Das andere Zeitalter Justinians: Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr. 9783666252464, 3525252463, 9783525252468


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German Pages [740] Year 2004

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Das andere Zeitalter Justinians: Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr.
 9783666252464, 3525252463, 9783525252468

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 147

Vandenhoeck & Ruprecht

Mischa Meier

Das andere Zeitalter Justinians Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr.

2., unveränderte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Hans-Joachim Gehrke

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-25246-3  Hypomnemata ISSN 0085-1671

© 2004, 2003 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Umschlagkonzeption: Markus Eidt, Göttingen Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort ............................................................................................................. 1. Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen...................................... 1.1 Zum Verhältnis von christlicher Eschatologie und Zeitgeschichte das Problem des Jahres 500 n. Chr. ................................................. 1.2 Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung .......... 2. Grundvoraussetzungen: Unerfüllte Erwartungen - Der Katastrophendiskurs im 6. Jh. als Spiegel zerbrochener Weltbilder ..................................... Unterschiedliche Deutungsperspektiven der Katastrophen des 2.1 6. Jahrhunderts ................................................................................. 2.1.1 Pessimismus und Desillusionierung unter den Heiden in der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts. Das Beispiel des Zosimos und des Damaskios ........................................................................................ 2.1.2 Christliche Endzeiterwartungen, die Suche nach den Ursachen des Leides und das Phänomen der Angst ......................................... 2.1.2.1 Das Orakel von Baalbek und die Prophezeiung des nahen Weltendes .................................................................................... 2.l.2.2 Endzeiterwartungen im Spiegel der Chronik des Josua Stylites Das WeItende als Thema im christlichen Gottesdienst: Roma2.1.2.3 nos Melodos ................................................................................ 2.1.2.4 fudizien für eine Wiederaufuahme >naturwissenschaftlicher< Debatten über die Ursachen von Naturkatastrophen.................... 2.1.2.5 Der Kaiser als Urheber allen Unheils: Das Beispiel Prokops ..... 2.l.2.6 Die Thematisierung der Angst: Agathias .................................... 2.1.3 Zusammenfassung...... ............................................. ..... ............... ..... 2.2 Zum Verhältnis von Angst und Apokalyptik im 6. Jahrhundert ...... 3. Die Herrschaft Justinians und die Katastrophen .......................................... 3.1 Die Jahre 527-539/40: laeta saecula - Ein neues Zeitalter ............... 3.1.1 Selbstverständnis und Selbstdarstellung Justinians - Traditionen, Hintergründe und Besonderheiten.................................................... 3.l.l.1 Deo auctore und nostrafelicia tempora: Das >Zeitalter Justinians< .............................................................................................. 3.l.l.1.1 Die kaiserliche Herrschaft BK th:o'Ü in der Spätantike................. 3.l.l.l.2 Justinians spezifisches Verständnis einer Herrschaft BK ßco'Ü ...

9 11 11 23

45 45

55 64 67 72 77 84 86 89 92 95 101 101 101 104 115 118 5

Inhalt

3.1.1.1.3 Hinweise auf die Vorstellung eines >Zeitalters Justinians< in den Quellen ................................................................................. . 3.1.1.1.4 Das neue >Zeitalter< im Spiegel des Triumphes über die Vandalen 534 .................................................................................... . 3.1.1.1.5 Zur Entwicklung des Restaurations-Gedankens.. ........................ 3.1.1.1.6 Zusammenfassung ....................................................................... 3.1.2 Abriß der wichtigsten Aspekte der Politik Justinians bis 539/40..... 3.1.2.1 Justinians Politik während der Herrschaft Justins I. .. .................. 3.1.2.2 Der 1. Perserkrieg ........................................................................ 3.1.2.3 Vorgehen gegen Randgruppen und religiöse Minderheiten I: Homosexuelle, Heiden, neuplatonische Philosophen in Athen... 3.1.2.4 Vorgehen gegen Randgruppen und religiöse Minderheiten TI: Samaritaner .......... .......................... ...... .... .................................... 3.1.2.5 Der Streit um die theopaschitische Formel................................. 3.1.2.6 Weitere Aspekte der Politik Justinians im Spiegel der Quellen... 3.1.2.7 Zusammenfassung ....................................................................... Die Jahre 543-565: Rückzug in die Theologie ................................. 3.2 3.2.1 Das Bild der späteren Regierungsjahre Justinians in den Quellen ... 3.2.2 Außenpolitik ..................................................................................... 3.2.3 Innenpolitik und Besetzung der hohen militärischen und zivilen Positionen ..................... ...................................... ......................... ..... 3.2.4 Religions- und Kirchenpolitik .......................................................... 3.2.5 Zusammenfassung ............................................................................ 3.2.6 Anhang: Konkrete Beispiele fiir Veränderungen in der Politik Justinians seit 543 ............................................................................ 3.2.6.1 Verträge mit den Persern ............................................................. 3.2.6.2 Heidenverfolgungen .................................................................... 3.2.6.3 Weitere Beispiele......................................................................... 3.3 Die Jahre 540-542: »Da nun vieles gleichsam unvorhergesehen

137 150 165 180 183 185 191 198 209 215 223 232 234 234 247 251 273 291 294 294 298 302

geschehen ist, wie es schwerlich eine andere Zeit herbeiführen würde ... « ........................................................................................... 307

3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4

Die Einnahme Ravennas und die Katastrophe des Gotenkrieges .... Der Persereinfall 540 und die Zerstörung Antiocheias .... ................ Ausbruch der Pest in Konstantinopel............................................... Schlußfolgerungen und Ausblick .....................................................

309 313 321 340

4. Reaktionen, Deutungen und Bewältigungsstrategien in der Bevölkerung ... 4.1 Fallbeispiele zum Umgang mit Katastrophen durch Betroffene ...... 4.1.1 Der Komet des Jahres 520 ................................................................ 4.1.2 Die Katastrophen in Antiocheia zwischen 525 und 528 ..................

342 342 342 345

6

Inhalt

4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7

Das nächtliche Erdbeben in Konstantinopel 533 ............................. Die atmosphärische Stönmg 536-537.............................................. Das Kreuzwunder von Apameia im Jahr 540.................................. Die Pestepidemie in Konstantinopel 541/42 .................................... Die Rettung Edessas vor den Persern im Jahr 544 und die >Auffmdung< des Christusbildes .................................................................. 4.1.8 Sonderbare Vorkommnisse im Jahr 548.......................................... 4.1.9 Das Erdbeben in Konstantinopel 557 ............................................... 4.1.10 Die Massenhysterie in Amida 560 ................................................... 4.1.11 Zusammenfassung ............................................................................

5. Synthese ....................................................................................................... 5.1 Konsequenzen der Geschehnisse I: Die Reichsbevölkenmg ........... 5.1.1 Kaiserkritik - Direkte Zeugnisse ...................................................... 5.1.2 Zusammenbruch und Neukonzeption chronologischer und eschatologischer Modelle .......................................................................... Probleme der Chronologie ........................................................... 5.1.2.1 5.1.2.2 Eschatologische Aspekte ............................................................. 5.1.3 Wandel in den religiösen Ausdrucksformen .................................... 5.1.3.1 Vorüberlegungen: Religion-Frömmigkeit- Volksfrömmigkeit 5.1.3.2 Prozessionen und Marienverehrung ............................................ 5.1.3.3 Ausbreitung und Funktion des Bilderkultes im 6. Jahrhundert ... 5.1.4 Zusammenfassung ............................................................................ 5.2 Konsequenzen der Geschehnisse 11: Der Kaiser .............................. 5.2.1 Punktuelle Aktionen ......................................................................... 5.2.1.1 Die Verlegung der Hypapante im Jahr 542 und die reichsweite Förderung der Marienverehrung .................................................. 5.2.1.2 Kanalisienmg von Unwillen gegenüber dem Kaiser: Heidenverfolgungen, Missionstätigkeit und die Novellen 77 und 141 ........................................................................................ 5.2.1.3 Die Errichtung des Reiterstandbildes auf dem Augustaion ......... 5.2.2 Längerfristige Entwicklungen: Die Sakralisierung der Person des Kaisers ............................ .................................................................. 5.2.2.1 Endgültige Abkehr von der kaiserlichen civilitas und die Selbstdarstellung Justinians als Heiliger Mann ........ ................... 5.2.2.1.1 Vorbemerkungen ......................................................................... 5.2.2.1.2 Auswertung des Quellenmaterials ............................................... 5.2.3 Zusammenfassung ............................................................................

357 359 365 373 387 401 405 412 424 427 427 427 443 443 478 481 481 489 528 560 570 570 570

587 599 608 608 608 614 638

6. Zusammenfassung: Das andere Zeitalter Justinians .................................... 642

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Inhalt

7. Anhang: Liste mit Katastrophen im Oströmischen Reich zwischen 500 und 565 ......................................................................................................... 656 Quellenverzeichnis ........................................................................................... 671 Literaturverzeichnis ..... .......... ....................... ... ..... ............................................ 680 Register ............................................................................................................. 723

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Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die gekürzte und leicht überarbeitete Version meiner Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2002 von der Fakultät rur Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld angenommen worden ist. Du Entstehen wurde erheblich gefördert durch die amegende und freundschaftliche Atmosphäre am Bielefelder Lehrstuhl rur Alte Geschichte, insbesondere durch Herrn Prof. Dr. Winfried Schmitz, der seinem Assistenten alle Freiheiten ließ und ihm dabei jederzeit mit Rat und Kritik zur Seite stand. Die Arbeit verdankt nicht nur ihm wertvolle Amegungen, sondern auch Herrn Prof. Dr. Hartrnut Leppin und Herrn PD Dr. Tassilo Schmitt, die dankenswerterweise beide die Mühe auf sich genommen haben, die Habilitationsschrift zu begutachten. Unter all denen, die mir in Gesprächen und Diskussionen weitergeholfen haben, danke ich ganz besonders Herrn PD Dr. Wolfram Brandes rur eine Reihe wichtiger Hinweise aus byzantinistischer Perspektive. Das Manuskript wurde in verschiedenen Bearbeitungsstadien von meiner Frau Christiane Meier, meiner Mutter Astrid Meier sowie von Frau Angela Willfroth korrekturgelesen. Hierfiir möchte ich ilmen herzlich danken. Mein Dank gilt auch den Herausgebern der »Hypomnemata« - vor allem Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke - rur die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe. Als ich mich gerade mit der mysteriösen Sonnenverfinsterung der Jahre 536/37 beschäftigte, kam meine Tochter Caroline Zoe zur Welt. Sie bildet seitdem einen munteren Gegenpol zu den Katastrophen des 6. Jahrhunderts. Du und meiner Frau Christiane sei dieses Buch gewidmet.

Bielefeld, im November 2002

Mischa Meier

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1. V orüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen 1.1 Zum Verhältnis von christlicher Eschatologie und Zeitgeschichte - das Problem des Jahres 500 n. ehr. Zwischen 304 und 311 n. Chr., in einer Phase schwerer Christenverfolgungen, verfaßte L. Caelius Firmianus Lactantius sein theologisches Hauptwerk, die Divinae institutiones. Die Schrift sollte das Christentum gegenüber einem heidnischen Publikum verteidigen und dabei zugleich die Leser in die christliche Theologie einführen. Das abschließende siebte Buch (De vita beata) behandelt in diesem Kontext eschatologische Aspekte, unter denen vor allem die Vorstellung vom messianischen Reich ausführlich thematisiert wird. Dort hält Laktanz fest (inst. VII 14,6-11): sciant igitur philosophi qui ab exordio mundi saeculorum milia enumerant, nondum sextum millesimum annum esse conclusum. Quo numero expleto consummationem fieri necesse est et humanarum rerum statum in melius reformari. [ ..] necesse est ut in fine sexti millesimi anni malitia omnis aboleatur e terra et regnet per annos mille iustitia sitque tranquillitas et requies a laboribus quos mundus iam diu perfert. Wissen sollen daher die Philosophen, die seit dem Anfang der Welt Tausende von Zeitaltern aufzählen, daß das sechstausendste Jahr noch nicht abgeschlossen ist. Wenn diese Zahl sich erfüllt hat, dann wird es zwangsläufig zu einem Abschluß lUld zu einer VerändeflUlg der Lage der irdischen Dinge zum Besseren kommen. [... ] Zwangsläufig wird am Ende des sechstausendsten Jahres jegliche Schlechtigkeit aus der Welt vertilgt, lUld es herrscht für tausend Jahre Gerechtigkeit, lUld es gibt Frieden lUld Ruhe von den Mühen, die die Welt schon so lange erduldet.

Ein wenig später präzisiert der Autor seine Worte (inst. VII 25,3-8): Fortasse quispiam nunc requirat quando ista quae diximus sint futura. fam superius ostendi conpletis annorum sex milibus mutationem istam fieri oportere et iam propinquare summ um illum conclusionis extremae diem. [ ..] qui licet uarient et aliquantum numeri eorum summa dissentiant, omnis tamen expectatio non amplius quam ducentum uidetur annorum. Etiam res ipsa declarat lapsum ruinamque rerum breuifore, nisi quod incolumi urbe Roma nihil istius uidetur esse metuendum. At uero cum caput illud orbis occiderit et PUf.1.Yf esse coeperit, quod Sibyllae fore aiunt, quis dubitet uenisse iam finem rebus humanis orbique terrarum? Illa est ciuitas quae adhuc sustentat omnia [ ..]. Vielleicht möchte nlUl jemand wissen, wann lUlsere Voraussage eintreffen wird. Ich habe schon weiter oben gezeigt, daß diese VerändeflUlg stattfmden wird, wenn sechstausend Jahre sich erfüllt haben, lUld daß jener jüngste Tag des letzten Jahresabschlusses schon näheITÜckt. [... ] Mögen sie [sc. die Gelehrten] auch lUlterschiedlicher Ansicht sein lUld erheblich in ihrer [sc. der Jahre] Gesamtzahl voneinander abweichen, so scheint dennoch jegliche Erwartung nicht weiter als zweihlUldert Jahre zu gehen. Sogar der Gegenstand selbst macht klar, daß FalllUld Untergang der Welt

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

kurz bevorstehen, nur daß scheinbar, solange Rom unversehrt bleibt, nichts davon gefürchtet werden muß. Doch wahrhaftig, wenn jenes Haupt der Welt gefallen ist und der Umschwung eingesetzt hat, was die Sibyllen voraussagen, wer wollte bezweifeln, daß dann das Ende der Menschheit und des Weltkreises gekommen ist? Jene Stadt ist es, die bisher alles aufrecht erhält [... ].

