Medien des Gedächtnisses begleiten den Schnitt und stellen sicher, dass der Sinn in den Körper übergeht und der Akt der Einschreibung nicht scheitert. Sie repräsentieren und versprechen den Horizont der Erlösung, der dem Ritual innewohnt (Die Zeremonie wird bei Kafka freilich sehr verkürzt dargestellt). Das Kind soll durch den Schnitt in den Körper eines Tages – nicht sofort – verstehen, was es heißt, gerecht zu sein, und das heißt in diesem Zusammenhang, ein Jude zu sein. Dabei wird der Junge erst mit der Beschneidung zum jüdischen Nachkommen, denn in der religiösen Vorstellung reinigt das Blut der Beschneidung den männlichen Körper vom verunreinigenden, weiblichen Geburtsblut. Die Beschneidung führt ihn in die männliche Generationenfolge ein: „The mother physically births a child, but the father, in physically altering the child’s natural body, births a Jew.“103 Andererseits formieren sich auch die Zuschauer des Rituals, im Gebet zu dessen Teilnehmern geworden, bei jeder Beschneidung neu als Gemeinschaft. „Blut und rohes Fleisch“ sind dabei die elementaren topoi dieser „Sprache des Körpers“, die zur sinnvollen Verfassung der Gemeinschaft beiträgt, wenn von dieser Gemeinschaft zu Kafkas Zeiten auch nur noch äußerliche und bürgerlich transformierte Strukturen übrig sind. Kafka fügt der Beschneidungs-Szene einige Reflexionen über „das in einem deutlichen unabsehbaren Übergang begriffene westeuropäische Judentum“ an und stellt angesichts der „Langeweile“ und der Gedankenlosigkeit, die das Ritual begleiten, fest: „Diese an ihrem letzten Ende 103 Elizabeth Wyner Mark: „Wounds, Vows, Emanations: A phallic Trope in the Patriarchic Narrative“, in: dies.: The Covenant of Circumcision, S. 3–17, hier S. 7.

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angelangten religiösen Formen, hatten schon in ihrer gegenwärtigen Übung einen so unbestritten bloß historischen Charakter [...].“ (KKAT 212). Trotz dieser modernen Historisierung sind Bestand und Kontinuität des Judentums biblisch eng mit der Beschneidung verbunden. Im 17. Kapitel des Ersten Buchs Moses wird dem 99-jährigen Abraham die Pflicht der Beschneidung auferlegt, um das an seine Nachkommen ergangene Versprechen auf Fruchtbarkeit einzulösen. In der Nachfolge Abrahams akualisiert und bestätigt sich mit jeder Beschneidung der alte Bund und die Gemeinschaft. Eingeleitet wird die Gottesrede nach der Übersetzung von Buber und Rosenzweig folgendermaßen: „Ich bin der Gewaltige Gott. / Geh einher vor meinem Antlitz! sei ganz!“104 Es ist öfters gefragt worden, weshalb gerade aus der Beschneidung, der Begrenzung, die Vollkommenheit entspringen kann.105 Ich möchte hier allerdings nicht psychoanalytische Überlegungen anstellen, religionsgeschichtlich oder theologisch argumentieren, sondern das Problem im Zusammenhang mit Kafkas obsessiv sich wiederholenden Phantasien des Selbstbe- und verschneidens, der Messer- und Stechphantasien und einer Notiz im ersten Drittel des siebten Oktavhefts für Kafkas Schreiben umformulieren. Wenn die „Schnitte und Stiche ins Fleisch“, so Winfried Menninghaus, „nicht zuletzt eine mise en abîme der schneidenden Schrift“106 leisten sollen, wenn also mit anderen Worten der „blutrünstige“ Schriftzug Jerusalems auf dem Arm des Kompert’schen Pilgers eine sinnvolle Schrift darstellt, dann kann eine den Sinn verfehlende Schrift nur zu einem Blutbad führen. Wie soll aber ein Schreiben vorgestellt werden, dass gleichsam blutlos wäre, ein Schreiben, dass sich weder im Sinn der Familie oder der Genealogie, weder im Sinn des nationalen Werks, noch in einem wie auch immer allegorischen Sinn erschöpft, sei es auch als AntiBeschneidung? Ich möchte nun zuerst auf den Text Schakale und Araber zu sprechen kommen und auf einige Streichungen in der Handschrift dieser Erzählung eingehen. Anhand dieses äußerst blutrünstigen Textes zeige ich unter anderem, wie das Scheitern jedes Sinnversprechens mit „Blut“ codiert ist. Gerade in einer Schlachtorgie – die sich die „Kreuzung“ aus Lamm und Katze als Erlösungshorizont erträumt – geht hier jede eschatologische Dimension verloren und vergessen. Jenseits von „Blut“ aber, nämlich jenseits des Gegensatzes von gelingender, aber deshalb nicht weniger „blutrünstiger“ Einschreibung, und vom 104 Zunz übersetzt {ymt hyhW mit „sei makellos“. Luther allerdings übersetzt mit „sei fromm“. 105 Yigal Blumenberg: „Wie kann aus der Begrenzung die Vollständigkeit entspringen? Psychoanalytische Überlegungen zur Beschneidung in der jüdischen Tradition“, in: von Braun / Wulf: Mythen des Bluts, S. 227–242. Sowie: Eric Kline Silverman: „The Cut of Wholeness: Psychoanalytical Interpretations of Biblical Circumcision“. In: Wyner Mark: The Covenant of Circumcision, S. 43–57. 106 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999, S. 433.

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Scheitern der Einschreibung in Blutbädern und aufreißenden, platzenden Körpern, imaginiert sich Kafka gegenüber allen Phantasmen der Öffnung und des Aufschneidens eine hermetische Schrift, von der in einer Aufzeichnung der Oktavhefte die Rede ist. Die Analyse dieser Vorstellung soll diesen Abschnitt beschließen. 2.3  „Durch den Stich [...] unverwundbar werden“

Die drei vorher angeführten Beispiele – Das Urteil, In der Strafkolonie und die Beschneidungsminiatur – thematisieren unter anderem Gefährdung und Erzeugung von Sinn im Schreiben. Mit dem Kreuz, dem Strafgericht und der Beschneidung verbildlichen sie jeweils einen theologisch aufgeladenen Sinnhorizont, auf den die (Blut-)Schrift zuläuft und dabei sinnvermittelnd wirken soll. Das ungeheuerliche, groteske Scheitern dieser Vermittlung wird in der Erzählung Schakale und Araber vorgeführt, deren Handschrift sich im Zweiten Oxforder Oktavheft findet. Eine Art Beschneidung mittels einer „kleine[n] / mit Rost bedeckte[n] Näh- / scheere“107 soll der Wüstenreisende auf das Drängen von plötzlich auftauchenden Schakalen hin vornehmen, und deren Feinden, den Arabern, die Hälse durchschneiden. In diesem Schnitt liegt die ganze endzeitliche Hoffnung der Schakale, den Streit zu beenden, der „die Welt entzweit“ (8°Ox2, 80). Auch dieser Text – der unter dem Titel Schakale und Araber immerhin in Der Jude erstpubliziert wurde108 – wurde immer wieder als parabelhafter Schlüsseltext für Kafkas Beschäftigung mit dem Zionismus gelesen,109 dessen Motive und Topoi parodierend aufgeboten werden. Wie In der Strafkolonie verweisen auch hier die Motive des strömenden Bluts und des gefolterten und aufgerissenen Körpers auf zeitgenössische, zum Teil antisemitisch aufgeladene Diskurse über das Schächten, das nach dem jüdischen Gesetz erfolgende Schlachten, die sich mit antisemitischen Phantasmen von jüdischem Ritualmord verbinden.110 Auch hier wird aus der Perspektive eines anonymen Reisenden erzählt, der seine ihm zugedachte Funktion als messiasähnlicher Retter nicht erfüllen kann oder will. Um den Streit zwischen Schakalen und Arabern zu schlichten, bitten die Scha107 HKKA, Zweites Oxforder Oktavheft, 2006, S, 84. [Im Folgenden zitiert als 8°Ox2 und Seitenzahl in Klammern.] 108 Franz Kafka: „Zwei Tiergeschichten“, in: Der Jude, 2. Jg. (1916), Nr. 7, S. 488–490. Im darauf folgenden Heft erschien ebenfalls unter dem Übertitel „Zwei Tiergeschichten“ die Erzählung „Bericht an eine Akademie“. 109 Vgl. Jens Tismar: „Kafkas ‚Schakale und Araber‘ in zionistischem Kontext“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 19 (1975), S. 306–323. 110 Sehr ausführlich ist das dargestellt bei Sander L. Gilman: Kafka. The Jewish Patient, New York / London 1995, S. 101–168.

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kale den Ich-Erzähler nicht nur, den Arabern mit der Schere die Hälse durchzuschneiden, sondern ihnen das „Blut“ zu nehmen. Der Reisende stellt fest: [...] es scheint ein sehr alter Streit, liegt also wohl im Blut wird also erst vielleicht erst mit dem Blut enden.“ „Du bist sehr klug“ sagte der alte Schakal [...]. (8°Ox2, 72)

Gerade der Schriftverlauf, der beim Lesen des Faksimiles deutlich wird, zeigt hier Entscheidendes: Das erste „Blut“ – mit dem die Zeile endet – ist im übertragenen Sinn gebraucht. Der Zeilenwechsel, der freilich durch die Größe der Heftseite bedingt ist, bringt dann auch einen semantischen Sprung mit sich, wenn „Blut“ nun das Konkretum meint: das zu vergießende Blut. Anhand der Handschrift lässt sich also bei Kafka einer jener typischen Verschiebungen beobachten, denen das Wort Blut ausgeliefert ist und die es bewirkt. Diese Beobachtung kann den Text genauer erklären. Vom Alter des Streits schließt der Reisende darauf, dass er „wohl im Blut“ liegt. Obwohl der Reisende darauf als „sehr klug“ bezeichnet wird, und seine Aussage anscheinend sogar „der alten Lehre“ (8°Ox2, 75) der Schakale entspricht, ist nicht ganz klar, was damit eigentlich gemeint ist. „Wir nehmen [a]ihnen also ihr Blut“, meint der alte Schakal, „und der Streit ist zuende.“ (ebd.). Scheint der Streit, der „im Blut“ liegt, zu bedeuten, dass dieser Streit vererbt wurde und nur mit dem Untergang einer Familie oder eines Stamms (eines ‚Araberstamms‘ etwa) zu beenden wäre, scheint hier also die Rede vom „Blut“ auf ein genealogisches Element hinzudeuten, so kann die Absicht, „ihnen also ihr Blut“ zu nehmen, nur konkret als Ausdruck der imaginierten Gewalt verstanden werden. Diese zweite Verwendung von „Blut“ könnte für den Ausdruck „im Blut“ bedeuten, dass auch er konkret gemeint ist, dass das qualitativ andere „Blut“ der Araber etwa unrein für die Schakale wäre und dass deshalb der Streit „im Blut“ liegt, nicht so sehr genealogisch als hygienisch begründet. Diese Lesart würde davon gestützt, dass die Schakale die Araber tatsächlich als schmutzig und verschmutzend empfinden. „Blut“ ist dabei ebenfalls ein Faktor der Verunreinigung, obwohl ironischerweise gerade das Blut verendeter Tiere die Nahrung der Schakale darstellt: [...] ruhig soll alles Getier krepieren, und von ungestört soll es [in] von uns in einem Zug leergetrunken und // bis auf die Knochen gereinigt werden. Reinheit, nichts als Reinheit wollen wir [...]. (8°Ox2, 82-83)

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Die angestrebte Reinheit wird jedoch verfehlt. Die Schakale können die Araber nicht loswerden, sei es, weil ihre Mittel völlig inadäquat sind, sei es, weil Schakale und Araber dennoch schon immer aufeinander angewiesen sind. Der „Araberführer unserer Karawane“ (8°Ox2, 85), der ebenso plötzlich wie die Schakale auftaucht, vertreibt die Tiere mit seiner Peitsche. Aus seiner Sicht entspricht die Szenerie einem „Schauspiel“. Der Leser wird an Opferriten oder sakrale Zeremonien erinnert:111 [...] solange es [d]Araber gibt, wandert diese Scheere durch die Wüste und wird mit uns wandern, bis ans Ende der Tage wir die Wüste verlassen, jedem Europäer wird sie angeboten zu dem grossen Werk, jeder einzelne Europäer ist gerade derjenige welcher ihnen berufen scheint. Eine unsinnige Hoffnung haben diese Tiere, Narren, wahre Narren sind sie. (8°Ox2, 87)

Die Hoffnung der Schakale auf Reinheit und Erlösung ist „unsinnig“. Ihre Hoffnung ist vielmehr Teil eines absurden Spiels, das nur für den „Europäer“, den Ich-Erzähler, aufgeführt wird. Die „Scheere“ bleibt für die Araber als eine Art verkümmertes Damokles-Schwert erhalten, doch bleibt sie sinnlos, da sie als Instrument eines jüngsten Gerichts, das mehr einem Narrenspiel gleicht, versagen muss. Wie in der Strafkolonie misslingt das finale Einschneiden und zurück bleibt das unkontrolliert strömende Blut. Die Schakale stürzen sich auf ein von den Arabern herbeigebrachtes totes Kamel und beginnen, es aufzureißen: Sie hatten die Araber vergessen, den Hass vergessen, die alles auslöschende Gegenwart des in der Hitze stark ausdunstenden Leichna[h]ms bezauberte sie. Schon hieng einer am Hals und fand mit dem ersten Biss die Schlagader. Wie kleine eine rasende Pumpe, die e[nt]benso unbedingt wie aussichtslos 111 Auch Gerhard Neumann liest in seinem Kommentar den Text als Anordnung eines Rituals: Vgl. Hartmut Binder (Hg.): Kafka-Handbuch, Band 2: Das Werk und seine Wirkung, Stuttgart 1979, S. 327–329.

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einen übermächtigen B[l]rand löschen will, zerrte und zuckte jede Muskel seines Körpers an ihrem Platz. Und schon lagen in gleicher Arbeit alle auf dem Leichnam hoch zu Berg. (8°Ox2, 88)

Weiter heißt es, dass die Schakale „in Rausch und Ohnmacht“ (8°Ox2, 91) nicht einmal von den Peitschen der Araber vom Trinken abgehalten werden. Zu stark ist die Anziehungskraft des Bluts des toten Kamels. [...] das Blut des Kameels lag schon in Lachen da, rauchte empor, der Körper war an mehrern Stellen weit aufgerissen. Sie konnten nicht widerstehn [...]. (ebd.)