Diese Erwartungen knüpfen an chiliastische Vorstellungen an, l wie sie insbesondere unter den frühen Christen verbreitet, wenn auch nicht unumstritten, waren. Ausgangspunkt der skizzierten Perspektiven ist die Apokalypse des Johannes (Apk 20-22, bes. 20,1-15), in der ein Szenario entworfen wird, bei dem auf die Wiederkehr Christi die Fesselung des teuflischen Drachens und die Auferstehung der Märtyrer und Konfessoren folgt, sodann nach der tausendjährigen gemeinsamen Herrschaft Christi und der Auferstandenen der Krieg gegen den kurzfristig wieder befreiten Teufel entbrennt und nach dessen endgültiger Entmachtung eine allgemeine Auferstehung mit Weltgericht erfolgt, bei dem diejenigen, die nicht im Buch des Lebens verzeichnet sind, vernichtet und die Gerechten eines ewigen Lebens in Glückseligkeit fiir würdig erachtet werden. Da Laktanz diese Vorstellungen in besonders markanter Weise artikuliert, habe ich ihn als einleitendes Beispiel ausgewählt? Chiliastische Gedanken fInden sich aber u.a. schon bei Kerinth, im sog. Barnabasbrief, bei Papias von Hierapolis, Justin, Irenaeus, Tertullian, Commodian und bei Hippolytos von Rom. 3 1 Allgemein zum antik-christlichen Chiliasmus vgl. FRICK (1928); WIKENHAUSER (1937); VASILIEV (1942/43), 466-471; DANffiLOU (1948); BAUER (1954); PODSKALSKY (1972), 77-103; BÖCHERIBLUM (1981); HElD (1993); KERL (1994); WEBER (1997), 19ff. Eine soziologische Analyse chiliastischer und millenaristischer Bewegungen bietet TALMON (1966); KIPPENBERG (1990), 9; 12 weist daraufhin, daß Apokalyptik, Messianismus und Chiliasmus eigentlich nicht voneinander zu trennen sind, weil jedes dieser Phänomene auch Elemente der anderen beinhaltet; im Hinblick auf den Chiliasmus betont er die sozialrevolutionären Komponenten (11f.). Ich verwende den Begriff >Chiliasmus( im folgenden in engerer Bedeutung im Sinne einer spezifischen Erwartung, die auf ein tausendjähriges himmlisches Reich entsprechend der Offenbarung des Johannes (Apk 20-22) zielt. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß chiliastische Vorstellungen schon im Altertum vielfach kritisiert wurden und nie Bestandteil einer offiziellen kirchlichen Theologie waren, vgl. BÖCHERIBLUM (1981),732; HElD (1993), 52ff.; 140ff. 2 Vgl. FABREGA (1974), bes. 127f.; 133; 146; zum Chiliasmus des Laktanz s. auch SCHWARTE (1966), 163-168. Vgl. auch die von Laktanz selbst angefertigte Zusammenfassung seiner Vorstellungen Lact. epit. 65,7-67,8. 3 Kerinth: Euseb. HE III 28; VII 25,1-3; Theod. haer. II 3 PG 83,389 mit WIKENHAUSER (1937), 6; BÖCHERIBLUM (1981), 729; MARKSCHIES (1998), 74. - Barnabasbrief Barn. 15 mit WIKENHAUSER (1937), 6-8; SCHWARTE (1966), 86-105, bes. 88ff.; BÖCHERIBLUM (1981), 730; LANDES (1988), 141ff. - Papias: Euseb. HE III 39 mit KÖRTNER (1983), 97ff. - Justin: lust. Mart. dial. 80-81; vgl. Euseb. HE IV 18,8 mit BÖCHERIBLUM (1981), 729; HElD (1993), 31-51. Irenaeus: Iren. adv. haer. V 23-36 mit WIKENHAUSER (1937), 8f.; SCHWARTE (1966), 105-118, bes. 107ff.; PODSKALSKY (1972), 81f.; BÖCHERIBLUM (1981), 729; HElD (1993), 85-109. - Tertullian: Tert. Mare. III 24; res. 25-26; lud. 7 mit BÖCHERIBLUM (1981), 729f.; HElD (1993), 109124. - Commodian: Commod. apol. 791ff.; vgl. instr. I 28; 41. Allerdings ist die Datierung Commodians nicht sicher; die seit THRAEDE (1959) vorhelTschende Ansetzung um die Mitte des 3. Jh.

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Das Problem des Jahres 500 n. Chr.

Charakteristisch für den frühchristlichen Chiliasmus sowie damit verwandte weitere Formen von Endzeiterwartung, die auf Elemente jüdischer Eschatologie und iranische mythologisch-kosmologische Weltwochen und Tausend-Jahr-Spekulationen zurückgehen4 (welche auch im pagan-antiken Bereich gewirkt haben),5 ist die Zeitspanne von sechstausend Jahren von der Schöpfung bis zur Wiederkehr Christi (Parusie), für dessen Herrschaft im spezifisch chiliastischen Konzept dann noch einmal weitere tausend Jahre angesetzt werden. Die Zahlen wurden im Rückgriff auf den Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,3) erklärt; in den sechs Tagen der Weltschöpfung und dem Ruhetag sah man eine Weltwoche aus je tausend Jahren typologisch vorgebildet, wobei das letzte, das siebte Jahrtausend durch die Herrschaft Christi gekennzeichnet sein sollte. Die Rechtfertigung für die Substitution von je tausend Jahren für einen Schöpfungstag bezog man insbesondere aus Ps 90 (89),4. 6 Ein weiterer wichtiger Aspekt der von Laktanz geäußerten Gedanken liegt in der Verknüpfung des Schicksals Roms mit dem Ende der Welt. Auch dies ist keinesfalls neu, sondern findet sich schon in der früheren christlichen Literatur, besonders bei Tertullian. Solange Rom Bestand hat, dauert das irdische Leben fort und fmdet auch das Ausbleiben der mehrfach bereits erwarteten Parusie Christi eine Erklärung. 7 Aller Wahrscheinlichkeit nach erfolgte die Einbindung Roms in (vgl. SMOLAK (1997); Döpp (2002)) wurde von GÜNTHER (1983) und GRUSZKA (1984) (aufgegriffen von STROBEL (1993), 364ff.) wieder in Zweifel gezogen, die für die Jahrzelmte nach 410 plädieren. Sollte dies zutreffen, könnte die Dichtung Commodians als signifikantes Beispiel für die temporären Endzeiterwartungen nach der Eroberung Roms durch Alarich herangezogen werden. Eine abschließende Klärung des Datierungsproblems steht noch aus. - Hippolytos: Hippol. In Dan. IV 23. Dazu WIKENHAUSER (1937), 9f.; SCHWARTE (1966), 128ff.; PODSKALSKY (1972), 79f.; HElD (1993),125-134. 4 Chiliastische Vorstellungen, die später in der Offenbarung des J ohannes wieder aufgegriffen werden, fmden sich schon Ez 37-48. Zeitlich und inhaltlich stehen dieser dann vor allem die Esra- und die Baruch-Apokalypse nahe; vgl. IV Esr 7,26-33; syrBar 29-30. Dazu BAUER (1954), 1074f.; ausführlich SCHWARTE (1966), 70ff., der auch auf signifikante Unterschiede zwischen spätjüdischer Eschatologie und dem frühchristlichen, wohl im kleinasiatischen Raum entstandenen Chiliasmus hinweist (84); vgl. auch BÖCHERIBLUM (1981), 724-727. Der Einfluß iranischen Gedankenguts auf die jüdische bzw. später christliche Eschatologie ist umstritten, doch sind auffallige Analogien nicht von der Hand zu weisen; vgl. dazu grundlegend CUMONT (1931); zur Diskussion SCHWARTE (1966), 99f. 5 Theopomp (FGrHist 115 F 65) berichtet im 4. Jh. v. Chr., daß iranische !!uYOl glaubten, auf eine dreitausendjährige Phase der Götterherrschaft und eine ebenso lange Zeit allgemeiner Kriege folge eine kürzere Periode, in welcher der Schlaf des Hades (vgl. Apk 20,14) den Menschen Glückseligkeit bringe. Platon kennt eine tausendjährige Seelenwanderung im Anschluß an ein Gericht über Gerechte und Ungerechte (Plat. rep. 614b-615b; 621d). Anchises berichtet Verg. Aen. VI 748 von einer tausendjährigen Seelenreinigung. 6 Vgl. dazu DANffiLOU (1948), passim; SCHWARTE (1966), 78ff. 7 Das Ausbleiben des Messias tritt nicht erst im Kontext des Chiliasmus auf, sondern ist bereits ein Problem der jüdischen Eschatologie seit dem 2. Jh. v. Chr. Die christliche Erklärung geht

13

Vorüberlegungen: Mentalitäten lUld Katastrophen

christlich-eschatologische Vorstellungen im Kontext der alttestamentarischen Lehre von der Abfolge der vier Weltreiche im Danielbuch (Dan 2,31-45; vgl. auch Dan 7). Während der Verfasser des Danielbuches entsprechend seinen eigenen zeitgenössischen Erfahrungen offensichtlich noch das Makedonen- bzw. Seleukidemeich als letztes der vier Weltreiche ansah, trat in der frühchristlichen Geschichtstheologie an seine Stelle das Imperium Romanum, welches schließlich in die Herrschaft Gottes einmünden sollte. 8 Diese Weltreichs-Konzeption beeinflußte nicht nur die Geschichtstheologie des Abendlandes in entscheidender Weise, sondern blieb auch in Byzanz stets präsent. 9 Der christliche Chiliasmus wurde in der Antike zu verschiedenen Zeiten und regional unterschiedlich virulent. Während er im Osten seit Mitte des 3. Jahrhunderts insbesondere durch den Einfluß des Origenes und später durch die Polemik des Eusebios von Kaisareia zunächst an Bedeutung verlor,1O fmden sich im Westen vor allem im 3., 4. und frühen 5. Jahrhundert einige namhafte Vertreter, neben Laktanz Z.B. Hippolytos (s.o.), Julius Africanus, Victorinus von Pettau, Julius Hilarianus, Sulpicius Severus sowie auch der junge AugustinuS. 11 aus von II Thess 2,6-7 (Kui vuv TO KUTexov O'(ÖUTc, d~ TO UJtOKUA.1JqJ{}fjvUl UUTOV EV Tqi UUTOU KUlgqi. TO yag Il1JOT1lgl0V ijÖll EvcgycTTUl Tfj~ UVOIl[U~' 1l0VOV 6 KUTexOlv iigTl EOl~ EK lleoo1J ytVllTUl) lUld sieht seit Tertul1ian (apo!. 32,1; Scap. 2,6) im Römischen Reich das verzögernde Moment (KuTexov), vgl. Hippol. In Dan. IV 21,3; Hieron. In Hier. V 27 (= S. REITER [Ed.], S. Hieronymi Presbyteri In Hieremiam Prophetam Libri VI, Tumhout 1960, p. 246). Im einzelnen vgl. dazu KÖTTING (1957),133; SCHWARTE (1966), 136f.; 140-146; SUERBAUM (1977), 111ff. (mit weiteren Tertul1ian-Be1egen); STROBEL (1993), 88ff.; MÖHRING (2000), 17 mit weiterer Lit.; TIMPE (2001), 85f. 8 Das Danielbuch entstand aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen 168 lUld 165 v. Chr., vgl. KOCH (1982), 277f. Die im christlichen Kontext kanonisch gewordene Abfolge der Weltreiche geht vor allem auf Hieronymus zurück: BabyIonier - MederlPerser - AlexanderlDiadochen - Rom (Hieron. In Dan. 12,31-35 [= F. GLORIE (Ed.), S. Hieronymi Presbyteri Commentariorum in DanieIern Libri III , Tumhout 1964, p. 793-795]; II 7,2-7a [= p. 838-843 GLORIE]); vgl. PODSKALSKY (1972), 13; MÖHRING (2000), 17 mit weiterer Lit. Allerdings findet sich die G1eichsetZlUlg des letzten Reiches mit dem Römischen Reich schon IV Esr 11,44 lUld syrBar 39,3-7 (1. Jh.). Eine Liste mit der jeweiligen Identifizierllllg der vier Weltreiche bei einzelnen Autoren bietet ROWLEY (1964), 184f. Daß die Weltreichslehre auch in der pagan-römischen Welt nicht lUlbekannt war, geht z.B. aus Vell. I 6,6 hervor (wohl eine Interpolation: SCHMITZER (2000), 67f.); vgl. dazu auch SUERBAUM (1977), l1lff. 9 PODSKALSKY(1972),4-76. 10 Z.B. Orig. princ. II 11,2 mit SCHWARTE (1966), 177ff. - Euseb. HE III 28,1-6; III 39,1113; VII 24,1-2; VII 25,3. Vgl. PODSKALSKY (1972), 82f.; WEBER (1997), 24. Dies bedeutet allerdings nicht, daß der Chiliasmus im Osten ganz verdrängt wurde, vgl. z.B. Method. Symp. 9,1 PG 18,176-180 (um 300) mit BÖCHERIBLUM (1981), 731. Auch Apollinaris von Laodikeia (4. Jh.) war Chiliast, vgl. Basil. Kais. epist. 263,4 PG 32,980; 265,2 PG 32,985-988; Greg. Naz. epist. 102 PG 37,193-201; Hieron. vir. ill. 18. 11 Victorinus: Victorin. Pet. in apoc. 19-21 mit SCHWARTE (1966), 220ff. - Hilarianus: Hilarian. dura!. 18 PL 13,1105-1106) mit GELZER (1978 [1880-85/98]), II 12lff., bes. 128f.; SCHWARTE (1966), 169-175; LANDES (1988), 152 (»crude millenarianism and apoca1yptic ca1cu1a-

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Das Problem des Jahres 500 n. Chr.

Darüber hinaus - und dies ist insbesondere rur die vorliegende Arbeit relevant - wurde von K. STROBEL wahrscheinlich gemacht, daß die Vorstellung von der

6000 Jahre währenden irdischen Weltzeit spätestens seit Mitte des 3. Jahrhunderts unter den Christen weit verbreitet war, ohne daß damit sogleich chiliastische Erwartungen im engeren Sinne einhergehen mußten. 12 Im westlichen Teil des Imperiums verbanden sich vor allem um die Wende zum 5. Jahrhundert, ausgelöst durch die aktuellen tagespolitischen Ereignisse, diffuse Endzeiterwartungen mit christlich-chiliastischen Vorstellungen und trieben im Rahmen einer allgemeinen Beklemmung selbst bei Personen, die sonst prinzipiell keine Chiliasten waren, reiche Blüten. 13 Dabei ist zu beobachten, daß an die Stelle einer klar konturierten chiliastischen Lehre nunmehr ein unscharfes Konglomerat von Einzelelementen trat, die unterschiedlichsten Traditionen entstammten. Insbesondere die verschiedenen Reaktionen auf die Eroberung Roms durch Alarich 410 zeigen deutlich und exemplarisch, wie in Phasen schwerer äußerer Bedrängnisse selbst unter gebildeten Zeitgenossen derartige apokalyptisch-chiliastische Vorstellungen und Angstvisionen hervortraten, die demzufolge auch bei großen Teilen der Bevölkerung mehr oder weniger latent vorhanden gewesen sein müssen. 14 Es ist bezeichnend, daß

tions«). - Sulpicius Severus: WEBER (1997), 23; 28; 30, der 39ff. aber unter Hinweis auf Sulp. Sev. chron. II 3,7 zu zeigen sucht, daß Sulpicius Severus kein Chiliast im strengen Sinne gewesen sei. - Augustinus: Augustin. serm. 259,2 PL 38,1197-1198. Allerdings hat Augustinus seine chiliastischen Vorstellungen später revidiert: Die Herrschaft Christi und der Gläubigen fmde im Rahmen der schon bestehenden Kirche statt, vgl. Augustin. civ. XX 6-9; LEWALTER (1934); SCHWARTE (1966), 277ff. Insofern ist es nicht zutreffend, wenn BÖCHERIBLUM (1981), 732 konstatieren, daß »nach der konstantinischen Wende auch im Westen der Chiliasmus seine Lebenskraft verloren« habe. Feststellbar ist vielmehr eine allmählich abnehmende Konturierung der chiliastischen Lehre zugunsten einer diffusen Endzeiterwartung. Auch SCHWARTE (1966) trägt diesem Umstand nicht genügend Rechnung, wenn er pauschal von einem »Abklingen chiliadischer Weltzeitberechnung im Westen« (169) spricht; vgl. ebd. 175f. 12 Vgl. STROBEL (1993),165. 13 Vgl. z.B. Sulp. Sev. chron. II 3,5-6; II 33,3-4; vif. Mart. 24. Dazu KÖTTlNG (1957), 129; 132; DEMANDT (1984), 57ff.; VAESEN (1988); WEBER (1997),31-38; 39-41. Vgl. die signifikanten Bemerkungen des Augustinus zu offensichtlich verbreiteten Endzeiterwartungen civ. XVIII 54, mit KÖTTlNG (1957), 130. Chiliastisches Gedankengut fmdet sich z.B. im Ambrosiaster (ad I Kor 15,52) und auch bei Ambrosius selbst, vgl. KÖTTlNG (1957),136; SCHWARTE (1966), 236f.: »Trotz gewisser terminologischer Anklänge an chiliastische Lehren ist Ambrosius weit davon entfernt, Chiliast zu sein« (237). Allgemein zur Endzeiterwartung um 400 vgl. KÖTTlNG (1957), 135ff. 14 Hieronymus etwa, ein entschiedener Gegner des Chiliasmus (in seiner Überarbeitung des Apokalypse-Kommentars des Victorinus von Pettau ersetzte er die chiliastische Auslegung des tausendjährigen Reiches Apk 20 durch eine spiritualistische, vgl. Victorin. Pet. in apoc. 19-21 mit der Bearbeitung des Hieron., in: J. HAUSSLEITNER [Ed.], Victorini episcopi Petavionensis opera, Wien - Leipzig 1916 [CSEL 49]), äußerte apokalyptische Gedanken, als er 408 das baldige Weitende ankündigte (epist. 123,15-16; vgl. ZWlERLElN (1978), 49). Als nach der westgotischen Eroberung Roms seine Befürchtungen nicht eintrafen, klagte er zunächst über das Schicksal der urbs Roma (z.B. epist. 127,12; 128,5; 130,5), doch traten bald erneut apokalyptische Gedanken hervor,

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

trotz minutiös festgelegter chronologischer Modelle, denen zufolge der Weltuntergang immerhin noch ein ganzes Jahrhundert entfernt lag (s.u.), dennoch vielfach das unmittelbar bevorstehende Ende erwartet wurde. In den zeitgenössischen Zeugnissen erscheint die Eroberung Roms im Kontext zahlreicher Unheile und Katastrophen, die schon früher allgemein als prodigia des Weltendes galten. 15 Die Welt ging 410 nicht unter, doch war das Symbol für die Fortexistenz der bestehenden Ordnung schwer erschüttert: Rom war gefallen und hatte nunmehr seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit endgültig verloren. Dementsprechend waren die Reaktionen auf die zweite Einnahme der Stadt im Jahr 455 durch Geiserich auch schon wesentlich leiser und verhaltener, denn dieses Ereignis besaß bei weitem nicht mehr dieselbe Symbolkraft. 16 Die christlichen Spekulationen einer Verbindung des Schicksals Roms mit dem Weltende hatten sich nicht erfüllt. 17 Damit ergab sich die Notwendigkeit einer Neukonzeption der chiliastischen Lehre sowie verwandter Vorstellungen, eine Neukonzeption allerdings, die im Grunde schon vorgezeichnet war und sich in den zurückliegenden Jahren bereits angekündigt hatte. Denn mit der Gründung Konstantinopels im Jahr 330, die nicht nur zeitlich im Kontext christlicher Euphorie nach dem Ende der Repressionen erfolgte, entstand vor allem in den Augen der Christen ein neues Rom (l] veu 'PW!!ll), das von Beginn an christlich geprägt war. 18 »Das neue Rom brachte [ ... ] nichts von einer heidnischen Vergangenheit mit. Das Konzept der Neugründung war trotz manchen paganen Dekors so gut wie ganz christlich.«19 Was die Christen zuvor mit Rom verbunden hatten, ging nun rasch auf Konstantinopel über,2° sowohl der Glaube an das ewige Bestehen der Stadt bei den einen als auch die Vorstellung vom Zusammenfall ihres Untergangs mit dem WeItende bei den anderen, wobei sich letzteres

und Hieronymus erwartete nun den Untergang Roms als des vierten Reiches (In Ezech. VIII praef. [= F. GLORlE (Ed.), S. Hieronymi Presbyteri Commentariorum in Hiezechielem Libri XIV, Turnhout 1964, p. 333]). Auch Orosius rechnete mit einem nahen, wenn auch noch nicht unmittelbar bevorstehenden WeItende; vgl. Oros. hist. II 6,14. Dazu GOETZ (1980), 78f.; 126. Allgemein vgl. STRAUB (1950). 15 Vgl. z.B. Hippol. In Dan. IV 6,4; KÖTTING (1957), 133ff.; SCHWARTE (1966),73; 135. 16 KÖTTING (1957) 138f.; GÄRTNER (1998),160; NOETHLICHS (1998), 13f. 17 Dies fiihrte dazu, daß Augustin schließlich die Äußerung des Paulus II Thess 2,6-7 für schlichlweg unerklärbar hielt (vgl. Augustin. civ. XX 19; epist. 199,3,10-11 PL 33,908). 18 OSTROGORSKY (1963), 38. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis BECKS (1993) [1964]), 129, daß Konstantin selbst nie an eine Bezeichnung seiner neuen Stadt als Nova bzw. Secunda Roma gedacht hat, sondern von Anfang an deutlich zum Ausdruck gab, daß er den Namen Konstantinupolis wünschte. Vgl. dazu auch mit großem NachdruckCHANTRAINE (1993). 19 BECK (1993) [1964]), 134. 20 Vgl. WlNKELMANN (1998), 149f.

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dann im Mittelalter vielfach allmählich zu einem resignativ-pessimistischen Warten auf das Ende wandelte?! In Kreisen heidnischer Intellektueller fiihrte die erste Eroberung Roms zur Entwicklung eines neuen Konzeptes der Romidee, die nurIillehr so weit von den tatsächlichen Verhältnissen abstrahierte, daß sie gleichsam auf einer Metaebene den Ersatz für die in ihrem Fortbestand gefährdete reale Stadt darstellte und somit eine Möglichkeit bot, unter Verzicht auf die faktische Existenz Roms dennoch eine Rom-Ideologie aufrecht zu erhalten. 22 Für Christen trat demgegenüber der Gedanke eines Konnexes des Schicksals Roms mit dem messianischen Reich angesichts der bereits existierenden christlich geprägten Stadt Konstantinopel naturgemäß in den Hintergrund; statt dessen richtete man den Blick wieder mehr auf die älteren, seit dem 3. Jahrhundert geläufigen chronologischen Modelle, wonach das Weltende etwa in die Zeit um 500 fallen sollte?3 Entsprechende Kalkulationen waren seit dem 3. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit dem bereits in apostolischer Zeit reflektierten Problem der Parusieverzögerung entstanden. Sie dienten einerseits dem Zweck, vor dem Hintergrund dieses Ausbleibens der erwarteten Wiederkunft Christi zeitliche Perspektiven zu entwickeln, die den Christen Orientierungshilfen im irdischen Leben geben konnten; darüber hinaus sollten sie konkrete, oft aus unmittelbaren Krisensituationen erwachsene Naherwartungen widerlegen und aufzeigen, daß mit einem baldigen Ende der Welt noch nicht zu rechnen sei?4 Insbesondere die Beschäftigung mit der Frage der Parusieverzögerung leistete damit einen zentralen Beitrag zur Entwicklung bedeutsamer Aspekte christlicher Zeitrechnung und somit auch der Eschatologie?S Sextus Julius Africanus hatte daher bereits im Jahr 221/22 in seinen nur fragmentarisch erhaltenen XgovoyguAuferstehungMonophysiten< ist in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten, weil er theologisch nicht präzise ist. In der neueren Forschung wird daher mittlerweile häufig die Bezeichnung >Miaphysiten< bevorzugt. In den zeitgenössischen nicht-monophysitischen Quellen werden die Vertreter entsprechender Glaubensvorstellungen, die überdies nie eine eioheitliche Gemeinschaft bildeten, unterschiedlich bezeichnet, wobei das Spektrum u.a. von >Anhänger des EutychesAnhänger des Severos< usw. oder Acephali bis hin zur Diffamierung als Manichaei reicht. Die Monophysiten selbst sahen sich freilich stets als >OrthodoxeMonophysiten< noch immer geläufiger sind als unter der Bezeichnung >MiaphysitenZeitalter Justinians( nicht nur durch das sog. Restaurationswerk des Kaisers, sondern vor allem auch durch eine Unzahl von Katastrophen und Rückschlägen gekennzeichnet war, soll zum einen der Umgang Justinians mit diesen Katastrophen untersucht werden, wobei insbesondere zu fragen ist, inwieweit die äußeren Umstände seine Maßnahmen und sein politisches Handeln beeinflußt haben. Daß dabei die Perspektive zunächst sehr eng auf den Kaiser zentriert werden muß, liegt in der Natur der Fragestellung. Trotzdem ist nicht intendiert, der langen Reihe von Justinian-Biographien lediglich eine weitere hinzuzu:fiigen. Die Bedeutung kontingenter Faktoren für die Erforschung historischer Prozesse wurde insbesondere von HEuss (1985), 14ff. mit Nachdruck hervorgehoben. HEuss rechnet hierzn ausdrücklich auch außergewöhnliche Naturvorgänge, vgl. ebd. 35: »Man hat an Sonnen- und Mondfinsternisse, an Kometen, an Meteore [... ], dann vor allem an die echten Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche [... ], an unkontrollierte Überschwemmungen [... ] und Feuersbrünste [... ], an Hungersnöte infolge von Mißernten, und schließlich an Epidemien zn denken. All diesem Unheil war die Menschheit die längste Zeit ihres Bestehens ausgeliefert und ist es teilweise heute noch. Das Bewußtsein, Opfer derart blind dreinschlagender Kraft zn sein, bedeutet eine echte Ansiedlung der Kontingenz im Dasein und spiegelt sich wieder in der Angst oder auch Panik, die diese Nöte auslösten«, sowie weiter (36): »Daß Naturkatastrophenkontingenz sich zn geschichtsträchtigen Ereignissen verdichten können, ist aus dem Spätmittelalter mit seiner Bevölkerungsdezimierung durch die Pest bekannt.«

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

Vielmehr ist beabsichtigt, spezifische Verhaltensweisen Justinians, die es im einzelnen herauszuarbeiten gilt, mit den exogenen Faktoren sowie den faßbaren Reaktionen darauf in Segmenten der Reichsbevölkerung in Beziehung zu setzen und vor dem Hintergrund eines solcherart angelegten Spannungsverhältnisses zu untersuchen. In diesem Zusammenhang wird es sich mehrfach anbieten, bestimmte Aktionen des Kaisers auf Faktoren in dessen Persönlichkeitsstruktur, insbesondere auf seine exzeptionelle Religiosität, zurückzuführen. Eine in dieser Art personalisierende Argumentation erhebt jedoch keineswegs den Anspruch, eruieren zu können, »was« Justinian in verschiedenen Situationen jeweils gedacht hat; wohl aber erscheint es möglich, zu beschreiben, »wie« er gedacht hat. Denn die Tatsache, daß der Kaiser seine gesamte Umwelt nahezu ausschließlich mittels religiöser Deutungsmuster wahrgenommen hat, d.h. daß er sämtliche Vorgänge in der für ihn faßbaren Umgebung auf die Einwirkung Gottes zurückgeführt hat, erscheint wie sich zeigen wird - durchaus plausibel und sicher aus den Quellen belegbar. Zum anderen ist der Blick auf die Reichsbevölkerung zu richten; im Zentrum dieses Teils der Untersuchung soll die Frage nach den Auswirkungen der Katastrophen auf die Mentalität(en) der Zeitgenossen stehen. Dabei stellt sich auf den ersten Blick als Hauptproblern eine nahezu vollkommen fehlende Differenzierung nach regionalen, sozialen u.a. Kriterien dar. Dieser Mangel ist den Quellen geschuldet, die zwar - verglichen mit anderen Zeiträumen des Altertums - für das 6. Jahrhundert in verhältnismäßig reichlicher Anzahl vorhanden sind, aber längst nicht genügen, um vor dem Hintergrund unserer spezifischen Fragestellungen Untergliederungen der beschriebenen Form zu ermöglichen. Insbesondere im Fall von Naturkatastrophen - ohnehin punktuelle Ereignisse, die jeweils nur kurze, ausschnittartige Einblicke in größere Zusammenhänge erlauben - werden in den Quellen vornehmlich die betroffenen Kollektive insgesamt, d.h. Städte, Regionen usw. sowie herausragende, als Exempla (oft moralischer Art) stilisierte Einzelschicksale thematisiert. Soweit das Material überhaupt Einblicke in soziale Differenzierungen erlaubt, scheint es jedoch so zu sein, daß insbesondere die Entwicklungsprozesse, die wir für den religiösen Bereich herausarbeiten werden (Zunahme der Marienverehrung, Ausbreitung des Bilderkultes), von allen Schichten der Bevölkerung bis hin zum Kaiser mitgetragen wurden. Das ohnehin veraltete Konzept der Volksfrömmigkeit greift für unsere Fragestellungen nicht. Die Arbeit legt somit zwei verschiedene methodische Ansätze zugrunde: Das herkömmliche politikgeschichtlich orientierte Vorgehen (bei dem allerdings die Perspektive, aus der die Quellen interpretiert werden, verändert wurde, da die Zeugnisse vornehmlich unter dem Aspekt der Einwirkungen von Katastrophen auf die Entscheidungen und das Handeln des Kaisers untersucht werden) soll durch einen mentalitätengeschichtlichen Ansatz ergänzt werden, der nach dem Umgang mit den Ereignissen durch die Zeitgenossen und den aus der spezifischen Rezep24

Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

tion resultierenden Konsequenzen fragt. Dies ist nicht mit einem Versuch gleichzusetzen, politische, religiöse, geistes- lUld kulturgeschichtliche EntwickllUlgen aus einem einzig durch exogene Faktoren definierten Determinismus heraus zu erklären. Vielmehr soll die EinbindlUlg der als katastrophal beschriebenen Geschehnisse in historische Kontexte lUld vorgegebene mentale Dispositionen im V ordergrlUld stehen lUld auf ihre Konsequenzen hin lUltersucht werden. In einem letzten Schritt sind die beschriebenen beiden Stränge zusammenzuführen, um so aufzuzeigen, ob lUld in welcher Weise bestimmte Reaktionen auf Katastrophen innerhalb der BevölkerlUlg - soweit man aufgflUld der plUlktuellen Ausschnitte von ihr als einem Kollektivum sprechen kann - Einfluß auf RegieflUlgsmaßnahmen Justinians hatten lUld wie diese Maßnahmen wiederum von den Zeitgenossen aufgenommen wurden. Ziel der Arbeit ist somit, die Interaktion jeweils verstanden als Interreaktion auf bestimmte Katastrophen - von Kaiser lUld verschiedenen Gruppen innerhalb der BevölkerlUlg darzustellen lUld als wesentliches Movens für politisch-gesellschaftliche sowie mentalitätengeschichtliche, insbesondere religiöse EntwickllUlgen im 6. Jh herauszuarbeiten. Es soll gezeigt werden, daß die auffallige Dynamik, die allgemein lUld wohl auch zu recht als Charakteristikum dieses Zeitraumes gilt, weniger von der Person des Kaisers lUld seinem vermeintlichen Restaurationsprogramm ausgegangen ist (wie bislang zumeist vermutet wurde), als von den zahlreichen Katastrophen (die freilich z.T. auch Konsequenzen kaiserlicher Politik waren). Dabei wird sich herausstellen, daß die Herrschaft Justinians aufgrlUld der skizzierten Rahmenbedingoogen in viel stärkerem Maße, als es bisher geschehen ist, bereits als Übergangsphase vom Oströmischen zum Byzantinischen Reich angesehen werden muß. Es handelt sich hierbei um einen komplexen Transformationsprozeß, der sich keineswegs - wie bislang häufig zu lesen ist2 - hauptsächlich auf die Phase des späten, nachjustinianischen 6. lUld des frühen 7. JahrhlUlderts eingrenzen läßt, sondern dem u.a. auch wichtige EntwickllUlgen lUld strukturelle VeränderlUlgen angehören, die sich aus besonderen, im einzelnen noch zu beschreibenden Gründen unter der Herrschaft Justinians vollzogen haben. Es geht in der vorliegenden UntersuchlUlg allerdings nicht in erster Linie darum, diesen WandllUlgsvorgang insgesamt lUld in all seinen Facetten zu analysieren, zumal sich letztlich jeder geschichtliche Zeitraum als Phase der Transformation lUld des Wandels begreifen läßt. Vielmehr sollen die Hinweise auf markante VeränderlUlgen in zentralen Bereichen des Alltags lUld der Politik vor allem deshalb in den Kontext der Diskussion der Übergangsproblematik gestellt werden, um die beschriebenen Prozesse selbst deutlicher zu konturie2 Z.B. bei OSTROGORSKY (1941), 237ff.; WErss (1977), 531 (mit älterer Literatur); MAlER (1973), 74ff.; Av. CAMERON (1978); DIES. (1979a), 3f.; P. SCHREINER (1994), 4; WIRTH (1997), 47. Dezidiert gegen WErss (1977), der eher Kontinuitäten hervorgehoben hatte, argumentieren KAzHDAN/CUTLER (1982), mit besonderer Betonung von Brüchen im späten 6./frühen 7. Jh.

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VOTÜberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

ren. Daß sich dabei neue Aspekte im Hinblick auf die Frage des Übergangs von Ostrom zu Byzanz ergeben, kann als Nebenergebnis der Behandlung der eigentlichen Fragestellung verstanden werden. Die damit verbundene komplexe Problematik gilt es aber nur am Rande zu streifen. Auch wellil die Kriterien für dasjenige, was noch als >spätantik< und schon als >byzantinisch< zu gelten hat, keineswegs festliegen und daher nur eine grobe Orientierung an verbreiteten, in der Forschung zumeist implizit zugrunde gelegten Vorstellungen möglich ist, wird sich doch zeigen, daß sich in den nahezu vier Jahrzehnten der Herrschaft Justinians gravierende Veränderungen vollzogen haben, die insbesondere durch eine zunehmende Loslösung der gesamten oströmischen Gesellschaft von antiken Traditionen gekennzeichnet sind, so daß es am Ende der Arbeit gerechtfertigt erscheinen wird, dem behandelten Zeitraum einen besonderen Übergangscharakter beizumessen. Die Untersuchung geht von einer Reihe von Grundbedingungen aus, die es im folgenden kurz zu skizzieren gilt: Prinzipiell wird für das 6. Jahrhundert eine hohe religiöse Aufladung öffentlicher Ausdrucks- und Kommunikationsformen vorausgesetzt, die sich in nahezu allen erhaltenen Quellen spiegelt3 und die sich insbesondere in den späteren Jahren Justinians noch erheblich verdichtet -letzteres ein Sachverhalt, den es in den folgenden Kapiteln ausführlicher zu analysieren gilt. Sie manifestiert sich u.a. in der seit ca. 500 rapide zunehmenden Kirchenbautätigkeit im gesamten Oströmischen Reich, insbesondere aber in der Kaiserstadt Konstantinopel, ferner in der hohen Anzahl religiöser Prozessionen im 5./6. Jahrhundert, in der wachsenden Relevanz einer religiösen Legitimation des Kaisertums und des damit verbundenen Aufstiegs der christlichen Frömmigkeit zur zentralen Herrschertugend,4 in der damit einhergehenden hohen Bedeutung von Frömmigkeit im sozialen und gesellschaftlichen Alltag überhaupt, in der zunehmenden Abhängigkeit politischer Entwicklungen und politischen Handeins von religiösen Faktoren (erillilert sei etwa an die im Jahr 512 aus religiösen Differenzen erwachsenen schweren Unruhen gegen Anastasios,5 oder das geforderte Bekelliltnis zur Orthodoxie als Voraussetzung für seine Thronbesteigung)6 sowie in der Wahrnehmung der Umwelt vorwiegend mit Hilfe religiöser (d.h. christlicher, nicht allgemein ritueller) Deu-

3 Dies betont auch SCOTT (1996), 24 mit besonderem Hinweis auf JohannesMalalas. MAGDALINO (1993), 12 (Kirchenbau); BALDOVIN (1987), 213f. (Prozessionen); DIE· 4 FENBACH (1996) (Frömmigkeit als Herrschertugend). 5 CAPIZZr (1969), 119ff.; GRAY (1979), 39. Die komplexen Zusammenhänge politischer und religiöser Faktoren bei den Unruhen unter Anastasios diskutiert WIRTH (1990). 6 De caerim. I 92 p. 418,19-20 (ogß6öo~ov ßUOlAEU Tfi OiKOUIlEVn); I 92 p. 421,12-13 RErsKE (:rtgOßUAouIlEi}u ävÖgu Ei~ -rl]V ßUOlAElUV KUt ogi}oÖo~ov KUt u:yvov). Vgl. dazu auch GRAY (1979), 34.

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

tungsmuster (zum Begriff der Deutungs- bzw. Orientierungsmuster s.u.) durch die Zeitgenossen - insbesondere letzterer Aspekt wird in dieser Arbeit noch mehrfach zu diskutieren sein. Vor dem Hintergrund dieser zentralen Rolle von Religion in ihrer spezifisch christlichen Auffassung gewinnen die beschriebenen Endzeiterwartungen, die einen integralen Bestandteil des christlichen religiösen Systems darstellten, an besonderer Relevanz. Denn allein die hohe religiöse Aufladung spricht bereits :für die weite Verbreitung und die tiefe Verankerung entsprechender eschatologischer Vorstellungen. Auch aus diesem Grund wird im folgenden eine ausgesprochen hohe Akzeptanz der auf ein WeItende um 500 zielenden eschatologischen Vorstellungen bei den Zeitgenossen vorausgesetzt. Einige Quellenzeugnisse, die diese Vermutung in besonderer Weise fundieren, werden im weiteren Verlauf der Arbeit noch näher zu besprechen sein. Ein weiterer Punkt betrifft die Katastrophen und ihre Deutung: Der Befund einer rapiden Zunahme von außergewöhnlichen, als katastrophal empfundenen Naturphänomenen sowie von Ereignissen, die auch im heutigen Sinne als Katastrophen gelten, ergibt sich zunächst aus den schriftlichen Quellen. Er stellt somit vordergründig ein Wahrnehmungsphänomen dar/ und es erhebt sich daher die grundsätzliche Frage, ob das in den Quellen gezeichnete Bild wirklich als authentisch angesehen werden kann oder ob der modeme Historiker nicht vielmehr einer negativen Verzerrung erliegt. In der Tat kann zweifelsfrei davon ausgegangen werden, daß die Sensibilität:für ungewöhnliche Naturereignisse im 6. Jahrhundert merklich gegenüber den vergangenen Jahrhunderten zugenommen hat - ein Umstand, der wiederum mit den seit 500 virulenten Naherwartungen in Zusammenhang gebracht werden könnte. 8 Diese erhöhte Sensibilität spiegelt sich u.a. darin, daß nunmehr nahezu jedes Erdbeben in einem noch so entlegenen und kleinen Ort verzeichnet und tradiert wird, daß auch Erdbeben erwähnt werden, die überhaupt keinen Schaden verursacht haben,9 und daß aufHillig viele Brände und Erdbeben, die im liturgischen Kalender Konstantinopels vermerkt sind und derer durch jährliche Prozessionen gedacht wurde, dem 6. (und 5.) Jahrhundert angehörten. Daß die Gattung der Chronik, in welcher derartig katastrophale Ereignisse stets eine besondere Rolle spielen, ausgerechnet im 6. Jahrhundert einen besonderen Auf-

7 So mit Nachdruck BRANDES (1989),176. WALDHERR (1998), 63 weist daraufhin, daß insbesondere hinsichtlich der Nachrichten über zunehmende Naturkatastrophen in der Spätantike entsprechende Vorsicht angebracht sein sollte. 8 In diesem Sinne vgl. bes. MAGDALINO (1993), 5. 9 Z.B. Malal. p. 478,16-17 D. (= p. 403,41-42 TH.) (Antiocheia, frühe 30er Jahre); Malal. p. 478,8-11 D. (= p. 402,34-36 TH.); Chron. Pasch p. I 629,11 (Konstantinopel, 533); Prok. BG VII 29,4-5 (Konstantinopel und andere Orte, 548); Malal. p. 488,18-19 D. (= p. 419,53-54 TH.); Theoph. a.m. 6049 p. 1231,1-2 (Konstantinopel, 557).

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schwung nimmt (zentral ist in unserem Kontext das Werk des Johannes Malalas), dürfte ebenfalls kein Zufall sein. Überdies zeigen Hymnen des Severos von Antiocheia anläßlich bestimmter Unglücksfalle, daß Dürren, Erdbeben und Kriegslasten auch im Gottesdienst thematisiert wurden. I 0 Dennoch wird man zu kurz greifen, wenn man die Zunahme von Katastrophenschilderungen in den Quellen zum 6. Jahrhundert einseitig als reines Wahmehmungsphänomen zu erklären versucht. Die großen, einschneidenden und in ihrer Wirkung nachhaltigen und prägenden Ereignisse sind zweifelsohne historisch. So stellen etwa die Brand- und Erdbebenkatastrophen in Antiocheia 525-528 - archäologisch verifizierbar -, ferner die Zerstörung der Stadt durch die Perser 540, das schwere Erdbeben in Konstantinopel im Jahr 557, der Kutrigureneinfall 559 und insbesondere natürlich die Pest mit ihrer ersten und schwersten Welle im Jahr 541/42 Geschehnisse dar, die in ihrer grundsätzlichen Historizität über jeden Zweifel erhaben sind. Andere Ereignisse lassen sich aufgrund der beschriebenen Reaktionen auf sie als authentisch erweisen. So dürfte etwa das Erdbeben in Konstantinopel im Jahr 533 allein deshalb nicht anzuzweifeln sein, weil es eine kurzfristige monophysitische Gegenbewegung gegen das chalkedonische Bekenntnis einleitete. fu diesem Fall ging es dem Berichterstatter vornehmlich um die religiösen Spannungen und nicht um die >Erfindung< eines Erdbebens aufgrund einer besonders hohen Sensibilität fiir derartige Ereignisse. 11 Darüber hinaus lassen sich einzelne Katastrophen als historisch erweisen, wenn sie in mehreren Quellen unabhängig voneinander berichtet werden. 12 Daß z.B. die Nachrichten über Erdbeben in Anazarbos historische Grundlagen besitzen, geht aus entsprechenden Mauererneuerungsinschriften hervor. 13 Schließlich hat nicht nur die Archäologie, sondern auch die naturwissenschaftliche Katastrophenforschung in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt. So konnte etwa im Hinblick auf die in einer Reihe von Texten erwähnte mehrmonatige (!), fiir die Zeitgenossen mysteriöse Verfmsterung der Sonne 536-537 mittlerweile eine Bestätigung der Berichte aufgrund dendrochronologischer Befunde und Untersuchungen des Grönland-Eises erzielt werden. 14 Aus diesem Ereignis wiederum, das gravierende Auswirkungen auf das Klima gehabt haben muß, lassen sich weitere in den Quellen aufscheinende Katastrophen, wie etwa Umegelmäßigkeiten bei den Wasserständen einiger Flüsse (Po 540, Nil 548), sowie Nahrungsmittelengpässe aufgrund von Mißernten

10 Vgl. Sev. Ant. Hymn. 244-267 (PO 7,692715). 11 Malal. p. 478,8-11 D. (= p. 402,34-36 TH.); Chron. Pasch. p. 1629,10-20. 12 Z.B. die Sonnenfinsternis des Jahres 512, der Komet des Jahres 520, das verheerende Hochwasser in Edessa 525 u.a. (zu den Quellen vgl. Kap. 7). 13 SAYAR (1997). 14 S. dazu u. Kap. 4.1.4.