Die Erlösungshoffnung der Schakale, der Horizont des Sinns verliert sich in einem Blutrausch. Ein bannender Zauber geht vom Leichnam aus, der die Machtlosigkeit der Schakale vorführt. Dabei geht die Anziehungskraft über olfaktorische, ariale Metaphern, die an Arnold Zweigs Teufelsrede in der Sendung Semaels erinnern: „rot und wolkig dampfts empor, witternde Dünste heben sich in obere Sphären,“112 wird dort vom „Blut“ gesagt. Bei Kafka ist die Rede vom „stark ausdunstenden“ Kadaver; das Blut „rauchte empor,“ heißt es. „[I]m Blut“ liegt nicht nur die Erinnerung an den alten Streit, das kollektive Gedächtnis der Schakale, in ihm liegt, sobald es unkontrolliert fließt und sich „in obere Sphären“ evaporiert, auch die Macht und die Ohnmacht des kollektiven Vergessens begründet. Wie sich die Schakale aus dem über Generationen vererbten „Hass“ auf die Araber und dem Willen konstituieren, ihnen ihr „Blut“ zu nehmen, so verhindert gerade das „Blut“ die Verwirklichung ihrer angestrebten Gemeinschaft. Trotz „gleicher Arbeit“ wird in dieser orgiastischen Szene keine neue Gemeinschaft hergestellt, sondern bloß eine mechanistische Anordnung ähnlich einem setting des Marquis de Sades. „Wie eine kleine rasende Pumpe“ macht sich der erste Schakal am toten Tier zu schaffen. Das Ansinnen der Schakale geht in der Plethora des Bluts vergessen, was an die fehlgehende Anordnung in der Strafkolonie erinnert. Der „B[l]rand“ ist „übermächtig“ und das Unternehmen ihn zu löschen „e[nt]benso unbedingt wie aussichtslos“. Die Gier der Schakale nach Einheit oder Erlösung wird nicht gestillt, denn in der übermäßigen Fülle des Blutes wird dessen Sinn ertränkt 113 – oder vielleicht besser erstickt. 112 Vgl. diese Studie 1.1. 113 Vgl. Isolde Schiffermüller: „,Die Orgie beim Lesen‘: Schakale und Araber“, in: Elmar Locher / Isolde Schiffermüller (Hg.): Franz Kafka, „Ein Landarzt“. Interpretationen, Bozen 2004, S. 93–104, hier S. 103.

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So ist auch der Text geradezu überfüllt mit verschiedenen, ironisch gewendeten Motiven der jüdischen Tradition: Die Schakale streben nach Reinheit, aber gerade das Kamel gilt gemäß Kaschrut als unreines Tier, und Blut darf unter keinen Umständen getrunken werden. Der Messianismus der Schakale will die Erlösung mit Gewalt erzwingen, was häretisch ist. Der Nil, also der Fluss, der sich gemäß der Pessach-Haggadah in Blut verwandelte, muss als freilich ungenügendes Reinigungswasser dienen (vgl. 8°Ox2, 75). Ein allegorisch stabiler Sinn der Szene ergibt sich dementsprechend trotz unzähliger Deutungsversuche nicht. Es lohnt sich deshalb, die Blut-Phantasien dieses Textes mit anderen Eintragungen in den Oktavheften zu vergleichen, den Text also nicht nur als Statement zum Zionismus, als den er, begründet durch den Kontext der Erstpublikation, durchaus gelesen werden kann, sondern auch im Kontext der Handschrift zu verorten. Der ohnmächtige Blutrausch der Schakale korrespondiert mit jener „Orgie beim Lesen im Juden“, also beim Lesen seines eigenen Textes, die Kafka gemäß seinen Aufzeichnungen im siebten Oktavheft offenbar durchlebte.114 Wie eine Karikatur der Karikatur taucht dort als geschrumpfte Metamorphose des rasenden Schakals das Bild eines anderen sich vergeblich mühenden Tiers auf: „Wie ein Eichhörnchen im Käfig.“ Weiter heißt es: „Glückseligkeit der Bewegung, Verzweiflung der Enge, Verrücktheit der Ausdauer, Elend-Gefühl vor der Ruhe des Außerhalb. Alles dieses sowohl gleichzeitig als abwechselnd, noch im Kot des Endes ein Sonnenstreifen Glückseligkeit.“ (KKAN2, 30). Vielleicht sind es die Handschriften der Oktavhefte, die von diesem Schwanken zwischen „Glückseligkeit der Bewegung“ und „Verzweiflung der Enge“ zeugen. In einem Brief an Felice heißt es: „Begreifst du es, Liebste: schlecht schreiben und doch schreiben müssen, wenn man sich nicht vollständiger Verzweiflung überlassen will. So schrecklich das Glück des guten Schreibens abbüßen müssen!“115 Der Ort des Schreibens wird somit selbst zur Wüste, dem Schauplatz von Kafkas Text, die durchquert werden muss um in ein nie zu erreichendes gelobtes Land des „guten Schreibens“ zu gelangen. Zur Erklärung für die seltsame Bitte der Schakale, sagt der Araber zum Reisenden: „[...] solange es [d]Araber gibt, wandert diese Scheere durch die Wüste und wird mit uns wandern, bis wir die Wüste verlassen“. Kafka hat den letzten Halbsatz „bis wir die Wüste verlassen“ gestrichen und darübergeschrieben: „ans Ende der Tage.“ Ob die Wüste verlassen werden kann, das ist mit der Ersetzung angezeigt, ist unsicher, selbst am „Ende der Tage“ oder „im Kot des Endes“. Der „Sonnenstreifen Glückseligkeit“ wird damit ans Ende der Zeitrechnung, in eine messianische Zeit verlegt. Eine andere Streichung allerdings, ganz zu Beginn des Textes, kreiert eine Totalität der Wüste, eine bedrückende Ausweglosigkeit, 114 Vgl. Ebd. 115 Kafka: Briefe an Felice, S. 142.

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die auch die Ankunft der messianischen Zeit zweifelhaft werden lässt. „Ich warf mich rücklings ins G[l]ras“, so heißt es dort – und man beachte, das Kafka zuerst „Glas“ geschrieben hat, bevor er das „l“ durch ein „r“ überschrieben hat – dann: „über mir das ungeheure Firmament, ich wollte schlafen, ich konnte nicht [...].“ Der Einschub „über mir das ungeheure Firmament“ ist mit entschlossenen Wellenlinien gestrichen und fand nicht Eingang in die verschiedenen Drucke des Textes. Die Öffnung nach oben zwischen dem Rücklings-Sich-Hinwerfen und der Schlaflosigkeit wird damit geschlossen. Der Sternenhimmel, von dem die Verheißung kommt und der zur Orientierung auch im moralischen Sinn nach Kants berühmter Formulierung dienen könnte, kommt im Prozess des Schreibens abhanden.116 Die Wüste wird um ihre senkrechte Dimension beschnitten. Wer hier „rücklings“ liegt, sieht keine Sterne und wie für die Schakale ist seine Perspektive „aussichtslos“. Vielleicht verkehrt sich deshalb der Schlaf für den Ich-Erzähler in einen Albtraum mit geöffneten Augen, in ein symbolisch überdeterminiertes Theater der Grausamkeit, das die zeitgenössischen zionistischen und innerjüdischen Diskurse simuliert und damit ad absurdum führt. Der Text schildert eine Art Karneval des Zionismus, der im „Blut“ auf völlig maßlose Weise das Scheitern jeder Sinnfestlegung, jeder Erlösungshoffnung zeigt. Dieses Scheitern ist das genaue Gegenteil jenes Gelingens, das sich Mendel Wilna in Komperts Erzählung erträumt, als er sich den Namen Jerusalem mit Blut in den Körper schreibt, der Schrift des sich durch die Schrift als Subjekt einsetzenden jüdischen Subjekts. Zeigt Schakale und Araber in einem Blutbad, wie Sinn verfehlt wird und damit das Scheitern des Schreibens, so stellt folgende kurze Notiz aus dem siebten, noch nicht in Faksimile vorliegenden Oktavheft möglicherweise eine Anleitung zum Gelingen dar, die jedoch jenseits des Phantasmas von der Schrift des Bluts führt. Sie imaginiert vielmehr eine Schrift, die in sich geschlossen ist, die blutlos schreibt: Darauf kommt es an, wenn einem ein Schwert in die Seele schneidet: ruhig blicken, kein Blut verlieren, die Kälte des Schwertes mit der Kälte des Steines aufnehmen. Durch den Stich, nach dem Stich unverwundbar werden. (KKAN2, 45)

Die in der Art einer praktischen Lebensregel formulierte Notiz ist zunächst rätselhaft. Die Rede vom Schwert, das in die Seele schneidet (und nicht etwa in den Körper) zwingt fast dazu, sie allegorisch zu lesen. Hier wird vielleicht eine Art stoische Haltung empfohlen, die dem Angriff von Außen mit Ruhe begegnet, eine Haltung, die durch Anpassung, durch Mimesis an die feindliche Umwelt in sich bestehen bleibt und Schmerzfreiheit simuliert („ruhig blicken“). „kein Blut verlieren“ kann wieder wörtlich verstanden werden oder als Anweisung, 116 Vgl. Schütterle: Franz Kafkas Oktavhefte, S. 122.

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sein Innerstes gegen das Eindringen des Fremden zu sammeln, ökonomisch zu handeln. Der letzte Satz jedoch ändert die Perspektive und erinnert an die Theologie der Beschneidung: „Durch den Stich, nach dem Stich unverwundbar werden.“ Das imaginiert einen blutlosen Stich, einen Stich, der keine Wunde öffnet, sondern eine Immunität und eine Ganzheit, eine Makellosigkeit hervorbringt gerade durch den Stich, also eine Art Injektion oder Impfung. Wenn der Stich ein Bild für die Schreibbewegung ist, dann erinnert die „Kälte des Steins“ nicht so sehr, wie Menninghaus meint, an „die Stein-hafte Kühle der Beobachtung“117 und nicht nur an den erst durch die Verletzung ganz werdenden Körper, sondern an die sich im Prozess des Schreibens herstellende Schrift. Hier wird ein Schreiben imaginiert, das im Schreiben nichts von Innen nach Außen bringt. Ein Schreiben wird vorgestellt, das durch die Öffnung in sich geschlossen ist. Der Schrift-Körper – gemeint ist hier nun nicht die materielle Schrift, also die Schrift als écriture, sondern die Schrift als Imago des Schreibens – gleicht dann einer glatten Oberfläche aus Sand, die sich nach jedem Eindringen wieder schließt. Im Gegensatz zu der romantischen Idee des exzessiven Schreibens, die den Verlust des Blutes gegen jede Ökonomie gerade beschwört, ist hier eine radikale, wenn auch „paradoxe Unverwundbarkeit“118 vorgestellt, ein Schreiben, das, um sich selbst zu vergewissern, nicht mit heißem Blut schreibt, sondern kalt bleibt. Der Körper bleibt dabei in eigentümlicher Weise offen verschlossen. Schon dieses Oxymoron besagt, dass Kafkas Bilder der Schrift und des Schreibens im Zusammenhang mit „Blut“ widersprüchlich sind. Schreiben ist doch immer Schneiden und Verletzen. Problematisch ist auch, dass nie klar ist, ob „Blut“, „Stich“ oder „Schrift“ hier metaphorisch oder eigentlich gemeint sind, eine Schwierigkeit die nicht aufgelöst werden kann. Ganz zu Beginn des siebten Oktavhefts gibt es eine weitere Notiz, die in diesem Zusammenhang teilweise herangezogen werden kann: [...] Nur Bruchstücke eines Ganzen. Wie willst Du an die größte Aufgabe auch nur rühren, wie willst Du ihre Nähe nur wittern, ihr Dasein nur träumen, ihren Traum nur erbitten, die Buchstaben der Bitte zu lernen wagen, wenn Du Dich nicht so zusammenfassen kannst, dass Du wenn es zur Entscheidung kommt, Dein Ganzes in einer Hand so zusammenhältst wie einen Stein zum Werfen, ein Messer zum Schlachten. [...] (KKAN2, 31)

Bei Kafkas Schreiben handelt es sich um immer „[n]ur Bruchstücke“. Die Vorstellung von Bruchstücken impliziert ein „Ganzes“, das sich als eine Art Schreib-Imago fassen lässt. Dessen virtuelle Realisierung ist total und von Martialik geprägt: Ein „Stein zum Werfen, ein Messer zum Schlachten“ sind die Metaphern dieser ambivalenten Wunscherfüllung. Schreiben ist ein Kraftakt, 117 Ebd., S. 430. 118 Ebd.

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ein Sich-Zusammennehmen genau so wie das präzise Führen der Klinge beim rituellen Schlachten, bei dem kein Tropfen Blut verloren gehen darf. „Aufgabe“ und „Entscheidung“ sind dabei aber nicht nur Begriffe, die eine Poetik beschreiben. Sie weisen auch auf eine politische Rhetorik der Sammlung und der Gemeinschaft hin, auf die ich in den Abschnitten zu den zionistischen Texten ausführlich verwiesen habe. Kafkas Schreiben bewegt sich jenseits des Gegensatzes von Scheitern und Gelingen, jenseits von Sinn im „Blut“ und blutiger Sinnlosigkeit. Durch den Strich und „durch den Stich“ wie „nach dem Stich“ kommt dieses Schreiben einem Unverwundbar-Werden gleich, einem Ganz- und Abgeschlossen-Werden durch die Beschneidung. Es würde sich dann um ein Schreiben handeln, das sich jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt bewegt, das nicht autorisiert ist, also um ein Schreiben durch Schreiben. 119 Für die Moderne gilt: Das Blut des Autors stattet seine Schrift mit Wahrheit aus. „Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist.“ lautet Nietzsches Memorandum. Kafkas Moderne jedoch ist eine andere Moderne. Sein Blut ist Schrift. Und seine Schrift ist Schrift durch Schrift. 3.  „die stumme Frage“ oder was vom „Blut“ übrigbleibt I shot a man in Reno, just to watch him die.*

Mit Kafkas Erzählung Ein Brudermord, die in der ersten Nummer der Zweimonatsschrift „Marsyas“ im Sommer 1917 erscheint und wie Schakale und Araber in den Landarzt-Band aufgenommen wird, schließt diese Studie einen thematischen Kreis. In der Einleitung habe ich auf den Urmord Kains an seinem Bruder Abel hingewiesen, jene biblische Erzählung, die das „Blut“ als Metonymie des Brudermords einsetzt, als sprechendes Zeichen der Schuld des Mörders vor Gott. In Kafkas Erzählung erinnert auf den ersten Blick nur noch der Titel an die Geschichte von Kain und Abel. Auf den zweiten Blick sind es vielleicht die Namen des Mörders Schmar und seines Opfers Wese, die lautlich den hebräischen

119 Vgl. Davide Giuriato: „,Ende des Schreibens. Wann wird es mich wieder aufnehmen?‘ Annette Schütterle liest Kafkas Oktavhefte neu – als Handschriften“, in: IASLonline, (31.08.2003). * Johnny Cash: „Folsom Prison Blues“, zum ersten Mal 1955 für die Single Folsom Prison Blues aufgenommen.