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plausibel erklären. Demgegenüber wird die Frage einer generellen Klimaverschlechterung in der Spätantike in der Forschung weiterhin kontrovers diskutiertY Alles in allem wird man daher unter Berücksichtigung einer erhöhten Rezeptionsbereitschaft im Bezug auf entsprechende Ereignisse und mit stetem Blick auf sich daraus möglicherweise ergebende, schwer auszumachende Übertreibungen, Verzerrungen und Erfmdungen dennoch davon ausgehen können, daß sich die äußeren Lebensbedingungen im 6. Jahrhundert durch die kurzfristige Abfolge einer Reihe von Katastrophen in gravierender Weise verschlechtert haben. Um einen gewissen Eindruck von der Dichte und Schwere unheilvoller Ereignisse zu vermitteln, durch die der von uns behandelte Zeitraum gekennzeichnet ist, wurde im Anhang der Arbeit eine Liste wichtiger faßbarer Katastrophen beigefilgt. Sie basiert in Teilen auf älteren Katalogen zu jeweils bestimmten Katastrophenformen (z.B. Erdbeben, Brände in Konstantinopel, Kometen, Heuschrecken usw.), in denen jedoch nicht immer korrekte Zuordnungen und Datierungen gegeben werden. 16 Darüber hinaus wurde das Quellenmaterial noch einmal kritisch auf

15 Klimatisch bedingte Faktoren werden seit längerem immer wieder in die umfassende Diskussion über den >Niedergang< des Römischen Reiches eingebracht (bes. von E. HUNTINGTON), vgl. den Überblick dazu bei DEMANDT (1984), 350ff. Im Hinblick auf die ausgehende Spätantike hat erst kürzlich KODER (1996a), 270ff. naturwissenschaftliche Indizien sowie Hinweise in den schriftlichen Quellen dafiir zusammengetragen, daß es im 6. Jh. zumindest wiederholt zu »remarkable c1imatic phenomena« (277) gekonunen sei. Er weist aber auch darauf hin, daß man kaum unterscheiden könne, ob es sich dabei um Anzeichen fiir eine längerfristige Veränderung des Klimas oder lediglich um »a c1imatic oscillation« (277) handele. Allerdings sei die Koinzidenz einer auffälligen Serie außergewöhnlicher Naturphänomene und einer verbreiteten Endzeiterwartung um 500 in der Tat bemerkenswert (277). Andernorts hebt KODER die Bedeutung einer allgemeinen Klimaabkühlung seit der Wende zum 5. Jh. fiir die Transforrnationsprozesse zum Mittelalter ausdrücklich hervor (KODER (1991/92), bes. 411; DERS. (1993a)). Auch PATLAGEAN (1977), 75ff. betont die Bedeutung klimatischer Veränderungen fiir die Bevölkerungsentwicklung in der Spätantike besonders und zählt eine Reihe von regionalen DÜITe- und Kälteperioden auf, die in den Quellen zum 6. Jh. genannte werden (76f.). CROKE (1990b), 168-175 verweist zwar auf die stetigen Fortschritte naturwissenschaftlicher Erkenntnismethoden zur Klimaentwicklung in der Vergangenheit, will aber zum aktuellen Zeitpunkt noch keine definitiven Schlüsse in der Frage nach einer grundsätzlichen Klimaveränderung in der Spätantike sowie nach ihren dann möglichen direkten und indirekten Auswirkungen auf die Lebensbedingungen ziehen. Einen kurzen Überblick über Äußerungen klassisch-antiker Autoren zu Klimaphänomenen gibtNEUMANN (1985). 16 Z.B. SEIBEL (1857), passim [allg. Naturkatastrophen und Pest]; GINZEL (1899), 223-226 [Sonnen- und Mondfinsternisse]; DÜCK (1904) [Erdbeben in Konstantinopel]; GUNDEL (1921), 1191-1193 [Kometen]; CAPELLE (1924) [Erdbeben]; SCHNEIDER (1941) [Brände in Konstantinopel]; KALLNER-AMIRAN (1950/51) [Erdbeben in Palästina]; DOWNEY (1955a) [Erdbeben in Konstantinopel]; GRUMEL (1958), 458ff. [Sonnen- und Mondfinsternisse, 458ff. - Kometen, 469ff. - Erdbeben, 476ff.]; GALANOPOULOS (1960), 374ff. [Flutwellen]; HERMANN (1962), 1104ff. [Erdbeben]; SCHOVE (1984) [Kometen und Sonnenfinsternisse]; GUIDOBONI (1989), 622ff., bes. 689ff. [Erdbeben]; KOHNS (1994), 875ff. [Hungersnöte]; KRONK (1999), 84-92 (Kometen); weitere Kataloge nennt WALDHERR (1998), 52, Anm. 3; sie sind jedoch zumeist nicht vollständig, oft

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besonders gravierende Geschehnisse hin durchgesehen und ausgewertet. Trotz allem kann diese Liste keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit sowie auf eine exakte Spiegelung der zeitgenössischen Situation erheben. Zum einen ist bereits der sich in den Quellen bietende Befund als höchst subjektiv einzuschätzen. Er wird bestimmt von den besonderen Interessen des jeweiligen Autors, wie z.B. regionalen und chronologischen Schwerpunktsetzungen, und seinem generellen Umgang mit Katastrophen (der durchaus funktional sein kann). Die Auswahl aus dem sich derart präsentierenden Material konnte ebenfalls nicht gänzlich objektiv erfolgen. Wichtigstes Leitkriterium war der Versuch, lediglich Ereignisse in den Katalog aufzunehmen, die von den Betroffenen als katastrophal empfunden wurden und nachhaltigen Eindruck ausgeübt haben. Daß dabei vielfach Ermessensentscheidungen zu treffen waren, versteht sich von selbst. Nicht berücksichtigt werden konnten in unserer chronologisch aufgebauten Liste Ereignisse, die aus den Quellen heraus nicht annähernd datierbar sind,17 sowie langfristige, sich zunehmend als katastrophal erweisende Prozesse, wie Z.B. der Gotenkrieg in Italien. Insofern ist der Katastrophenkatalog lediglich als Handreichung zu verstehen, der einen grundsätzlichen Einblick geben und einen ersten Eindruck von der Situation im behandelten Zeitraum vermitteln soll. Sein zeitliches Spektrum wird definiert durch das fur eschatologische Naherwartungen bedeutsame Schwellenjahr 500 sowie das Todesjahr Justinians 565, mit dem der in dieser Arbeit untersuchte Zeitabschnitt endet. In einer Untersuchung, die ihren Ausgangspunkt bei eschatologischen Naherwartungen, d.h. bei einem Aspekt verbreiteter religiöser Vorstellungen nimmt und diesen mit dem Faktum einer anhaltenden Reihe von Katastrophen konfrontiert, um u.a. mittels eines mentalitätengeschichtlichen Ansatzes nach den sich aus dieser Konstellation ergebenden Konsequenzen zu fragen, ist vor Beginn der Einzelanalysen zunächst das zugrundegelegte Verständnis von Religion und Katastrophe

regional begrenzt, teilweise fehlerhaft und vennögen keinen hinreichenden Gesamteindruck von der Situation im 6. Jh. zu vennitteln. 17 So erwähnt z.B. Prok. BG VII 40,5-6 einen von Gennanos (PLRE II 505-507 [G. 4]) zurückgeschlagenen, nicht näher datierbaren Anteneinfall aus der Zeit Justins 1. (die modemen Emendationen )'Iouo'tlvlav6~( statt hs. )'Iouo'tlvo~( sind irreführend, vgl. WALDMüLLER (1976), 33f.). Aus Marcellinus Comes geht hervor, daß bis zum Jahr 530 immer wieder Übergriffe auf Illyrien stattfanden (Mare. com. ad ann. 530 = Chron. min. II 103 MOMMSEN). Prokop berichtet darüber hinaus, daß seit dem Beginn der Herrschaft Justinians nahezu jedes Jahr Hunnen, Slaven und Anten römisches Gebiet verheert hätten (HA XVIII 20-21); dies ist in diesen Dimensionen sicherlich polemische Übertreibung, wirft jedoch ein Licht auf die grundsätzliche Situation. Justinian hatte die Sicherung der Donau im Jahr 530 dem Chilbudios (PLRE IIIA 286f. [Ch. 1]) übertragen, der inunerhin drei Jahre lang die Grenze stabilisieren konnte, dann jedoch im Kampf fiel. In der Folgezeit sei die Donaugrenze entblößt gewesen und inuner wieder von Barbaren überschritten worden (BG VII 14,1-6).

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

kurz zu beschreiben sowie zur Problematik einer mentalitätengeschichtlichen Untersuchung eines antiken Gegenstandes Stellung zu nehmen. Da es sinnvoll erscheint, den Religionsbegriff ausfiihrlich erst an fortgeschrittener Stelle im Zusammenhang der Frage nach den Begriffen >Frömmigkeit< und >Volksfrömmigkeit< zu diskutieren, sei hier lediglich angemerkt, daß im folgenden ein funktionales Verständnis von Religion zugrundegelegt wird, wonach diese als ein System aufzufassen ist, das Erklärungs-, Deutungs- und Orientierungsmuster fiir kontingente Vorgänge bereitstellt. Damit kann praktizierte, d.h. sicht-und faßbare Religion, die wir als Frömmigkeit bezeichnen möchten, als Kontingenzbewältigungspraxis angesehen werden in dem Sinne, wie sie von H. LÜBBE in mehreren theoretischen Arbeiten ausfiihrlich beschrieben worden iSt. 18 Ein in unserem Kontext zentrales Orientierungsmuster, welches durch die Religion angeboten wird, stellt dabei die Apokalyptik dar. Diese läßt sich mit U. H. J. KÖRTNER als Mittel zur Bewältigung eines im Anschluß an O. SPENGLER als >Weltangst< umschriebenen Bewußtseins des Verlorenseins im endlosen zeitlichen Kontinuum charakterisieren; im Rahmen (christlicher) eschatologischer Naherwartungen kommt ihr somit eine besondere Bedeutung zu, die ebenfalls an anderer Stelle näherhin zu beschreiben ist. 19 Es bleibt die Beantwortung der Frage, in welchem Sinne der Begriff der Katastrophe in der vorliegenden Arbeit verstanden werden soll. Das griechische Wort KUL'UOL'QOqlll ist in der antiken Literatur noch keineswegs entsprechend unserem Sprachgebrauch auf negativ konnotierte Ereignisse fixiert; vielmehr weist es ein breites Bedeutungsspektrum auf, das - ausgehend von der Grundbedeutung »Umwendung« - verschiedene Formen des Umdrehens bezeichnen kann, wobei es zumeist eher einen Verlauf als ein konkretes Ereignis umschreibt. In seiner dem modemen Sprachgebrauch am nächsten kommenden negativen Bedeutung ist es dagegen nur selten belegt?O In der griechischen Literatur wird statt des abstrakten Begriffs KUL'UOL'QOqlll zur Bezeichnung eines unheilvollen Ereignisses eher der konkrete Vorgang genannt;21 Prokop z.B. bezeichnet die Pestepidemie nicht als KUL'UOL'Qoqlll, sondern als AOlIl0C;, voooc; oder KUKOV (BP II 22,1_5),22 während er an anderer Stelle die Katastrophen unter lustinian insgesamt als :rruihl beschreibt (HA XVIIl 37) - insofern weist der zeitgenössische Sprachgebrauch durchaus 18 Vgl. bes. LÜBBE (1986), 127ff.; DERS. (1998), 35ff.; daneben bereits LUHMANN (1977), 182ff. S.u. Kap. 5.1.3.1. 19 S.u. Kap. 2.2. 20 Vgl. LSJ 915, s.v. KU-raO-rQ0Mentalität< sowie die zumeist unkritisch unterstellte Voraussetzung, daß Mentalitäten sich in Verhalten, d.h. anhand der in Quellen greifbaren Handlungen manifestieren, implizieren unweigerlich die Gefahr, daß zunächst eine Mentalität aus einem bestinunten Verhalten rekonstruiert wird, um dann wiederum selbiges aus der so gewonnenen Mentalität heraus zu erklären (GILCHER-HOLTEY (1998), 477; die neuere französische Forschung hat sich diesem Problem mittlerweile gestellt, vgl. CHARTIER (1989)). Schon seit längerem ist jedoch bekannt, daß ein grundsätzlich handlungsleitendes (Un-)Bewußtsein und konkretes Verhalten nicht inuner übereinstinunen müssen, so daß wechselseitige Rückschlüsse methodisch problematisch sind (vgl. BORGOLTE (1997), 192). Daneben bereitet auch die verbreitete Bestimmung der Mentalität als einer Form des kollektiven Unbewußten Probleme; der Begriff der Mentalität als historische Kategorie dient in der Regel zur Beschreibung von Vorstellungen und Anschauungen, die Gesellschaften oder Gruppen innerhalb einer Gesellschaft gemeinsam sind. Es ist allerdings fraglich, ob Gesellschaften tatsächlich ohne weiteres in verschiedene, klar voneinander unterschiedene Gruppen gegliedert werden können, die jeweils durch spezifische Anschauungen gekennzeichnet sind und anhand dieser jeweils gesondert umschrieben werden können. Die historischen Realitäten sind zweifellos wesentlich komplexer (vgl. BORGOLTE (1997), 205ff.; DINZELBACHER (1993), XXIV). Der Begriff der Mentalität beschreibt Kollektive, die sich jedoch nicht scharf voneinander abgrenzen lassen, sondern deren Mitglieder (die stets auch eine individuelle Mentalität in die

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V Olüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

Es ist allerdings fraglich, ob eine derart radikale Abwendung von einer Forschungsrichtung, die immerhin zahlreiche anerkannte Studien und Ergebnisse hervorgebracht hat, wirklich erforderlich ist. Gerade die bislang unscharfe begriffliche und inhaltliche Bestimmung von Mentalität(en) und Mentalitätsgeschichte erlaubt es doch, diese Schlagworte jeweils von neuem mit Sinn zu füllen und so einzugrenzen, daß sie die Basis einer historischen Fragestellung und Methode bieten können. 36 Dieses Verfahren dürfte ins besondere aus der althistorischen Perspektive interessant und vielversprechend erscheinen, da zum einen die Antike aufgrund der ihr eigenen Quellensituation37 ganz spezielle Herausforderungen an