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Bibeltext evozieren.120 Zudem hatte Kafka nur einige Wochen vor der Niederschrift dieser Erzählung Arnold Zweigs Drama Ritualmord in Ungarn gelesen. Das Stück bemüht den Brudermord Kains an Abel als Parabel für die sinnlose Gewalt im Zusammenhang mit so genannten Ritualmord-Beschuldigungen.121 Unter anderen verweist Sander Gilman darauf, dass dieses Stück, das teilweise auch in der Selbstwehr abgedruckt wurde, auf Kafka großen Eindruck machte. Auf einer Postkarte an Felice vom 28. Oktober 1916 schreibt er: „Bei einer Stelle mußte ich zu lesen aufhören und mich auf das Kanapee setzen und laut weinen. Ich habe schon seit Jahren nicht geweint.“122 Der bei Kafka geschilderte, blutige Mord kann durchaus als ein von der antisemitischen Phantasie imaginierter „jüdischer Blutmord“ gelesen werden, wie auch die Blut-Phantasien Kafkas immer mit diesen Vorstellungen zu tun haben.123 Einen direkten Bezug zu Zweigs Stück ist jedoch nicht erkennbar und von einem „Brudermord“ oder von Brüdern ist im Verlauf der Erzählung keine Rede mehr. Das Opfer wird „Freund“ und „Bierbankgenosse“ genannt. Der Text, des120 Vgl. Alfred Bodenheimer: „A Sign of Sickness and a Symbol of Health: Kafka’s Hebrew Notebooks“, in: Mark H. Gelber (Hg.): Kafka, Zionism and beyond, Tübingen 2004, S. 259– 270, insbesondere 259–261: „Those who know the Hebrew text of Genesis are familiar with the wording of Cain’s answer to God’s question right after the murder about where his brother Abel is. Cain’s famous answer, formulated again as a question: ‚Am I my brother’s keeper?‘ sounds in Hebrew like this: ykWn) yx) dmW#h ‚HaShomer Achi Anachi?‘ Keeper, in Hebrew ‚shomer‘, is built on the Hebrew root dm# (SHMR). Kafka’s choice of ‚Schmar‘ for the murderers name, then, would be a hint to the answer to this question.“ S. 259. Auch der Name Wese kann aus dem hebräischen Text erklärt werden. „The hebrew form of Abel is Hewel. The most famous occurence of this word in the Bible beyond its function as the name of the murdered brother is in the book of Ecclesiates: lbh lkh (HAKOL HAVEL), all is vanity [...]. But the root lbh (HVL) in its origininal sense means either ‚vapor‘ or ‚the breathe that comes out of a person’s mouth‘ or ‚nought‘, ‚nothingness‘. The name in Kafka’s text, ‚Wese‘, on the other hand, is associated with the German word ‚Wesen‘ (being), that is, to the participle of the verb ‚sein‘ (to be), ‚gewesen‘ and also to the verb ‚verwesen‘ (decompose). As far as the person of Abel (lbh), HeVeL) represents a man at the moment of exhaling, on his way to nothingness and decomposition, ‚Wese‘ is a most congenial, almost Buberian, translation of the name.“ S. 259–260. Allerdings ist es alles andere als sicher, ob Kafka die hebräischen Wörter kannte oder ob der Name Schmar nicht doch durch Kafkas Flaubert-Lektüre angeregt wurde (Smarh. Vieux Mystère). Vgl. Binder: Kafka-Handbuch, Bd. 2, S. 317. 121 Vgl. in dieser Studie 1.1. 122 „Letzthin habe ich ,Ritualmord in Ungarn‘ eine Tragödie von Zweig gelesen, sie ist in den überirdischen Szenen so angestrengt und schwächlich, wie ich es nach dem, was ich von Zweig kannte erwartet habe. Die irdischen Szenen dagegen haben bezwingendes Leben, es stammt wohl zum großen Teil aus den großartigen Akten des Processes. [...] Ich sehe ihn jetzt anders als früher. Bei einer Stelle mußte ich zu lesen aufhören und mich auf das Kanapee setzen und laut weinen. Ich habe schon seit Jahren nicht geweint.“ Kafka: Briefe an Felice, S. 735–736. 123 Vgl. Gilman: Kafka. The Jewish Patient, S. 101–134.

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sen nicht erhaltene Handschrift sich möglicherweise in einem verlorenen Oktavheft befand, schildert in oft eliptischen Sätzen die abendlichen Ereignisse an einer Straßenecke. Dort lauert Schmar mit seiner „Mordwaffe, halb Bajonett, halb Küchenmesser“ (KKAD 292) Wese auf und ersticht ihn. Die Bluttat wird vom neugierigen Pallas beobachtet, „der in der Nähe aus seinem Fenster im zweiten Stockwerk“ (KKAD 293) alles überblickt. Begleitet von einer Volksmasse kommt Frau Wese gerannt, die ihren Pelzmantel über der Leiche ihres Ehemannes ausbreitet. Der reuelose Täter wird schließlich von einem Schutzmann weggeführt. Soweit die Handlung, die scheinbar ganz unkafkaesk, ohne Zurücknahmen, ambivalenten Aussagen oder Paradoxien erzählt wird, dabei fast hyperrealistisch wie ein Traumprotokoll. An ein Protokoll mahnt bereits der erste Satz der Erzählung: „Es ist erwiesen, daß der Mord auf folgende Weise erfolgte:“ (KKAD 292). Der Textverlauf erinnert danach aber mehr an ein expressionistisches Drama124 oder einen grotesken Stummfilm als an einen Polizeibericht.125 Alles ist knapp, scheint scharf abgehackt und überdeutlich gezeichnet. Dabei fehlt dieser Erzählung etwas Entscheidendes zum klassischen Krimi, nämlich das Motiv des Mordes, das in der bloßen „Lust, zu töten“126 besteht, wie Werner Kraft schreibt, oder vielleicht noch radikaler in der Geste des Tötens selbst. Schmar ruft nach vollbrachter Tat: „Seligkeit des Mordes! Erleichterung, Beflügelung durch das Fließen des fremden Blutes!“ (KKAD 294). Nicht die Sühne für ein Verbrechen, sondern schon das Verbrechen selbst ist es, das dem Verbrecher einen Erlösungshorizont öffnet. „Erleichterung“ und „Beflügelung“ drücken Inspiration und Erhöhung, „Seligkeit“ auch eine beinahe metaphysische Dimension aus. Doch wenn es diese Dimension gibt, so tut sie sich nur einen Spalt breit auf, denn der Versuch, im „Fließen des fremden Blutes“ so etwas wie Erfüllung zu finden, misslingt: „Nicht alles wird erfüllt, nicht alle Blütenträume reiften [...],“ (ebd.) heißt es mit einem expliziten Zitat aus Goethes Ode Prometheus, auf das ich hier noch näher eingehen werde. Das Rätsel dieser Erzählung ist nicht der Kriminalfall, der hier auch geschildert wird, sondern Schmars wahrhaft theologische Frage an den toten und ausgebluteten Wese, der vor ihm liegt: „[...] dein schwerer Rest liegt hier, schon unzugänglich jedem Tritt. Was soll die stumme Frage, die du damit stellst?“ (ebd.). Schmar stellt an den Toten also die Frage, was für eine Frage dieser ihm nun stellen könnte. Im Folgenden möchte ich dieses Fragezeichen ohne Frage – die „stumme Frage“ als das, was vom „Blut“ nach dem Ende seiner phantasmatischen Beset124 Vgl. Milena Massalongo: „Kafka, ,Ein Brudermord‘. Oder zur Geste“, in: Elmar Locher / Isolde Schiffermüller (Hg.): Franz Kafka, „Ein Landarzt“. Interpretationen, Bozen 2004, S. 217–140, hier S. 219. 125 Vgl. Alt: Franz Kafka, S. 499–501. 126 Werner Kraft: „Der Mensch ohne Schuld. Ein Brudermord“, in: ders.: Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis, Frankfurt a. M. 1968, S. 21–29, hier S. 22.

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zung übrigbleibt – als Schlusszeichen dieser Studie setzen. Dabei soll die Erzählung Ein Brudermord, die entweder als moderne Umschreibung der GenesisGeschichte,127 oder aber als „Kinoereignis im Medium der Literatur“128 und als Thematisieren der Geste an sich als „Sperre jeder Deutbarkeit“129 gelesen wurde, in den Kontext meiner Untersuchungen zum „Blut“ in der deutsch-jüdischen Literatur gestellt werden. Schon Kraft hat den Text als politisch-theologische Szene gelesen, als eine Meditation über Schuld, Tod und Liebe. Krafts Lektüre kritisch aufnehmend, soll Ein Brudermord hier als groteskes wie grausames Endspiel, als ein Requiem auf die Frage gelesen werden, welche diese Studie anleitet, die Frage nach dem anderen Blut. Es gibt drei Figuren, die am Anfang diese Szene bevölkern und die den Triangel jedes Verbrechens bilden: Täter, Zuschauer und Opfer. Eine vierte Figur ist die Ehefrau Weses, auf die der Triangel gleichsam hindeutet. Wenn alle anderen von der Szene abgehen, wird sie mit ihrem Schmerz um den und ihrer Liebe zu dem toten Mann übrigbleiben. Erstens wird der Täter Schmar eingeführt: Seine Mordwaffe, halb Bajonett, halb Küchenmesser, hielt er ganz bloßgelegt immer fest im Griff. Betrachtete das Messer gegen das Mondlicht; die Schneide blitzte auf; nicht genug für Schmar; er hieb mit ihr gegen die Backsteine des Pflasters, daß es Funken gab; bereute es vielleicht; und um den Schaden gutzumachen, strich er mit ihr violinbogenartig über seine Stiefelsohle, während er, auf einem Bein stehend, vorgebeugt, gleichzeitig dem Klang des Messers an seinem Stiefel, gleichzeitig in die schicksalsvolle Seitengasse lauschte. (KKAD 292)

Es fällt auf, dass die „Mordwaffe“ halb aus dem Bereich des Militärischen, halb aus dem Bereich des Zivilen und Privaten stammt. Obwohl sich ein Bajonett – das zur Entstehungszeit dieser Erzählung im tobenden Ersten Weltkrieg massiv und genau so brutal eingesetzt wurde – doch beträchtlich von einem gewöhnlichen Küchenmesser unterscheidet, kann der Charakter der Waffe nicht festgelegt werden. Damit ist auch nicht ganz klar, was der Charakter dieses Verbrechens ist. Ist es bloß ein häusliches Delikt – etwa ein Eifersuchtsdrama, wie man aus dem späteren Ausruf Schmars „Vergeblich wartet Julia!“ (KKAD 294) schließen könnte – oder doch eher ein politisches Verbrechen – etwa ein Mord aus Parteirivalität, wie man aus Schmars Anrede an den sterbenden Wese als „Bierbankgenosse“ (ebd.) schließen könnte? Vielleicht ist es die Präsenz der Waffe allein, die das Verbrechen begründet; „bloßgelegt“ steht sie im Zentrum der Szene. Sie „blitzte“ im Mondlicht auf und gibt „Funken“, ist also eine Lichtquelle oder wenigstens ein Lichtverstärker und korrespondiert unheimlich mit 127 Vgl. Bertram Rohde: „und blätterte ein wenig in der Bibel“. Studien zu Franz Kafkas BibelLektüre und ihrer Auswirkungen auf sein Werk, Würzburg 2002, S. 190–196. 128 Alt: Franz Kafka, S. 501. 129 Massalongo: „Kafka, ‚Ein Brudermord‘. Oder zur Geste“, S. 240.

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den Sternen, die den unglücklichen Wese anlocken. Sie ist in gewisser Weise auch eine Metonymie des Mörders selbst, von dem es später im Text heißt: „[...] wo alles friert, glüht Schmar.“ (KKAD 293). Aber nicht nur die Optik, sondern auch der „Klang des Messers an seinem Stiefel“ hebt die Waffe aus dem Bereich der bloßen Funktionalität und macht aus ihr ein Medium. Wie die „Funken“ mit den Sternen, so korrespondiert der Klang mit dem „Glockenzeichen“, das Weses Feierabend einläutet und – nur für Schmar verständlich – bereits jenes Ereignis in der „schicksalsvollen Seitengasse“ ankündigt. Aus dieser Gasse kommt Schmars unwissendes Opfer Wese, der sich nun auf das Zentrum des Erzählten, das sich in der Waffe bündelt, zubewegt. Die Straßen-Kreuzung wird – im Unterschied zur Kreuzung aus Lamm und Katze, der „das Messer des Fleischers“ erspart bleibt – nun zum Ort des Blutbads, zum Ort, an dem das Messer seinen Sinn finden soll. Gerade an der Grenze, welche die Gassen scheidet, bleibt Wese stehen, nur mit dem Stock stützt er sich in die jenseitige Gasse. Eine Laune. Der Nachthimmel hat ihn angelockt, das Dunkelblaue und das Goldene. Unwissend blickt er es an, unwissend streicht er das Haar unter dem gelüpften Hut; nichts rückt dort oben zusammen, um ihm die allernächste Zukunft anzuzeigen; alles bleibt an seinem unsinnigen, unerforschlichen Platz. An und für sich sehr vernünftig, daß Wese weitergeht, aber er geht ins Messer des Schmar. (KKAD 294)

Wese ist doppelt „unwissend“. Der Sinn dessen, was sich am „Nachthimmel“ zeigt, bleibt ihm verschlossen. Er bleibt nicht etwa in religiöser Ergriffenheit oder in idealistischem Nachdenken stehen, sondern aus einer „Laune“ heraus. Damit bleibt ihm auch seine „allernächste Zukunft“ verborgen. Nichts deutet auf eine Ausnahme vom alltäglichen und rational verfassten Ablauf des Lebens hin. Das Vernünftige ist es, wie jeden Tag die Schritte über die Gasse nach Hause zu tun. „An und für sich sehr vernünftig“ ist Weses alltagserprobtes Handeln, wie es sarkastisch heißt. Gerade seine Rationalität lässt ihn ins nicht nur sprichwörtliche Messer laufen. Dieses Ende ist aber nicht etwa ‚Schicksal‘, vielmehr ist es genau so sinnlos wie der stumme Sternenhimmel, den Wese in seiner „Laune“ betrachtet. Warum muss Wese sterben? Obwohl die „Türglocke“ seines Büros „zu laut für eine Türglocke, über die Stadt hin, zum Himmel auf“ den auf diese Weise sakral gekennzeichneten Feierabend ankündigt, antwortet der Himmel nicht, sondern zeigt bloß die absolute Unverfügbarkeit und die Kontingenz des Wirklichen. Mit dem Klang der Glocke, der „endlich“ erfolgt, wechselt die Erzählung vom Präteritum ins Präsens, ein Effekt, der auch Kleist in seinen Anekdoten, insbesondere in der von Kafka sehr geschätzten Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege, anwendet.130 Dieser grammatikalische Wechsel zeigt die reine, nicht reflektierbare Präsenz des Geschehens an. 130 Vgl. Walter Hinderer: „,Kleist bläst in mich, wie in eine alte Schweinsblase‘. Anmerkungen zu einem komplizierten Verhältnis“, in: Manfred Engel / Dieter Lamping (Hg.): Kafka und die Weltliteratur, Göttingen 2006, S. 66–82, hier S. 78.