Gruppe mit einbringen) jeweils mit verschiedenen weiteren Kollektiven vernetzt sind und dabei unterschiedliche Mentalitäten nebeneinander besitzen, wobei sicherlich nicht auszuschließen ist, daß diese sich untereinander beeinflussen, so daß die Mentalität jeder einzelnen Gruppe nicht nur von den zugehörigen Individuen, sondern ebenso stark auch von weiteren Gruppen mit konkurrierenden Mentalitäten geprägt wird (REICHARDT (1978), 132). Die Frage, inwieweit dieser Prozeß eher auf der Ebene des Bewußtseins oder des Unbewußten abläuft, d.h. mit anderen Worten, ob Mentalitäten auch zielgerichtet umgeprägt werden können oder nicht, führt zu einem weiteren Problemfeld, nämlich der Abgrenzung von Mentalität und Ideologie (dazu im einzelnen SELLIN (1985), 58lff.). Ein letzter wichtiger Kritikpunkt an den Methoden der Mentalitätsgeschichte bezieht sich auf das Quellenproblem: Da die meisten erhaltenen Quellen die sozialen Eliten der jeweils untersuchten Gesellschaften betreffen und das alltägliche Leben des größten Teils der Bevölkerung im allgemeinen nur schwer rekonstruierbar ist, wird den Mentalitätsforschern der Vorwurf gemacht, im besten Fall die Mentalitäten von Eliten zu beschreiben (SCHULZE (1985), 263; SELLIN (1985),573), damit aber nur den geringsten Teil von Gesellschaften zu erfassen und dem eigenen Anspruch, eine »histoire totale« zu betreiben, nicht gerecht zu werden. Die »Annales«-Historiker haben schon früh versucht, diesen Vorwurf zu entkräften, indem sie die Erschließung neuer Quellengattungen auf ihre Fahnen schrieben (vgl. SCHULZE (1985), 260), ein Schritt, der eng mit der Integration der seriellen Methode in die historische Forschung verbunden ist. Diese Methode jedoch birgt wiederum spezifische neue Probleme: Das quantitativ-statistische Verfahren kann nur dann funktionieren, wenn eine ausreichende Anzahl gleichartiger Quellen zu einem bestinnnten Phänomen zur Verfiigung steht. Dies triffi allerdings nur selten zu, so daß oft sog. qualitativ-individuelle Quellen herangezogen werden müssen, um ein Gesamtbild zu entwerfen. Die Stellung und das Gewicht dieser qualitativ-individuellen Zeugnisse gegenüber den quantitativ-statistischen Quellen ist auch unter den Mentalitätshistorikern umstritten (THIRIET (1979/80), 221; H!NRICHS (1979/80), 23lf.; REICHARDT (1979/80), 236 Deweils fiir eine Kombination qualitativ-individueller und serieller Quellen unter einer sinnvollen Fragestellung]; SCHULZE (1985), 263; VOVELLE (1990), 232ff.; vgl. auch DINZELBACHER (1993), XIX). Im übrigen ergibt sich bei ihnen das besondere Problem, daß nicht klar ist, inwieweit derartige Zeugnisse einzelner Individuen als Indizien fiir kollektive Mentalitäten gewertet werden können (SELLIN (1985),591). 36 Warnung vor Mentalitätsgeschichte: BORGOLTE (1997), der aber ausdrücklich ihre Leistungen und Ergebnisse anerkennt. Zu den Vorteilen der unscharfen Begriffsbestinnnung vgl. auch RIEKS (1990), 66. 37 Zu dieser besonderen Quellensituation gehört nicht nur die vergleichsweise geringe Zahl von Zeugnissen, die überdies oft lückenhaft und disparat sind, sondern auch der Umstand, daß zumindest die literarischen Quellen während ihrer Überlieferung einem Selektionsprozeß ausge-

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

den mentalitätsgeschichtlichen Ansatz stellt, da sich zum anderen aber in der altertumswissenschaftlichen Forschung bislang vergleichsweise wenige mentalitätsgeschichtliche Arbeiten fmden und in diesen Studien der Mentalitätsbegriff bisweilen ohne weitere methodische Reflexion eingeführt und angewendet wird. 38 Eine mentalitätsgeschichtliche Arbeit zur Antike sieht sich zunächst in besonderem Maße mit dem Quellenproblem konfrontiert: Das in der französischen Geschichtswissenschaft entwickelte serielle Verfahren, d.h. die Auswertung möglichst großer Mengen von Quellen ein und derselben Kategorie, scheidet als methodische Leitlinie prinzipiell bereits aus, denn das wenige erhaltene Material ist zu inhomogen, als daß diese Methode Erfolg versprechen könnte. 39 So legt z.B. die Studie von J.-N BIRABEN und J. LE GOFF zur Pestepidemie im 6. Jahrhundert deutlich die Schwächen des seriellen Verfahrens im Bezug auf die Antike dar; sie kommt über die Kalkulation einiger statistischer Werte, die trotz aller Bemühungen letztlich unsicher bleiben, nicht hinaus. 40 Das Hauptgewicht der Interpretation setzt waren, so daß sie nur selten als repräsentativ angesehen werden können, sondern eher Aufschlüsse über spezifische Mentalitäten während des Überlieferungszeitraumes geben. 38 V gl. z.B. KUDLIEN (1991), 10, Anm. 5 (kurzer Verweis auf ausgewählte Literatur zum Begriff der Mentalität); OLSHAUSEN (1998). Eine Ausnahme bilden SCIDJBERT (1993), 15-19, die ihr Verständnis des Mentalitäts-Begriffs erläutert und diesen insbesondere vom Begriff der Identität abgrenzt, sowie vor allem STROBEL (1993), llff., bes. 26-32, der für seine mentalitätsgeschichtliche Untersuchung der sog. Krise des 3. Jh. n. Chr. eigens das Konzept der »mentalen Strukturen« entwickelt, das hauptsächlich auf den Überlegungen SELLINS (1985) basiert. STROBEL fragt »nach den Mustern von Gegenwartswahmelnnung, Zeiterleben und Verarbeitung für historisches Geschehen, ebenso nach der Orientierungsfindung der Zeitgenossen und den Mustern ihres Bildes von Gegenwart und Vergangenheit« (27). Er sieht Wahmelnnung, Denken, Wissen, Wollen und Handeln bzw. soziales Verhalten als »unlösbar vernetzte Leistungsbereiche innerhalb der Gesamtfunktion des menschlichen Gehirns«, die vor allem durch mentale Strnkturen im Sinne kognitiver Muster und alltagsübergreifender Orientierungsschemata geprägt seien (31). GIRARDET (1993) versucht exemplarisch, das Paradigma der französischen Mentalitätsgeschichte in modifizierter Form auf die Geschichte der späten Republik und des frühen Prinzipats anzuwenden und äußert sich dabei insbesondere zur Problematik der Mentalitätsgeschichte für die altertumswissenschaftliche Forschung (202-205). LEPPIN (1996) sucht mittels eines mentalitätsgeschichtlichen Ansatzes einen Beitrag zur Erforschung hochrangiger kaiserlicher Freigelassener zu leisten. Wertvolle mentalitätsgeschichtlich angelegte Studien sind darüber hinaus in der Vergangenheit entstanden, ohne daß dies jeweils aus dem Titel hervorgehen mußte, vgl. etwa STRASBURGER (1969 [1954]). Lediglich einführenden Charakter besitzt demgegenüber der kurze Artikel von H. SONNABEND, Mentalität, in: DERS. (1999b), 340-343. 39 Damit scheidet freilich auch eine der wenigen methodischen Prämissen der Mentalitätsgeschichte aus, nämlich die Erforschung bestimmter Phänomene über möglichst lange Zeiträume hinweg (langue duree: Vgl. BRAUDEL (1958)). Dieses Verfahren, das ohne die serielle Methode kaum denkbar ist, hat allerdings mittlerweile selbst aus den Reihen der »Annales«-Historiker Kritik erfahren, die zu Recht daraufhinweisen, daß Mentalitäten keineswegs stets langfristige Phänomene ohne innere Entwicklung sein müssen (VOVELLE (1990), 126ff.; 154ff.; vgl. auch DINZELBACHER (1993), XXV); zur Diskussion SCHULZE (1985), 256f.; SELLIN (1985),587. 40 Vgl. BIRABENILE GOFF (1975 [1969]).

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

muß somit zwangsläufig auf den qualitativ-individuellen Quellen liegen, die jedoch mit allgemeineren Zeugnissen wie Z.B. archäologischen oder siedlungsgeschichtlichen Befunden kombiniert werden können. Daneben bietet sich bei Phänomenen, die Parallelen zu vergleichbaren, aufgrund einer günstigeren Quellenlage besser erforschten Gesellschaften aufweisen (wie z.B. der Pestepidemien des 6. und 14. Jahrhunderts), die Möglichkeit des Analogieschlusses zur Kontrolle und Ergänzung der gewonnenen Resultate;41 es ist in diesen Fällen dann jeweils genau zu prüfen, ob möglicherweise bestimmte Erklärungsmuster der mediävistischen bzw. frühneuzeitlichen Mentalitätenforschung auf antike Verhältnisse übertragen werden könnten, was mitunter immerhin einer indirekten Adaption des »Annales«-Ansatzes auf die Antike entspräche. Dennoch muß natürlich die Interpretation des Einzelzeugnisses im Vordergrund stehen, was einen grundlegenden Unterschied zu den großen Arbeiten der französischen Schule darstellt; es wird sich zeigen, daß wichtige mentalitätsgeschichtliche Ergebnisse nicht unbedingt auf der Wahl der (zur seriellen Interpretation geeigneten) Quellengattung basieren müssen, sondern vielmehr auf der Art der Fragestellung sowie der Kontextualisierung der Einzelinterpretation. 42 Was die exakte Bestimmung des Mentalitätsbegriffes angeht, so scheint es angebracht zu sein, von dem Konsens auszugehen, der allen bislang vorgetragenen Defmitionen zugrundeliegt, und auf dieser Basis gewisse Modifikationen und Ergänzungen vorzuschlagen - insbesondere im Hinblick auf die spezifischen Voraussetzungen des 6. Jahrhunderts n. Chr. Den bisher erarbeiteten Definitionen zufolge handelt es sich bei Mentalitäten um Denkmuster bzw. Inhalte, die Angehörigen bestimmter Gruppen gemeinsam sind und die in Form von unbewußten Anschauungen und Vorstellungen, die sich zu Meinungen und Wertungen verdichten, das bewußte Denken sowie das Verhalten und Handeln der einzelnen Gruppenmitglieder maßgeblich beeinflussen. Die Mentalität konstituiert dabei eine Art gemeinsamen Wissens, das den Menschen Orientierungshilfen im alltäglichen Leben bietet, insbesondere dann, wenn individuelle Deutungsdispositionen nicht mehr greifen oder gänzlich versagen. Insbesondere V. SELLIN hebt dabei den Charakter von Mentalität als eines gemeinsamen Wissens bestimmter gesellschaftlicher Gruppen hervor und konstatiert: »Solches Wissen besitzt Orientierungsfunktion. Dank solchen Wissens weiß

41 Den historisch-anthropologischen Vergleich zur Erhellung antiker Phänomene fordert auch eH. MEIER in einem Gespräch mit U. RAULFF über den mentalitätsgeschichtlichen Ansatz; vgl. MEIERIRAULFF (1987), 163ff., bes. 178; 181; vgl. darüber hinaus jetzt auch MEIER (1996), 262ff. 42 STROBEL (1993), 14. Diese Diskussion hat auch Eingang in die französische Mentalitätsforschung gefunden, vgl. z.B. VOVELLE (1976) sowie auch RErCHARDT (1979/80), 236; SELLIN (1985), 593.

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der einzelne, welche Ziele er verfolgen soll und welche Mittel hierzu tauglich sind; er weiß, wie er die Wirklichkeit ordnen soll in Freund und Feind, Nützlich und Unbrauchbar, Richtig und Falsch, Gut und Böse. Ohne solche gesellschaftlich vermittelten Orientierungen könnte der Mensch nicht existieren. Zwar besitzt er die Fähigkeit zur Reflexion und zur Selbstbestimmung und damit zur Distanzierung gegenüber den gesellschaftlich vorgegebenen Verhaltensregeln, aber er kann unmöglich alle sozialen Vorgaben gleichzeitig in Frage stellen. Die fraglose Hinnahme der meisten Geltungen, in denen er lebt, erscheint geradezu notwendig im Sinne einer >Entlastung< des Bewußtseins.«43 Angesichts der bereits angedeuteten Schwierigkeiten dieser Defmition hat vor einiger Zeit I. GILCHER-HoLTEY den Versuch unternommen, den auf diese Weise zumindest annähernd eingegrenzten Mentalitätsbegriff schärfer zu fassen und dabei vor allem das Problem der unterschiedlichen Strukturebenen von (Un-) Bewußtsein und Verhalten zu lösen. Thre Überlegungen, die auf eine Verwendbarkeit des Mentalitäts-Begriffes für die Neuere und Neueste Geschichte zielen, erweisen sich auch für unsere Zwecke als nützlich. Auf der Grundlage älterer sozialpsychologischer Studien weist GILCHER-HoLTEY zunächst auf die drei unterschiedlichen Strukturebenen hin, die der Mentalitäts-Begriffimpliziert: 44 1.) Die Charakterstruktur: Sie betrifft die innere Disposition des Individuums, die vor allem durch eigene Bedürfnisse wie Triebe, Wünsche und emotionale impulse geprägt, in ihrer Entwicklung aber auch von äußeren Faktoren beeinflußbar ist. 2.) Die eigentliche Mentalitätsstruktur: Es handelt sich um Meinungen, Einstellungen und Wertvorstellungen, die, bewußt oder unbewußt, von außen rezipiert werden und somit Einfluß nehmen auf die Charakterstruktur. Die ausschließliche Ansiedlung der Mentalität auf der Ebene des Unbewußten, die sich schon in der Frage der Abgrenzung von Mentalität und Identität als problematisch erweist, wird also aufgegeben. Mentalitäten sind Bewußtseinsinhalte, die zwischen den Ebenen des Unbewußten und des Bewußten oszillieren. 3.) Die Handlungsstruktur: Entgegen dem älteren Ansatz der Mentalitätshistoriker müssen sich Mentalitäten im Sinne einer Kombination der beiden erstgenannten Aspekte keineswegs zwangsläufig in Handlungen oder Verhalten manifestieren. Neben der Mentalität ist vor allem die jeweilige Situation,45 in der sich ein Verhalten äußert, zu beachten sowie - bei Gruppen - die individuelle Charakterstruktur jedes einzelnen Mitgliedes. 43 SELLIN (1985),580; vgl. ähnlich bereits REICHARDT (1978), 132. 44 GILCHER-HOLTEY (1998), 478f. 45 Der Begriff »Situation« sei hier im weiteren Sinne verstanden, d.h. er wnfaßt sowohl den konkreten Ereignis- bzw. Geschehenszusammenhang, in den ein Verhalten einzuordnen ist, als auch grundsätzliche sozio-ökonomische Grunddispositionen.