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Auch die Natur, die Wese offenbarungslos vor sich hat, ist eine „Laune“. Sie ist total desakralisiert und befindet sich im Zustand des reinen Jetzt. An ihr ist keinerlei Zukunft abzulesen. Weses blutiges Ende auf der Straßenkreuzung, das vielleicht dem Ende des humanistisch verfassten Menschen in der Moderne gleichkommt, ist in dieser „Laune“ begründet: „Mit dem Schwinden des übernatürlichen Lebens im Menschen“, so schreibt Walter Benjamin in seinem Essay zu den Wahlverwandtschaften, „wird sein natürliches Schuld, ohne dass es im Handeln gegen die Sittlichkeit fehle. Denn nun steht es in dem Verband des bloßen Lebens, der am Menschen als Schuld sich bekundet. Dem Unglück, das sie über ihn heraufbeschwört, entgeht er nicht.“131 Wese ist schuldlos schuldig geworden, gerade weil er „an und für sich sehr vernünftig“ handelt. Obwohl er weder gegen moralische noch religiöse Gesetze verstößt, fällt er „dem Verband des bloßen Lebens“ anheim. Weses doppelte Unwissenheit zeigt sich darin, dass er sich zwar jedes metaphysischen Schutzes entsagt weiß, aber den Charakter seiner „Laune“ nicht versteht, die sich aus dieser vollkommen desakralisierten Verfasstheit seiner Existenz erst ergibt. Er sieht in der Natur nur die Gesetzmäßigkeit des jedem Transzendentalen entwundenen Lebens, ohne dessen immanente Kontingenz zu begreifen. Weses Schuld ist die Schuld eines schuldlosen Zeitalters. Dieses ist eigentlich das Zeitalter des Zuschauers. Auch hier überblickt dieser die Szene. Warum duldete das alles der private Pallas, der in der Nähe aus seinem Fenster im zweiten Stockwerk alles beobachtete? Ergründe die Menschennatur! Mit hochgeschlagenem Kragen, den Schlafrock um den weiten Leib gegürtet, kopfschüttelnd blickte er hinab. (KKAD 293)

Die Antwort auf die Frage, warum dieser „private“ Zuschauer die offensichtlich tödliche Absicht Schmars „duldet“, ist ein Ausruf, der eine ironische Apostrophe an den Leser darstellt: „Ergründe die Menschennatur!“ Ist damit gemeint, dass die „Menschennatur“ eben unergründlich, ja abgründig ist, und die Neugier dem Menschen von Natur aus mitgegeben ist und ihn genau so wie ihre virtuelle Unbegrenztheit konstituiert? Dann wäre aber Pallas’ Beobachten damit erklärt, dass er wegen dieser, auch seiner, abgründigen „Menschennatur“, diese gerade ergründen will, was ihn natürlich wieder auf sich selbst zurückweist: Eine Erklärung, die man ad infinitum weiterführen könnte. Dieser Satz erscheint jedoch mehr als eine rhetorische Formel, wie die ganze Erzählung als ein Klassiker-Zitat aus einem Text, den es nicht gibt. Konsequenterweise wird diese „Menschennatur“ denn auch von einem an die griechische Götterwelt gemahnenden, jedoch nicht eindeutig zu verortenden Namen repräsentiert. Pallas ist ursprünglich die Tochter des Flussgottes Tritons und wird versehentlich von Athene getötet, die daraufhin den Namen Pallas zu deren Gedächtnis annimmt. 131 Walter Benjamin: „Goethes Wahlverwandtschaften“, in: GS I, 1, S. 123–201, hier S. 139.

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Auch stiftet Athene zu Pallas Andenken das Palladion, ein heiliges Bild, das göttlichen Schutz verspricht. In Kafkas Erzählung ist dieser mythologische Bezug unsicher, vielmehr kann angenommen werden, dass die Alliteration mitverantwortlich für den Namen ist. Wie die alles überblickenden Götter auf dem Olymp, sitzt Pallas ohne einzugreifen erhöht „im zweiten Stockwerk“ und kann später sagen: „Schmar! Schmar! Alles bemerkt, nichts übersehen.“ Pallas bezeugt also den Mord, verhindert ihn aber nicht. Auf jeden Fall kommt von diesem Pallas kein Schutz. Obwohl er die Szene „kopfschüttelnd“ betrachtet und so sein Nicht-Einverstandensein gestisch kundtut, unternimmt er nichts, um Wese zu warnen. Seine Häuslichkeit, die man im „Schlafrock“ mithört, und sein Wohlstand, der im „weiten Leib“ angezeigt ist, verhindern ein Einschreiten – oder erklären sich umgekehrt gerade aus Pallas’ Status als bloßer Zuschauer. Trotz seiner Politik des Nichteingreifens scheint Pallas einem unbezwingbaren Drang unterworfen zu sein, das Unglück zu verfolgen, dafür wagt er sich sogar an die Grenze des Bereichs seiner Häuslichkeit: „Pallas beugt sich weit hervor; er darf nichts versäumen.“ (KKAD 293). Der Mord ist drastisch geschildert, auch der Leser versäumt nichts: „Wese!“ schreit Schmar, auf den Fußspitzen stehend, den Arm aufgereckt, das Messer scharf gesenkt, „Wese! vergeblich wartet Julia!“ Und rechts in den Hals und links in den Hals und drittens tief in den Bauch sticht Schmar. Wasserratten, aufgeschlitzt, geben einen ähnlichen Laut von sich wie Wese. „Getan“, sagt Schmar und wirft das Messer, den überflüssigen Ballast, gegen die nächste Hausfront. „Seligkeit des Mordes! Erleichterung, Beflügelung durch das Fließen des fremden Blutes! Wese, alter Nachtschatten, Freund, Bierbankgenosse, versickerst im dunklen Straßengrund. Warum bist du nicht einfach eine mit Blut gefüllte Blase, daß ich mich auf dich setzte und du verschwändest ganz und gar. Nicht alles wird erfüllt, nicht alle Blütenträume reiften, dein schwerer Rest liegt hier, schon unzugänglich jedem Tritt. Was soll die stumme Frage, die du damit stellst?“ (KKAD 294)

Der Name Julia könnte der Name von Weses Ehefrau sein, die schon verheißungsvoll – „den Fuchspelz über ihrem Nachthemd“ – auf ihren Mann wartet. Schmars Ausruf könnte aber ebenso gut einen literarischen Topos bedienen, etwa ein Zitat von Shakespeares Romeo und Julia darstellen. Das Zitat findet sich freilich nicht im Stück über die zwei Liebenden von Verona. Dafür scheint der Mörder implizit ein anderes, genau so berühmtes Shakespeare-Stück, nämlich den Hamlet zu zitieren,132 ein Drama, das bekanntlich im Kern ebenfalls von einem Brudermord handelt. Als Prinz Hamlet aus unkontrollierter Wut versehentlich den Kämmerer Polonius ersticht, meint er in der deutschen Übersetzung von Schlegel und Tieck: „Der Ratsherr da / Ist jetzt sehr still, geheim und

132 Vgl. Kraft: „Der Mensch ohne Schuld“, S. 27.

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ernst fürwahr, / Der sonst ein schelm’scher, alter Schwätzer war.“133 – „geheim und ernst“ liegt auch der tote Wese vor seinem Mörder. Der Körper verschwindet nicht, er verbirgt nichts, offenbart aber auch nichts. Das Kreatürliche lässt sich nicht überwinden, es ist einfach da und damit „unzugänglich jedem Tritt“, was doppelsinnig auf die Schmerzfreiheit des Toten, sowie auf die Unzugänglichkeit und die absolute Faktizität der Natur, auch der menschlichen Natur, durch den menschlichen Zugriff verweist. Der seltsame Vergleich mit den Wasserratten verdankt sich, wie schon einige Male angemerkt wurde,134 sehr wahrscheinlich Kafkas Erinnerung an „diese saftigen jüdischen Würste (wenigstens bei uns in Prag sind sie so üblich, sie sind rundlich wie Wasserratten)“, die „von allen Verwandten ringsherum aufgeschnitten werden (die gespannte Haut der Würste gibt beim Aufschneiden einen Klang, den ich noch von den Kinderzeiten im Ohr habe) [...].“135 Vor diesen Würsten und dem „Klang“ des Aufschneidens verspürt Kafka nicht etwa Ekel, er hat, wie er an Felice schreibt, „nicht den geringsten Widerwillen“, sondern verspürt „die Ruhe, die gänzlich neidlose Ruhe beim Anblick fremder Lust“136. Die Würste sind im Brudermord verschwunden und direkt zu den Wasserratten geworden, mit denen Kafka sie im Brief an Felice vergleicht. Doch verspürt Schmar genau diese „Lust“, indem er seinen Freund Wese mit Gewalt auf den tiergleichen Körper reduziert und ihn, eigentlich nicht wie eine Wasserratte, sondern wirklich wie eine Wurst aufschneidet. Wese wird nicht geopfert, sondern geschlachtet. Nicht umsonst gleicht die Waffe auch einem „Küchenmesser“. Sicherlich sind hier Vorstellungen im Spiel, die den zeitgenössischen Diskurs um das Schächten begleiten. Diese Implikationen des Textes hat ebenfalls Sander Gilman ausführlich dargestellt und es soll hier nicht mehr darauf eingegangen werden.137 Der Täter gleicht ganz dem antisemitischen Schreckbild des mordenden Juden: Das „Fließen des fremden Blutes“ verschafft dem Täter Lust, eine momentane „Erleichterung“ und „Beflügelung“. Die mit dem Töten verbundene Lust ist aber nicht bloß, wie dies Gilman andeutet, mit antisemitischen Vorstellungen verbunden, sondern steht für ein universales Phantasma des „Bluts“, nämlich die anthropologische „Genugtuung des Überlebens“, auf die Elias Canetti aufmerksam gemacht hat, „die eine Art von Lust ist“:138 „Denn jede 133 William Shakespeare: Hamlet. Prinz von Dänemark, in: ders.: Dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm von Schlegel und Ludwig Tieck, im Auftrag der deutschen Shakespeare-Gesellschaft hg. und mit Einleitungen versehen von Wilhelm Oechelhäuser, Stuttgart / Leipzig / Berlin / Wien 1891, S. 416-450, hier S. 438. 134 Vgl. Menninghaus: Ekel, S. 428; 135 Kafka: Briefe an Felice, S. 260. 136 Ebd. 137 Gilman: Kafka. The Jewish Patient, S. 134–156. 138 Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980, S. 271.

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Hinrichtung, für die er [=der Machthaber] verantwortlich ist, verleiht ihm etwas an Kraft. Es ist die Kraft des Überlebens, die er sich so verschafft.“139 Diese politischen, machttheoretischen Implikationen des Textes lassen sich durchaus auf die politischen Umstände der Zeit des Ersten Weltkriegs, der Deutschen Revolution übertragen, in der politische Morde üblich waren. Kafkas Beschreibung wiederholt sich denn auch in ihrer Drastik noch gesteigert im 1923 entstandenen ersten Roman Joseph Roths, der solche politischen Morde thematisiert, fast wortwörtlich. Dort wird auf Befehl des aufstrebenden Leutnants Theodor Lohse, Mitglied einer faschistischen Bewegung, ein Kollege ermordet. Der Mord erfolgt ebenfalls mit einem merkwürdig hybriden, archaisch anmutenden Instrument, mit einer „Beilpicke“: „Rot und steil, mit unendlich feinem Prasseln, schoß das lange gehemmte Blut aus Günthers Stirn hinauf in die Baumkronen, eine rote Schnur, und tropfte von den Tannen. [...] Unendliches rauschendes Rot umgab Theodor. […] Aus Theodors Innerem kam das rauschende Rot, es erfüllte ihn, schlug aus ihm, aber es machte ihn leicht […]. Es war wie ein leichter, roter Jubel, ein Triumph, der ihn hob, ein beschwingtes Rauschen, Tod der schweren Gedanken, Befreiung der verborgenen, begraben gewesenen Seele.“140 Auch in Kafkas Text scheint die grauenhafte Idee von der Selbstbefreiung, fast der Selbstaufhebung durch den Mord wirksam zu sein. Das andere Blut verschafft dem Mörder nämlich den Triumph des Überlebens. Das „Blut“ repräsentiert die Kraft, die vom Toten im Überleben auf den Mörder übergeht. Im Wort Überleben ist das Erhöhende angedeutet, das bei Roth als „roter Jubel“, „beschwingtes Rauschen“ und „Befreiung“ der begrabenen Seele bezeichnet wird; bei Kafka als „Seligkeit“, „Erleichterung“ und „Beflügelung“. Auch das Messer, das eben erst das Gravitationsfeld allen Empfindens bildete, ist zum „überflüssigen Ballast“ geworden, von dem sich der Mörder durch den Mord befreit. Doch die Lust ist nur von kurzer Dauer, das Phantasma erweist sich als hohl, denn „erfüllt“ wird „nicht alles“. In Goethes Gedicht Prometheus, das Kafka im Wort „Blütenträume“ offensichtlich ironisch zitiert, wird die Souveränität des Menschen gegenüber machtlosen Göttern besungen. Im Goetheschen Text spricht in mythologischer Rede verkleidet das poetische Subjekt der Moderne, das sich selbst in seiner Rede anspricht und dadurch aus sich selbst heraus begründet: „Wer half mir / Wider der Titanen Übermuth? / […] Hast du nicht alles selbst vollendet, / Heilig glühend Herz? / Und glühtest, jung und gut, / Betrogen, Rettungsdank / Dem Schlafenden da droben?“141 Auch Schmar 139 Ebd., S. 274. 140 Joseph Roth: Das Spinnennetz. Roman, München 2004, S. 44–45. 141 Johann Wolfgang Goethe: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 2. Band: Gedichte. Zweiter Theil, Weimar 1888, S. 77.

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„glüht“, wie es im Text heißt, er „glüht“ jedoch nicht für einen Gott, sei es auch ein schlafender, sondern nur für sich selbst. Schmar hat wie Goethes Genie „alles selbst vollendet“, wie sein Ausruf „Getan!“ bezeugt. Dieses Subjekt ist aber kein schaffendes, idealistisches Subjekt, das „Menschen / nach meinem Bilde“ formt, sondern ein destruktiver Existentialist, dessen „Blütenträume“ gleich Blutträume sind. Wie Camus’ Mersault tötet Schmar seinen Nachbarn ohne ersichtlichen Grund, vielleicht nur um ihn sterben zu sehen. Nur zu überleben ist ihm aber nicht genug, er will auch verstehen. Er scheint noch auf irgendein Einsehen oder auf ein Verständnis zu hoffen, das sich nicht einstellt. Dabei ist sein Mord äußerlich nicht folgenlos. Die Justiz ahndet das Verbrechen und Schmar wird, wie es im letzten Satz der Erzählung lakonisch heißt, „mit Mühe die letzte Übelkeit verbeißend, den Mund an die Schulter eines Schutzmannes gedrückt“ (KKAD 295) weggeführt. Doch dieses Ende gehört lediglich zur gesellschaftlichen Konvention, die das Töten irgendwann unter Strafe gestellt hat. Die Verhaftung folgt nur einer Mechanik der Oberfläche und bleibt sinnlos, sie ist isoliert und als Vorgang innerlich nicht mit der Mordtat verbunden. Einen Sinn im Ganzen findet nur Pallas, der sich im Zusehen vollkommen erschöpft. Die Tat selbst bleibt für den Mörder sinnlos: „Pallas befriedigt’s, Schmar kommt zu keinem Ende.“ (ebd.). Für Werner Kraft stellt die Erzählung die Frage, ob es Schuld im Sinn einer metaphysischen Entität gibt oder ob es sich dabei nur um eine soziale Fiktion handelt: „Ist die Existenz des Mörders jenseits seiner geschehenen Tat möglich? Ist die Schuld, die Schmar eskamotieren möchte, falls er sich auf den Toten setzen könnte, etwas von den Menschen zu ihrem Schutz Erfundenes, dem der starke Einzelne sich entzöge, oder ist sie ursprünglich da und wirksam, auch ohne jede rächende und strafende Instanz?“142 Wenn ich seine Überlegungen richtig verstehe, möchte Kraft einen Mittelweg zur Beantwortung dieser Fragen einschlagen. Die Schuld ist weder „ursprünglich da“, noch ist sie nur „Erfundenes“, sondern steigt unter dem Blick des Beobachters „heimlich“143 im Mörder auf. Nicht die Justiz, sondern die im intersubjektiven Verhältnis selbst als Schuld anerkannte Schuld, ist dann die Schmar richtende. Damit liest Kraft mit einem unerklärlichen Optimismus. Schmar erblickt im Blick des Beobachters gerade nichts, was seine Schuld bestätigen würde, sondern bloß die Erschöpfung des Zuschauers und damit das Spiegelbild seiner eigenen, sinnlosen Tat: „Schmar kommt zu keinem Ende.“ Beobachter und Mörder erkennen sich im Mord nicht, der kein Opfer (im Sinn von sacrificium) war, sie werden nicht zur Gemeinschaft. Das andere Blut stiftet keinen Sinn und schon gar kein Gericht. Wenn es heißt, dass das Blut „im 142 Kraft: „Der Mensch ohne Schuld“, S. 28. 143 Ebd.

„die stumme Frage“ oder was vom „Blut“ übrigbleibt

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dunklen Straßengrund“ versickert, dann heißt das auch, dass dieses „Blut“ nicht die Schuld des Mörders gegen den Himmel schreit. Das „Blut“ spricht nicht mehr, ruft nicht mehr vom Erdboden zum Gottesgericht, auch nicht säkularisiert zu einem „heimlich“ in den Mörder selbst verlegten. „Blut“ lässt sich nicht mehr metonymisch oder metaphorisch mit Sinn versehen und deuten, es ist kein Zeichen, das eine außer ihm liegende Bedeutung vermittelt und kein Opfer für irgend einen Zweck, sondern verschwindet in einem dunkel gewordenen, unauslotbaren Grund. „Sobald das phantasmatische System zerfällt“ so führt Slavoj Žižek in anderem Zusammenhang aus, „erleidet das Subjekt einen ‚Wirklichkeitsverlust‘ und beginnt, die Wirklichkeit als ein ‚irreales‘, alptraumartiges Universum ohne ontologische Begründung wahrzunehmen […].“144 Dieser Vorgang wird in Kafkas Text anhand des Phantasmas des anderen Bluts geschildert. Nach dem Mord sieht sich Schmar dem gegenüber, „was von der Wirklichkeit übrigbleibt, nachdem diese ihrer Stützung durch die Phantasie beraubt worden ist.“145 Schmar steht vor dem, was vom „Blut“ übrigbleibt. Der Mensch ist nicht nur „eine mit Blut gefüllte Blase“, wie Schmar angesichts der Leiche erfährt. Der „Rest“, vor dem er nach seiner Tat steht, ist eine „stumme Frage“, ein Fragezeichen, zu dem die Frage fehlt, ein Abdruck dessen, was nach der Verabschiedung der Idee des Menschlichen am Menschen fehlt. Im bloßen, tötbaren Leben stößt der Mörder auf dieses Fehlen, die Unverfügbarkeit des Wirklichen. Der tote Körper stellt ein Rätsel dar, das nicht gelöst werden kann, weil Schmar nicht einmal mehr weiß, wonach er fragt. „Wo ist dein Bruder Abel?“ fragt Gott. Kains Gegenfrage lautet: „Bin ich meines Bruders Hüter?“ Wenn der Name Schmar vielleicht auf das hebräische Wort schomer, also Hüter, verweist, dann wäre der Mörder genau dieser zynische Hüter, der davon jedoch nichts weiß. Die dazugehörige Frage, auf die er sich als diesen ausweisen könnte, ist stumm geworden. Kain weiß nicht mehr, dass er Kain ist, und er erfährt es auch nicht aus der Tat, die ihn dazu machen sollte. Mit dem „Blut“ sind auch die Frage Gottes und die dazu gehörige Schuld verschwunden. Obwohl er in einem juristischen Sinn schuldig ist, macht sich der Mörder dieser Erzählung in einem metaphysischen Sinn nicht mehr schuldig. Im Gegensatz zum schuldlos schuldigen Opfer ist er schuldig schuldlos geworden. Zurück bleibt nur ein fragwürdiger „Rest“, ein Fragezeichen ohne dazugehörige Frage. „Der Rest ist Schweigen“,146 lauten Hamlets letzte Worte nach einer der blutigsten Schlachtorgien der Weltliteratur. Sie gelten auch für den die Zähne zusammenbeißenden Schmar.

144 Slavoj Žižek: Die Pest der Phantasmen. Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien, aus dem Englischen von Andreas Leopold Hofbauer, Wien 1997, S. 79. 145 Ebd. 146 Shakespeare: Hamlet, S. 450.

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Unverändert jedoch besteht der Schmerz von Weses Frau, er wird durch die hier beschriebene, moderne Dialektik der Schuld nicht aufgehoben. Der Schmerz ist der gleiche urtümliche Schmerz, den schon die Mutter Kains und Abels empfindet, und den Kafkas zeitweilige Hebräischlernpartnerin Irma Singer in einem Gedichtband beschrieben hat, den ich bereits in der Einleitung zitiert habe. „Schrie’s wie ein Tier, was sie ihm abgelesen: / Dass ihn in Erde wandelte der Tod!“147 Der dort geschilderte Schrecken hat auch Frau Wese ergriffen, wenn sie auch ganz modern von einer „Volksmenge“ begleitet wird. Frau Wese mit einer Volksmenge zu ihren beiden Seiten eilt mit vor Schrecken ganz gealtertem Gesicht herbei. Der Pelz öffnet sich, sie stürzt über Wese, der nachthemdbekleidete Körper gehört ihm, der über dem Ehepaar sich wie der Rasen eines Grabes schließende Pelz gehört der Menge. (KKAD 295)

Wese ist von seiner täglichen Reise, die ihn von seiner Frau ins „Bureau“ und wieder zurück bringt, auf halber Strecke liegen geblieben. Seine Frau, die auf ihn gewartet hat, muss selber aufbrechen. Liebe und Treue bestehen über den Tod hinaus. Doch der Gang in das Totenreich verwandelt auch die Frau, hat sie alt werden lassen. Der „nachthemdbekleidete Körper“ ist nicht mehr in erster Linie sexuell konnotiert, er „gehört ihm“ in der Intimität der Trauer und nicht der Lust. Auch der Pelz hat seine Bedeutung gewechselt. Er steht nun nicht mehr für den Reichtum, die eheliche Wärme und die darin stattfindende Sexualität, sondern ist unheimlich geworden, als würde er wieder an das tote Tier erinnern, das er eigentlich ist. „[W]ie der Rasen eines Grabes“ trennt er die anonyme Menge vom Toten und der Frau, die durch diese Metapher wie mitgestorben erscheint, einer archetypischen Gemeinschaft des Todes anheimgegeben. Es ist ihre Trauer, die zeigt, dass die irrlichternde Vision von einer Erlösung im „Fließen des fremden Blutes“ in Wahrheit eine schreckliche Dummheit ist. Das „Blut“ bezeugt nichts außer den Schmerz.

147 Vgl. in dieser Studie 1.1..

VI.  „That was his story, bad blood“ – Schlusswort

Keine Angst: Im Himmel gibt es kein Blut. Natürlich nicht, fiel mir später ein. Die Engel sind ja keine Warmblüter wie wir, und Gott erst recht nicht. Andererseits, wenn er uns schon nach seinem Ebenbild geschaffen hat, dann sollte er auch bluten können, nicht wahr? Die Frage stellte ich meinem Spiegelbild im Fenster, aber das Bild schweigt, das Fenster gibt keinen Ton von sich, die Nacht ist still.*

Das Ende des deutsch-jüdischen Schreibens durch die Enteignungs-, Vertreibungs- und schließlich die Vernichtungspolitik Deutschlands zwischen 1933 und 1945 bedeutet glücklicherweise nicht das Ende der jüdischen Kultur. Die unvorhersehbare Ungeheuerlichkeit dessen, was geschah, hat aber auch die literarische Rede vom Blut in deutscher Sprache nachhaltig verändert. „Blut“ bezeichnet nun jene Wahnvorstellung, die zum millionenfachen Mord geführt hat. „Blut“ meint nun das, was man Holocaust, Shoah oder den Genozid an den europäischen Juden nennt. Damit und mit der Gründung des Staates Israel, der sich bald selbst in blutige Konflikte verwickelte, und mit neuen medizinischen Entdeckungen und Technologien – unter anderem beschrieben James Watson und Francis Crick 1953 die Struktur der DNS und wiesen diese, und nicht etwa das „Blut“, als Träger der Erbsubstanz aus – haben sich die Bedingungen einer Rede vom Blut grundlegend verändert. Deshalb muss eine Untersuchung zur Rede vom Blut im deutsch-jüdischen Schreiben hier eine Grenze ziehen. Dieser Diskurs ist nicht abgeschlossen, aber am Ende. Die Ambivalenz, die dem „Blut“ immer zukam, hat sich scheinbar endgültig entschieden zugunsten jener negativen Bedeutung des sinnlosen Todes und des Schmerzes. In Parolen wie „Kein Blut für Öl!“ oder an der heilsgeschichtlich aufgeladenen Werbung für das Blutspenden („Blut spenden! Leben retten!“) freilich zeigt sich, dass insgeheim an der Vorstellung von der Kostbarkeit und Bedeutung des „Bluts“ festgehalten wird. Dies zu untersuchen aber ist nicht das Ziel dieser Studie. Was ebenfalls ganz anderen, zukünftigen Studien vorbehalten bleibt, ist die Untersuchung der Rede vom Blut im Zeitalter von HIV und AIDS, eine reale Bedrohung, die dem „Blut“ global eine traurige Aktualität verleiht. *

David Albahari: Die Ohrfeige. Roman, aus dem Serbischern übertragen von Mirjiana und Klaus Wittmann, Frankfurt a. M. 2007, S. 366.