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

Eine Aufgliederung des Mentalitätsbegriffs in diese drei Strukturbestandteile zeigt deutlich, daß Mentalität »in einem Wirkungszusammenhang mit der Charakter- oder Persönlichkeitsstruktur einerseits und den Handlungsoptionen andererseits gesehen« werden kann. »Geprägt durch die Charakterstruktur, wird Mentalität als Denkstruktur gefaßt, deren inhaltliche Aufladung in Abhängigkeit von >ideologischen Trends< der Zeit steht, die den psychologischen Bedürfuissen des Individuums Rechnung tragen.«46 Damit zeigt sich, daß Mentalität alleine ein V erhalten nicht erklären kann und deshalb lediglich als Handlungspotential, nicht aber grundsätzlich als Deutungsmuster fiir eine Handlung angesehen werden kann. 47 Die Frage nach spezifischen Mentalitäten hat somit neben dem eigentlichen Verhalten bestimmter Personen jeweils auch auf den unmittelbaren Kontext, d.h. die konkrete Situation bzw. weitere äußere (z.B. sozio-ökonomische) Faktoren und - sofern dies möglich istauf die Zusammensetzung der Gruppe zu zielen, da jedes Individuum eine eigenständige Charakterstruktur mit einbringt. Sowohl Mentalität und Handlungsweise als auch Mentalität und Charakterstruktur stehen also in einem jeweiligen Wechselverhältnis, ohne aber linear aufeinander bezogen zu sein. Die Einbindung der Mentalität in dieses Spannungsfeld grenzt sie überdies deutlich ab von Identität und Selbstverständnis, zwei Kategorien, die aufgrund ihrer ebenfalls schillernden Bedeutungsspektren leicht mit Mentalität verwechselt werden können. Es handelt sich hierbei freilich um methodische Forderungen, die von einer idealen Quellensituation ausgehen, die natürlich fiir das 6. Jahrhundert nicht gegeben ist, obwohl gerade für diese Zeit zahlreiche Zeugnisse existieren, die bislang noch zu wenig in das Blickfeld der Forschung geraten sind. Es versteht sich daher von selbst, daß bei der Realisierung des beschriebenen Konzeptes Kompromisse nicht zu vermeiden sind, so daß unweigerlich die einzelne Quelle unter dem Gesichtspunkt der Fragestellung, Interpretation, Gewichtung und historischer Einordnung in den Vordergrund rückt. Immerhin dürfte GILCHER-HOLTEYS Konzept einer »dynamischen Mentalitätsgeschichte«48 dennoch geeignet sein, den Mentalitätsbegriff methodisch schärfer zu konturieren und damit nicht nur fiir eine altertumswissenschaftliche Untersuchung auch fruchtbar zu machen. Das Verständnis von Mentalität (bzw. besser: Mentalitäten) als einem Konglomerat bewußter und unbewußter Denkmuster, Vorstellungen und Meinungen der Mitglieder spezifischer Gruppen, eingebettet in ein Spannungsfeld von Charakterstrukturen der Individuen einerseits und von Verhalten und Handlungen unter bestimmten äußeren Voraussetzungen (Situationen) andererseits, soll daher als Form orientierungs-

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GILCHER-HOLTEY (1998), 479. GILCHER-HOLTEY (1998), 480. Ähnlich bereits DINZELBACHER (1993), XXV. GILCHER-HOLTEY (1998), 480.

Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

stiftenden kollektiven Wissens (Deutungsmuster, Orientierungsmuster) entsprechend den Überlegungen SELLINS die Basis der folgenden Untersuchung bilden. Es erlaubt die Hypothese, daß sich mentale Dispositionen - in unserem Fall eschatologische Naherwartungen - grundsätzlich handlungsleitend auswirken können, daß die Resultate dieses Handelns jedoch unterschiedlichen Charakter aufweisen können, jeweils abhängig von den Besonderheiten der Situation sowie den individuellen Dispositionen der Mitglieder der zu untersuchenden Gruppen. In den folgenden Kapiteln gilt es, diese Hypothese auf der empirischen Basis zu überprüfen und danach zu fragen, ob sich in unterschiedlichen Situationen im Kontext verschiedener Katastrophen Handlungsmuster abzeichnen, die allen Betroffenen gemeinsam sind oder zumindest verallgemeinerbar erscheinen. Auf eine ausfuhrliche Beschreibung des zugrundegelegten Quellenmaterials kann an dieser Stelle verzichtet werden. Entsprechende Hinweise und Zusammenfassungen fmden sich in nahezu jeder modernen Darstellung zu Justinian und seinem >ZeitalterZeitalter Justinians< bislang jedoch noch nicht eingehend untersucht, möglicherweise deshalb, weil die Unglücksfälle des 6. Jahrhunderts bislang allzu sehr im Schatten der Katastrophen des 7. Jahrhunderts in Byzanz, insbesondere des Arabersturms, standen. Zwar werden die außergewöhnlichen Unglücksfälle während der Herrschaft Justinians regelmäßig angeführt und kurz besprochen, in ihren Auswirkungen jedoch zumeist unterschätzt. 54 Immerhin existiert mit dem Werk V. SEIDELS über »Die große Pest zur Zeit Justinians und die ihr voraus und zur Seite gehenden ungewöhnlichen Naturereignisse« eine monographisch angelegte Arbeit, die in ihren Erklärungsmustem jedoch noch vielfach vorwissenschaftlichen Ansätzen verpflichtet ist (so sieht SEIDEL z.B. zwischen den einzelnen Naturkatastrophen des 6. Jh. ähnlich wie die betroffenen Zeitgenossen einen inneren Zusammenhang) und eher aus forschungsgeschichtlicher Perspektive ein interessantes Unikum darstellt. 55 Demgegenüber wurden ein-

51 Vgl. bes. DIEHL (1901); SCHUBART (1943); RUBIN (1960); SCHWARTZ (1960); BARKER (1966); MEYENDORFF (1968); HUNGER (1975b [1965]); GEROSTERGlOS (1982); BROWNING (1988); CAPIZZI (1994); MOORHEAD (1994); EVANS (1996); GAUTHIER (1998); MARAvAL (1999); NOETHLICHS (1999); UTHEMANN (1999); MAZAL (2001). Zwar geht es RUBIN (1960) um die Charakterisierung einer ganzen, weltgeschichtlich bedeutsamen Epoche, und auch EvANS (1996) fragt nach den »circumstances of imperial power«; beide Werke sind aber letztendlich doch biographischen Ansätzen verpflichtet, wobei allerdings im Fall RUBINS zu konzedieren ist, daß er sein großangelegtes, auf mehrere Bände projektiertes Zeitgemälde nicht vollendet hat. Auf die in der Regel ereignis-, politik-, und kriegsgeschichtlich orientierte Ausrichtung der Forschungen zu Iustinian und die Mängel entsprechender Ansätze hat insbesondere SCOTT (1996), 20f. nachdrücklich hingewiesen. 52 Erscheint in: GFA. 53 V gl. das Literaturverzeichnis. Unter dem mentalitätengeschichtlichen Aspekt sind insbesondere hervorzuheben Av. CAMERON (1966); DIES. (1970); DIES. (1978); DIES. (1979a); DIES. (1980); DIES. (1985); DIES. (1992). 54 Exemplarisch sei etwa auf die zusannnenfassenden Bemerkungen SCHUBARTS (1943), 214f. verwiesen. 55 SEIBEL (1857); vgl. bes. ebd. 2: »Unter die Zahl jener universalhistorischen Epidemien gehört auch die große Pest im Zeitalter Iustinians, welche mit den ihr voraus und zur Seite gehenden ungewöhnlichen Naturereignissen ein großes in sich geschlossenes Ganzes einer gewaltigen Revolution bildet« sowie 6: »Angesichts solcher Thatsachen [... ] wird man die Wahrscheinlichkeit eines nothwendigen, inneren Zusannnenhanges zwischen jenen physischen Revolutionen und den gleichzeitigen großen Epidemien kaum in Abrede stellen können. [... ] Kaum minder auffallend nun

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

zeine katastrophale Ereignisse des 6. Jahrhunderts wiederholt punktuell thematisiert, darunter vor allem natürlich die Pestepidemie der Jahre 541/42 sowie die späteren Wellen der Seuche, zu der mittlerweile eine größere Anzahl von Arbeiten vorliegt. 56 Die mangelnde Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Auswirkungen sowie den längerfristigen Konsequenzen der Katastrophen des 6. Jahrhunderts ist Resultat einer grundsätzlichen Vernachlässigung entsprechender Forschungsfelder in der modemen Geschichtswissenschaft. Erst der wegweisende Aufsatz von A. BORST zum Erdbeben von 1348 hat in dieser Hinsicht als fuitialzündung gewirkt und eine Neuorientierung eingeleitet. 57 Im Gefolge seiner Überlegungen traten (Natur-)Katastrophen allmählich mehr in das Blickfeld historischer Forschungen; ein aktuelles Beispiel stellt ein interdisziplinärer Tagungsband zu Wahrnehmung und Deutung von Naturkatastrophen von der Antike bis zur Gegenwart dar. 58 Auch die Alte Geschichte hat sich mittlerweile entsprechenden Fragestellungen geöffnet: Mit den Arbeiten G. WALDHERRS, dem umfangreichen Tagungsband von E. ÜLSHAUSEN und H. SONNABEND zum Thema »Naturkatastrophen in der antiken Welt« sowie der fiir ein breiteres Publikum angelegten Monographie von H. SONNABEND zu »Naturkatastrophen in der Antike« ist in den letzten Jahren eine Reihe von Studien entstanden. 59 Daß sich diese Thematik damit keineswegs erschöpft hat, sondern lediglich Impulse fiir weitergehende Forschungen gegeben wurden, hat zuletzt noch einmal G. WALDHERR deutlich gemacht. 6o Eine exakte, allgemein anerkannte Deftnition der Voraussetzungen, Ziele und zentralen Methoden einer >historischen Katastrophenforschung< für den Bereich der Antike ist allerdings noch nicht vorgelegt worden.

als bei dem schwarzen Tode ist bei der großen Pest unter Justinian die Ausdehnung und intensive Kraft der Erdbeben und anderen ungewöhnlichen Naturerscheinungen, auf deren düsterem Hintergrunde das schauerliche Bild jenes riesenhaften Kampfes menschlicher Kraft mit der zerstörenden Gewalt einer tödtlichen Seuche sich entfaltet.« SEIBEL sieht in den Pestzügen des 6. und des 14. Jh. Ereignisse, die welthistorische Dimensionen besessen hätten, vgl. ebd. 40: »Bedeutsam aber muß es erscheinen, daß zwei große Wendepunkte in der allgemeinen Geschichte durch das Hervortreten welthistorischer Pesten mit ihrem Gefolge von physischen Revolutionen bezeichnet sind: das sechste Jahrhundert, wo mit dem flüchtigen Prunkbilde einer oströmischen Weltherrschaft der letzte Rest des alten Römerthums und der antiken Welt zu Grabe ging, durch die große Pest unter Justinian, und das 14. Jahrhundert, in welchem die erhabenen Ideen des christlich-germanischen Lebens im Mittelalter, nachdem sie in den Kreuzzügen ihre Verwirklichung und Verklärung gefunden, in den Hintergrund zu treten begannen, durch das Auftreten des schwarzen Todes.« 56 Vgl. die angegebene Literatur in Kap. 3.3.3 und 7. 57 BORST (1981); vgl. auch VON HÜLSEN (1993), 218ff. 58 GROHIKEMPEIMAUELSHAGEN (2002). 59 WALDHERR (1997a); DERS. (1997b); DERS. (1997c); DERS. (1998); OLSHAUSEN/SONNABEND (1998); SONNABEND (1999a). 60 WALDHERR (1998).