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„That was his story, bad blood“ – Schlusswort

Hier wollte ich lediglich anhand von Modellstudien jenen kurzen Zeitraum analysieren, in dem sich die deutschen Juden fruchtbar an der deutschen Literatur beteiligten, und sich dabei auch in ganz eigener und anderer Weise (manchmal auch in ganz gleicher Weise) an der Rede vom Blut beteiligen, die in diesem Zeitraum besondere Konjunktur hat. Dass sich diese Rede schließlich gegen sie selbst kehren sollte, konnten die untersuchten Autoren nicht wissen. Heinrich Heine reiht sich über christologische Blutmetaphern in die deutsche Literatur der Romantik ein, nur um später gerade die Blutsymbolik der jüdischen Tradition und der jüdischen Texte transformiert gegen christlich codierte Ausschlussmechanismen der Romantik aufzubieten. Damit kritisiert und parodiert er schließlich die politische Transformation des Theologischen im „Blut“. Für den radikalen, poetischen Einzelgänger Heine ist die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende Vorstellung einer „Blutsgemeinschaft“ oder eines anderen Bluts lächerlich, doch einige Jahrzehnte später verlässt sich der Zionismus, der sich an verschiedenen Stellen explizit – meist indem seine Ironie ausgeschaltet wird – auf Heine bezieht, ganz auf eine Rhetorik des anderen Bluts. Vor allem der so genannte Kulturzionismus unter seinem Inspirator Martin Buber erkennt in der Blackbox des Bluts nun alles das, was Eigenes und Eigentliches sein sollte. Dabei lässt sich beobachten, dass gerade die semantische Unbestimmtheit des „Bluts“ die Bedeutungsfülle der damit beschworenen Gemeinschaft garantiert. Auch für den Erneuerer der jüdischen Erziehung und großen deutsch-jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig, ist das „Blut“ zentral für seine Vorstellung der jüdischen Gemeinschaft jenseits der Moderne. Im Unterschied zum Zionismus geht er jedoch davon aus, dass die „Blutsgemeinschaft“ einer sprachlich verfassten, letztlich in der Offenbarung begründeten, Aktualisierung bedarf: die Möglichkeit der Kommunikation. Es ist Franz Kafka, der diese Möglichkeit mit der ihm eigenen Radikalität durchstreicht. Auch bei Kafka werden im „Blut“ immer Zugehörigkeit und Gemeinschaft, Ausschluss und Gewalt verhandelt. Die der Rede vom Blut konstitutive Ambivalenz ist dort aber konsequent. Es gilt immer beides, beides jedoch immer negativ: Die Unmöglichkeit der Zugehörigkeit und die Unmöglichkeit der Einsamkeit. Von Möglichkeiten des „Bluts“ ist bei Kafka keine Rede mehr. Selbstverständlich hat dieser Gang durch das deutsch-jüdische Schreiben einiges, vermutlich vieles ausgelassen. An erster Stelle fehlt ein Kapitel zu Else Lasker-Schüler, sicher eine der größten deutschen Dichterinnen und eine bedeutende jüdische Autorin. Vor allem in der Lyrik Lasker-Schülers, wohl aber auch in den anderen literarischen Schriften, ist das „Blut“ im Zusammenhang mit jüdischer Identität nicht zu übersehen. Zu verweisen ist insbesondere auf ihr berühmtes Gedicht Mein Volk, in dem es heißt: „Hab mich abgeströmt, von meines Blutes Mostvergorenheit.“ In einer Untersuchung dieses Gedichts und

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anderer Texte wäre vielleicht eine spezifisch weibliche Perspektive auf die hier untersuchte Problematik zu entdecken, sicher würden aber noch mehr wertvolle Einzelbeobachtungen und Indizien zusammenkommen, die die Konstruktion von Gemeinschaft in der Rede vom Blut erhellten. Auch bei anderen deutschjüdischen Autorinnen und Autoren könnte dieser Rede noch gewinnbringend nachgegangen werden. Doch geht es hier nicht um eine illusionäre Vollständigkeit deutsch-jüdischen Schreibens, sondern darum, sich in Modellstudien auf dessen Horizont zu zubewegen. Meiner Meinung nach ist der Gewinn größer, wenn hier statt auf Lücken zurückzublicken, diesen Horizont überschreitend nach Perspektiven dieser Studie gefragt wird. Wie geht es weiter? Was passiert mit der Rede vom Blut im jüdischen Schreiben nach der Shoah? Grundsätzlich scheint es mir drei historische Möglichkeiten des Weiterschreibens zu geben. Erstens verlagert sich jüdisches Schreiben in die hebräische Sprache und wird dort zur hebräischen Literatur, die seit dem 19. Jahrhundert aus dem biblisch-rabbinischen Idiom als moderne Literatursprache weiterentwickelt wird. Aus dieser Bewegung resultiert das, was heute als israelische Literatur Welterfolge feiert. Zweitens gibt es ein Weiterschreiben in den alten europäischen Sprachen, so auch auf Deutsch. Diese Möglichkeit ist oft die einzige, die den mit ihrer Sprache innig verbundenen Emigranten oder den Überlebenden der Shoah blieb. Das Schreiben auf Deutsch wird dadurch in einzelnen Fällen gerade zum paradoxen Inhalt dieses Schreibens. Die dritte Möglichkeit bietet die amerikanische Literatur in den USA. In dieser entwickelt sich vor allem nach 1945 eine neue Vielfalt jüdischen Schreibens, das sich fast immer auf die europäischen Traditionen und den israelischen Staat mit der dort lebenden und schreibenden jüdischen Gemeinschaft bezieht. Es ist in hohem Maß die amerikanische Literatur, in der heute an die Komplexität und an die ambitioniertesten Projekte deutsch-jüdischen Schreibens angeknüpft wird. Um diese Studie abzuschließen, soll hier für jede dieser drei Möglichkeiten ein Beispiel gegeben werden, an dem ersichtlich ist, wie mit der Rede vom Blut nach der Shoah jeweils umgegangen wird. 1. Als ersten Text möchte ich Schmuel Josef Agnons Erzählung Die Dame und der Hausierer [Ha adonit v’ha rochel] anführen. Sie ist 1942 in Palästina entstanden, also genau im Augenblick des Endes eines Judentums in Deutschland, über dessen Umstände und Ausmaße der Autor noch nicht genau Bescheid wissen konnte. Wie in einem Märchen spielt die Erzählung in „einer Waldlichtung abseits bewohnter Ortschaften“1. Josef, ein jüdischer Hausierer, versucht, einer 1 Ich zitiere die Erzählung hier nach der Übersetzung: S. J. Agnon: „Die Dame und der Hausierer“, in: ders.: Liebe und Trennung. Erzählungen, aus dem Hebräischen von Gerold Necker, Frankfurt a. M. 1996, S. 105–120, hier S. 105. Mein herzlicher Dank geht an Prof. Dr. Anat

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jungen Witwe, die dort allein lebt, „seine Schätze“2 zu verkaufen. Nach längerer Überzeugungsarbeit kauft sie schließlich ein Messer – dieses Messer findet sich nicht in der Aufzählung der Verkaufsgegenstände, nur die Frau sieht es. Doch der Hausierer ignoriert das ungute Vorzeichen. Weil er sich verirrt hat, übernachtet er im Stall des Hauses, bleibt durch ein Unwetter aufgehalten noch einige Tage länger auf dem Anwesen, führt kleinere Reparaturen aus und bemerkt schließlich, warm und satt, die erotische Anziehungskraft der Frau. Er verführt sie oder lässt sich von ihr verführen. „Ein Monat verging, zwei Monate, bis er zu vergessen begann, dass er ein armer Hausierer war und sie eine Dame. Und sie vergaß, dass er ein Jude war und alles andere auch.“3 Der Ewige Jude wird vergesslich und will bis auf weiteres sesshaft werden, obwohl in dem Haus mit seinen Geweihen an den Wänden, von denen „ein Geruch wie von lebendem Fleisch“4 ausgeht, eine mehr als morbide Atmosphäre herrscht. Helene, so heißt die schöne Hausherrin, ist von einem Geheimnis umgeben. Wie in der biblischen Erzählung von der Frau Potiphars geht von dieser Frau eine sexuell konnotierte Bedrohung für Josef aus. Nicht nur sind ihre vorherigen Männer unter unbekannten Umständen zu Tode gekommen, auch verzichtet sie auf jegliches Essen. Sie behauptet: „Menschliches Blut trinke ich und Menschenfleisch esse ich.“5 Josef meint zuerst, dass es sich um „poetische Worte“ handeln würde, muss jedoch bald deren Realitätsgehalt erkennen. Helene kommt in der Nacht an sein Bett und will ihn mit dem von ihm gekauften Messer umbringen. Josef aber, durch verschiedenen Anzeichen gewarnt, hat sich nach draußen begeben um das Schma Israel, das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis, zu beten. Aus dem Zimmer vertreibt ihn ein störendes Kruzifix, aus dessen Bann er sich jedoch nicht befreien kann. Auch draußen steht, zuerst nicht erkannt, ein Kreuz. Der Moment des Betens ist ein Moment der Umkehr: Es war eine Winternacht. Die Erde war schneebedeckt und der Himmel bedeckt und trübe. Er schaute nach oben und er sah keinen Funken Licht, er blickte nach unten und konnte nicht einmal seine Füße erkennen. Plötzlich kam er sich vor wie ein Gefangener auf einer Waldlichtung, mit all diesem Schnee […]. Er zog die Füße aus dem Schnee und begann zu laufen. Er trat auf das Steinkreuz, das aus dem Schnee ragte. „Mein Vater im Himmel“, schrie Josef, „wie weit bin ich abgekommen. Wenn ich nicht sofort umkehre, bin ich verloren.“6

2 3 4 5 6

Feinberg (Heidelberg), die mir nicht nur einige Stellen des hebräischen Originals erläuterte, sondern mich erst auf diesen Text aufmerksam machte. Ebd. Ebd., S. 110–111. Ebd., S. 108. Ebd., S. 111. Ebd., S. 118.

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Weder die Sterne als Zeichen der verheißenen Erlösung, noch die Füße, die auf der Erde stehen, sind zu erkennen. Josef ist ein grund-los „Gefangener“ auf einer Waldlichtung, sein einziger Fixpunkt im Schnee ist ein Kreuz. Daran erkennt Josef, „wie weit“ er „abgekommen“ ist, was verstärkt durch die Anrufung des vergessenen Gottes als Entdeckung des eigenen Fremd-Seins verstanden werden muss. Daraus schließt Josef auf die Notwendigkeit der Umkehr, was als teschuwah, einer zentralen theologischen Kategorie des Judentums wie auch deren zionistische Aktualisierung, gelesen werden kann.7 Tatsächlich rettet ihn das Gebet, denn Helene durchlöchert unterdessen mit dem Messer sein Bett, verwundet jedoch dadurch sich selbst tödlich. Noch im Sterben wird sie von Josef gepflegt, der sie schließlich in einen Sarg legt und, da der Boden gefroren ist, auf dem Dach des Hauses bestattet. Um Mord geht es im Text an verschiedenen Stellen, auch um den, der die abendländische Imagination wie kein anderer beschäftigt: „Mein Liebster, glaubst du an Gott?“ Er seufzte und sprach: „Ist es denn möglich, nicht an Gott zu glauben?“ „Du bist doch Jude?“ „Ja“, sagte er und seufzte, „ich bin Jude.“ Da sagte sie: „Die Juden glauben doch gar nicht an Gott, wenn sie nämlich an ihn geglaubt hätten, hätten sie ihn nicht umgebracht.“8

Die Antwort auf die Gretchenfrage, ob Josef an Gott glaube, ist zunächst eine Gegenfrage, die Frage nämlich, ob „es denn möglich“ sei, „nicht an Gott zu glauben?“ Doch die Hausherrin lässt sich nicht auf theologische Diskussionen ein, sondern geht bereits vom dogmatischen Verständnis des christlichen Gottes aus. Ihre Fragen zielen bloß auf die Versicherung der jüdischen Identität ihres Gegenübers, in der sie eine unüberwindbare Schuld ortet, die Schuld am Christusmord, den die Gläubigen im Ritual der Eucharistie nachvollziehen müssen. Durch die „poetischen Worte“ des Priesters verwandelt sich der Wein in das Blut Christi, ein Vorgang, dessen Unglaubwürdigkeit sich im kannibalistischen Begehren Helenes auf groteske Weise spiegelt. Die Bestätigung „[…] ich bin Jude‘“ bedeutet für die Christin a priori schon die Identität mit dem geldgierigen Verräter Judas. So heißt es am Anfang der Geschichte: „Sie sah ein Jagdmesser. Sie gab ihm sein Geld und kehrte ins Haus zurück. Er schulterte seinen Tragekorb und ging fort.“9 Im Original steht hier für „Geld“ das Wort „damim“, was im biblischen und talmudischen Kontext, aus dem Agnon sein Vokabular bezieht, Geld heißt, jedoch der Plural von dam ist, das Wort für Blut. Geld, das „der Jude“ nimmt, ist also immer schon Blutgeld – Shylocks Dukaten bedeuten christliches Blut. Mit dem Handel liefert er seine eigene Mordwaffe, er liefert sich bereits an jene Dialektik aus, die sich zur Versicherung der Wir7 Vgl. Harold Fisch: „Alienation: An ideological basis for return [Teshuva]“, in: Jewish Life 3, 4 (1978/1980), S. 11–23. 8 Agnon: „Die Dame und der Hausierer“, S. 114. 9 Ebd., S. 105.

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kung des Bluts Christi den Juden schlachtet. Jüdisches Blut ist „Blut“, das nicht am erlösenden Kreislauf des Blutes Christi angeschlossen ist und gerade deshalb fließen muss. Das zeigt sich in einem Albtraum Josefs, welcher die Phantasmen der Ritualmordlüge und die Figuration Shylocks umkehrt: „Sie bohrte ihre Zähne in seinen Hals. Blut strömte aus seinem Hals, und sie schlürfte sein Blut.“10 Zwar kann sich der jüdische Hausierer diesem Schicksal entziehen. Doch Agnons Text ist unergründlich. Der anfängliche Handel spielt nicht nur auf die Geschichte von Christi Verrat an, sondern auch auf die Josef-Erzählung in Genesis 37, wo der junge Josef von seinen Brüdern für 20 Silbermünzen an eine Karawane verkauft wird, die ihn als Sklave nach Ägypten bringt. Wie der biblische Josef hat auch dieser symbolisch überfrachtete Träume und wie jener wird er nicht getötet, sondern kommt in die Fremde. Im Unterschied zum biblischen Josef zieht der Josef Agnons aber weiter, er bleibt fremd. Der letzte Satz der Erzählung heißt: „Und jener Hausierer nahm seinen Tragekorb und wanderte von Ort zu Ort, um seine Ware feilzubieten.“11 In der Verbindung des Blutmotivs mit dem Geld, dem Glauben, der Sexualität und der Fremdheit bemüht Agnon noch einmal jenen Diskurs, der die deutsch-jüdische Literatur seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in ihrem Innersten faszinierte. 2. Unter den deutschsprachigen jüdischen Autoren unmittelbar nach 1945 ist Paul Celan wohl der bekannteste. Der vielleicht unbekannteste Autor aber ist Soma Morgenstern. Morgenstern ist als Kind einer chassidischen Familie 1890 in Ostgalizien geboren, studiert in Wien und arbeitet später als Journalist, als Verfasser von Reiseberichten und Feuilletons, bei der Frankfurter Zeitung. Aus dem Pariser Exil kann er sich nach einer abenteuerlichen Flucht durch Frankreich über Nordafrika und Portugal nach New York retten. Sein nach 1945 entstandener Roman Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth ist nicht weniger als Celans Schreiben einer existentiellen Krise und einer tiefen Sprachskepsis – einer „Sprachlosigkeit“ und einer „Schreiblähmung“ – abgerungen. 12 Während aber Celan von Paris aus die Sprache durch eine radikale Moderne führt, das Unsagbare im Scheitern der Sprache anzeigend, versucht Morgenstern von New York aus gerade das Gegenteil. Doch auch sein Werk kann als poetologische Erkundung der Möglichkeiten des Schreibens in deutscher Sprache nach der Shoah gelesen werden. Jüdisch-Sein und jüdische Erfahrung sind für Morgenstern aber im Unterschied zu Celan nicht ohne Tradition und Religion, letztlich nicht ohne Gott denkbar. So stellt Die Blutsäule dar, wie die Tradition 10 Ebd., S. 117. 11 Ebd., S. 120. 12 Vgl. den „Motivenbericht zu diesem Buch“, in: Soma Morgenstern: Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth, hg. und mit einem Nachwort versehen von Ingolf Schulte, Lüneburg 1997, S. 7–16.

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auf die Katastrophe reagiert ohne unzugänglich zu werden. Das Experiment von Morgensterns Romans ist es, von der Shoah mit der Sprache eines Menschen zu erzählen, der sein ganzes Leben lang nur die Bibel gelesen hat. Das Buch spielt beim Einmarsch der sowjetischen Truppen in einem Ort Ostgaliziens, es könnte sich um die Stadt Tarnopol handeln, in deren Nähe Morgenstern geboren wurde. Von den ursprünglich 26000 Juden der Stadt sind bis auf eine Handvoll alle ermordet worden. In der geschändeten und zeitweise von der SS als Bordell missbrauchten Synagoge versammeln sich unter der Anweisung eines mit übersinnlichen Kräften begabten „Boten“ Menschen verschiedener Herkunft, drei Zöllner, eine versprengte Abteilung der SS, ein katholischer Kaplan und ein griechisch-orthodoxer Priester, überlebende Juden und Soldaten der roten Armee. Symbolisch wird in dieser Versammlung über die Untaten der Nazis und ihrer Helfer Gericht gehalten. Dabei erweist sich, dass das Judentum in seiner Essenz unverändert durch die Katastrophe ging und in sich stärker ist als die sinnlose Vernichtung von außen. Das Buch endet damit, dass ein jüdischer Junge, der unter den grausamsten Umständen seinen Zwillingsbruder verliert, den Kaddisch sagt „mit der kleinen, einfachen Melodie für die Wochentage.“13 Der letzte, in Versalien und abgesetzt geschriebene Satz des Buches ist ein Zitat aus dem Trauergebet, nicht auf Deutsch, sondern auf Hebräisch (jedoch in deutscher Umschrift): „JISGADAL W’JISKADASCH SCH’MEJ RABBA.“14 (=  Erhoben und geheiligt werde sein großer Name). Das Überleben geschieht nicht trotz der Feinde, sondern für das Leben selbst und zum Lob Gottes. Die Toten dagegen sind nicht wegen ihrer Sünden um Gottes Willen ermordet worden. Die Täter haben keinen göttlichen Willen vollstreckt, ihre Taten haben auch in Morgensterns Perspektive an sich keinen Sinn. Doch müssen für die Überlebenden die Leiden als Geburtswehen der Erlösung gelten. Explizit verkündet der „Bote“ mit einer Stimme wie „klingendes Licht“ den Beginn der Ge’ula, der Erlösung.15 Denn steht der überlebende Zwillingsbruder für die Erlösung Israels, steht der getötete für die Möglichkeit eines Endes des Exils im Zusammenleben mit den anderen Völkern. Sein Potential war das des wiederkehrenden Christus: Die Erlösung der Völker. Um diese Erlösung haben sich die Völker jedoch selbst gebracht, als sie, in den Worten des im Roman als „Fettwanst“ auftretenden Hermann Göring „von dem Blut des Erlösers Seife“16 gemacht haben. Tatsächlich haben die Nazis aus dem ermordeten Knaben eine Seifenstatue herstellen lassen. Es ist diese Ungeheuerlichkeit, die für Morgenstern der Shoah nicht einen Sinn, aber die Bedeutung als theologische Wasserscheide verleiht. Als 13 14 15 16

Morgenstern: Die Blutsäule, S. 162. Ebd., S. 163. Ebd., S. 144–145. Ebd., S. 119.

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Möglichkeit der Erlösung verbleibt jetzt nur noch Eretz Israel: „Wir werden die gerettete Tora [...] vom Richtertisch nehmen und so lange wandern, bis wir das Heilige Land, das Land Israels, unser Land, erreichen. Kommenden Jahres in Jerusalem!“17 Das Signal dieser Wanderung ist die „Blutsäule“, ein Wort mit verschiedenen Bedeutungen. Erstens bezieht es sich auf die biblische Prophezeiung in Joel 3, 3: „Und ich lasse Zeichen am Himmel und auf Erden erscheinen, Blut und Feuer und Dampfwirbel.“ (nach Zunz). Zweitens bezeichnet es die Gestalt des ermordeten Zwillingsbruders, die metonymisch für die sechs Millionen Toten steht. Wie die Rauchsäule beim Auszug aus Ägypten soll dieser die Juden aus dem Exil führen – die nichtjüdischen Europäer haben aber wie Pharao ihre Chance auf Erlösung vertan. Die „Blutsäule“ ist also das Zeichen einer Gemeinschaft von Übriggebliebenen, eines messianischen Rests, der sich in diesem Zeichen sammelt. Drittens bezeichnet „die Blutsäule“ das ganze Ausmaß der Schuld Europas, „einer Blutbesudelung so übervoll an Blut, dass die Erde es nicht austrinken kann und, erstickend an dem Übermaß von Blut, zum Himmel schreit – ungehört von den Tätern, ungehört von den Helfershelfern, ungehört von den Zeugen, gehört nur von den Opfern und erhört im Himmel!“18 Wie der Kaplan feststellt, spricht dieser Kläger „in der Sprache der Schrift“19. Weniger um Rache geht es dieser Rede, weniger um Anklage, als um Klage. Morgensterns Schreiben will keine Kontinuität von Schreiben und Tradition, die unmöglich wäre, sondern beharrt auf der Gültigkeit und der Möglichkeit einer Klage vor Gott angesichts der radikalen Traditions- und Gottlosigkeit der Mörder und ihrer Zuschauer. Klage, Gottlosigkeit und Gottvertrauen haben dabei gleichermaßen ihre Insignie im Wort „Blut“. Im Nachwort stellt der Herausgeber Morgensterns fest: „Das Wort ‚Blut‘ durchzieht die Blutsäule in unterschiedlichsten Varianten. So ist die Rede etwa von den ‚deutschen Blutspielen‘, vom ‚blutbesoffenen Panzerheer der Deutschen‘ und ihrem ‚blutbeladenen Land‘, von der ‚Bluternte‘ in Europa; aus einem ‚blutjungen Anführer‘ der SS wird gleich darauf doppeldeutig der ‚Blutjunge‘; und in der sarkastischen, auf die SS gemünzten Wortschöpfung ‚blutgemütlich‘ begegnet man schließlich ungeschminkter Polemik.“20 Ich weiß nicht, ob man von „Polemik“ sprechen kann, denn gerade Morgensterns Wort „blutgemütlich“ ist eine äußerst präzise Charakterisierung des Nationalsozialismus’. In dessen Ideologie entspricht das „Gemüt“ dem „Blut“, die jeweils nur die verschiedenen Namen einer „dem Juden“ nicht zu 17 18 19 20

Ebd., S. 141. Ebd., S. 52. Ebd. Ingolf Schulte: „Nachwort des Herausgebers“, in: Morgenstern: Die Blutsäule, S. 175–193, hier S. 184.

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erreichenden Innerlichkeit sind, eine Innerlichkeit, die sich allerdings vor allem in Blutorgien manifestiert. Die Beobachtung, dass das „Blut“ das Leitmotiv des Textes bildet, ist jedoch berechtigt. Morgensterns Deutsch ist geradezu ein Blutdeutsch. Die alte Kultursprache der osteuropäischen Juden, die einzige Sprache, in der diese Klage formuliert zu werden vermag, hat sich mit „Blut“ aufgeladen. Der Roman spielt an verschiedener Stelle auf die Geschichte von Kain und Abel an. Obwohl die Erde „übervoll an Blut“ ist, wird es dennoch von Gott „erhört“. Es ist diese Gewissheit, die die Überlebenden ihr Leben noch als „Zeichen“ und „Wunder“ begreifen lässt. Im Gespräch mit Abraham Joshua Heschel hat Morgenstern, wie er selbst erzählt, diesen gefragt, ob er sich „die große und gewagte Mühe“ machen solle, das Buch ins Hebräische zu übersetzen, oder ob es im deutschen Original erscheinen sollte. Heschels Antwort ist deutlich: „Vielleicht war ihr Weg von einem Dorf in Ostgalizien nach Wien, nach Berlin, nach Frankfurt […] dazu vorausbestimmt, daß dieses Gericht über die Mörder und der Trost für unser Volk in dieser Sprache erscheinen sollte. Es ist ja doch die Sprache Lessings, Johann Peter Hebels, Herders, die Sprache von Moses Hess und sogar von Theodor Herzl.“21 Deutsch ist „ja doch“ die Sprache nicht nur der deutschen, sondern eben auch der deutschjüdischen Literatur – auch wenn sie zum Zeitpunkt, an dem Morgenstern sein Roman verfasst, einer „Blutsäule“ gleicht. Zwar ziehen die Juden in Morgensterns geschichtstheologischer Vision nach Israel, er selbst beschreibt diesen Auszug auf Deutsch. Leben aber kann er anscheinend nur in New York, wo er 1974 stirbt. 3. Nicht weit von dort wird im März 1933 Philip Roth geboren, seine Vorfahren väterlicherseits kommen ebenfalls aus Ostgalizien, die seiner Mutter aus Kiew. Roth gilt heute als einer der großen US-amerikanischen Schriftsteller, ebenso wie um Amerika kreisen seine Romane aber auch um die Frage nach der conditio judaica der Postmoderne. Öffentlichkeitswirksam eingeleitet wurde diese Suche vielleicht mit dem Skandalbuch Portnoy’s Complaint von 1969, in dem man spätestens 40 Jahre nach Erscheinen auch elegische Töne herauslesen kann. Alexander Portnoy, der Ich-Erzähler, liegt auf der Couch eines New Yorker Psychoanalytikers und erzählt diesem – und damit dem Leser – sein Leben. Seine Erzählung ist eine einzige Klage. Dabei spielt der Doppelsinn des Wortes complaint. Es bezeichnet nicht nur Portnoys Klage, sondern auch seine vermeintliche Krankheit. Diese pathologische Verfassung liegt darin, dass Portnoys sexueller Appetit und seine Eigensucht nicht mit seinen moralischen und intellektuellen Ansprüchen kongruent sind, was der Erzähler als guter Leser 21 Morgenstern: „Motivenbericht“, S. 16.

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Freuds22 auf seine Eltern und die bedrückende Situation in einem kleinbürgerlichen jüdischen Haushalt in den 1940er Jahren abschiebt. Parodistisch überzeichnet werden zu Beginn des Romans die Kollision des frühreifen Teenagers mit den eingebildeten und realen Grenzen jüdischer Identität und seine Suche nach Authentizität geschildert. Seinem jugendlichen Sinn für Gerechtigkeit sticht zum Beispiel der Rassismus der Juden (und besonders seiner Eltern), die sich bitter über Antisemitismus beklagen, gegenüber Afroamerikanern ins Auge. Alex fragt nach dem Sinn der Unterscheidung von Gojim und Juden in Amerika („I’m sick and tired of goyishe this and goyishe that! If it’s bad, it’s the goyim, if it’s good, it’s the Jews! Can’t you see, my dear parents, from whose loins I somehow leaped, that such thinking is a trifle barbaric? […] The very first distinction I learned from you, I’m sure, was not night and day, but goyishe and Jewish!“23). Dabei hat die jüdische Identität für den Teenager etwas Unfassbares, ja Monströses. Es ist für ihn vollkommen unmöglich, im amerikanischen suburb, in dem Portnoys Vater als subalterner Versicherungsagent hart daran arbeitet, dem amerikanischen Traum zu genügen, der europäischen Realität von sechs Millionen Toten gerecht zu werden. Alex ist sich des Widerspruchs in der absurden Gleichzeitigkeit halb bewusst, der vielleicht die eigentliche und unheimliche Ursache seiner Klage darstellt und ihn deshalb zum „Monster“ macht. So heißt es nach einem Streit mit seiner älteren Schwester über die Implikationen des Jüdisch-Seins (er sieht sie wenn überhaupt in der Universalität des MenschSeins an sich, während die Schwester sich ganz für das jüdische Volk engagieren will): „[…] and now she begins to cry too, and how monstrous I feel, for she sheds her tears for six millions, or so I think, while I shed mine only for myself, or so I think.“24 Der Roman ist auch eine soziohistorisch genaue Schilderung dessen, was von den religiösen Gebräuchen der osteuropäischen Juden unter den kleinbürgerlichen Verhältnissen der Ostküste übrigbleibt. Roth beschreibt zum Beispiel, wie Alex’ Mutter in der Küche das Fleisch koscher macht, es ausbluten lässt. Das Tierblut überblendet sich im Gedächtnis des Analysanden Portnoy in einer ödipalen Konstellation mit dem Menstruationsblut der Mutter.

22 Die Sprache der Psychopathologie wird am Anfang des Romans mit einem fiktiven Lexikonartikel zu „Portnoy’s Complaint“ parodiert. Die Krankheit sei zuerst von „Spielvogel, O.“ – dem Arzt Alexander Portnoys – in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ beschrieben worden, was ironisch nicht nur auf die deutsch-jüdische Tradition der Psychiatrie, sondern auch auf die jüdische Verfasstheit von Portnoys Leiden verweist. 23 Der Roman wird zitiert nach Philip Roth: Portnoy’s Complaint, in: ders.: Novels 1967–1972, New York 2005, S. 329. 24 Ebd., S. 331.