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

Welch hohe Bedeutung exzeptionelle Katastrophen oder gar Katastrophenkumulationen, wie sie fiir das 6. Jahrhundert zu konstatieren sind, prinzipiell fiir historische Prozesse, rur gesellschaftlich-soziale, ökonomische, kultur- und religionsgeschichtliehe Entwicklungen besitzen, geht aus einer Reihe von Beispielen der nachantiken Geschichte klar hervor. So werden in der Literatur wiederholt Ereignisse wie der Arabersturm des 7. Jahrhunderts, der Schwarze Tod im 14. Jahrhundert oder auch das Erdbeben von Lissabon 1755 mit seinen bedeutsamen Folgen fiir die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte als epochal herausgestellt. 61 Die nachfolgenden Untersuchungen sollen verdeutlichen, daß auch den Katastrophen während der Herrschaft Justinians eine durchaus hohe Relevanz beizumessen ist. Abschließend sei noch kurz eine Bemerkung zur Schreibung der antiken Eigennamen angerugt: Grundsätzlich wurde in dieser Arbeit die griechische Schreibweise bevorzugt (d.h. Oikumenios statt Oecumenius, jedoch unter Verwendung von >U< statt >ouKrisenmentalität< dar, wie K. STROBEL herausgestellt hat. 9 Während entsprechende pagane Texte, wie z.B. der zwischen 169 und 175 entstandene erste Teil des 8. Buchs der Oracula Sibylfina, lediglich Beispiele einer reichhaltigen prophetischen Literatur sind, die in der Kaiserzeit in hoher Blüte stand und auf alten Traditionen basierte,10 können auch die erhaltenen christlich-apokalyptischen Texte nicht als Erweis einer verbreiteten >Weltuntergangsstimmung< dienen; sie stellen vielmehr anschauliche Zeugnisse für das Ringen um ein eschatologisch-heilsgeschichtliches System dar, in dem sich die endzeitlichen Visionen der Evangelien und der Offenbarung insbesondere mit dem Problem der Parusieverzögerung vereinbaren ließen. 11 In diesen Texten bilden unheilvolle Ereignisse und Erfahrungen der Zeitgeschichte weniger den Anlaß der eschatologischen Spekulationen als vielmehr ihr Ziel 12 - seit etwa 500 8 Ein Fall, in dem die Gleichzeitigkeit mehrerer Ereignisse und Phänomene betont wird, liegt freilich Thuk. I 23,2-3 vor, wo der Autor konstatiert, daß der Peloponnesische Krieg mit all seinen ohnehin schon verheerenden Auswirkungen auf die Menschen auftIilligerweise auch noch von Erdbeben, Sonnenfinsternissen, Dürren, Hunger und Seuche begleitet worden sei. All diese Erscheinungen werden aber letztlich auf ein einziges Ereignis, nämlich den Konflikt zwischen Athen und Sparta bezogen, bildeten also nach Thukydides keinen längerfristigen, kohärenten Ereigniszusannnenhang, sondern steigerten lediglich das gewaltige Ausmaß des Peloponnesischen Krieges (vgl. SONNABEND (1999a), 142). Erst seit republikanischer Zeit erscheinen Prodigienlisten häufiger, vgl. z.B. Cic. div. I 18, wo das Konsulatsjahr Ciceros und die Verschwörung Catilinas von Naturerscheinungen mit Zeichencharakter umrahmt werden, ferner etwa Tac. hist. I 2-3 oderein Fall aus der Spätantike - Hyd. Lem. 149 und 151 ad ann. 452 = Chron. min. II 26 MOMMSEN, wo unheilvolle Naturphänomene den Einfall Attilas in Gallien umrahmen. Weitere Beispiele bietet BERGER (1980),1443, Anm. 55. STROBEL (1993), passim. Allerdings blieb STROBELS Versuch, auf der Basis einer menta9 litätsgeschichtlichen Untersuchung der Zeugnisse dem verbreiteten Bild von der Krise des Römischen Reiches im 3. Jh. das Modell einer Abfolge »der einzelnen, zeitlich und geographisch begrenzten und inhaltlich zu bestimmenden Krisen im 3. Jahrhundert« (286) entgegenzustellen, nicht unwidersprochen. So weist T. KOTULA, Gnomon 68 (1996), 375-377, darauf hin, daß »gerade diese einzelnen Krisen [00'] insgesamt das komplizierte Phänomen aus[machen], das wir mit dem modemen [00'] Begriff >Krise des 3. Jhs.ewigen< Stadt Rom und lösten damit eine Fülle von Reflexionen über die augenblickliche Situation der Betroffenen aus. 14 Zwar verlor Rom durch dieses Ereignis - wie bereits angedeutet - seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit, doch führte dieser Umstand erstaunlicherweise nur für einen relativ kurzen Zeitraum zu Panik und Orientierungslosigkeit.1 5 Bereits wenige Jahre nach der Katastrophe wußte man die Einnahme der Stadt zu deuten und zu erklären: 16 Auf der Offenbarung und versucht die dort genannten Vorzeichen der Parusie bzw. der Endzeit dann in der Realität wiederzuentdecken (vgl. STROBEL (1993), 79f.). Auch auf alttestamentliche Vorzeichen wird sowohl in der paganen Orakelliteratur als auch in der christlichen Apokalyptik zurückgegriffen (Erdbeben, Überschwemmungen, Hagel, Dürre, Heuschrecken, moralischer und religiöser Verfall, Krieg, Hunger, Seuche, Kampf aller gegen alle, kosmische Zerstörung, vgl. STROBEL (1993), 79). Einen Sonderfall stellen die Schriften Cyprians dar (bes. Ad Demetrianum [um 252] und De mortalitate [252/53]), die - deutlich vom aktuellen Zeiterleben, von Seuche und Verfolgung geprägt m.E. in der Tat eine Endzeiterwartung artikulieren, die aber vor allem durch regionale Ereignisse und eigene Erlebnisse forciert wurde, nicht aber als Indiz einer allgemeinen Weltuntergangsstimmung unter den Christen im gesamten Reich herangezogen werden kann (immerhin gibt Cyprian nach dem allmählichen Nachlassen der unmittelbaren Nöte seine Prophezeiung des drohenden Weitendes auf, vgl. De bono pat. 21 [256]), auch wenn Cyprian ohne Zweifel Krisensymptome, die das Reich auch insgesamt betrafen, reflektiert, wie ALFÖLDI (1973), 479ff., bes. 494ff. zu zeigen versucht hat. In diesem Punkt stellen die Ausführungen STROBELS (1993), 146-184, bes. 182f. mit Anm. 359, sicherlich noch nicht das Ende der Diskussion dar. 13 Auch FEICHTlNGER (1998), 155 konstatiert, daß diese Zeit »durch eine zunehmende Verunsicherung und existenzielle Ängste der Bevölkerung geprägt« gewesen sei. In ähnlichem Sinne vgl. auch BRANDES (1997), 45 (mit Hinweis auf die immer häufiger werdenden Nachrichten über Katastrophen in der Zeit um 400 in der Chronik des Marcellinus Comes); NOETHLICHS (1998), Iff.; KLEIN (1999), 108. 14 ZWIERLEIN (1978), 48ff.; DEMANDT (1984), 58ff.; FEICHTINGER (1998), passim mit der älteren Literatur; GÄRTNER (1998), 160ff. Stilicho ließ um 408 die Sibyllinischen Bücher verbrennen (Rut. Nam. II 51ff.), ein Akt, der möglicherweise dazu diente, verbreitete Weltuntergangsängste angesichts der Bedrohung durch die Goten zu dämpfen, vgl.NOETHLICHS (1998),14. 15 Z.B. Claudian. bell. Get. 265-266; Hieron. epist. 127,12-14 (= I. HILBURG (Ed.), Sancti Eusebii Hieronymi Epistulae, Pars III: Epistulae CXXI-CLIV, Wien - Leipzig 1918 [CSEL 56], p. 154-156). Vgl. dazu ZWIERLEIN (1978), 45ff.; FEICHTINGER (1998), 145-147; 151ff. 16 V gl. FEICHTINGER (1998), 151. Einen konzisen Überblick über die geistigen Auseinandersetzungen mit dem aktuellen Geschehen jener Jahre bietet VITTINGHOFF (1964).

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Grundvoraussetzungen: Unerfiillte Erwartungen

christlicher Seite boten insbesondere Augustinus mit seinem Gottesstaat und Orosius mit seiner christlich-heilsgeschichtlichen Deutung der Geschichte die Möglichkeit, selbst die unheilvollen augenblicklichen Zustände als Bestandteile eines göttlichen Planes zu begreifen, und propagierten neue Formen einer Romidee nach christlichem Verständnis; parallel dazu rückte Konstantinopel als neue, christliche Hauptstadt endgültig ins Zentrum des kollektiven Bewußtseins der Christen. 17 Demgegenüber wandelte sich unter den Heiden nunmehr die traditionelle Romidee zu einem Kristallisationspunkt fiir alle Hoffnungen auf den Fortbestand des Römischen Reiches und wurde in diesem Sinne neu ausgestaltet und mit entsprechenden Inhalten, insbesondere einem neuen Ewigkeitsverständnis, gefiillt 18 ordo renascendi est crescere posse maUs (Rut. Nam. I 140). Die Eroberung Roms im Jahr 410, deren unmittelbare Folgen sich noch zwischen panikartiger Verzweiflung und fatalistischer Resignation bewegt hatten, konnte im Bewußtsein der Zeitgenossen somit in relativ kurzer Zeit überwunden werden. Denn es gelang, ihr einen Sinn zu geben und das Ereignis in bereits bestehende Weltbilder im Sinne von Orientierungsmustern einzufugen, die somit keineswegs versagten, sondern lediglich modifiziert bzw. den Umständen angepaßt, mithin dabei sogar gestärkt wurden, wie im Fall der Romidee, die erst nach 410 - resultierend aus dem temporären materiellen Verlust Roms - ihre eigentliche Ausprägung als Idee erhielt. 19 Anders sind dagegen die Verhältnisse im Oströmischen Reich des 6. Jahrhunderts zu bewerten. Bildete im Osten eine Gestalt wie der Kirchenhistoriker Philostorgios, der in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts aus der Perspektive des als häretisch stigmatisierten arianischen Bekenntnisses eine außergewöhnliche Kumulation von Naturkatastrophen unter dem nicänischen Regime der Theodosianischen Dynastie verzeichnete und in apokalyptische Deutungsmuster einordnete, zunächst noch eine Ausnahrne,2o so gelang es den Menschen seit 500 - so die These - zunächst nicht mehr, den negativen Ereignissen noch einen Sinn im göttlichen Weltbzw. Heilsplan zuzumessen. Die Folge war der Verlust von Orientierungsmustern, d.h. letztlich das Versagen der herkömmlichen Weltbilder; jetzt erst wurden erstmals im Altertum - Kriege, Seuchen und Naturphänomene aller Art als Katastrophen gemäß unserem heutigen Verständnis empfunden, denn zum ersten Mal griffen altvertraute Deutungsmuster vielfach nicht mehr und ließen sich auch nicht 17 Dazu FEICHTINGER (1998), 158-160 (Romidee); BECK (1993) [1964]), 136 (Konstantinopel) . 18 FUHRMANN (1993 [1968]), 89f.; 107ff. Eines der eindrucksvollsten Zeugnisse dieser Romidee stellt der 417 entstandene Romhymnus des Rutilius Namatianus (Rut. Nam. I 47-164) dar, vgl. dazu GÄRTNER (1998), 164ff. Die wichtigsten Texte, sowohl zur christlichen als auch zur paganen Romidee, diskutiert PASCHOUD (1967). 19 Vgl. dazu GÄRTNER (1998), 160ff. 20 Zu Philostorgios und der Tendenz seines Geschichtswerks vgl. LEPPIN (2001), Illff., zu den Naturkatastrophen bes. 121; 124.

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Unterschiedliche Deutungsperspektiven der Katastrophen des 6. Jh.

mehr kurzfristig adäquat modifizieren. Damit aber verloren die Ereignisse ihre Signifikanz als Träger von Nachrichten bzw. Informationen (dazu s.u.); was übrig blieb, war jeweils das Faktum als solches, d.h. letztlich die bloße Katastrophe. Im folgenden gilt es, diese These zu begründen: In der Antike21 galten ungewöhnliche Naturerscheinungen und -ereignisse, Seuchen, mitunter sogar Kriege grundsätzlich als Zeichen (griech. TEQUC;, aTU.l!::tov, OlroVOC;, Zweites (Neues) Jerusalem< bezeichnet, eine Benennung, die starke eschatologische Implikationen aufweist (zur eschatologischen Bedeutung Jerusalems vgl. KÜLZER (2000), 58): Vita Danielis Stylitae 10 p. 12,13-14; vgl. Epitome Vitae 1 p. 95,30-31. Die Parallelisierung Konstantinopels und Jerusalems ko=t auch in einigen Bauwerken zum Ausdruck: Die Anfang des 6. Jh. aus Mitteln der Anicia Iuliana (PLRE 11 635f. [Anicia Iuliana 3]) ausgestaltete monumentale Polyeuktoskirche wurde ausdrücklich in Anlehnung an den Tempel Salomons in Jerusalem konzipiert (vgl. Anth. Graec. I 10,47-48; HARRISON (1983), 276ff.; DERS. (1990), 137ff.; u. Kap. 3.1.2.1); auch die mit der Polyeuktoskirche konkurrierende Hagia Sophia wurde auf den Tempel Salomons bezogen (Rom. Mel. 54,21 M.rr. = 54,21 GDM (p. V 492-494); Anonymi in Hagiam Sophiam Hymnus p. 141-147 TRYPANIS). Vgl. dazu MAGDALINO (1993), l1f.; BRANDES (1999a), 123f. 95 Zu diesen indirekten Bezugnalunen und Hinweisen aufEndzeiterwartung im 6. Jh. in den entsprechenden Quellen vgl. umfassend die brilliante Analyse des Materials von MAGDALINO (1993), 5ff.

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Unterschiedliche Deutungsperspektiven der Katastrophen des 6. Jh.

gesamten Oströmischen Reich beträchtlich zunimmt; P. MAGDALINO weist zu recht darauf hin, daß dies nicht lediglich mit »growing piety« erklärt werden könne, und deutet diese Entwicklung ebenfalls im Kontext eschatologischer Naherwartungen: Die Menschen schufen Wohnungen für Christus und die Heiligen, mit deren Erscheinen in unmittelbarer Zukunft gerechnet wurde. 96

2.1.2.1 Das Orakel von Baalbek und die Prophezeiung des nahen Weitendes So wird z.B. in dem bereits erwähnten Orakel von Baalbek der voraussichtliche Weltuntergang mit einer bemerkenswerten Präzision chronologisch in der unmittelbaren Zukunft fixiert: Der 503/04 entstandene Text setzt das WeItende noch vor 510, spätestens aber mit dem Tod des regierenden Kaisers Anastasios an,97 dessen Herrschaft - sofern die Lesung stimmt - fälschlich auf 31 Jahre (d.h. bis 522/3) veranschlagt wird. 98 Die in den zurückliegenden Jahrhunderten noch diffus und schemenhaft rezipierte Endzeiterwartung nimmt um 500 also konkrete Gestalt an, ein Umstand, der freilich durch die äußeren Rahmenbedingungen erheblich gefördert wurde: Zum einen ist hier das historisch zwar zufällige, für die Zeitgenossen aber ungemein bedeutsame Faktum des Namens des regierenden Kaisers zu nen96 MAGDALINO (1993), 11-13 (das Zitat 12); zustimmend KÜLZER (2000), 60. Empirische Erhebungen zur Kirchenbautätigkeit im Osten in der Spätantike bietet DI SEGNI (1999), 149ff., bes. 160-164; vgl. bereits CLAUDE (1969), 85ff., bes. 103. Weiteren Aufschluß und Bestätigung der These einer zunehmenden Kirchenbautätigkeit um 500 wird die in Vorbereitung befmdliche Habilitationsschrift von R. HAENSCH erbringen, dem ich für mündliche Hinweise danke. 97 Baalbek-Orakel p. 14,94-95; p. 19-22,173-227; vgl. dazu ALEXANDER (1967), 111-117; DERS. (1968), 997-1018; BRANDES (1990), 309; KÜLZER (2000), 6lf.; MÖHRING (2000), 35ff. BEATRICE (1997), 179ff. hat die seit ALEXANDER (1967), 103 vertretene Ansicht, daß es sich beim Verfasser des Orakels um einen Anhänger des Chalcedonense gehandelt habe, widerlegt und zu zeigen versucht, daß der Text von einem Monophysiten stamme, den er (m.E. ohne hinreichende Argumente, s.u.) mit Severos von Antiocheia identifiziert (187ff.). Zur Datierung des Orakels vgl. ALEXANDER (1967), 4lf. 98 Baalbek-Orakel p. 19,172. Diese Prophezeiung erscheint jedoch sonderbar, weil zum einen keine Erklärung für die Zahl von ausgerechnet 31 Jahren gegeben wird (und auch in der Forschung nicht bekannt ist), zum anderen sich damit ein Widerspruch zu der Voraussage des Untergangs Konstantinopels noch vor 510 ergibt. Allerdings ist der Orakel-Text an der entsprechenden Stelle nicht sicher (vgl. den App. bei ALmCANDER (1967), 19 z. St.); BEATRICE (1997), 185, Anm. 39, schlägt deshalb gegen ALEXANDER (1967), 19 und PENNA (1972),51 vor, statt AU' (31) die ZahllU' (li) zu lesen, womit man in das Jahr 502/3 gelangte. Dies würde immerhin den Widerspruch zur vorausgehenden Prophezeiung des Endes vor 510 auflösen. BEATRICE stützt sich freilich weniger auf die Überlieferung, die trotz aller Unsicherheiten doch eher für die Lesung AU' spricht, als auf die chiliastische Geschichtsteleologie, die das Ende der Welt um 500 ansetzte. Dennoch erscheint mir sein Vorschlag zumindest erwägenswert zu sein, wenngleich dann allerdings die problematische Frage zu beantworten wäre, wie sich ein für das Jahr 50213 prognostiziertes Weitende zum bislang unumstrittenen Entstehungszeitpunkt des Textes im Jahr 503/4 verhalten soll.

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Grundvoraussetzungen: Unerfiillte Erwartungen

nen: »Sein Name gleicht dem jüngsten Tag« (Of.lOlol öf; '«'> Ovof.la airrou TTI lJf.leQ!t TTI eOXUTnr - die Allusion an das griechische Wort avuoTaoll; (>AuferstehungAnastasiosAnastasios