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And once I saw her mentrual blood … saw it shining darkly up at me from the worn linoleum in front of the kitchen sink. Just two red drops over a quarter of a century ago, but they glow still in that icon of her, that hangs, perpetually illuminated, in my Modern Museum of Gripes and Grievances [...]. And also in that icon is an endless dripping of blood down through a drainboard into a dishpan. If is the blood, she is draining from the meat so as to make it kosher and fit for consumption. Probably I’m confusing things – I sound like a son of the House of Atreus with all this talk of blood – […].25

Portnoy ist literarisch gebildet und das Gedächtnisbild des doppelt verunreinigenden Bluts führt zu einer Assoziation mit dem „House of Atreus“, also jener an Inzest reichen Familienchronik, die schließlich im Muttermord (des Enkels) Orests an Klytämnestra gipfelt. Für Portnoy verbindet sich dieses „Blut“, das Blut der Mutter, denn folgerichtig mit einem weiteren Bild, das bereits aus seinem psychoanalytischen Wissen gespeist scheint, einer traumatischen Ur-Szene, in der Alex’ Mutter ihn halb im Scherz mit einem Brotmesser bedroht, weil er sein Abendessen nicht essen will. Die Blutstropfen auf dem Boden verfolgen noch den Erwachsenen genau so wie das Brotmesser: „[…] the bread knife with which my own blood would threatened when I refuse to eat my dinner. That knife!“26 Ödipale Kastrationsangst und halb verdrängtes Begehren nach der Mutter verdichten sich im „Blut“. Dabei kann die Familie, in der sich diese Konstellation bildet, wie bei Kafka, eigentlich nur eine jüdische Familie sein. Integrität und Konstanz der Familie liegen wesentlich im Jüdisch-Sein. Was außerhalb der Familie ist, ist „goyish“, also nicht jüdisch und damit wiederum eine Bedrohung für die Familie. Das zeigt sich anhand einer typischen, tragikomischen Geschichte des Buches, in der die Rede vom Blut zentral ist. Alex’ Cousin Hershie, der einige Jahre älter ist, verliebt sich in ein nicht-jüdisches, polnisches Mädchen aus der Umgebung namens Alice Dembosky und will sie heiraten. Diese Liebe wird jedoch in der Familie, vor allem von Hershies Vater Hymie, als Übertritt oder Abfall („defection“27) empfunden. Um die mésalliance zu verhindern, greift Hymie zu drastischen Mitteln. Er trifft sich mit der Freundin des Sohnes und erzählt ihr eine erfundene Geschichte. Darin wendet er das sprichwörtliche böse Blut – „bad blood“ – das von Hershies Heiratsabsichten erzeugt wird, wörtlich zu dessen Ungunsten. At the park, he drew the skinny blonde wearing the babushka into the front seat of the car, and with the windows rolled up, told her that his son had an incurable blood desease, a desease about which the poor boy himself did not even know. That was his story, bad blood, make of it, what you will … It was the doctor’s order that he should not marry anyone, ever. How much longer Harold had to live no one really knew, but as far

25 Ebd., S. 306. 26 Ebd. 27 „We are not a family, that takes defection lightly.“ Ebd., S. 317.

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as Mr. Portnoy was concerned, he did not want to inflict the suffering that was to come upon an innocent young person like herself.28

Hymie bietet dem Mädchen sogar Geld an – „five twenty dollar bills“29 – um sie abzuwimmeln. Dass die verschüchterte und hilflose Alice die lächerlich geringe Summe annimmt, wird in der Familie als Beweis dafür genommen, dass die Polen in Gestalt der verführenden Alice nur hinter Hymies Geld her sind. Roth dreht mit diesem Text den Antisemitismus um: Die Juden handeln genau nach den gleichen Stereotypen, denen sie zugleich in Europa hilflos ausgeliefert sind. Wohl deswegen haben jüdische Intellektuelle wie Gershom Scholem das Buch als antisemitisch empfunden. Bei Roth bewegen sich die jüdischen Figuren jedoch jenseits der (europäischen) Muster von jüdischem Opfer oder jüdischem Täter. Wer hier nur Juden wahrnimmt, die sich genau so benehmen, wie es die antisemitische Phantasie vorstellt, übersieht, dass die historische Situation sich grundsätzlich geändert hat und eine Situation eingetreten ist, die eine Art von Ironie erlaubt, die es in Europa nur bei Heine gab: Die Juden sind in Amerika angekommen und sind nun eine Minorität unter anderen, und als eine solche müssen sie selbstbewusst genug sein, sich mit Alexander Portnoy gegen antiund philosemitische Zerrbilder zu wehren. Als zynische, aber konsequente Pointe kann man dabei sehen, dass Cousin Hershie, dem man seine Liebe zu einem nichtjüdischen Mädchen mit der Fiktion des anderen Bluts nimmt, im Krieg umkommt, einem Krieg, der unter anderem gerade gegen die nationalsozialistische Fiktion des anderen Bluts geführt wird. Es ist nicht antisemitisch und entwürdigt nicht die Tragik jüdischer Erfahrung, sondern gehört zur Tragik der Rede vom Blut, wenn man feststellt, dass Onkel Hymie ebenso deren Protagonist ist, wie die antisemitischen Ideologen des 19. und 20. Jahrhunderts. Roth beschreibt explizit, wie Juden nicht nur Objekte, sondern auch Subjekte der Geschichte sind, oder vielmehr, wie die Komplexität der Geschichte diesen einfachen und unheilvollen Gegensatz sprengt. Denn Geschichte besteht immer in den gegebenen Umständen, die zu neuen Gegebenheiten führen. Um diese zu rechtfertigen und damit umzugehen, bemühen alle Menschen das Reich des Imaginären. – „That was his story, bad blood“, heißt es über Onkel Hymies Lügengeschichte. Homophon dazu kann man auch lesen: „That was history, bad blood“. „Blut“ ist nicht nur der imaginäre Stoff, aus dem Hymies story ihre Wirkung bezieht, „Blut“ ist auch das, was zumindest teilweise history, die Weltgeschichte ausmacht. Die Fiktion vom anderen Blut, von „bad blood“, dient hier – ironisch gewendet – noch einmal dazu, die Gemeinschaft real abzugrenzen und zu konsolidieren. Die Gemeinschaft hat einen ihrer Angelpunkte im Imaginären des anderen Bluts.

28 Ebd. 29 Ebd.

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VIII.  Register

Achad Haam 251 Adorno, Theodor W. 54, 55, 66, 175 Agamben, Giorgio 78, 151f., 225–227 Agnon, Shmuel Yosef 299–302 Aloni, Udi 213f. Antin, Eleonor 269f. Arnim, Achim von 26–27, 31, 34, 39, 70 Artaud, Antonin 270 Bartels, Adolf 46 Basnage, Jacques 82 Bataille, Georges 211 Baudelaire, Charles 30 Bauer, Bruno 96, 124 Bauer, Felice 199, 254, 272, 282, 286, 292 Beer-Hofmann, Richard 179, 189 Benjamin, Walter 90, 215, 223f., 228, 290 Bennington, Geoffrey 275 Berdyczewski, Micha Josef (s. auch Bin Gorion, Micha Josef ) 19, 20 Biale, David 17f. Bin Gorion, Micha Josef (s. auch Berdyczewski, Micha Josef ) 19, 20 Birnbaum, Nathan 175 Blanchot, Maurice 211 Bleuler, Eugen 240 Bodenheimer, Alfred 91 Börne, Ludwig 51 Brandt, Karl 15 Brasser, Martin 228–229 Braun, Christina von 14 Brentano, Clemens 70 Briegleb, Klaus 86f., 106 Brod, Max 242, 243, 244, 246, 254, 260, 264 Buber, Martin 26, 33, 49, 123, 162, 163, 173, 174–189, 190–196, 202, 219, 220, 242, 243, 251, 252, 254, 255, 261, 277, 298 Burckhardt, Jakob 180 Burger, Hermann 37

Burte, Hermann 208–211, 230, 233 Butler, Judith 116 Camporesi, Bruno 35 Camus, Albert 294 Canetti, Elias 292–293 Castoriadis, Cornelius 43 Celan, Paul 302 Chamberlain, Houston Stewart 31, 202–204, 233 Cocteau, Jean 270 Cohen, Hermann 48–49, 50, 193, 229f. Cortéz, Hérnan 97 Crick, Francis 297 Dagan, Haggai 217 Darwin, Charles 33, 163, 263 David, Jakob Julius 21–22 Deleuze, Gilles 51 Derrida, Jacques 22, 97, 215, 224, 226, 260, 275 Dühring, Eugen 45 Ehrenberg, Rudolf 196, 197, 200, 202, 216 Emden, Moritz 88 Feinberg, Anat 299–300 Ferlinghetti, Lawrence 269 Fichte, Johann Gottlieb 176 Fingerhut, Karlheinz 111 Flusser, Vilém 45, 53–55 Foucault, Michel 16, 28–30, 35 Freud, Sigmund 20, 55, 61, 63, 74, 78, 206, 306 Fries, Jakob Friedrich 58, 88 Gans, Eduard 91 Geiger, Ludwig 48 George, Stefan 176 Gibson, Mel 100 Gilman, Sander 286, 292 Ginsberg, Allen 269 Gobineau, Arthur de 31, 105

328

Register

Goethe, Johann Wolfgang von 27, 47, 59, 60, 192, 236, 287, 293, 294 Goldstein, Moritz 47, 49 Gombrich, Ernst H. 46 Gordon, Peter Eli 217 Guattari, Félix 51 Grimm, Jacob und Wilhelm (Brüder Grimm) 249 Grünberg, Abraham 270

Kircher, Hartmut 90 Klatzkin, Jakob 264 Kleist, Heinrich von 29, 38, 39, 47, 72, 289 Klemperer, Victor 180, 181, 228, 229 Kompert, Leopold 267–268, 269, 272, 277, 283 Kojève, Aléxandre 117 Kraft, Werner 287–288, 294

Hahn, Edith (s. auch Rosenzweig, Edith) 198, 229 Hallo, Rudolf 231 Hardenberg, Friedrich von (s. auch Novalis) 65–67, 70, 72, 75 Hardenberg, Karl August von 59 Harnack, Adolf von 208 Harvey, William 34 Hebel, Johann Peter 305 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 39, 47, 52, 67, 70, 91, 92, 114, 117, 120, 134, 158, 160, 193, 197, 200, 201, 220, 221, 234, 273 Heine, Heinrich 27, 28, 29, 35, 51f., 53f., 56–121, 123–127, 248, 298 Hess, Moses 30, 35, 47, 69, 122–162, 166, 168, 175, 183, 187, 305 Hessing, Jakob 60, 92 Herzl, Theodor 122, 159, 162, 163, 171, 173, 175, 187, 244, 245, 247–250, 268, 305 Herder, Johann Gottfried 38–39, 110 Heschel, Abraham Joshua 305 Hofmannsthal, Hugo von 176, 177, 261 Horch, Hans Otto 50 Husserl, Edmund 55

Lacan, Jacques 111 Lagarde, Paul de 202–204 Lamarck, Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet de 33, 78, 168f. Lamping, Dieter 47 Landauer, Gustav 182 Langbehn, Julius 202 Langer, Jiří (Georg) Mordechai 22f. Lasker-Schüler, Else 298 Lessing, Gotthold Ephraim 305 Lévi-Strauss, Claude 55 Lévinas, Emmanuel 181 Lezzi, Eva 46 Lilien, Moses Ephraim 168 Lipphardt, Veronika 262 Luther, Martin 20, 72, 142, 209, 236, 277

Itzig, Moritz 34 Jahn, Friedrich Ludwig 168 Jünger, Ernst 13f., 21, 26 Kafka, Franz 22, 27, 35, 36, 47, 176, 182, 184, 186, 190, 199, 236, 237–296, 298, 207 Kafka, Gabrielle (Elli) 276 Kant, Immanuel 192 Kähler, Siegfrid August 209 Kilcher, Andreas 47, 52f.

Mack, Michael 218 Marcion 208 Marx, Karl 39, 55, 96, 122, 124–125, 129, 132, 133, 136, 142, 144, 145 Mauthner, Fritz 182 Menasse, Robert 13 Mendelssohn, Moses 48, 84 Menninghaus, Winfried 277, 284 Menke, Bettina 223 Morgenstern, Soma 302–305 Mosès, Stéphane 80, 216 Moser, Moses 58, 68, 81, 82, 86, 91, 109, 116 Motte Fouqué, Friedrich de la 109 Nancy, Jean-Luc 42 Neumann, Gerhard 255f. Nietzsche, Friedrich 47, 103, 111, 165, 176, 177, 180, 209, 261, 269–271, 285 Nordau, Max 122, 123, 162–173, 175, 187, 244

329

Register

Novalis (s. auch Hardenberg, Friedrich von) 65–67, 70, 72, 75 Ortega y Gasset, José 79 Platon 192 Plessner, Helmuth 40–42, 227, 231 Ploetz, Alfred 33 Popper, Karl 55 Rathenau, Walter 231 Reuß, Roland 243, 253 Riedel, Manfred 37 Robert, Ludwig 110 Rosenstock, Eugen 201–202, 205–207, 208, 209, 212 Rosenstock-Huessy, Margrit 198–202, 211f. Rosenzweig, Edith (s. auch Hahn, Edith) 198, 229 Rosenzweig, Franz 27, 34, 47, 51, 157, 190–236, 253, 277, 298 Roth, Joseph 50, 293 Roth, Philip 305–308 Rühs, Friedrich 58 Ruppin, Arthur 263 Sade, Marquis de 29 Schönberg, Arnold 55 Schumann, Robert 62 Sethe, Christian 89 Shedletzky, Itta 50 Shakespeare, William 34, 291, 295

Schiller, Friedrich 29 Scholem, Gershom 213–315, 308 Schlegel, Friedrich 59, 291 Simmel, Georg 125f., 131, 181, 182, 203 Singer, Irma 22–25, 296 Sofer, Leo 263 Sombart, Werner 182 Spontini, Gasparo 104 Spinoza, Baruch 55, 155f. Straube, Heinrich 73 Strauss, Leo 202 Tertullian 207f. Theilhaber, Felix A. 262–263 Theisohn, Philipp 239 Thieberger, Friedrich 54, 275 Thiers, Adolphe 96 Tönnies, Ferdinand 39f. Wagner, Richard 31, 32, 48, 104 Wassermann, Jakob 48, 224 Watson, James 297 Weismann, August 33 Weltsch, Felix 174f. Wohlwill, Immanuel 59 Yerushalmi, Yosef Hayim 105 Yuval, Israel 54, 95 Žižek, Slavoj 295 Zunz, Leopold 91, 277 Zweig, Arnold 18–21, 78, 171–173, 281, 286